Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbegrüße Sie alle herzlich.Bevor wir in unsere heutige Tagesordnung eintreten,gibt es zwei Umbesetzungen in Gremien, über die wirbefinden müssen. Die FDP-Fraktion schlägt vor, dieKollegin Sylvia Canel zum ordentlichen Mitglied in derParlamentarischen Versammlung des Europaratesund den Kollegen Patrick Meinhardt zum stellvertre-tenden Mitglied zu wählen. Sind Sie damit einverstan-den? – Das ist offenkundig der Fall. Dann sind die bei-den Kollegen gewählt.Als Nachfolgerin des ausgeschiedenen AbgeordnetenDr. Herbert Schui im Beirat bei der Bundesnetzagen-tur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Postund Eisenbahnen benennt die Fraktion Die Linke dieKollegin Johanna Voß. Können Sie auch diesem Vor-schlag zustimmen? – Das ist offensichtlich der Fall. Da-mit ist die Kollegin Voß zum ordentlichen Mitglied imBeirat bei der Bundesnetzagentur gewählt.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-Redegeführten Punkte zu erweitern:ZP 1 Abgabe einer Regierungserklärung durch dieBundesministerin für Ernährung, Landwirtschaftund VerbraucherschutzVerbraucher konsequent schützen – Höchst-maß an Sicherheit für Lebensmittel gewähr-leisten
ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion derSPD:Standpunkt und Konsequenzen der Bundes-regierung zum ungarischen MedieZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der FLINKE gemäß Anlage 5 Nr. 1 BGO-BTzungen 20. Januar 2011.00 Uhrzu den Antworten der Bundesregierung aufdie Fragen 21 und 22 auf Drucksache 17/4406
ZP 4 Abgabe einer Regierungserklärung durch denBundesminister für Wirtschaft und Technologiezum Jahreswirtschaftsbericht 2011: Deutsch-land im Aufschwung – den Wohlstand vonmorgen sichernZP 5 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfah-renErgänzung zu TOP 26a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDas ungarische Mediengesetz – EuropäischeGrundwerte und Grundrechte verteidigen– Drucksache 17/4429 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auswärtiger AusschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologietextAusschuss für Kultur und Medienb) Beratung des Antrags der Abgeordneten DanielaWagner, Ingrid Hönlinger, Volker Beck ,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENBestellerprinzip in die Mietwohnungsvermitt-lung integrieren– Drucksache 17/4202 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklungbarte Debatteussland – Repressionen beenden, Men-echtsverletzungen sanktionieren, Zivil-ngesetzraktion DIEuchstabe bZP 6 VereinWeißrschenrgesellschaft stärken
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9346 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Präsident Dr. Norbert Lammert
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ZP 7 Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Gregor Gysi, Sabine Leidig, Dr. DietmarBartsch, weiterer Abgeordneter und der FraktionDIE LINKEDie Bahn im Einklang mit dem Grundgesetzam Wohl der Allgemeinheit orientieren– Drucksache 17/4433 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitHaushaltsausschussZP 8 Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann,Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENFür eine konsequente Strukturreform derDeutschen Bahn AG– Drucksache 17/4434 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitHaushaltsausschussZP 9 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionender CDU/CSU und der FDP:Forderungen der Vorsitzenden der Partei DIELINKE, Dr. Gesine Lötzsch, Wege zum Kom-munismus auszuprobieren – Opfer nicht ver-höhnenVon der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweiterforderlich, abgewichen werden.Der Tagesordnungspunkt 27 a wird heute abgesetzt.Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Aus-schussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste auf-merksam:Der am 11. November 2010 überwiesene nachfol-gende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss fürKultur und Medien zur Mitberatungüberwiesen werden:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Rege-lung von De-Mail-Diensten und zur Änderungweiterer Vorschriften– Drucksachen 17/3630 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschussSind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –Auch das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so be-schlossen.Ich rufe den Zusatzpunkt 4 sowie die Tagesordnungs-punkte 3 a und 3 b auf:ZP 4 Abgabe einer Regierungserklärung durch denBundesminister für Wirtschaft und Technologiezum Jahreswirtschaftsbericht 2011: Deutsch-land im Aufschwung – den Wohlstand vonmorgen sichern3 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungJahreswirtschaftsbericht 2011– Drucksache 17/4450 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
FinanzausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für TourismusHaushaltsausschussb) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungJahresgutachten 2010/11 des Sachverständi-genrates zur Begutachtung der gesamtwirt-schaftlichen Entwicklung– Drucksache 17/3700 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
FinanzausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussNach einer Vereinbarung zwischen den Fraktionensoll die Aussprache im Anschluss an die Regierungser-klärung zwei Stunden dauern. – Auch dazu höre ich kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hatder Bundesminister für Wirtschaft und Technologie,Rainer Brüderle.
Rainer Brüderle, Bundesminister für Wirtschaft undTechnologie:Herr Präsident! Meine Damen und Herren! InDeutschland regiert die Zuversicht.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9347
Bundesminister Rainer Brüderle
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In Deutschland regiert das Wachstum. In Deutschlandregiert der Fortschritt. In Deutschland regiert Schwarz-Gelb.
Die Menschen in unserem Land merken: Es geht vo-ran. Der Aufschwung kommt bei ihnen an. Der Auf-schwung kommt beim Facharbeiter an. Statt Kurzarbeitfährt er jetzt Sonderschichten. Sein Job ist sicher. SeinGehalt steigt. Der Aufschwung kommt bei der jungenBerufsanfängerin an. Ihr steht der Arbeitsmarkt so offenwie schon lange nicht mehr.
Der Aufschwung kommt bei den Rentnern an. Sie be-kommen im wohlverdienten Ruhestand mehr Rente. DerAufschwung kommt bei den Familien an. Mit der Erhö-hung des Kindergeldes und den höheren Steuerfreibeträ-gen haben sie mehr Geld in der Familienkasse.Der Facharbeiter, die Berufsanfängerin, der Rentner,die Familien – das sind die Gesichter dieses Auf-schwungs.
Es werden immer mehr. Der Aufschwung hat dieMitte der Gesellschaft erreicht. Ganz Deutschland feierteinen Beschäftigungsrekord. Wir freuen uns über3,6 Prozent Wachstum im letzten Jahr. Die Entlastungaus dem Jahr 2010 von über 24 Milliarden Euro hat ge-wirkt. Das ist 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Daswar und ist eine konjunkturrelevante Größe.Es gab ja einige, die Anfang letzten Jahres gesagt ha-ben: Steuerentlastungen bringen nichts. Diese Äußerun-gen sind jetzt widerlegt. Der Politikwechsel hat gewirkt.Wir setzen auf Wachstum, Wandel und Dynamik.
Der Aufschwung ist keine Kurzgeschichte, der Auf-schwung ist ein Fortsetzungsroman. 2011 schlagen wirein weiteres Kapitel auf. Wir rechnen mit einem realenWachstum von 2,3 Prozent. Die Wirtschaftsentwicklungsteht auf einem stabilen Fundament. Die Binnennach-frage gewinnt an Kraft und Dynamik. Bereits letztes Jahrhat sie mit zwei Drittel zum Wachstum beigetragen. Die-ses Jahr sind es über drei Viertel. Die Binnennachfragehat die Fackel vom Export übernommen. Der klassischeAufschwung wird vom Export ausgelöst, und die Bin-nennachfrage springt quasi nach dem Lehrbuch an.
Die Ausgangslage ist also gut.Jetzt geht es darum, den Wohlstand von morgen zu si-chern. Wir tun das mit Vollbeschäftigungspolitik, Ord-nungspolitik und Chancenpolitik. Noch vor kurzer Zeitwurde die Vollbeschäftigung von manchen als Illusionabgetan. Jetzt ist sie in aller Munde. Dieses Kunststückhaben die vielen fleißigen Arbeitnehmer und Arbeitge-ber in unserem Land geschafft. Sie haben vor Ort dierichtigen Antworten auf die Wirtschaftskrise gefunden.Mit flexiblen Lösungen haben sie ein gar nicht so kleinesJobwunder geschaffen. Das Jobwunder ist inzwischenerwachsen geworden.Der Arbeitsmarkt wird sich auch weiterhin gut entwi-ckeln. In diesem Jahr wird die Arbeitslosigkeit im Jah-resdurchschnitt unter 3 Millionen liegen. Ich erinnere:Wir kommen von 5 Millionen. Das ist auch das Ver-dienst von Schwarz-Gelb.
Das ist ein klarer Unterschied zur Opposition. Die setztauf Blockade, Stagnation und sozialistische Tristesse.Ich erinnere mich noch gut daran: Herr Gabrielschwadronierte vor kurzem von einer Abwärtsspirale. Ersagte wörtlich:CDU/CSU und FDP führen Deutschland in eineAbwärtsspirale und die Bundeskanzlerin schaut ta-tenlos zu!
Das Gegenteil ist der Fall. Wachstum und Arbeitsmarktsind auf Rekordjagd. „Aufwärtsspirale“ wäre besser ge-wesen, Herr Gabriel.
Ich freue mich über jeden, der unsere Politik der Voll-beschäftigung unterstützt. Besonders freue ich mich überSie, Herr Steinmeier. Sie halten Vollbeschäftigung fürmöglich, und es regiert Schwarz-Gelb. Herr KollegeSteinmeier, Sie sind eine Insel der Vernunft im Meer derUnvernunft der SPD.
Mit unserer Vollbeschäftigungspolitik führen wir dieKurzarbeit auf das Normalmaß zurück. Die Oppositiondagegen will Arbeit gesetzlich verbieten. Wir wollen Be-schäftigungshemmnisse für Ältere ausräumen. Auf ihreErfahrung können und wollen wir nicht verzichten. DieOpposition dagegen will sie in die Altersteilzeit abschie-ben. Wir wollen das große Potenzial der Frauen fördern.Wir setzen auf die qualifizierten Frauen in Deutschland.Unsere Wirtschaft braucht sie. Viele Unternehmen habenschon die Zeichen der Zeit erkannt, darunter viele Fami-lienunternehmen. Wir schlagen konkrete Maßnahmenfür eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Berufvor. Wir leisten einen finanziellen Beitrag für neue Be-treuungsplätze. Wir haben die Initiative „Familienbe-wusste Arbeitszeiten“ gestartet. Wir machen Tempo aufder Schnellstraße zur Vollbeschäftigung. Gut, dassSchwarz-Gelb Deutschland regiert!
Das garantiert: Im nächsten Jahr wird die Erfolgsge-schichte am Arbeitsmarkt fortgeschrieben. Wir rechnen2012 im Jahresschnitt mit nur noch 2,68 Millionen Ar-beitslosen.
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9348 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Bundesminister Rainer Brüderle
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Meine Damen und Herren, zum ersten Mal seit langerZeit gibt es in Deutschland wieder eine Regierung dersozialen Marktwirtschaft. Deshalb ist ein Axiom dieserRegierung: Wir brauchen eine klare und verlässlicheOrdnungspolitik. Manche reden am Sonntag über Wett-bewerb und Marktwirtschaft, und am Montag wollen sieMillionen umverteilen. Diese Bundesregierung steht da-für ein, dass Ordnungspolitik nicht zu einer Floskel fürSonntagsreden wird.
Deswegen haben wir bei Opel Nein zu staatlicherHilfe gesagt.
Deswegen haben wir bei Karstadt die Kräfte des Markteswalten lassen. Deshalb spreche ich mich auch für einenmöglichst schnellen Ausstieg des Bundes aus Bankenbe-teiligungen aus.
Ordnungspolitik ist kein Kurzstreckenlauf. Ordnungs-politik braucht einen langen Atem. OrdnungspolitischeGrundsätze müssen auch in Europa gelten. Das hat zu-letzt die Euro-Krise deutlich gemacht. Deutschland warund ist sich in dieser Krise seiner großen Verantwortungfür Europa bewusst. Wir sind bereit, erhebliche Beiträgezu leisten, aber es darf keine Fehlanreize für unsolideHaushaltspolitik geben. Wir müssen beim Euro einWächteramt übernehmen. Wir lehnen die Euro-Bondsab. Erfolgreiche Länder würden damit automatisch fürlaxe Haushaltspolitik der anderen einstehen. Das istkeine Lösung.
Die deutsche Staatsräson ist: stabiles Geld. Die deut-sche Staatsräson ist: ein stabiles Europa.
Schwarz-Gelb fühlt sich beidem verpflichtet. Wenn dasGeld schlecht wird, wird alles schlecht. Das ist eine bit-tere historische Erfahrung. Die Bundesregierung ist sichdessen sehr bewusst und handelt entsprechend.Die Opposition hat aus der Geschichte offenbar weniggelernt. Die Opposition will die Euro-Bonds. Die Oppo-sition will die Transferunion.
Sie ist ordnungspolitisch vollkommen auf dem falschenDampfer.Gleiches gilt für diejenigen, die im internationalenHandel auf die Planwirtschaft setzen. Exportquoten kön-nen nicht die Lösung sein. Wir wollen uns unsere Ex-porte nicht in Brüssel genehmigen lassen. Wir brauchenWettbewerb und offene Märkte.
Ein Jahr christlich-liberale Koalition hat bewiesen:Wir machen Chancenpolitik für alle. Das bedeutet: Jedererhält eine faire Chance, in Freiheit und Eigenverant-wortung etwas aus seinem Leben zu machen. Genaudiese Chancenpolitik hat dafür gesorgt, dass die Bundes-republik zu einer einzigartigen Erfolgsstory wurde.Hier zeigt sich der Unterschied zur Opposition. Sievon der Opposition betreiben Chancenverhinderungs-politik. Sie wollen Steuererhöhungen. Das bringt dieMenschen um einen Teil ihres hart erarbeiteten Geldes.
Sie wollen die Krankenversicherung verstaatlichen. Da-durch senken sie mittelfristig die Leistungen. Die rot-grüne Haushaltspolitik ist nahe am Verfassungsbruch.Der Verfassungsgerichtshof in Nordrhein-Westfalen hatgerade ein deutliches Stoppzeichen für rot-grüne Haus-haltspolitik gesetzt.
Das ist hemmungslose Schuldenmacherei auf Kosten dernächsten Generationen.
Das zerstört Chancen.
Die Bundesregierung dagegen schafft Chancen. Siestärkt die Bildung. Wir fangen schon bei den ganz Klei-nen an. Das Erlernen der deutschen Sprache ist der ent-scheidende Integrationsschritt; denn Sprache bedeutetTeilhabe. Die Grünen sehen das offensichtlich anders.Für die Grünen ist wichtig, dass türkische Kinder in derSchule Türkisch lernen. Für die Grünen ist wichtig, dassarabische Kinder in der Schule Arabisch lernen.
Dann beklagen sie die Integrationsschwierigkeiten. Wirwollen, dass alle Kinder in Deutschland zuerst einmalDeutsch in der Schule lernen.
Die Bundesregierung setzt sogar noch früher an. Mit derOffensive „Frühe Chancen“ unterstützen wir die Sprach-förderung in den Kindergärten.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9349
Bundesminister Rainer Brüderle
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Auch auf dem Ausbildungsmarkt gibt es noch Hand-lungsbedarf, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen. Inmanchen Regionen macht sich bereits der demografischeWandel bemerkbar.
Dort herrscht nicht mehr Lehrstellenmangel, dortherrscht Lehrlingsmangel, Mangel an Auszubildenden.
Unser Ausbildungspakt mit der Wirtschaft nimmt des-halb die Jugendlichen in den Blick, die noch keine Aus-bildungsreife haben.
Auch die Studierenden können sich über mehr Unter-stützung freuen. Wir fördern in der Breite mit mehrBAföG, wir fördern die Spitze mit Stipendien. Mit alldiesen Maßnahmen setzen wir auf den Wissensdurst derKleinen und der Großen. Daneben dürfen wir bereitsvorhandenes Wissen nicht verkümmern lassen. Wir müs-sen ihm zu neuer Blüte verhelfen. Zum Beispiel müssenim Ausland erworbene Berufsabschlüsse leichter aner-kannt werden.
Der Taxifahrer mit ausländischem Ingenieurabschlusssoll der Vergangenheit angehören.
Wir schaffen auch Chancen durch mehr Freiräume.Niedrigere Steuern und Abgaben bedeuten für den Ein-zelnen mehr Gestaltungsmöglichkeiten. Schon kurzfris-tig werden wir das Steuersystem spürbar vereinfachen.Darauf hat sich die Koalition geeinigt.
Mit der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte er-arbeiten wir uns weitere Spielräume. Bis zum Jahr 2014werden wir die Neuverschuldung halbieren. Schwarz-Gelb hat diese Herkulesaufgabe bereits erfolgreich inAngriff genommen. Schon in diesem Jahr werden wirdas Maastricht-Kriterium von 3 Prozent Defizit wiedereinhalten. Das ist zwei Jahre früher, als von der EU ge-fordert.Unser Zukunftspaket steht für intelligentes Sparen.Das schafft Zukunftschancen für künftige Generationen.Unsere Politik steigt konsequent aus der Staatsverschul-dung und den Krisenmaßnahmen aus. Deswegen habenwir den Deutschlandfonds Ende 2010 auslaufen lassen.Nächsten Dienstag werde ich den Lenkungsrat desDeutschlandfonds verabschieden. Die acht Experten mitProfessor Hellwig an der Spitze haben sehr gute Arbeitgeleistet. Wir können sie nun guten Gewissens verab-schieden; denn jetzt herrschen wieder die Kräfte desMarktes und des Wettbewerbs.Die Bundesregierung steht ohne Wenn und Aber fürdas Innovationsland Deutschland. Denn auch Innovatio-nen eröffnen neue Chancen für die Menschen inDeutschland. Wir fördern deshalb massiv Forschung undEntwicklung von mittelständischen Unternehmen. Inno-vationen können helfen, Krankheiten zu besiegen. Wirunterstützen deshalb die Gesundheitsforschung. Innova-tionen können unsere Ressourcen sichern. Wir lassendeshalb die Nutzung nachwachsender Rohstoffe untersu-chen. Das zeigt: Technischer Fortschritt hat auch eineethische Komponente.Eine Dagegen-Republik können wir uns nicht leisten.
Wenn die Neinsager das Zepter in die Hand nehmen,dann gibt es keine neuen Energienetze.
Der Weg ins regenerative Zeitalter bleibt versperrt. Des-wegen hat die Bundesregierung ein umfassendes Ener-giekonzept vorgelegt. Die Grünen hingegen machen lie-ber Fundamentalopposition im Bundestag und draußenauf der Straße.
Das ist leider nichts Neues. Die Grünen waren gegen denFlughafen München. Die Grünen sind gegen den Flug-hafen Berlin Brandenburg International. Die Grünen wa-ren gegen die bemannte Raumfahrt. Die Grünen warengegen Handys und Funkmasten. Jetzt sind die Grünenauch noch gegen die Olympischen Spiele. Ihre Dagegen-Haltung bringt unser Land nicht weiter. Schwarz-Gelbist die Dafür-Regierung.
Wir sind für einen technologieoffenen Standort. Wirsind für moderne Verkehrsnetze. Wir sind für die Beteili-gung der Bürger an solchen Projekten. Das ist keineleichte Aufgabe,
aber wir gehen sie an. Wir nehmen die Menschen mit.Wir wollen den Menschen keine Ideologie überstülpen.
Das rufe ich auch all denen zu, die den Kommunismuswieder salonfähig machen wollen. Kommunismus be-deutet das Gegenteil von Demokratie und sozialer
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9350 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Bundesminister Rainer Brüderle
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Marktwirtschaft. Kommunismus bedeutet Diktatur undMenschenverachtung.
Die Bundesregierung entwickelt auf der Grundlage derfreiheitlich-demokratischen Grundordnung das klare Ge-genmodell. Wir schaffen mit mehr Bildung, Innovationund steuerlichen Freiräumen neue Chancen, aus denenein ganzes Chancenland wird. Für ein solches Chancen-land Deutschland arbeiten wir.
Die Menschen in unserem Land sind wieder zuver-sichtlich. Diese Zuversicht ist hart erarbeitet. Das habendie vielen fleißigen Menschen in unserem Land ge-schafft. Auch in Zukunft werden wir uns ordentlich an-strengen müssen und anstrengen; denn die erfreulicheEntwicklung der deutschen Wirtschaft ist kein Selbstläu-fer. Schwarz-Gelb gibt die nötigen Impulse. Wir stellendie Weichen für die Vollbeschäftigung. Wir geben mitder Ordnungspolitik den richtigen Rahmen vor. Wirschaffen Chancen für unser Land. Deutschland hat guteChancen, wir sollten gemeinsam daran arbeiten und unsüber die Erfolge, die wir gemeinsam erreicht haben,auch gemeinsam freuen, sie nicht zerreden und unserLand nicht schlechtreden.Vielen Dank.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält Frank-
Walter Steinmeier für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! HerrBrüderle, es ist schön, dass Sie gute Laune haben. AberSie müssen verstehen: Diese zur Schau getragene Selbst-zufriedenheit versteht nicht jeder hier im Saal. Ich weißauch nicht, ob Ihnen eines aufgefallen ist, wenn Sie Zah-lenreihen beobachten, die normalerweise nicht zusam-menpassen: die Wachstumsrate in Deutschland und dieUmfragewerte der FDP. Die beiden Kurven treffen sichim Augenblick irgendwo zwischen 3 und 4 Prozent. Dagibt es einen Zusammenhang.
Ich kann Ihnen versichern: Wenn wir uns von dieserKrise besser erholt haben als andere, Herr Brüderle,dann freut das die Opposition nicht weniger als die Re-gierung, aber wir – und ich in aller Deutlichkeit – sagen:Das ist nicht Ihr Verdienst. Darüber hilft auch Ihr Froh-sinn nicht hinweg.
Die Wahrheit ist doch – das diskutieren auch Sie intern –:Die gute Wirtschaftslage auf der einen Seite und eine re-gierende FDP bundesweit unter 5 Prozent auf der ande-ren Seite zeigen, dass die Menschen in Deutschland be-griffen haben, dass Sie, Herr Brüderle, sie im September2009 veräppelt haben.
Sie haben unhaltbare Wahlversprechen gegeben –, diejedenfalls nicht für die 3,6 Prozent Wachstum gesorgthaben, die wir jetzt erfreulicherweise verzeichnen. Siehaben für wachsende Enttäuschung Ihrer Wähler ge-sorgt, für sonst aber nichts.
Wenn es uns in Deutschland vergleichsweise gut geht,worüber ich mich freue, dann hat das mit vielem zu tun.
– Seien Sie vorsichtig. Viele Schultern tragen diesen Er-folg. Das hat auch mit mutiger Reformpolitik in derMitte des letzten Jahrzehnts zu tun, die uns – das sageich Ihnen ganz offen – belastet hat und über die wir ge-stritten haben. Aber das war eine mutige Reformpolitik,die wir von dieser Regierung erst einmal sehen wollen.Allerdings kommt von Ihnen nichts.
Das war eine mutige Reformpolitik, für die man sichentscheiden muss – da reicht es nicht aus, hier nur Paro-len vom Pult zu verkünden –, und es war dann auch klu-ges Krisenmanagement in der Phase der Großen Koali-tion: eine Politik, Herr Brüderle, gegen die Sie und IhreLeute von diesem Pult aus elf Jahre lang aus der Opposi-tion gestritten haben, die Sie verdammt haben. Das istIhr Beitrag gewesen, allerdings kein Beitrag zum Wachs-tum.
Jetzt sind wir Gott sei Dank ein bisschen aus derKrise heraus, es geht uns ein bisschen besser.
Was kommt nach 15 Monaten Schwarz-Gelb? Die alteLeier: Steuern runter, Steuern runter! Sie haben es hiervon diesem Pult eben auch noch einmal verkündet. Nur,Herr Brüderle, ich sage Ihnen eines: Wir sind hier nichtim Wahlkampf.
– Dies beweist nur meinen alten Satz: Sie sind nichtwirklich in der Verantwortung als Regierungsfraktionangekommen. Das ist Ihr Problem.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9351
Dr. Frank-Walter Steinmeier
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Wir sind hier nicht im Bundestagswahlkampf; 2013 istnoch lange hin, falls Sie denn bis dahin durchhalten, wo-ran ich Tag für Tag ein bisschen mehr zweifle.Aber weil wir nicht im Wahlkampf sind, taugen jetztfür eine Regierung eben keine Parolen. Vielmehr habenSie Verantwortung dafür, dass die gute Basis bleibt, vonder Sie eben gesprochen haben, für die Sie nicht gearbei-tet haben, sondern die Ihnen in den Schoß gefallen ist.Aber dafür sorgen Sie nicht. Was Sie hier vorgestellt ha-ben, ist keine Wirtschaftspolitik. Kaum kommt Geld indie Kassen zurück – wir haben das bei dieser Regierunggerade in dieser Woche erlebt –, soll es möglichstschnell wieder raus, und das, was dringend notwendigist, wird nicht gemacht. Herr Brüderle, verzeihen Sie esmir, aber manchmal sind Sie mir in diesen Tagen wie einLottokönig vorgekommen, der sich über den neuenReichtum freut und ihn verjuxt, als gäbe es in diesemLande kein morgen.
– Darüber können wir gerne diskutieren, und das wird indiesem Haus garantiert noch einmal geschehen. Wennwir uns noch einmal anschauen, wie der Nachtragshaus-halt in Nordrhein-Westfalen zustande gekommen ist undwarum er notwendig war, dann wird deutlich, dass die-sen Scherbenhaufen Ihre Partei in Nordrhein-Westfalenund niemand anderes zu verantworten hat.
Meine Damen und Herren, wenn es uns in diesemLand erfreulicherweise besser geht als vielen in der eu-ropäischen Nachbarschaft, dann haben viele dazu beige-tragen – das ist wahr; Herr Brüderle, Sie haben das auchgesagt –, und es war weiß Gott nicht nur die Politik. DieFrage ist nur immer wieder: Was ist eigentlich der Anteildieser Regierung in den 15 Monaten ihrer Amtszeit seitOktober 2009 außer der täglichen Portion Regierungs-chaos, an dem doch Ihre Partei, Herr Brüderle, seit Ta-gen, seit Wochen, seit Monaten kräftig mitgewirkt hat?Hier aber tun Sie so, als hätten Sie in sieben Tagen Him-mel und Erde und das Paradies gleich noch mit erschaf-fen. Das macht Sie doch so unglaubwürdig, und das kön-nen die Leute nicht mehr ertragen.
Dabei wissen wir im Grunde genommen alle, dass wirin dieser Situation wirklich keinen Anlass haben, uns zu-rückzulehnen. Es stecken unheimliche Chancen darin,wenn es uns besser als der europäischen Nachbarschaftgeht. Aber wir sind drauf und dran, diese Chancen zuvergeigen, wenn wir jetzt nicht ein paar Weichenstellun-gen vornehmen.Schauen wir uns ein bisschen um in der Welt. Sie vonder Regierung hatten Besuch vom chinesischen Vizemi-nisterpräsidenten. China bildet die dynamischste Wachs-tumsregion der Welt, ist mittlerweile nicht nur Export-weltmeister – das ist sozusagen Binse –, sondern, wieman weiß, auch größter Gläubiger der USA. Seit kurzemwissen wir aber auch, dass dieses Land ein größeres Kre-ditvolumen ausreicht als die Weltbank. Brasilien und In-dien sind auf dem Sprung; ganze Erdteile machen sich aufin Richtung Wohlstand. Die technologischen Revolutio-nen bei Energie, Effizienz, bei Informations- und Bio-technologien gewinnen wahnsinnig an Tempo. Ein Indus-trieland wie dieses, ein Innovationsland wie Deutschlandmuss jetzt investieren wie nie zuvor.Herr Brüderle, als Sie da unten saßen, haben Sie alldas gewusst; Sie haben es uns elf Jahre lang aus der Op-position heraus vorgebetet. Ich habe es noch gut im Ohr.Seit Sie in der Regierung sind, scheinen Sie all das ver-gessen zu haben. Lieber Herr Brüderle, das, was ich hiersehe, ist politische Amnesie, aber es ist keine Politik.
Was müssen wir in einer solchen Situation tun? Wirmüssen Risiken abwenden. Wir sehen täglich, dass dieRessourcen knapper und teurer werden. Die Finanz-märkte sind nicht wirklich stabilisiert. Ich führe mir IhreRede von eben vor Augen und frage mich: Ist da wirk-lich Einsicht? Ist da ein neuer Realismus? Hat sich IhreSicht der Dinge seit dem Wahlkampf 2009 wirklich ver-ändert? Ich finde, nein. Sie wollen noch immer zweistel-lige Milliardensummen mit der Steuersenkungsgieß-kanne in der Landschaft verteilen. Sie wollen dasGemeinwesen – es braucht, wie sich zuletzt in der Wirt-schaftskrise bewiesen hat, in einer Krise Muskeln – aus-hungern lassen. Sie stellen sich bei der Kardinalaufgabeeiner Rechtsstaatspartei blind, für Ordnung auf den Fi-nanzmärkten zu sorgen, also nicht nur ordnungspoliti-sche Reden zu halten.Reden Sie nicht nur über Opel, reden Sie auch überHochtief! Sie verweigern Hilfe, wenn kerngesunde deut-sche Unternehmen von ausländischen Wettbewerbernübernommen und – wir und die Arbeitnehmer befürchtendas – anschließend filetiert werden. Sie sagten, da könneman nicht helfen, sie stünden zur Verhinderung von Wett-bewerb nicht zur Verfügung. Nur ging es im Falle vonHochtief gar nicht darum; Sie waren da im ganz falschenFilm. Es ging doch um die Frage: Wie sichern wir eigent-lich fairen Wettbewerb? Wenn man nichts tut, wenn mandie Dinge laufen lässt, dann führt das zur Verzerrung vonWettbewerb, dann werden die gesunden Strukturen ver-nichtet, die wir erhalten müssen. Es wäre die Pflicht einesWirtschaftsministers gewesen – ein Wirtschaftministerhat doch nicht viele Gesetzgebungsaufgaben –, hier zuhandeln; aber Sie haben sich da in die Furche gelegt. Dasist keine Wirtschaftspolitik; das ist die Verweigerung vonWirtschaftspolitik. Das merken die Menschen, lieberHerr Brüderle.
Aber nicht nur das. Sie zeigen auch bei einem anderenThema die kalte Schulter, das eine eminente wirtschafts-politische Bedeutung für dieses Land hat – wir reden ineinem anderen Zusammenhang im Vermittlungsausschussdarüber –: Mindestlöhne.
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9352 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
(C)
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Herr Kollege Steinmeier, gestatten Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Lindner?
Ja, sicher.
Bitte.
Kollege Steinmeier, Sie sprachen gerade Hochtief an.
Die Anbahnung der Übernahme geschah in einer Phase,
in der große Industriemächte – Sie haben sie teilweise an-
gesprochen –, auch die USA, erheblichen Druck auf uns
ausgeübt haben, damit wir unsere Exporte drosseln. In
dieser Phase wurde im Falle von Hochtief Druck auf uns
ausgeübt, damit wir selbst die Märkte abschotten. Wir ha-
ben in allen Runden, in Doha und bei allen anderen Ver-
anstaltungen, immer wieder für offene Märkte geworben.
Was glauben Sie, was passiert wäre, wenn wir genau in
dieser Zeit, in der ein deutsches Unternehmen von auslän-
dischen Investoren gekauft werden sollte – zugegebener-
maßen keine erfreuliche Geschichte –, eine Lex Hochtief
geschaffen hätten, um ausländische Investoren abzu-
schotten? Was hätten die anderen Länder dann gemacht?
Sie hätten gesagt: Ihr seid doch in all den Runden über-
haupt nicht mehr glaubwürdig. Eure Unternehmen, die
Lufthansa und andere, sind immer die Investoren in unse-
rem Gemüsegarten; aber in dem Moment, in dem es ein-
mal andersherum läuft, ändert ihr die Gesetze. – Wir hät-
ten uns doch, um in Ihrem Duktus zu bleiben, in die
Furche gelegt, wenn wir eine solche Lex Hochtief ge-
schaffen hätten. Klare Ordnungspolitik kann nicht am
Einzelbeispiel gestaltet werden, sondern muss einen lan-
gen Atem haben.
Genau hier unterscheidet sich unsere Position von Ihrer
Position in dieser Frage.
Wenn uns das dauerhaft unterscheidet, dann müssenSie mit dem Problem fertig werden. Das sage ich Ihnennur. Es ging hier nie um eine Lex Hochtief
– das wissen Sie, oder das wissen Ihre Leute –,
sondern es ging einzig und allein um die Frage, Herr vanEssen, ob wir in Deutschland gemeinsam, Regierungund Opposition, in der Lage sind, unser Wettbewerbs-recht auf ein durchschnittliches europäisches Niveau an-zuheben.
Das wollten Sie nicht bei Hochtief. Unser Gesetzesvor-schlag bleibt auf dem Tisch, und ich rate Ihnen: Überle-gen Sie, ob wir in den nächsten Wochen nicht doch nochdarangehen sollten.
– Das ist wirklich Quatsch, und Sie wissen das. Das soll-ten Sie nicht wiederholen.
Lassen Sie es. Es ist falsch. Das brauchen wir hier nicht.
Meine Damen und Herren, Wirtschaftspolitik – Siehaben darüber gesprochen, Herr Brüderle – muss denAnspruch haben, die Modernisierung in diesem Landvoranzubringen. Sie haben das aber an den falschen Bei-spielen aufgezäumt, weil doch ganz klar ist: Die einzigestrategische Entscheidung, die diese Koalition getroffenhat, ist schon jetzt der wirtschaftspolitische Rohrkrepie-rer Nummer eins. Mit dem energiepolitischen Konzept,von dem Sie eben gesprochen haben, wollten Sie einelangfristige Orientierung schaffen. Aber schauen wir unsdoch einmal an, was tatsächlich passiert.Schauen wir einmal auf die kommunalen Investorenbei den Stadtwerken. Was haben die gesagt? 7 Milliar-den Euro an kommunalen Investitionen sind durch dieseEntscheidung dauerhaft blockiert.
Die großen Betreiber sind nicht alle der Meinung, dassjetzt wirklich etwas vorangeht. Wenn man mit ihnen ein-mal außerhalb der politischen Runden redet, wo man sichetwas offener unterhalten kann, dann sagen die: Ja, ob unsdas wirklich Orientierung gegeben hat, weiß ich auchnicht. – Der Chef von EnBW jedenfalls hat am Freitagvergangener Woche noch öffentlich gesagt, wegen der ex-trem negativen Effekte von außen – und mit „außen“ wa-ren nicht wir gemeint, sondern die Regierung – könnesein Unternehmen weniger investieren, als es ursprüng-lich vorhatte.Bei den Großen herrscht Verunsicherung. Bei denStadtwerken gibt es eine Blockade bei den Investitionen.Die Erzeuger regenerativer Energien wissen im Augen-blick nicht, wie es unter dieser Regierung überhauptweitergeht. Das ist doch ein toller Zwischenstand, HerrBrüderle, den Sie uns hier berichtet haben.
Beim CCS-Gesetz weiß ich nicht, wie der Stand in-nerhalb der Bundesregierung ist. Ich stelle nur fest: Wirhampeln da von Jahr zu Jahr, von Monat zu Monat he-rum, ohne dass irgendetwas passiert. Das ist die energie-politische Realität nach Ihrem wunderbaren Energiekon-zept: maximales Durcheinander. Ich prophezeie Ihnen:Bleibt das so, dann werden die Kraftwerke der Zukunft
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9353
Dr. Frank-Walter Steinmeier
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im Ausland entstehen. Das liegt nicht an den Grünen,das liegt nicht an der SPD, das liegt nicht an der Links-partei, nicht an der Opposition insgesamt hier im Haus,sondern das liegt an Ihnen, an dieser Regierung, meineDamen und Herren.
Statt Weichenstellungen vorzunehmen, wie das nötigwäre, folgt Gipfel auf Gipfel. Als ich mich auf den heuti-gen Tag vorbereitet habe, habe ich mich an den Gipfelfür Elektromobilität erinnert und meine Mitarbeiter ge-fragt: Was ist eigentlich seit diesem wunderbaren Elek-trogipfel – Autos rund um das Brandenburger Tor – pas-siert? Nichts ist passiert, nichts geht voran.
Andere Länder investieren wesentlich mehr. Wenn dasso bleibt – das ist doch meine Sorge; deshalb melde ichmich dazu zu Wort –, dann findet der nächste Auf-schwung eben nicht in Deutschland statt.Herr Brüderle, Ihre Aufgabe als Wirtschaftsministerdieses Landes ist es nicht, den gegenwärtigen Auf-schwung zu feiern, sondern ist es, den nächsten Auf-schwung zu organisieren. Das ist Ihre Verantwortung.
Ich habe Ihnen die aktuelle Ausgabe der Wirtschafts-woche nicht mitgebracht, weil ich es immer etwas albernfinde, wenn hier vorne Zeitungsartikel hochgehalten wer-den. Ich empfehle Ihnen aber, den Artikel mit dem Titel„Bröckel-Republik Deutschland“ einmal sehr sorgfältigzu lesen. Dieses Thema geht nämlich, anders als das Ti-telbild es vermuten lässt, nicht nur Herrn Ramsauer an,der jetzt der Bahn noch einmal eben 500 Millionen Euroan Investitionsmitteln wegnimmt. Das betrifft alle, dieauf der Regierungsbank sitzen. Deutschland lebt vonHightechprodukten. Unser Land braucht eine Spitzenin-frastruktur mit neuen Stromnetzen für die erneuerbarenEnergien, mit intelligenten Stromnetzen, damit wir mehrLebensqualität und eine bessere Energieeffizienz bekom-men, mit Breitband- und Glasfasernetzen, mit schnellenSchienenwegen sowie guten Straßen und Brücken, dienicht für Lkws gesperrt werden müssen, sodass dieseauch noch weite Umwege fahren müssen.
Die Frage ist nur: Wann werden wir solche Netze haben?Werden wir sie jemals haben, wenn Sie die Prioritärenanders setzen und die zur Verfügung stehenden Finanz-mittel zunächst einmal zur Erfüllung Ihrer Wahlverspre-chen benutzen? So kann die Infrastruktur nicht verbes-sert werden.
Wenn in dieser für das Industrieland Deutschland ent-scheidenden Frage etwas zustande kommen soll und Siedie Opposition bei dem einen oder anderen Gesetzge-bungsverfahren vielleicht sogar brauchen, dann kann ichIhnen nur raten – das ist meine einzige Bitte –: HörenSie auf, diese Republik in eine Dafür- und eine Dage-gen-Republik zu teilen. Machen Sie Ihren Job. Legen Sieein durchdachtes Konzept für den Ausbau modernerNetze vor. Ich sage Ihnen: Am Ende werden wir dasbrauchen, was wir vorgeschlagen haben. Wir brauchenin diesem Land so etwas wie einen Infrastrukturkonsens,und zwar gleich am Anfang und nicht erst, wenn ir-gendein Großprojekt gegen die Wand gefahren wurdeund Sie Herrn Geißler bitten müssen, die Scherben zu-sammenzukehren. Das ist kein Konsens, und so entstehtkeine verbesserte Infrastruktur.
Ein letztes Wort zum Thema Europa. Herr Brüderle,ich sage ganz offen: Dazu hätte ich gerne mehr von Ih-nen gehört. Das war erstaunlich wenig. Das klang, alshabe all das, was im Augenblick in Europa passiert,nichts mit der Zukunft unserer Wirtschaft in den nächs-ten Monaten oder gar in den nächsten Jahren zu tun, alsexportierten wir nicht 60 Prozent der hier produziertenWaren ins benachbarte europäische Ausland. DieserUmstand sagt einem Wirtschaftsminister doch eigentlichnur eines: Wenn es dem europäischen Ausland schlecht-geht und wenn es nicht schnellstmöglich wieder auf dieBeine kommt, dann können Sie hier ruhig die Steuernsenken – am Ende können Sie vermutlich sogar auf Steu-ern verzichten –, aber Sie werden durch diese Politik dieWirtschaft in diesem Land nicht weiter nach vorne brin-gen. Deshalb ist das Thema Europa auch Ihr Thema; esist nicht allein das Thema des Finanzministers und derKanzlerin. An der Frage Europa wird sich entscheiden,wie die Zukunft unseres Landes, einer starken Export-nation in Europa, aussehen wird.
Ganz im Ernst: Das, was mir am meisten Sorge berei-tet, ist, dass wir dazu nicht nur von Ihnen, Herr Brüderle,sondern auch von den anderen Regierungsbeteiligtennicht sehr viel hören. Das Versteckspiel setzt sich imGrunde genommen fort. Sie betreiben es sogar offenmiteinander über die Medien.Sie haben eben gesagt, was Sie auf keinen Fall in Eu-ropa wollen. Ich habe das verstanden. Ich sage noch ein-mal: Im Dezember habe ich in einer europapolitischenDebatte von diesem Pult aus vorausgesagt, dass das, wasSie uns damals im Deutschen Bundestag vorgelegt ha-ben, nicht die Lösung der europäischen Probleme seinwird. Ich habe auch gesagt, dass Sie das ganz genau wis-sen. Ich habe Ihnen vorausgesagt, dass Sie im neuen Jahr– das hat jetzt begonnen – auf die Opposition zugehenund vorschlagen werden: Wir brauchen eine Erweite-rung des Rettungsschirms, und wir werden auch etwasmit europäischen Anleihen machen müssen. – Von die-sen europäischen Anleihen spricht Frau Koch-Mehrin,die zu Ihrer Partei gehört, schon jetzt. Ich habe Ihnen vo-rausgesagt, dass Sie mit diesen beiden Themen kommenwerden.
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9354 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
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Herr Kollege Steinmeier, Sie behalten bitte das Zeit-
budget Ihrer Fraktion im Auge.
Ich bin gleich durch.
Jetzt haben Sie noch einmal eine Atempause gewon-
nen, weil die portugiesischen Anleihen offensichtlich ge-
kauft worden sind. Ich sage Ihnen nur: Das ist kein
Grund, sich zurückzulehnen. Die Situation – Sie wissen
das ganz genau – ist nicht so, dass die Probleme, über
die wir hier sprechen und über die wir in der Sache hart
diskutieren müssen, gelöst sind. Sie, Frau Bundeskanzle-
rin – sie ist jetzt nicht da – und die anderen Mitglieder
der Bundesregierung, werden an diesem Pult vor dem
Hohen Haus und auch vor Ihren Regierungsfraktionen
begründen müssen, warum das, was aus Ihrer Sicht im
Dezember letzten Jahres falsch und verwerflich war, im
neuen Jahr richtig sein wird.
Das Problem ist nur: Wer verschweigt, was notwen-
dig ist, und erst später Schritt für Schritt mit der Wahr-
heit herauskommt,
der schafft in diesem Lande, in der deutschen Bevölke-
rung kein Engagement für Europa, sondern der betreibt
ein gefährliches Spiel mit der europäischen Integration.
Auch das ist ein wirtschaftspolitisches Thema.
Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer
für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Deutschland und die deutsche Wirtschaft starten inder Tat mit Rückenwind ins Jahr 2011: mit dem höchstenWirtschaftswachstum seit der Wiedervereinigung, mitder besten Beschäftigungsentwicklung seit der Wieder-vereinigung, mit deutlich besseren Haushaltszahlen undVerschuldungszahlen, als vor Jahresfrist erwartet. Auchwenn es die vornehmste Pflicht der Opposition ist, dasberühmte Haar in der Suppe zu finden, Herr Steinmeier,müssen doch auch Sie anerkennen, dass dies nun wirk-lich die beste und heißeste Suppe ist, die wir seit derWiedervereinigung in Deutschland haben.
Freuen wir uns doch gemeinsam über diese heißeSuppe, zum Beispiel darüber, dass wir nach 3,6 ProzentWirtschaftswachstum im letzten Jahr in diesem Jahrwohl mindestens 2,3 Prozent Wirtschaftswachstum er-zielen werden. Das sind 25 Prozent mehr, als noch imHerbst letzten Jahres vorausgesagt wurde. Das Wirt-schaftswachstum ist in Deutschland doppelt so hoch wieder Durchschnitt des Wirtschaftswachstums in Europa.Deutschland ist vom kranken Mann Europas zur Wachs-tumslokomotive in Europa geworden.Freuen wir uns doch gemeinsam darüber, dass nebendem Export erstmalig auch die Binnennachfrage mit ei-nem Plus von 1,6 Prozent in diesem Jahr ein zentralerWachstumsmotor sein wird. Freuen wir uns darüber,dass die verfügbaren Einkommen in Deutschland, alsodas, was die Menschen, die in diesem Land arbeiten, zurVerfügung haben, so deutlich ansteigen werden, dass siemehr ausgeben, mehr konsumieren und mehr investierenkönnen.Freuen wir uns gemeinsam darüber, dass sich der Ar-beitsmarkt weiter positiv entwickelt; so wird die Arbeits-losigkeit in diesem Jahr in absoluten Zahlen wohl erst-mals unter 2,5 Millionen sinken. Freuen wir uns darüber,dass vor allem die Beschäftigung weiter zunimmt. Mitüber 41 Millionen Menschen, die in Arbeit sind, ver-zeichnen wir die höchste Beschäftigung, die es in derBundesrepublik jemals gab,
und das, obwohl noch vor eineinhalb Jahren befürchtetwurde, dass die Zahl der Arbeitslosen auf 5 Millionensteigt. Was heißt das? Um ein paar Zahlen zu nennen:100 000 Arbeitsplätze mehr führen zu Mehreinnahmender Sozialversicherung in Höhe von 80 Millionen Euround zu rund 600 Millionen Euro Steuermehreinnahmen,und sie sparen im Gegenzug Ausgaben, zum Beispiel fürdie Arbeitslosenversicherung, in einer Größenordnungvon 1,5 bis 1,6 Milliarden Euro. Der Unterschied zwi-schen 3 Millionen Arbeitslosen, die wir jetzt zu ver-zeichnen haben, und 5 Millionen Arbeitslosen, die pro-gnostiziert wurden, besteht darin, dass wir gesamtstaatlichrund 40 Milliarden Euro weniger aufwenden müssen.Freuen wir uns darüber doch gemeinsam!Freuen wir uns auch darüber, dass dieser Zuwachs,anders als es von den esoterischen Linken und vom Restder Opposition immer dargestellt wird, vor allem bei so-zialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen und in derVollbeschäftigung entstehen wird. Insofern gibt es auchhier positive Nachrichten, die uns ermuntern sollten undkönnen.Wenn dies die beste und heißeste Suppe seit langemist und wir uns darüber freuen, dann muss man sich viel-leicht eingestehen, dass dies auch etwas mit den Köchenzu tun hat. Herr Trittin, ich weiß, Sie sind lieber Kellnerals Koch; aber wir sind lieber Koch. Wenn in anderenLändern Europas diese Suppe nicht so heiß, sondernmehr lau ist, obwohl sie aus den gleichen Zutaten be-steht, hat das offensichtlich auch etwas mit den Köchenzu tun.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9355
Dr. Joachim Pfeiffer
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Deshalb ist es schade, dass die SPD, Herr Heil und HerrSteinmeier, sich quasi von ihrer eigenen Kochkunst dis-tanziert. In der Tat haben Sie durch die Arbeitsmarktre-formen, die in den letzten zehn Jahren durchgeführt wor-den sind, daran mitgewirkt, dass wir diesen Aufschwunghaben. Das war ein Bestandteil.
– Es wäre schön, wenn Sie nicht nur hier applaudierenwürden. Sie distanzieren sich doch; Sie wollen doch al-les rückgängig machen. Sie wollen die Reform am Ar-beitsmarkt rückgängig machen;
Sie wollen die Rente mit 67 rückgängig machen,
die ein entscheidender Baustein ist, dass das Beschäfti-gungsvolumen in diesem Land zunimmt.
Da besteht Fragebedarf, Herr Präsident.
Bitte schön, Herr Kollege.
Vielen Dank, Herr Präsident! – Herr Pfeiffer, ich habe
eine Frage zum Thema Rückgängigmachen. Wir haben
gemeinsam ein Konjunkturpaket für die Kommunen mit
insgesamt 13 Milliarden Euro aufgelegt. Gerade werden
viele kommunale Haushalte verabschiedet, und in fast
allen Kommunen – selbst in unserem sehr wohlhabenden
Baden-Württemberg – erleben wir, dass sie ihre Investi-
tionsvorhaben aufgeben und ihre Haushalte nicht aus-
gleichen können. Das, was wir als Konjunkturprogramm
auf den Weg gebracht haben und was viel zu dem Auf-
schwung beigetragen hat, indem wir die Kommunen in
die Lage versetzt haben, vor Ort für Aufträge zu sorgen,
hat jetzt dazu geführt, dass man dort vom Gaspedal auf
die Bremse gewechselt ist. Das ist auch das Ergebnis Ih-
rer Politik.
Machen Sie durch Ihre Politik nicht das rückgängig,
was wir an Aufschwung durch die Kommunen generiert
haben und was uns durch die Krise gebracht hat? Wie
stehen Sie zu diesem Teil des Rückgängigmachens durch
Ihre Politik und auch zu Ihren steuerlichen Maßnahmen
nicht nur bei den Hotels, sondern auch bei den Zurech-
nungen, die dazu geführt haben, dass die Steuereinnah-
men der Kommunen flächendeckend wegbrechen?
Es fällt mir wirklich schwer, das jetzt intellektuellnachzuvollziehen.
Es stellt sich die Frage, an wem das liegt: ob das ammangelnden Intellekt meinerseits liegt – das müsste maneinmal überprüfen – oder ob da offensichtlich etwasdurcheinandergebracht wird.Was waren die Ziele der Konjunkturprogramme undder Hintergrund? Wir haben damals, Ende 2008, wo wirauf Sicht gefahren sind und das Schlimmste zu befürch-ten war – keiner wusste, was passiert –, gemeinsam inder Großen Koalition gesagt: Jetzt ist die Zeit, wo derStaat, die Politik auf allen Ebenen, im Bund, in den Län-dern und in den Gemeinden, ein Zeichen setzen und ver-suchen muss, Vertrauen zu schaffen und Anreize dafürzu setzen, dass investiert wird und dass in diesem Landnoch etwas geht. Wir haben von vornherein gemeinsambeschlossen, dass die Konjunkturpakete auf zwei Jahrebegrenzt sind, nämlich auf 2009 und 2010. Für die Kom-munen haben wir die Stellhebel so gestellt, dass dieKonjunkturpakete nur Maßnahmen beinhalten sollten,die nicht schon im Haushalt sind, sondern normaler-weise erst 2011, 2012 oder 2013 hätten realisiert werdenkönnen. Sie sollten vorgezogen werden; das war dochder Ansatz. Genau diesen Ansatz haben wir umgesetzt.Jetzt sind wir auf einen Wachstumspfad einge-schwenkt; das Vertrauen ist da, ein selbsttragendesWachstum kann sich wieder organisieren. Wir musstendie Laufzeit der Konjunkturpakete nicht verlängern, son-dern sie sind planmäßig ausgelaufen. Insofern kann ichüberhaupt nicht erkennen, wo wir den eingeschlagenenWeg, der konsequent und stringent war, jetzt in irgend-einer Art und Weise verändert haben sollten. Das tut mirwirklich leid.
Es ist jetzt mit Sicherheit aber auch nicht die Zeit,sich einfach zurückzulehnen und zu sagen: Alles wun-derbar! Weiter so! Wir brauchen nichts zu tun, um an derSpitze zu bleiben; das alles ist ohne Risiken. – Das istmit Sicherheit nicht so. Die Punkte sind bereits ange-sprochen worden.Neben allgemeinen Risiken wie Vulkanausbrüchen,Seuchen, Erdbeben und auch Terror, die wir im letztenJahr erlebt haben und die das Wachstum gefährden kön-nen, sind die Rohstoffversorgung und die Preisentwick-lung bei den Rohstoffen wieder auf der Agenda. Dieswird uns dieses Jahr beschäftigen. Auch die Inflation isteine Gefahr für das weitere Wachstum. Wichtig ist auchdie Freiheit der Handels- und Transportwege. Bei denweltweiten protektionistischen Bestrebungen, die demFreihandel, durch den wir unser Wachstum im Wesent-lichen geschaffen haben, entgegenwirken, müssen wirdarauf achten, dass es kein Rollback gibt, sondern dassdie WTO-Verhandlungen jetzt endlich zum Abschlusskommen und die internationalen Märkte geöffnet wer-den. Deshalb ermuntern wir den Bundeswirtschafts-minister und alle in Europa, in diesem Jahr bei denWTO-Verhandlungen endlich weiter voranzukommen.
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9356 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Dr. Joachim Pfeiffer
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Auch was in den USA passiert, ist für uns nicht ohneSorge zu betrachten. Zu der privaten Verschuldungkommt jetzt auch eine exorbitante und mit einer un-glaublichen Geschwindigkeit ansteigende öffentlicheVerschuldung hinzu. Ich kann bei allem Optimismus undbei allem Wachstum in den USA – vom Grundsatz herherrscht dort ja ein etwas anderes Verständnis – nochnicht so richtig erkennen, wie die Wettbewerbsfähigkeitdort in Kürze so hergestellt werden kann, dass dieseHandelsungleichgewichte ausbalanciert werden können.Das sind sicher Gefahren, die uns hier begegnen.In Europa gibt es die Euro-Problematik. An dieserStelle will ich aber noch einmal darauf hinweisen, dassdas nicht aufgrund des Euro ein Problem ist, sondernaufgrund der Verschuldung der Staaten und der Diver-genzen im Bereich der Wirtschaftspolitik innerhalb derEuropäischen Union. Auch zu Beginn des Jahres 2011ist festzuhalten: Der Euro wirkte in der Krise stabilisie-rend. Wir erinnern uns an die Wechselkursprobleme An-fang der 90er-Jahre mit Italien und anderen. Ohne denEuro wäre uns der Laden in den letzten zwei Jahren imwahrsten Sinne des Wortes um die Ohren geflogen. Hierhat der Euro stabilisierend gewirkt.Anders, als das häufig dargestellt wird, ist der Euroauch kein Inflations-Euro und kein „Teuro“. Wir hattenin der Zeit des Euro, von 1999 bis jetzt, eine Inflations-rate von durchschnittlich 1,6 Prozent, während sie in denZeiten der D-Mark 1 Prozentpunkt höher lag, nämlichbei 2,6 Prozent. Das heißt, der Euro hat zur Werterhal-tung, zur Nachhaltigkeit beigetragen. Durch den Eurowurde auch verhindert – das geschieht nach wie vor –,dass die Unternehmen Transaktionskosten haben. Dasbedeutet eine bessere Transparenz und ein besseresFunktionieren des Binnenmarktes.Es ist aber zweifelsohne richtig, dass wir die Ver-schuldenskrise in Europa in den Griff bekommen müs-sen. Die Frage ist, wie man sie in den Griff bekommt.Dies erreicht man sicher nicht – darin stimmen wir mitdem Bundeswirtschaftsminister vollkommen überein –mit Euro-Bonds. Sie sind im besten Fall süßes Gift, weildadurch schnelle Hilfe versprochen, langfristig aber dieWettbewerbsfähigkeit des gesamten Euro-Raumes zer-stört wird und die falschen Anreize gesetzt werden.Wir wollen eine Lösung, durch die die richtigen An-reize gesetzt werden, sodass derjenige, der konsolidiert,spart und in Innovationen investiert, am Ende des Tagesbesser dasteht als derjenige, der sich nur auf Transfer-leistungen verlässt. Wohin das führen kann, sehen wiram eigenen Land; das muss man auch einmal sagen. Wirsind nicht in der Lage, die Finanzbeziehungen der Län-der so zu ordnen, dass das Saarland und Bremen aus ih-ren Positionen herauskommen. Hier sehe ich keinenAusweg. Wenn wir Euro-Bonds einführen würden, dannwürde das für Europa „Saarland und Bremen hoch zehn“bedeuten. Das kann nicht unser Ziel sein. Deshalb wol-len und werden wir keine Euro-Bonds einführen.Wir werden aber auch nicht nachlassen, weiter dieGrundsatzentscheidungen zu treffen, durch die die Wett-bewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft gestärktwird. Wir werden den Breitbandausbau weiter voran-bringen. Wir werden das Telekommunikationsgesetzwettbewerblich novellieren und Wettbewerbspotenzialeim Post- und Bahnbereich heben, und zwar nicht nur umdes Wettbewerbs willen, sondern um Innovationspoten-ziale freizusetzen, die dann über niedrigere Preise undbessere Leistungen an die Verbraucher weitergegebenwerden können. Das ist nämlich der Kerngedanke dersozialen Marktwirtschaft.Wir werden Forschung und Entwicklung weiter aus-bauen. Wir haben in Bund und Ländern die höchstenAusgaben für Forschung und Entwicklung seit über20 Jahren. Das werden wir konsequent weiter ausbauen.Wir haben das Zentrale Innovationsprogramm Mittel-stand, das hervorragend einschlägt, auf hohem Niveaustabilisiert und werden es fortführen.Wir werden aber auch neue Maßnahmen angehen, diedie Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands im europäischenKontext stärken. Die geplante steuerliche Forschungs-förderung wird in dieser Legislaturperiode nicht mehreingeführt. Wir müssen und werden aber den Einstiegschaffen.
Wir machen nicht nur eine Energiepolitik, die neueerneuerbare Energien ins Netz bringt und langfristig denUmstieg schafft, wie wir ihn im Energiekonzept festge-legt haben, sondern wir werden auch für bezahlbareEnergiepreise für Wirtschaft und Verbraucher sorgen.Denn ohne wettbewerbsfähige Energiepreise ist diedeutsche Wirtschaft bzw. der deutsche Mittelstand nichtwettbewerbsfähig und in seiner Export- und Wirtschafts-kraft gefährdet.
Herr Kollege.
Insoweit sind wir auf dem richtigen Weg, meine Da-
men und Herren. Es ist nicht alles glänzend, aber der
Weg und die Richtung stimmen. Wir werden den einge-
schlagenen Pfad konsequent weitergehen. Dann wird
Deutschland in den nächsten Jahren die Lokomotive Eu-
ropas in der wirtschaftlichen Entwicklung bleiben.
Lassen Sie uns gemeinsam und freudig daran arbei-
ten, um Deutschland und Europa nach vorne zu bringen,
statt nur als Kritikaster unterwegs zu sein.
Vielen Dank.
Dr. Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Frak-tion Die Linke.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9357
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Herr Präsident! Meine Damen und Herren! HerrSteinmeier, mir ist aufgefallen, dass Sie gesagt haben,dass die Union und die FDP die Reformen von SPD undGrünen nutzen. Es sollte Ihnen aber nicht positiv auffal-len, sondern negativ, dass den Konservativen und Neoli-beralen Ihre Reformen so gut gefallen.
Aber abgesehen davon, Herr Brüderle, haben Sie imZusammenhang mit dem Aufschwung ein paar Faktenvergessen; daran muss ich Sie einfach erinnern. DerAufschwung macht ein Wirtschaftswachstum von3,6 Prozent aus. Im Jahr davor hatten wir ein Minus von4,7 Prozent. Das heißt, wir stehen immer noch schlechterda als 2008. Das hätte doch Ihr erster Satz sein können.Abgesehen davon haben Sie – das ist das Entschei-dende – überhaupt nicht über die Frage geredet, wem derAufschwung zugutekommt und wem nicht. Was Sie dazugesagt haben, stimmt nicht. Wir haben – das stimmt – einenAufschwung für die Deutsche Bank. Wir haben auch ei-nen Aufschwung für Vermögende und Spekulanten; dasstimmt.
Aber wir haben keinen Aufschwung für Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer. Wir haben keinen Aufschwungfür Rentnerinnen und Rentner.
Wir haben keinen Aufschwung für Kranke. Wir habenkeinen Aufschwung für Hartz-IV-Empfängerinnen undHartz-IV-Empfänger. Was hat denn die Hartz-IV-Emp-fängerin von Ihrem Aufschwung? 5 Euro wollen Sie ihrgeben. Machen Sie sich doch nicht lächerlich, kann ichda nur sagen.
Die Reallöhne sind im letzten Jahren um 0,1 Prozentgestiegen, Herr Brüderle. Aber das Geldvermögen ist imletzten Jahr in Deutschland um 4,7 Prozent gestiegen.Das Bruttogeldvermögen hat um 220 Milliarden Eurozugenommen und liegt jetzt bei 4,9 Billionen Euro, einunvorstellbarer Betrag.Nun könnte man zwar sagen: Was spricht denn dage-gen, wenn alle mehr Vermögen haben? Das Problem istaber, dass 1 Prozent der Bevölkerung ein Viertel desGeldvermögens besitzt. 10 Prozent der Bevölkerung be-sitzen 60 Prozent des Geldvermögens. Zwei Drittel derBevölkerung besitzen gar kein Vermögen. Das ist diegrobe Ungerechtigkeit, an der Sie nichts ändern. Sie spit-zen das sogar weiter zu.
In der Krise – das hätten auch Sie eigentlich kriti-sieren müssen, Herr Brüderle – hat die Zahl der Ver-mögensmillionärinnen und Vermögensmillionäre um51 000 zugenommen. Die Zahl liegt jetzt bei 861 000.Erklären Sie das einmal denjenigen, die nicht wissen,wie sie irgendwas bezahlen sollen. Wozu brauchen wirdenn so viele Vermögensmillionäre? Mit etwas wenigerkann man in unserer Gesellschaft auch sehr gut leben.
– Sie nicht, meine Damen und Herren von der FDP! Estut mir leid, wenn Sie sich das nicht vorstellen können.Bei uns nimmt nicht nur der Reichtum zu, sondernauch die Armut. Hier hilft am besten ein Zehnjahresver-gleich. Von 2000 bis 2010 hat das private Geldvermögenvon 3,5 Billionen auf 4,9 Billionen Euro zugenommen.Es ist also auf 150 Prozent gestiegen. Nach einer Studiedes Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung hat dieArmut in den letzten zehn Jahren um ein Drittel zuge-nommen. Der Anteil der Armen ist von 11 Prozent auf14 Prozent der Bevölkerung gestiegen. Das heißt, vonArmut sind nicht mehr 7,7 Millionen, sondern 11,5 Mil-lionen Menschen betroffen. Da reden Sie von Auf-schwung? Erklären Sie diesen 11,5 Millionen Menschen,worin der Aufschwung für sie besteht!
Nur in Deutschland sanken in den letzten zehn Jahrendie Reallöhne laut Internationaler Arbeitsorganisation,ILO – einer UN-Sonderorganisation –, um 4,5 Prozent.Der durchschnittliche Bruttoverdienst sank um100 Euro. Wir sind Lohnsenkungsweltmeister. HerrBrüderle, wenn Sie vom Export reden, müssen Sie auchsagen, dass der Exportanstieg darauf zurückzuführen ist,dass in Deutschland die Löhne gesenkt wurden, die Ren-ten gesenkt wurden und die Sozialleistungen gesenktwurden. Das machte die Produkte billiger. Das heißt, Ihrganzer Exportüberschuss ging zulasten der Bevölkerung.Das müssen Sie sagen, und das haben Sie verabsäumt zuerklären.
Die Reallöhne in anderen Ländern haben sich andersentwickelt; sie sind gestiegen: in Spanien, in Frankreich,in Großbritannien, in Finnland und in Norwegen – inNorwegen sogar um 25 Prozent. Nur bei uns sind sie ge-sunken. Dafür tragen die letzten drei Regierungen Ver-antwortung: SPD und Grüne, Union und SPD sowie jetztUnion und FDP. Die umgekehrte Entwicklung inDeutschland hat natürlich auch etwas damit zu tun, dassdie prekäre Beschäftigung in Deutschland – das habenSie alle so gewürdigt – zugenommen hat. 22 Prozent derBeschäftigten in Deutschland sind prekär beschäftigt,zum Beispiel in Teilzeit, in Leiharbeit und in Minijobs.Oder sie sind Aufstockerinnen und Aufstocker. ErklärenSie diesen Menschen den Aufschwung! Die Zahl dieserMenschen nimmt nicht ab, sondern zu.Nehmen wir als Beispiel die Entwicklung bei den so-zialversicherungspflichtigen Vollzeitarbeitsplätzen imLaufe der letzten zehn Jahre. Deren Zahl hat nicht zuge-nommen, Herr Brüderle – Sie sind ja so stolz auf denAbbau der Arbeitslosigkeit –, sondern abgenommen, undzwar um 1,4 Millionen. Aber die Zahl der Teilzeit-arbeitsplätze hat zugenommen, und zwar um 1,6 Millio-
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9358 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Dr. Gregor Gysi
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nen. Jetzt sind wir bei 5,4 Millionen Teilzeitarbeitsplätzen.Die Zahl der Niedriglohnbeschäftigten hat zugenom-men: von 5 Millionen auf 6,6 Millionen. Die Zahl derMinijobs ist gestiegen: von 5,5 Millionen auf 7 Millio-nen. Die Zahl der Leiharbeiter ist gestiegen: von 320 000auf 921 000. Erklären Sie den betroffenen Menschen,was sie vom Aufschwung haben! Sie haben den ganzenArbeitsmarkt zerstört und die Gewerkschaften unge-heuer geschwächt. Das merken wir alle.
Selbst die Zahl der Aufstockerinnen und Aufstockerhat während des Aufschwungs zugenommen, und zwarum 100 000. Wir sind jetzt bei 1,4 Millionen. Auch eintoller Aufschwung für die Betroffenen! In Ostdeutsch-land muss fast jeder Dritte zu einem Einkommen unter860 Euro arbeiten. In ganz Deutschland sind es22 Prozent. Eine Studie hat jetzt herausgearbeitet, dasseine Leiharbeiterin oder ein Leiharbeiter im Schnitt900 Euro weniger verdient als eine Beschäftigte oder einBeschäftigter ohne Berufsausbildung. Daran müssen Sieetwas ändern. Anstatt vom Aufschwung zu reden, solltenSie sich um das Schicksal von Millionen Menschen indiesem Land kümmern.
Was wir jetzt wirklich dringend brauchen – das ver-weigern Sie leider, gerade Sie von der FDP –, ist ein flä-chendeckender gesetzlicher Mindestlohn. Sie wissen garnicht, was Sie anrichten, wenn am 1. Mai Freizügigkeitherrscht und wir keine Mindeststandards diesbezüglichgesetzt haben. Ich sage Ihnen: Die Folge werden danneine zunehmende Ausländerfeindlichkeit und ein zuneh-mender Rassismus sein.
Das können wir überhaupt nicht gebrauchen. Überneh-men Sie einfach einmal Verantwortung, und führen Sieeinen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn inDeutschland ein!
– Quatschen Sie doch nicht so ein dummes Zeug, HerrLindner! Was an Ihnen liberal ist, würde ich auch gernewissen. Sie sind das Intoleranteste, was mir je begegnetist.Abgesehen davon, sage ich Ihnen, weil Sie vom Auf-schwung reden: Die Druckerei Schlott macht geradedicht. 2 000 Beschäftigte werden in Freudenstadt, Nürn-berg, Landau und Hamburg entlassen. Das UnternehmenAlstom Power in Mannheim baut 400 Stellen ab. Erklä-ren Sie den betroffenen Menschen den Aufschwung!Die Lohnsteigerungen, die wir jetzt brauchen, müssenwirklich von einem anderen Kaliber sein als in den ver-gangenen Jahren. Wir hatten einen Reallohnverlust von4,5 Prozent. Deshalb sage ich: Wir brauchen in diesemJahr einen Anstieg der Reallöhne um mindestens5 Prozent, angemessen wären 10 Prozent, wenn man tat-sächlich an einen Produktivitätsaufschwung denkt.
Ja, wir brauchen Rentenerhöhungen. Wir brauchen auchErhöhungen der Sozialleistungen. Statt Hartz IV brau-chen wir endlich eine angemessene Grundsicherung inunserer Gesellschaft, und zwar sanktionsfrei.
Sie sagen, die gesamte Entwicklung sei toll, sie gin-gen einen anderen Weg, und die anderen Länder mach-ten alles falsch. Ich kenne diese Art von Egozentrismus.Ich glaube, er ist völlig falsch. Ich will Ihnen sagen, wasSie in Griechenland anrichten. In Griechenland werdendie Reallöhne um 11,2 Prozent gesenkt, die Industriepro-duktion um 20,7 Prozent, die Industrieaufträge sind umüber 46 Prozent zurückgegangen. Das alles finden Sierichtig. Sie sagen: Die müssen sparen, sparen, sparen.Dasselbe sagen Sie bei Irland, dasselbe sagen Sie beiPortugal, und dasselbe sagen Sie bei Spanien. Ich sageIhnen: Verträge, die die Menschen zu einem solchen So-zialabbau zwingen, haben verheerende Folgen.Sie müssen das einmal in einem Geschichtsbuchnachlesen. Durch den Vertrag von Versailles wurdeDeutschland gezwungen, einen solchen Weg zu gehen.Der Weg war völlig falsch; denn er hat mit dazu geführt,dass die Nazis so stark geworden sind. Wir können über-haupt nicht regulieren, was in den genannten Ländernpassiert, wenn Sie dort einen solchen Sozialabbau orga-nisieren. Das ist der völlig falsche Weg.
Ich habe übrigens noch ein Beispiel für den Auf-schwung. Die Europäische Zentralbank darf Griechen-land keinen Kredit geben. Aber die Europäische Zentral-bank darf der Deutschen Bank einen Kredit geben. DieDeutsche Bank holt sich dort 1 Milliarde Euro und zahlt1 Prozent Zinsen. Dann geht die Deutsche Bank nachGriechenland und sagt: Ihr bekommt die Milliarde, aberihr müsst leider 11 Prozent Zinsen zahlen. Da verdientdie Deutsche Bank für eine Überweisung 10 ProzentZinsen, das sind 100 Millionen Euro. In diesem Bereichorganisieren Sie den Aufschwung, das stimmt, HerrBrüderle, aber wir brauchen einen anderen Aufschwungin unserer Gesellschaft.
– So ein Quatsch.Wir haben es mit Spekulationen auf den Nahrungs-mittel- und Rohstoffmärkten zu tun. Die Weizenpreisesind um 40 Prozent gestiegen. Ich sage Ihnen: Spekula-tionen mit Nahrungsmitteln sind ein Verbrechen. Dasmüssen Sie verbieten.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9359
Dr. Gregor Gysi
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Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Sie wollen nurden Export stärken, wir wollen die Binnenwirtschaftstärken. Sie wollen und organisieren den Aufschwungfür die Deutsche Bank, die Konzerne, die Großaktionäreund die Vermögenden, wir dagegen fordern einen Auf-schwung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,für die Rentnerinnen und Rentner, für die Hartz-IV-Be-ziehenden und die kleinen und mittleren Unternehmerin-nen und Unternehmer. Es wird Zeit, dass auch sie einenAufschwung erleben.
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Hermann Otto
Solms für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Es ist ganz schön, Herrn Gysi bei uns zu haben;
dann weiß man mal wieder, wie Klassenkampfreden aus-sehen:
völliger Realitätsverlust, nur Negatives wird dargestellt,obwohl alle Daten positiv ausfallen,
und zwar positiv für alle. Alle können sich über die Ent-wicklung freuen. Kein Mensch sagt, dass alles Gold ist,aber die Entwicklung ist äußerst positiv, weit über dieErwartungen von allen hier im Raume hinaus. Das mussman doch entsprechend bewerten.Sie behaupten, die Hartz-IV-Empfänger, die Rentner,die Arbeitslosen und die Arbeitnehmer hätten alle nichts.
Das widerspricht total den Realitäten.
Wir haben jetzt 2 Millionen Arbeitskräfte, die früher ar-beitslos waren, und nun wieder in Arbeit und Brot ge-kommen sind. Das ist doch ein riesiger Fortschritt. DasSozialste an dieser Entwicklung ist, dass die Menschenihren Lebensunterhalt wieder durch eigene Arbeit finan-zieren können.
Die Langzeitarbeitslosigkeit nimmt ab, und zwar stärkerals bisher. Die Jugendarbeitslosigkeit ist drastisch zu-rückgegangen. Die Erwerbstätigenquote steigt. Die Zahlder Vollzeitarbeitsplätze steigt stärker als die Zahl derTeilzeitarbeitsplätze. Das alles sind positive Entwicklun-gen. Die Nettolöhne, so das Statistische Bundesamt, stei-gen im Jahre 2010 stärker als in den letzten 17 Jahren.
Wenn das kein Fortschritt ist, dann frage ich mich, wasFortschritt sein soll.
Heute ist ein Tag der Freude für alle in der Gesell-schaft, insbesondere für die Masse der Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer. Es ist aber auch ein Tag derFreude für uns und für die Bundesregierung. Offenkun-dig hat sie nicht alles falsch gemacht. Sie hat beispiels-weise nicht bei Opel oder Karstadt interveniert, obwohlandere sie dazu aufgefordert haben. Erinnern Sie sich anHolzmann: Staatsintervention durch Schröder. 200 Mil-lionen Euro in den Wind geschrieben;
denn die Firma ist trotzdem pleitegegangen. Wenn eineFirma keine Basis mehr hat, kann der Staat auch nichtmehr helfen.
Mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz sind An-fang des Jahres 24 Milliarden Euro freigesetzt worden.So wurde mit 24 Milliarden Euro dazu beigetragen, dieKaufkraft der Bürger zu stärken, insbesondere die derFamilien und der kleinen und mittleren Unternehmen.
Nun regen Sie sich doch nicht über die Hotels auf.
Natürlich wäre es besser gewesen, die Umsatzsteuer fürdie Hotels in eine Gesamtumsatzsteuerreform einzubin-den; das gebe ich zu. Nun ist es aber so gelaufen. DieHotels haben die Mittel genutzt, um in großem Stil zu in-vestieren und zu erneuern. Außerdem sind im Touris-musgewerbe in Deutschland etwa 2 Millionen Menschenbeschäftigt. Deswegen war das wichtig, und deswegenhat das auch zum Aufschwung beigetragen.
Meine Damen und Herren, in Wirklichkeit ist dieserAufschwung also ein Beschäftigungsaufschwung. Das istdas, was wir in erster Linie erreichen wollten, und dabeihaben wir uns in Wahlkämpfen mit Versprechen gegen-seitig überboten. Deswegen möchte ich daran erinnern:Es ist auch ein glücklicher Tag für die Oppositionspar-teien SPD und Grüne. Natürlich ist es richtig, dass dieReformen, die damals durchgeführt worden sind – Hartz-IV-Reform, Arbeitsmarktreform und auch die Steuerre-form 2000 –, einen positiven Beitrag zu dieser Entwick-
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Dr. Hermann Otto Solms
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lung geleistet haben. Wer wollte denn das aberkennen?Wir haben diesen Reformen seinerzeit doch auch zuge-stimmt.
Das ist in doppelter Hinsicht glücklich für Sie. Siekönnen froh sein, dass Sie heute in der Opposition sit-zen. Sonst müssten Sie nämlich Ihre absolut wachstums-und beschäftigungsfeindlichen Beschlüsse, die Sie in derZwischenzeit gefasst haben, umsetzen. Dabei denke ichan den flächendeckenden Mindestlohn, an die Zurück-nahme der Rente mit 67, an die Erhöhung des Spitzen-steuersatzes bei der Einkommensteuer auf 49 Prozent, andie Wiedereinführung der Vermögensteuer und an dieAbschaffung der Abgeltungsteuer, die Sie selbst geradeerst eingeführt haben. Das alles wäre natürlich Gift.
– Der Abgeltungsteuer. Das habe ich nachgelesen.
– In Ihren Beschlüssen vom September letzten Jahres.Wenn das nicht der Fall sein sollte, so kann man zumin-dest sagen, dass das andere längst reicht. Das wäre Giftfür diese Entwicklung.
Sie müssen sich damit und mit der Frage auseinander-setzen, wie Sie das Wachstum auf Dauer verfestigenkönnen.Deswegen sagen wir: Entscheidend ist eine klare Ord-nungspolitik. Der Staat hat das zu tun, was seine Aufgabeist. Er hat die Spielregeln festzulegen und die Durchset-zung der Spielregeln zu garantieren und zu überwachen.Dazu gehört beispielsweise auch eine effiziente Banken-aufsicht. Ich habe damals Herrn Eichel gesagt: Sie müs-sen die Bankenaufsicht in eine Hand geben. – Was hat eraber gemacht? Er hat die BaFin geschaffen. Dann habensich die BaFin und die Bundesbank gegenseitig bekämpft.Die Bankenaufsicht hat die eigentlichen Probleme abernicht erkannt. Deswegen muss dies jetzt nachgeholt wer-den: Wir brauchen eine klare und wirkungsvolle Regulie-rung der Finanzmärkte.
Wir brauchen aber keine Regeln in den Bereichen, indenen sie den Wettbewerb stören. Wir müssen uns durchWettbewerb und Ausleseverfahren auf den Märkten an-passungsfähig und zukunftsfähig machen; denn nur dannwerden wir in dem zunehmend schwieriger werdendenweltweiten Wettbewerb bestehen können. Das ist keineeuropäische Frage, sondern das ist eine weltweite Frage.Natürlich gilt auch hier: Die Finanzpolitik muss dieWirtschaftspolitik unterstützen und umgekehrt. Das ha-ben wir auch gemacht. Das Wachstumsbeschleunigungs-gesetz war mit einer Freigabe von Finanzmitteln für dieBürger verbunden. Das hat dazu beigetragen, dass sichdie Wirtschaft positiv entwickelt. Dadurch steigen dieSteuereinnahmen wieder, und dadurch wird das eine ver-nünftige Maßnahme.Deswegen gilt auch jetzt: Wir sind dafür, dass dieHaushalte konsolidiert werden. Wir haben schon in unse-rem Wahlprogramm zum Ausdruck gebracht, dass Steu-erreform und Haushaltskonsolidierung Hand in Hand ge-hen müssen. Sie müssen zusammen durchgeführt werden.Wir haben der Aufnahme der Schuldenbremse in dieVerfassung zugestimmt. Schon jetzt wollen wir denFahrplan der Schuldenbremse konsequent erfüllen. Wirwollen zwischen 2011 und 2016 in gleichmäßigenSchritten die Neuverschuldung auf einen Restbestandvon höchstens 0,35 Prozent des Bruttoinlandsproduktsabbauen.Wenn sich aber auf dem Weg dorthin über die Erfül-lung der Vorgaben durch die Schuldenbremse hinausSpielräume ergeben, dann sollen sie nicht durch neueStaatsausgaben verschwendet werden, sondern dannmüssen sie genutzt werden, um sie den Arbeitnehmernzu geben, die ja jetzt bei wachsenden Löhnen von derkalten Progression besonders betroffen sind.Ich möchte gerade die Sozialdemokraten daran erin-nern, dass sie in ihrem Wahlprogramm – ich habe es mit-gebracht – genau das gefordert haben, wie wir und wiedie CDU/CSU auch, mit unterschiedlichen Formulierun-gen; aber es ist genau das Gleiche:Wir wollen die Entlastungen daher auf die Bezieherniedriger und mittlerer Einkommen sowie die Fa-milien konzentrieren.An anderer Stelle in diesem Programm sprechen Sie nochvon einem Jahreseinkommen von etwa 53 000 Euro. Siebeziehen sich also genau auf den Bereich, auf den wirunsere Reformanstrengungen konzentrieren wollen. Dastimmen wir völlig überein.
Wenn die Löhne nun stärker steigen, was mich freut,dann werden die Arbeitnehmer umso frustrierter sein,wenn sie feststellen, dass ein immer größerer Teil deszusätzlichen Einkommens wegbesteuert wird. Deswegenist es zur Bekämpfung der kalten Progression und desMittelstandsbauches zwingend notwendig, Spielräume,die sich ergeben, zu nutzen, um hier zu Entlastungen zukommen.
Lassen Sie mich abschließend noch etwas zur Diskus-sion um die Währungspolitik und die Stabilisierung desEuro sagen. Die Frage ist doch nicht, ob wir europa-freundlich sind oder nicht. Wir sind alle europafreund-lich.
Die Frage ist nur: Was führt zu einer dauerhaften Stabili-sierung? Ist es richtig, wenn Krisen entstehen, laufendneue Mittel zur Verfügung zu stellen – ich frage diesauch vor dem Hintergrund, dass wir hier um jeden Euroim Haushalt kämpfen, während da gleichzeitig vieleMilliarden zur Verfügung gestellt werden –, um dann bei
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der nächsten Finanzierungsrunde wieder in die Situationdessen zu kommen, der erpresst werden kann? Da sindeinige Akteure in den Finanzmärkten sehr geschickt. Siedrohen, die Banken würden zusammenbrechen, wennjetzt nicht der Steuerzahler einspringen würde. So wer-den von Runde zu Runde die stabilen Staaten in Europaerpresst, um das Schlimmste zu verhindern.Ist es auf der anderen Seite nicht richtig, die Staaten,die in einer schwierigen Situation stecken, von Grundauf zu sanieren? Hilfe zur Selbsthilfe, das ist das, wasangezeigt ist. Ein Staat, der seine Schulden wegen seinermangelnden Wirtschaftskraft in den nächsten zehn Jah-ren nicht bedienen kann, wird um eine Umschuldung un-ter Einbeziehung der Gläubiger nicht herumkommen,die dann auf einen Teil ihres Darlehens verzichten müs-sen. Das ist der richtige Weg.Dieser Weg ist ja nicht neu. Er ist insbesondere inSüdamerika, in Argentinien, aber auch in Europa, inPolen, in Russland, in vielen Ländern über den PariserClub beschritten worden. Das hat vorzüglich funktio-niert, und das hat zu einer anschließenden dauerhaftenStabilisierung geführt. Ich warne davor, zu glauben, esbedürfe irgendeines Aktionismus; da wird jetzt inEuropa diskutiert. Dabei geht es eigentlich nur darum,dass die Triple-A-Staaten in Europa – das sind Deutsch-land, Frankreich, Österreich, Niederlande, Luxemburgund Finnland – für die Schuldnerländer eintreten müs-sen, ohne dass es zu einer dauerhaften Sanierung kommt.Ganz im Gegenteil: Gerade das löst den Moral Hazardaus. Die Regierungen sind dann nicht mehr veranlasst,eine solide Politik zu betreiben; denn sie können sagen:Die Defizite werden sowieso von den anderen ausgegli-chen.Wir müssen vielmehr an die Grundlagen gehen: JederEinzelstaat muss aus sich heraus saniert werden, und ermuss natürlich Auflagen bekommen und Sanktionen an-gedroht bekommen, wenn er die Voraussetzungen nichterfüllt.Meine Damen und Herren, ich glaube, diese Frage istfür die Zukunft von Europa von eminenter Bedeutung.Hier werden historische Entscheidungen getroffen, undsie dürfen nicht in die Richtung einer Transferunion ge-hen.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Andreae
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Solms, ich finde es bemerkenswert und auch aner-kennenswert, dass Sie nochmals darauf hingewiesen ha-ben, dass die arbeitsmarktpolitischen Reformen jetztWirkung zeigen. Das heißt aber im Umkehrschluss na-türlich auch, dass Sie durchaus anerkennen, dass institu-tionelle Reformen notwendig sind, um am Arbeitsmarktund in Bezug auf die Wirtschaftslage Verbesserungen zuerlangen. Ich muss Ihnen jetzt Folgendes vorhalten: Das,was Sie uns an Reformen und institutionellen Verände-rungen vorschlagen, ist überhaupt nicht ausreichend. Ichkomme im Einzelnen noch dazu.Sie verzeihen, wenn ich etwas hochhalte: Das ist derJahreswirtschaftsbericht 2011. Der Titel dieses Jahres-wirtschaftsberichtes macht mir extreme Sorgen, HerrMinister. Natürlich ist unbestritten: Wir haben einenAufschwung und mehr Leute in Jobs. Das ist gut, richtigund notwendig. Aber dass Sie allen Ernstes behaupten,dass die Krise überwunden ist, zeugt von einer unglaub-lichen Kurzsichtigkeit. Wir sind noch lange nicht überden Berg; wir müssen jetzt handeln. Das ist das, was unswirklich Sorgen macht.
Die Ursachen der Finanz- und Wirtschaftskrise sindnoch keineswegs beseitigt. Wir haben eine enormeSchuldenkrise in Europa und weiter unzureichende Fi-nanzmarktregulierungen. Wir haben globale und euro-päische Ungleichgewichte in den Leistungsbilanzen. Wirhaben zwar eine Währungsunion, aber wir haben dochnoch lange keine Wirtschaftsunion.Wenn Sie sich hier hinstellen und sagen „Wir müssenhalt aufpassen, dass Triple-A-Deutschland hier nicht ge-schädigt wird“, dann haben Sie nicht verstanden, dass esauch im nationalen Interesse ist, Europa zu stabilisieren,und dass Deutschland hier eine ganz große Aufgabe hat.Das müssen Sie verstehen, wenn Sie nicht nur national,sondern europäisch denken.
Wir vermissen zutiefst die Europäer in Ihrer Regierung,die sagen „Wir nehmen etwas in Angriff, wir starten, wirüberlegen, wir gestalten mit“, sondern Sie sind in einerBremserrolle, was Europa angeht. Das ist hochdrama-tisch; auch das haben Sie nicht begriffen. Hier steckennoch so viele Krisensituationen drin, die uns in Deutsch-land betreffen werden.Aber auch die Klimakrise ist nicht vorbei. Vor ein paarJahren haben Sie sich alle – das ist unser Eindruck – da-mit einmal ein bisschen thematisch auseinandergesetzt.Inzwischen haben Sie damit gar nichts mehr zu tun. AmMontag hat sich in diesem Bundestag eine Enquete-Kommission zu dem Thema Wachstum konstituiert, woauch von Ihnen, Herr Präsident Lammert, durchaus kriti-sche Töne in Bezug auf die Frage unserer Wachstumsab-hängigkeiten angeschlagen wurden. Ich hoffe sehr, dassIhre Vertreterinnen und Vertreter in dieser Enquete-Kom-mission nicht nur reine Lippenbekenntnisse abgeben,sondern dass es ihnen tatsächlich darum geht, dass wiranerkennen, auf einem Planeten mit begrenzten Ressour-cen zu leben, der 2050 eine Weltbevölkerung von9 Milliarden Menschen haben wird. Diese Weltbevölke-rung wird wohnen wollen, sie wird arbeiten wollen, siewird sich ernähren wollen, und sie wird Mobilität habenwollen.
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Wenn wir aus deutscher Sicht heraus wirtschaftspoli-tisch denken, dann wird es mit unsere Aufgabe sein, hierLösungen für diese Herausforderungen zu finden. Dasist aus weltpolitischer Sicht richtig, das ist aus nationalerSicht richtig, und das ist aus umweltpolitischer Sichtrichtig.
Wenn Sie hier vorangehen, haben wir ein bisschen mehrals die Prosa in diesem Jahreswirtschaftsbericht.Ich komme jetzt zur Haushalts- und Finanzpolitik. Siemuss ja seriös sein, um für wirtschaftliche Stabilität sor-gen zu können. Dieses Klein-Klein, das Sie uns in denletzten Tagen bei der Steuervereinfachung geliefert ha-ben, ist schon echt ein Hammer. Da haben Sie jetzt durchdie Anhebung des Arbeitnehmerpauschbetrags pro Mo-nat 1,95 Euro für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmerherausgeholt. Zwischenzeitlich hat die FDP wegen die-ser Nummer mit dem Koalitionsbruch gedroht. Ich fragemich, was Sie eigentlich tun werden, wenn Sie einmalernsthafte und große Probleme angehen. Was wird dannmit Ihrer Koalition los sein? Sie haben bei dieser Ge-schichte den Finanzminister demontiert. Sie feiern sichjetzt für 80 Euro Anhebung des Arbeitnehmerpauschbe-trags. Sie haben die Koalition infrage gestellt. Es ist lä-cherlich, was Sie hier geliefert haben.
Noch einmal zur Krise. Diese Krise hat Deutschlandlaut IWF 115 Milliarden Euro gekostet. Folgekosten derWirtschafts- und Finanzkrise: 115 Milliarden Euro. Wirhaben eine Schuldenquote von 80 Prozent. Sie müssenuns irgendeine Antwort liefern, wie Sie hier herauskom-men wollen. Die Antworten, die Sie liefern, haben über-haupt keine Substanz. Das Einzige, was Ihnen wiedereinfällt, sind Steuersenkungen. Ich frage mich manchmal– diese Frage richte ich auch an die FDP –: Wundern Siesich eigentlich noch, warum Sie bei den Umfragewertenbei 3 Prozent oder meinetwegen vielleicht bei 4 Prozentliegen?
Wundern Sie sich noch darüber? Die Menschen sind vielschlauer als die FDP, und sie sind auch viel schlauer, alsdie FDP denkt.
Sie wissen nämlich genau, dass starke Schultern natür-lich mehr tragen müssen. Natürlich müssen wir dieseBelastungen irgendwie zurückführen. Das wissen dieMenschen. Deswegen glauben sie Ihnen diese Steuersen-kungsfantasien nicht – unabhängig davon, dass sie esauch gar nicht wollen. Wundern Sie sich also nicht, dassSie, wenn Sie so weitermachen, bei 4 Prozent landenwerden. Uns soll es recht sein.Ehrlichkeit wird belohnt. Ehrlichkeit heißt: Wir sa-gen, was geht. Wir sagen, was wir zumuten. Sie sind zufeige, den Menschen zu sagen, was notwendig ist.
Sie erschöpfen sich im lächerlichen Klein-Klein und imRückwärtsgang.
Jetzt werde ich ein innovatives Beispiel anführen. Wirhaben den Jahreswirtschaftsbericht bekommen. Es gabeinen Vorläufer. Im Dezember/Januar wurde uns dererste Entwurf zugänglich gemacht. Darin haben Sie überden Fachkräftemangel gesprochen. Der Fachkräfteman-gel – wir werden nachher noch eine ausführliche Debattedazu haben – ist einer der Punkte, die in Deutschland tat-sächlich absehbar zu einer Krise führen werden. Wir ha-ben im IT-Bereich, bei den Ingenieuren, im Pflegebe-reich definitiv einen Fachkräftemangel. Sie werden dasProblem allein mit inländischen Kräften nicht mehr lö-sen. Wir sagen Ja zur Bildungsoffensive. Wir sagen Jazur Frauenförderung. Wir sagen Ja dazu, ältere Arbeit-nehmer länger im Job zu behalten. Trotzdem werden Siesich über die Frage der Zuwanderung Gedanken machenmüssen.Ein innovatives Land, ein Wachstumsland, wie esDeutschland ist, ist immer auch ein Einwanderungsland.Wir sind inzwischen ein Auswanderungsland. Was istpassiert? Nichts! Es steht nichts mehr darin! Bayerisch-konservative Ideologie hat sich durchgesetzt. Sie habengesagt: Zuwanderung wollen wir eigentlich nicht, brau-chen wir nicht.
Wo sind hier Ihre Siebenmeilenstiefel? Das ist ein Gän-semarsch, was Sie hier als CDU/CSU und FDP vorfüh-ren.
Jetzt komme ich noch zur Rohstoffstrategie. Wir ha-ben von Ihnen, auch von anderen Rednern hier, gehört,dass für unsere Wirtschaft ein ganz großes Problem derZugang zu bezahlbaren Rohstoffen und Ressourcen ist.Wir haben vor einigen Wochen die Rohstoffstrategie derBundesregierung diskutiert. Ich sage Ihnen: Es ist ökolo-gisch, aber auch wirtschaftlich überhaupt nicht rational,wenn wir das, was wir haben, nicht nutzen und stattdes-sen eine reine Beschaffungsstrategie fahren. Wo sindIhre Vorschläge zur Kreislaufwirtschaft, zu Recycling,zu vernünftiger Materialeffizienz, zu Ressourceneffi-zienz? Dazu kommen keine Vorschläge! Heute – dasmuss man sich einmal vorstellen! – werden gerade ein-mal 50 Prozent des Schrotts in Recyclingprozessen auf-gearbeitet. Das heißt, bei 50 Prozent geschieht das nicht.Ich will einen Wirtschaftsminister haben, der sagt: Ichgehe bei der Kreislaufwirtschaft voran. Ich mache mirhierzu Gedanken. – Aber nein, wir haben eine Beschaf-fungsstrategie und überlegen uns, wie wir in anderenLändern, vielleicht sogar verknüpft mit der Zusage vonEntwicklungshilfe, an Rohstoffe herankommen. Kurz-
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fristig, kurzsichtig, falsch gedacht! Sie haben nicht dieErkenntnis, dass wir Umwelt und Ressourcen schonenmüssen. Wenn wir es nicht tun, dann verbauen wir Chan-cen der Zukunft, und das wollen wir nicht. Sie betreibeneine völlig falsche Politik.
Zum Schluss. Allein auf Wachstum zu setzen, reichtnicht aus. Sie brauchen Zukunftsinvestitionen und rich-tige institutionelle Reformen. Sie müssen auch einmaleinen Vorschlag machen, der zu Diskussionen führt, undsagen: Das muten wir euch zu. Das ist das, was wir brau-chen, um in die Zukunft zu gehen. – Sie brauchen eineseriöse Finanz- und Haushaltspolitik. Vor allem brau-chen Sie das Verständnis, dass Deutschland sich in Eu-ropa befindet, dass wir in einer Wirtschafts- und in einerWährungsunion sind. Der Großteil der Reden, die wirvon der Koalitionsseite gehört haben – bis auf wenigeAusnahmen –, hatte eine nationale Sichtweise.
Sie verstehen nicht einmal mehr, dass es notwendig ist,Europa zu stabilisieren, auch aus einem nationalen Inte-resse.
Frau Kollegin.
Europa zu stabilisieren, ist natürlich im europäischen
Interesse. Das ist auch ein zutiefst grünes Interesse.
Wenn Sie hier sagen: „Die Krise ist ausgestanden“, dann
haben Sie es nicht verstanden. Das macht uns Sorgen.
Ich hoffe, dass Sie noch zu neuen Erkenntnissen gelan-
gen.
Vielen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Michael Fuchs
für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man sopositive Zahlen verkünden kann wie heute der Bundes-wirtschaftsminister und Kollegen, dann ist dieses ein-fach erfreulich. Dass man das so zerredet, wie das dereine oder andere Kollege hier getan hat, kann ich über-haupt nicht nachvollziehen.Lieber Kollege Brüderle, Sie haben eben gesagt, HerrSteinmeier sei die Insel der Vernunft. Ich habe das Ge-fühl: Er ist im Hochwasser untergegangen.
Wenn ich mir vergegenwärtige, was Sie, HerrSteinmeier, gesagt haben, dann frage ich mich, ob Sie inder gleichen Welt leben wie wir. Wenn ich letztes Jahr3,6 Prozent Wachstum vorausgesagt hätte, hätten Siemich schlicht für verrückt erklärt.Wir werden dieses Jahr ein Wachstum von 2,3 Pro-zent haben. Als wir noch gemeinsam regierten, habenwir gedacht, wir würden für das Jahr 2010 eine Neuver-schuldung von circa 80 Milliarden Euro haben. ImSteinbrück’schen Haushalt war eine Neuverschuldungvon 86 Milliarden Euro vorgesehen. Wir sind dank dervernünftigen Haushaltspolitik unseres Bundesfinanz-ministers Schäuble bei 44 Milliarden Euro gelandet.
Das müssen Sie doch einmal registrieren; das können Siedoch nicht einfach wegdiskutieren.
Als Sie mit Herrn Schröder noch im Kanzleramt sa-ßen, Herr Steinmeier, hatten wir 5 Millionen Arbeitslose.Jetzt sind wir auf dem Weg, unter 3 Millionen zu kom-men. Im Jahreswirtschaftsbericht gehen wir davon aus,dass der Durchschnitt für dieses Jahr bei 2,9 Millionenliegen wird. Auch das ist eine ausgesprochen positiveZahl. Herr Gysi, diese Zahlen zeigen, dass wieder mehrMenschen in Lohn und Brot stehen, dass sie Chancen amArbeitsmarkt haben und dass sie wieder mitmachen kön-nen. Das kann man nicht so zerreden, wie Sie es getanhaben.
Was meinen Sie, wie froh diese Leute darüber sind,dass sie wieder die Chance haben, Arbeit zu bekommen.Es passiert in diesem Bereich eine ganze Menge. Oben-drein handelt es sich um Arbeitsplätze, die in industriel-len Sektoren entstanden sind, also in den Bereichen, indenen Deutschland stark ist. Ich sage Ihnen noch eines:Ich bin verdammt froh, dass wir in Deutschland eine sogut funktionierende Industrie haben, die komplett durch-organisiert ist. Mein Deutschlandbild ist das Bild von ei-nem Industrieland und nichts anderes.Ich bin auch froh, dass bei uns immer noch über35 Prozent der Arbeitsplätze in der Industrie zu findensind. In England beträgt der Anteil gerade noch7 Prozent. Was meinen Sie, wie uns die Engländer umunsere industriellen Arbeitsplätze – bei denen es sich imWesentlichen um hochbezahlte Arbeitsplätze handelt –beneiden! Ich möchte nicht, dass in Deutschland27 Prozent des Bruttoinlandsproduktes an Orten wie dortder City of London erwirtschaftet werden. Da ist mir un-sere Struktur wesentlich lieber. Wir müssen alles daran-setzen, dass diese Struktur erhalten bleibt.
Wir haben etwas dafür getan. Wir sind nach wie vorVizeexportweltmeister. Wir haben aber auch ein riesigesImportvolumen. Wir kaufen sowohl in den Industrielän-
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Dr. Michael Fuchs
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dern als auch in den Schwellenländern ein. Es ist also einGutteil Entwicklungshilfe mit dabei. Das ist positiv.Das Wirtschaftswachstum hat zum Teil auch den Bin-nenmarkt beeinflusst. Der Handel hat mitgeteilt, dass erdas beste Weihnachtsgeschäft aller Zeiten verzeichnenkonnte. Das kann man nicht einfach wegdiskutieren. Dasheißt auch – Herr Gysi, das sollten Sie sich merken –,dass Geld in den Taschen der Bürger vorhanden ist; dennsonst hätten sie im Weihnachtsgeschäft nicht so intensiveinkaufen können.Wir haben dafür zu sorgen, dass das so bleibt. Das be-deutet, dass wir uns weiter um die Preisstabilität küm-mern müssen. Diese war im letzten Jahr erfreulich nied-rig. Eine Inflation in Höhe von 1,1 Prozent ist eine Zahl,die auch Sie, lieber Herr Steinmeier, zur Kenntnis neh-men sollten. Diese positive Entwicklung sollte man nichtwegdiskutieren.
Diese positive Entwicklung hat damit zu tun, dass inDeutschland Bürgerinnen und Bürger, Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer sowie Unternehmen einen gutenJob gemacht haben. Dafür können wir dankbar sein. DiePolitik hat die richtigen Weichen gestellt.Dass wir am Anfang des letzten Jahres für eine Ent-lastung von circa 24 Milliarden Euro gesorgt haben, hatdazu geführt, dass die Kaufkraft gestärkt wurde. Das hatdazu geführt, dass der Binnenmarkt und speziell der Ein-zelhandel erstmalig wieder signifikant gewachsen sind,was in den Jahren zuvor leider nicht der Fall war.Ich gehe davon aus, dass wir diese Krise überwundenhaben, Frau Andreae. Sie sagen, das stimme nicht. Na-türlich stimmt das. Wir sind Gott sei Dank jetzt in derLage, die Krisenmechanismen zurückzufahren. Zum31. Dezember 2010 haben wir den „WirtschaftsfondsDeutschland“ geschlossen. Sie wissen genau, dass wir115 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt hatten. DieseSumme wurde allerdings bei weitem nicht in Anspruchgenommen. In der Spitze waren es nur 14,2 MilliardenEuro. Das zeigt, dass die deutsche Wirtschaft auf derKreditseite gut durch die Krise gekommen ist. Sie istjetzt so erfolgreich, dass wir diesen Mechanismus zu-rückführen können. Darauf können wir stolz sein.Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz hat genausowie das noch gemeinsam – ich bin da ehrlich – beschlos-sene Bürgerentlastungsgesetz zu dieser positiven Ent-wicklung beigetragen. Das waren richtige Entscheidun-gen.Dass es in Deutschland jetzt gut läuft, ist Schwarz-Gelb und unserer Koalition zu verdanken. Wie es dennlaufen kann, wenn eine rot-grüne Koalition regiert, se-hen wir in NRW. Da hat Ihnen das Landesverfassungsge-richt bestätigt, dass der Haushalt nicht verfassungskon-form ist
und hat Ihnen per einstweiliger Verfügung untersagt,diesen Haushalt zu exekutieren. Blamabler geht es nicht.
Noch schlimmer ist es in meinem Heimatland. Ich zitiereaus dem Bericht des sozialdemokratischen Präsidentendes Rechnungshofs Rheinland-Pfalz,
der Folgendes gesagt hat – diese Entwicklung in Rhein-land-Pfalz macht mir Sorge –: Dem Land droht derVerlust der finanzpolitischen Handlungsfähigkeit. Undweiter: Demnach überschreiten die jährlichen Kreditauf-nahmen die verfassungsrechtliche Kreditobergrenze zumTeil erheblich.Da, wo Sozialdemokraten regieren, funktioniert esnicht. Da funktioniert weder der Haushalt noch die Wirt-schaftsförderung oder die Investitionen – die Investi-tionsquote ist von allen Flächenländern in Rheinland-Pfalz die niedrigste überhaupt. Das ist sozialdemokrati-sche Politik, und die läuft fehl.
Bei Ihnen funktioniert es auch deswegen nicht, weilSie sich permanent in einer Dagegen-Mentalität bewe-gen, weil Sie mehr oder weniger gegen alles sind. Wennich mir überlege, dass wir auf der einen Seite von denGrünen hören, wir brauchten mehr erneuerbare Energie,aber dann in den Ländern gegen Leitungsnetze demon-striert wird, die wir dringend brauchen, um die erneuer-baren Energien dahin zu bringen, wo sie gebraucht wer-den, dann ist das einfach traurig.
– Frau Andreae, das sollten Sie zur Kenntnis nehmen.Vielleicht sollten Sie – bei Ihnen habe ich den Eindruck,dass Sie diesen wirtschaftspolitischen Sachverstand zu-mindest partiell noch haben – einmal mit Ihren Kollegin-nen und Kollegen in den Ländern reden, dass sie endlichdiese Einstellung aufgeben,
dass sie dafür sorgen, dass dort die Netze ausgebaut wer-den können, und sich nicht überall dagegen wenden.Das Dagegen ist ja nun zum – ich sage einmal – Si-gnum Ihrer Politik geworden. Sie werden damit am Endedes Tages nicht durchkommen, weil die Bevölkerung ir-gendwann merkt, dass Wachstum nicht mit einer Dage-gen-Haltung funktionieren kann.
Es kann auch nicht so funktionieren – wie Sie offen-bar der Meinung sind –, dass wir überall ein wenig mehran Steuern kassieren. Frau Andreae, Sie wollen mit IhrerVermögensabgabe, von der Sie eben selbst gesprochen
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Dr. Michael Fuchs
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haben, 20 Prozent innerhalb von zehn Jahren von denVermögenden einkassieren – netto 20 Prozent wegneh-men. Das ist konfiskatorische Politik, das wird mit unsnicht funktionieren.Bei Ihnen ist das so ähnlich: wieder die Vermögen-steuer! Sie haben alle den Halbteilungsgrundsatz, denuns das Verfassungsgericht einmal aufgeschrieben hat,vergessen. Das kann ich ja verstehen. Zur Vergesslich-keit neigen die einen oder anderen, weil das in der Poli-tik einfacher ist. Aber merken Sie sich das: Mehr als50 Prozent geht nicht, und wir sind verdammt nahe dran.Es ist auch heute schon so, dass die berühmten breitenSchultern jede Menge zu tragen haben. Die obersten10 Prozent der Einkommensteuerzahler zahlen rund53 Prozent der gesamten Einkommensteuer, Herr Gysi.Die obersten 25 Prozent zahlen über 75 Prozent, und dieuntersten 30 Prozent der Einkommensteuerzahler zah-len lediglich 0,3 Prozent der Einkommensteuer. Mit an-deren Worten haben wir da schon eine gewaltige Umver-teilung, die man doch nicht wegdiskutieren kann. Dasmuss in diesem Haus auch immer wieder gesagt werden.Sie machen sich das zu einfach.
Mit so viel Populismus werden Sie auch nicht durch-kommen.Wir werden alles daransetzen, dass wir in Deutsch-land eine vernünftige Politik machen, die unsere Wirt-schaft und unsere Industrie erhält. Wir werden dafür sor-gen, dass Energie zu bezahlbaren Preisen zur Verfügungsteht. Ich finde es richtig, wenn der Bundesumweltmi-nister die Exzesse bei der Photovoltaik zurückfährt. Eskann nicht sein, dass in einem Bereich rund 48 Prozentder Subventionen aus dem EEG ankommen, aber nur8 Prozent des Stroms erzeugt wird. Das ist Photovoltaik.Das sind Fehlentwicklungen, die wir jetzt schnell korri-gieren, weil das nicht sein darf.Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Punkt an-führen, der mir sehr wichtig ist: Es ist so, dass wir alsBundesrepublik Deutschland, als Industrieland Deutsch-land sehr vom Export abhängen. Leider sind die Tenden-zen, die zurzeit im internationalen Sektor zu spüren sind,negativ. Sie sind deswegen negativ, weil überall FreeTrade Agreements, bilaterale Handelsabkommen, ge-schlossen werden. Das ist eine Tendenz, die für uns sehrungünstig ist, schon gerade deswegen, weil wir vielekleinteilige Exporte haben, weil mittelständische Unter-nehmen im Export sind, und die können sich nicht in je-dem Land nach den unterschiedlichen Richtlinien aus-richten. Das ist zu kompliziert und kostet sehr viel Geld.Wir sollten alles daransetzen, Herr Wirtschaftsminis-ter, dass wir die Doha-Runde wieder in Gang bringen,dass dort weiterverhandelt und mit den Amerikanern ge-sprochen wird, die für mich zurzeit die größten Bremserauf diesem Sektor sind. Wir sollten alles daransetzen,dass wir Multilateralismus wieder Einzug halten lassen.Ich bitte Sie, dass Sie sich auch mit der WTO, mit PascalLamy, intensiv zusammensetzen, um so schnell wiemöglich wieder auf den Pfad der Tugend zurückzukom-men. Ich halte dies für dringend notwendig; denn ande-renfalls werden wir im Export Schwierigkeiten bekom-men. Das, was da so läuft, wenn Amerikaner heutesagen, sie hielten es auch mit bilateralen Abkommensehr gut aus, weil ihre Volumina so groß seien, dass sieauf großflächige internationale Abkommen nicht ange-wiesen seien, darf nicht so weitergehen. Wir müssen indiesem Jahr dafür sorgen, dass der Multilateralismus soschnell wie möglich wieder Einzug hält. Helfen Sie alledabei mit!
Das Wort erhält nun der Kollege Hubertus Heil für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen undKollegen! Weil Sie, Herr Fuchs, davon gesprochen ha-ben, dass man die schöne Frage, wem der Aufschwunggehöre, ein bisschen nüchtern betrachten solle,
sollten wir ein paar Dinge miteinander festhalten: Wiralle sind, glaube ich, der Meinung, dass es nach dieserfurchtbaren Wirtschaftskrise tüchtige Unternehmer wa-ren, die mitgeholfen haben, dass Deutschland gut durchdie Krise gekommen ist, und dass es fleißige Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer waren, die im letzten Jahrübrigens auf viel verzichtet haben.
Dass es aber auch etwas mit Strukturreformen der rot-grü-nen Bundesregierung zu tun hat – das hat ein Teil IhrerRegierung anständigerweise einmal anerkannt gehabt –und dass es etwas mit dem Krisenmanagement in Zeitender Großen Koalition zu tun gehabt hat, mit Kurzarbeits-regelungen und Konjunkturprogrammen zum richtigenZeitpunkt, das wissen Sie, Herr Fuchs, und das weiß ich.Der Einzige, der das nicht sagt, ist Rainer Brüderle.Herr Brüderle, Sie benehmen sich hier wie ein Presse-sprecher des Statistischen Bundesamtes. Sie verkündenZahlen, für die Sie überhaupt nichts können. Sie sindaber nicht Pressesprecher des Statistischen Bundesam-tes, sondern Wirtschaftsminister der BundesrepublikDeutschland. Deshalb hat Frank-Walter Steinmeier voll-kommen recht: Ihre Aufgabe ist es nicht, hier Zahlen ab-zufeiern, für die Sie nichts können, sondern Ihre Auf-gabe ist es, Deutschland zu sagen, wie wir aus diesemAufschwung einen dauerhaften Fortschritt machen kön-nen, der bei den Menschen auch ankommt. Das ist IhreAufgabe.
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Hubertus Heil
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Herr Brüderle, wo ist denn die Fachkräftestrategie,die notwendig ist, damit wir keinen gespaltenen Arbeits-markt in Deutschland bekommen? Unternehmen bekla-gen sich in manchen Branchen und Regionen – FrauAndreae hat darauf hingewiesen – jetzt schon über Fach-kräftemangel, während auf der anderen Seite immernoch 3 Millionen Menschen in Langzeitarbeitslosigkeitabgehängt sind. Wo sind denn Anstrengungen der Bun-desregierung für eine Bildungsoffensive, die dazu führt,dass wir kein Kind zurücklassen, dass nicht 65 000 Ju-gendliche Jahr für Jahr unsere Schulen ohne Abschlussverlassen und dass nicht weiterhin 1,5 Millionen Men-schen zwischen 20 und 30 Jahren ohne berufliche Erst-ausbildung dastehen. Wo sind denn da Ihre Antworten?Herr Brüderle, Sie haben in Ihrer Amtszeit genauzwei Dinge in der Koalition durchgesetzt: erstens die be-rühmte Hotel-Mehrwertsteuer und zweitens eine Ener-giepolitik zugunsten von Oligopolen und Monopolengroßer Konzerne und zulasten des Wettbewerbs.
Das ist die Bilanz des Wirtschaftsministers RainerBrüderle. Sie sind nicht zukunftsfähig.
Herr Brüderle, Sie haben sich vorhin, weil es irgend-wie zur Folklore Ihrer Partei gehört, über den Mindest-lohn geäußert. Ich sage Ihnen einmal, warum ich der fes-ten Überzeugung bin, dass Sie sich auch mit Frauvon der Leyen einmal länger über die Entwicklung in ih-rem Haushalt unterhalten sollten. Wir geben als Steuer-geld, Herr Fuchs, Jahr für Jahr 11 Milliarden aus demBundeshaushalt allein für aufstockende Arbeitslosen-geld-II-Leistungen aus. Das heißt, wir nehmen den Steu-erzahlern 11 Milliarden Euro weg, um Armutslöhne indiesem Land aufzustocken.
– 11 Milliarden Euro im Bundeshaushalt! Wenn das soweitergeht, dann kommen wir zu staatlicher Lohnbewirt-schaftung. Das hat mit sozialer Marktwirtschaft nichtszu tun. Das ist der Grund, warum wir sagen, HerrBrüderle: Wir wollen im Sinne der arbeitenden Men-schen und einer sozialen Marktwirtschaft und im Inte-resse von fairem Wettbewerb wie in anderen Länderndafür sorgen, dass Menschen von ihrer Arbeit wieder le-ben können. Auch wegen der Ordnung der Wirtschaft inunserem Lande brauchen wir Mindestlöhne.
Herr Brüderle, in Ihrer Rede hat das Thema der Arbeit-nehmerfreizügigkeit ab dem 1. Mai 2011 vollständig ge-fehlt. Inzwischen sagt sogar die BDA, die Bundesvereini-gung der Deutschen Arbeitgeberverbände, gegen IhrenWiderstand, dass wir einen Mindestlohn in der Zeitarbeitbrauchen, weil wir sonst in die Situation geraten – Siewissen es –, dass Unternehmen aus Osteuropa, die hierals Zeitarbeitsunternehmen tätig sind, den Wettbewerb inder Zeit- und Leiharbeitsbranche kaputtmachen undgleichzeitig Lohndumping befördern. Sie waren langedagegen. Ich sage Ihnen: Das reicht nicht aus. Wir brau-chen den Mindestlohn für den Bereich der Zeit- undLeiharbeit; das ist inzwischen fast Konsens, abgesehenvon Teilen der FDP. Wir werden den Mindestlohn für dieverleihfreie Zeit durchsetzen. Um dem Missbrauch derZeit- und Leiharbeit entgegenzutreten, ist es aber wichti-ger, den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“für Stamm- und Leihbelegschaft durchzusetzen; Sie wer-den es begreifen müssen.
Ich wünsche mir einen Wirtschaftsminister, der mitökonomischem Sachverstand einfach sagt: Wir wollenZeit- und Leiharbeit nicht verbieten; sie ist ökonomischvernünftig, wenn sie, Herr Fuchs, auf den Bereich derAuftragsspitzen von Unternehmen – auf nichts anderes –konzentriert wird. Wir dürfen aber nicht länger zu-schauen, wenn die Zeit- und Leiharbeit zum Einfallstorfür Lohndumping zulasten der Stammbelegschaft wird.Herr Oswald, ich habe mich lange mit Ihrem Minister-präsidenten Seehofer über dieses Thema unterhalten; ichhabe den Eindruck, er hat angefangen, das zu begreifen.Wir führen an dieser Stelle gerade Verhandlungen.Meine herzliche Bitte ist: Unterstützen Sie HorstSeehofer und überlassen Sie dieses Thema bitte nichtRainer Brüderle; denn das wäre nicht gut für Deutsch-land.
Herr Brüderle, ich bin der festen Überzeugung, dassSie ein Mensch sind, mit dem man reden kann. Manch-mal erinnern Sie mich ein bisschen an den Satz vonJohannes Rau, der einmal gesagt hat:Mein Hund ist als Hund eine Katastrophe, aber alsMensch unersetzlich!Herr Brüderle, ich will sagen: Ich finde Sie menschlichvollkommen in Ordnung; man kann gut mit Ihnen reden.Aber als Bundeswirtschaftsminister sind Sie in dieserZeit leider eine Fehlbesetzung.Herzlichen Dank.
Dr. Martin Lindner ist der nächste Redner für die
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! KollegeHeil, niemand von uns bestreitet, dass Rot-Grün undSchwarz-Rot vor uns ihren Teil zum Aufschwung beige-tragen haben.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9367
Dr. Martin Lindner
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Ich sage es Ihnen hier ganz klar und ausdrücklich: DieHartz-Gesetzgebung der damaligen rot-grünen Regie-rung hat einen wesentlichen Anteil daran, dass wir beider Erwerbstätigkeit heute so dastehen, wie wir daste-hen; das macht Ihnen überhaupt niemand streitig. DasProblem ist, dass sich Ihre Partei selbst von alldem ver-abschiedet, was sie damals richtigerweise gemacht hat:
Sie verabschieden sich selbst von der Hartz-Gesetzge-bung und von der Rente mit 67. Sie machen nur nochpopulistischen Dödelkram, seit Sie hier in der Opposi-tion sitzen.
Das ist der große Unterschied zwischen uns und Ih-nen: Wir haben die Hartz-Gesetze auch in der Opposi-tion mitgetragen, weil wir sie für vernünftig halten; wirhandeln eben nicht heute in der Opposition so und mor-gen in der Regierung anders, auch wenn es möglicher-weise manchmal angesichts der Umfragen wehtut. Kol-lege Heil und Kollege Steinmeier, es ist eher einTreppenwitz, dass ausgerechnet Sie sich im Moment inUmfrageergebnissen baden; das muss man einmal ganzklar sagen.Frau Andreae, genießen Sie die Umfragen; ich gönnesie Ihnen von ganzem Herzen. Das gab es schon auf demSchulhof: die Trainingsweltmeister, die erzählt haben,wie viele Asse sie gestern auf dem Tennisplatz hinter-einander geschlagen haben, dass sie die 100 Meter unter11 Sekunden gelaufen sind. Das Problem war nur: Wenndie Turniere, die Wettbewerbe anstanden, war nichtsmehr los. Schauen Sie also einmal, dass Sie Ihre PS aufdie Straße bringen und Sie bei den Landtagswahlen, dievor uns stehen, tatsächlich so tolle Ergebnisse haben. Ichdarf Sie zum Schluss daran erinnern: Zwischen 1998 und2002 hatten wir immer wieder super Umfrageergebnisse;die CDU/CSU hatte teilweise absolute Mehrheiten.Dummerweise sah es dann bei der Wahl 2002 ganz an-ders aus. Frau Andreae, warten wir also ab, wie sich dasentwickelt.Kommen wir zurück zum Thema Mindestlohn. WennSie sich einmal mit Unternehmern unterhalten – ich habees Ihnen schon gestern gesagt –, dann werden Sie sehrschnell feststellen, dass Ihnen Unternehmen beispiels-weise aus der Sicherheitsbranche, die sehr für den Min-destlohn sind, auf Nachfrage klarmachen, was passiert,wenn ein einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn einge-führt wird: Genau die Leute, die jetzt für ein Gehalt un-ter dem Mindestlohn arbeiten, den Sie anstreben, würdenwieder freigestellt; man würde dann, so wurde mir ge-sagt, Schichten zusammenlegen.
Genau diese 1,5 Millionen, die Sie gerade beklagt ha-ben, die vom Staat teilalimentiert werden, die dürfen Siedann voll alimentieren. Das kann doch keine sinnvollePolitik sein, Kollege Heil, Kollege Steinmeier. Es kanndoch wirklich nicht Ihr Ernst sein, dass das die Alterna-tive ist.
Schauen Sie sich die internationalen Vergleiche an!
Die Länder, die den Mindestlohn haben, wie Frankreichund andere, die sind doch in der Entwicklung der Er-werbstätigkeit alle deutlich hinter Deutschland.
– Entschuldigung. Sie können doch eines der größten In-dustrieländer der Welt nicht mit Luxemburg vergleichen!Das ist doch wirklich völlig abwegig.
Ich meine, was wollen wir hier denn machen? Offshore-gesellschaften gründen oder Ähnliches? Das ist dochläppisch.
Besonders perfide, Kollege Gysi, ist, dass Sie sichhinstellen und hier sagen, wenn wir den Mindestlohnnicht einführen würden, würde das im Zuge vollständi-ger EU-Freizügigkeit zu einer Zunahme von Fremden-feindlichkeit führen. Es ist doch Ihre Partei, die dasschürt
durch dieses Hetzen gegen den Vertrag von Lissabon,mit den Fremdarbeitersprüchen Ihres ehemaligen Vorsit-zenden Lafontaine. Sie, die Linke, und die NPD sindführend in dem Schüren dieser Fremdenfeindlichkeit.
Das ist doch ganz klar. Und dann stellen Sie sich hier hinund beklagen das. Das ist genau das, was gestern auchFrau Wagenknecht im Ausschuss an Ressentiments ge-schürt hat.Wir haben eine gesunde Entwicklung auch bei derprivaten Konsumzunahme, aber, Frau Kollegin Andreae,Sie haben recht.Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das finde ichauch!)Ich meine das, was Sie zu den Krisen sagen. Ich meine,ein richtig gestandener Grüner braucht Krisen, sonstfühlt er sich nicht richtig wohl. Das ist auch die Geburts-stunde Ihrer Partei. Krise hier, Krise da.
Sie haben recht, wenn Sie sagen, dass wir wachsamsein müssen, dass gerade die Bewahrung der Euro-Stabi-lität eine der zentralen Herausforderungen ist.
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9368 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Dr. Martin Lindner
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Wenn uns das nicht gelingt, dann werden wir natürlichauch für die deutsche wirtschaftliche Entwicklung gra-vierende negative Folgen haben. Deswegen setzt sichdiese Bundesregierung so massiv dafür ein, zu verhin-dern, dass wir eine Transferunion bekommen. Es kanndoch niemand hier, der deutscher Volksvertreter ist, dasernsthaft wollen, was da von Ihnen teilweise gestreutwird.
Sie können doch nicht zulassen, dass in Griechenlandmit Mitte 50 in Rente gegangen wird und der deutscheArbeitnehmer, der bis 67 arbeiten soll, das aus seinemSteuergeld finanzieren soll. Das kann doch keine ver-nünftige Politik sein.
Wahr ist aber, dass wir hier schon gemeinsame Wege,auch gemeinsame Wege wirtschaftlicher Entwicklung,finden müssen. Diese Balance, auf der einen Seite zuUmschuldungsverfahren zu kommen, zu sogenanntenHaircuts, zu staatlichen Insolvenzverfahren, und auf deranderen Seite zu sehen, dass wir durch eine zusätzlichintegrierte gemeinsame Wirtschaftspolitik Europa stär-ken und auf jeden Fall verhindern, dass wir hier in eineRenationalisierung in Europa kommen, das, glaube ich,muss auch gemeinsames Ziel und gemeinsame Politikdieses Hauses sein.
Wir haben neben der Haushaltsstabilität, die auchdiese Bundesregierung in exzellenter Weise hinbekom-men hat, dieses Jahr ein Defizit unter 2,5 Prozent. Dashätte uns am Anfang des vergangenen Jahres niemandzugetraut. Natürlich ist es für uns eine große Herausfor-derung, dies in einen Kontext mit unserem gemeinsamenZiel einer Entlastung unserer Bürger bei Steuern undAbgaben zu bringen. Das bleibt unser Ziel, und da rin-gen wir natürlich miteinander, um dieses Ziel zu errei-chen, es den Menschen ein Stück einfacher zu machen,ihre Steuererklärung abzugeben, dass sie sich nicht dau-erhaft damit beschäftigen müssen, wie sie dem StaatSteuern entziehen können – legal oder vielleicht sogar il-legal –, sondern dass sie einen Weg bekommen, sich we-niger damit zu beschäftigen, und dass der Staat auf deranderen Seite solidere Einnahmen hat. Das ist doch aucheine vernünftige Politik.Natürlich ringen wir auch um Entlastungen für dieBürger. Da können Sie sich ja gern über kleine Erfolgelustig machen, aber wenn Sie diesen kleinen Erfolgeneinmal gegenüberstellen, was Sie im Unmaß von Steuer-gier in den letzten Wochen und Monaten – Sie und dieSPD – beschlossen haben, dann weiß da draußen dochauch jeder, woran er ist, wenn Sie tatsächlich irgend-wann einmal an die Macht kommen sollten:
Wegfall des Ehegattensplittings und dann auch immerIhre schöne Forderung nach Erhöhung der Spitzensteuer.Schauen Sie sich einmal an, wie sich die Spitzen-steuer entwickelt hat! Sie haben sie gesenkt. Sie habensie doch gesenkt.
– Ja, aber Sie müssen sich einmal anschauen, wer heutealles Spitzensteuer bezahlt, Herr Kollege Heil.
Das sind doch nicht mehr allein nur Millionäre und Vor-stände von DAX-Unternehmen. Zu dieser Gruppe zähltdoch mittlerweile jeder Facharbeiter. Das ist es doch. Siewollen den Leuten in die Tasche greifen.
Kohl hatte damals recht: Masse bringt Masse. – Daswissen Sie ganz genau.
Sie können nicht von den Steuern der paar Einkommens-millionäre leben. Der Ertrag aus der Reichensteuer liegtbei gerade einmal 400 Millionen Euro. Wenn Sie Massekassieren wollen, dann machen Sie das auch deutlich.Frau Schwesig hat neulich zusammen mit HerrnScharping, der ja brutto und netto verwechselt, gesagt,bei 100 000 Euro solle es losgehen. Wir werden IhnenIhre Gier um die Ohren hauen, die Sie an den Tag legen,wenn Sie an die Steuersäckel der Bürgerinnen und Bür-ger wollen.
Meine Damen und Herren, wir haben auch im BereichForschung und Entwicklung deutlich zugelegt und ver-zeichnen hier große Erfolge.
Trotz Haushaltskonsolidierung haben wir die Fördermit-tel auf 13 Milliarden Euro pro Jahr erhöht. Wir wollenund werden diesen Weg weitergehen, wobei das ThemaFachkräftemangel
in einer gesonderten Debatte zu behandeln ist.Wir wollen auch in die Infrastruktur investieren. Siemüssen aber vor Ort mitmachen. Die SPD kann sichnicht immer, wie bei Stuttgart 21, wegdrücken, wenn ihrdie Kugeln um die Ohren fliegen, und die Arbeit den an-deren überlassen. Sie müssen dann auch mitmachen undzu dem, was Sie in der Vergangenheit gemacht haben,als Sie in der Regierungsverantwortung waren, auch
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9369
Dr. Martin Lindner
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dann noch stehen, wenn es einmal unangenehm wird.Sonst können Sie keine Infrastrukturpolitik machen. Dawird es immer wieder einmal unangenehm. Es werdenimmer 20 000, 30 000 oder auch mal 50 000 Menschenauf der Straße demonstrieren. Man kann sich nicht jedesMal in die Büsche schlagen und sagen: Um Gottes wil-len, jetzt wird es aber gefährlich, das ist ja eine Massen-demonstration. Man muss vielmehr auch dann zu seinenEntscheidungen stehen.Lieber Herr Kollege Steinmeier, Sie haben hier die„Bröckel-Republik Deutschland“ reklamiert. Fahren Sieeinmal durch Berlin, wo Rot-Rot regiert. Dort könnenSie die Schlaglöcher ohne Großcomputer an Bord garnicht mehr zählen. Daran sehen Sie, welche Infrastruk-turpolitik Sie vor Ort machen.
Herr Kollege Lindner, Sie möchten bitte zum Ende
kommen. Sie haben Ihre Redezeit weit überschritten.
Wo Sie regieren, geht es den Leuten schlechter. Wo
wir, wo Schwarz-Gelb regiert, in den Ländern und im
Bund, geht es den Leuten besser.
Das wird an nichts deutlicher als an diesem Jahreswirt-
schaftsbericht.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Kollegin Sahra Wagenknecht für
die Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ichdenke, nach so viel Selbstbeweihräucherung sollte manmal wieder auf die Realität zu sprechen kommen.
Auch wenn Sie sich noch so sehr in die Tasche lügen:Dieser Wirtschaftsaufschwung, für den sich diese Regie-rung hier seit inzwischen zwei Stunden selbst feiert, fin-det für die große Mehrheit der Menschen in diesem Landschlicht nicht statt. Er findet genauso wenig statt wie derletzte Wirtschaftsaufschwung 2005 bis 2007. Damalshatte noch eine andere Regierung die Verantwortung ge-tragen; aber über Kontinuität ist hier ja schon mehrfachgesprochen worden.Was wir jetzt haben, ist ein Aufschwung für dieAckermänner, die wieder nach Herzenslust zocken kön-nen.
Das ist ein Aufschwung für die Konzerne, die sich schonwieder dumm und dämlich verdienen und trotzdem nichtinvestieren, und es ist natürlich ein Aufschwung für dieMultimillionäre, deren Vermögen in den letzten zweiJahren explodiert ist, vor allen Dingen auch imKrisenjahr 2009.Dass wir immer wieder Aufschwünge dieser Art be-kommen, hat natürlich auch damit zu tun, dass diesesLand seit Jahren mit Regierungen gestraft ist, die vonden Ackermännern, von den Konzernen, von den Multi-millionären gekauft sind. Das ist das zentrale Problem.Das fing bei Rot-Grün an und hat sich bis heute nichtverändert.
Es gab in grauen bundesdeutschen Vorzeiten mal ei-nen Kanzler, der tatsächlich Wohlstand für alle schaffenwollte. Wie fremd Ihnen auch nur dieser Anspruch ge-worden ist, merkt man daran, mit welcher Selbstgefällig-keit Sie hier eine Situation in den Himmel loben, in derder Wohlstand der großen Mehrheit der Menschen nichtsteigt, sondern sinkt. Und das feiern Sie hier auch noch!
Wenn in den letzten zwei Jahren in Deutschland366 000 Industriearbeitsplätze abgebaut werden – davonallein im Jahr 2010 136 000 –, ist das für diese Regie-rung ein Jobwunder. Wenn die Maschinenbaubranche inDeutschland derzeit 17 Prozent weniger produziert alsvor der Krise und die realen Nettolöhne pro Arbeitneh-mer sich unterhalb des Niveaus des Jahres 2000 bewe-gen, dann feiern Sie das als den größten Wirtschaftsauf-schwung der bundesdeutschen Geschichte. Das ist dochabsurdes Theater, was Sie hier vorspielen – schlechtesabsurdes Theater.
Die Gefahr ist natürlich groß, dass es noch erheblichschlimmer kommt; das ist schon angesprochen worden.Ab Mai dieses Jahres gibt es in Europa die Arbeitnehmer-freizügigkeit. In eine solche Situation mit einem deregu-lierten Arbeitsmarkt wie dem deutschen zu gehen – ohneMindestlohn und mit einem boomenden Leiharbeitssektor,der mit seinen perspektivlosen Hungerlohnjobs schon jetztimmer mehr reguläre Arbeitsverhältnisse verdrängt –, istdoch ein Himmelfahrtskommando!
Oder es ist eine bewusst kalkulierte neue Runde bru-talen Lohndumpings. Wenn es Ihnen darum geht, erzäh-len Sie uns aber bitte nicht mehr, wie es im Jahreswirt-
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9370 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Sahra Wagenknecht
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schaftsbericht steht, dass Sie erwarten, dass der Konsumin diesem Jahr wahnsinnig zulegen wird.
Da fragt man sich schon: Wo soll denn dieser plötzlicheKonsumrausch eigentlich herkommen? Von den Be-schäftigten, die Anfang des Jahres schon wieder wenigerNetto vom Brutto haben? Von den Rentnerinnen undRentnern, deren Kaufkraft seit Jahren sinkt, weil ihreRenten, wenn sie überhaupt steigen, in geringerem Um-fang als die Inflation steigen? Von den lächerlichen5 Euro pro Monat mehr für Hartz-IV-Empfänger, die Sieihnen längst schon wieder zehnfach aus der Tasche gezo-gen haben? Das ist doch das, was läuft! Oder von denKleinunternehmern, die froh sein können, wenn sie vomKreditgeiz der Banken noch nicht in die Pleite getriebenwurden? – Da soll Ihr Konsumrausch herkommen? Dasist doch absurd!Die Konjunktur des letzten Jahres wurde nahezu aus-schließlich vom Export und von den Staatsausgaben ge-tragen.
Beides wird sich nicht fortsetzen. Die Bestellungen ausdem Euro-Raum sind bereits eingebrochen; schon Endeletzten Jahres sind sie eingebrochen, und das ist auchkein Wunder. Und von einer Ausweitung öffentlicherAusgaben kann angesichts überschuldeter Kommunenund angesichts von Spardiktaten in Bund und Ländernsowieso keine Rede sein. Wenn Export und Binnennach-frage in so einer Situation die, wie Sie im Jahreswirt-schaftsbericht schreiben, stabilen Säulen bzw. stabilenStandbeine dieses Aufschwungs sein sollen, dann heißtdas nichts anderes, als dass der Aufschwung auf ver-dammt tönernen Füßen steht.Wenn Sie wirklich wollen, dass sich der Binnenmarkterholt, dann müssen Sie einen Mindestlohn von 10 Europro Stunde einführen.
Erzählen Sie nicht immer wieder diesen elendenQuatsch, dass dadurch Arbeitsplätze vernichtet würden.Durch Einführung eines Mindestlohns wurden weder inFrankreich noch in Großbritannien noch sonst wo Ar-beitsplätze vernichtet, sondern Arbeitsplätze geschaf-fen. Verbieten Sie das Lohndumping via Leiharbeit, underhöhen Sie den Hartz-IV-Satz auf 500 Euro.
Das ist das Mindeste, was ein Mensch zum Lebenbraucht. Sie alle könnten davon wahrscheinlich gar nichtleben.
Sorgen Sie vor allem dafür, in Deutschland und in Eu-ropa, dass die explodierenden Staatsschulden denen inRechnung gestellt werden, die sie verursacht haben, undnicht der Bevölkerung. Dafür sollten Sie sich einsetzen,statt immer mehr Länder in die Depression zu treibenund zugleich immer größere Risiken beim deutschenSteuerzahler abzuladen. Das ist verantwortungslos.
Abschließend möchte ich Ihnen sagen: So wie ich Sie,Herr Brüderle, bei Ihrer Regierungserklärung und dieVertreter der Regierungsparteien hier erlebt habe, hatteich das eine oder andere Déjà-vu-Erlebnis. Die Art undWeise, wie Sie die wirtschaftliche Realität wegreden,wie Sie Instabilität und Krisenanfälligkeit wegreden undden Leuten heile Welt vorspielen, und die Selbstgefällig-keit, die Sie zur Schau tragen,
erinnert mich – das muss ich sagen – wirklich sehr an dieletzten Ausgaben der DDR-Nachrichtensendung Aktu-elle Kamera. Das ist das Niveau, auf dem Sie inzwischenangekommen sind.
Man kann sich nur wünschen, dass die Menschen Ihnendafür bei den anstehenden Wahlen eine angemesseneQuittung verpassen werden.Danke schön.
Das Wort hat nun Kollegin Ingrid Nestle für die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter HerrPräsident! Lieber Herr Brüderle, Sie jubilieren über dieWachstumszahlen der letzten Monate. Ich glaube zwarnicht, dass dies größtenteils Ihr Verdienst ist; aber es seiIhnen gegönnt, zu jubilieren
Der springende Punkt der heutigen Debatte ist jedochdie Frage, welche Weichen Sie für die Zukunft stellen.Sie als Politiker haben nicht die Aufgabe, die Vergan-genheit zu beobachten. Sie haben die Aufgabe, die Zu-kunft zu gestalten und Warnsignale rechtzeitig wahrzu-nehmen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9371
Ingrid Nestle
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Ein Warnsignal haben Sie, wie ich glaube, selbst er-kannt. Herr Pfeiffer, Sie sprachen von steigenden Ener-giepreisen. Herr Brüderle, Sie haben gestern in der SZ,weil Sie sich um die steigenden Benzinpreise Sorge ma-chen, gefordert, Benzin solle von Discountern verkauftwerden. Sie haben argumentiert: Wenn es ein größeresAngebot gäbe, dann würden die Preise fallen.
Aber leider habe ich den Eindruck, dass Sie an der Stelledie Marktwirtschaft nicht ganz verstanden haben. Dennnur weil Benzin von Discountern verkauft wird, ist na-türlich auf dem Weltmarkt nicht ein größeres Angebot anRohöl vorhanden.
Hier haben wir eine ganz entscheidende Alarmlampe,deren Leuchten Sie sehen und wahrnehmen müssten undworauf Sie mit Ihrer Politik reagieren müssten.Es ist wenige Jahre her, da gingen die allermeisten da-von aus, dass der Ölpreis noch über Jahrzehnte bei30 Dollar pro Barrel bleiben würde. Die Hochpreissze-narien gingen von 60 Dollar aus, und es wurde gesagt,das sei richtig teuer und ein richtiges Problem für unsereWirtschaft – so hieß es damals. Die ganzen letzten Tagelag der Ölpreis bei über 90 Dollar pro Barrel – 60 Dollarsind schon ein Problem –, aber es hat sich an Ihrer Poli-tik seit den Tagen, als er bei 30 Dollar lag, nichts verän-dert. Es hat sich nichts geändert in dem Sinne, dass Siemit einer Effizienzstrategie für mehr Effizienz gesorgthätten. Aber genau das müsste im Interesse der Wirt-schaft passieren.
Bleiben wir bei dem Beispiel Auto. Es gibt gerade dieAnstrengungen, ein Effizienzlabel einzuführen. Das gibtes auf deutscher und auf europäischer Ebene. Im Wirt-schaftsausschuss wurde ganz offen und unverhohlenklargestellt, dass die Regierung nur ein Interesse daranhat, deutsche Autos zu fördern, nicht etwa effiziente Au-tos. Es ist Ihnen also völlig egal, ob die Autos effizientoder ineffizient sind. Hauptsache, die deutschen Autoskommen gut dabei weg. Das führt dazu, dass letztlich je-mand, der eine Bleiplatte unter sein Auto schraubt, nachden Vorstellungen, die Sie einbringen, mit seinem Autoin eine bessere Effizienzklasse kommt. So kommen wirnicht voran.
Ich möchte unsere Autos fit für die Zukunft machen.Ihre Regierung geht davon aus, dass sich die Zahl derAutos weltweit bis 2030 verdoppeln wird. Glauben Sieernsthaft, dass wir die Rohölproduktion bis 2030 werdenverdoppeln können? Sie können über Peak Oil glauben,was Sie wollen. Fest steht, wir werden die Produktionnicht verdoppeln. Wem wollen Sie dann die Autos ver-kaufen, wenn Sie heute für die Industrie Anreize schaf-fen, Spritfresser zu bauen? Wem wollen Sie dann in Zu-kunft die Autos verkaufen?Ich weiß, dass Sie die heutigen Wirtschaftszahlen imKopf haben, aber denken Sie doch auch an die Zukunft.Jetzt möchte ich noch zu dem Thema kommen, umdas es hier geht, nämlich den Jahreswirtschaftsbericht.Sie leiten den Energieteil mit der Behauptung ein, dasEnergiekonzept der Bundesregierung sei der Weg in eineZukunft mit erneuerbaren Energien. Das ist der Hohn.Eigentlich ist das gelogen, aber ich fürchte, Sie wissenan der Stelle einfach nicht, was Sie tun. Ihr Energiekon-zept basiert auf Zahlen, nach denen der Ausbau vonWindanlagen an Land über die nächsten zehn Jahre imVergleich zu dem, was wir die letzten zehn Jahre hatten,gedrittelt wird. Eine Drittelung des Ausbaus ist nicht derWeg in die Zukunft der erneuerbaren Energien, das istdas Gegenteil.
Konkret wird Ihr Konzept lediglich beim ThemaAtom, ansonsten fehlt es an Maßnahmen. Auch in einemanderen Punkt ist der Jahreswirtschaftsbericht entlar-vend: Er enthält einen Kasten „Ziele, Maßnahmen undÜberwachung“. In dem ganzen Kasten steht nicht eineeinzige Maßnahme, und das charakterisiert Ihr Energie-konzept, dass nämlich keine Maßnahmen darin enthaltensind, nur Ziele und Konkretes zum Thema Atom.
Da ja unter anderem von Herrn Fuchs das Thema Netz-ausbau angesprochen worden ist, noch ganz kurz dazu:Ich gebe Herrn Steinmeier recht, dass es die Bundesre-publik nicht voranbringt, sie in eine Dafür- und eine Da-gegen-Ecke zu teilen. Aber an dieser Stelle muss ich dasdoch korrigieren. Beim Stromnetzausbau ist die CDU/CSU die Dagegen-Partei, die Dagegen-Partei sind Sie!
Wir können über die Leute reden, die vor Ort für odergegen Stromleitungen sind. Zig Landräte der Unionkämpfen zum Beispiel gegen Stromleitungen. Aber re-den wir doch hier im Bundestag darüber, was wir aufBundesebene machen. Und da haben wir letzte Wocheein Stromnetzkonzept vorgelegt, das deutlich detaillier-ter ist als alles, was Sie haben, das deutlich konkreterwird als all das, was Sie vorlegen, und in dem wir unsklar zum menschenfreundlichen Ausbau der Stromnetzebekennen.Sie dagegen blockieren seit Jahren den Ausbau derStromnetze, weil Sie bis heute den generellen Vorrangder Erdverkabelung vor neuen Hochspannungsleitungennicht akzeptieren und den Ausbau der Erdkabel blockie-ren. Dagegen wehren Sie sich, dagegen haben Sie sichimmer gewehrt. Sie akzeptieren auch nicht den generel-len Vorrang der Teilverkabelung bei neuen Höchstspan-nungsleitungen.
Sie blockieren das bis heute, wie Sie es schon seit unserenRegierungszeiten gemacht haben. Sie haben damit jede
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9372 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Ingrid Nestle
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Menge Stromleitungen verhindert, die es heute schon ge-ben könnte.
Sie sind die Dagegen-Partei, die Neinsager-Partei.Herr Brüderle, ich freue mich, dass Sie unser Konzeptzur Kenntnis genommen und auch gelesen haben. Siehaben es ja gestern in der Presse kommentiert. Sie habenaber nur einen Punkt herausgegriffen und gesagt, wirwollten mehr Verstaatlichung, Sie dagegen wollten mehrWettbewerb. Ja, nennen Sie es ernsthaft Wettbewerb,wenn Sie verhindern, dass Netz und Erzeugung getrenntwerden? Das Netz ist ein natürliches Monopol, bei demes im Moment überhaupt keinen Wettbewerb gibt. Sollendiese Netze angesichts der Tatsache, dass 80 Prozent derStromerzeugung bei nur vier Unternehmen liegen, beiden Erzeugern bleiben? Nennen Sie es Wettbewerbschaffen, wenn Sie zulassen, dass dieses Monopol in denHänden der Großkonzerne bleibt? Vor diesem Hinter-grund ist es nicht fair, uns vorzuwerfen, wir würden hiernicht für Wettbewerb eintreten. Wir haben Ideen dafürvorgelegt, wie man im Stromsektor – unter anderem imAusschreibungsverfahren – mehr Wettbewerb schaffenkann.
Wir sind bei den Stromnetzen die Dafür-Partei, Siesind die Dagegen-Partei.
Sie wehren sich an dieser Stelle, und ich hoffe, dass Siehier mit etwas mehr Ehrlichkeit in die Zukunft gehen;denn auch das ist für unsere Demokratie notwendig.Danke schön.
Das Wort hat nun Kollege Georg Nüßlein für die
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Kolle-gin Nestle, wenn wir gegen etwas sind, dann gegen die-ses industrie- und energiepolitische Harakiri, das Sie unshier ständig anbieten. Es ist unglaublich, was Sie unshier auftischen wollen,
wie Sie hier mit ideologisch gefärbten Fantasien versu-chen, uns weiszumachen, dass man schon morgen ohneVerwerfungen und ohne Probleme in das Zeitalter der re-generativen Energien einsteigen könnte, und dass Sieimmer dann, wenn es zum Schwur kommt und wir sa-gen, wir müssen auch mit Blick auf die Preissituation ander einen oder anderen Stelle eingreifen und etwas än-dern, wieder dagegen sind.
Das werden wir demnächst wieder erleben. Ich bin mirsehr, sehr sicher, dass uns das wieder blühen wird, dassSie dagegen sind und sagen: Nein, nein, 100 Prozent er-neuerbare Energie ist möglich. – Das mag stimmen, abernatürlich nicht zu Konditionen, die wirtschaftlich sindund durch die unser Industriestandort vorangebrachtwird.Liebe Kollegin Wagenknecht,
am meisten treibt mich die Definition von Armut um, dieSie uns hier immer wieder auftischen. Die ist einfach un-glaublich. Informieren Sie sich doch einmal, was dieLänder um uns herum unter Armut verstehen und wie sieunser Sozialsystem einschätzen. Dann kommen Sienämlich zu einem ganz anderen Befund als dem, den Siehier vortragen. Ich weiß aber, dass Sie das nicht interes-siert und dass Sie das nicht hören wollen. Sie haben wieviele Ihrer Kommunistenfreunde – Lafontaine in derVilla, Ernst im Porsche – ein besonderes Verhältnis zumVermögen. Ihre Brillanten, die mich vorhin geblendethaben, als Sie hier vorne standen, sind auch verräterisch.Dadurch zeigen Sie, wie Sie über diese Thematik den-ken.
Dass Sie dann auch noch die Statistiken komplett an-zweifeln, mag ja vielleicht an Ihrer Erfahrung mit derehemaligen DDR liegen, wo die Statistiken in der Tat ge-fälscht waren. Dadurch zeigt sich Ihr besonderes Ver-hältnis zur Statistik und im Übrigen auch zur Stasi.
Dazu werden wir in der nächsten Zeit von Ihrer Seite jaauch noch einiges hören. Es ist eine unglaubliche Dreis-tigkeit, mit der Sie sich regelmäßig hier an dieses Red-nerpult stellen.
Die Dreistigkeit unseres Altkanzlers GerhardSchröder ist mir da deutlich lieber. Dadurch wird mirschon wieder ein gewisses Maß an Respekt abgenötigt.Direkt nach der Kanzlerwahl hat er verkündet: „Das istmein Aufschwung“, und jetzt, nachdem er nicht mehrKanzler ist, sagt er wieder: „Das ist mein Aufschwung.“
Das ist schon bemerkenswert. Mir ist diese Frechheitaber lieber als die Selbstverleugnung, der Kleinmut undder politische Opportunismus, den man hier und da spürtund der bei Ihnen allgegenwärtig ist.Ich glaube, wir alle miteinander verpassen hier einegroße Chance für die Demokratie. Es ist uns gelungen,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9373
Dr. Georg Nüßlein
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einen kurzen und direkten Weg aus der Krise zu finden.Er ist gegangen worden von mutigen Arbeitnehmern, ge-gangen worden von mutigen Unternehmern, aber ge-pflastert worden von beherzten Politikern. Die Bot-schaft, dass nationale Politik im internationalen Konzertetwas bewegt, müssten wir doch alle miteinander nachdraußen tragen, anstatt hier jetzt das eine oder anderekleinzureden. Das ist wichtiger als die Debatte darüber,wem dieser Aufschwung gehört. Wir haben Vertrauen indie soziale Marktwirtschaft geschaffen. Es liegt an unsallen miteinander, Vertrauen in die Politik zu schaffen.
Ich will an dieser Stelle kurz an die Zahlen erinnern:3,6 Prozent Wachstum, 40,5 Millionen Beschäftigte, nurnoch 2,9 Millionen Arbeitslose.
Bei diesen Zahlen hätten Sie in Ihrer rot-grünen Regie-rungszeit Freudenfeuer angezündet. Heute sagen Sie:Jetzt geht es darum, sicherzustellen, dass sich das fort-setzt. – Das stimmt, aber es gibt gute Indizien dafür, dassdas geschieht: Es wird einen weiteren Rückgang der Ar-beitslosenquote geben. 41 von 46 befragten Wirtschafts-verbänden sagen, dass die Stimmung noch besser ist alsim letzten Jahr. 32 dieser Verbände rechnen mit besserenUmsätzen. Viele Unternehmen wollen auch in diesemund im nächsten Jahr mehr Arbeitsplätze schaffen. Ichwill aufgrund dieser Zahlen jetzt nicht in einen Freuden-taumel verfallen. Das wäre sicherlich falsch.Die Kollegin Andreae hat sicher recht: Wir müsseninsbesondere mit Blick auf das, was in Europa stattfin-det, jetzt einen Weg finden, das alles und vor allem diegeniale Idee Europa zu stabilisieren. Aber mit dem, wasSie gesagt haben, liebe Kollegin, haben Sie auch beson-dere grüne Positionen entlarvt, nämlich zum einen, dassKrise, Angst und Sorge grundlegend zu grüner Politikdazugehören, und zum anderen, dass Sie sich immernoch damit schwertun, was nationale Politik ausmacht.Die Kollegin Nestle hat vorhin darüber philosophiert,dass wir sagen, dass es unser ureigenstes Interesse sei,deutsche Autos zu verkaufen.
Da wir wissen, dass der konjunkturelle Aufschwung zueinem wesentlichen Teil von der Automobilindustrie ab-hängt, haben wir in der Tat ein legitimes Interesse daran,dass deutsche Automobile verkauft werden. Das ist eineganz klare Sache, und dafür stehen wir auch ein.
Ich meine, dass Europapolitik auch heißen darf, inBrüssel nationale Interessen zu vertreten. Ein fundamen-tales nationales Interesse von uns ist es, keine Transfer-union zu schaffen. Das ist ein zentraler Punkt.
Wir können zwar darüber diskutieren, ob es uns gelingt,das zu vermeiden – darin bin ich ganz auf Ihrer Seite –,aber wir müssen es zumindest versuchen.Heute ist schon viel über Arbeitskräftemangel disku-tiert worden. Wir sollten jetzt nicht in Panik und Aktio-nismus verfallen. Minister Brüderle hat in bemerkens-werter Weise deutlich gemacht – darin gebe ich ihmausdrücklich recht –, dass es darum gehen muss, das in-ländische Fachkräftepotenzial zu heben und in dem Zu-sammenhang unser duales Ausbildungssystem zu stär-ken.
Dieses System gibt uns einen Vorsprung gegenüber an-deren Ländern. Dieses System gibt auch mir die Gewiss-heit, dass uns Freizügigkeit im zukünftig eine halbe Mil-liarde Menschen umfassenden Binnenmarkt nicht mitSorge erfüllen muss. Indem ich explizit darauf verweise,dass wir ab Mai einen Arbeitsmarkt haben, der einehalbe Milliarde Menschen umfasst, will ich zugleich zei-gen, dass ich guter Dinge bin, dass wir aus diesemPotenzial auch unseren Fachkräftebedarf decken kön-nen.Diejenigen, die uns einreden wollen, ein Arbeitsmarktin dieser Größe werde nicht reichen, verfolgen entwederspezielle Ziele, die nicht immer ehrenhaft sind, oder ken-nen schlicht und schlank das deutsche Ausländerrechtnicht. Aus den USA oder aus Japan kann jeder kommen,der bei uns Forschung und Lehre betreiben will. Jeder,der mehr als 66 000 D-Mark verdient,
kann von außerhalb der Europäischen Union ohne Vor-rangprüfung zu uns kommen. Derjenige, dessen Ver-dienst darunter liegt, kann mit Vorrangprüfung – die imÜbrigen meist positiv beschieden wird – zu uns kom-men.Das heißt doch ganz klar: Wir brauchen kein pseudo-gerechtes Punktesystem. Wir brauchen keine Änderun-gen im Ausländerrecht. Wir brauchen keine Multikulti-fantasien wie die der Grünen. Wir brauchen aber schongar keine Zuwanderung in unsere Sozialsysteme.
Ich konzediere an dieser Stelle ausdrücklich, dass wirHandlungsbedarf im Bereich der Zeitarbeit haben. Eskann nicht in unserem Interesse liegen, den Arbeitneh-mer zweiter Klasse zu institutionalisieren.
Flexibilität ist wichtig, darf aber auch etwas kosten.
Aus meiner Sicht geht es um das Abdecken von Spitzen-kapazitäten und Spitzenbedarf. Es darf nicht zu Lohn-dumping kommen. Deshalb besteht hier dringenderHandlungsbedarf.
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9374 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Dr. Georg Nüßlein
(C)
(B)
Seien Sie versichert, dass wir das Problem lösen werden.Da sind wir eng beieinander.
– Meine Redezeit ist leider abgelaufen.
Stimmt, eigentlich ist Ihre Redezeit abgelaufen. Kol-
lege Heil, bestehen Sie auf Ihrer Nachfrage? Das ist
keine Zwischenfrage mehr.
Ja.
Bitte schön.
Herzlichen Dank, Herr Präsident! – Herr Kollege
Nüßlein, da Ihre Redezeit vorbei ist, möchte ich Ihnen
gerne Gelegenheit geben, das, was Sie zum Schluss ge-
sagt haben, gemeinsam mit mir zu konkretisieren. Sie sa-
gen: Zeit- und Leiharbeit werden missbraucht. Zeit- und
Leiharbeit sollen auf die Auftragsspitzen von Unterneh-
men konzentriert werden.
Sind Sie mit mir der Meinung, dass man als Gesetzge-
ber dafür etwas an zwei Stellen tun muss, nämlich dass
wir zum einen das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche
Arbeit“ durchsetzen müssen, damit das nicht tatsächlich
ein Einfallstor für Lohndumping ist, und dass wir zum
anderen einen Zeitarbeitsmindestlohn einführen müs-
sen? Können Sie mir bestätigen, dass wir beides brau-
chen?
Schade ist, dass Sie meine Redezeit nicht so verlän-
gern, wie ich mir das gewünscht und erhofft habe; denn
diese Frage kann ich schlicht und schlank mit Ja beant-
worten. Das werden und müssen wir tun.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun Kollege Garrelt Duin für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrter Herr Minister, das ist verschiedentlichschon angesprochen worden: Sie haben heute hier denEindruck erweckt, dass die Krise überwunden ist. Ichsage Ihnen: Sie blenden einen wesentlichen Teil der Rea-lität aus.
– In NRW scheint es immerhin so zu sein, dass Sie alsFDP geradezu auf Knien betteln, in die Regierung zukommen. Das wird aber nach einer Neuwahl nicht funk-tionieren, weil Sie dann im Landtag gar nicht mehr ver-treten sein werden. Genauso werden Sie auch in Ham-burg nicht in die Bürgerschaft kommen.
Angesichts meiner kurzen Redezeit will ich darauf abernicht näher eingehen.Herr Brüderle, der erste Punkt, wo Sie die Realitätausblenden, sind die Geschehnisse in Griechenland. Na-türlich ist es richtig, dass wir den Griechen gesagt haben:Ihr müsst konsolidieren! – Natürlich ist es richtig, dasswir bestimmte Auflagen machen, wenn dort geholfenwird. Aber so, wie das jetzt konstruiert ist, wird die grie-chische Volkswirtschaft nicht wettbewerbsfähiger undnicht erstarken. Vielmehr wird man das Ganze in kürzes-ter Zeit fast zwangsläufig an die Wand fahren. Dann istder deutsche Steuerzahler richtig dran. Dann können Siealle Ihre Prognosen – verzeihen Sie mir den Ausdruck –in den Papierkorb werfen, weil sie nichts mehr wert sind.Es ist dringend notwendig, endlich anzufangen, eine ge-meinsame europäische Wirtschaftspolitik zu initiieren.Die Bundeskanzlerin hat es jetzt – so war es zu lesen –begriffen. Herr Schäuble hat es begriffen. Der Einzige,der sich dieser Realität verweigert, ist der Bundeswirt-schaftsminister. Das ist tragisch.
Der zweite Punkt, wo Sie die Realität ausblenden, istdas Datum 1. Mai. Ab 1. Mai dieses Jahres herrscht ab-solute Arbeitnehmerfreizügigkeit. Es ist absehbar, dasssich das auf die Löhne gerade im Niedriglohnbereichmassiv negativ auswirken wird, weil Sie nichts tun. Siesagen: Da kommt keiner. – Das ist nicht die Antwort, diewir auf diese Herausforderung brauchen. Vielmehr brau-chen wir Mindestlöhne in Deutschland, und zwar gesetz-lich und flächendeckend.
Der dritte Punkt, wo Sie sich der Realität verweigern,ist das Krisenthema Investitionen und Innovation. Siehaben noch im letzten Jahr ein industriepolitisches Kon-zept vorgelegt. Im nun vorliegenden Jahreswirtschafts-bericht herrscht dazu Fehlanzeige. Sie machen eineEnergiepolitik, die Wettbewerb, aber vor allen Dingenauch Investitionen verhindert. Jedes große Energieunter-nehmen und nicht zuletzt die Stadtwerke in Deutschlandbestätigen Ihnen, dass es sich hier um Investitionsbehin-derungspolitik handelt und nicht das gemacht wird, waswir in Deutschland wirklich brauchen.
Sie singen stattdessen immer das gleiche Lied: Wir müs-sen die Spielräume nutzen, um Steuern zu senken. – DieSachverständigen sagen Ihnen ohne Wenn und Aber,dass das der falsche Weg ist und dass dafür keine Spiel-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9375
Garrelt Duin
(C)
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räume bestehen. Herr Brüderle, Sie sind stolz darauf,dass die Neuverschuldung nicht so hoch wie geplant istund nur bei 44 Milliarden Euro liegt. Bei einer Neuver-schuldung von 44 Milliarden Euro über Steuersenkun-gen zu fabulieren, das passt einfach nicht zusammen,und die Menschen wissen das.
Solange die Schulen in Deutschland nicht saniert undpersonell entsprechend ausgestattet sind, solange dieBahn aufgrund der mangelnden Infrastruktur an Früh-ling, Sommer, Herbst und Winter scheitert, solange esSchlaglöcher gibt – nicht nur in Berlin, sondern leider inganz Deutschland –, die eine Gefahr für jeden Verkehrs-teilnehmer sind, solange wir also die bauliche und so-ziale Infrastruktur in Deutschland nicht auf Vordermanngebracht haben, solange ist kein Platz für Ihre Steuersen-kungsfantasien.
Werter Herr Minister, Sie haben heute Morgen davongesprochen, dass der Aufschwung keine Kurzgeschichte,sondern ein Fortsetzungsroman sei. Deswegen will ichmit dem Auszug aus einem Gedicht schließen, das zu Ih-nen passt wie die Faust aufs Auge. Es ist von HeinrichHoffmann aus dem Jahre 1844 und heißt Hans Guck-in-die-Luft.Wenn der Hans zur Schule ging,Stets sein Blick am Himmel hing.Nach den Dächern, Wolken, SchwalbenSchaut er aufwärts allenthalben:Vor die eignen Füße dicht,Ja, da sah der Bursche nicht,Also daß ein jeder ruft:„Seht den Hans Guck-in-die-Luft!“So ist es: Sie gucken nach der Schwalbe Steuersenkung,anstatt sich um das zu kümmern, was in Deutschlandnotwendig wäre, damit der jetzige Aufschwung vonDauer ist.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Andreas Lämmel für die Fraktion
der CDU/CSU.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Der Jahreswirtschaftsbericht 2011 zeigt, dassDeutschland im vergangenen Jahr das größte Wachstumseit Beginn der deutschen Einheit erreicht hat. Das istdurchaus bemerkenswert; denn in den letzten 20 Jahrenhat Deutschland eine sehr unterschiedliche wirtschaftli-che Entwicklung vollzogen.Eine Überschrift im Jahreswirtschaftsbericht lautet:„Durch Forschung und Innovationen Wohlstand si-chern“. Genau auf diesen Punkt möchte ich zu sprechenkommen; denn das Thema Forschung, Entwicklung undTechnologieentwicklung hat in der Debatte bisher über-haupt keine Rolle gespielt.Deutschland ist nach wie vor Exportweltmeister.China exportiert zwar inzwischen mengenmäßig mehr;aber umgerechnet auf die Einwohnerzahlen ist Deutsch-land eindeutig Exportweltmeister. Dass wir das sein kön-nen, liegt ganz klar daran, dass es in Deutschland Unter-nehmen gibt, die hochinnovative Produkte herstellenund hervorragende Verfahren exportieren können. Des-wegen konnten wir nach der Krise ziemlich schnell wie-der Exportweltmeister werden. Auch im Vergleich zuFrankreich, Italien oder den anderen großen europäi-schen Ländern wird deutlich: Deutschland steht eindeu-tig an der Spitze.Aus diesem Grunde ist es wichtig, dass wir Forschungund Entwicklung in Deutschland weiterhin stark fördern.Man kann nicht leugnen, dass die schwarz-gelbe Regie-rung, aber auch die Große Koalition für das Thema For-schung und Entwicklung in den letzten Jahren Enormesgeleistet haben. Ich erinnere nur daran, dass 12 Milliar-den Euro zusätzlich in Investitionen in Bildung und For-schung geflossen sind. Durch die Hightech-Strategie derBundesregierung sind die zukünftigen Technologiefelderfür die deutsche Entwicklung definiert worden und wer-den intensiv gefördert.Natürlich gibt es noch Defizite, die in den nächstenJahren beseitigt werden müssen. Zum einen gilt das fürdas Thema der steuerlichen FuE-Förderung. Hier konnteeine Lösung bisher noch nicht herbeigeführt werden.Zum anderen brauchen wir eine neue Gründerkultur. Wirhaben die Krise jetzt zwar erst einmal überwunden. Dasheißt aber nicht, dass diese Entwicklung in den nächstenzehn Jahren so fortschreiten muss.Die deutsche Industrie ist mittlerweile global aufge-stellt. Überall auf der Welt gibt es Forschungseinrichtun-gen deutscher Unternehmen, die neue Verfahren undneue Produkte entwickeln. Die Frage, die sich letztend-lich stellt, ist: Werden diese neuen Produkte in Deutsch-land hergestellt? Wird hier investiert, oder investiert mandort, wo man die Forschung angesiedelt hat? Das ist ausmeiner Sicht die grundsätzliche Frage, die wir inDeutschland beantworten müssen. Wollen wir die Rah-menbedingungen für Investitionen in Deutschland unddamit für neue Arbeitsplätze schaffen?Dadurch würde sich auch das Thema 1. Mai erübri-gen, das Sie, Herr Duin, eben angesprochen haben.Der linken Seite, die einen Mindestlohn von 10 Eurofordert, möchte ich sagen: Reden Sie doch einmal mitIhren Freunden von der Gewerkschaft! Schauen Sie sicheinmal die Tarifverträge an, die von den Gewerkschaftengeschlossen worden sind! Zum Teil liegen diese weit un-ter dem Mindestlohn, den Sie jetzt fordern.
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9376 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Andreas G. Lämmel
(C)
(B)
Der erste Schritt müsste sein, dass man sich auf tarifli-cher Basis auf eine Lohnuntergrenze einigt, die dannauch Allgemeinverbindlichkeit erlangen kann.
Meine Damen und Herren, es ging um die deutscheEinheit. Ich möchte darauf hinweisen, dass die ostdeut-sche Wirtschaft zu dem Wachstum von 3,6 Prozent einenganz entscheidenden Beitrag erbracht hat. Es ist notwen-dig, auch das einmal zu würdigen, Herr Gysi. PositiveEntwicklungen sind aber nicht in Ihrem Sinne. Sie sindeigentlich der Verfechter der negativen Meldungen.In Sachsen hat der Anstieg des Bruttoinlandsprodukts3 Prozent betragen. Allein im Jahr 2010 sind 14 000neue Beschäftigungsverhältnisse – davon 80 Prozent so-zialversicherungspflichtig – geschlossen worden. Das isteine hervorragende Leistung, die zeigt, dass die Aufbau-leistung der letzten 20 Jahre genau die Früchte trägt, diewir alle erwartet hatten. Die Umsätze sind stark gestie-gen. Die Wertschöpfung ist stark gestiegen. Auch die in-ternationale Verflechtung der ostdeutschen Wirtschafthat sich in den letzten Jahren enorm verbessert.Ein Thema, das im Jahreswirtschaftsbericht 2011deutlich hervorgehoben worden ist, sind die Instrumente,die in den vergangenen Jahren dazu geführt haben, dasswir letztendlich dieses gute Ergebnis erreichen konnten.An dieser Stelle möchte ich ganz speziell auf die GRW,die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalenWirtschaftsstruktur“, zu sprechen kommen. Das ist einInstrument, über das wir im Deutschen Bundestag schonöfter diskutiert haben. Es zeigt sich, dass durch die Auf-stockung der Mittel der GRW Investitionen angestoßenwerden konnten, die genau jetzt wirksam werden, die ge-nau jetzt ihren Beitrag zur Erhöhung des Bruttoinlands-produkts erbringen. Es zeigt sich, dass die eingesetztenstaatlichen Mittel den Ertrag erbringen, den die Gesell-schaft erwartet.Eine Gefahr besteht allerdings für die GRW, nämlichdas Auslaufen der Förderperiode der EuropäischenUnion im Jahre 2013. Wir brauchen hier eine Anschluss-lösung, um auch in den nächsten Jahren die mittelständi-sche Unternehmerschaft unterstützen zu können.Nun zum Thema Fachkräftemangel, weil diesesThema hier verschiedentlich angesprochen worden ist.Die Entwicklung mag regional unterschiedlich sein. Ichwill gar nicht abstreiten, dass das Thema möglicher-weise in Bayern oder Baden-Württemberg keine Rollespielt. Aus meiner Sicht ist das in Ostdeutschland aberein sehr drängendes Problem.
Dazu liegen nicht nur politische Aussagen, sondern auchklare Berechnungen, zum Beispiel des Ifo-Instituts, vor.Wenn das Arbeitskräftepotenzial in den neuen Bundes-ländern bis 2015 definitiv um 5 Prozent zurückgeht – wasnicht mit Abwanderungsbewegungen, sondern mit dennicht geborenen Kindern Anfang der 90er-Jahre zusam-menhängt –, während der Rückgang in den alten Bun-desländern weniger als 1 Prozent beträgt, dann bedeutetdas, dass sich dieses Problem in Ostdeutschland fünfmalstärker auswirken wird als in manchen westdeutschenBundesländern. Deswegen brauchen wir eine Regelungfür eine gezielte Zuwanderung von Fachkräften. Dasmöchte ich an dieser Stelle ganz klar betonen. Es gehtüberhaupt nicht darum, Zuwanderung in die Sozialsys-teme zu organisieren. Vielmehr brauchen wir gut ausge-bildete Fachleute. Ich denke, darüber muss man reden.Meine Damen und Herren, das Fazit: Zur Erreichungeines Wachstums von 3,6 Prozent auch in den nächstenJahren müssen wir erstens die Konsolidierung des Haus-haltes fortsetzen, um die stark angestiegene Verschul-dung zu reduzieren, und zweitens die Themen Technolo-gie und Innovationsförderung an die Spitze unsererpolitischen Diskussion stellen; denn das ist die Grund-lage der zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung.An die Linken gerichtet möchte ich sagen: Wir brau-chen keine neuen Wege hin zum Kommunismus. Wirwollen auch keine kleine neue DDR gründen, Herr Gysi,sondern wir wollen im System der Marktwirtschaft wei-ter für wirtschaftliche Entwicklung kämpfen. Dafür ha-ben wir gute Bedingungen geschaffen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Marlene Mortler für die CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! „Boom bei Geschäftsreisen, Erholung bei Ur-laubsreisen“, so war es gestern einer Internetseite – derFVW, der führenden Branchenzeitung für Touristik- undGeschäftsreisen in Deutschland – zu entnehmen. Das istein Grund zur Freude; denn sie bezieht sich auf eine Rei-sestudie, die gestern im Rahmen der CMT, der Touristik-messe in Stuttgart, vorgestellt worden ist. Freuen wir unsjetzt einmal wirklich! Ich habe vor allem bei der Opposi-tion heute das Gefühl gehabt, dass Freuen in unseremLand verboten ist. Was gibt es Schöneres als so einenAuftakt im neuen Jahr, nämlich positive Zahlen zu ver-künden?
Ich möchte mich an dieser Stelle ausdrücklich undganz herzlich bei der Arbeitsgruppe Wirtschaft bedan-ken, dass ich den Bereich Tourismuswirtschaft wiedereinmal ins rechte Licht rücken darf, eine Branche, dieaus meiner Sicht vielfach unterschätzt wird, und das, ob-wohl sie weltweit zu den wenigen langfristigen Wachs-tumsbranchen zählt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9377
Marlene Mortler
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Ich erinnere an dieser Stelle aus aktuellem Anlassganz bewusst an ein Land, an Tunesien. Ich wünsche mirfür die Menschen vor Ort, dass es ganz schnell wiederStabilität und Sicherheit gibt. Ich danke auf der anderenSeite unserem deutschen Reiseverband und dem Aus-wärtigen Amt, dass es hier eine sehr gute, eine professio-nelle Zusammenarbeit gab und dass alle deutschen Tou-risten, die aus dem Land reisen wollten, innerhalbweniger Tage auch wirklich aus dem Land geholt wor-den sind.Dass wir diese positiven Zahlen über unseren Touris-musstandort, Deutschland, verkünden können – es gehtuns so gut wie nie zuvor; ausländische Gäste kommen ingroßer Zahl, und es werden immer mehr; wir Deutschehaben unsere Heimat wieder lieb gewonnen –, kommtnicht von ungefähr; vielmehr ist dabei das Thema „Si-cherheit und Stabilität“ ein ganz wichtiger Faktor.
Wir sind Reiseweltmeister im eigenen Land, aberauch im Ausland. Wenn wir über Tourismus reden, dannreden wir über 2,8 Millionen Arbeitsplätze – nicht ex-portierbar, quer durchs Land –, dann reden wir über eineBranche, die den dritten Platz hinter dem Handwerk undhinter der Gesundheitswirtschaft einnimmt, und dann re-den wir über 114 000 Ausbildungsplätze. Allein 100 000Ausbildungsplätze stellt der Bereich Hotellerie und Gas-tronomie. Außerdem reden wir darüber, dass Deutsch-land EU-weit bei den Übernachtungen inzwischen aufdem ersten Platz liegt, also vor den klassischen Urlaubs-ländern Italien und Frankreich. Mit 380 Millionen Über-nachtungen pro Jahr steuern wir auf das beste Jahreser-gebnis aller Zeiten zu.Wir sind weltweit Messestandort Nummer eins. BeimThema „Tagungen und Kongresse“ sind wir EU-weitNummer eins und weltweit hinter den USA Nummerzwei. Darüber hinaus erwirtschaften wir in der Touris-musbranche einen Jahresumsatz von 233 MilliardenEuro. Tourismus ist eben mehr als Wasser, Sonne,Strand. Wenn ich diese 233 Milliarden Euro aufschlüs-sele, dann stelle ich fest, dass davon allein auf den Ta-gestourismus 163 Milliarden Euro entfallen. Der Rest,70 Milliarden Euro, entfällt auf Übernachtungstouris-mus. Ein ganz wichtiges Segment ist und bleibt der Städ-tetourismus als umsatzstärkstes Segment mit 83 Milliar-den Euro. Auch hier gilt: Freuen wir uns, dass wir indiesem Jahr im Städtebereich teilweise sensationelle Zu-wächse bis zu 13 Prozent erzielen konnten!Seit der Fußballweltmeisterschaft 2006 hat Deutsch-land zweifellos an Attraktivität gewonnen. Das ist nichtnur der Freundschafts- bzw. Gastfreundschaftskampagnegeschuldet. Die Menschen haben nach der Fußball-WMimmer wieder zu mir gesagt: Du, Marlene, die Leutesind ja immer noch freundlich! – Ich glaube, auch hierhat sich etwas verändert.Nun haben wir die Fußball-WM der Frauen. Ich freuemich, dass wir mit Steffi Jones eine wirkliche Sympa-thieträgerin im Organisationsteam haben. Sie sagt: Wirwollen mit der Fußball-WM der Frauen 2011 Geschichteschreiben.
Wir alle können unseren Beitrag leisten, dass alle Spielean den neun Spielorten zwischen Berlin und Augsburgvor ausverkauftem Haus stattfinden.In 2011 haben wir noch weitere Großereignisse: dieSki-WM in Garmisch, den Eurovision Song Contest inDüsseldorf und den Papstbesuch in Berlin. Im BereichKulturtourismus haben wir zum Beispiel „200 JahreFranz Liszt“ in Thüringen zu feiern.An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an dieDeutsche Zentrale für Tourismus, die mit unserer Hilfeüber Mittel in Höhe von 24 Millionen Euro aus demBundeshaushalt verfügen kann und im Inland, aber vorallem im Ausland taffe Werbung für unseren Standortmacht. Die DZT handelt nach dem Motto: Trends erken-nen, aufgreifen, bewerben. Deshalb ist das Thema „Ge-sundheitsurlaub und Wellness“ heuer besonders wichtig.Nächstes Jahr sind es Geschäftsreisen. 2012 geht es umWeinkultur und Natur in Deutschland. Außerdem wollenwir 2012 auf die vielfältigen Kulturlandschaften der13 Weinanbaugebiete in Deutschland hinweisen, was jaeine wunderschöne Sache ist.
2013 ist „Junges Reiseland Deutschland“ ein wichti-ges Thema. 2014 geht es um UNESCO-Weltkulturerbe-Stätten in Deutschland. Uns ist viel zu wenig bewusst,dass wir, wenn es um das Weltkulturerbe geht, über 2000Jahre Kulturgeschichte in Deutschland sprechen. Diese2000 Jahre haben Spuren hinterlassen. Es gibt weltweitkein Land, das so viele einzigartige Natur- und Kultur-stätten in solch einer Dichte vorzuweisen hat. WeitereStätten stehen Schlange.
Weil ich aus Franken komme, weiß ich, dass auch Nürn-berg in dieser Schlange steht.Wir haben aber nicht nur große Glanzlichter, sondernauch viele kleine Leuchttürme. Deutschland-Tourismuszeichnet sich vor allem durch eine große, attraktive Viel-falt aus. Dazu gehören Kreuzfahrten, Wandern, Cam-ping, Wassersport, Radfahren, Urlaub auf dem Bauern-hof und das Bedürfnis nach Naturnähe. Es ist aber auchfestzustellen, dass das Bedürfnis nach nachhaltigemTourismus im Bewusstsein der Verbraucher und Touris-ten erfreulich gestiegen ist.
Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Es ist unglaublich, wie schnell die Zeit vergeht, wennman über Positives spricht.
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9378 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Marlene Mortler
(C)
(B)
Herr Präsident, ich komme in die Zielgerade und ver-weise noch auf die erste und einzige Möglichkeit,Marktforschung in der Tiefe zu betreiben, nämlich aufdas sogenannte Sparkassen-Tourismusbarometer. DasDeutsche Institut für Wirtschaftsforschung –
Aber Frau Kollegin, ich habe Sie doch schon er-
mahnt.
– leistet allen Akteuren, egal auf welcher Ebene,
Hilfe. Wir Politiker werden unseren Beitrag leisten und
die Rahmenbedingungen für eine wettbewerbsfähige
Tourismuswirtschaft auch in Zukunft setzen.
Ich danke Ihnen.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/4450 und 17/3700 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Memet
Kilic, Tabea Rößner, Brigitte Pothmer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Fachkräfteeinwanderung durch ein Punkte-
system regeln
– Drucksache 17/3862 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Memet Kilic für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-nen und Kollegen! Die vorangegangene Debatte ist fürdie Bundesregierung signifikant. Sie rühmt sich mit denVerdiensten der kleinen und mittelständischen Unterneh-men, die mit Mühe und Not sich und unsere Wirtschaftüber Wasser gehalten haben, der Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer, die mit Lohnverzicht die Finanzkrise ge-schultert haben, tut aber selbst nichts Signifikantes fürdie Verbesserung unserer Wirtschaftslage und die Zu-kunftsfähigkeit unseres Landes.
Daher wird das Thema der Fachkräfteeinwanderung einLackmustest für die Bundesregierung sein.Ohne kompensatorische Maßnahmen wird die demo-grafische Entwicklung zu einem erheblichen Rückgangnicht nur der allgemeinen Bevölkerungszahl, sondernauch der Zahl der Erwerbspersonen in Deutschland füh-ren. Nach den Berechnungen der statistischen Ämter solldie Zahl der Erwerbstätigen bis 2030 auf 25 Millionensinken. Das Potenzial an Arbeitskräften in Deutschlandwerde, so die OECD, in den kommenden zehn Jahren sostark schrumpfen wie in keinem anderen Industrieland.Schon jetzt haben wir in einigen Branchen Personalnot.Allein im naturwissenschaftlich-technischen Bereichfehlen bereits heute 65 000 Fachkräfte. Unter „Fach-kräfte“ dürfen nicht nur IT-Spezialisten verstanden wer-den. Größte Not herrscht und wird herrschen bei denPflegekräften, insbesondere in der Altenpflege.Als Reaktion auf die demografische Entwicklung undden daraus resultierenden Rückgang an Arbeitskräftenbrauchen wir eine kluge Mischung aus Bildung, Qualifi-zierung, Anerkennung ausländischer Qualifikationenund Aktivierung der inländischen Fachkräftepotenziale.
Nach den Prognosen der Wirtschaftsforschungsinstituteund der Bundesagentur für Arbeit werden diese Maßnah-men allein aber nicht ausreichen. Für sie ist völlig klar:Deutschland braucht Einwanderung, und zwar in weitgrößerem Umfang als bisher angenommen. Deutschlandbraucht pro Jahr eine Nettozuwanderung von 200 000bis 400 000 Menschen.Das geltende System wird diesen Bedürfnissen nichtgerecht. Auf Grundlage der restriktiven Einwanderungs-regelungen entscheiden sich zu wenige ausländischeFachkräfte für ein Leben in Deutschland. So kamen etwaim Jahr 2009 auf Grundlage der Hochqualifiziertenrege-lung lediglich 169 Personen nach Deutschland, mit Zu-stimmung vom Arbeitsamt sogar nur 41 Personen.
Wir Grüne plädieren für eine einladende Einwande-rungspolitik für ausländische Fachkräfte. Dafür brau-chen wir ein modernes und transparentes Auswahl-verfahren mit einem Punktesystem. Mit dembedarfsorientierten Auswahlverfahren sollen einwande-rungswillige Personen, die nach klaren Kriterien ihreQualifikation und Integrationsfähigkeit unter Beweis ge-stellt haben, eine dauerhafte Aufenthaltsperspektive inDeutschland erhalten.
Für dieses Auswahlverfahren schlagen wir vor, dassdas Bundesamt für Migration in Zusammenarbeit mit ei-nem Beirat eine Bedarfsanalyse und darauf aufbauend
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9379
Memet Kilic
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(B)
ein Qualifikationsprofil erstellt sowie eine Quote vor-schlägt. Ein solcher Punktekatalog kann beispielsweisedie Kriterien „Alter“, „Sprachkenntnisse“ und „Berufs-erfahrung“ enthalten. Sowohl das Qualifikationsprofilals auch die Quotenregelung erfordern die Zustimmungdes Bundestages und des Bundesrates.Die Wirtschaft, viele Verbände, der Gewerkschafts-bund und Wirtschaftsforschungsinstitute unterstützeneine solche Forderung nach einem Punktesystem, dasdeutlich unbürokratischer und einfacher gestaltet ist alsdas heutige System. Ideologische Blindheit hilft nicht,sondern schadet unserem Land.
Wir müssen entscheiden, ob wir ein weltoffenes undmodernes Deutschland in einer globalisierten Welt seinwollen, das Einwanderinnen und Einwanderer willkom-men heißt und als gleichberechtigte Bürger in unsererDemokratie anerkennt. Wir sind für einen Klimawandelin der Gesellschaft. Einwanderinnen und Einwanderersollen nicht mehr als Eindringlinge, sondern als Neu-deutsche angesehen werden.Eine einladende Einwanderungspolitik für Fach-kräfte kann trotz vieler positiver Effekte auch die Gefahrvon Braindrain mit sich bringen. Mit der Abwanderungvon Arbeitskräften verlieren die Entwicklungsländer sel-ber wichtige Fachkräfte. Diese Gefahr müssen wir ernstnehmen. Um Härten zu vermeiden, sollte unser Punkte-system daher um Maßnahmen ergänzt werden, die dieRisiken für Entwicklungsländer minimieren.Uns Grünen wird seit einigen Tagen vorgeworfen, dieDagegen-Partei zu sein.
Wir sind seit Jahren für ein Punktesystem. Blockiertwird die Einführung durch die Unionsparteien. Sie sinddie Dagegen-Parteien – nicht wir.
Sie wissen nicht, was Sie wollen. Sie haben keine Ideenund bieten keine Lösungen für den wachsenden Fach-kräftebedarf. Sie sind einfach nur dagegen. Das ist billig.
Während wir Gesetzentwürfe und Anträge in denBundestag einbringen, um Deutschland für ausländischeFachkräfte attraktiver zu gestalten, verspielt die Bundes-regierung Deutschlands Chancen. Außer Streit fälltSchwarz-Gelb zur Beseitigung des Fachkräftemangelsund zu Maßnahmen mit Blick auf die Überalterung unse-rer Gesellschaft nichts ein. Bundesministerin von derLeyen will sich mit marginalen Korrekturen wie der be-fristeten Aussetzung der Vorrangprüfung in bestimmtenBranchen begnügen. Selbst das ist in der Union umstrit-ten. Der Bundesinnenminister kann sich ein Punktesys-tem überhaupt nicht vorstellen. Er möchte der Fachkräf-tezuwanderung lediglich „besondere Aufmerksamkeit“widmen. Wie großzügig! Seehofer und Co. verweigernjegliche Reformen auf diesem Gebiet. Die FDP kannsich wieder einmal mit nichts durchsetzen. Das ist be-zeichnend für sie.
Deswegen wurde bei den letzten beiden Koalitions-ausschüssen im November und Dezember eine Entschei-dung zur Fachkräfteeinwanderung vertagt. Mit der Ver-schiebung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zeigt dieRegierung, wie ineffizient sie arbeitet. Sie ist nicht ein-mal in der Lage, ihre eigenen Prüfaufträge aus dem Ko-alitionsvertrag abzuschließen. Seit mehr als einem Jahrtut die schwarz-gelbe Koalition nur so, als ob sie regie-ren würde. Das ist aber nicht wahr.
Wir fordern die Bundesregierung auf, endlich zu han-deln. Die Einwanderungspolitik muss dem21. Jahrhundert gerecht werden.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Wolfgang Bosbach für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dem Antrag derGrünen nicht zustimmt, ist sicherlich
keine politische Sensation. Wir lehnen den Antrag abernicht ab, weil er von der Opposition oder speziell vonden Grünen kommt – ich füge hinzu: da habe ich schonSchlimmeres von den Grünen gelesen –,
sondern wir lehnen den Antrag ab, weil er erstens auf-grund der darin enthaltenen Vorschläge nicht geeignetist, einen wirksamen Beitrag zur Behebung des Fach-kräftemangels zu leisten. Sie lösen ja gerade die notwen-dige Verknüpfung von Zuwanderung und Zuwanderungin den Arbeitsmarkt auf einen konkreten Arbeitsplatzauf. Sie verlangen nicht, dass die Zuwanderung nur dannerfolgen darf, wenn damit ein konkreter Arbeitsplatz be-setzt werden kann.Zweitens geht es Ihnen in dem Antrag – mein Kom-pliment für Ihre Ehrlichkeit – ausdrücklich um eine Aus-weitung der Zuwanderung, insbesondere aus Entwick-lungsländern. Auch das geht aus dem Antrag hervor.
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9380 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Wolfgang Bosbach
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Die Union ist jedoch der Überzeugung: Nicht mehr Zu-wanderung, sondern mehr Integration ist das Gebot derStunde. Das ist für uns die wichtigste Aufgabe.
Im Grunde bietet der Antrag alten Wein in neuenSchläuchen. Hier wird der alte § 20 des Gesetzentwurfesvon Rot-Grün zum Aufenthaltsgesetz reanimiert.
Das ist Ihr gutes Recht. Aber die Gründe, die damalsdazu geführt haben, diesen § 20 abzulehnen, sind diegleichen, die heute zur Ablehnung führen.Zunächst einmal zur Prognose. Es ist richtig, die Poli-tik muss hören, was die betriebliche Praxis sagt. Es istrichtig, die Politik muss hören, was die Wissenschaftsagt. Wir müssen aber auch bedenken, was die Wissen-schaft uns schon alles gesagt hat. Von dieser Stelle aushaben wir vor zehn Jahren anlässlich der CeBIT 2000um die Zuwanderung von IT-Fachkräften gerungen. Da-mals sagten uns sogenannte Experten: Deutschland hateinen Bedarf von 200 000 IT-Fachkräften. Die Bundes-regierung hat daraufhin gesagt: So viele müssen es auchnicht sein. Wir rechnen mit der Zuwanderung von70 000.Dann hat Rot-Grün aus lauter Vorsicht bei 20 000eine Obergrenze eingezogen. Schließlich haben Sie dieSonderregelung für die Zuwanderung von IT-Fachkräf-ten auf den Weg gebracht.Jetzt schauen wir uns die Zahlen einmal an. Bei einemprognostizierten Bedarf von 200 000 kamen 2001 6 400;2005 kamen dann noch schlappe 2 300.
Was Sie fordern, ist längst geltendes Recht. Wer IT-Fachkraft ist, kann kommen. Es gibt keine Quoten, esgibt keine Höchstzahlen, es gibt keine Begrenzungen.
– Für Drittstaatsangehörige. – IT-Fachkräfte könnenkommen. Offensichtlich ist das Problem jedenfalls nichtdas Ausländerrecht. Möglicherweise sind andere Staatenmit ihren Möglichkeiten attraktiver als die Bundesrepu-blik Deutschland und ihre Arbeitgeber.
Das hat aber erkennbar nichts mit dem Ausländerrechtzu tun.
– Herr Kilic, ich habe Ihnen doch ganz ruhig zugehört.Ganz interessant ist: Ihr Vorbild im Antrag hinsicht-lich der Zuwanderung sind Kanada und die USA. Merk-würdigerweise sind Sie dann nicht konsequent und wol-len die Sozialsysteme der USA und von Kanada nichtbei uns einführen. Die wollen Sie natürlich nicht haben.
Sie können doch nicht gleichzeitig das Zuwanderungs-recht der Bundesrepublik Deutschland, die Sozialsys-teme der Bundesrepublik Deutschland und das Punkte-system angloamerikanischer Länder haben wollen.
Die Zuwanderung in den Arbeitsmarkt dort funktioniertgerade deshalb, weil diejenigen, die in die USA odernach Kanada gehen, genau wissen, dass diese Ländernicht daran denken, Sozialleistungen zu zahlen, ohnedass vorher durch Erwerbstätigkeit in die sozialen Siche-rungssysteme eingezahlt worden wäre.
– Herr Kilic, es ist ja schön, dass Sie da Temperamenthaben, aber ein wenig Respekt vor dem, der eine andereAuffassung hat, sollten wir alle an den Tag legen.Was ist das beste Mittel gegen den Fachkräftemangel?Das beste Mittel ist erstens Qualifizierung und Vermitt-lung von Arbeitslosen. Wer den Antrag liest, muss jaglauben, wir hätten fünfmal mehr offene Stellen als Ar-beitslose. Es ist genau umgekehrt: Wir haben fünfmalmehr Arbeitslose als offene Stellen.
Wir müssen doch zunächst einmal die inländische Er-werbsbevölkerung gleich welcher Staatsangehörigkeit inBeschäftigung bringen, bevor wir nach mehr Zuwande-rung rufen.
Zweitens ist eine gute Bildungspolitik zu nennen, undzwar: nicht jedem Kind eine Bildung, sondern jedemKind seine Bildung. Wir lehnen die Einheitsschule nichtaus ideologischen Gründen ab; wir lehnen sie ab, weil eskeine Einheitskinder gibt.
Kinder haben unterschiedliche Interessen, unterschiedli-che Talente, unterschiedliche Begabungen, und jedesKind soll individuell gefördert werden.Drittens. Ein hoher Stellenwert sollte auch der beruf-lichen Bildung zukommen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9381
Wolfgang Bosbach
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Der Mensch beginnt nicht mit dem Akademiker. Wir be-wundern tolle Entwürfe von Architekten, aber wir brau-chen auch fleißige Bauhandwerker, die in der Lage sind,diese Bauwerke zu errichten. Wir konzentrieren uns fastausschließlich auf die wissenschaftliche Ausbildung unddie Hochschulpolitik. Die berufliche Bildung hat bei unsnicht den Stellenwert, den sie eigentlich haben müsste.
Viertens. Es muss auch, bevor wir nach mehr Zuwan-derung rufen, aufhören, dass wir systematisch ältere Ar-beitnehmer aus dem Arbeitsmarkt verdrängen.
Wir alle haben doch Bürgersprechstunden. Ich kanndoch nicht der Einzige sein, bei dem 50- oder 55-Jährigemit tollen Zeugnissen und langjähriger beruflicher Er-fahrung erklären, dass sie keine Chancen mehr auf demheimischen Arbeitsmarkt haben. Es kann ja sein, dassdie Jüngeren schneller laufen, aber die Älteren kennendie Abkürzungen. Da geht manche Erfahrung verloren.
Vieles steht in dem Antrag nicht, was in ihm aber ste-hen müsste.
Wir werden ab dem 1. Mai 2011 die volle Arbeitnehmer-freizügigkeit für die Menschen aus den neuen EU-Mit-gliedstaaten haben. Wir wissen doch noch gar nicht, wiesich das in den nächsten Jahren auswirken wird. In unse-rem Land haben wir 167 000 arbeitslose Akademiker.Sind sie alle keine Fachkräfte? Ich brauche jetzt keineBelehrung; ich weiß selber, dass demjenigen, der einenMaschinenbauingenieur sucht, mit einem Archäologennur begrenzt geholfen ist. Aber es kann doch nicht sein,dass wir knapp 170 000 arbeitslose Akademiker habenund gleichzeitig beklagen: Es gibt in unserem Landekeine Fachkräfte.Zwei Anmerkungen noch zum Schluss. Die für michproblematischste Stelle in dem Antrag ist, wenn Sie da-von schwärmen, dass es insbesondere in den USA und inGroßbritannien so viele Ärzte aus Afrika gibt.
– Ich muss Ihnen sagen, Herr Kollege Kilic, dass ich daseher mit Sorgen sehe. Es arbeiten mehr Ärzte aus Mali inEngland als in Mali selber. England hat eine Relationvon 35 Ärzten auf 10 000 Einwohner, in Mali ist es einArzt auf 10 000 Einwohner. Sie problematisieren dasund lösen das Problem wie folgt – da muss man sichwirklich beim Lesen festhalten –:Wenn Migrantinnen und Migranten durch Rück-überweisungen, die Anbahnung von Geschäftsbe-ziehungen, Investitionen und Know-how-Transferzur wirtschaftlichen Entwicklung ihrer Herkunfts-länder beitragen …
Liebe Leute, welchen Know-how-Transfer soll denn einArzt aus Mali, der in England arbeitet, für die Patientenin Mali leisten? Denen ist doch nicht mit Geld geholfen,sondern nur mit Zuwendung und ärztlicher Heilkunst.
Kommen wir zum Ärztemangel in Deutschland, denes tatsächlich gibt. In manchen Regionen finden wirkeine sogenannten Landärzte mehr und rufen dann nachmehr Zuwanderung. Das hat doch nichts mit Ausländer-recht zu tun, wohl aber jede Menge mit Inländerrecht.Wir hatten 10 800 Zulassungen zum Medizinstudiumund über 40 000 Bewerber. Den Ärztemangel inDeutschland beheben wir damit, dass wir jungen Leuten,die Medizin studieren wollen, bei uns eine Chance ge-ben. Dadurch beheben wir den Ärztemangel, aber nichtdadurch, dass wir die Türen weiter aufmachen.
Der Arbeitsmarkt bei uns ist nicht verriegelt. In denletzten drei Jahren haben über 270 000 Drittstaatsange-hörige den Weg nach Deutschland gefunden. Deutsch-land ist ein weltoffenes und tolerantes Land. Aber wirhaben auch die Verpflichtung, zunächst diejenigen inBeschäftigung zu bringen, die in Deutschland arbeitslossind, und das ist für uns die wichtigste Aufgabe.
Das Wort hat nun Rüdiger Veit für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächsteinmal ist die Idee – Herr Kollege Bosbach, da haben Sierecht –, die in dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünenverfolgt wird, so sensationell neu nicht. Interessantersind dann vielleicht schon die Debatte und die Positio-nierungen, die heute – so nehme ich es jedenfalls an –eingenommen werden. Wo die Grünen nun einmal rechthaben, haben sie recht.
Wir werden in unserer Gesellschaft weniger, und wirwerden überdies auch älter. Die Geburtenrate ist zu nied-rig; die entsprechende negative Statistik in Europa füh-ren wir zusammen mit den Italienern vom Schluss heran. Der Wanderungssaldo – das haben wir auch gesternnoch einmal gehört und besprochen – ist negativ. HerrKollege Kilic hat zu Recht darauf hingewiesen: Selbst
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9382 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Rüdiger Veit
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bei der Zuwanderung von Hochqualifizierten und Quali-fizierten zum Teil auf sehr konkrete Arbeitsplatzange-bote ist ein Rückgang im letzten Jahr im Vergleich zuden Vorjahren zu verzeichnen.Im Übrigen haben wir deswegen schon im Jahre 2001in der Unabhängigen Kommission Zuwanderung, dievon Frau Professor Süssmuth geleitet wurde – Stellver-treter war Hans-Jochen Vogel –, es für richtig und gutgehalten, ein Auswahlverfahren, ein Punktesystem zuschaffen, mit dem wir Zuwanderung gezielt organisie-ren. Als rot-grüne Mehrheit haben wir dies damals imBundestag aufgegriffen und in der Tat, Herr KollegeBosbach, in dem § 20 umsetzen wollen, wohingegen dieUnion uns dies mit dem Argument „Kinder statt Inder“wieder herausgeschossen hat; der eine oder andere wirdsich vielleicht noch daran erinnern.Ich war damals im Übrigen gar nicht so furchtbartraurig darüber, dass dieser Punkt herausgenommen wor-den ist – jedenfalls nicht so traurig wie bei anderenPunkten –, weil mir klar war: Eines Tages wird der Zeit-punkt kommen, an dem die Wirtschaft selbst oder ihreInteressenvertreter hier im Bundestag, die FDP, ange-sichts der demografischen Entwicklung auf den Plan tre-ten und sagen werden, dass wir dringend zusätzlicheFachkräfte benötigen und deshalb Zuwanderung organi-sieren müssen. Diese Diskussion läuft jetzt seit dem letz-ten Herbst.Schließlich haben wir, die SPD-Fraktion, in einemPapier vom April 2009 zum Thema Migrationspolitikausdrücklich darauf hingewiesen, dass wir ein Zuwande-rungsverfahren nach Punktesystem für richtig halten.So ist es, und so bleibt es auch. Damit aber klar wird,welche Prioritäten wir setzen: Wir müssen uns zunächsteinmal all denjenigen widmen, die bereits in Deutsch-land leben. Da gibt es in der Tat gewisse Unterschiede zuBündnis 90/Die Grünen, auf die ich noch im Einzelnenzu sprechen kommen werde, gerade was den vorliegen-den Antrag angeht.Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/DieGrünen, ich finde es – darf ich das so sagen? – vielleichtein kleines bisschen naiv, ausgerechnet von dieser Bun-desregierung zu erwarten, dass sie uns einen Gesetzent-wurf dazu vorlegt.
– Ich spreche aus der Erfahrung, die ich in über einemJahr gesammelt habe. Wir warten noch darauf, dass Siemit dem Regieren beginnen. Sie sind in einem Lernpro-zess begriffen, der selten von Erfolg gekrönt ist. Manch-mal ist man über die Ergebnisse eher erschrocken. HerrKollege Dr. Uhl, damit das nicht vergessen wird: Ich binstolz auf gemeinsame Regierungsjahre; die Große Koali-tion war gelegentlich besser als ihr verbreiteter Ruf.
Wir wollen aber gar nicht nur allgemein über dieseRegierung und die Mehrheitsfraktionen reden, sondernüber die Frage, wie Sie sich hierzu positionieren. Nunwurde unter der Überschrift „Zuwanderung: DeMaizière blockiert“ im Handelsblatt geschrieben, er seidagegen, grundsätzlich, zunächst. Am Schluss des Be-richts wird richtigerweise gesagt, dass Deutschland nachAuffassung der Regierung „an erster Stelle sein inländi-sches Arbeitskräftepotenzial besser ausschöpfen“ solle.Darüber kann und muss man in der Tat reden.
– Ich höre sogar Zustimmung von der FDP. – In der Weltvom 20. Januar, also von heute, liest es sich ganz anders:Während die FDP massiv für eine verstärkte gesteuerteZuwanderung eintritt, so auch Herr Brüderle, der da zi-tiert wird, ist es nun ausgerechnet Frau Haderthauer, diebayerische Arbeitsministerin, die gesagt hat – das mussich einfach zitieren –:„Wir haben keinen echten Fachkräftemangel, so-lange die Rahmenbedingungen für unsere jungenLeute gekennzeichnet sind von befristeten Arbeits-verträgen, unflexiblen Arbeitszeitmodellen und un-befriedigenden Gehältern.“ Was die Wirtschaft be-klage, sei doch in Wirklichkeit „ein Mangel anArbeitnehmern, die bereit sind, zu diesen Bedin-gungen zu arbeiten“.
Das ist der Punkt. Diese Übereinstimmung mit der Ein-schätzung von Frau Haderthauer sollte einen eigentlichnachdenklich stimmen.Wir wollen Ihnen jedenfalls klar und deutlich sagen,dass man zwar immer darüber reden kann, ob man miteiner kleinen Zahl von Anwerbungen beginnt, um dasSystem auszuprobieren – das war auch 2001 und 2002unsere Vorstellung –, man aber, bevor man in großerZahl Zuwanderung organisiert, daran denken muss undsoll: Wir haben trotz Aufschwung immer noch 3 Millio-nen Arbeitslose, von denen etwa ein Drittel länger alsein Jahr arbeitslos ist. Wir haben in Deutschland immernoch 1,5 Millionen Jugendliche ohne Berufsabschluss.Wir haben – auch das ist eine Schande, eine Vergeudungvon Ressourcen und eine Beeinträchtigung menschlicherEntwicklungen und Schicksale – immer noch 300 000,400 000, 500 000 oder 600 000 Menschen ausländischerHerkunft in Deutschland – lassen Sie uns nicht über dieZahlen streiten –, deren Berufsabschlüsse nicht vernünf-tig anerkannt werden; da ist diese Koalition und dieseRegierung nunmehr endlich gefordert. Wir haben dieProblematik, die mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit fürMenschen aus den neuen EU-Mitgliedstaaten ab dem1. Mai verbunden ist; niemand kann eine Prognose dazuabgeben, jedenfalls fühle ich mich dazu nicht imstande.Wir haben immer noch – ich werde nicht müde, Ihnendas auch an dieser Stelle zu sagen – eine fünfstellige,vielleicht sogar eine sechsstellige Zahl von in Deutsch-land lebenden lediglich geduldeten Mitbürgerinnen undMitbürgern – wir haben dieses Thema schon gestern an-
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Rüdiger Veit
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gesprochen –, die ohne Perspektive hier sind und denenman erst einmal Gelegenheit geben sollte, in Deutsch-land ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Viele von ih-nen sind bereits in Deutschland geboren oder hier aufge-wachsen und haben Integrationsleistungen erbracht.Man sollte auf die Gruppe der jetzt schon bei uns leben-den Menschen Rücksicht nehmen und sie mit entspre-chender Bildung gezielt fördern, anstatt nur an die Zu-wanderung von außen zu denken.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sindalso nach wie vor für eine gesteuerte Zuwanderung nachPunkten und mit Auswahlverfahren. Wir sagen aberauch: Wir brauchen zunächst
eine inländische Allianz für Fachkräfte, eine Allianzzwischen den Beteiligten im Wirtschaftsgeschehen, aberauch aller staatlichen Ebenen, von Kommunen, Landund Bund. Auch das tut not. Da gibt es einiges zu regeln.Ich habe schon die Unterlassungen dieser Regierungund der Koalitionsfraktionen bei der Anerkennung aus-ländischer Abschlüsse angesprochen. So könnte man dasbeliebig fortsetzen. Wir brauchen flexible Arbeitszeit-modelle, eine Vereinbarkeit von Beruf und Familie, diedurch entsprechende Kinderbetreuungsangebote nochbesser gelingt – auch das verweigern Sie –, und wirbrauchen für eine Reihe von Berufen attraktive Arbeits-bedingungen; das heißt vor allen Dingen attraktiveLöhne. Denn es geht ja nicht nur darum, dass es dieLeute nicht gibt, um bestimmte Arbeitsplätze zu beset-zen; vielmehr werden Arbeitsplätze auch deswegen nichtangenommen, weil sie nicht vernünftig entlohnt werden.Wir brauchen auch Mindestlöhne. Das ist notwendig,aber auch hier verweigert diese Koalition entsprechendeTaten. Wir haben hier mehr oder weniger nur hohle undleere Worte gehört.Noch einmal: In der Tendenz sind wir durchaus beiBündnis 90/Die Grünen. Wir wollen vorher aber durcheine Allianz für Fachkräfte, durch eine entsprechendeOffensive für die bereits in der Bundesrepublik lebendenMenschen die Voraussetzungen dafür schaffen, dass allePotenziale genutzt werden. Da sind wir uns mit man-chem Diskussionsbeitrag wieder einig.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Hartfrid Wolff für die FDP-Frak-tion.
Hartfrid Wolff (FDP):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Stim-men für eine Zuwanderungssteuerung nach klaren, trans-parenten, zusammenhängenden und nachvollziehbarenKriterien mehren sich in allen Fraktionen und Parteien.Die FDP freut sich darüber. Wir Liberalen haben in denvergangenen Legislaturperioden dafür bereits entschei-dende Anstöße gegeben. Nun steht dieses Ziel auch imKoalitionsvertrag mit den Unterschriften von AngelaMerkel, Guido Westerwelle und Horst Seehofer.Dabei geht es uns nicht einfach nur um die demogra-fische Entwicklung. Es geht auch nicht einfach nur umdie Alterung der Gesellschaft oder andere statistisch dar-stellbare Prozesse. Uns geht es vor allem um die Men-schen. Wir Liberale wollen Chancen eröffnen. Wir wol-len nicht falsche Versprechungen auf Kosten andererLeute machen, sondern Perspektiven eröffnen. Wir wol-len, dass die Menschen, die zu uns kommen, sich ihreZukunft selbst erarbeiten können.Das bisherige Recht zur Arbeitsmigration ist vollerbürokratischer Hemmnisse,
und zwar nicht nur in der sachlichen Regelung selbst,Herr Staatssekretär, sondern vor allem in seiner unüber-sichtlichen Struktur, die für einen Außenstehenden kaumzu durchschauen ist.
Weder Menschen, die sich für die Zuwanderung nachDeutschland interessieren, noch die Menschen hierzu-lande, die Ängste in Bezug auf die Zuwanderung haben,können das gegenwärtige Zuwanderungsrecht abschät-zen oder seine Wirkung durchschauen. Daraus resultie-ren häufiger Ablehnung und Skepsis in Bezug auf Zu-wanderung nach Deutschland, und zwar auf beidenSeiten – bei Inländern und Ausländern.Wir meinen, Deutschland braucht klare, faire und ein-fache Regeln. Wir brauchen Vertrauen in eine verlässli-che und sinnvoll gesteuerte Zuwanderung.Die demografische Entwicklung lässt erwarten, dasswir mittelfristig den wirtschaftlichen Standard nichtmehr werden halten können, wenn wir uns nicht für qua-lifizierte Zuwanderung öffnen. Davon sind alle Men-schen in unserem Land betroffen. Unser Wohlstand so-wie unsere Fähigkeit, Menschen in Not etwa durchSozialleistungen zu helfen, gerät in Gefahr, wenn die da-für notwendige Wertschöpfung nicht mehr gelingt.In Baden-Württemberg etwa hat sich die Koalitions-regierung aus Union und FDP und besonders der für In-tegration zuständige Minister Professor Goll mit diesenZukunftsfragen intensiv befasst. Hier fehlen bereitsheute rund 37 000 Fachkräfte.McKinsey hat ermittelt: Deutschland benötigt 2020– das ist in neun Jahren – rund 250 000 Akademiker und250 000 Fachkräfte mehr als heute, davon die Hälfte inden eher technisch geprägten Wachstumskernen. Zur
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Hartfrid Wolff
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Deckung dieses Bedarfs wäre bei heutiger Abbrecher-quote ungefähr eine Verdopplung der Studienanfänger-zahlen nötig. Lieber Kollege Bosbach und andere, es istabsolut utopisch, zu glauben, eine Verdopplung der Stu-dienanfängerzahlen bei anhaltend niedriger Geburten-quote im eigenen Land erreichen zu können. Das ist ma-thematisch schlicht nicht möglich.
Wir werden es selbst bei Verbesserungen im Bildungs-wesen in einem geradezu unvorstellbaren Ausmaß nichtschaffen, diese Zahlen zu erreichen.Deshalb hat die Koalition zu Recht vereinbart: Wirbrauchen ein System, dass die Zuwanderung nach klarenKriterien steuert und unsere Interessen und Erwartungenan die Zuwanderer klar definiert. Entscheidend ist: Wenwollen wir nach Deutschland einladen? Wer kann unsereGesellschaft weiterbringen? Für diese Menschen brau-chen wir eine Willkommenskultur, die es Hochqualifi-zierten und Fachkräften aus dem Ausland leichter macht,sich für Deutschland zu entscheiden.
Deutschland ist im Wettbewerb um die weltweit bes-ten Köpfe weit zurückgefallen. Deutschland verliert der-zeit sogar Fachkräfte: Es wandern mehr Fachkräfte abals zu. Andere Staaten wie Kanada und natürlich dieUSA, aber auch Dänemark und Großbritannien ziehendie Besten der Welt an. Wir hingegen erlauben es uns,mit hohen bürokratischen Hürden, intransparenten Re-geln und einer mangelhaften Zuwanderungskonzeptiondie Besten der Welt an Deutschland vorbeiziehen zu las-sen.
Wir erlauben es uns in Deutschland sogar, ausgebildeteFachkräfte aus Drittstaaten auf dem Arbeitsmarkt nach-rangig zu behandeln und sie lieber ziehen zu lassen, alssie hier zu beschäftigen.Es ist gut, dass diese Koalition verbindlich vereinbarthat, diese kurzsichtige Kirchturmpolitik zu beenden. Wirbrauchen eine Systematisierung des bestehenden Rechtszur Fachkräftezuwanderung: klarer, einfacher, transpa-renter.
Wir brauchen schnelle Entscheidungen, also eine Vor-rangprüfung bei ausländischen Fachkräften innerhalbvon zwei Wochen. Wir brauchen eine Senkung des Min-desteinkommens und gezielte Anwerbemöglichkeiten.
– Wir reden nicht über Protektionismen, die Sie geradeangesprochen haben, Herr Kollege Veit. – Als erstenSchritt schlagen wir eine Genehmigungsfiktion für dieVorrangprüfung und die Senkung des Mindesteinkom-mens auf 40 000 Euro vor.
Trotz des sympathischen Titels des vorliegenden An-trags der Grünen wollen die Grünen etwas anderes. Siewollen eine Erhöhung der Nettoeinwanderung. Sie wol-len nur kompensatorische Maßnahmen für die befürch-tete demografische Entwicklung. Die Grünen wollen dieKriterien, die sie zunächst für die Zuwanderungssteue-rung fordern, sofort wieder aushebeln. Bildungsanforde-rungen sollen nach Auffassung der Grünen nicht mehrgestellt werden, wenn ein Zuwanderer sie, etwa auf-grund der Wahrnehmung von Familienpflichten, nichterfüllen konnte. Damit wird vor allem der unqualifizier-ten Zuwanderung aus Regionen mit aus unserer Sichtnicht mehr zeitgemäßen Familienvorstellungen Tür undTor geöffnet.
Gesteuerte Zuwanderung ist kein Selbstzweck, son-dern ökonomische und gesellschaftliche Notwendigkeit.Verbindliche Kriterien sind notwendig.
Zuwanderung nach Deutschland ist keine Zuwanderungin einen leeren Raum, sondern in eine gewachsene Kul-tur. Wer hierher zuwandert, muss sich auch hier integrie-ren wollen, das heißt sich unsere Sprache und unsereGrundwerte überzeugend zu eigen machen. Nur so eröff-net sich für sie die Perspektive, Deutsche zu werden undauch als solche anerkannt zu werden.
Die Zukunft unseres Landes hängt davon ab, dass wiruns weiterentwickeln können, nicht stehen bleiben unddie entsprechenden Kapazitäten dafür haben.
Dazu müssen wir das Problem des Fachkräftemangelsdringend beheben. Lieber Herr Kollege Veit, Gewerk-schaften und Arbeitgeber sind sich einig, dass der ge-steuerte Zuzug von Fachkräften nach Deutschland nachklaren, transparenten und richtig gewichteten Kriterieneinen Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit beiuns darstellt.
Der Einsatz jeder weiteren Fachkraft zieht weitere Ar-beitsplätze nach sich.
Es geht aber nicht um ein schlichtes Mehr an Zuwan-derung, sondern es geht um ein System, das für denDeutschland-Interessierten durchschaubar ist, ihm seineChancen aufzeigt und deutlich macht, wen wir brauchen.
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Hartfrid Wolff
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Es geht um eine Regelung, die auch den Menschen hier-zulande das Gefühl gibt, dass diese Zuwanderer unsereGesellschaft bereichern und uns alle gemeinsam voran-bringen.
Diese Koalition hat dies im Koalitionsvertrag verein-bart und wird noch in dieser Legislaturperiode die Wei-chen dafür stellen.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun Kollegin Sevim Dağdelen für die
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Auf der Internetseite meines geschätzten Kolle-gen Kilic von den Grünen
steht zum Punktesystem Folgendes:Hier geht es um die Einwanderung von Fachkräf-ten, die Deutschland in einigen Branchen dringendbenötigt. Die in Arbeit stehenden ausländischenFachkräfte werden mit ihren Steuerzahlungen dazubeitragen, unser Sozialversicherungssystem auf-rechtzuerhalten.Sie, Herr Kilic, und die Grünen insgesamt – so ist meinEindruck – verstehen Einwanderinnen und Einwandereranscheinend nur als Ware.
Sie beurteilen Migration bzw. Migrantinnen und Mi-granten nämlich fast ausschließlich unter dem Gesichts-punkt des volkswirtschaftlichen Nutzenkalküls.Dieses Zitat hört sich für viele Menschen in Deutsch-land gar nicht so schlimm an. In den 90er-Jahren war esnoch verpönt, unter Nützlichkeitserwägungen über Men-schen zu sprechen. Damals, Anfang der 90er-Jahre, alsviele Asylbewerberheime brannten,
war es verpönt, darüber zu sprechen, ob Menschen fürunsere Gesellschaft nützlich sind oder nicht. Heute istdas anders, weil der neoliberale Mainstream mittlerweileüberall fest verankert ist.
Ich kann den Grünen nur sagen: Eine auf der Basisvon Arbeitsmarktkriterien betriebene und nur ökono-misch legitimierte Migrationspolitik führt zu sozialerExklusion und rechtspopulistischen Ressentiments ge-gen Einwanderer und Minderheiten à la Sarrazin & Co.
Das ist die Erfahrung aus Kanada, meine Damen undHerren.
Sie sagen: Es gibt einen Fachkräftemangel. Ich sage:Das ist ein Mythos. Das denkt übrigens nicht nur dieLinke. So spricht zum Beispiel auch der Focus vom„Mythos Fachkräftemangel“;
der Focus ist wahrlich kein linkes oder linksliberalesBlatt.Hinzu kommt, dass es in Deutschland keinen flächen-deckenden Fachkräftemangel gibt, weder aktuell nochauf absehbare Zeit.
Das sagt selbst das Deutsche Institut für Wirtschaftsfor-schung in Berlin; auch das ist kein linksliberaler oderlinker Thinktank.Lesen Sie sich ruhig einmal den WochenberichtNr. 46 des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschungvom November letzten Jahres durch. Dann werden Sieerfahren, dass es für ein derzeit generell knappes Arbeits-kräfteangebot keine Belege gibt. Weder die untersuchteEntwicklung auf dem Arbeitsmarkt noch die Lohn-entwicklung noch die Ausbildungssituation lassen denSchluss auf einen Fachkräftemangel zu. Die Studenten-zahlen zeigen laut dieser Studie, dass der Bedarf in denakademisch-naturwissenschaftlich-technischen Berufenin den kommenden Jahren gedeckt werden kann.
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Sevim Daðdelen
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Sevim Dağdelen
Auch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsfor-schung der Bundesagentur für Arbeit sieht keinen flä-chendeckenden Fachkräftemangel. Ich kann Ihnen abersagen, woran es einen Mangel gibt: Es gibt einen Man-gel an gut bezahlten Arbeitsplätzen in Deutschland. DerBedarf an Fachkräften könnte in Anbetracht der hohenErwerbslosigkeit problemlos gedeckt werden, wie selbstdas Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung sagt.Doch wollen die deutschen Unternehmen – auch dasstellte dieses Institut fest – nicht den gerechten Preis füreine gute Arbeit bezahlen.An dieser Stelle verweist das DIW zu Recht auf dieLohnentwicklung. Die Preise sind in Deutschland undanderswo nach wie vor Indikator für Knappheiten aufden Märkten.
Wenn es also einen allgemeinen Fachkräftemangel gäbe,müsste er sich ja auch bei der Lohnentwicklung zeigen.Es zeigt sich aber, dass die Löhne in Deutschland immernoch sinken. Das heißt, die Lohnentwicklung inDeutschland macht deutlich, dass es diesen Fachkräfte-mangel so nicht gibt.
Meine Damen und Herren von den Grünen, einesfinde ich unerträglich:
Mit dem Punktesystem sollen ausländische Fachkräfteangezogen werden, um das deutsche Sozialversiche-rungssystem am Leben zu erhalten. War es nicht Rot-Grün, die mit der Agenda 2010, durch den Abbau vonSozialleistungen und die Entlastung von Unternehmenmehr Arbeitsplätze schaffen wollten? War es nicht Rot-Grün, die durch die Abschaffung der Arbeitslosenhilfeund die Einführung von Hartz IV Hunderttausende inArmut und soziale Ausgrenzung getrieben haben,
die die Beschäftigten durch eine drastische Kürzung desArbeitslosengeldes und die Verschärfung der Zumutbar-keitsregelungen erpressbar gemacht haben
und Lohndumping Vorschub geleistet haben, vor allenDingen durch Leiharbeit?
Sie tun so, als würden ausländische Fachkräfte jetztdas Problem beheben können, das Sie geschaffen haben.Sie sagen: Deutschland braucht Fachkräfte. Wir alsLinke sagen: Deutschland hat Fachkräfte.
Das Problem ist aber, Fachkräfte drehen Deutschlandzunehmend den Rücken zu. Sie verlassen Deutschland.Wir haben gestern hier mit Herrn Bundesinnenministerde Maizière den Migrationsbericht 2009 beraten. Diebittere Erkenntnis aus diesem Migrationsbericht ist, dassDeutschland ein Auswanderungsland ist. Von den Deut-schen, die aus Deutschland wegziehen und im Auslanderwerbstätig sind, hat etwa die Hälfte einen Hochschul-abschluss,
über 40 Prozent von ihnen besitzen einen mittleren Bil-dungsabschluss. Mehr als ein Drittel sind Wissenschaft-lerinnen und Wissenschaftler, knapp 20 Prozent Techni-ker und 17 Prozent Führungskräfte.
Mehr als die Hälfte der Deutschen, die im Jahr 2009 insAusland gezogen sind, war zwischen 25 und 50 Jahre alt,etwa ein Fünftel war jünger als 18 Jahre.Es ist doch auch kein Wunder, dass diese Menschengehen. Deutschland ist inzwischen ein Niedriglohnlandgeworden. Eine Ausbildung schützt längst nicht mehrdavor, im Niedriglohnsektor zu landen. Laut Institut Ar-beit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essenist der Anteil der Betroffenen mit abgeschlossener Be-rufsausbildung zwischen 1995 und 2008 von 63,4 Pro-zent auf 71,9 Prozent gestiegen. Werden Erwerbstätigemit Hochschulabschluss dazugerechnet, sind vier von fünf„Niedriglöhnern“ so gut qualifiziert, um in Deutschlandals Fachkraft oder auch als hochqualifiziert zu gelten.
Sie wandern aus, weil sie keine gut bezahlte Arbeit fin-den. Auch vielen Ostdeutschen ist es in den letzten20 Jahren so ergangen. Und ein Ende ist mit Ihrer Politikeinfach nicht in Sicht.
Für die Fachkräfte mit Migrationshintergrund, HerrKilic, ist ein Land einfach unattraktiv, in dem nicht erst
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9387
Sevim Daðdelen
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Sevim Dağdelendie Sarrazin-Debatte rassistische Spuren hinterlassenhat. In einem so ausländerfeindlichen gesellschaftlichenKlima wie in Deutschland möchten viele Fachkräfte mitMigrationshintergrund einfach nicht leben.
– Ja, Herr Winkler, das erzählen mir viele. Und was istIhr Problem damit?
Das erzählen mir nicht nur viele, sondern es ist auch inStudien mehrfach belegt worden, dass viele Menschenauswandern, weil sie die Diskriminierungen in diesemLand einfach satthaben.
Das könnten Sie auch einmal bestätigen; denn Sie wis-sen sehr genau, dass das so ist.Sie sagen, Deutschland brauche Fachkräfte, und Sieführen das auf die demografische Entwicklung zurück.Das ist moderne Kaffeesatzleserei. Wir werden uns je-denfalls nicht daran beteiligen, Prognosen über einenZeitraum von knapp einem halben Jahrhundert abzuge-ben. Das ist einfach unseriös, und dies wird Ihnen jedeExpertin oder jeder Experte bestätigen.
Ich möchte vor allen Dingen noch einmal daran erin-nern, dass Demografie auch immer wieder als Mehr-zweckwaffe genutzt wird. Ich möchte daran erinnern,dass Anfang der 90er-Jahre viele Medien, aber auchviele Politikerinnen und Politiker die Demografie be-müht haben, um das Recht auf Asyl in Deutschland fak-tisch abzuschaffen. Damals hieß es: „Das Boot ist voll!“Heute heißt es: „Raum ohne Volk“, wie der Spiegelschon im Jahr 2000 in reichlich geschmackloser Art ti-telte. Ich finde: Demografie ist kein Problem, das manüberhaupt nicht beeinflussen kann.
Wenn es ein demografisches Problem gibt, liegt das da-ran, dass wir keine gute Familienpolitik, dass wir keinegute Arbeitsmarktpolitik und keine gute Bildungspolitikhaben. Das alles ist veränderbar.
Wenn Sie von Demografie sprechen, dann müssen Sieauch zur Kenntnis nehmen, dass vor 100 Jahren auf ei-nen über 65-Jährigen noch zwölf Erwerbstätige kamen,vor 50 Jahren waren es noch sieben, vor 20 Jahren warenes vier. Ein Problem war das nicht; denn ein Problem mitder Demografie besteht nur bei sinkender Produktivität.Die Produktivität in Deutschland ist jedoch steigend undbildet so die Basis für die sozialen Sicherungssysteme inDeutschland, die nicht abgeschafft oder zerstört gehörenwegen des Mythos des demografischen Wandels.
Sie haben den Braindrain angesprochen. Ich kann nurdazu ermuntern, sich auch einmal die Entwicklungslän-der anzuschauen, die ganz klar und deutlich sagen, siewollen keine Fachkräfte, die sie in ihren Ländern unterganz schwierigen Bedingungen ausbilden und für ihrLand und ihre Zukunft nutzen wollen, in die Industrie-staaten schicken, damit sie dort dazu benutzt werdenkönnen, die Länder des Südens noch mehr auszubeutenund von den Industriestaaten ausgeplündert zu werden.Das ist keine Entwicklungspolitik, an der sich die Linkebeteiligen kann.
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ja, ich komme zum Schluss. – Sie haben ein Problem
mit Fachkräften in Deutschland? Ich fordere, endlich
eine gesetzliche Ausbildungsplatzumlage zu beschließen
– das hatte Rot-Grün vor Jahren einmal versprochen,
aber nie eingeführt –,
damit jeder Jugendliche einen Ausbildungsplatz findet.
Beschließen Sie ferner einen gesetzlichen Mindestlohn
von 10 Euro; denn wir wollen nicht, dass Solidarität,
Gleichheit – –
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Ja, das ist mein letzter Satz, Herr Präsident.
Bitte kommen Sie zum Ende.
Wir wollen nicht, dass Solidarität, Gleichheit, Ge-
rechtigkeit und Humanität hier im Säurebad der Konkur-
renz verschwinden.
Danke.
Das Wort hat nun der Parlamentarische StaatssekretärOle Schröder.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Es wird niemand die Notwendigkeit bestreiten,dass wir uns um das Thema Fachkräfte kümmern müs-sen. Die Bundesregierung kümmert sich um diesesThema. Das haben wir in der Vergangenheit gemacht,und das tun wir auch in der Zukunft.Wir kümmern uns auch um die Qualifizierung. Nochnie wurde so viel Geld für Bildung ausgegeben wie zuZeiten dieser Regierung. Wir sind offen für Hochqualifi-zierte, aber die Gewinnung von Fachkräften ist nicht al-leine Aufgabe des Staates, nicht alleine Aufgabe der Re-gierung und auch nicht alleine Aufgabe des Parlaments.Sondern in einer sozialen Marktwirtschaft ist es natür-lich auch Aufgabe der Unternehmen, sich um Qualifizie-rung zu kümmern
und sich um die Qualifizierten auf dem inländischen unddem europäischen Arbeitsmarkt zu bemühen, aber natür-lich auch offen zu sein für Fachkräfte auf dem weltwei-ten Arbeitsmarkt.Wenn man die Diskussionen der letzten Wochen ver-folgt hat, dann hat man manchmal den Eindruck gehabt,dass es alleine Aufgabe des Staates ist, den Unterneh-men die Fachkräfte sozusagen frei zuzuführen. Das ist ineiner sozialen Marktwirtschaft mit Sicherheit nicht derFall, sondern es ist Aufgabe des Staates und der Unter-nehmen, einen attraktiven Standort zu schaffen.Attraktivität schafft man natürlich auch mit anständi-gen Gehältern, die Fachkräften gezahlt werden müssen.
Attraktivität schafft man daneben natürlich auch da-durch, dass auch in den Unternehmen darauf geachtetwird, dass Beruf und Familie miteinander vereinbar sind,dass eine Willkommenskultur für Fachkräfte von außengeschaffen wird, dass Beschäftigungsmöglichkeiten fürden Ehepartner, der mitkommt, geschaffen werden unddass auch die Belange des Kindes mitberücksichtigt wer-den.Einige behaupten nun, durch das Zuwanderungsrechtwerden die Unternehmen daran gehindert, Fachkräftenach Deutschland zu holen. Das ist doch nicht der Grunddafür, weshalb zu wenige Fachkräfte nach Deutschlandkommen.
Das hängt doch vom Gehalt ab, das gezahlt wird, unddavon, ob eine Willkommenskultur in den Unternehmenvorhanden ist. Auch Sprachbarrieren spielen sicherlicheine wichtige Rolle.In einem Punkt enthält unser Zuwanderungsrecht al-lerdings eine notwendige Filterfunktion. Wir wollennicht, dass ausländische Arbeitnehmer zu Dumpinglöh-nen und damit auf Kosten von inländischen Arbeitneh-mern nach Deutschland geholt werden,
wenn diese Arbeitsplätze auch durch Inländer oder Euro-päer besetzt werden können. Zu dieser Filterfunktion inunserem Zuwanderungsrecht bekennen wir uns aus-drücklich.Natürlich haben die Unternehmen ein Interesse daran,aus einem möglichst großen Pool bzw. Angebot an Ar-beitskräften auf dem Arbeitsmarkt auszuwählen. Selbst-verständlich ist das das Interesse der Unternehmen. Wirholen Zuwanderer aber nur dann ins Land, wenn auchwirklich eine Nachfrage besteht.
Gemäß unserem Zuwanderungsrecht ist die Zuwan-derung von ausländischen Arbeitskräften schon heutezulässig, wenn Fachkräftemangel herrscht und die Zu-wanderung eben nicht zu mehr Arbeitslosigkeit führt.In welchem Maße unser Zuwanderungsrecht schonjetzt offen ist, ist offensichtlich vielen nicht bekannt.
Es wird auch viel vernebelt. Ich gebe zu, unser Auslän-derrecht ist nicht immer leicht verständlich. Aber wennman die Regelungen genau liest, dann wird deutlich,dass Zuwanderung möglich ist.Es wird beispielsweise immer wieder behauptet, dassdie Einstellung ausländischer Hochqualifizierter mit ei-nem Jahresgehalt unter 66 000 Euro nicht möglich ist.Das ist schlichtweg Unsinn. Es gibt keine feste Gehalts-grenze. In bestimmten Fallgruppen, zum Beispiel beiFührungskräften, kann sogar auf die sogenannte Vor-rangprüfung verzichtet werden. Das heißt, es kann kom-plett auf die Prüfung verzichtet werden, ob eine Stellenicht auch von einem Inländer oder einem Unionsbürgerbesetzt werden kann.
Die Gehaltsgrenze von 66 000 Euro ist nur für dieFrage maßgeblich, ob von Anfang an ein unbefristetesAufenthaltsrecht erteilt wird. Mit dieser Regelung, dassmit einem Jahresgehalt ab 66 000 Euro ab dem erstenTag ein unbefristetes Aufenthaltsrecht gewährt wird, ste-hen wir in Europa an der Spitze, was Offenheit angeht.
Hochqualifizierte Wissenschaftler können sogar un-abhängig von jeglicher Gehaltsgrenze nach Deutschlandkommen und haben vom ersten Tag an den Anspruch aufein unbefristetes Aufenthaltsrecht.
Das deutsche Recht ist besser als sein Ruf. AuchFachkräfte mit einem Jahresgehalt unter 66 000 Eurokönnen kommen, wenn die Vorrangprüfung positiv be-schieden wird. Sie erhalten dann aber zunächst eine auf
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9389
Parl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder
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maximal drei Jahre befristete Aufenthaltserlaubnis. Dasist weltweit ähnlich geregelt. Denn wenn jemand nachkurzer Zeit arbeitslos wird und sich nicht integriert, dannmüssen wir die Möglichkeit haben, die Aufenthalts-erlaubnis nicht zu verlängern.Wenn von dem Punktesystem die Rede ist, wird oft sogetan, als wäre unser Zuwanderungsrecht mit einemPunktesystem modern und ohne dieses System total ver-staubt. Das ist Ideologie. Es ist schlichtweg falsch.
Wir müssen uns die Frage stellen, ob wir mit einemPunktesystem eine bessere Steuerung erreichen.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kilic?
D
Bitte schön.
Sehr geehrter Herr Schröder, Sie gehen in Ihrer Rede
davon aus, dass kein Zuwanderungsbedarf an Fachkräf-
ten existiert und mit den vorhandenen gesetzlichen Re-
gelungen alles unter Dach und Fach ist. Als Regierungs-
mitglied müssten Sie wissen, dass die CDU vor ein paar
Tagen in ihrer Mainzer Erklärung festgestellt hat, dass
die CDU die Zuwanderung von Fachkräften steuern
möchte. Das klingt so, als ob Handlungsbedarf besteht.
Wo sehen Sie auf diesem Gebiet Handlungsbedarf, oder
glauben Sie, dass alles von geltendem Recht gedeckt ist?
D
Selbstverständlich sind wir offen für Fachkräfte ausaller Welt,
die zu uns kommen, um zu arbeiten, wenn dies nicht zu-lasten derjenigen geht, die hier einen Arbeitsplatz haben.Wir wollen keine Zuwanderung aus Drittstaaten außer-halb Europas, wenn dies zu höherer Arbeitslosigkeitführt.
Die Frage ist, woran es liegt, dass wir für Fachkräfteoffensichtlich nicht so attraktiv sind, wie wir uns dasvorstellen. Sie meinen, das löst sich dadurch, dass wirunser Zuwanderungsrecht ändern. Das Zuwanderungs-recht ist aber nicht unser Problem. Die Probleme liegenganz woanders. Sie hängen mit einer Willkommenskul-tur zusammen. Sie hängen auch damit zusammen, dasswir ganz andere Sprachbarrieren haben als der anglo-amerikanische Raum. Diese Probleme müssen wir inAngriff nehmen, nicht das Zuwanderungsrecht.
Ich meine, dass wir mit der Feinjustierung im beste-henden System besser in der Lage sind, die Zuwande-rung zu steuern. Wir können damit viel besser arbeits-marktorientiert steuern und präziser auf die Nachfrageder Unternehmen reagieren. Wenn jemand eine offeneStelle hat, die er nicht mit einem Inländer oder einemUnionsbürger besetzen kann, dann ist es nach geltendemRecht möglich, jemanden von außen zu holen und einzu-stellen.Wir müssen aber sicherstellen, dass wir keine Fach-kräfte nach Deutschland holen, die hier nicht gebrauchtwerden. Ein Punktesystem schafft am Ende mehr Bürokra-tie. Sie müssen Behörden aufbauen, die Auswahlkriterienschaffen und Auswahlverfahren in den Herkunftsländernorganisieren. Unser jetziges System ist bürokratieärmer.Lassen Sie uns keine große Migrationsbürokratie auf-bauen! Das macht keinen Sinn.Stattdessen sollten wir unser jetziges System voran-bringen. Wir sollten prüfen, ob die Vorrangprüfung imRahmen des jetzigen Systems beschleunigt werdenkann, zum Beispiel durch eine Genehmigungsfiktion.Wenn ein Unternehmen meint, eine Stelle nicht besetzenzu können und sich an die Bundesagentur wendet undnach drei, vier Wochen keinen Bescheid bekommt, wirdeine Genehmigung fingiert, und es kann jemand von au-ßerhalb der EU kommen. Wir müssen auch prüfen, obwir in einigen Branchen auf die Vorrangprüfung verzich-ten können. Wenn die Vorrangprüfung bloße Förmeleiist, weil der Fachkräftemangel so offensichtlich ist, dannist diese Prüfung nicht notwendig. Das ist jedoch schonauf der Grundlage des geltenden Rechts möglich. Dafürbrauchen wir überhaupt keine Rechtsänderung.Wir sollten auch einen Blick auf das Fachkräftepo-tenzial in Europa werfen, insbesondere auf das in den inletzter Zeit beigetretenen Staaten. Ab Mai haben alleArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in ganz Europa,zum Beispiel aus Polen, Ungarn, Slowenien und Tsche-chien – außer aus Bulgarien und Rumänien –, die Mög-lichkeit, nach Deutschland zu kommen, um hier zu ar-beiten. Lassen Sie uns doch erst einmal abwarten, wasdann passiert,
welche Migrationsströme dann entstehen und wie dieseauf den deutschen Arbeitsmarkt wirken, bevor wir sol-che Experimente durchführen, die Sie von uns verlan-gen!Lassen Sie uns auch das Arbeitsmarktpotenzial der al-ten Mitgliedstaaten nutzen! In Spanien spricht man be-reits von einer verlorenen Generation. Ich lese in derFAZ, dass dort die Arbeitslosigkeit bei den unter 25-Jäh-rigen bei rund 40 Prozent liegt. Warum holen wir denndiese arbeitslosen Jugendlichen nicht nach Deutschlandund bilden Sie aus? Das ist doch viel naheliegender, alsauf anderen Kontinenten Anwerberstellen zu organisie-ren und ein Punktesystem einzuführen. Lassen Sie unsdoch nach Europa schauen!
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9390 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Parl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder
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Warum kümmern wir uns nicht um die arbeitslosen Ju-gendlichen in Spanien?
Warum bilden wir sie hier nicht aus, zumal wir mit Ju-gendlichen, die aus unserem Kulturkreis kommen, we-sentlich weniger Integrationsprobleme haben, als mitsolchen aus anderen Kulturkreisen?
Lassen Sie uns diese Chance nutzen! Lassen Sie unsden Menschen, die hier leben, eine Chance geben! Las-sen Sie uns dafür sorgen, dass wir attraktiv für Fach-kräfte sind! Ein neues Zuwanderungsrecht, insbesondereein Punktesystem, brauchen wir hierfür nicht.
Das Wort hat nun Daniela Kolbe für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Inder Tat ist der Fachkräftemangel, insbesondere im Zu-sammenhang mit Zuwanderung, eines der zentralen The-men im Hinblick auf die Zukunftsfähigkeit unseres Lan-des. Ich möchte gerne die Frage des Kollegen Veitaufgreifen. Ist es denn wirklich klug, gerade dieser Re-gierung den Auftrag zu erteilen, ein Konzept für einPunktesystem vorzulegen? Ich kann mich gar nicht rechtentscheiden, welches der schlimmere Worst Case wäre:wenn sich die CSU durchsetzt und wir dann überhauptkeine Zuwanderung mehr haben oder wenn sich die FDPdurchsetzt, die sich in ihrer Politik einseitig an den Inte-ressen der Unternehmen orientiert. Notwendig ist, eingesamtgesellschaftlich ausgewogenes Konzept vorzule-gen, das sowohl die Interessen der Unternehmen und derWirtschaft in Deutschland als auch die Interessen derMenschen, die hier leben – ob mit oder ohne Migrations-hintergrund –, berücksichtigt.Die Bundesregierung ist nicht nur beim Thema Zu-wanderung zerstritten, sondern auch komplett blank,wenn es darum geht, das Potenzial, das wir hier im Landhaben, zu heben und hier für mehr Fachkräfte zu sorgen.Alles, was ich bisher zu diesem Thema gehört habe, wa-ren Sonntagsreden.
Wenn Sie über Bildung reden, dann sind das Sonntagsre-den. Sie versuchen weiterhin, Ihre Ideologie durchzuset-zen, konkrete Konzeptionsvorschläge haben Sie nicht.Herr Bosbach – ich weiß nicht, ob er noch da ist – hatdarüber gesprochen, dass man mehr für die Arbeitsver-mittlung tun muss. Ich merke, dass ich bei diesemThema richtig sauer werde. War es nicht die schwarz-gelbe Regierung, die die Mittel für aktive Arbeitsmarkt-politik massiv zusammengestrichen hat? Oder ist mir et-was entgangen?
Lassen Sie mich zu einer Gruppe von Personen kom-men, die in den Reden bisher noch nicht vorgekommenist, nämlich die Menschen, die eingewandert sind, schonlänger hier leben und ein nicht zu unterschätzendesFachkräftepotenzial darstellen.
Wir erinnern uns: Die Ankündigungsministerin FrauDr. Schavan hat uns versprochen, dass es ein Gesetz zurAnerkennung im Ausland abgeschlossener Berufsausbil-dungen oder akademischer Abschlüsse geben soll.
Das ist jetzt über ein Jahr her. Wir warten und wartenund bekommen Ankündigungen über Ankündigungen.Das ist schlecht für die Unternehmen, und ich hoffe, esist Ihnen auch ein bisschen unangenehm, dass das solange dauert. Versetzen Sie sich einmal in die Lage derBetroffenen. Überlegen Sie, wie frustrierend das für die300 000 bis 500 000 Menschen ist, die in unserem Landleben, ohne dass ihre bisherigen Leistungen in irgend-einer Weise anerkannt werden. Das ist eine Katastrophe.
Selbst wenn dieses Gesetz irgendwann verabschiedetwird – ich weiß nicht, ob es überhaupt irgendwann ver-abschiedet wird –: Frau Schavan hat deutlich gemacht,dass es eine Einschränkung geben wird, es wird nämlichkein Recht auf Anschlussqualifizierung geben. Was dannpassiert, ist ziemlich klar: So wird zum Beispiel Lehre-rinnen und Lehrern aus der ehemaligen Sowjetunion teil-weise nur das Abitur anerkannt, obwohl sie ein Lehr-amtsstudium absolviert haben. Zum Teil wird ihnengesagt: Studieren Sie ein Fach noch einmal komplettnach; denn die meisten haben nur ein Fach studiert. Waspassiert, wenn wir das so handhaben? Es wird vielen an-deren Personengruppen auch so gehen, dass sie nur eineTeilanerkennung bekommen und dann im Regen stehengelassen werden. Liebe Bundesregierung, entweder istder Fachkräftemangel gar nicht so groß, oder Sie müssenan dieser Stelle kräftig nachregeln.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9391
Daniela Kolbe
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Ein zweites Beispiel sind die ausländischen Studie-renden, die ihr Studium in Deutschland absolviert haben.Gestern haben wir uns alle miteinander über denMigrationsbericht gefreut, der besagt, dass wir fast250 000 Bildungsausländer im Land haben. Das sindeine Viertelmillion Menschen, die hier studieren. Das istein großes Kompliment und widerspricht der These, dassniemand Interesse daran hat, in unserem Land zu studie-ren.Die Absolventinnen und Absolventen, die in Deutsch-land ihr Studium absolvieren, sind Topleute, das sinddiejenigen, die wir unbedingt begeistern wollen, hierzu-bleiben und Arbeit aufzunehmen. Das hat schon Rot-Grün erkannt. Im Jahr 2005 haben wir im Zuwande-rungsgesetz gemeinsam vereinbart, dass die Absolven-tinnen und Absolventen ein Jahr Zeit bekommen sollen,um einen Arbeitsplatz zu finden. Selbst in der GroßenKoalition konnte sich die SPD noch durchsetzen. OlafScholz hat durchgeboxt, dass für die Absolventinnenund Absolventen die Vorrangprüfung nicht mehr gilt unddass sie auch wieder einreisen können, wenn sie späterhier einen Arbeitsplatz finden. Das sind große Chancen,die den meisten kaum bekannt sind. Das spiegelt sich inden Zahlen wider. Nur wenige versuchen, überhaupt ei-nen Arbeitsplatz zu finden, noch weniger schaffen es.Was tut die Regierung? Immerhin diskutiert sie dasThema. Es ist gut, dass die Bundesregierung in die rich-tige Richtung diskutiert.
Das Problembewusstsein ist vorhanden, aber ich habe someine Zweifel, ob etwas dabei herauskommt. Der Minis-ter hat schon wieder etwas ausgeschlossen. Er sagt, dassdie betroffenen Personen definitiv nicht länger als einJahr Zeit bekommen sollen, um Arbeit zu finden. Ichpersönlich halte das für einen Fehler. Denn wenn wir be-trachten, wie lange die Absolventinnen und Absolventenin Deutschland brauchen, um einen Arbeitsplatz zu fin-den, dann stellen wir fest, dass nach einem Jahr nur50 Prozent der Absolventinnen und Absolventen eine re-guläre Beschäftigung gefunden haben. Sie wissen alle,dass es Menschen aus Drittstaaten auf dem deutschenArbeitsmarkt aus Gründen, auf die ich jetzt nicht einge-hen möchte, bedeutend schwerer haben.
Liebe Bundesregierung, insofern besteht auch hierHandlungsbedarf. Ihre Ankündigungen sind bisher nurvage. Außerdem gehen Sie mit Ihren Ankündigungennicht weit genug.Es ist also viel zu tun, um das Problem des Fachkräf-temangels und des Hebens des Potenzials im eigenenLand anzugehen. Was ich dazu bisher gehört habe, hatüberhaupt nichts mit dem Titel „Fachkräftestrategie“ zutun.
Das Wort hat nun Johannes Vogel für die FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Analysiert man die Lage, dann muss man doch klar sa-gen: Es gibt heute einen Wettbewerb um die klügstenKöpfe der Welt. Leider müssen wir hinzufügen:Deutschland partizipiert hieran nicht gut genug. Wir sindnicht gut genug aufgestellt.Das sieht man an der Zahl der Hochqualifizierten, diederzeit über die Einkommensgrenze springen. Im ver-gangenen Jahr waren es gerade einmal 169 Personen.Das kann uns doch nicht zufriedenstellen.Das sieht man außerdem am Anteil der Hochqualifi-zierten an den Zugewanderten insgesamt. Dieser Anteilliegt bei uns bei 22 Prozent. In den USA sind es 43 Pro-zent. In Kanada sind es sogar 59 Prozent. Unsere Mitbe-werber sind also doppelt so gut wie wir.Das sieht man auch am Saldo. Seit dem Jahr 2000verließen unser Land pro Jahr im Schnitt 16 000 Hoch-qualifizierte mehr, als gekommen sind. Der Auftrag istalso klar: Wir brauchen mehr qualifizierte Zuwanderer,liebe Kolleginnen und Kollegen.
Das gilt aber nicht nur aufgrund der heutigen Situa-tion, sondern insbesondere aufgrund der Situation, diesich infolge des demografischen Wandels in der Zukunftzeigen wird. Bis 2030 werden uns 6 Millionen Erwerbs-personen – vor allem Fachkräfte – in Deutschland feh-len. Das ist so, als ob Hessen plötzlich einfach weg wäre.Das kann Deutschland nicht verkraften. Deshalb ist derAuftrag klar: Wir brauchen mehr qualifizierte Zuwande-rer.
– Dass Hessen einfach weg wäre, das macht natürlichbesonders den hessischen Kollegen Sorgen. Das mussuns aber auch insgesamt Sorgen machen.Liebe Kollegin Kolbe, das ist keine Sache, die nur dieUnternehmen etwas angehen sollte. Das ist übrigensauch kein Gegensatz zur Qualifikation der leider arbeits-losen Menschen, die wir heute in diesem Land haben.Nicht Entweder-oder, sondern Sowohl-als-auch muss dieDevise sein; denn jeder Hochqualifizierte, der kommt,schafft doch in Deutschland weitere Arbeitsplätze.Liebe Kollegin Kolbe, dem Facharbeiter am Band beiBMW ist es vollkommen egal, ob der leitende Ingenieurursprünglich aus Südamerika kommt oder in Deutsch-land geboren wurde. Wenn der Ingenieur jedoch fehltund die Ingenieurstelle nicht besetzt werden kann, sindauch die Arbeitsplätze am Band gefährdet. Deshalb gehtes hier nicht um ein Entweder-oder, sondern um ein So-
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9392 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Johannes Vogel
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wohl-als-auch. Es geht um Qualifikation im Inland undum mehr qualifizierte Zuwanderer aus dem Ausland.
Wir brauchen dafür ein einfacheres und transparente-res System, weil wir die Entwicklung anhand der Quali-fikation der Zuwanderer und anhand der Bedürfnisse aufdem Arbeitsmarkt steuern müssen und vor allem weildas deutsche Kontensystem zu kompliziert ist.Wenn sich ein junger Vietnamese beispielsweise da-für interessiert, in ein anderes Land zu gehen, dann ist esunrealistisch, dass er nach Deutschland kommt, wenn esauf der einen Seite ein System wie in Kanada gibt, wo erinnerhalb von fünf Minuten auf der Homepage der Bot-schaft ermitteln kann, ob er zuwandern darf oder nicht,und wenn es auf der anderen Seite ein System gibt, wiewir es heute in Deutschland haben, bei dem er erst denStellenteil einer deutschen Tageszeitung wälzen mussund dann noch möglicherweise anwaltliche Beratungbraucht, um herauszufinden, wie er hierherkommenkann. Das kann nicht so bleiben, liebe Kolleginnen undKollegen. Deshalb brauchen wir ein einfacheres System.
Mir persönlich ist es ganz egal, wie das System heißt.Mich überzeugt ein Punktesystem, weil die Erfahrungendamit beispielsweise in Kanada so gut sind.
Deshalb halte ich das für einen guten Vorschlag. Michüberzeugt auch, dass zum Beispiel die Arbeitsplatzfragedabei ganz smart in ein System integriert wird. WelchesSystem dies ist, ist aber nicht entscheidend. Entschei-dend ist vielmehr, dass es funktioniert, dass es steuertund dass es einfach ist.Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,jetzt kommen wir zu den Unterschieden. Wir brauchennämlich nicht nur ein gutes Zuwanderungssystem. Son-dern wir brauchen – und darüber schweigen Sie sich lei-der völlig aus – das Bewusstsein, dass wir aktiv um dieFachkräfte in der Welt werben müssen. Natürlich geht esum die deutsche Wirtschaft. Es geht aber auch um diePolitik. Wir müssen deutlich machen, dass wir dieseMenschen zu uns holen wollen. Daran hapert es bisher.Dazu sagen Sie in dem Antrag leider überhaupt nichts.
Darüber hinaus – dabei hat das Innenministeriumvollkommen recht – brauchen wir eine Willkommens-kultur. Wir brauchen eine Kultur, die deutlich macht,dass wir wollen, dass die Menschen hier auch anerkanntwerden. Schauen wir uns doch einmal die Situation derFachkräfte an, die heute schon in Deutschland sind. Unsberichtet nicht nur beispielsweise das Bundesamt für Mi-gration und Flüchtlinge, dass es immer wieder Problememit deutschen Ämtern gibt. Die Betroffenen stehen vorder Situation, dass etwa ihre Qualifikation hier nicht an-erkannt wird. Dazu kann ich nur sagen: Wir brauchen einAusländerrecht, das den Menschen deutlich macht, dasssie hier willkommen sind.Eine Bekannte von mir ist eine junge Philippinin, diean einer amerikanischen Topuniversität gut ausgebildetwurde. Sie hat mir gegenüber nicht gerade den Eindruckvermittelt, dass sie von den deutschen Ausländerämternbesonders hofiert worden sei. Dabei ist es eindeutig einejunge Person, die unsere Gesellschaft bereichern könnte.Außerdem müssen bei uns mehr Abschlüsse aner-kannt werden. Da kann ich die Kritik der Oppositionnicht verstehen; schließlich ist es doch diese Bundesre-gierung, die sich vorgenommen hat, dieses Thema jetztanzugehen.
Ganz klar ist: Wir brauchen drei Ws. Wir müssen ers-tens den Wettbewerb aufnehmen; durch ein kluges Sys-tem müssen die klügsten Köpfe ausgewählt werden. Wirmüssen zweitens Werbung für unser Land machen, undwir müssen drittens eine Willkommenskultur schaffen.Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, For-mulierungshilfen von der Opposition, insbesondere vonIhnen, brauchen wir dafür nicht. Dieses Thema hat dieRegierung sich längst vorgenommen; es ist bei der Ko-alition in guten Händen. Schwarz-Gelb schafft es amehesten, die Zuwanderungssteuerung, die Werbung unddie Willkommenskultur zusammenzubringen, eher alsSie jedenfalls. Das zeigt sich an den Zahlen. Schaut mansich einmal die Zahlen von 2009 an, stellt man fest, dass,wie ich eben schon gesagt habe, leider mehr hochqualifi-zierte Menschen aus- als zugewandert sind. Trotzdemsind viele gekommen.
Interessant ist, sich anzuschauen, in welche Bundes-länder die Einwanderer im Jahre 2009 gegangen sind.Für mich nicht überraschend standen an der Spitze derRangliste natürlich drei damals glücklicherweiseschwarz-gelb regierte Länder: Nordrhein-Westfalen,Bayern und Baden-Württemberg. Das zeigt: Hochquali-fiziertenzuwanderung und Fachkräftemangelbekämp-fung sind bei Schwarz-Gelb in besseren Händen als beiIhnen. Deshalb werden wir Ihrem Antrag nicht zustim-men.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9393
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Nächste Rednerin ist die Kollegin Jutta Krellmann für
die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Ich wiederhole, was meine Kollegin Sevim Dağdelengesagt hat: Es gibt keinen Fachkräftemangel in Deutsch-land. Diese Aussage kommt nicht von mir – ich führenämlich keine Untersuchungen durch –, sondern sie be-ruht auf einer Untersuchung des Deutschen Instituts fürWirtschaftsforschung.
– Wollen wir hinterher noch einmal reden? Rufen Siejetzt nicht dazwischen, bitte.
Worum geht es, wenn führende Unternehmen überunbesetzte Ingenieurstellen klagen und sogenannte Ex-perten schon eine Verlängerung der Arbeitszeit auf50 Stunden in der Woche heraufbeschwören? Ich sage:Fachkräfte sind da; aber der Wirtschaft sind sie zu teuer.Persönlich habe ich mich die ganze Zeit über eine Dis-kussion über Fachkräftemangel gefreut, weil die Fach-kräfte endlich einmal selbstbewusste Forderungen stel-len konnten, zum Beispiel in Tarifrunden. Das geht nunnicht, weil die Wirtschaft jetzt im Grunde schaut, wieman dem Fachkräftemangel über Zuwanderung aus demAusland begegnen kann; sie hat die Diskussion darüberganz einfach wieder entdeckt. Den Fachkräften aus demAusland kann man weniger Gehalt als den heimischenBeschäftigten zahlen, und darum drängen die Arbeitge-berverbände auf eine schnelle Lösung, die diesen Men-schen einen leichten Zugang zum Arbeitsmarkt ermög-licht. Das wird der Wirtschaft gerecht, aber nicht denMenschen, weder denjenigen, die hier leben, noch denje-nigen, die zu uns kommen.Die Grünen fallen genau auf diesen Trick und dieseÜberlegung herein. Die Debatte um Fachkräftemangelist nicht neu, die zweifelhaften Lösungen auch nicht.Waren es vor gut zehn Jahren die IT-Spezialisten, sind esheute Ingenieure und Techniker, und das auch nur in ei-nigen Branchen. Wir erinnern uns an Rüttgers peinlicheDebatte um „Kinder statt Inder“. Die Greencard war einReinfall. Anstatt über gesteuerte Fachkräftezuwande-rung mit Karten und Punkten zu sinnieren, müssen wirdoch erst einmal über das eigentliche Thema reden, unddas ist im Grunde die verkorkste Arbeitsmarktpolitik.
Wir haben 1,5 Millionen Menschen zwischen 20 und29 Jahren ohne abgeschlossene Berufsausbildung undrund 4,1 Millionen Menschen ohne Arbeit. Dazu kom-men viele verdeckte Erwerbslose; sie sind nicht mitge-rechnet.Jahrelang hat sich die herrschende Politik um diejunge Generation nicht gekümmert. Betriebliche Ausbil-dungsplätze wurden abgebaut, und stattdessen wurdensinnlose Warteschleifen und Schmalspurausbildungeneingerichtet. Nicht einmal ein Viertel der Betriebe bildetaus. Die drei Viertel, die nicht ausbilden, schreien jetztam lautesten nach Facharbeitern.Die Unterzeichnung des Ausbildungspakts ist keinedrei Monate her. Dort hätten Arbeitgeberverbände ein-fach die Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze ver-einbaren können. Das haben sie nicht getan. Es galt, lie-ber stillzuhalten und zu warten, ob es billige Fachkräfteaus dem Ausland gibt.
Dazu muss man ja keine eigenen Investitionen tätigen.Gerade für die 1,5 Millionen jungen Menschen, die sichqualifizieren wollen, ist das wie ein Schlag ins Gesicht.
Bei der Qualifizierung der Beschäftigten sieht es auchnicht besser aus. Dort haben viele Arbeitgeber in denletzten Jahren einfach geschlafen und zu wenig in dieWeiterbildung investiert. Auch diese Betriebe rufen jetztnach qualifizierten Facharbeitern. Als Gewerkschafterinsage ich den Betrieben: Übernehmen Sie endlich dieVerantwortung und bilden Sie Ihre Beschäftigten weiterbzw. bilden Sie junge Menschen aus.
– Mit Ihnen rede ich auch hinterher noch mal gerne. –
Das ist das beste Mittel gegen Fachkräftemangel.Ich kenne einen jungen Industrieelektroniker, der sichzum Techniker weiterqualifiziert hat. Aber sein Betriebhat ihn nicht entsprechend seiner höheren Qualifikationbeschäftigt. Der hat lieber Mitarbeiter von außen geholt.Dieser junge Kollege hat sich dann entschieden: Ichgehe nach Norwegen und suche mir da einen Arbeits-platz. Er hat dort eine Perspektive gefunden.
Das kann ich absolut nachvollziehen. Ich sehe auch, dassdas kein Einzelfall ist. Ich persönlich kenne noch meh-rere Kollegen, die hochqualifiziert sind und heute über-legen, ins Ausland zu gehen, um ihre Qualifikation, dieauch eine Halbwertzeit hat, entsprechend einzusetzen.Deutschland ist mittlerweile – das ist auch schon ge-sagt worden – kein Einwanderungsland, sondern einAuswanderungsland. Da bilden sich Menschen ohnestaatliche oder betriebliche Hilfe weiter, und sie werdentrotzdem ignoriert. Ich kann es den jungen Leuten nichtverdenken, wenn sie in Richtung Auswanderung denken.Wenn wir Facharbeiter haben wollen, müssen wir denFacharbeitern auch eine Chance geben.
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9394 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Jutta Krellmann
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Daneben gibt es noch Millionen von erwerbslosenMenschen, die auf eine Chance warten, auch ausgebildetzu werden. Gleichzeitig aber winkt die Bundesregierungihr Sparpaket mit massiven Einsparungen bei den ar-beitsmarktpolitischen Instrumenten durch.Die Erwerbssituation in Deutschland befindet sich ineiner Schieflage. Ich gebe allen recht, die so darüber re-den. Schuld daran ist eine verfehlte Arbeitsmarktpolitik,die eher bereit ist, aus fähigen Beschäftigten Leiharbeit-nehmer zu machen, als sie anständig zu bezahlen. IhreArbeitsmarktpolitik macht Druck auf die Arbeitnehmerund versucht, sie gegeneinander auszuspielen. Anstattjunge und ältere Beschäftigte einzustellen, Frauen mitKindern zu unterstützen, Menschen mit Behinderungeine Chance zu geben und nicht zuletzt den hier leben-den Migranten endlich ihre im Ausland erworbenen Ab-schlüsse anzuerkennen, werden nun wieder einmal inter-nationale Fachkräfte gesucht.
Hauptsache, sie sind schneller und billiger als hier zu be-kommen. Die Linke spielt da nicht mit. Die Menschendürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Wirbrauchen keine Bewertung der Menschen nach Nützlich-keit.
Wir fordern freie Zugänge für alle Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer und den gleichen Lohn für gleicheArbeit – egal ob sie zu uns kommen oder schon bei unssind. Deshalb brauchen wir einen flächendeckenden ge-setzlichen Mindestlohn sowie gleichen Lohn für gleicheArbeit.
Vor allem brauchen wir eine Arbeitsmarktpolitik, dieden Menschen und nicht die Maximalprofite in den Mit-telpunkt stellt.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Brigitte Pothmer für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich zi-tiere zunächst:Der wachsende Fachkräftemangel ist in dieser Le-gislaturperiode das Megathema. „Er droht mittel-fristig die gesunde wirtschaftliche Entwicklungabzuwürgen und zum Treiber für neue Arbeitslosig-keit zu werden.“Jetzt frage ich Sie mal: Von wem stammt wohl dieses Zi-tat?
– Das ist nicht von mir – Sie können jetzt nicht sagen:Pothmer übertreibt mal wieder –, sondern das stammtvon Ihrer eigenen Arbeitsministerin Frau von der Leyen.
Ich finde, Frau von der Leyen hat recht. Sie werden ihrdoch jetzt den Applaus nicht verweigern.Obwohl die Erkenntnis in dieser Regierung ganz of-fenbar da ist – mindestens in Teilen der Regierung –,führt die Koalition hier eine richtige Geisterdebatte. DieUnion verweigert jede Einsicht in die gesellschaftlichenRealitäten, und die FDP verleugnet sich.
Sie teilen hier voll und ganz das Konzept, das wir Ihnenvorstellen, und gleichzeitig sagen Sie: Wir werden demnicht zustimmen. Ja, liebe Kolleginnen und Kollegenvon der FDP, dann müssen Sie sich nicht wundern, dassder gelbe Balken bei den Wahlumfragen sozusagen imNichts verschwindet.Dabei ist eines doch wirklich längst klar: Es gehtnicht um ein Entweder-oder; es geht um ein Sowohl-als-auch.
Es geht auch um die Förderung Einheimischer. Sie dür-fen nicht gegen Zuwanderer ausgespielt werden. Aberwas für eine Politik betreibt diese Bundesregierung? Sievon der Bundesregierung betreiben nicht nur eine Politikdes Entweder-oder; Sie betreiben eine Politik des Weder-noch.
Sie sperren sich gegen eine notwendige und sinnvolleZuwanderung, und Sie tun nichts, aber auch gar nichts,um Arbeitslosen tatsächlich die Chance zu geben, aufdie neu entstehenden Arbeitsplätze zu kommen.
Herr Bosbach sagte gerade, das sei jetzt die wichtigsteAufgabe. Aber gleichzeitig kürzen Sie den Eingliede-rungstitel für Langzeitarbeitslose um 25 Prozent im Ver-gleich zum Vorjahr.
Wie soll denn dann die Eingliederung gelingen? Genauin dem Moment, in dem das erste Mal die Arbeitsplätzeda sind, für die wir die Leute qualifizieren könnten, strei-chen Sie diesen Titel zusammen, berauben die Menschen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9395
Brigitte Pothmer
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der Chancen und berauben die Wirtschaft der Chance,weiter zu wachsen.
Aber auch die Potenziale der hier lebenden Menschenmit Migrationshintergrund heben Sie nicht. Es gibt im-mer noch den Pizzaausfahrenden Ingenieur, und es gibtimmer noch die Ärztin, die als Putzfrau arbeitet. Dazu
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wir
kümmern uns. – Ja, Sie kümmern sich. In dieser Regie-
rung sind fünf Ministerien damit beschäftigt, sich die-
sem Thema zuzuwenden. Das bekommt dem Thema
ausdrücklich gar nicht.
Sie streiten sich wie die Kesselflicker, und in der Sache
bewegt sich nichts.
Ich will Ihnen einmal Folgendes sagen: Der Fachkräf-
temangel fängt in dieser Bundesregierung an.
Ein Gesetzentwurf zur Anerkennung ausländischer Ab-
schlüsse, Herr Schröder, wurde uns schon für das Jahr
2010 angekündigt.
Jetzt ist 2011, und es liegt immer noch kein Gesetzent-
wurf vor.
Sie kümmern sich, aber es passiert nichts. Hören Sie auf,
sich zu kümmern! Tun Sie endlich etwas!
Lassen Sie mich noch einen Punkt nennen. Das
Wachstum der Zukunft könnte weiblich sein. Wenn wir
die Potenziale nutzen würden, die in den hochqualifi-
zierten Frauen stecken, dann wäre es möglich, dass
2,4 Millionen Frauen mehr auf dem Arbeitsmarkt tätig
werden. Sie könnten einen Beitrag leisten, auch zur Pro-
duktivität und zum wirtschaftlichen Wachstum. Wenn
wir, wie skandinavische Länder auch, die Vereinbarkeit
von Familie und Beruf tatsächlich vorantreiben würden,
hätten wir da ein immenses Potenzial. Aber um das zu
erreichen, müssten wir natürlich auch die Kommunen
besser ausstatten. Sie rasieren die Kommunen und for-
dern gleichzeitig mehr Kinderbetreuungseinrichtungen.
Das funktioniert nicht.
Auch das Potenzial Älterer wird in Deutschland bei
weitem nicht genutzt. Es reicht aber nicht aus, einfach
die Rente mit 67 zu beschließen. Sie brauchen auch ein
Konzept, das es ermöglicht, die Älteren tatsächlich län-
ger im Erwerbsleben zu halten. Auch da ist eine große
Leerstelle.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Wenn wir nichts unternehmen, dann laufen wir sehenden
Auges auf das zu, was Frau von der Leyen immer ein
Horrorszenario genannt hat: auf einen exorbitanten
Fachkräftemangel bei gleichzeitig hoher Arbeitslosig-
keit. Das ist das zentrale Versagen Ihrer Politik.
Ich danke Ihnen.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl
für die Fraktion der CDU/CSU.
Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen undKollegen! Unbestritten ist, dass wir zwei Probleme ha-ben. Wir haben zum Ersten ein demografisches Problem.Die Gesellschaft wird – glücklicherweise – immer älter,und die arbeitende Bevölkerung wird leider Gottes im-mer weniger. Das heißt, die Versorgung der Alten ist ge-fährdet. Zum Zweiten haben wir einen Fachkräfteman-gel, der – auch das ist erwiesen – zunimmt und nichtabnimmt. In der Beschreibung dieser beiden Problemesind wir uns einig.
Bei der Lösung dieser Probleme gehen die Wege al-lerdings weit auseinander. In der Debatte war von denLinken ein ganz einseitiger und wirtschaftsfeindlicherAnsatz zu spüren. Um es auf den Punkt zu bringen: DieLinken sind für eine Abschottung, sie wollen zumSchutz der Arbeitslosen niemanden hineinlassen. Außer-dem fordern sie eine Erhöhung der Löhne.
Auf der anderen Seite gibt es zu wirtschaftsfreundlicheTöne. Es wird so getan, als könne der Staat diese Pro-bleme alleine lösen, indem er für Zuwanderung sorgt,und die Wirtschaft müsse dann nur hochqualifizierte Ar-beitnehmer einstellen.Herr Veit, Sie als erfahrener Ausländerrechtler undGutmensch sind natürlich der alten Meinung: „Machthoch die Tür, die Tor macht weit! Lasst möglichst vieleMenschen herein! Die Qualifizierung überprüfen wirspäter.“
Die Probleme sind aber sehr vielschichtig. Herr Kilic,Sie sind ein Paradebeispiel für einen hochqualifiziertenMenschen, der sein Land verlassen hat und jetzt bei unsist.
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9396 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Dr. Hans-Peter Uhl
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Sie kommen aus einem Land, das durchaus Hochqualifi-zierte Ihres Schlages brauchen könnte.
Wir haben in Deutschland – das ist das Problem –3 Millionen Arbeitslose. Wir haben in der EU – wir müs-sen uns vorrangig um die dort lebenden Menschen küm-mern – 20 Millionen Arbeitslose. Deshalb kann mannicht einfach die Grenzen öffnen. Man muss sich sehrkluge Gedanken machen, was die probaten Mittel derSteuerung sind. Darüber sollten wir ruhig streiten.
Wenn die Deutschen oder die EU-Bürger, die hier le-ben, Vorrang haben sollen, dann müssen wir sehr sorg-fältig auswählen, wer in unser Land herein darf und wernicht. Wenn wir das nicht tun, gefährden wir den sozia-len Frieden. Der Herr Staatssekretär Schröder hat zuRecht darauf aufmerksam gemacht, dass es nicht alleinAufgabe des Staates, sondern auch Aufgabe der Wirt-schaft ist, dafür zu sorgen, dass wir in diesem Bereich zuLösungen kommen. Sie von Rot-Grün hätten auch da-rauf kommen können, dass das nicht alleinige Aufgabedes Staates ist.Wir haben – das ist auch von Ihnen, Frau Pothmer,schon angesprochen worden – ein großes Potenzial anArbeitslosen, an älteren Menschen, an Frauen und jun-gen Menschen, die nicht gut qualifiziert und ausgebildetsind, um das wir uns erst einmal kümmern müssen, be-vor wir die Grenzen öffnen.
An dieser Stelle haben Sie uns viele Vorwürfe gemacht.Aber diese Vorwürfe richten sich auch gegen Ihre Partei,die Grünen, weil Sie in den sieben Jahren Ihrer Regie-rung auf diesem Gebiet nicht viel bewirkt haben.
Das Problem zu erkennen, ist das eine, und das Problemzu lösen, ist das andere. Mir fallen aus den sieben Jahrenkeine Beispiele dafür ein, dass Sie erfolgreich an Lö-sungsvorschlägen gearbeitet hätten.
Ich möchte auf keinen Fall einer Abschottungspolitikdas Wort reden. Wir in Deutschland schotten uns nichtab. Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache.
Einfältige Menschen behaupten allen Ernstes, manmüsse 66 000 Euro verdienen, um nach Deutschland he-reinzukommen. Das ist – mit Verlaub – dummes Zeug.
Viele Menschen – im letzten Jahr waren es übrigens25 000 – sind nach Deutschland gekommen, obwohl sieweniger als 66 000 Euro verdienen. Wir haben eine sehrkluge Differenzierung: Herausragende Wissenschaftlersollen kommen. Lehrkräfte an Hochschulen sollen kom-men, egal was sie verdienen. Führungskräfte mit hohemEinkommen sollen kommen. Es gibt eine weitere Perso-nengruppe, über deren Qualifikation wir nicht viel wis-sen, die aber sehr viel verdient, nämlich mehr als 66 000Euro. Wenn die Wirtschaft für Arbeitskräfte aus dieserGruppe so viel Geld ausgeben will, dann müssen sienützlich und wichtig für den Betrieb und damit auchnützlich und hilfreich für uns sein. Dann sollen sie kom-men, egal welche Qualifikation sie haben.Dieser Sonderfall von Menschen mit einem Verdienstvon über 66 000 Euro, den wir mit einer Niederlassungs-erlaubnis belohnen – dem höchsten Status, den man be-kommen kann –, wird hier zur Norm erklärt. Es wird er-zählt, dass man 66 000 Euro verdienen müsste und nurdann kommen dürfte. Das – noch einmal – ist dummesZeug.
Lassen Sie mich einige Worte zur Vorrangprüfung sa-gen. Diejenigen, die weniger verdienen, die qualifiziertsind und bei denen ein Arbeitgeber sagt: „Ich habe einenArbeitsplatz für ihn, bitte lasst ihn rein!“, unterliegen ei-ner Vorrangprüfung. Ich kann nur von München berich-ten, wo ich mich mehrfach erkundigt habe. Die Arbeits-verwaltung da sagt: „Unsere Vorrangprüfungen dauernmaximal vier Wochen, und unsere Vorrangprüfung endetzu über 90 Prozent positiv für den Arbeitgeber und fürden Drittstaatler.“Es mag in Deutschland andere Fälle geben. Dann istes Aufgabe der Arbeitsverwaltung, da Abhilfe zu schaf-fen, aber nicht für uns als Gesetzgeber, Paragrafen zu än-dern. Die Vorrangprüfung ist ein richtiges, wichtiges undgutes Instrument.
Wenn es dann nötig sein sollte, irgendwelchen Arbeits-agenturen dazu zu verhelfen, dass sie etwas schneller ar-beiten, dann kann man mit uns darüber reden, ob maneine Zustimmungsfiktion einführt. Wenn alle Unterlagenvom Betrieb bei der Arbeitsagentur angekommen sind,tickt die Uhr. Wer zwei, drei oder vier Wochen langkeine Antwort gibt, dem unterstellen wir die Zustim-mung – eine Zustimmungsfiktion. Das kann man allesmachen. Das ist gar kein Problem.
– Machen wir das. Ebenso machen wir einige andereDinge, die uns wichtig sind. Wir wollen kein Lohndum-ping. Wir wollen nicht massenhaft Drittstaatler reinho-len, damit der Lohn gedrückt werden kann.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9397
Dr. Hans-Peter Uhl
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Es ist nicht Aufgabe einer Christlich Demokratischenund einer Christlich Sozialen Union, hier für sozialenUnfrieden zu sorgen. Mit uns geht so etwas nicht.
Warum ist das Punktesystem, von dem die Grünen soverliebt berichten,
kein gutes System? – Letztlich ist das Punktesystem einklassisch sozialistischer Zuteilungsansatz.
– Ja, natürlich. Das heißt, der Staat stellt fest, wofür manPunkte bekommt und ab wie vielen Punkten man insLand darf. Das ist eigentlich ein klassisch sozialistischerDenkansatz – Zuteilung!Nein, wir knüpfen am konkreten Arbeitsplatz in derWirtschaft an. Wenn eine Firma einen Arbeitsplatz an-bieten kann, dann schaut der Staat, ob es dafür einendeutschen oder einen EU-Bürger gibt. Und wenn es kei-nen gibt, dann kommt der Drittstaatler rein. Das ist indi-viduell, konkret und arbeitsplatzbezogen. Der KollegeBosbach hat es hervorragend dargestellt. Reden Sie ein-mal mit dem Zuwanderungsminister in Kanada.
Ich habe es getan und ihn gefragt: Was ist mit dem, derdie Punkte erfüllt hat, jetzt da ist und keinen Arbeitsplatzhat? Das ist ja nicht arbeitsplatzbezogen, sondern kana-dabezogen. Wer hilft dem? Der schläft unter der Brücke.Der Staat hilft dem nicht. Machen Sie so etwas einmal inDeutschland. Wer hier ist, bekommt alle Wohltaten die-ses Staates. Darauf sind wir stolz. Wollen Sie so ein Sys-tem nach Deutschland transferieren? Wir wollen es je-denfalls nicht.Wir wollen auch nicht die soziale Kälte der Länder,die das so machen: Wer keinen Arbeitsplatz hat, schläftunter der Brücke. Das ist nicht unsere Politik.
Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, aufden wir sehr großen Wert legen. Ab dem 1. Mai dürfensehr viel mehr Menschen aus Osteuropa zu uns kommenund bei uns arbeiten. Wir haben dann 200 Millionen Er-werbsfähige in Europa – 200 Millionen mit der genann-ten Zahl von 20 Millionen Arbeitslosen. Es ist unsereAufgabe, dafür zu sorgen, dass die 20 Millionen Arbeits-losen weniger werden. Es wurde schon auf Spanien undandere Länder hingewiesen.Lassen Sie mich zusammenfassen:Erstens. Das hier lebende Potenzial an Arbeitskräftenbesser nutzen – Junge, Alte, Frauen.Zweitens. Abwanderung Hochqualifizierter ins Aus-land stoppen.
Hochqualifizierte aus dem Ausland anwerben, Studentenanwerben, Studenten, die hier ausgebildet worden sind,in die Arbeitsverhältnisse bringen, und schließlich imAusland für qualifizierte Arbeitnehmer werben. Das istdie Aufgabe Deutschlands. Den Rest muss die Wirt-schaft erledigen. Das ist der Punkt, um den es uns geht.
Das Wort hat nun der Kollege Manfred Nink für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren!Deutschland diskutiert den Fachkräftemangel. Wir dis-kutieren heute das Thema Einwanderung von Fachkräf-ten. Dabei ist bei den meisten Vorrednern unschwer zuerkennen, dass Innenpolitiker hier die Federführung ha-ben und in erster Linie Verfahren bezüglich der Zuwan-derung im Blick haben. Ich möchte meine Ausführungendeswegen mehr auf die arbeitsmarkt- und berufsbil-dungspolitischen Aspekte und mögliche Lösungsansätzelenken.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, im Zuge deswirtschaftlichen Aufschwungs und anderer Faktoren wieder demografischen Entwicklung wird von verschiede-nen Seiten ein Mangel an Fachkräften beklagt. EineAuswertung der Deutschen Industrie- und Handelskam-mer aus dem Jahr 2010 kommt zu dem Ergebnis, dassderzeit 20 Prozent der Unternehmen generell und jedeszweite Unternehmen zum Teil Probleme mit der Beset-zung offener Stellen haben. Dabei wird darüber hinweg-gesehen – einige haben es schon erwähnt –, dass nachwie vor 3 Millionen Bürgerinnen und Bürger arbeitslossind, davon ein Drittel länger als ein Jahr. Andere Veröf-fentlichungen besagen, dass 2009 bei den Ingenieurberu-fen circa 34 000 offenen Stellen rund 25 000 arbeitsloseIngenieure gegenüberstanden. Der Verband DeutscherIngenieure nennt hierzu noch mehrere Tausend Absol-venten mit Technikerausbildung. Fachkräftemangel?Die genannte Berufsgruppe zählt zu den Fachkräften.Also liegen möglicherweise doch andere Gründe vor.Wir sollten uns deswegen hüten, den pauschalen Alarm-rufen einiger Verbände nach mehr Potenzialeinwande-rung leichtfertig zu folgen. Neutrale Untersuchungen desDeutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, aber auchdes Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschungkommen ebenfalls zu einem differenzierteren Urteil. Siestellen fest, dass von einem allgemeinen Fachkräfteman-gel aktuell nicht gesprochen werden könne; vielmehrunterschieden sich Engpässe nach einzelnen Berufsgruppenund Regionen sowie nach kurz-, mittel- und langfristi-gem Bedarf.
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9398 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Manfred Nink
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Während in Zukunft mehr Fachkräfte im mittlerenSegment und Hochqualifizierte nachgefragt werden,nimmt der Bedarf an Geringqualifizierten ab. Die demo-grafische Entwicklung wird sich ebenfalls langfristig aufden Arbeitsmarkt auswirken; auch das ist schon genanntworden. Eine verantwortungsbewusste Politik zur De-ckung des aktuellen und zukünftigen Fachkräftebedarfsmuss deshalb in der Tat differenziert und vorausschau-end sein.Da oft eine mangelnde Ausbildung durch die Unter-nehmen beklagt wird, ist der Fachkräftebedarf in Zu-kunft in erster Linie durch bessere Berufsausbildung zudecken. Dieser Schritt hat für die SPD Vorrang vor derweiteren Öffnung des Arbeitsmarkts für Arbeitnehme-rinnen und Arbeitnehmern aus anderen Ländern.
Zwei Gründe sprechen dagegen. Erster Grund – auchdas wurde schon genannt –: Deutschland hat einen deroffensten Arbeitsmärkte für Akademiker weltweit. Seit2009 können Hochqualifizierte weitgehend ohne Be-schränkungen in Deutschland arbeiten. Es wird lediglichüberprüft, ob es geeignete Bewerber aus dem Binnen-raum der EU gibt und ob die Arbeitskräfte einen für die-sen Arbeitsplatz bei uns üblichen Verdienst erhaltenwerden. Diese Möglichkeit wird in dem vorliegendenAntrag wenig berücksichtigt.Auch scheint mir der vorliegende Antrag ein weitererVersuch zu sein, frühere Anträge doch noch umsetzen zuwollen; denn wenn man einen weiteren im thematischenZusammenhang zu sehenden Antrag von Bündnis 90/Die Grünen, die Bundestagsdrucksache 17/3039, „Ent-wurf eines … Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsge-setzes“, betrachtet, wird das Ansinnen der Antragstellervielleicht deutlicher. Auch in der Begründung zum da-maligen Antrag ging es im Wesentlichen um die Be-kämpfung des Fachkräftemangels. Mit dem damaligenAntrag wollte man seitens des Antragstellers die festge-legte Höhe des Gehalts für Hochqualifizierte von derzeit66 000 Euro auf 40 000 Euro reduzieren, was damals imÜbrigen von der FDP abgelehnt wurde und heute als An-kündigung hier dargestellt worden ist.Jetzt müsste man den Begriff Hochqualifizierte viel-leicht einmal genauer definieren. Wir jedenfalls verste-hen darunter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mitbesonderen fachlichen Kenntnissen, Spezialisten oderPersonen, die leitende Führungsaufgaben übernehmenkönnen. Wir haben als Bundestagsfraktion den damali-gen Antrag unter anderem deswegen nicht mitgetragen,weil uns die Höhe der geforderten Gehaltssenkung will-kürlich erschien und nur ein Aspekt der Gesamtthematikbetrachtet wurde. Auch barg der Antrag die Gefahr desLohndumpings und widersprach unserer Forderung nachgutem Lohn für gute Arbeit. Nach der Rede des Kolle-gen Wolff von der FDP sollten sich die Grünen vielleichteinmal überlegen, ob wir mit unserer damaligen Be-fürchtung nicht doch recht hatten.Ein weiterer Grund – auch darauf wurde schon hinge-wiesen –: Dem vorliegenden Antrag fehlt völlig der Hin-weis auf den erleichterten Zuzug von Fachkräften ausdem Ausland, der bereits ab dem 1. Mai dieses Jahresmit Arbeitnehmerfreizügigkeit für fast alle Mitgliedstaa-ten der EU die Möglichkeiten für die Gewinnung auslän-discher Fachkräfte deutlich zunehmen lässt. Diese Ar-beitnehmerfreizügigkeit bietet allen Angehörigen derEuropäischen Union neue Chancen. Sie bietet auch denhiesigen Unternehmen die Chance, zusätzliche Fach-kräfte zu gewinnen.Wie kann man hier helfen? Wir alle wissen: Geradebei kleinen und mittelständischen Unternehmen mangeltes aufgrund fehlender personeller und finanziellerRessourcen oft an einer mittel- und langfristigen Perso-nalplanung. Diesen Unternehmen müssen wir mit Ser-vicestellen, Beratungsangeboten und Unterstützungsleis-tungen helfen, eine langfristige Personalentwicklung zubetreiben. Eine qualifizierte Beratung für kleine undmittlere Unternehmen muss flächendeckend sicherge-stellt werden, damit der zukünftige Bedarf an Fachkräf-ten richtig eingeschätzt und frühzeitig darauf reagiertwerden kann. Damit würde der Zugriff auf den deut-schen Arbeitsmarkt erheblich erleichtert. Solche Mög-lichkeiten gilt es zuerst zu nutzen. Wir brauchen keinneues System für die Einwanderung von Fachkräften.Vielmehr geht es zunächst darum, vorhandene Ressour-cen zu nutzen.Wie können diese Voraussetzungen zukünftig ge-schaffen werden? Die vorhandenen Potenziale müssengenutzt, die Erwerbsbeteiligung muss erhöht werden.Mit der Nutzung der Potenziale der Menschen, die be-reits in Deutschland leben, wird Vollbeschäftigung tat-sächlich möglich. Die Möglichkeit eines beruflichenAufstiegs muss den Vorrang vor der Einwanderung vonFachkräften haben. Dafür sind Verbesserungen notwen-dig. Hier ist die Berufsbildung zu nennen; denn derMangel an geeigneten Arbeitskräften mit klassischer Be-rufsausbildung beruht zum großen Teil darauf, dass nichtgenug ausgebildet wird. Hier stehen einige Forderungenim Raum – Sie kennen sie sicherlich –; ich kann sie ausZeitgründen jetzt nicht wiederholen.Das heißt also: Die Stärken der Erwerbstätigen müs-sen erkannt und ausgebaut werden. Wer bereits einenqualifizierten Berufsabschluss hat, muss die Möglichkeitzu Aufstiegsfortbildungen oder zum Hochschulzugangbekommen. Die Bedingungen für ältere Fachkräfte müs-sen verbessert werden; flexible Arbeitszeiten und spezi-fische Weiterbildungsangebote sind notwendig. WeitereVoraussetzungen sind attraktive Arbeitsplätze und Ord-nung auf dem Arbeitsmarkt.Ein sich verstärkender Mangel an Fachkräften vor al-len Dingen im Bereich Pflege und Erziehung beruht aufvergleichsweise unattraktiven Arbeitsbedingungen, aufArbeitsplätzen ohne Zukunftsperspektive. Diese Ar-beitsplätze müssen attraktiver werden. Man erreicht dasnicht mit Druck auf das Lohnniveau und mit einer Ver-schlechterung der Arbeitsbedingungen. Viele Unterneh-men haben dies erkannt; sie stehen hier in der Verant-wortung. Intelligente Arbeitszeitmodelle, vor allem fürFamilien und ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer, sowie eine bessere Weiterbildungs- und Qualifizie-rungsberatung durch die Unternehmen selbst, damit die
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Manfred Nink
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Arbeitnehmer mit den beruflichen AnforderungenSchritt halten können, sind für viele Unternehmen keinFremdwort.Sicherlich brauchen wir auf bestimmten Berufsfel-dern abgestimmte Fachkräfteoffensiven. Ich denke hierbeispielsweise an die MINT-Berufe. Wie eingangs er-wähnt, sehen wir, die SPD-Bundestagsfraktion, aktuellgrundsätzlich keinen Handlungsbedarf, neue Einwande-rungsregelungen zu schaffen. Lassen Sie uns zunächstErfahrungen mit der neu geschaffenen Arbeitsnehmer-freizügigkeit ab dem 1. Mai sammeln.
Tatsache ist: Eine starke Wirtschaft braucht gut aus-gebildete Menschen. Es ist die vorrangige Aufgabe imLand, die Voraussetzungen für eine gute Ausbildung zuschaffen, damit der zukünftige Bedarf an Fachkräftengedeckt werden kann. Es gibt ein großes Potenzial in un-serem Land; geben wir ihm eine Chance.Herzlichen Dank.
Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege
Dr. Martin Lindner.
Frau Präsidentin! Verehrte Damen! Meine Herren!Ich möchte als Erstes dafür werben, hier kein künstlichesGegeneinander zwischen der Qualifizierung einheimi-scher Arbeitskräfte auf der einen Seite und der benötig-ten Zuwanderung ausländischer Fachkräfte auf der ande-ren Seite zu schaffen; das bringt nichts. Wir brauchenbeides; wir werden ohne beides nicht auskommen. Dakönnen wir uns im Bundestag noch so viel Mühe gebenund persönliche Beiträge leisten: Ohne die Zuwanderungqualifizierter Fachkräfte wird es nicht gehen.Wenn wir eine seriöse Bestandsaufnahme vornehmen,dann stellen wir fest, dass wir bisher Zuwanderer hatten,die nicht in der Weise qualifiziert waren, wie wir uns dasvorstellen und wünschen. Die Menschen mit Migrations-hintergrund bilden einen weit überproportionalen Anteilder Gruppe der Erwerbslosen; sie bilden einen überpro-portional großen Anteil der Gruppe der Empfänger vonSozialleistungen. Darüber müssen wir uns nicht wun-dern. Schauen Sie sich das Ausländerrecht an: Es ist einvölliges Durcheinander von humanitärer Zuwanderungauf der einen Seite und Zuwanderung von Menschen, diehier ihr Glück machen wollen, auf der anderen Seite.Das müssen wir dringend sortieren.Wir haben ein System, das falsche Anreize schafft.Wenn wir bedenken, dass eine Familie mit drei Kindernhier eine Sozialleistung von etwas über 2 000 Euro proMonat bekommt – das ist der Betrag, den eine solche Fa-milie in Ostanatolien für schwere körperliche Arbeit proJahr bekommt –, dann können wir uns vorstellen, welcheAnreize wir setzen. Auf der anderen Seite machen wir esMenschen, die gut ausgebildet und qualifiziert sind,überproportional schwer, nach Deutschland zuzuwan-dern.
Es gibt hohe bürokratische Hürden. Wir behandeln Fach-kräfte, Manager und andere in Ausländerbehörden teil-weise so, als seien sie Bittsteller. Dies muss endlich inDeutschland sortiert werden.Auf der einen Seite haben wir die Einwanderung aushumanitären Gründen.
Auf der anderen Seite muss für diejenigen, die aus wirt-schaftlichen Gründen zuwandern, eine klare Geschäfts-grundlage geschaffen werden. Die heißt: Komm hierher,mach dein Glück; aber Sozialunterstützung gibt es ersteinmal keine. Komm hierher, wir machen es dir einfach,bring auch deine Familie mit. – Klar muss aber sein,dass Zuwanderung in Arbeit stattfindet, dass Steuerzah-ler nach Deutschland kommen, aber nicht Steuergeld-empfänger. Das muss die klare Direktive unserer Zu-wanderungspolitik sein: keine Zuwanderung in Hartz IV.
Dafür müssen wir Fachkräften die Zuwanderung er-leichtern. Es geht doch schon in den Schulen los. Wirmüssen für deutsche Schulen im Ausland werben. Dortgibt es oft Sprachbarrieren, dort müssen die Grundlagenfür qualifizierte Zuwanderung gelegt werden. Wir müs-sen uns überlegen, ob wir an den großen deutschenUniversitäten die ingenieurwissenschaftlichen und wirt-schaftswissenschaftlichen Fächer auch in Englisch an-bieten. Es gibt gerade von potenziellen Zuwanderern ausdem asiatischen Raum aus sprachlichen Gründen eineZurückhaltung, die wir überwinden müssen.Dann können wir die Zuwanderung über ein Systemregeln. Sie können das Punktesystem nennen oder nicht;das spielt gar keine Rolle. Die Kriterien für die Zuwan-derung und die Erlangung der deutschen Staatsbürger-schaft müssen aber sein: Ausbildung, Fachausbildung,Sprachkenntnisse und auch – das finde ich – in Deutsch-land gezahlte Steuern. Das müssen die Grundlagen fürZuwanderung sein. Wenn wir diese Grundlagen haben,kommen wir dahin, dass wir attraktiv für die Richtigensind.
Dann vermeiden wir, dass wir zwar hohe Zuwanderunghaben, aber uns qualifizierte Menschen mit und ohneMigrationshintergrund – das ist in den letzten Jahren ge-schehen – wieder den Rücken kehren und diejenigen zu-
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Dr. Martin Lindner
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rückbleiben, die in den Argen stehen. Letzteres kannnicht sinnvoll sein.Deswegen meine Bitte auch an die Koalitionspartner:Wir müssen versuchen, eine Systematik zu finden unddas Zuwanderungsrecht neu zu sortieren. Der KollegeBosbach hat recht, wenn er sagt, dass man nicht einfachein Punktesystem aufpfropfen kann, ohne diese Syste-matik geschaffen zu haben. Deshalb können wir demAntrag der Grünen nicht zustimmen. Er hat den richtigenAnsatz und geht in die richtige Richtung; aber Sie lösendie anderen Probleme nicht und beseitigen die Unsyste-matik im deutschen Ausländerrecht nicht. Sie fangenschon wieder an – Kollege Wolff hat es thematisiert –,Ihre eigenen Vorstellungen aufzuweichen und Ausnah-men zu schaffen. Das ist das Problem des bisherigenAusländerrechts. An sich führt der Zugriff auf die sozia-len Sicherungssysteme zur Ausweisung. Durch die gan-zen Ausnahmen, die auch Sie wieder schaffen wollen,kreieren Sie ein wunderbares Beschäftigungsprogrammfür Rechtsanwälte,
aber Sie werden nie eine klare Regelung erreichen, diedie Zuwanderung auf den Arbeitsmarkt garantiert unddie in die Sozialsysteme verhindert.
Das aber muss unsere Zielrichtung sein. Dazu brauchenwir neue Ideen und eine ganz neue Stoßrichtung. DieseRegelung muss auch dazu dienen, dass Deutschlandseine wirtschaftliche Prosperität erhalten kann.Herzlichen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Swen Schulz
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wirüber Fachkräfte und über Zuwanderung reden, dannmüssen wir mindestens genauso intensiv darüber spre-chen, wie wir die Menschen, die bereits hier leben, bes-ser fördern und ihre Potenziale besser nutzen können.
Diesen Gedanken enthält der Antrag der Grünen. So hatauch die SPD immer agiert. Es geht um eine Balancezwischen Zuwanderung und Investition in Bildung. Sohaben wir unter der Regierung Schröder zum Beispieldas Zuwanderungsgesetz gemacht und gleichzeitigGanztagsschulen gefördert. In der Großen Koalition hatunser damaliger Arbeitsminister, Olaf Scholz, den Zu-zug von Fachkräften erleichtert und gleichzeitig dieQualifizierung von Jugendlichen und Arbeitsuchendenverbessert.Dieses Prinzip der Ausgewogenheit von Zuwande-rung und Bildung gilt in der jetzigen Regierungskoali-tion von CDU/CSU und FDP leider nicht mehr.
Ganz im Gegenteil: Der Kollege Lindner – ich sehe ihnleider nicht; er scheint den Saal schon wieder verlassenzu haben – und andere vor ihm haben gesagt, wirbrauchten beides, Zuwanderung und Bildung. Doch das,was diese Koalition praktiziert, ist ein entschiedenes We-der-noch. Sie streiten über die Zuwanderung, bekommenaber nichts auf die Reihe, und Sie kümmern sich nichtum das Potenzial der Menschen, die hier leben.
Das will ich an einigen Beispielen zeigen. Wer denFachkräftemangel beklagt, der muss sich intensiv um dieBildung, die Ausbildung und die Qualifizierung der Ju-gendlichen in Deutschland kümmern. Die Situation istschlimm: Jährlich verlassen etwa 65 000 Jugendliche dieSchulen ohne Abschluss. 1,5 Millionen Jugendliche sindohne Berufsausbildung. In diesem Bereich muss vielmehr investiert werden. Der damalige ArbeitsministerOlaf Scholz hat das Recht auf Nachholen eines Schulab-schlusses verankert. Wir wollen Menschen eine zweiteChance geben. Wir wollen ein entsprechendes Förder-programm. Unser Ziel ist: Keiner darf ohne Abschlussbleiben; keiner darf ohne Ausbildung bleiben. Da müs-sen wir hin.
Doch, sehr geehrter Herr Staatssekretär Schröder, dieKoalition streicht die Mittel für die Förderung im Ar-beitsbereich zusammen. Bis 2014 sollen dort sage undschreibe 16 Milliarden Euro eingespart werden.
Die Förderung soll dem Belieben der Agentur überlassenwerden. Demnach soll nur noch nach Kassenlage finan-ziert werden. Meine sehr verehrten Damen und Herrenvon der Regierungskoalition, es passt nicht zusammen,dass Sie die Mittel für Qualifizierung in Deutschland zu-sammenstreichen, aber den Fachkräftemangel beklagen.Das merken die Bürgerinnen und Bürger, und wir wer-den sie auch immer wieder darauf hinweisen.
Schauen wir uns die Schulen an. Wir als SPD habenein Ganztagsschulprogramm auf den Weg gebracht. Wasmachen Sie? Sie lehnen unsere Initiativen rundweg ab.Ein aktuelles Beispiel ist die Diskussion über Bildungs-teilhabe. Wir wollen erreichen, dass an allen Schulen So-zialarbeiter eingesetzt werden. Das wäre ein ersterSchritt zu einer besseren Unterstützung und Förderungvon Schülerinnen und Schülern.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9401
Swen Schulz
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Was macht die zuständige Ministerin von der Leyen? Siezögert, sie ziert sich, sie taktiert und sucht Ausflüchte.Liebe Kolleginnen und Kollegen, investieren Sie docheinmal in diesem Bereich. Das wäre ein Beitrag. Daswäre etwas anderes als die Ministeuersenkung, die Siegestern beschlossen haben. Das wäre etwas, wodurchwir wirklich vorankämen.
Wer über den Fachkräftemangel redet, der muss sichauch einmal die vorschulische Bildung und Betreuunganschauen. Sie ist für Eltern, vor allem für Alleinerzie-hende, von großer Bedeutung, damit sie überhaupt arbei-ten können.
Natürlich werden im vorschulischen Bereich Grundla-gen für die Bildung und damit für die Fachkräfte vonmorgen gelegt. Wir von der SPD haben eine engagiertePolitik für eine bessere und eine weiter gefasste vorschu-lische Bildung und Betreuung gemacht.
Diese Koalition hingegen macht nichts.Seitdem die SPD aus der Regierungsverantwortung– leider – raus ist, passiert auf diesem Gebiet überhauptnichts mehr. Die Arbeit ist eingestellt worden, mit einerAusnahme – ein Punkt ist insbesondere der CDU/CSUwichtig –, dem Betreuungsgeld. Das muss man sich ein-mal auf der Zunge zergehen lassen: In einer Zeit, in derwir über Bildungsprobleme und Fachkräftemangel re-den, wollen Sie Eltern Geld dafür geben, eine Prämie da-für auszahlen, dass sie
ihre Kinder nicht in eine Bildungseinrichtung schicken.Das ist Wahnsinn.
Dann ist da noch die Sache mit der Anerkennung derAbschlüsse; dieses Thema spielte auch in dieser Debatteteilweise eine Rolle. In Deutschland leben bereits Zuge-wanderte, die qualifiziert sind, deren Qualifikation abernicht anerkannt wird. Es gibt in Deutschland 300 000 bis500 000 Fachkräfte, die nicht adäquat eingesetzt werden.Die SPD hatte mit ihrem Arbeitsminister Olaf Scholz be-reits einen Vorschlag für ein Anerkennungsgesetz vorge-legt. Damals wollte die CDU/CSU davon überhauptnichts wissen. Jetzt steht es sogar in der Koalitionsver-einbarung. Wunderbar! Es stellt sich die Frage: Was isteigentlich passiert?Ich habe ein paar Unterlagen mitgebracht. Am
Das Bundeskabinett hat grünes Licht für eine ge-
setzliche Regelung gegeben.
Wunderbar! In einem Zeitungsinterview sagte sie: Das
Problem brennt uns wirklich auf den Nägeln. Daher wol-
len und müssen wir 2010 zu Ergebnissen im Gesetzge-
bungsverfahren kommen. – Dann ist erst einmal gar
nichts passiert, sodass ich bei der Bundesregierung nach-
gefragt habe. Auf meine Frage hat mir Staatssekretär
Rachel, der auch anwesend ist, am 7. Juli 2010 geant-
wortet:
Nach derzeitigem Planungsstand soll ein … Refe-
rentenentwurf im auslaufenden Sommer 2010 vor-
gelegt werden.
Am 7. Oktober 2010 – man könnte sagen: das ist auslau-
fender Sommer – hat Staatsministerin Böhmer im Deut-
schen Bundestag gesagt: Wir brauchen dieses Gesetz
schnell. Es soll bis Dezember vorliegen.
Bis heute liegt gar nichts vor, weder ein Referenten-
entwurf noch ein Gesetzentwurf noch ein Gesetz.
Gestern haben wir hier im Deutschen Bundestag Innen-
minister de Maizière gefragt: Wann kommt der Gesetz-
entwurf? Er wusste es nicht. Er konnte uns keine Ant-
wort geben. Was sind Sie für eine Chaostruppe?
Wenn Sie nur halb so viel Energie in die Lösung dieses
Problems investieren würden wie in Ihren Streit um Zu-
wanderung, dann kämen wir tatsächlich weiter.
Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer
für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Zunächst kann man, wie ich glaube, in der Tatfeststellen, dass wir uns hier im Haus in der Analyseweitestgehend einig sind. Die Analyse lässt sich auchmit Adam Riese nicht betrügen. Die demografische Ent-wicklung ist, wie sie ist. All die Kinder, die in 15 oder16 Jahren keinen Ausbildungsplatz suchen werden, sindschon heute nicht geboren. Deshalb haben wir – das sa-gen uns die Zahlen – bis 2050 einen drastischen Rück-gang des Erwerbspotenzials, insbesondere was die Zahlder Erwerbstätigen anbelangt, zu verzeichnen. Dabeigeht es um eine Größenordnung von 5 bis 8 Millionen.
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9402 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Dr. Joachim Pfeiffer
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Dies kann in Tateinheit mit dem Fachkräftemangel– darauf ist von verschiedenen Rednern schon eingegan-gen worden –, wie mir Professor Brücker vom IAB die-ser Tage in einem Gespräch gesagt hat, zu ähnlichenLimitierungen der Volkswirtschaft führen wie in derWirtschafts- und Finanzkrise.
Das bedeutet, dass man dieses Thema nicht nebenher be-handeln kann und es kein Wohlfühlthema ist, sonderndass es für das zukünftige Wohl und Wehe der deutschenVolkswirtschaft und dieses Landes von entscheidenderBedeutung ist.
Ich glaube, es ist notwendig und richtig, dass wir unsin der gebotenen Tiefe und mit der gebotenen Sorgfaltmit diesem Thema auseinandersetzen. Es ist schade,wenn suggeriert wird, wir brauchten nur dem Antrag derGrünen zur Einführung eines Punktesystems zuzustim-men oder an einer anderen Stellschraube zu drehen, unddann werde alles gut. Das ist mit Sicherheit nicht derFall.
Wir brauchen eine umfassende Antwort, eine Gesamt-strategie zur Bewältigung der Herausforderungen.Ich differenziere einmal zwischen dem Pflichtpro-gramm und der Kür. Was zum Pflichtprogramm gehört,ist eindeutig – dazu sind wir gegenüber den Bürgerinnenund Bürgern verpflichtet –: Erst einmal müssen wir dasErwerbspotenzial in Deutschland optimal ausnutzen underschließen. Hier sind wir bisher nicht ganz untätig ge-wesen. Es sind richtige Wege eingeschlagen worden, diees konsequent weiter zu beschreiten gilt.Als ersten Schritt nenne ich die Erhöhung der Er-werbsbeteiligung insbesondere der Älteren. Mit denMaßnahmen, die in den vergangenen Jahren ergriffenwurden und die in die richtige Richtung zielten, ist er-reicht worden, dass die Erwerbsbeteiligung der Älteren,der 55- bis 64-Jährigen, in den letzten acht Jahren umfast 20 Prozentpunkte gestiegen ist, von rund 38 Prozentauf 58 Prozent. Dies müssen wir konsequent fortführen.Wir dürfen die Rente mit 67 oder andere Maßnahmennicht rückgängig machen. Das Gegenteil ist notwendig:Wir müssen das Erwerbspotenzial der Älteren für uns er-schließen.
Wenn sie gesund, leistungswillig und -fähig sind, dannmüssen wir das nutzen. Es gibt dazu eine Berechnung,die besagt, dass wir es allein mit dieser Maßnahme,wenn wir sie konsequent genug umsetzen, schaffen, denRückgang des Erwerbspotenzials aufgrund der demogra-fischen Entwicklung bis 2025 – nicht bis 2050 – auszu-gleichen. Das heißt, damit könnten wir das Erwerbsvolu-men, das für die Volkswirtschaft erschlossen werdenkann, stabilisieren. Insofern müssen wir diesen Weg wei-ter gehen.Es ist schon angesprochen worden – ich glaube, auchda gibt es Einigkeit –, dass die Vereinbarkeit von Familieund Beruf weiter verbessert werden muss. Da sind dieWeichen richtig gestellt. Wir können es uns nicht mehrleisten, insbesondere gut ausgebildete Frauen aus demArbeitsprozess auszuschließen, sie zu verlieren und denKontakt zu ihnen in der Erziehungsphase nicht mehr zuhaben.Wir müssen auch auf dem Ausbildungsmarkt den Ge-zeitenwechsel konsequent vorantreiben. Das haben wirmit der veränderten Schwerpunktsetzung im Ausbil-dungspakt getan, den wir im letzten Jahr beschlossen ha-ben. Bisher war es so, dass es für Hunderttausende Aus-bildungswillige darum ging, Ausbildungsplätze zufinden. Zukünftig wird es andersherum sein. Da wirdman hinter ihnen her rennen, weil wir weniger Ausbil-dungswillige und -fähige haben, als Ausbildungsplätzein der deutschen Wirtschaft zur Erhaltung des Fachkräf-tepotenzials notwendig sind.Deshalb müssen wir sehr schnell die Problemfälle an-gehen. Das sind diejenigen, bei denen wir noch nicht soerfolgreich sind, die Mühseligen und Beladenen ohneAbschluss, ohne Schulabschluss und ohne Berufsab-schluss, häufig mit Migrationshintergrund. Wir müssensie bereits an den Schulen abholen und für uns erschlie-ßen. Da muss deutlich mehr gemacht werden. Das gehörtzu den Pflichtaufgaben, die wir auf jeden Fall erledigenmüssen. Aber wir werden natürlich nicht jeden ohneSchulabschluss und ohne Berufsabschluss zum Luft- undRaumfahrtingenieur weiterbilden können. Deshalb brau-chen wir mit Sicherheit weitere Instrumente.Bei den Erläuterungen des Parlamentarischen Staats-sekretärs Schröder hat der Kollege Kilic gefragt: Warumkommen denn so wenige Wissenschaftler zu uns, wennsie schon heute kommen könnten? Das liegt nicht nur anden gesetzlichen Rahmenbedingungen. Das liegt auch ander Sprache, weil manche lieber ins englischsprachigeAusland gehen. Es liegt auch an den Verdiensten, weildie, die gut sind, in Deutschland nicht so viel verdienen.Vielleicht liegt es aber auch an der mangelnden Will-kommenskultur in Deutschland, an fehlenden internatio-nalen Schulen und sonstigen Rahmenbedingungen. Esgibt nicht nur einen Grund; die Gründe sind vielfältig.Vielleicht liegt es auch daran, wie wir mit Technik um-gehen. Glauben Sie, dass die Besten im Bereich Gen-technologie nach Deutschland kommen, wenn wir dasPunktesystem einführen? Das glaube ich nicht. Sie wol-len das ja auch gar nicht. Die Besten in der Kerntechnikhaben wir schon verloren – da waren wir einmal Welt-spitze –; sie werden nicht mehr nach Deutschland zu-rückkommen.
Die Gründe sind insofern vielschichtig. Wir müssen unsgenau anschauen, was wir machen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9403
Dr. Joachim Pfeiffer
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Mit Blick auf die Uhr muss ich leider schon zumEnde meiner Rede kommen. Ich glaube, dass wir sowohldas Pflichtprogramm als auch die Kür absolvieren müs-sen. Wir müssen uns sehr genau anschauen, welcheFachpotenziale wir brauchen. Ich glaube, wir sollten dieVerknüpfung mit Arbeit nicht lösen – Kollege Uhl hatdas vorhin ausgeführt –; denn sonst haben wir vielleichtnur eine Zuwanderung in die Sozialsysteme. Sie könnensicher sein: Diese Koalition ist auch in dieser Fragehandlungsfähig und wird eine Lösung erarbeiten, die dieHerausforderungen für die Menschen und die Chancenfür die Wirtschaft entsprechend optimiert. Wir müssendie Probleme, über deren Lösung wir uns einig sind, imRahmen einer Gesamtstrategie lösen
und die Wachstumshemmnisse in Deutschland, wie wires heute Morgen beim Jahreswirtschaftsbericht bespro-chen haben, weiter abbauen.
Nächster Redner ist der Kollege Albert Rupprecht für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen! Sehr geehrteHerren! Die Debatte um das Punktesystem ist in der Tatsehr symbolträchtig. Ich finde, es ist eine übersteigerteund verengte Debatte, die für Zeitungsüberschriften gutist, uns aber aufgrund der Breite und Vielschichtigkeitdes Themas Fachkräftemangel leider Gottes nicht wirk-lich weiterhilft.Noch einmal zur Prioritätensetzung – es ist mehrfachgesagt worden, dass das für die Unionsfraktion dieGrundlage ist –: An erster Stelle steht, das nationalePotenzial auszuschöpfen. Hier gibt es noch viel zu tunund viel Potenzial zu heben.
Zum Zweiten geht es darum, die Abwanderung unserergut ausgebildeten Deutschen zu stoppen. Erst an dritterStelle kommt die Zuwanderung der besten Köpfe ausdem Ausland. Hier sind in der Tat punktuelle Verbesse-rungen im Ausländerrecht notwendig, aber es brauchtkeinen grundsätzlichen, radikalen Systemwechsel.
Zum ersten Punkt, zur Ausschöpfung des nationalenPotenzials. Ausbildung, Qualifizierung und Bildung un-serer Bevölkerung haben die höchste Priorität. Herr Kol-lege Schulz, mit Verlaub gesagt: Das, was Sie hier er-zählt haben, gehörte schlichtweg in eine Märchenstunde.Gemessen an 2005, als wir von Rot-Grün die Verantwor-tung übernommen haben, steigern wir den Bildungs-haushalt auf Bundesebene um sage und schreibe 74 Pro-zent. Das ist unsere Prioritätensetzung.
Rot-Grün hat geredet, und wir handeln.
Herr Schulz, allein den Etat für die Studienfinanzierung,von der Sie ständig reden, haben wir gegenüber demEndzeitpunkt von Rot-Grün bis heute um 53 Prozent ge-steigert, und obwohl es nicht unsere originäre Aufgabeist, unterstützen wir die Hochschulpolitik der Länder mitsage und schreibe 6 Milliarden Euro. Das ist unsere Prio-ritätensetzung in der Bildung.
Die Erfolge lassen sich sehen: Mit 46 Prozent eines Jahr-ganges, die an eine Hochschule gegangen sind, habenwir die höchste Quote erreicht, die es je gab. Das ist einedramatische positive Steigerung und bedeutet mehrKnow-how und mehr Qualifizierung für unsere jungenMenschen.PISA hat gezeigt, dass Deutschland durch viele An-strengungen beim Lesen, beim Rechnen und bei den Na-turwissenschaften Schritt für Schritt wieder an dieWeltspitze zurückkehrt.
Es wurde im Übrigen auch bestätigt, dass die Ergebnisseder Bildungspolitik in den Ländern Bayern, Baden-Württemberg und Sachsen meilenweit besser sind als inden SPD-Ländern. Wir können gerne über Bildungspoli-tik auf Bundesebene reden; hier tun wir vieles. Es istaber auch notwendig, die Diskussion darüber zu führen,was in den einzelnen Ländern getan wird und welcheModelle wirklich erfolgreich sind. Es ist eindeutig, dassdie unionsgeführte Bildungspolitik wesentlich erfolgrei-cher ist.
Es geht an allererster Stelle um eine gute Politik, umdie Stärken und die Fähigkeiten der Menschen inDeutschland zur Geltung zu bringen. Sie haben die Zahlerwähnt: 2,7 Millionen Deutsche sind ohne Schulab-schluss. Das ist der eigentliche Skandal. Ich sage aberauch: Das SPD-geführte Bundesland Brandenburg hateine doppelt so hohe Schulabbrecherquote wie beispiels-weise die Länder Baden-Württemberg und Bayern.
Das ist der Unterschied. An den Ergebnissen zeigt sichletztendlich, welche Konzepte vernünftig sind, welchezu Erfolgen führen und welche nicht.
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9404 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Albert Rupprecht
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Wir geben uns damit aber nicht zufrieden. Wir stem-men uns mit aller Kraft gegen die Tatsache, dass bis zu20 Prozent unserer Kinder durchs Raster fallen. Deswe-gen werden wir die Länder durch Bildungsketten – dafürhaben wir in diesem Jahr 100 Millionen Euro im Haus-halt eingestellt – und viele andere Maßnahmen bei ihreroriginären Aufgabe unterstützen. Wir geben hier vonsei-ten des Bundes erheblich Gas.Wir sorgen dafür, dass die Berufsabschlüsse der inDeutschland lebenden Ausländer anerkannt werden.
Man kann gerne darüber reden, ob Dezember, Januar,Februar oder März der richtige Zeitpunkt dafür ist; aberdas ist nicht die entscheidende Debatte. Entscheidend ist,dass wir darüber in dieser Legislaturperiode beschließen.Das ist ein hochkomplexes Thema und muss mit hoherQualität umgesetzt werden.
– Mit Verlaub gesagt: Sie hatten elf Jahre Zeit und habennichts gemacht.
Wir werden es machen. Ob das im Februar oder im Märzgeschieht, ist nicht entscheidend. Es geht darum, hier füreine hohe Qualität zu sorgen.Zum Zweiten. Wir müssen die Abwanderung unsererheimischen Leistungsträger stoppen. Es ist widersinnig,wenn unsere teuer ausgebildeten Ärzte in die Schweizoder nach England gehen, weil wir sie aus dem Landvertreiben, und wir dann über ein Punktesystem Ärzteaus Russland und Afrika, die dort dringend gebrauchtwerden, nach Deutschland holen. Das ist absurd und wi-dersprüchlich.Deswegen ist es in der Tat richtig – darüber mussauch debattiert werden –: Wir brauchen Konditionen,Arbeitsbedingungen, Löhne sowie Abgaben- und Steuer-strukturen, mit denen Deutschland auch in Zukunft fürdie Leistungsträger attraktiv ist. Daran mangelt es zur-zeit. Das ist in der Tat ein Riesenproblem. Daran müssenwir arbeiten.
Zum Dritten. Wir brauchen auch Leistungsträger ausdem Ausland und ein Stück mehr Willkommenskultur.Das ist richtig. Es gibt einen weltweiten Wettbewerb umdie besten Köpfe. Das haben wir im Forschungsbereichseit 2005, als Annette Schavan Ministerin wurde, präziseund konkret angepackt, und wir haben bereits Erfolge er-zielt. Über den DAAD, die Alexander-von-Humboldt-Stiftung und andere Einrichtungen holen wir Schritt fürSchritt top ausgebildete, hochqualifizierte Wissenschaft-ler nach Deutschland. Wir sind in diesem Bereich wiederwettbewerbsfähig. Das kostet Geld und erfordert Müheund Anstrengung, aber es ist erfolgreich.
– Das ist richtig. Aber all das, was ich gerade aufgeführthabe, ist im Grundsatz schon mit dem bestehenden Aus-länderrecht ohne Probleme möglich.Trotzdem müssen wir – auch das ist richtig – das Aus-länderrecht punktuell nachbessern. Wir müssen es bei-spielsweise in folgendem Punkt nachbessern: Wenn nur6 000 von 260 000 ausländischen Studenten in Deutsch-land nach ihrem Abschluss hierbleiben, dann ist dasohne Zweifel ein schlechtes Ergebnis. Das Ausländer-recht weist in der Tat in diesem Punkt Barrieren auf, diezu diesem schlechten Ergebnis beitragen. Deswegen ha-ben wir in der Unionsfraktion vereinbart, dass wir in die-sem Punkt nachjustieren und das Ausländerrecht punk-tuell ändern wollen, weil wir die jungen Menschen, diein Deutschland ausgebildet wurden oder studiert habenund die deutsche Sprache beherrschen, im Land behaltenwollen.Wir brauchen punktuelle Änderungen des Ausländer-rechts. Das ist richtig. Wir brauchen aber keinen grund-sätzlichen Systemwechsel. Es geht in allererster Liniedarum, die Kräfte zu mobilisieren, die wir im Land ha-ben. Da ist in der Tat ein Riesenpotenzial gegeben.Herzlichen Dank.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Max
Straubinger für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Der Antrag der Grünen, der unter dem Deckmantel vor-gelegt wurde, dem Fachkräftemangel in Deutschlandentgegenzuwirken, ist meines Erachtens nur ein ver-deckter Versuch, die Einwanderung nach Deutschlandinsgesamt zu verstärken.
Das ist der Hintergrund. Es geht nicht um den Fach-kräftemangel – um den haben sich die Grünen in der Re-gel nie großartig gekümmert –, sondern darum, ihren ei-genen parteipolitischen Vorstellungen etwas Nachdruckzu verleihen.
Unter diesem Gesichtspunkt werte ich auch diesen An-trag.Auch wenn die prognostizierten Zahlen richtig sindund die Bevölkerungszahl in Deutschland abnehmenwird, ist es für uns, glaube ich, entscheidend, dass diedemografischen Probleme im Inland gelöst werden müs-
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Max Straubinger
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sen. Sie können nicht mit vermehrter und vor allen Din-gen zügelloser Zuwanderung bewältigt werden. Ich binüberzeugt: Dadurch werden nur mehr Probleme in unse-rem Land entstehen, aber keine Probleme gelöst werden.
Ein weiterer Punkt ist die Sorge um unseren Indus-triestandort und die Frage, ob wir den Fachkräftebedarfder Wirtschaft decken können, die sicherlich eine wei-tere Erleichterung der Zuzugsmöglichkeiten fordert.Trotzdem möchte ich voranstellen: Wir haben 3 Millio-nen Arbeitslose. Das sind zwar 2 Millionen weniger alszur rot-grünen Regierungszeit, aber das lässt uns nichtauf diesen Erfolgen ausruhen. Wir wollen zuerst die beiuns arbeitslos gemeldeten Menschen in Brot und Er-werbsarbeit bringen.
Es ist bedeutsam, dass diesem Vorrang gegeben wird,bevor Zuwanderung erfolgt und Zuwanderer in Konkur-renz zu den in unserem Land arbeitslos gemeldeten qua-lifizierten Menschen treten.Für mich ist auch folgende Frage entscheidend: Wieviele Menschen brauchen wir? Wie viele Fachkräfte be-nötigen wir? Der Kollege Bosbach hat bereits daraufhingewiesen, dass es einmal die Prognose gab, wonachwir 200 000 IT-Kräfte brauchen. Diese Zahl wurde dannauf 100 000 IT-Kräfte reduziert. Die damalige Bundes-regierung hat 20 000 Greencards ausgestellt. Glatte10 000 wurden tatsächlich in Anspruch genommen. Daszeigt sehr deutlich: Die Ansprüche, die die Wirtschaftstellt, und die Realitäten klaffen weit auseinander.Es ist sehr eindrucksvoll, wenn es heute in Prognosenheißt, 35 000 Ingenieurstellen könnten nicht besetzt wer-den, weil es nicht genügend Fachkräfte gebe. Das Deut-sche Institut für Wirtschaftsforschung, das von der Pro-grammatik her den Unionsparteien nicht unbedingtnahesteht, hat eine bemerkenswerte Statistik veröffent-licht. Wenn man sich die „normalen“ Vergleichszahlen,die dort niedergelegt sind, zu Gemüte führt, stellt manFolgendes fest: Im Oktober 2010 waren 5 250 Maschi-nen- und Fahrzeugbauingenieure arbeitslos gemeldet.
– Das Alter darf doch nicht als Kriterium angeführt wer-den, wenn Stellen zu besetzen sind. Sie haben ja Ansprü-che! Das ist ja noch schöner.
Die Zahl der tatsächlich als offen gemeldeten Stellenlag in diesem Bereich bei 3 366. Im Oktober 2010 warendes Weiteren 3 490 Elektroingenieure arbeitslos gemel-det. Die Zahl der tatsächlich als offen gemeldeten Stellenlag bei 2 159. 6 317 Architekten und Bauingenieure wa-ren im Oktober 2010 arbeitslos gemeldet. Dem standen1 734 offene Stellen gegenüber. 2 657 Chemiker undChemieingenieure waren arbeitslos gemeldet. Dem stan-den 288 offene Stellen gegenüber.
1 683 Physiker, Physikingenieure und Mathematiker wa-ren im Oktober 2010 arbeitslos gemeldet. Dem standen262 offene Stellen gegenüber. Das ist die Realität. Wenndie Unternehmen sagen: „Wir melden nicht alle offenenStellen“, dann kann ich nur sagen, dass sie alle offenenStellen melden sollten, um damit den tatsächlichen Ar-beitskräftebedarf zu untermauern.
Hinzu kommt eine verfehlte Bildungspolitik. Sie allevon der linken Seite streben immer die Akademisierungder verschiedensten Berufe an und qualifizieren einigeBundesländer, insbesondere Bayern, mit dem Hinweisab, dass diese die geringsten Abiturientenquoten aufzu-weisen hätten. Aber aus der oben genannten Statistikgeht auch hervor, dass im Oktober 2010 zum Beispiel12 280 arbeitslosen Elektromonteuren und -installateu-ren 17 054 offene Stellen gegenüberstanden. Das zeigtsehr deutlich: Nur berufliche Bildung und akademischeBildung zusammen können die Probleme auf dem Ar-beitsmarkt lösen. Dazu sind wir aufgefordert und nichtdazu, mehr Zuzugsregelungen zu schaffen.
Zum geltenden Recht. Ich darf aus der FAZ zitieren,in der es unter der schönen Überschrift „Der offenste Ar-beitsmarkt für Akademiker“ heißt:Deutschland hat den offensten Arbeitsmarkt fürakademisch qualifizierte Arbeitskräfte. Seit demBeginn des Jahres 2009 können Hochqualifizierteweitgehend ohne große Beschränkungen freie Ar-beitsplätze besetzen.Weiter heißt es:Auch wer außerhalb der EU ein Hochschulstudiumabsolviert hat, darf in Deutschland arbeiten.Zum Schluss noch eine Überschrift:Die Beitragsbemessungsgrenze als Einkommens-grenze ist plausibel.
Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Redezeit.
Wer hat dies niedergeschrieben? Was glauben Sie?
Das war der ehemalige Bundesarbeitsminister OlafScholz. Die SPD muss erst noch in ihren eigenen Reihendarüber philosophieren, was sie in dieser Frage über-haupt will, weil dies konträr zu den Aussagen des Kolle-gen Veit und nachfolgender Redner steht. Deshalb ist dieBewältigung des Fachkräftemangels bei CDU, CSU undFDP bestens aufgehoben.Ich bedanke mich bei der Präsidentin.
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9406 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Max Straubinger
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Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf derDrucksache 17/3862 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein-verstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung sobeschlossen.Ich darf darauf hinweisen, dass wir jetzt einige Ab-stimmungen haben.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 sowie Zusatz-punkt 5 a und b auf:26 Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Fünfzehnten Geset-zes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes– Drucksache 17/4231 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
Ausschuss für GesundheitZP 5 a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDas ungarische Mediengesetz – EuropäischeGrundwerte und Grundrechte verteidigen– Drucksache 17/4429 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auswärtiger AusschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Kultur und Medienb) Beratung des Antrags der Abgeordneten DanielaWagner, Ingrid Hönlinger, Volker Beck ,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENBestellerprinzip in die Mietwohnungsvermitt-lung integrieren– Drucksache 17/4202 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungEs geht dabei um Überweisungen im vereinfachtenVerfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. – Auch damit sind Sie, wie ich sehe, einver-standen. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 b auf:– Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zu dem Abkommenvom 29. März 2010 zwischen der Bundes-republik Deutschland und St. Vincent unddie Grenadinen über die Unterstützung inSteuer- und Steuerstrafsachen durch Infor-mationsaustausch– Drucksache 17/3959 –– Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zu dem Abkommenvom 7. Juni 2010 zwischen der Bundesrepu-blik Deutschland und St. Lucia über den In-formationsaustausch in Steuersachen– Drucksache 17/3961 –– Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom17. Juni 2010 zur Änderung des Abkom-mens vom 8. März 2001 zwischen der Bun-desrepublik Deutschland und Malta zurVermeidung der Doppelbesteuerung aufdem Gebiet der Steuern vom Einkommenund vom Vermögen– Drucksache 17/3962 –Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz-ausschusses
– Drucksache 17/4280 –Berichterstattung:Abgeordnete Manfred KolbeLothar Binding
Dabei geht es um die Beschlussfassung zu einer Vor-lage, zu der keine Aussprache vorgesehen ist.Zweite Beratungund Schlussabstimmung über den von der Bundesregie-rung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommenvom 29. März 2010 mit St. Vincent und die Grenadinenüber die Unterstützung in Steuer- und Steuerstrafsachendurch Informationsaustausch. Der Finanzausschussempfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/4280, den Gesetzentwurf derBundesregierung auf Drucksache 17/3959 anzunehmen.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, sich zu erheben. – Wer ist dagegen? – Enthaltun-gen? – Der Gesetzentwurf ist damit angenommen mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Kolleginnen und Kollegenaus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Frak-tion Die Linke.Zweite Beratungund Schlussabstimmung über den von der Bundesregie-rung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommenvom 7. Juni 2010 mit St. Lucia über den Informations-austausch in Steuersachen. Der Finanzausschuss emp-fiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/4280, den Gesetzentwurf der Bundesre-gierung auf Drucksache 17/3961 anzunehmen. Ich bittediejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,sich zu erheben. – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? –Der Gesetzentwurf ist angenommen mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Ent-
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Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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haltung der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und DieLinke.Zweite Beratungund Schlussabstimmung über den von der Bundesregie-rung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Protokollvom 17. Juni 2010 zur Änderung des Abkommens vom8. März 2001 mit Malta zur Vermeidung der Doppelbe-steuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommenund vom Vermögen. Der Finanzausschuss empfiehlt un-ter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 17/4280, den Gesetzentwurf der Bundesregierungauf Drucksache 17/3962 anzunehmen. Ich bitte diejeni-gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zuerheben. – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-setzentwurf ist angenommen mit den Stimmen der Ko-alitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der FraktionDie Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen.Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion der SPDStandpunkt und Konsequenzen der Bundesre-gierung zum ungarischen MediengesetzIch eröffne die Aussprache.Als erstem Redner erteile ich das Wort dem KollegenMichael Roth für die SPD-Fraktion.
Liebe Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnenund Kollegen! Seit vielen Jahren bin ich Berichterstattermeiner Fraktion für Ungarn. Seit vielen Jahren bin ichstellvertretender Vorsitzender der Deutsch-UngarischenParlamentariergruppe. Vor diesem Hintergrund könnenSie sich vielleicht vorstellen, dass mir die heutige Aus-einandersetzung alles andere als leichtfällt. Es bleibt dasgroße ungarische Verdienst. Wenn wir den Mut zur Frei-heit mit einem Land Mittelosteuropas verbinden, dannzuerst und vor allem mit Ungarn.
Ungarn hat sich zu einem Zeitpunkt für Demokratie,Freiheit und Rechtsstaatlichkeit eingesetzt, als anderenoch verängstigt zu Hause geblieben sind. Wir, unserLand, unsere Bürgerinnen und Bürger, haben den Unga-rinnen und Ungarn viel zu verdanken.Wir erwarten sicherlich auch von der ungarischenRatspräsidentschaft Erfolg und Professionalität. Unserebesten Wünsche, auch die meiner Fraktion, begleiten dieVerantwortlichen, die für Ungarn und mit Ungarn dafürarbeiten, dass Europa besser gelingt und dass wir dieProbleme, nicht nur die Finanzkrise, gemeinsam bewäl-tigen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wichtiger als derEuro und wichtiger als der Binnenmarkt sind aber unsereGrund- und Freiheitsrechte. Das ist unser wertvollstesGut.
Das ist das Rückgrat der europäischen Identität. Das istnicht irgendeine Frage unter ganz vielen sachpolitischenFragen, sondern das ist der Kern der europäischen Zu-sammenarbeit. Es ist für uns als Europäerinnen und Eu-ropäer auch eine Frage der Selbstachtung und eine Frageder Glaubwürdigkeit im Umgang mit totalitären Staaten,mit Diktaturen auf dieser Welt. Wie ernst nehmen wirdie Freiheitsrechte? Wie ernst nehmen wir die individu-ellen Menschenrechte? Nur dann, wenn wir sie selbst zu100 Prozent ernst nehmen und wenn wir über jedenZweifel und über jede Relativierung erhaben sind, kön-nen wir selbstbewusst und kämpferisch allen diktatori-schen und autoritären Systemen dieser Welt offensiv ent-gegentreten.
Umso unverständlicher – das sage ich sehr deutlich –ist das lange Schweigen des Kommissionspräsidenten,ist das lange Schweigen und Relativieren des Ratspräsi-denten Van Rompuy, aber auch das Schweigen und Rela-tivieren der Bundesregierung.Es ist gestern im Europaausschuss schon einmal da-rüber gesprochen worden; ich will das hier für meineFraktion noch einmal deutlich machen: Wir haben es aufdiese Aktuelle Stunde überhaupt nicht angelegt. Wir ha-ben Ihnen eine vereinbarte Debatte zum schnellstmögli-chen Zeitpunkt angeboten. Wir haben Ihnen angeboten,über einen interfraktionell zu erarbeitenden gemeinsa-men Entschließungsantrag zu reden und zu verhandeln.Sie haben diese beiden Angebote ausgeschlagen. Des-wegen haben wir es als Sozialdemokratinnen und Sozial-demokraten im Bundestag als unsere Pflicht angesehen,jetzt diese Diskussion zu führen. Wir wollen keine juris-tische Diskussion, sondern wir wollen eine politischeBewertung vornehmen, wie sie im Übrigen anderswoauch vorgenommen wird.
Das dänische Parlament beispielsweise hat einenAntrag gestellt, der darauf abzielt, dass sich auch dieCOSAC, die Konferenz der Europaausschüsse der Mit-gliedstaaten, kritisch mit der Frage des ungarischenMediengesetzes auseinandersetzt. Wir stehen dabei nichtalleine. Es ist unsere Pflicht als nationales Parlament,klar und deutlich unsere Stimme zu erheben.
Dass das keine parteipolitische Diskussion ist, liebeKolleginnen und Kollegen, haben wir doch spätestensnach der Lektüre des lesenswerten Beitrags des Vorsit-zenden des Europaausschusses, Gunther Krichbaum,festgestellt.
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Michael Roth
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Was Gunther Krichbaum in einem Interview gesagt hat,findet unsere uneingeschränkte Zustimmung. Damit istder Vorwurf seitens der ungarischen Regierung, aberauch aus der Mitte dieses Parlaments, wir würden hierunsere parteipolitischen Spielchen treiben, völlig uner-heblich.Ich frage einmal: Was wäre, wenn eine sozialdemo-kratische oder eine linke Regierung in Europa so etwasgetan hätte? Sie wären auf den Bäumen, Sie wären aufdem Mount Everest, wenn wir eine solche Situation hät-ten.
Sie können sich darauf verlassen, wir wären gemein-sam mit Ihnen auf den Bäumen, egal welche Regierungmit welcher parteipolitischen Färbung die Medienrechtebzw. die Freiheitsrechte in Zweifel zieht.
Das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angele-genheiten gilt ausdrücklich nicht in der EuropäischenUnion. Im Gegenteil: Es gibt die Pflicht zur Einmi-schung. Das hat der ungarische Ministerpräsident Orbanoffensichtlich auch verstanden; denn er hat angekündigt– wir werden ihn sicherlich an seinen Taten messen –,dass nach Überprüfung der Kommission dieses Gesetzüberarbeitet wird, wenn kritische Punkte festgestelltwerden.Damit ist es keine innerstaatliche Angelegenheit, es isteine europapolitische Angelegenheit, und deswegen ge-hört es auch hierher.
Wir kritisieren überhaupt nicht das ungarische Volk.Wir kritisieren die Entscheidung der ungarischen Regie-rung. Wir kritisieren die Entscheidung der über eineZweidrittelmehrheit verfügenden Regierungsfraktionenim ungarischen Parlament. Wir respektieren und wir ver-neigen uns vor den Demonstrantinnen und Demonstran-ten in Budapest und in Ungarn, den Intellektuellen, denJournalisten, den Kulturschaffenden, die in diesem de-mokratischen Rechtsstaat Ungarn ihre Meinung zu die-sem Gesetz kritisch geäußert haben. Darauf sind wir ge-meinsam stolz.Aber wir müssen auch selbstkritisch anfügen – dassage ich zumindest für mich; für Sie von Union und FDPkann ich das vielleicht nicht sagen –: Möglicherweisehaben wir in der EU zu oft in den vergangenen Jahrengeschwiegen oder uns desinteressiert gezeigt. Die Quali-tät des Rechtsstaates, die Qualität der Demokratie be-messen sich vor allem am Umgang mit den Minderhei-ten, und wir haben bereits zu oft geschwiegen –
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.
– bei der Diskriminierung von Roma, bei der Diskri-
minierung von Homosexuellen. Wir haben zu oft ge-
schwiegen beim grassierenden Antisemitismus. Wir ha-
ben geschwiegen zu den Hasskampagnen gegen den
Islam. Wir führen keine Kampagne gegen Ungarn. Wir
führen eine Kampagne für die Grundrechte.
Herr Kollege, haben Sie meine Einlassung gehört?
Ich habe sie gehört, und deswegen mein letzter Satz:
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Europäische Union
zerbricht nicht an einem schwachen Euro; die Europäi-
sche Union zerbricht am Unernst im Umgang mit den
Grund- und Freiheitsrechten, die täglich neu erkämpft
und erstritten werden müssen, in Ungarn, in Italien, in
den Niederlanden und auch in Deutschland.
Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Johann David
Wadephul für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Lieber Herr Kollege Roth, nicht nur die letztenSätze waren, weil sie über die Redezeit etwas hinausgin-gen, überflüssig. Wir sind der Auffassung, dass dieseDebatte im Deutschen Bundestag und insbesondere IhrAntrag zum jetzigen Zeitpunkt unangemessen und vor-eilig sind und dass diese Debatte dem deutsch-ungari-schen Verhältnis deswegen nur schadet.
– Herr Sarrazin, ich werde es gleich begründen.Es bestreitet doch niemand, dass die Meinungsäuße-rungsfreiheit zu den Grundwerten und Grundrechten aufder Welt gehört, zum europäischen Wertekanon, spätes-tens seit der Französischen Revolution. Dieser Werteka-non gilt selbstverständlich auch in der EuropäischenUnion.
– Dass jetzt die Linkspartei anfängt, uns zu belehren,was Grundfreiheiten angeht, das erstaunt mich gerade indieser Stunde sehr, Herr Kollege.
Es waren die Ungarn, die überhaupt dafür gesorgt ha-ben, dass ganz Deutschland frei wurde
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9409
Dr. Johann Wadephul
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und dass der Teil, den ein Teil Ihrer Vorgänger in IhrerPartei geknechtet hat, seine Meinung überhaupt sagenkonnte. Insofern sollten Sie zu dieser ganzen Debatteheute schweigen.
Ausgangspunkt muss für uns sein, dass wir den Frei-heitswillen des ungarischen Volkes würdigen und wis-sen, dass dieses Volk in freier Selbstbestimmung eineRegierung gewählt hat, die eine große Mehrheit bekom-men hat.
Ungarn ist 1956 für Freiheit eingestanden. Ungarn hat1989 die deutsche Wiedervereinigung, die Freiheit allerDeutschen wesentlich ermöglicht. Im Geiste und im Be-wusstsein dieser Entwicklungen und dieser Leistungendes ungarischen Volkes sollten wir Deutschen uns be-nehmen und uns vielleicht an der einen oder anderenStelle auch mit Belehrungen, wie ich sie gerade ebenvom Kollegen Roth gehört habe, zurückhalten.
Pressefreiheit ist nirgendwo grenzenlos, auch inDeutschland nicht. Sie findet ihre Grenze in der Verlet-zung der Rechte anderer.
Deswegen haben wir Pressegesetze. In Nordrhein-West-falen gibt es ein neues Pressegesetz, das an Schärfekaum zu überbieten ist. Das hören Sie zwar ungern, aberes ist so.
Es ist Sache des nationalen Gesetzgebers, zu prüfen,was er tut, um Rechte zu gewährleisten. Herr Roth, Siehaben darauf hingewiesen: Es gab schwerste Menschen-rechtsverletzungen, auch durch die Medien, in Ungarn.Wie dort – ich sage es einmal auf diese Art und Weise –Kinderschutz nicht gewährleistet wurde, wie dort dieLeugnung des Holocausts nicht verboten war, das hat einEinschreiten notwendig gemacht. An dieser Stelle soll-ten wir uns gar nicht als Besserwisser aufstellen.
Nun ist die entscheidende Frage: Wie gehen wir mitder Überprüfung dieses Gesetzes um? Dazu gibt es einVerfahren – wir leben in einer Rechtsunion, in der Euro-päischen Union –: Die Europäische Kommission prüftjetzt diese Gesetze. Herr Kollege Roth, Sie selber habenpolitisch ein wenig schizophren argumentiert.Sie haben selber gesagt: Wenn es denn Verstöße gibt,dann muss man handeln. In der Tat, wenn es Verstößegibt, wird die Europäische Kommission diese auchöffentlich machen. Ich begrüße, dass Ungarn auch durchden Premierminister gesagt hat, dass man dann korrigie-ren wird. Man kann nur nicht zu Vorfestlegungen undVorurteilen kommen. Sie legen aber schon jetzt einenAntrag vor, in den Sie hineinschreiben, Sie kenntendiese Verstöße, relativiert durch das Wort „zahlreich“.
Schon heute stellen Sie zahlreiche Verstöße fest. Das istaus unserer Sicht falsch, meine sehr verehrten Damenund Herren.
Ich möchte noch etwas klarstellen: Der KollegeStübgen hat dazu gestern in der Europaausschusssitzungetwas gesagt. Ich finde es etwas traurig, dass Sie das hiernicht wiederholen, sondern den falschen Vortrag vongestern noch einmal bringen. Wir haben gesagt: Wir sindzu diesem Punkt in dem Moment zu einer vereinbartenDebatte bereit, wo der Bericht der Kommissarin Kroesvorliegt, wenn wir also Ergebnisse haben und wissen,worüber wir reden. Deswegen verweise ich Sie an dieserStelle – das fällt mir ja nicht leicht – einmal an den Kol-legen Martin Schulz, „den großen Sozialdemokraten ausDeutschland“, der auf europäischer Ebene auch mit gro-ßen Ankündigungen gestartet ist und dann insbesondereden Antrag der Grünen im Europäischen Parlament mitden Worten zurückgewiesen hat: Man braucht erst ein-mal sattelfeste juristische Argumente, bevor man zu Ur-teilen kommt. Meine sehr verehrten Damen und Herren,das hätten Sie an dieser Stelle auch einmal beachten sol-len.
Deswegen muss ich sagen: Es ist vollkommen legitimund auch in Ordnung, dass man unter Freunden in derEuropäischen Union auch kritische Punkte anspricht.
Es gibt ja keine Form der Distanzierung seitens derCDU/CSU-Fraktion zu dem, was der Ausschussvorsit-zende gesagt hat.
Er hat sich dazu geäußert und gesagt, in dieser Stundesei es richtig gewesen, es dabei zu belassen, die Prüfun-gen der EU-Kommission abzuwarten und danach imDeutschen Bundestag gegebenenfalls darüber zu disku-tieren und auch Anträge einzubringen. Dieser Schussging zu schnell los, und deswegen lehnen wir ihn ab.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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9410 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Dieter Dehm für
die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Es gibt in Ungarn eine nur von denrechten Machthabern besetzte Zensurbehörde, die gegenkritische Journalisten Strafen bis zu 720 000 Euro ver-hängen darf. Ich sage Ihnen: Wenn da nicht die Alarm-glocken läuten! Wehret den Anfängen!
Wir als linke Partei wissen, was es bedeutet, wenn dieMedien des Großkapitals, wie die Bild-Zeitung und derSpiegel, unsere Lösungsvorschläge gegen die Finanz-krise rücksichtslos unterdrücken und uns nur erwähnen,wenn sie uns verleumden können.Die Linken in Italien spüren es, wenn Berlusconi dieMeinungsvielfalt abwürgt: als staatlicher Machthaberdie öffentlichen Medien und als kapitalistischer Medien-mafioso bei den Privaten. Aber Ungarns Rechte wollennoch mehr: Sie wollen die totale Macht! Hauptleidtra-gende sind kritische Journalisten und Gewerkschafter,aber auch Wertkonservative und Priester, die die Berg-predigt ernst nehmen, und mutige mittelständische Ver-leger. Dies geschieht nicht in irgendeiner Bananenrepu-blik, sondern im wirtschaftlich entwickelten Ungarn mitdieser großen humanistischen und künstlerischen Tradi-tion. Das ist der Skandal.
Und weil in Ungarn vor allem Linke betroffen sind,bin ich besonders den konservativen Kollegen dankbar,die wie Gunther Krichbaum – jetzt zitiere ich ihn mal,und das hat er nach reiflicher Überlegung gesagt – dasungarische Mediengesetz in der Frankfurter Rundschau„inakzeptabel“ nennen, weil damit Regimekritiker mit– ich zitiere – „vagen und willkürlichen Begriffen wie‚ausgewogener politischer Berichterstattung‘“ verfolgtwerden können.Ein Wort zur SPD: Ich finde es hilfreich, dass Ihre So-zialdemokratische Internationale den tunesischen Dikta-tor Ben Ali und seine Staatspartei RCD ausgeschlossenhat – wenn auch erst am Montag, was ein bisschen so ist,als wäre jemand am 7. Mai 1945 entschlossen dem anti-faschistischen Widerstand beigetreten. Bitte, setzen Siesich etwas früher dafür ein, dass im tunesischen Nach-barland Ägypten jetzt die politischen Gefangenen – vorallen Dingen die vielen Tausend Linken – freigelassenwerden.
Das würde auch mancher Lektion in Sachen Menschen-rechte von Herrn Gabriel und Herrn Steinmeier an un-sere Adresse etwas mehr Nachdruck verleihen.Frau Merkel, nehmen Sie Ihren Parteifreund ViktorOrban härter in die Pflicht, wenn sein Regime linke In-tellektuelle bis ins Ausland verfolgt! Solcher Antikom-munismus – das hat uns Thomas Mann gelehrt – ist diegrößte Grundtorheit unserer Epoche, und dabei bleibt es.
Wie lange wollen Sie noch wegschauen, wenn dierechte Regierung de facto die Grenzen der ungarischenNachbarländer infrage stellt und im Ratsgebäude inBrüssel jetzt auch noch symbolisch einen Teppich auf-hängt, der Großungarn in den Grenzen von 1848 zeigt?
– Von 1848!Weil Sie diejenigen erwähnt haben, die in Ungarnmutig die Grenze aufgemacht haben: Einer davon warGyörgy Konrad, einstiger Präsident der Berliner Akade-mie der Künste und Träger des Friedenspreises desDeutschen Buchhandels. Er sagt jetzt, auch nach reichli-cher Prüfung: Die 1989 erkämpfte Pressefreiheit wurderückgängig gemacht. Gibt Ihnen denn das nicht zu den-ken?
Der populäre Rundfunkmoderator Attila Mong, derwegen seiner Kritik an dem Mediengesetz schon suspen-diert wurde – das ist bereits geschehen –, wie übrigensdie Journalisten Ivan Andrassew und Sandor Jaszberenyi,sagt:Der Grund, warum die deutschen Medienkonzernezu allem schweigen, ist, weil sie „bekommen ha-ben, was sie wollten, wirtschaftlich betrachtet. WasProduct Placement, Werbung und die Digitalisie-rung der Medienlandschaft angeht, haben dieMachthaber alle Wünsche der privaten Fernsehsen-der erfüllt.“Meine Damen und Herren, auch Kommerz kann Freiheittöten.
Ob es gegen die Macht von Verlagskonzernen gehtoder gegen Zensurbehörden und omnipotente Parteien-wirtschaft, ob es um linke Künstler in Ungarn geht oderum den chinesischen Nobelpreisträger Liu Xiaobo: De-mokratische Gewaltenteilung, unabhängige Rechtspre-chung und Meinungsvielfalt bedürfen noch viel mehr derVerankerung auf allen Seiten parlamentarischer Sitzord-nungen in der EU, und darüber und darunter hinaus.Die Kommunistin Rosa Luxemburg hat das so ausge-drückt, dass sie damit hier an diesem Mikrofon schonvon Vertretern fast aller Parteien zitiert wurde: Freiheitist immer auch die Freiheit der Andersdenkenden.
Ich übersetze das einmal: Meinungsvielfalt beginnt dort,wo es einem selbst wehtut. Es muss dann auch Ihnenwehtun, Meinungsvielfalt einzuräumen.
Die Kritik am ungarischen Zensurgesetz und an dikta-torischen Maßnahmen in Italien und anderswo, also die
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9411
Dr. Diether Dehm
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Vision eines reinen Ideenstreits um die besten Lösungengegen diese Krise, ohne Angst und Terror –
Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Redezeit.
– ich bin beim letzten Satz –,
ist ein so zartes Gewächs, dass ich fürchte: Wir können
es nur parteiübergreifend pflegen.
Ich danke Ihnen.
Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege
Dr. Stefan Ruppert.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Ich freue mich zunächst einmal darüber, dassder stellvertretende Botschafter Ungarns hier ist unddiese Debatte verfolgt,
also sehr aufmerksam registriert, was wir hier diskutie-ren. Ich fürchte, er hat beim letzten Beitrag einen sehrschlechten Eindruck gewonnen.
Das tut mir ausgesprochen leid.
An erster Stelle sollte man betonen, dass Ungarn zu un-seren befreundeten Nationen gehört und Kern der Euro-päischen Gemeinschaft ist. Eine solche Beschimpfung,wie Sie sie hier eben geäußert haben, hat dieses Landnicht verdient.
Insofern: Achten Sie bitte auf die Tonlage, wenn Siehier Kritik äußern! Ich finde, das ist im ersten Redebei-trag, also von Herrn Roth, deutlich besser gelungen alsjetzt bei Ihnen, Herr Dehm.Ich gehöre sicherlich nicht zu den Scharfmachern,sondern eher zu den nachdenklichen Politikern in meinerFraktion.
Scharfmacher gibt es bei uns sowieso nicht.
– Herr Dehm, ich haue auf niemanden drauf, nur weil erMitglied der Linken ist. Aber wenn Sie mit Ihrer überalldokumentierten Vergangenheit
und als jemand, der mit der Stasi konkret zusammenge-arbeitet hat, über die Frage reden, wie man mit Anders-denkenden umgeht, dann sollten Sie sich sehr genauüberlegen, welche Tonlage Sie wählen.
Auch das gehört zu Ihrer Glaubwürdigkeit.
Mir persönlich fehlt der missionarische Drang, den Sieanscheinend haben. Wenn ich eine Vergangenheit hättewie Sie, könnte ich niemals mit diesem moralischen Im-petus argumentieren, wie Sie das vorhin getan haben.
Nachdem wir uns lange genug mit Ihnen, Herr Dehm,in dieser Debatte aufgehalten haben,
möchte ich zur Sache zurückkommen.
Natürlich kann keinerlei Zweifel daran bestehen, dasswir die Grundrechte in Europa ganz ernst nehmen müs-sen. Sie sind Teil unserer Identität. Immer dann, wennwir das Gefühl haben, dass die Grundrechte in einzelnenMitgliedstaaten – es wurden neben Ungarn auch andereStaaten genannt – nicht ernst genommen werden, oderwenn es Tendenzen gibt, sie zu relativieren, müssen wirdem mit aller Entschiedenheit entgegentreten.
Mir als Jurist ist manche Klausel in diesem Gesetz zuschwammig. Es gibt Klauseln, die man nach meinerMeinung viel zu weit dehnen kann. Ich habe auch Pro-bleme mit der formalen Art, wie dieses Gesetz zustandegekommen ist.
Ich finde, man muss diesen Punkt sachlich und in allerFreundschaft zu Ungarn ansprechen. Wir können näm-lich in Europa nicht akzeptieren, dass es einen Bereichgibt, in dem die Grundrechte ernster genommen werdenals in einem anderen.
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9412 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Dr. Stefan Ruppert
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Ich möchte am Ende noch darauf hinweisen, dassmich diese Entwicklung – nicht nur die Entwicklung inUngarn – etwas mit Sorge erfüllt. Wenn man sich die Be-richte der OSZE anschaut, dann kann man sagen, dassauch andere Länder in Europa die Pressefreiheit nicht soernst nehmen, wie wir das eigentlich erwarten können.Wenn man sich die Rangliste in puncto Pressefreiheit an-schaut, dann stellt man besorgniserregende Tendenzenfest.Ich warte mit Neugier und Interesse, aber auch mitHoffnung auf den Bericht, den die Europäische Kom-mission dazu erstellen wird. Auf der Grundlage konkre-ter Ergebnisse und Berichte und im Hinblick auf dieFrage, was juristisch zu beanstanden ist, sollten wir – dashat Herr Wadephul schon angekündigt – über diesesThema in aller Ruhe und Sachlichkeit reden. Wegen un-serer Freundschaft mit den Ungarn dürfen wir dies nichtim Ton missionarischer Belehrung tun. Aber in der Sa-che müssen wir glasklar argumentieren und dürfen kei-nen Millimeter von unserer Grundrechtsüberzeugung ab-weichen.
Wenn wir das tun, werden wir die ungarischenFreunde
– Sie vielleicht nicht, aber wir – an unserer Seite behal-ten. Wir werden gleichwohl die Grundrechte in Europastärken und dafür sorgen, dass sie weiterhin durchgesetztwerden. Ich glaube, es kommt sehr auf die Tonlage an.Es kommt auf die Sachlichkeit und nicht auf den Affektan, den Sie hier gezeigt haben. Ich wünsche mir daher,dass die weitere Debatte etwas sachlicher als Ihre Redeverläuft.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Frithjof Schmidtfür die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ungarn blickt in der Tat auf eine stolze Geschichte desWiderstandes gegen Unterdrückung zurück. Es ist hierschon an den ungarischen Volksaufstand von 1956 erin-nert worden. Wir wissen alle: Ohne die ungarischeGrenzöffnung wäre die deutsche Wiedervereinigungnicht so schnell gekommen. Europa und gerade wirDeutsche verdanken Ungarn viel. Das muss hier mit al-ler Klarheit gesagt werden.
Deshalb ist es eigentlich ein Grund zur Freude, dassUngarn jetzt die Präsidentschaft des Europäischen Rateshat. Und dann das: Es gibt in Ungarn ein neues Medien-gesetz, das eine Gefahr für die Pressefreiheit darstellt.Natürlich gehört dieses Thema hierher. Was, wenn nichtdas?
Ein Gesetz, das ganz offensichtlich in wichtigenPunkten gegen Wort und Geist der europäischen Grund-rechtecharta verstößt, das können Sie doch politisch be-werten. Verstecken Sie sich da nicht hinter juristischenPrüfverfahren, so langsam sind Sie doch sonst auchnicht.
Ich will nur drei Punkte aus diesem Gesetz nennen, diees in sich haben, und das wissen Sie auch.Erstens werden die Medien in Ungarn verpflichtet,„ausgewogen“ zu berichten, was immer „ausgewogen“genau heißen mag. Darüber entscheidet nicht etwa einGericht, sondern ein Medienrat, der auch sehr hoheGeldstrafen verhängen kann. Der ungarische Schriftstel-ler György Dalos, Träger des Leipziger Buchpreises, hatsehr deutlich davor gewarnt, was das heißen könnte– das sollten Sie zur Kenntnis nehmen –, nämlich zumBeispiel den Ruin kleinerer Zeitungen und natürlich da-durch auch eine Abstrafung von Kritik. Das ist ein unga-rischer Demokrat; der weiß durchaus, worüber er in sei-nem eigenen Land redet.
Zweitens wurde der Medienrat ausschließlich mitPersönlichkeiten besetzt, die der Regierung nahestehen.Eine Vertretung der Zivilgesellschaft oder der Opposi-tion ist also für die nächsten neun Jahre nicht gegeben.Das könnte also – einmal ganz vorsichtig formuliert –darauf hinauslaufen, dass die Regierungsmehrheit dieMedien überwacht, ob sie auch ausgewogen im Sinnedieser Mehrheit berichten. Sonst gibt es halt Sanktionen.Drittens kann dieses neue Mediengesetz nur mitZweitdrittelmehrheit verändert werden. DemokratischeKorrekturen sind also nur äußerst schwer erreichbar. Daskönnen Sie nun wirklich nicht gut finden oder ignorie-ren, dass das gegen den Geist der europäischen Grund-rechtecharta verstößt. Um so etwas festzuschreiben,wurde extra die Verfassung geändert.Das alles ist ein Affront gegen die demokratische Ge-sellschaft Ungarns, die wir sehr schätzen.
Es ist auch ein Affront gegen die Europäische Union;denn ein Land, das so gegen den Geist der Grund-rechtecharta verstößt, kann die Europäische Union inter-national nicht glaubwürdig repräsentieren.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9413
Dr. Frithjof Schmidt
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Es ist doch klar: Eine solche Ratspräsidentschaft er-schüttert die Glaubwürdigkeit Europas, wenn es darumgeht, undemokratische Zustände in anderen Teilen derWelt zu kritisieren. Gerade deshalb sollten wir alle dieProteste dort in Ungarn mit besonderem Engagement un-terstützten. Das kann niemand als antiungarisch bezeich-nen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, dairritiert es schon, wenn Ihr Fraktionsvorsitzender im Eu-ropaparlament, Herr Daul, sich über die „politisch moti-vierten Vorwürfe gegen die ungarische Regierung“ mo-kiert. Ich verstehe ja sein politisches Problem, dass HerrOrban auch zur Europäischen Volkspartei gehört. Aberbei der Verteidigung der Pressefreiheit darf es eine sol-che politische Rücksichtnahme nicht geben.
Ich sage Ihnen das ganz direkt, denn Sie können hiermit der Europäischen Volkspartei und durch die Europäi-sche Volkspartei helfen. Nehmen Sie Einfluss auf HerrnOrban! Fordern Sie doch wenigstens, dass er das Gesetzsofort und so lange aussetzt, wie die Europäische Uniones prüft. Das wäre doch einmal eine Forderung, wennSie sich schon hinter dem Prüfprozess verstecken. Wa-rum tun Sie das eigentlich nicht?
Wir müssen uns gemeinsam dafür starkmachen, dassdie ungarische Regierung dieses Gesetz zurücknimmtund sich darüber hinaus in Wort und Tat an die europäi-schen Grundwerte hält. Falls Ungarn die beanstandetenPassagen nicht zurücknimmt, muss nach unserer Über-zeugung ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitetwerden.Europa ist für viele Menschen überall auf der Weltdurchaus ein Vorbild, was Demokratie und Freiheit an-geht. Aber nur, wenn wir selbst uns gegen Einschrän-kungen von demokratischen Rechten in der Europäi-schen Union zur Wehr setzen, erhalten wir uns diesedemokratische Ausstrahlung. Das ist die Aufgabe, diewir auch hier und heute haben. Deshalb haben wir ge-meinsam mit der SPD-Fraktion zusätzlich diese Wocheden Antrag in den Bundestag eingebracht.Vielen Dank.
Das Wort hat nun der Kollege Karl Holmeier für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Zu Beginn dieses Jahres hat Ungarn die Ratspräsident-schaft in der Europäischen Union übernommen. Das isteigentlich ein bedeutendes Ereignis für die EU. Bedauer-licherweise wird es aber in der europäischen Öffentlich-keit und leider auch in Deutschland von einem ganzanderen Thema überschattet, dem ungarischen Medien-gesetz.Bei der Debatte um dieses Gesetz redet so ziemlichjeder mit, und jeder meint plötzlich, ein Fachmann imMedienrecht zu sein. Das Urteil steht dabei für viele– vor allem für das linke Lager – bereits von Anfang anfest. Das ungarische Mediengesetz verstößt gegen EU-Recht, es verstößt gegen völkerrechtliche Verträge undbedroht die Medienfreiheit. Ich möchte zu diesemThema keine langen Ausführungen machen und hier we-der als Anwalt Ungarns auftreten noch den Eindruck er-wecken, mir sei die Freiheit der Medien egal. Ich will Ih-nen aber gerne drei Punkte zum Nachdenken ans Herzlegen:Erstens. Eigentlich sollten wir in diesem Rahmenwichtige Themen für unser Land, für Deutschland, dis-kutieren. Stattdessen reden wir über ein ungarisches Ge-setz,
zu dem es noch dazu nicht einmal eine vollständigeÜbersetzung gibt. Es entspricht meines Erachtens nichtgerade gutem parlamentarischen Stil, im DeutschenBundestag über ungarische Gesetze zu debattieren.
Ungarn ist ein souveräner Staat genau wie Deutsch-land.
Genauso, wie wir nicht wollen, dass Ungarn sich in un-sere Gesetzgebung einmischt, sollten wir den Ungarnauch nicht in ihre Gesetzgebung hineinreden.
Zumindest sollten wir eine endgültige Prüfung durch diezuständigen Gremien abwarten.Zweitens. Ungarn ist im Gegensatz zu vielen anderenLändern tatsächlich eine lupenreine Demokratie. Ich zi-tiere einen deutschen Journalisten, der in Ungarn einedeutschsprachige Zeitung herausgibt:Orbán ist kein Antidemokrat. Und Ungarn ist nichtNordkorea, …Wir können doch einem demokratischen Land wie Un-garn nicht vor Abschluss einer eingehenden juristischenPrüfung unterstellen, rechtswidrige Gesetze zu schreiben
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9414 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Karl Holmeier
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und Grundrechte wie die Freiheit der Medien zu verlet-zen.Der SPD-Europaabgeordnete Martin Schulz hat selbstgesagt, Sorgfalt gehe vor Schnelligkeit. Wenn das so ist,liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, warumsind Sie denn so vorschnell dabei, zu erklären, das Ge-setz sei rechtswidrig, obwohl es gerade erst geprüftwird? Hier findet eine Vorverurteilung statt, die einemsouveränen Staat gegenüber überaus unangemessen ist.Sie ist jedoch gegenüber einem Staat, der mit Deutsch-land freundschaftlich verbunden und zugleich ein Part-ner in der Europäischen Union ist, ein offener Schlag insGesicht. So geht man mit Freunden nicht um.
Dies führt mich zu meinem letzten Punkt: Bei allermöglicherweise berechtigten Kritik sollte man nie ver-gessen, dass der Ton die Musik macht.
Der Ton gegenüber den Ungarn ist in dieser Debatte in-akzeptabel. Hier wird eine Kampagne gegen Ungarn ge-fahren, die nicht nur die eingangs erwähnte Ratspräsi-dentschaft überschattet,
sondern im Rahmen derer Ungarn sogar die Fähigkeitzur Übernahme der Ratspräsidentschaft abgesprochenwird. Das ist das eigentlich Skandalöse.
Hier wird eine bürgerlich-konservative Regierung anden Pranger gestellt.
Hier wird Schaden an freundschaftlichen Beziehungenangerichtet.Hier werden die ungarischen Bürger, die in der Mehr-heit die Kritik an dem Gesetz nicht teilen,
provoziert und gegen Bürger anderer EU-Staaten, auchDeutschlands, aufgebracht. Dies gilt übrigens auch fürungarische Journalisten. Die Journalisten in Ungarn sindes letztlich, die von dem Gesetz betroffen sind.
Sie fühlen sich jedoch anders als viele vermeintlicheRetter der Medienfreiheit nicht durch das neue Medien-gesetz eingeschränkt. Sie halten den Aufschrei gegendas Gesetz für überzogene Hysterie. Die viel zitierteSelbstzensur wird in Ungarn jedenfalls nicht befürchtet.Diese Kampagne ist unverantwortlich, und damit be-fassen wir uns in einer Aktuellen Stunde. Die Ratspräsi-dentschaft und die Schwerpunkte, die Ungarn setzenmöchte, wären ein würdiger Anlass für eine Debatte ge-wesen;
ein in der Prüfung befindliches nationales Gesetz Un-garns ist es aus meiner Sicht nicht.Abschließend wünsche ich der ungarischen Regie-rung viel Erfolg bei ihrer Ratspräsidentschaft.
Ungarn hat sich viel vorgenommen und steht vor großenHerausforderungen.
Es möchte Europa stärken und stabiler machen, esmöchte Europa bürgernäher machen,
und es möchte dabei als ehrlicher Makler auftreten.Meine Unterstützung hat die ungarische Regierung hier-bei.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Martin Dörmann für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ja, ausgerechnet Ungarn! Ungarn, dem Deutschland unddie anderen europäischen Länder so viel zu verdankenhaben, Ungarn, das 1989 zu jenen Ländern gehörte, dieeinen entscheidenden Anteil an der Überwindung des Ei-sernen Vorhangs hatten, Ungarn, das wir alle als einSymbol für den Kampf um Meinungsfreiheit und andereFreiheitsrechte verstehen. Europa – da sind wir uns,denke ich, alle einig – sähe ohne das entschiedene Han-deln der Ungarn im Jahre 1989 anders aus.Ich freue ich mich, dass heute der stellvertretendeBotschafter Ungarns unter uns ist. Wir begrüßen es sehr,dass Ungarn die Ratspräsidentschaft hat, weil es uns dieChance gibt, gemeinsam mit den Ungarn auch über dieseThemen zu diskutieren. Denn so wie wir den Ungarn fürihren damaligen Mut dankbar sind, so können die Un-garn heute von uns umgekehrt erwarten, dass wir uns zurBedrohung der Meinungsfreiheit in ihrem Land deutlichzu Wort melden.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9415
Martin Dörmann
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Warum hat Ungarn einen Antrag auf Beitritt zur Euro-päischen Union gestellt? Weil die Menschen in die Euro-päische Union aufgenommen werden wollten, damitauch in die europäische Werteordnung. Heute sind sieangekommen. Jetzt steht auf dem Prüfstand, ob wir dasernst nehmen, ob wir uns als diejenigen verstehen, diedie Rechte, die das ungarische Volk an dieser Stelle hat,auf europäischer Ebene durchsetzen. Darum geht esheute.
Es ist nicht das ungarische Volk, das dieses Gesetz be-schlossen hat; es ist in einer Nacht-und-Nebel-Aktionvon der konservativen Regierung Orban mit ihrer Zwei-drittelmehrheit, die sie nun einmal im Parlament hat,durchgedrückt worden, wie ich meine, ohne Rücksichtauf Verluste.Ich will eine ungarische Stimme zitieren. Der ungari-sche Autor György Konrad beschreibt die Folgen diesesMediengesetzes wie folgt:Wir sprechen von einem Mediengesetz, doch imWesentlichen geht es um die Erstickung der Presse-und kulturellen Freiheit. Gestohlen wird uns das,was das Ziel und die Errungenschaft der öffentli-chen und illegalen demokratischen Bewegung so-wie das Wunder von 1989 war. …Die Rede ist von einer neuartigen Diktatur. IhreNeuartigkeit besteht darin, dass sie versucht, inner-halb der Europäischen Union zu existieren und zuwirken.Lassen wir nicht zu, dass die Werte Europas auf dieseWeise ausgehöhlt werden. Schweigen wir nicht, wenndie Berlusconis und Orbans in Europa selbst bestimmenwollen, ob Kritik an ihnen erlaubt ist oder eben nicht.Eine staatliche Kontrolle der Medien, so wie es das un-garische Mediengesetz vorsieht, steht im Widerspruchzur Charta der Grundrechte der EU, zur EuropäischenMenschenrechtskonvention und zu den Grundrechtstra-ditionen der Mitgliedstaaten. Angriffe auf die Presse-und Medienfreiheit und auf das Prinzip der Gewaltentei-lung sind Angriffe auf den Wesenskern der Europäi-schen Union. Alle demokratisch gesinnten Kräfte sindaufgerufen, sich derartigen Entwicklungen entschiedenentgegenzustellen. Deshalb ist das weitgehende Schwei-gen der Bundesregierung in der Tat kaum nachvollzieh-bar.Herr Dr. Hoyer, ich schätze Sie als Kölner Kollegeund – Sie wissen das – als einen sehr bedächtig und an-gemessen redenden Menschen. Ich habe Sie beobachtet;ich interpretiere das. Ich glaube, es kann Ihnen bei denWortbeiträgen, die heute sowohl aus Reihen der FDP-Fraktion als auch der Unionsfraktion gekommen sind,nicht wohl gewesen sein.
Ich finde es schon skandalös, wenn hier, wie schongestern im Europäischen Parlament, ein Vergleich zwi-schen dem nordrhein-westfälischen Mediengesetz unddem ungarischen Mediengesetz gezogen wird. Gegen ei-nen Verstoß gegen Datenschutzbestimmungen vorzuge-hen, ist doch etwas anderes, als in einem Gesetz diePflicht zur ausgewogenen Berichterstattung zu konsta-tieren, wie es in Ungarn geschieht, zumal ein einseitigregierungsnah besetztes staatliches Gremium – der Kol-lege Dr. Schmidt hat zu Recht darauf hingewiesen – de-finieren, kontrollieren und sanktionieren kann, unter kla-rer Missachtung der Gewaltenteilung. Dabei gehört dochdie Möglichkeit, in der Berichterstattung eine Tendenzzum Ausdruck zu bringen, zum Wesen der Meinungs-freiheit. Deshalb sage ich auch: Es ist bedauerlich, dasssich die deutschen Medien, die sehr stark in Ungarn ver-treten sind, bisher sehr zurückhaltend geäußert haben.Ich hoffe nicht, dass das ein erstes Zeichen dafür ist, dassdieses Gesetz wirkt; denn wir alle wissen: Gerade Me-diengesetze wirken nicht erst dann, wenn der erste Jour-nalist eine Strafe zahlen muss oder wenn die erste Zei-tung geschlossen wird. Ein solches Mediengesetz wirktbereits dann, wenn alle die Gefahr sehen und wenn dieSchere im Kopf da ist. Genau das ist das Ziel dieses Ge-setzes.
Deshalb müssen wir uns hier und heute äußern. Es reichtnicht, wenn die FDP sagt, wir müssten sachlich debattie-ren. Sie haben hier nicht sachlich debattiert, weil Sie amKern des Problems vorbeigegangen sind.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Die SPD-Fraktionfordert von der ungarischen Regierung und dem ungari-schen Parlament nicht nur die inzwischen halbwegszugesagte Überprüfung, sondern tatsächlich die Aufhe-bung, zumindest aber die Aussetzung des undemokrati-schen und europarechtswidrigen Mediengesetzes.
Wir erwarten von der Bundesregierung, von der EU-Kommission und auch vom EU-Parlament, dass diesesich mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln fürdieses Ziel einsetzen.
Dafür haben wir sie geschaffen.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Das wäre im Interesse eines freien und demokrati-schen Ungarn und im Interesse eines zukunftsfähigenEuropas. Darum geht es hier.Vielen Dank.
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9416 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
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Für die Bundesregierung hat nun Herr Staatsminister
Dr. Werner Hoyer das Wort.
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sie alle waren wahrscheinlich noch mit dem Aufhängender Weihnachtskugeln befasst, als ich in den Tagen vorHeiligabend in deutlicher Form zu den Sorgen über dasungarische Mediengesetz Stellung genommen und damitin Budapest zweifellos nicht nur Freude ausgelöst habe.Aber ich war der Auffassung, dass es erforderlich ist,frühzeitig darauf hinzuweisen, wenn man Bedenken hat.Man muss kein endgültiges Urteil abgeben, aber manmuss Fragen stellen, und die müssen vom Adressatenbefriedigend beantwortet werden. Wenn sie nicht befrie-digend beantwortet werden, muss man gegebenenfallsetwas ändern. Das ist deutlich geworden.Ich möchte mich bei all denen bedanken – Sie einge-schlossen –, die das Thema, über das wir heute diskutie-ren, in einen größeren Rahmen stellen. Der große Rah-men ist durch das geprägt, was wir an den Ungarnbewundern und was wir ihnen zu verdanken haben. Ichspreche von dem unbändigen Freiheitswillen, der in Un-garn als dem ersten Land zum Ausdruck gekommen ist,als es zu einem großen Aufstand kam. Er ist auchdadurch zum Ausdruck gekommen, dass die UngarnDeutschen den Weg über Österreich in die Freiheit er-möglicht haben. Das war eine großartige Leistung. Wirhaben in den 90er-Jahren immer gesagt: Wir werdeneuch das nie vergessen. – Nach einiger Zeit haben mirungarische Freunde gesagt: Wir können es nicht mehrhören. Ihr müsst einmal konkret werden. Ihr dürft nichtimmer nur Worte machen. – Jetzt ist der Zeitpunkt ge-kommen, dass wir die Ungarn, die jetzt erfreulicher-weise in unserer Wertegemeinschaft der aufgeklärten,rechtsstaatlichen europäischen Demokratien angekom-men sind, darauf hinweisen, dass wir wegen einer mögli-chen Fehlentwicklung Sorge haben. Wir sollten das aberbitte in einem Umgangston tun, der diesem besonderenVerhältnis Deutschlands zu Ungarn angemessen ist.
Wir haben – auch das ist bereits gesagt worden – einInteresse an einer starken und erfolgreichen ungarischenRatspräsidentschaft, zumal in einer für die EuropäischeUnion herausfordernden Zeit. Bei den im letzten Jahr ge-stellten Weichen ist jetzt Entschlossenheit das Gebot derStunde, Entschlossenheit bei der Umsetzung der Be-schlüsse des Europäischen Rates, zum Beispiel um un-sere Währung sturmfest zu machen, Entschlossenheit,um den zum Teil sehr schmerzlichen Weg der Konsoli-dierung, auch der Haushaltskonsolidierung, fortzuset-zen, und Entschlossenheit, neue Wege bei der Vertiefungund bei dem Zusammenwachsen Europas zu gehen. Da-her ist die Ratspräsidentschaft wichtig.Eine Ratspräsidentschaft ist aber kein Orden, den mansich ans Revers heftet, sondern Ratspräsidentschaftheißt: gründliche Vorbereitung und sehr viel Arbeit. Wirwünschen unseren ungarischen Freunden viel Erfolg beidieser kräftezehrenden Aufgabe, und wir werden sienach Kräften unterstützen.
Die Durchführung der Ratspräsidentschaft bringt einebesondere Verantwortung mit sich. Trotz des Inkrafttre-tens des Vertrages von Lissabon ist das jeweilige Mit-gliedsland, das die Ratspräsidentschaft wahrnimmt, dieStimme Europas. Ungarn spricht in diesem ersten Halb-jahr für die ganze Europäische Union, für uns alle. Es istdaher leicht nachvollziehbar, dass sich der Fokus in die-ser Zeit auf die Ratspräsidentschaft richtet. Niemandkann ein Interesse daran haben, dass sich auf die exzel-lent vorbereitete Ratspräsidentschaft ein Schatten legt,der die bisherigen Bemühungen überlagert.Europa – das ist Einheit in Vielfalt: Vielfalt im Sinneeines toleranten Miteinanders, das pluralistische Strö-mungen zulässt und die Rechte der Minderheiten ganzbesonders schützt. Dies war das Leitmotiv der Antritts-rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel im Europäi-schen Parlament zu Beginn der deutschen Ratspräsident-schaft 2007. Es sollte uns auch heute noch leiten.Vereint sind wir in Europa auch als Gemeinschaft derWerte, auf die wir alle verpflichtet sind: Freiheit, Men-schenrechte, Rechtsstaatlichkeit. Das sind die Säulen.Sie wurden vor langer Zeit erkämpft und tragen Europa.Eines ist klar: Die Freiheit der Presse ist ein fundamenta-ler Wert in diesem Kontext.
Nicht für Pressefreiheit einzustehen, hieße, dieses Fun-dament zu gefährden. Wir würden an Glaubwürdigkeitverlieren, auch und gerade im Gespräch mit Staaten, diewir von diesen Werten zu überzeugen versuchen.
Wenn Bedenken aufkommen, dass die Freiheit derPresse in einem Mitgliedsland der Europäischen Unionirgendeiner inhaltlichen Kontrolle unterworfen seinkönnte – sei es auch nur in Form einer antizipiertenSelbstzensur, gewissermaßen einer Schere im Kopf –,dann ist das für die Union als Ganzes Grund zur Besorg-nis, ganz besonders, wenn dieses Land die Ratspräsi-dentschaft innehat. Dieser Anspruch, den wir hier erhe-ben, richtet sich an ein bereits in Kraft getretenes unddamit in seinem Anwendungsbereich allgemeingültigesGesetz und nicht erst an mögliche Formen der konkretenAnwendung. Es zeugt übrigens von einem merkwürdi-gen rechtsstaatlichen Verständnis, wenn man das anderssieht. Die Bundesregierung hat sich von daher klar posi-tioniert. Wir haben unserer Erwartung Ausdruck verlie-hen, dass die Stellen im Mediengesetz geändert werden,die mit fundamentalen Werten in Konflikt stehen.Ich halte auch nichts davon, dass wir zulassen, dassdas ungarische Gesetz mit Gesetzen verglichen wird, die
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9417
Staatsminister Dr. Werner Hoyer
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im Bundestag oder in unseren Landesparlamenten verab-schiedet wurden. Damit tun wir uns selbst unrecht.
Ich habe mir heute die Mühe gemacht, das nordrhein-westfälische Mediengesetz noch einmal genau zu lesen.Es ist zwischen 1966 und 2008 von 27 auf sympathische17 Paragrafen reduziert worden. Das ungarische Me-diengesetz ist dagegen im Original ein richtiger Wälzer.Kein Wunder, dass noch nicht jeder die Übersetzungengelesen hat. Im nordrhein-westfälischen Mediengesetzkann ich wirklich nichts Angreifbares bezüglich desSachverhaltes finden, über den wir hier sprechen.
Wir müssen ehrlich mit uns selbst sein. Ich finde es nichtangemessen, den Kolleginnen und Kollegen aus Nord-rhein-Westfalen, gleich welcher Fraktion, solche Vor-würfe zu machen.Ich möchte deutlich machen, dass durchaus einzelneElemente des ungarischen Mediengesetzes in verschie-denen Gesetzen der Europäischen Union vorhanden seinkönnen und dort möglicherweise sogar Sinn machen.Datenschutzvorschriften zum Beispiel nehme ich außer-ordentlich ernst. Diese wurden auch beim nordrhein-westfälischen Gesetz inkriminiert; das kann ich über-haupt nicht verstehen. Erst die Kumulation von Einzel-vorschriften zu einem Gesamtwerk kann Bedenken aus-lösen oder Probleme verschärfen.Ich möchte einige unserer Zweifel konkret benennen.Dazu gehören die umfassenden Kompetenzen des neugeschaffenen Medienrates zur Kontrolle von Inhaltender Berichterstattung, die einseitige personelle Beset-zung dieses Gremiums für einen Zeitraum von immerhinneun Jahren,
die im Gesetz verankerte Pflicht zur Offenlegung vonQuellen – das ist ein im Hinblick auf die Freiheit vonJournalisten ganz elementarer Satz –, die inhaltlichenVorgaben durch zahlreiche unbestimmte Rechtsbegriffe,verknüpft mit weitreichenden Sanktionsmöglichkeiten,und der den öffentlich-rechtlichen Sendern obliegendeZwang zur Übernahme der Nachrichten einer einzigenstaatlichen Nachrichtenagentur.
Unser Rat an unsere guten ungarischen Freunde ist,die bestehenden Zweifel in enger Zusammenarbeit mitder Kommission und der OSZE auszuräumen. DieOSZE hat gestern durch ihre Medienbeauftragte eineerste, weitgehend mit unseren vorsichtigen Analysenübereinstimmende Bewertung abgegeben. Ich finde, diesist nicht nur vor dem Hintergrund der im Befreiungspro-zess von Mittel- und Osteuropa begründeten historischenKompetenz der OSZE von besonderer Bedeutung. Wirsind nicht nur den Grundsätzen der Europäischen Union,sondern auch denen der OSZE verpflichtet.
Die Kommission wird in den nächsten Tagen zu denPunkten, an denen sie Nachbesserungsbedarf vermutet,Fragen stellen. Ehrlicherweise muss man mit Offenheitan diese Prüfung herangehen; denn wir bewegen uns aufdem Gebiet einer sehr schwierigen Rechtsmaterie. Es istweiß Gott viel zu früh, endgültige Festlegungen zu tref-fen. Aber die richtigen Fragen müssen von der Kommis-sion gestellt werden.Wir sind zuversichtlich, dass es hier zu substanziellenVerbesserungen kommen kann. Gleichzeitig sehen wirnatürlich das Problem des maßgeblichen Prüfungsmaß-stabes. Eine solche Einschränkung der Pressefreiheitwäre eben nicht nur eine Verletzung sekundärrechtlicherVorschriften. Eine solche Einschränkung würde denKern unserer Grundwerte und Grundrechte berühren. Siemuss daher auch unter diesem Gesichtspunkt, das heißtprimärrechtlich, behandelt werden.
Auch hier ist die Kommission als Hüterin der Verträgegefordert. Übrigens ist und war die Beachtung dieserGrundwerte auch Voraussetzung für einen Beitritt zurEuropäischen Union.
Meine Damen und Herren, Sie sehen: Die Bundes-regierung hat die Dimension und das Gewicht dieserProblematik erkannt, zumal die innenpolitische Ent-wicklung in Ungarn nicht nur von diesem Gesetzge-bungsvorhaben geprägt ist. Als große und überzeugteFreunde Ungarns stehen wir jederzeit zur Unterstützungbereit. Wir bitten unsere Freunde in Ungarn, das nichtals Angriff auf Ungarn misszuverstehen. Das ist eineganz konkrete Hilfe unter Partnern und Freunden in derEuropäischen Union, bei der es darum geht, Fehlent-wicklungen zu vermeiden und Schaden von Ungarn undder Europäischen Union abzuwenden.Jetzt ist die Kommission am Zuge. Ich habe Vertrauendarauf, dass die Kommission ihrer Pflicht zur sorgfälti-gen Analyse vollumfänglich nachkommt. Und: Ich be-grüße die von Außenminister Martonyi geäußerte Bereit-schaft, auf den Rat guter Freunde einzugehen.Vielen Dank.
Der Kollege Frank Hofmann hat das Wort für dieSPD-Fraktion.
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9418 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Staatsmi-nister Hoyer, ich möchte Ihnen ganz persönlich rechtherzlich für diese Rede und die Offenheit danken,
mit der Sie die Verbundenheit zum ungarischen Volk,aber auch die möglichen Kritikpunkte deutlich angespro-chen haben. Ich frage mich, wie es sein kann, dass HerrHolmeier zu einer völlig anderen Einschätzung kommt;
auch er gehört doch, wie ich glaube, dieser Regierungs-koalition an.
Ich habe festgestellt, dass die FDP nach dieser Rede re-gungslos dasaß.An dieser Stelle möchte ich auch Herrn Wadephul an-sprechen. Sie haben dieses Thema aus meiner Sicht be-handelt, als gehe es um so etwas wie einen Verwaltungs-akt, den man erst einmal abwarten sollte. Ich hoffe, dassSie, nachdem Sie die Rede des Staatsministers gehörthaben, zu einer anderen Einschätzung kommen werden.
Es geht nämlich um den Kern der europäischen Grund-rechte. Diese Formulierung hat der Staatsminister ge-braucht, und ich greife sie gerne auf.
– Es ist eine politische Aufgabe, sich über dieses Themazu unterhalten. Dazu sind wir hier. Wir sind kein Verwal-tungsgericht, sondern wir müssen Politik machen.
Ich möchte einige weitere Punkte ansprechen. Ich warzusammen mit Axel Schäfer am 5. Januar dieses Jahresin Budapest. Dort haben wir uns mit zwei Chefredakteu-ren zweier Zeitungen und mit dem stellvertretendenStaatssekretär Pröhle unterhalten. Ich möchte Ihnen vonmeinen Eindrücken aus diesen Gesprächen berichten.Die Partei Fidesz erhielt bei den Wahlen einen Anteilvon etwa 52 Prozent der abgegebenen Stimmen und ver-fügt durch Direktmandate über eine Zweidrittelmehrheit.Wir hören immer nur von einer Zweidrittelmehrheit derPartei. Sie stellt inzwischen aber nicht nur die Regierungund beherrscht das Parlament, sondern sie besetzte auchsämtliche Verfassungsorgane und nahezu alle Einrich-tungen des öffentlichen Lebens. Im Moment gibt es nocheine Ausnahme, nämlich die Zentralbank. In der Minis-terialbürokratie wurden bereits sämtliche Leitungspostenbis zur Ebene der Referatsleiter neu besetzt. Die bisheri-gen Amtsinhaber wurden entlassen. Ohne Angabe vonGründen kann das Personal in der öffentlichen Verwal-tung mit einer Frist von zwei Monaten entlassen werden.Wenn wir bei uns von Beamten reden, wissen wir, wasdas bedeutet.Trotz Neubesetzung durch zwei Fidesz-treue Richterwies das Verfassungsgericht eine rückwirkende 98-pro-zentige Sondersteuer auf Abfindungen im öffentlichenSektor einstimmig zurück. Was machen Herr Orban undseine Regierung? Sie brachten das Gesetz mit kleinenÄnderungen erneut ein und entzogen gleichzeitig demVerfassungsgericht de facto die Normenkontrollbefugnisfür den Fiskalbereich. Vor diesem Hintergrund kann ichnur davor warnen, darauf zu vertrauen, dass es im Me-dienbereich schon nicht so schlimm kommen werde, wiedie Kritiker befürchten.Das Mediengesetz und die Medienverfassung sindaus meiner Sicht ein weiterer Schritt, um allein die Parteiin den Vordergrund zu stellen. Es wurde schon erwähnt,dass nun für neun Jahre eine Fidesz-Repräsentantin denVorsitz im neu geschaffenen Medienrat führt. Dabei gehtes nicht um die Kontrolle des Wettbewerbs, sondern umdie Medieninhalte. Durch regierungstreues Personalwird das Ganze dann kontrolliert und sanktioniert, ge-sellschaftliche Gruppierungen sind nicht vertreten, dassprachen Sie ja schon an. Es geht um die erklärten Ziele,nationale Werte zu vermitteln und die kulturelle Identitätder Ungarn zu stärken. Es sind die unbestimmtenRechtsbegriffe, deren Auslegung von der Medienbe-hörde und deren Medienpolizei vorgenommen wird, diedie Presse- und Medienfreiheit beeinträchtigen.In einem Gespräch im Deutschlandradio gesternMorgen berichtete Hans-Gert Pöttering, dass Orban inder Fraktion der Christdemokraten eingestanden habe,dass er das Mediengesetz schon früher hätte einbringenmüssen, aber mit Rücksichtnahme auf die Oppositiondies erst im Dezember erfolgt sei. Das stimmt nicht mitdem überein, was wir in Ungarn erfahren haben. DiesesGesetz wurde nicht durch Orban eingebracht, auch nichtdurch die Regierung, sondern durch einen einzelnen Ab-geordneten. Üblich ist dieses Verfahren der Einbringungdurch einen einzelnen Abgeordneten, wenn es um kleineÄnderungen einzelner Paragrafen in einem Gesetzes-werk geht, das nur von regionaler Bedeutung ist. LiebeKolleginnen und Kollegen, wer von uns wäre in derLage, so ein Gesetz wie dieses Mediengesetz zu schrei-ben und einzubringen? Es sind im Original 120 Seiten,und die Übersetzung umfasst fast 200 Seiten.Charme hat diese Einbringung durch einen einzelnenAbgeordneten aus der Sicht der Regierung und vonOrban deshalb, weil es so verkürzte Fristen gibt, undnicht deshalb, weil man der Opposition entgegenkom-men wollte, wie Orban gestern suggeriert hat. Über dasMediengesetz fand praktisch keine öffentliche Diskus-sion statt. Die Diskussion im Parlament wurde auf einMinimum beschränkt. Von 220 Änderungsanträgen wur-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9419
Frank Hofmann
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den nur 22 zur Abstimmung gestellt. Zwischen der Ein-bringung des Entwurfs und der Verabschiedung ist nurein knapper Monat vergangen.Am 3. oder 4. Januar 2011 legte die Regierung eineerste englische Übersetzung vor. Dummerweise fehltenentscheidende Passagen, in denen es gerade um ein-schneidende Sanktionsmöglichkeiten ging. Deshalb be-stand Barroso nun darauf, eine Übersetzung in der EU-Kommission anfertigen zu lassen. Meine Damen undHerren, Vertrauen sieht anders aus.
Herr Kollege, Sie kommen bitte zum Ende?
Ja. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, die ungarische
Medienverfassung atmet nicht den Geist der europäi-
schen Verfassung und von Demokratie und Rechtsstaat-
lichkeit. Die Spitzen der EU haben versäumt, frühzeitig
auf die Probleme hinzuweisen. Die Zurückhaltung war
keine vornehme Zurückhaltung, sondern aus meiner
Sicht eine politische Dummheit.
Herr Kollege!
Dafür, dass es zu dieser Konfrontation im Europäi-
schen Parlament gekommen ist, tragen die konservativen
Regierungschefs, auch Bundeskanzlerin Merkel, Verant-
wortung. Das Ganze war alles andere als eine Glanzleis-
tung. Wer meint, man könne so etwas aussitzen, muss
nachsitzen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Der Kollege Johannes Selle hat nun das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir diskutieren hier im Zuge der ersten Aufregung einungarisches Mediengesetz. Es gilt seit dem 1. Janu-ar 2011. Die englische Fassung gibt es erst seit 14 Tagen.Sie ist 225 Seiten lang.Das neue Gesetz löst ein altes Gesetz von 1996 ab,das unter der alten sozialistischen Regierung entstandenwar. Mit dem Gesetz war es nicht möglich, die Jugendvor rassistischer Hetze und pornografischem Unrat zuschützen. Es war auch nicht möglich, die Holocaust-leugnung zu verbieten.
Wiederholte Verletzungen von Menschenrechten undMenschenwürde ausreichend zu ahnden, war ebenfallsnicht möglich.Die privaten Sender – im Wesentlichen RTL – habenin Ungarn einen Marktanteil von 45 Prozent, die öffent-lich-rechtlichen Sender einen von 10 Prozent.Ein strengeres Mediengesetz wurde von Fidesz, derPartei des Ministerpräsidenten, vor der Wahl angekün-digt. Fidesz errang die Mehrheit der Parlamentssitze undsetzte das Wahlversprechen um.
Eine führende ungarische Zeitung hat das Verfas-sungsgericht angerufen, um das Mediengesetz zu über-prüfen. Von großen Teilen der ungarischen Medienwirt-schaft wird es aber völlig unaufgeregt behandelt.
Zum weiteren gesellschaftlichen Umfeld gehört, dassdas Land in den letzten vier Jahren unter sozialistischerÄgide am Rand der Insolvenz entlangschrammte.
Es gehört auch zum gesellschaftlichen Umfeld, dassUngarn begeistertes Mitglied der EU ist und seit Beginndes Jahres 2011 die Ratspräsidentschaft innehat.Es ist eine Tugend, Mediengesetze sensibel zu be-trachten und kritisch zu hinterfragen.
Die Freiheit der Medien ist für uns wesentlich für die Si-cherung der politischen Freiheit und der Demokratie.
Der gesellschaftliche Fortschritt unseres demokratischenGemeinwesens ist ohne die Freiheit der Meinungsäuße-rung und ohne Freiheit bei der Veröffentlichung der Mei-nung nicht denkbar. Wir haben in Deutschland einschlä-gige Erfahrungen damit gemacht, und wir wollen nichtmehr in dunkle Zeiten zurückfallen.
Deshalb ist es verständlich, dass wir hellhörig sind,
ganz besonders wenn es um die eigene Familie geht,nämlich um die Staaten der EU.
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9420 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Johannes Selle
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Die Freiheit des öffentlichen Beitrages, die unerläss-lich für den politischen Dialog und das politische Ringenum den richtigen Weg, zur Aufklärung von Hintergrün-den und Verstrickungen und von vorteilhaften und nach-teiligen Wirkungen ist, wird auch kommerziell genutzt,und zwar mit vielen beklagenswerten Nebenerscheinun-gen. Terror, Rassismus, Gewaltverherrlichung, Neonazi-Ideologie, Pornografie und Entwürdigung von Frauenund Minderheiten gehören dazu.
Durch solche Themen kann ein demokratisches Gemein-wesen Schaden nehmen und ausgehöhlt werden.Wir sind in Deutschland noch nicht am Ende mit derDiskussion über das Löschen und Sperren von Internet-seiten. Wir haben in Europa einen guten Grund, weiterüber die Freiheit der Medien zu diskutieren, solange esfür besonders mutig gehalten wird, wenn die Bundes-kanzlerin anlässlich der Verleihung eines Medienprei-ses die Laudatio auf den dänischen KarikaturistenWestergaard hält. Es ist eine Tugend, die Freiheit derMedien zu beobachten, aber es ist keine Tugend, inheftigste Kritik zu verfallen, ohne den vollständigenGesetzestext überhaupt gelesen haben zu können.
Nach dem, was ich zum Beispiel über den so viel ge-scholtenen Medienrat im ungarischen Gesetz gefundenhabe – das habe ich im Original gelesen –, ist er von derRegierung unabhängig, vom Parlament mit zwei Drittelnzu wählen und dem Parlament jährlich rechenschafts-pflichtig.
– Hören Sie doch einmal genau zu. Sie haben gerade dieDominanz und die unausgewogene Berichterstattung an-gegriffen. – Außerdem wird er nur auf Anforderungenvon Bürgern tätig, die geltend machen, dass ihre politi-schen Argumente nicht dargestellt wurden. Ich kann esmir nur schwer vorstellen, dass ich es gut fände, wennradikale Gruppen in Deutschland die Darstellung ihrerArgumente erzwingen könnten. Schließlich können Ent-scheidungen des Medienrates gerichtlich überprüft wer-den, und zwar mit aufschiebender Wirkung.Aufgrund einiger Stellen, die ich in dem Gesetz ge-funden habe, könnten wir aus diesem Gesetz sogar nochetwas lernen:
In Art. 27 wird Parteien und politischen Bewegungenverboten, einen Mediendienst oder ein Programm zu fi-nanzieren.
Das sollten wir auf Italien und auch auf Deutschland an-wenden.Gemäß Art. 28 ist es verboten, dass audiovisuelleNachrichtensendungen und politische Informationssen-dungen Sponsoring annehmen.Art. 38 verpflichtet audiovisuelle Mediendienstleis-ter mit signifikantem Einfluss, zu Hauptsendezeitenwichtige Nachrichten zu senden. Hier drängt sich die Er-innerung an den Appell unseres Bundestagspräsidentenauf, den er mehrfach an das ZDF gerichtet hat.Ein solch komplexes Gesetz, das auch Begriffe ent-hält, die einer Interpretation unterliegen, lässt sich nichtsofort umfassend beurteilen. Die EU-Kommission istmit ihrem Apparat bis jetzt noch nicht zu einer Einschät-zung gekommen, und es bedarf auch Beispiele der An-wendung in der Praxis und der dazugehörigen Recht-sprechung, um eine ernste und berechtigte Kritik anUngarn zu richten.
Möglicherweise gibt es Nachbesserungsbedarf hin-sichtlich des Quellenschutzes und des Umgangs mit aus-ländischen Medienanbietern. Der ungarische Staatspräsi-dent Schmitt, der das Gesetz unterzeichnet hat,
äußerte in diesem Zusammenhang, dass sein Land alles,was es tue, an den gemeinsamen europäischen Standardsmesse.
Herr Selle, kommen Sie bitte zum Ende.
Ja, gleich. – Der ungarische Ministerpräsident bestä-
tigte mehrfach wie gerade erst gestern wieder, dass er
nach der juristischen Analyse zu Änderungen bereit ist.
Dies in aller Gelassenheit abzuwarten, ist das Gebot der
Stunde.
Eine Beeinträchtigung der EU-Ratspräsidentschaft durch
Vorurteile wollen wir jedenfalls nicht gelten lassen.
Herr Selle!
Unser Vertrauen gilt der ungarischen Demokratie undseinen Repräsentanten.
Dem sollten sich die Fraktionen anschließen und dieFreundschaft mit Ungarn festigen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9421
Johannes Selle
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Der Kollege Axel Schäfer hat jetzt das Wort für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Nach dem Beitrag meines Vorredners kann ich zunächsteinmal nur feststellen: Er hat all das, was der KollegeHoyer zum ungarischen Mediengesetz ausgeführt hatund was ich Wort für Wort unterstreiche, entweder nichtgehört, oder er ist völlig anderer Meinung.
Was dann die Freundschaft anbelangt, so hat einmalein wichtiger bayerischer Ministerpräsident gesagt: Esgeht immer auch um die Tapferkeit vor dem Freund. –Genau darum geht es: dass man auch unter Freunden inkritischen Fragen offen und solidarisch miteinander re-det, statt kritikwürdige Punkte unter den Teppich zu keh-ren.
Dass wir diese Debatte führen, hat auch damit zu tun,dass fast alle Journalistinnen und Journalisten inDeutschland, viele aus der Kultur, aber auch aus anderenBereichen, seit dem 23. Dezember dieses ungarische Ge-setz kritisieren, und das auch in vielen europäischenLändern. Aus Sicht meiner Fraktion ist es unsere Pflicht,das auch in unserem Parlament zum Thema zu machen.Genau das machen wir heute.
Ich war mit dem Kollegen Hofmann in Budapest. Wirhaben mit Regierungsvertretern, Abgeordneten und Me-dienvertretern gesprochen. Er hat bereits alles gesagt.Ich brauche das nicht zu wiederholen. Insofern spare ichwieder etwas seiner ein bisschen überzogenen Redezeitein.Es ist aber wichtig, dass wir das Gesetz auch im Kon-text sehen. Die Regierung wird von 43 Prozent derWahlberechtigten getragen. Sie hat 53 Prozent der Stim-men und 68 Prozent der Mandate, beansprucht aber100 Prozent der Macht. Das geht in keinem europäi-schen Land. Das geht nirgendwo.
Was die Kolleginnen und Kollegen von der CSU an-geht, die das in besonderer Weise verteidigen, kann ichnur sagen: Glück gehabt, Deutschland! Auch nachdemdie CSU in Bayern mal eine Zweidrittelmehrheit hatte,funktioniert die Demokratie.
– Überwiegend, okay. – Wir sind in Sorge, dass ange-sichts der Maßnahmen dieser Mehrheit die Demokratiein Ungarn auf Dauer nicht mehr funktioniert. Die Demo-kratie bemisst sich nämlich nicht nur an der Möglichkeit,als Regierung etwas gestalten zu können, sondern auchan der Möglichkeit, als Opposition und Minderheit Mei-nungen zu vertreten.
All das ist wirklich besorgniserregend. Auch wirmussten ja unsere eigene demokratische Tradition erstlernen und entwickeln. Selbstverständlich gibt es auchbei uns zu Recht bei Regierungswechseln Veränderun-gen im Personalbereich. Aber wir können immer nochauf die Loyalität und Gesetzestreue derjenigen bauen,die bei uns in der öffentlichen Verwaltung und den Re-gierungsapparaten tätig sind.
Aber Gesetze zu machen, aufgrund derer man selbst dieweniger wichtigen Referenten oder Referentinnen miteiner zweimonatigen Kündigungsfrist ohne Angabe vonGründen einfach auswechseln kann, hat nichts mit einerdemokratischen Kultur zu tun, die von Vielfalt lebt.
Es ist auch ein bisschen besorgniserregend, dass in ei-nem Parlament – wir kritisieren schließlich kein Land,sondern eine politische Partei – in sieben Monaten120 Gesetze teilweise nach dem Verfahren verabschiedetwurden, das der Kollege Hofmann beschrieben hat. Esgab acht Verfassungsänderungen, darunter eine, nach derdas Verfassungsgericht seiner Aufgabe nicht mehr nach-kommen darf. Nämlich: Gesetze auf ihre Verfassungs-konformität zu prüfen und gegebenenfalls Parlament undRegierung zu erklären, dass sie einen Gesetzentwurfvorgelegt oder verabschiedet haben, der nicht verfas-sungsgemäß ist. Das haben die Parlamentsmehrheit unddie Regierung in Ungarn so gemacht. Auch dazu müssenwir etwas sagen.
Wir befinden uns in Europa – das ist wichtig – in ei-ner demokratischen Gemeinschaft. Wir diskutieren hierals Europäerinnen und Europäer. Es war richtig, dasswir, als die Sozialdemokraten in der Slowakei mit einerpopulistischen Partei koaliert haben,
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9422 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Axel Schäfer
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nicht gesagt haben: „Wartet ab“, sondern diesen Sozial-demokraten das Stimmrecht in der sozialdemokratischenFamilie entzogen haben, weil wir Sorgen haben. Es istgut, dass wir nun das in Ungarn verabschiedete Medien-gesetz zumindest kritisieren, weil wir Sorgen haben.
Das drücken wir heute aus. Deshalb ist diese Debatte sogut und so wichtig.Vielen Dank.
Der Kollege Burkhardt Müller-Sönksen hat jetzt das
Wort für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Für uns Liberale ist die Freiheit der Medien nicht ver-handelbar; das sollte hier vorweg gesagt sein.
Lieber Herr Dr. Dehm, ich bin beschämt, dass Sieversuchen, dieses ernste und wichtige Thema in Europaauf Kommunismusschelte oder Kommunismushatz zureduzieren. Das hat dieses Thema nicht verdient.
Dass Sie versuchen, dieses Wort des Jahres – für michjedenfalls ist es ein Unwort – zum Diskussionsgegen-stand zu machen, ist unanständig. Belasten Sie dieseDiskussion nicht mit diesem Wort!
Ich danke Staatsminister Hoyer für seinen Beitrag,den ich für sehr ausgewogen halte. Ich verstehe ihn so,dass er damit im Interesse Deutschlands und Europas,aber auch – ohne bevormundend sein zu wollen – im In-teresse Ungarns einen Rat unter Freunden geben wollte.Das ist genau das, was wir tun und den Ungarn in großerDankbarkeit zurückgeben können. Genauso positivnehme ich auf, dass der ungarische MinisterpräsidentViktor Orban angekündigt hat, man sei bereit, das um-strittene Mediengesetz zu ändern, falls dies aus juristi-schen oder politischen Gründen notwendig sein sollte.
Angesichts der immer schärfer werdenden Kritik sollteer dieser Ankündigung auch Taten folgen lassen.Die ungarische Opposition, Journalisten jeglicherpolitischen Couleur, Künstler und Internetaktivisten de-monstrieren gegen das umfangreiche Gesetzeswerk.Obwohl es umfangreich ist, sprechen wir bereits heutedarüber. Lassen Sie uns zu einem späteren Zeitpunktnach gründlicher Analyse hierauf zurückkommen! DasEU-Parlament und auch wir im Bundestag sorgen unsfraktionsübergreifend um die Meinungsvielfalt und dieMeinungsfreiheit in Ungarn. Die ungarische Regierungdarf den erfolgreichen Weg hin zu einer tragfähigendemokratischen Struktur nicht verlassen, indem sie dieUnabhängigkeit der Medien zur Disposition stellt.
Für mich als Liberalen sind die Freiheit der Presseund die Unabhängigkeit aller Medien unverzichtbareVoraussetzung demokratischer Meinungsbildung. DieFDP versteht sich in langer Tradition als Hüter der Me-dienfreiheit. Wir sind alarmiert und setzen uns seit Wo-chen auf EU-Ebene und, wie Staatsminister Hoyer so-eben anschaulich beschrieb, über die deutsche Außen-politik vehement für Änderungen am ungarischen Me-diengesetz ein.Die EU-Kommission prüft derzeit die Vereinbarkeitdes Mediengesetzes mit den EU-Verträgen. Dieser Prü-fung sollten wir keinesfalls vorgreifen. Aber es gehtnicht nur um eine juristische, sondern auch um eine poli-tische Überprüfung. Wir sollten immer der politischenund nicht der juristischen Bewertung den Vorrang geben.Wir sollten eben nicht allein auf die Kommissionschauen,
sondern aufzeigen, wo das ungarische Mediengesetz de-mokratische Werte verletzt, und entsprechende Änderun-gen einfordern.
Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit inEuropa, OSZE, weist auf die Verletzung ihrer Kriterienzur Medienvielfalt hin. Staatsminister Hoyer hat ebenschon ausgeführt, dass es dort Ansatzpunkte der Kritikgibt.Lassen Sie mich konkrete Beispiele nennen. Nunmehrgibt es in Ungarn eine nationale Medien- und Kommuni-kationsbehörde. Diese Zentralbehörde bündelt alle Re-gulierungs- und Aufsichtsaufgaben unter einem Dach.Die Leitung dieser mächtigen Behörde wird auf neunJahre direkt vom Ministerpräsidenten ernannt. ErsteAmtsinhaberin ist – für mich wenig überraschend – einelangjährige Medienpolitikerin der Regierungspartei. Ne-ben der Leitung der Medienbehörde obliegt ihr ebenfallsdie Leitung des Medienrates, der für die Programmkont-rolle der Medien zuständig ist. Wenn Regulierung undInhaltskontrolle in den Händen einer einzelnen Personliegen, die ihr Amt auch noch vom politischen Mehr-heitsführer erhält, ist es um die Meinungsvielfalt sehrschlecht bestellt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9423
Burkhardt Müller-Sönksen
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Die ungarische Regierung verteidigt sich mit demHinweis auf vergleichbare Strukturen in anderen euro-päischen Ländern. Zwar kritisiere ich als medienpoliti-scher Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion die Staats-nähe einiger deutscher Medien immer wieder scharf. Wirstreiten in Deutschland aber darüber, wie die Selbstkon-trolle der Medien noch staatsferner organisiert werdenkann. Bereits jetzt werden die Aufsichtsgremien plura-listisch durch die gesellschaftlich relevanten Gruppengebildet. Insofern verbietet sich glücklicherweise einVergleich Ungarns mit Deutschland, nicht nur mit Nord-rhein-Westfalen.Dies gilt auch für Vergleiche im Hinblick auf journa-listischen Quellenschutz. Im Gegensatz zur ungarischenRegierung haben wir diesen Schutz erst kürzlich erhöht.Wir vertrauen darauf, dass der investigative Journalis-mus einen unverzichtbaren Beitrag zur demokratischenKontrolle unseres Staates liefert. In Ungarn hingegendürfen seit dem 1. Januar 2011 Informationen über dieIdentität der Quelle geheimer Daten nicht mehr vertrau-lich gehalten werden, sofern es sich um widerrechtlichqualifizierte Daten handelt oder nationale Interessen da-von berührt sind.Ich komme zum Schluss. Liebe Kolleginnen und Kol-legen, wir alle haben uns schon einmal über eine – nen-nen wir es einmal so – unausgewogene Berichterstattungin den Medien geärgert. Diese müssen wir aber aushal-ten. Die Medien leisten einen unverzichtbaren Beitragzum demokratischen Meinungsaustausch. Wer die Frei-heit der Medien beschneidet, der schadet der Demokra-tie.Vielen Dank.
Jürgen Hardt hat das Wort für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Was Herr Dehm hier heute vorgetragen hat, hat mich von
allen Beiträgen am meisten erschüttert.
Denn er hat sich hier als der Hüter und Wächter der
Menschenrechte weltweit profiliert.
Vor zehn Tagen habe ich in der Zeitung gelesen, dass
anlässlich einer Demonstration von sieben Personen bei
einer großen Veranstaltung der Linken hier in Berlin
diese sieben Kritiker weggeprügelt wurden, darunter
auch unsere frühere Kollegin Vera Lengsfeld. So geht
die Linke mit Menschen, die in Deutschland demokrati-
sche Rechte für sich in Anspruch nehmen, um. Deswe-
gen finde ich Ihren Beitrag nicht besonders glaubwürdig.
– Ich muss mich korrigieren. Das war eine Veranstaltung
der Linken-nahen Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Dehm zulassen?
Bitte schön.
Bitte schön, Herr Dehm.
Ich bin froh, dass meine Zwischenfrage zugelassen
wird. – Herr Hardt, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu neh-
men, dass es weder eine Veranstaltung der Partei Die
Linke noch der Rosa-Luxemburg-Stiftung, sondern der
unabhängigen linken Zeitung Junge Welt war?
Herr Dehm, Gegenfrage: Sind Sie bereit, sich von der
Gewalt gegen die Demonstranten bei dieser Veranstal-
tung zu distanzieren?
Nein, das können Sie nicht. Das dürfen Sie nicht.
Ich möchte an die Adresse der Linken einfach Fol-gendes sagen: Die mit dem Zaun durch Europa warendie Kommunisten, und die mit der Zange waren die Un-garn. Deswegen lassen wir auf die Ungarn nichts kom-
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9424 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Jürgen Hardt
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men. Ich habe keinen Zweifel daran, dass die Ungarn einVolk sind, das mit seinen demokratischen Grundrechtengut umgehen kann.
Ich komme zum Thema zurück. Angesichts der lan-gen Geschichte, die Deutschland und Ungarn gemein-sam haben, und der Tatsache, dass die Ungarn gegen-wärtig die enorme Verantwortung haben, Europa indieser schwierigen Zeit zu führen, sollten wir in dieserPhase sehr sorgfältig mit Vorurteilen im Hinblick auf be-stimmte demokratische Entwicklungen in Mitgliedstaa-ten der Europäischen Union umgehen. Es ist geradezuein Beispiel für das Funktionieren der EuropäischenUnion, dass bei einem Projekt wie der Mediengesetzge-bung in Ungarn, das nicht nur bei mir, sondern, wie ichdenke, bei allen hier im Hause Bauchgrummeln auslöst,
der Ministerpräsident von Ungarn in einem kurzen Ge-spräch mit dem Kommissionspräsidenten zu folgendemErgebnis kommt: Die Kommission prüft das, und wirsetzen uns anschließend damit auseinander und werdenauf der Grundlage einer freundschaftlichen, sachlichenund juristischen Bewertung die Dinge beurteilen.
Ich finde, das ist eine ausgezeichnete Vorgehensweise.Der Deutsche Bundestag ist nicht der Aufsichtsrat desungarischen Parlaments.
Ich bin auch nicht als Abgeordneter des Deutschen Bun-destages gewählt worden, um mir die 200-seitige engli-sche Übersetzung eines ungarischen Mediengesetzesdurchzulesen.
Ich finde es wunderbar, dass man solche Dinge in derEuropäischen Union mittlerweile auf diese friedlicheWeise regelt.Ich glaube, mit ein bisschen weniger Schaum vor demMund bei diesem Thema könnten wir zu guten, konkre-ten, freundschaftlichen Ratschlägen an die Ungarn kom-men, die vielleicht sogar ihre Unterstützung und Zustim-mung finden könnten.Wir haben zum Beispiel in Deutschland gute Erfah-rungen mit den Mechanismen von freiwilligen Selbst-bindungen der Presse, von Ehrenkodexen, von Presse-kodexen gemacht, in denen steht, was sauberer undordentlicher Journalismus ist. Da gibt es das Recht derGegendarstellung; man fühlt sich zur Wahrheit ver-pflichtet und verzichtet auf die Anwendung unlautererMethoden. Vielleicht ist das ein Weg, den die ungarischePolitik gehen könnte, wenn es darum geht, dieses Gesetzein Stück weit zu ergänzen und sicherzustellen, dass estatsächlich nicht gegen die Medien eingesetzt werdenkann.Ich erwarte von den Entscheidungen der nächstenTage, genauer gesagt von der Vorlage des Berichts derKommissarin Kroes, wesentliche Aufschlüsse darüber,an welchen Punkten wir uns näher mit dem Gesetz be-fassen müssen. Das werden wir sicherlich in aller Aus-führlichkeit tun, ohne dass wir hier eine polemische Ver-anstaltung durchführen, wie wir es vor einigen Jahren imFall Österreichs getan haben,
und zwar ohne dass es den Österreichern oder uns oderder europäischen Idee in irgendeiner Weise genutzthätte.Danke schön.
Damit schließe ich die Aussprache.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 e auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Be-kämpfung der Zwangsheirat und zum besse-ren Schutz der Opfer von Zwangsheirat sowiezur Änderung weiterer aufenthalts- und asyl-rechtlicher Vorschriften– Drucksache 17/4401 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Auswärtiger AusschussRechtsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfeb) Erste Beratung des von den AbgeordnetenRüdiger Veit, Daniela Kolbe , GabrieleFograscher, weiteren Abgeordneten und der Frak-tion der SPD eingebrachten Entwurfs einesGesetzes für ein erweitertes Rückkehrrecht imAufenthaltsgesetz– Drucksache 17/4197 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfec) Beratung des Antrags der Abgeordneten MemetKilic, Volker Beck , Ekin Deligöz, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENOpfer von Zwangsverheiratungen wirksamschützen durch bundesgesetzliche Reformenund eine Bund-Länder-Initiative– Drucksache 17/2491 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9425
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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d) Beratung des Antrags der Abgeordneten JosefPhilip Winkler, Volker Beck , MemetKilic, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENResidenzpflicht abschaffen – Für weitestge-hende Freizügigkeit von Asylbewerbern undGeduldeten– Drucksache 17/3065 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfee) Beratung des Antrags der Abgeordneten UllaJelpke, Jan Korte, Sevim Dağdelen, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion DIE LINKEMenschenrecht auf Freizügigkeit ungeteiltverwirklichen– Drucksache 17/2325 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeZwischen den Fraktionen ist verabredet worden, eineStunde zu debattieren. – Dazu sehe und höre ich keinenWiderspruch. Dann ist das so beschlossen.Das Wort hat der Parlamentarische StaatssekretärDr. Ole Schröder.
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Der Gesetzentwurf, über den wir heute beraten,dient der Präzisierung unserer Rechtsordnung, um nochvorhandene Defizite bei der Integration zu beheben.Immer noch sind zu viele Menschen, die schon langebei uns leben, nicht ausreichend integriert. Integration istdie Voraussetzung für tragbare Lebensperspektiven. EineIntegration der Migrantinnen und Migranten ist aberauch Voraussetzung für Akzeptanz in der Bevölkerungin Bezug auf Zuwanderung in unser Land.Es ist nicht zu akzeptieren, wenn durch mangelnde In-tegration, insbesondere durch mangelnde Deutschkennt-nisse, Menschen mit Migrationshintergrund nicht amgesellschaftlichen Leben teilhaben können, wenn Men-schen mit Migrationshintergrund keinen Zugang zumArbeitsmarkt haben und dadurch abhängig von Sozial-leistungen sind.Die Bundesregierung und die Koalition reagieren aufdiese Mängel mit dem Prinzip des Forderns und För-derns. Auf der einen Seite machen wir den Integrations-und Leistungswilligen Angebote, um ihnen die Integra-tion bei uns zu erleichtern. Wir verbessern den Schutzder Menschen in unserem Land, die schutzbedürftigsind. Auf der anderen Seite sanktionieren wir diejenigen,die nicht bereit sind, sich bei uns zu integrieren, die un-sere Werteordnung ablehnen.Integrationsverweigerer müssen damit rechnen, dasssie Sanktionen spüren. Diejenigen, die unsere ausge-streckte Hand ausschlagen, müssen mit Sanktionen rech-nen. Das wird an unserem Gesetzentwurf deutlich. Wirverbessern die Regeln zur Bekämpfung von Zwangshei-rat. Wir führen ein eigenständiges Rückkehrrecht fürVerschleppte ein, wenn sie in Deutschland integriertwaren. Opfer von Zwangsheirat sollen drei Jahre dieMöglichkeit haben, die Aufhebung der Zwangsehe zubeantragen. Außerdem schaffen wir einen eigenenStraftatbestand Zwangsheirat. Das ist ein deutliches Si-gnal, dass Zwangsheirat in unserem Land auch nichtdurch kulturelle Differenz entschuldbar ist.
Zwangsheirat ist strafbares Unrecht, das mit unsererWerteordnung nicht vereinbar ist. Es ist richtig, dass wirhier einen eigenen Straftatbestand schaffen,
um auch der Appellfunktion des Strafrechts Ausdruck zuverleihen. Es ist eben ein Unterschied,
ob es sich um einen Teil eines anderen Straftatbestandeshandelt oder ob künftig jedes Mädchen sagen kann: Esgibt hier den Straftatbestand der Zwangsheirat; das istUnrecht.
Zur Politik des Förderns gehört, dass wir die räumli-chen Beschränkungen für Asylbewerber und Geduldetezur Ermöglichung der Aufnahme einer Beschäftigung,einer Ausbildung oder eines Studiums weiter lockern.Zur Politik des Forderns gehört die neue Regelung zurBekämpfung von Scheinehen. Der Nachzug von Ehegat-ten ist einer der häufigsten Zuwanderungsgründe. Wirhaben in unserem Land in erheblichem Umfang Schein-ehen, durch die ein Aufenthaltstitel erschlichen wird.Die Dunkelziffer ist erheblich.
Die Mindestbestandszeit der Ehe, die erforderlich ist, umeinen eigenständigen Aufenthaltstitel zu begründen,werden wir daher auf drei Jahre verlängern. Dadurchwird der Anreiz, eine Scheinehe einzugehen, verringert.Auch die Möglichkeit der Aufdeckung von Scheinehenwird erheblich gesteigert.
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9426 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
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Herr Schröder, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kilic zulassen?
D
Bitte.
Bitte schön.
Herr Schröder, Sie haben uns mit einem wunderbaren
Satz beglückt: Die Dunkelziffer ist erheblich. Wie hoch
soll diese Dunkelziffer sein? Wenn es dunkel ist, ist es
dunkel. Wie haben Sie bemerkt, dass sie so hoch ist?
Wie haben Sie das erkannt? Welche Datenlage hatten
Sie, um feststellen zu können, dass diese Dunkelziffer
hoch ist?
D
Das ergibt sich allein aus dem Delikt. Wenn sich zwei
Personen einig sind, eine Scheinehe einzugehen, um ei-
nen Aufenthaltstitel zu erschleichen, ist der Fall anders
als bei Delikten, bei denen es einen Täter und einen Ge-
schädigten gibt; in letzterem Fall hat der Geschädigte ei-
nen großen Anreiz, sich an die Polizei zu wenden. Bei
Straftatbeständen, bei denen zwei Personen zusammen-
arbeiten, um eine Straftat zu begehen, und keine Persön-
lichkeit da ist, der unmittelbar ein Schaden entstanden
ist, ist die Dunkelziffer extrem hoch.
Das gleiche Phänomen tritt beispielsweise auch bei
Rauschgiftdelikten auf; auch da gibt es keinen unmittel-
bar Geschädigten. Insofern ist es eine kriminalistische
Selbstverständlichkeit, dass die Dunkelziffer bei solchen
Straftaten hoch ist.
Herr Kollege, auch Herr Montag würde Ihnen gerne
noch eine Zwischenfrage stellen.
D
Ich möchte jetzt gerne fortfahren.
– Bitte, Herr Montag. Wenn Sie noch einen weiteren As-
pekt haben, gerne.
Herr Montag, bitte schön.
Ich danke Ihnen sehr, dass Sie die Zwischenfrage
doch zulassen. – Sie haben auf die Frage meines Kolle-
gen Kilic geantwortet, dass dieses Delikt – zwei Perso-
nen vereinbaren eine Scheinehe – strukturell im Dunkeln
ist, solange nicht einer von beiden etwas offenlegt. Das
ist selbstverständlich; das bestreiten wir nicht. Wenn so
etwas geschieht, dann geschieht es im Dunkeln. Aber Sie
sagen, dass es oft geschieht, dass es eine hohe Dunkel-
ziffer gibt. Wir haben Sie nicht gefragt, aus welchen
Gründen Sie der Meinung sind, dass das eine Tat ist, die
sich im Dunkeln abspielt, sondern wir haben Sie gefragt:
Wie kommen Sie eigentlich dazu, zu sagen, dass dies so
oft passiert? Könnten Sie das beantworten?
D
Dass die Dunkelziffer hoch ist, sieht man daran, dassallein die Zahl der aufgeklärten Straftaten erheblich ist.Es sind über 1 000 im Jahr. Daraus lässt sich dieSchlussfolgerung ziehen, dass natürlich auch die Dun-kelziffer entsprechend hoch ist.
Ich denke, das ist eine Selbstverständlichkeit, lieber HerrKollege Montag.Ich möchte aber deutlich machen, dass auch an beson-dere Härten gedacht ist. Wenn keine Scheinehe besteht,wird natürlich eine Ausnahme von dem Erfordernis derMindestbestandszeit gemacht, zum Beispiel bei körperli-cher und psychischer Gewalt. Das war auch bisher schonder Fall.Unsere Rechtsordnung enthält die Verpflichtung zurIntegration. In den Integrationskursen werden daherSprachkenntnisse, das Alltagswissen sowie Kenntnisseunserer Rechtsordnung, Kultur und Geschichte vermit-telt. Deshalb ist der Besuch solcher Integrationskurseauch so wichtig. Die Kontrolle des Besuchs dieser Inte-grationskurse wird durch den Gesetzentwurf verbessert.Die Feststellung der Ausländerbehörden, ob ein Auslän-der seiner Pflicht nachkommt, wird verpflichtend. Wich-tig ist, dass der Nichtbesuch der Integrationskurse Sank-tionen nach sich zieht, bis hin zur Ablehnung derVerlängerung des Aufenthaltstitels.Ich möchte gerne noch auf den Vorschlag eingehen,der im Bundesrat verabschiedet wurde, nämlich dass eineigenständiges Aufenthaltsrecht für Jugendliche ge-schaffen werden soll, die schon lange in Deutschland le-ben und hier die Schule besucht haben, einen Schulab-schluss gemacht haben und dadurch gut integriert sind.Diese Jugendlichen sollten eine Perspektive haben.Auch das entspricht wieder unserem Prinzip des För-derns und Forderns. Diese Jugendlichen sind gutintegriert. Sie haben eine Perspektive in Deutschland.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9427
Parl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder
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Deshalb unterstützen wir auch den Vorschlag des Bun-desrates, diesen Jugendlichen einen eigenständigen Auf-enthaltstitel zu geben.
Der Kollege Rüdiger Veit hat jetzt das Wort für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir sprechen heute über eine Reihe von Gesetzgebungs-vorschlägen aus den Reihen von SPD, Bündnis 90/DieGrünen und Linkspartei, aber auch über einen Vorschlagder Bundesregierung, der das Ganze sozusagen thema-tisch zusammenbindet. Ich will versuchen, so abgewo-gen, wie mir das möglich ist, dazu Stellung zu nehmen.Zunächst einmal, Herr Kollege Dr. Schröder: WennSie in diesem Gesetzentwurf der Bundesregierung Dingegeregelt haben wollten oder wollen, die entweder eineVerbesserung der Integration bedeuten oder aber zusätz-liche Sanktionen schaffen, dann hätte ich etwas überle-sen. Das würde mir leidtun; dem könnte ich möglicher-weise nur sehr bedingt, nämlich was die Verbesserungder Integrationskurse angeht, zustimmen.Ich habe das bisher so verstanden, dass es sich dabeiim Wesentlichen um den Hinweis an die Verwaltungsbe-hörden – vor allen Dingen die Ausländerbehörden – han-delt, dass sie das Gesetz anzuwenden haben; denn dassdie Frage der Integration bei der Verlängerung oder Er-teilung von Aufenthaltserlaubnissen eine Rolle spielt,steht bereits drin. Soweit es hier um eine neue Rechts-grundlage für den Datenaustausch zwischen den Betei-ligten geht oder gehen soll, habe ich nichts dagegen. Al-lerdings ist der Nutzen nur schwer zu erkennen; denn imGrunde genommen spricht auch jetzt nichts dagegen,dass sich die Betroffenen über Daten austauschen. Spä-testens wenn ein Integrationskurs abgerechnet werdenmuss, ist klar, wer wo teilgenommen hat und wer nicht.Aber gut, es ist Ihre Sache, wenn Sie das noch einmalausdrücklich ins Gesetz hineinschreiben wollen. Esschadet nichts, es nützt aber auch nichts.Zweitens. In Bezug auf die Frage des Rückkehrrechtswerden Sie mir nicht verübeln, dass ich dafür eintrete,den SPD-Gesetzentwurf, der sich nämlich genau auf die-sen Punkt beschränkt, zu präferieren und letztendlichauch zu verabschieden. Ich bin zunächst einmal froh,dass Sie die Frage des Rückkehrrechts überhaupt aufge-griffen haben. Ich erinnere mich noch an die Zeit, als wirin der Großen Koalition darum gerungen haben. Da istuns immer gesagt worden: Das machen wir als Unionnur mit einem Gegengeschäft, nämlich gegen die Verlän-gerung der Mindestbestandszeit der Ehe bei der Erlan-gung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts.
– So kommt es. Ich habe seinerzeit immer die Meinungvertreten – die Auffassung hat sich nicht geändert, HerrKollege Grindel –: Das ist eigentlich ein ziemlich unsitt-liches Verlangen. Das erinnert mich ein bisschen anKoalitionsverhandlungen mit den Grünen auf kommuna-ler Ebene: Genehmigung der Umgehungsstraße gegenFörderung des Frauenhauses oder so etwas Ähnliches. –Beides hat miteinander überhaupt nichts zu tun!Wenn Sie gegen Zwangsheirat sind, dann müssen Siekonsequenterweise in erster Linie den Opfern helfen unddafür sorgen, dass sie sich aus dieser Zwangslage be-freien können.
Dazu gehört nun einmal zwingend das Rückkehrrecht.Dabei nehmen Sie im Gesetzentwurf Einschränkun-gen vor, die ich nicht nachvollziehen kann. Warum musseine Person, die schon hier gelebt hat und einen Aufent-haltstitel hatte, dann aber Opfer von Zwangsheiratwurde, erst noch einmal nachweisen, dass sie eine posi-tive Integrationsprognose hat? Ich dachte, es gehe da-rum, den Opfern zu helfen, ohne zusätzliche Hürden auf-zubauen. Insofern würde ich sagen: Sie sind da zwar aufdem richtigen Weg, aber ein bisschen zu kurz gesprun-gen. Ähnliches gilt übrigens auch bei dem Punkt, dassdas nur innerhalb von fünf bzw. zehn Jahren möglichsein soll.Ich komme zum nächsten Punkt: Strafbarkeit. Rot-Grün hat bereits im Februar 2005 den § 240 Abs. 4 desStrafgesetzbuchs geändert und Zwangsheirat dort aus-drücklich unter Strafe gestellt. Sie wollen das jetzt untereiner neuen Überschrift zusammenfassen. Ich sage Ihnendazu einmal meine höchstpersönliche Auffassung unddie einiger, aber bei weitem nicht aller Rechtspolitiker:Notwendig ist das nicht, aber es schadet auch nichts. Un-ter generalpräventiven Gesichtspunkten wird möglicher-weise gedacht: Jemand, der diese Überschrift im Straf-gesetzbuch und auch im Inhaltsverzeichnis liest, lässtsich eher davon abhalten, eine Zwangsheirat zu arrangie-ren oder eine solche als Beteiligter und Täter zugleicheinzugehen. – Das ist ein frommer Wunsch. Dass dasletztendlich eine entsprechende Wirkung hat, kann manbezweifeln, aber, wie gesagt, man kann eigentlich auchnichts dagegen haben.Dann komme ich zu einem weiteren Punkt, der Resi-denzpflicht. Da gehen die Anträge von Bündnis 90/Die Grünen und von der Linkspartei ganz offensichtlichweiter als der Regierungsentwurf. Auch hierzu meinepersönliche Auffassung. Ich glaube, auch als ehemaligerKommunalpolitiker: Man kommt nicht umhin, geradeim Zuge einer gerechten Verteilung auf die Gebietskör-perschaften, zu sagen: Eine Wohnortzuweisung – eineWohnortzuweisung! –, verbunden mit der Regelung, wound durch wen Unterstützung geleistet wird, ist in Ord-nung. Die wollen wir auch gar nicht abschaffen; sonstgibt es Verwerfungen, auch und gerade zwischen man-chen Flächenländern und Stadtstaaten. Aber ich persön-lich habe eigentlich nie den Nutzen der Regelung gese-hen, nach der jemand, der beispielsweise in Potsdam
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Rüdiger Veit
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oder etwas südlich davon wohnt und einmal ins nördli-che Brandenburg will und zu dem Zweck mit öffentli-chen Verkehrsmitteln sinnvollerweise das Berliner Stadt-gebiet durchquert, im Prinzip schon einen Verstoß gegenseine Residenzpflicht begeht. Von daher könnte ich mirvorstellen, dass die Residenzpflicht, also die Anordnung:„Du darfst dich nur in einem bestimmten Bezirk, einerStadt, einer Gemeinde, einem Landkreis aufhalten“, er-satzlos abgeschafft werden kann.
Wohlgemerkt: Korrespondieren muss das mit einer kla-ren Wohnsitzzuweisung, damit die Frage der Kostenträ-gerschaft eindeutig ist.Von daher enthält dieser Gesetzentwurf der Bundes-regierung Licht und Schatten. Er geht in manchen Punk-ten – ich nannte schon die Residenzpflicht und dasRückkehrrecht – nicht weit genug. Zur Datenübermitt-lung hatte ich schon etwas gesagt. Ich fasse zusammen:Das ist im Prinzip nicht schädlich, geht auch heute schonso; dazu bräuchte man das Gesetz eigentlich nicht zu än-dern.Noch einmal zu der unseligen Verknüpfung von Wie-derkehrrecht und Ehebestandszeit: Das ist eigentlicheine unsittliche Verknüpfung, ein unsittliches Ansinnen.Dazu wird meine Kollegin Aydan Özoğuz anschließendnoch eingehend sprechen, sodass ich mir jede weitereAusführung hierzu versage und Sie herzlich bitte, viel-leicht den einen oder anderen Punkt aus den Gesetzent-würfen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Linkspar-tei in die Beratung aufzunehmen. Sie könnten auf demrichtigen Wege noch ein wenig gute Begleitung, Hin-weise und Mitwirkung gebrauchen. Wir jedenfalls wärendazu gern bereit.Danke sehr.
Hartfrid Wolff hat das Wort für die FDP-Fraktion.
Hartfrid Wolff (FDP):Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!Zwangsheirat ist kein Kavaliersdelikt.
Oft hat sie schreckliche Folgen für die Betroffenen. DieGleichberechtigung der Frau ist einer der wesentlichenBestandteile unserer Rechts- und Werteordnung, derenVermittlung auch eine der entscheidenden Integrations-aufgaben ist. Integration funktioniert nur bei Respekt vordieser Werteordnung.In großfamiliären Strukturen mit altertümlichen Bräu-chen bestehen zusätzliche Zwangslagen für junge Men-schen. Falsche Traditionen oder intolerante kulturelleKonventionen verhindern eine unabhängige Lebensge-staltung – vielfach lebenslänglich. Zwangsheiraten sinddabei kein Einzelphänomen – auch nicht in Deutschland.Erfahrungen zum Beispiel aus Berlin, aber auch aus Flä-chenländern wie Baden-Württemberg oder Bayern zei-gen, dass es leider viel zu viele junge Frauen gibt, die ineiner Zwangsehe leben müssen. Der besondere psychi-sche Druck, der auf Mädchen und jungen Frauen in derZwickmühle zwischen familiärer Solidarität und eigenerSelbstbestimmung lastet, ist hier sehr groß.Auch wenn die Zwangsheirat bereits jetzt im Rahmender Nötigung strafbar ist, ist den betroffenen Familienmeist nicht bewusst, dass elterliche oder geschwisterli-che Vorschrift des Ehepartners in der deutschen Rechts-ordnung nicht toleriert wird. Den Eltern und Familienan-gehörigen muss ausdrücklich die kriminelle Dimensionsolchen Tuns klar sein. Die selbstbestimmte Lebensge-staltung, die Freiheit, einen Ehepartner selbst aussuchenzu können, braucht den besonderen Schutz eines eigenenStraftatbestandes.Aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion ist allerdingsdie Verbesserung des Opferschutzes besonders wichtig.Wir werden eben nicht nur die Täter bestrafen, sondernauch den Opfern wieder eine Perspektivchance geben.Es muss ein eigenständiges Wiederkehr- bzw. Rückkehr-recht für ausländische Opfer von Zwangsverheiratungengeben. Gerade die Verschleppung in ein fremdes Landverschärft diese Zwangslage noch.Die bisherige Regelung, wonach der Aufenthaltstitelauch für verschleppte junge Frauen nach sechs Monatenautomatisch erlischt, ermöglicht es, diese Zwangslagenoch stärker auszunutzen und Frauen jede Fluchtper-spektive zu nehmen. Nachdem über das Rückkehrrechtnun schon sehr lange diskutiert wird und es weder Rot-Grün noch Rot-Schwarz gelungen ist, diese Problemeanzupacken, ist es der christlich-liberalen Koalition nunzu verdanken, dieses wichtige Opferschutzrecht für dieBetroffenen geschaffen zu haben.
Jetzt erhalten Opfer von Zwangsheirat und Verschlep-pung wieder eine Chance, sich zu befreien. Dem dientauch die Verlängerung der Antragsfrist für die Aufhe-bung der Ehe.
Der Gesetzentwurf ist ein Signal für eine Abkehr vonideologischer Zuwanderungs- und Integrationspolitik.Die Koalition aus FDP und CDU/CSU geht ohne Scheu-klappen die bestehenden Defizite der Integrationspolitikan, um die Chancen der Zuwanderung für unser Landbesser zu nutzen. Dazu gehört auch, die Grundwerte un-serer Rechtsordnung gegenüber Praktiken aus Her-kunftsländern durchzusetzen, die mit dem deutschenRecht nicht vereinbar sind.Im Zuge dieser Verbesserungen haben wir der Verlän-gerung der Ehemindestbestandszeit auf drei Jahre zurErlangung eines eigenständigen Aufenthaltstitels zuge-
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Hartfrid Wolff
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stimmt. Das ist auf Kritik bei Opferverbänden, Kirchenund Nichtregierungsorganisationen gestoßen.
Wir nehmen diese Besorgnis sehr ernst und werden auchin Zukunft auf die Wirkung dieser Regelung genau ach-ten. Leider hat die im Jahre 2000 von Rot-Grün durchge-setzte Absenkung der Ehemindestbestandszeit von vierauf zwei Jahre die Möglichkeit für Scheinehen erweitert.Dem will die Koalition entgegensteuern.
Opfern häuslicher Gewalt, die es leider in viel zu gro-ßer Zahl gibt und die in der Regel als Argument gegendie Anhebung der Ehemindestbestandszeit angeführtwerden, kann durch die Härtefallregelung nach wie vorgeholfen werden. Wir mahnen an, dass die Ausländerbe-hörden zu einer großzügigen Handhabung gerade imSinne der Opfer von Zwangsheirat kommen.Wir lockern die Residenzpflicht für Geduldete undAsylbewerber, um ihnen die Aufnahme einer Beschäfti-gung, Ausbildung oder eines Studiums bzw. den Schul-besuch zu erleichtern. Damit steigern wir die Chancenvon jungen Migranten, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zufassen und sich in unsere Gesellschaft zu integrieren.Die Koalition wird durch Fördern und Fordern dieChancen der Zuwanderung für unser Land besser er-schließen. Ziel bleibt, den Zusammenhalt unserer durchZuwanderer bereicherten Gesellschaft zu stärken.Ich danke Ihnen.
Sevim Dağdelen spricht jetzt für die Fraktion Die
Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um ei-nes vorwegzunehmen: Ihnen, sehr geehrte Damen undHerren von der Bundesregierung und von den Regie-rungsfraktionen, geht es nicht um die betroffenenFrauen, wie es hier immer wieder gesagt wurde. Nein,Sie haben kein Herz für zwangsverheiratete Personen.
Sie wollen auch nicht ernsthaft etwas gegen Zwangsver-heiratungen tun.Es nimmt Ihnen auch niemand ab, dass Sie plötzlichfür die Rechte von Frauen kämpfen, wo doch gerade Sieseit Jahren alles an Gleichstellungspolitik verhindert ha-ben und immer noch verhindern. Deshalb protestiertenheute vor dem Reichstag zahlreiche Frauenrechtsorgani-sationen und andere Vereine aufgrund des Aufrufs vonTerre des Femmes gegen Ihren frauenfeindlichen Ge-setzentwurf. Die Linke ist auf der Seite dieser Frauen-rechtsorganisationen.
Ihnen geht es nur um eines: Sie wollen die Notlagenvon Frauen dafür nutzen, um Ihre hässliche Abschot-tungspolitik zu kaschieren; denn Sie wollen immer nochFamilienzusammenführungen in Deutschland verhin-dern.Bereits im August 2007 wurde das Argument der Be-kämpfung von Zwangsverheiratungen angeführt, um denEhegattennachzug einzuschränken. Da führte die GroßeKoalition aus CDU/CSU und SPD den Zwang ein, diedeutsche Sprache bereits im Ausland zu erlernen.
Das vorgegebene Motiv war die Bekämpfung vonZwangsverheiratungen, und das war scheinheilig. Denndurch diese Maßnahme wurde bis heute kein einzigerFall von Zwangsverheiratung verhindert. Es fehlt jegli-cher Beweis seitens der Bundesregierung, dass dieseMaßnahme irgendeine Zwangsverheiratung verhinderthätte.
Was hier als Opferschutz getarnt war, Herr Grindel,zielte ganz einfach auf die Verhinderung von Einwande-rung. Und Ihr Ziel haben Sie auch erreicht: Vor derVerschärfung des Ehegattennachzugs konnten noch40 000 Menschen von ihrem Grundrecht auf Ehe- undFamilienzusammenführung Gebrauch machen.
2009 waren es nur noch 33 000. Das ist ein Rückgangum 16 Prozent.
Wir sagen: Das ist keine familienfreundliche Politik,nein, das ist eine familienfeindliche Politik der Bundes-regierung.Die Bundesregierung zeigt erneut, dass es ihr weiter-hin nicht um die betroffenen Frauen geht. Denn wasschlägt sie vor? Sie schlägt vor, die Ehebestandszeit vonzwei auf drei Jahre zu erhöhen. Damit werden Frauen,die in gewalttätigen Beziehungen oder Gewaltverhältnis-sen leben, aus Angst vor dem Verlust des Aufenthalts-titels oder vor einer Abschiebung gezwungen, ein Jahrlänger in dieser Gewaltsituation auszuharren. Ich ver-stehe einfach Ihre Logik nicht. Sie begründen Ihre Ge-setzesmaßnahme damit,
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9430 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Sevim Daðdelen
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Sevim Dağdelendass Sie behaupten, die Anzahl der Scheineheverdachts-fälle sei höher als im Jahr 2000. Auch das stimmt nicht.Das ist glatt gelogen. Auf meine Anfrage an die Bundes-regierung vom 25. November 2010 konnte sie nichtleugnen, dass die Zahl der Tatverdächtigen bei Schein-ehen im Jahr 2009 mit 1 698 Personen nicht einmal einDrittel so hoch war wie im Jahr 2000 mit 5 269 Fällen,also in dem Jahr, in dem die Ehebestandszeit von vierauf zwei Jahre reduziert wurde. Jetzt wollen Sie die Zeitverlängern, obwohl die Zahl der Verdachtsfälle wesent-lich weniger geworden ist. Wo ist eigentlich die Logikbei Ihnen? Es gibt gar keine Logik. Sie nehmen in Kauf,dass die Frauen länger in Gewaltsituationen bleiben.Deshalb finde ich das nicht nur unlogisch, sondern un-menschlich. Es ist skandalös, was Sie hier vorhaben.Sie verstoßen nicht nur gegen jedweden Grundsatzvon Humanität, Sie verstoßen auch gegen europäischesRecht. Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofsvom 9. Dezember 2010 verstößt die Erhöhung der Ehe-bestandszeit gegen Europarecht. Das europäische Asso-ziationsrecht sieht seit Ende 1980 ein sogenanntesVerschlechterungsverbot, zum Beispiel für türkische Ar-beitnehmer, vor. Danach darf die Erteilung von Aufent-haltserlaubnissen nicht erschwert werden. Das heißt, seit1980 gewährte Erleichterungen dürfen nicht mehr zu-rückgenommen werden. Genau das tun Sie aber hier mitIhrem Gesetzentwurf. Deshalb muss er sofort gestopptwerden, wenn schon nicht aus Rücksicht auf die Frauen,dann aus europarechtlichen Gründen, sagt die Linke.Deshalb fordert die Linke auch flächendeckendeniedrigschwellige Beratungsangebote und Notfallunter-bringungen, die von Zwangsverheiratung bedrohtenFrauen oder zwangsverheirateten Frauen helfen würden.Außerdem fordern wir verfahrensrechtliche Veränderun-gen zur Gewährleistung der Sicherheit und Anonymitätder Opfer in den Gerichtsverfahren. Das sagen sehr vieleMenschen, die in den Opferberatungsstellen oder An-waltsvereinen arbeiten und seit Jahren mit dem betroffe-nen Personenkreis zu tun haben.Wir fordern ein wirksames Rückkehrrecht fürzwangsverheiratete oder verschleppte Personen. DieseMenschen müssen vor allen Dingen ein uneingeschränk-tes Recht auf Wiederkehr haben, das ihnen unabhängigvom Nachweis eigenen Erwerbseinkommens zustehenmuss.
Wir fordern auch, dass in Fällen einer Verschleppung derAufenthaltstitel grundsätzlich nicht erlischt.Ferner fordern wir die Bundesregierung auf, auf diegeplante Verlängerung der Mindestehebestandszeit zuverzichten. Statt einer Verlängerung ist es endlich an derZeit, in einer großen Industrienation wie Deutschlandein dem 21. Jahrhundert gemäßes eigenständiges Auf-enthaltsrecht von Ehegatten zu schaffen.Ich komme zum letzten Punkt. Gestern war ich zu ei-ner Podiumsveranstaltung zum Thema Asylbewerber-leistungsgesetz bei der Katholischen Akademie eingela-den. Die Bundesregierung hat ja selbst zugegeben, dassdas Asylbewerberleistungsgesetz im Lichte des Bundes-verfassungsgerichtsurteils zu Hartz IV vom Februar letz-ten Jahres eigentlich verfassungswidrig ist und den An-forderungen des Gerichts nicht entspricht. Dort wurdeauch das Problem der Residenzpflicht angesprochen.Deshalb halte ich das, was Sie vorgelegt haben, für et-was Halbherziges, für ein Teilstück. Ich fordere Sie auf,endlich auch allen Menschen mit Migrationshintergrunddie Bewegungsfreiheit in Deutschland zu ermöglichen.Die Mobilität ist nicht nur für die Erbringung vonDienstleistungen und den Warenverkehr zu gewährleis-ten, sondern auch die Menschen müssen ein Recht ha-ben, sich in Deutschland frei bewegen zu können.
Memet Kilic hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Zwangsverheiratungen sind schwerwiegende
Menschenrechtsverletzungen. Sie verletzen die Würde
der Betroffenen, ihre persönliche Freiheit und selbstbe-
stimmte Lebensführung sowie den Grundsatz der
Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Sie sind
in Deutschland zu Recht unter Strafe gestellt und geäch-
tet.
Es ist schäbig, was die Bundesregierung uns heute zur
Bekämpfung von Zwangsheirat vorlegt. Sie ist offenbar
nicht gewillt, für adäquaten Schutz für die Betroffenen
zu sorgen. Als Alternative haben wir ein eigenes Kon-
zept vorgelegt, damit Betroffene den Schutz und die Un-
terstützung erhalten, die sie wirklich brauchen.
Schwarz-Gelb betreibt mit dem Gesetzentwurf puren
Etikettenschwindel: Im Jahr 2005 hat Rot-Grün die
Zwangsverheiratung ausdrücklich als einen besonders
schweren Fall der Nötigung im Strafgesetzbuch veran-
kert. Nun will die Koalition den Opferschutz angeblich
dadurch erhöhen, dass Zwangsverheiratung in einem ei-
genständigen Paragrafen unter Strafe gestellt wird. Diese
Umbenennung ist reine Symbolpolitik und wird wohl
kaum einen Täter mehr abschrecken, meine Damen und
Herren.
Herr Kilic, lassen Sie eine Zwischenfrage des Abge-
ordneten Wolff zu?
Sehr gerne.
Bitte schön.
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Hartfrid Wolff (FDP):Herr Kollege Kilic, Sie sagten gerade, es sei Etiket-tenschwindel, weil die Strafbarkeit, da das ein besondersschwerer Fall der Nötigung ist, vorher schon gegebensei. Stimmen Sie mir zu, dass auch eine Handlung wiedas Zuparken eines anderen Fahrzeugs als Nötigungstrafbar ist, und ist das wirklich aus Ihrer Sicht mit einerZwangsverheiratung vergleichbar?
Herr Kollege Wolff, ich schätze Sie sehr; aber ich
kann diese Frage nur als unqualifiziert zurückweisen.
Zwischen einer Zwangsehe und dem Zuparken eines Au-
tos besteht ein Unterschied.
Deshalb haben wir die Zwangsheirat als einen besonders
schweren Fall von Nötigung verankert und ein Strafmaß
von bis zu fünf Jahren vorgesehen. Damit haben wir
deutlich gemacht, dass es kein Kavaliersdelikt ist. Sie
ändern an diesem Strafmaß von fünf Jahren gar nichts,
sondern schaffen nur ein neues Etikett. Das nenne ich
deshalb Etikettenschwindel. – Vielen Dank.
Die zweite Neuregelung betrifft die Verlängerung des
Rechts auf Wiederkehr für Personen, die gegen ihren
Willen in das Ausland verschleppt und verheiratet wur-
den. Die Bundesregierung macht die vorgesehene Rück-
kehrmöglichkeit aber von einer positiven Integrations-
prognose abhängig. Will die Bundesregierung den
Menschenrechtsschutz tatsächlich vom Portemonnaie
oder Bildungsniveau der Betroffenen abhängig machen?
Da sieht man, wie ernst es der Koalition mit diesem
Thema wirklich ist. Das ist schäbig.
Es ist geradezu erbärmlich, dass Schwarz-Gelb die
Mindestbestandszeit einer Ehe für ein eigenständiges
Aufenthaltsrecht ausländischer Ehegatten von zwei auf
drei Jahre verlängern will. Schauen wir einmal in den
Gesetzentwurf. Dort heißt es im Hinblick auf diese Re-
gelung, sie sei erforderlich, da Wahrnehmungen aus der
ausländerbehördlichen Praxis auf eine Erhöhung der
Scheineheverdachtsfälle hindeuteten. Was soll diese
schwachsinnige Begründung? Es gibt überhaupt keine
gesicherten Daten, die für die Notwendigkeit und Effek-
tivität dieser drastischen Maßnahme sprechen. Die Bun-
desregierung setzt haltlose Verdächtigungen in die Welt
und glaubt hinterher auch noch selber daran. Das hat bei
ihr System; das ist schäbig.
Die Bundesregierung wurde wegen dieser Neurege-
lung nicht nur von Terre des Femmes, von der Caritas,
vom Verband binationaler Familien und Partnerschaften
sowie vom Deutschen Anwaltsverein heftig kritisiert,
sondern auch vom Bundesrat düpiert: Sogar der Bundes-
rat bezweifelt in seinem Beschluss vom 17. Dezember
2010, „ob die Anhebung der Mindestbestandszeit einer
Ehe … mit der Zielsetzung des Gesetzentwurfs in Ein-
klang steht, zum besseren Schutz der Opfer von Zwangs-
heirat beizutragen“.
Der Beschluss des Bundesrates für eine Bleiberechts-
regelung bei gut integrierten Jugendlichen ist für viele
bislang nur Geduldete ein Schritt in die richtige Rich-
tung. Die Regelung bezieht sich aber nur auf Jugendli-
che, die „erfolgreich … eine Schule besucht“ haben.
Was machen wir mit den Kindern, die aus unterschiedli-
chen Gründen keinen Erfolg in der Schule gehabt haben?
Werden wir diese Kinder für das Schicksal ihrer Eltern
verantwortlich machen? Die Regelung ist nur ein halber
Schritt; das muss korrigiert werden. Eine stichtagsunab-
hängige Regelung ist das einzig richtige Instrument, um
humanitären Härtefällen vorzubeugen.
Wir fordern die Koalition auf, bei der Umsetzung des
Bundesratsbeschlusses weitere humanitäre Härten zu
vermeiden, etwa im Hinblick auf alte und kranke Men-
schen, die auf dem Arbeitsmarkt keine Chancen haben.
Im Hinblick auf europarechtliche Vorgaben ist eine
grundsätzliche Überprüfung der nur in Deutschland
praktizierten Residenzpflicht dringend geboten.
Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist skanda-
lös; er ist ein Armutszeugnis für die Regierung. Wir er-
warten, dass die Bundesregierung die allseitige Kritik
ernst nimmt und die sinnvollen Vorschläge unseres An-
trags übernimmt.
Vielen herzlichen Dank.
Der Kollege Reinhard Grindel hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es ist das gute Recht der Opposition, zu kritisieren, wasdie Regierung und die sie tragenden Fraktionen vor-schlagen. Herr Kollege Veit und Herr Kollege Kilic, aufeines will ich aber schon hinweisen: Sowohl beimThema der Residenzpflicht für Asylbewerber als auchbeim Thema des Rückkehrrechts für Zwangsverheirateteund Zwangsverschleppte haben Sie zu Zeiten der rot-grünen Bundesregierung nichts, aber auch gar nichts zu-stande gebracht.
Wir handeln jetzt. Diesen Unterschied wird man dochbetonen dürfen.
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9432 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Reinhard Grindel
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Herr Kollege Veit, zur Frage des Rückkehrrechts. Wirhaben jetzt eine Regelung vorgesehen, mit der wir aufdas entscheidende Problem der Zwangsverschleppteneingehen: Wir lassen hier die Pflicht zur Lebensunter-haltssicherung fallen. Um das klar auf den Punkt zu brin-gen – Sie sind langjähriger Experte –: Das heißt, wirnehmen aus humanitären Gründen in diesem Fall sogardie Gefahr einer Rückwanderung in die Sozialsystemehin. Es kann sein, dass die Frauen, die zurückkehren, indie Sozialsysteme wandern. Das ist etwas, das wirgrundsätzlich nicht wollen. Es muss doch einsichtig sein,dass wir sagen: Wenn wir schon dieses Risiko eingehen,dann muss es eine differenzierte Lösung geben. Natür-lich haben wir eine besondere soziale Verantwortung ge-genüber denjenigen, die schon sehr lange in Deutschlandgewesen sind. Es macht doch einen Unterschied, ob je-mand schon sechs oder acht Jahre in Deutschland gelebthat, ob er hier zur Schule gegangen ist oder ob er nur we-nige Monate hier war und dann zwangsverschleppt wor-den ist, also keinen näheren Bezug zum Land hat. Inso-fern geht es bei der Integrationsprognose darum, dasswir auch sichergehen können, dass es tatsächlich eineVerwurzelung hier in Deutschland gibt und dass dieseFrauen daher ein Anrecht darauf haben – und der Staatkorrespondierend eine soziale Verantwortung hat –, dassihnen eine Perspektive für ein Leben in Deutschland ge-geben wird. Dass hier differenziert werden muss unddass das für diejenigen gilt, die besonders lange inDeutschland gewesen sind, das kann eigentlich nichtstreitig sein. Das ist eine richtige und von uns klar so an-gestrebte Regelung in der Differenzierung der verschie-denen Fälle von Frauen, mit denen wir es hier zu tun ha-ben.
Es ist auch nicht in Ordnung, dass Sie hier die Vor-schriften über die Integrationskurse schlechtreden.
Herr Grindel, der Kollege Veit würde Ihnen gern eine
Frage stellen.
Ja.
Bitte.
Herr Kollege Grindel, wir sind ja offenbar in der Be-
wertung unterschiedlicher Auffassung. Ich würde diesen
Unterschied nicht machen bei Opfern von Zwangsheirat,
die entweder zum Zwecke der Eingehung der Ehe oder
aber aus dem Grund, um eine Zwangsheirat aufrechtzu-
erhalten, ins Ausland verschleppt worden sind und die
vorher rechtmäßig in Deutschland gelebt haben. Warum
soll ich da noch einmal differenzieren und sagen: „Ich
verlange von den Betroffenen auch noch eine besonders
gute Integrationsprognose, damit ihnen die Wohltat zu-
teilwerden kann, eventuell in das Sozialsystem einzu-
wandern“? Diese Differenzierung innerhalb der Gruppe
von zwangsverheirateten Opfern kann ich nicht nach-
vollziehen.
Lieber Herr Kollege Veit, das ist nun bemerkenswert,dass Rot-Grün hier klatscht. So war nämlich die Rechts-lage. Unter Rot-Grün war die Rechtslage, dass nur diezwangsverschleppte, zwangsverheiratete Frau zurück-kehren darf, die in der Lage ist, ihren Unterhalt selber zubestreiten. Daran sind 95 Prozent aller Fälle gescheitert.Das ist die Rechtsgrundlage zu Ihrer Zeit gewesen. Wir,die christlich-liberale Koalition, obwohl wir eigentlichden Grundsatz verfolgen, eine Zuwanderung in Sozial-systeme nicht zulassen zu wollen, sagen: Aus humanitä-ren Gründen lassen wir es zu. Aber wir differenzierendann auch. Wenn ich nach acht oder nach zehn Jahrennoch eine solche Rückkehr nach Deutschland zulasse,dann muss eine positive Integrationsprognose vorliegen,es muss ein Anknüpfungspunkt gegeben sein, sodass ichsagen kann: Der Betreffende, auch wenn er schon solange aus Deutschland weg war, wird in der Lage sein,sich wieder in Deutschland zu integrieren und irgend-wann auch ohne soziale Transferleistungen zu leben.Deswegen knüpfen wir daran an, dass zum Beispiel derSchulbesuch erfolgreich war. Das ist integrationspoli-tisch, sozialpolitisch und auch hinsichtlich der Akzep-tanz bei der deutschen Bevölkerung für das, was wir hiertun, von zentraler Bedeutung. Ich halte es für richtig,dass wir hier differenzieren. Es macht einen Unter-schied, ob sich jemand schon zehn Jahre in Deutschlandaufgehalten hat oder nur ein paar Monate. Das muss ein-sichtig sein, lieber Herr Kollege Veit.
Wie gesagt, wir verbessern die Qualität der Integra-tionskurse. Jetzt müssen die Ausländerbehörden nämlichnachhaltig prüfen,
ob der Kurs tatsächlich besucht worden ist. Das fällt vie-len Ausländerbehörden sonst erst bei der Beantragungder Niederlassungserlaubnis auf. Wir wollen, dass sienach einem Jahr, also dann, wenn die Zuwanderer ge-rade erst in Deutschland sind, wenn sie noch besondersintegrationsbereit sind, schnell nachprüfen, ob der Ver-pflichtung, den Kurs zu besuchen, auch tatsächlich nach-gekommen worden ist. Der Datenaustausch zwischenden Kursträgern, den Ausländerbehörden und demBAMF wird dazu führen, dass Kurse zum Beispielschneller anfangen können. Das ist eindeutig eine quali-tative Verbesserung.
– Nein, das gibt es heute noch nicht.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9433
Reinhard Grindel
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Jetzt zum Thema Dunkelziffer. Sie müssten sich ein-mal, Herr Kilic, mit denjenigen in den Visastellen in An-kara, in Istanbul auseinandersetzen,
die täglich dieses Geschäft machen. Die werden Ihnensagen: Bei 30 Prozent der Fälle müssen Sie davon ausge-hen, dass es eine Scheinehe ist. Das Problem ist nur: Siekönnen es denen nicht nachweisen, weil die Ausländer-behörden – das sind insbesondere die in Nordrhein-Westfalen; da kann ich sogar die Städte benennen, mitdenen es die größten Probleme der Zusammenarbeit gibt –aus Gründen der begrenzten personellen Kapazitäten zu-nehmend nicht bereit sind, gleichzeitige Befragungendes einen Ehegatten in der Visastelle und des anderenEhegatten in Deutschland durchzuführen.Zu den Zahlen, die Frau Dağdelen hier genannt hat.Es ist ja geradezu absurd, zu sagen: Das Problem ist klei-ner geworden, weil die Zahl der Tatverdächtigen kleinerist.
Im Jahr 2000 galt eine Ehebestandszeit von vier Jahren.Damals hatten die Ausländerbehörden vier Jahre Zeit,um das Vorliegen einer Scheinehe aufzudecken. Dassman in vier Jahren mehr Fälle aufdeckt, als wenn mandazu nur zwei Jahre Zeit hat, ist doch wohl einsichtig.Ihre Argumentation ist völlig absurd. Ihrer Logik zu-folge gäbe es, wenn die Ausländerbehörden überhauptnicht mehr prüfen würden, null Verdachtsfälle. Danngäbe es das Problem gar nicht mehr. Das ist Ihre Logik,liebe Kollegin Dağdelen. Das ist völlig absurd. Das Ge-genteil ist richtig: Mit der Verlängerung der Ehebe-standszeit erreichen wir, dass die Ausländerbehördeneine größere Chance haben, illegale Zuwanderung, aufdie die Migranten kein Recht haben, aufzudecken. DieseMöglichkeit wollen wir unseren Behörden eröffnen.
Herr Grindel, auch der Kollege Kilic möchte eine
Zwischenfrage stellen. Möchten Sie diese zulassen?
Ja.
Bitte.
Herr Kollege Grindel, stimmen Sie mir zu, dass es ei-
nen Europaratsbeschluss von 1996 gibt, welcher zur Be-
kämpfung von Scheinehen vorschreibt, dass Eheleute
oder Verlobte zeitgleich angehört werden – einer im Aus-
land und der andere hier, bei der Ausländerbehörde –,
weil man bei fast allen Ehen unterstellt, dass es sich um
eine Scheinehe handelt und die Prüfungen in dieser Ge-
fühlslage stattfinden?
Habe ich das richtig verstanden, dass Sie von der Ge-
fühlslage der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bot-
schaften ausgehen? Welche Daten liegen Ihnen vor? Das
ist die Frage. Rechtsstaatliches Handeln muss bei so
wichtigen Themen, bei denen es um das Glück der Men-
schen, um das Leben der Menschen und Familienzusam-
menführung geht, auf gesicherten Daten basieren und
darf nicht nur auf Verdächtigungen und Vermutungen
beruhen.
Herr Kilic, ich finde, ich habe das klar gesagt. Ichhabe gesagt, dass die Mitarbeiter der Visastellen invielen Fällen Ausländerbehörden gebeten haben, zumBeispiel die Ausländerbehörden in Duisburg, Gelsenkir-chen, Köln und Bochum, eine solche zeitgleiche Einver-nahme durchzuführen. Die Ausländerbehörden sehensich aus personellen Gründen dazu nicht in der Lage.
Diese getrennte Einvernahme findet nicht statt. Das istdas Problem. Das habe ich hier angesprochen.Jetzt will ich Ihnen noch etwas sagen: Der KollegeVeit und ich waren bereits vor mehreren Jahren auf einerTagung des Bundesinnenministeriums im Bundesverwal-tungsamt. Damals hat – Herr Kollege Veit, es wäre nett,wenn Sie das durch Kopfnicken bestätigen würden – diedamalige Leiterin der Ausländerbehörde in München ge-schildert – ich weiß nicht, ob sie heute noch im Amt ist;das Phänomen wird einem auch von anderen Ausländer-behörden bestätigt –, dass es eine Vielzahl von Fällengibt, in denen Ehefrauen oder Ehemänner – in aller Re-gel sind es Ehefrauen – nach zwei Jahren und wenigenMonaten die Scheidung beantragen und ihren Ehemann,mit dem sie in erster Ehe in der Türkei verheiratet waren,wieder heiraten und diesen dann, weil sie ein eigenstän-diges Aufenthaltsrecht haben, nach Deutschland nachho-len. Die Kinder, die in der Zwischenzeit geboren wordensind, werden vom ersten Ehemann als eigene Kinder an-erkannt. Wenn ich sage, dass man in diesem Zusammen-hang von einer Dunkelziffer und dem Verdacht redendarf, dass es sich dabei um Scheinehen handelt, obwohles mir nicht möglich ist, das vollkommen nachzuweisen,dann halte ich das für eine zulässige politische Bewer-tung, Kollege Kilic.
– Das ist wohl wahr. Das ist ein wunderbarer Zwischen-ruf. Deswegen waren wir für eine vierjährige Ehebe-standszeit und damit für die Wiedereinführung der altengesetzlichen Regelung. Sie haben dazu die Ausführun-gen des Kollegen Wolff gehört. Wir haben uns in derKoalition schiedlich-friedlich auf eine dreijährige Ehe-bestandszeit verständigt.
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9434 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Reinhard Grindel
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Frau Dağdelen, ich will noch einen Punkt erwähnen,der, wie die Kollegin Jelpke immer so gerne sagt, zy-nisch war. Sie haben hier gesagt, dass all das, was wirbeim Thema Zwangsehe vorhaben, nicht in Ordnung ist.Es sei zum Beispiel falsch, bei einem EhegattennachzugDeutschkenntnisse zu fordern. Sie sagten, dass man nie-derschwellige Beratungsangebote und Notfallmaßnah-men braucht. Das wäre die Lösung. Liebe Kolleginnenund Kollegen, wie bitte soll eine von Zwangsehe betrof-fene Frau niederschwellige Beratungsangebote anneh-men? Wie soll sie denn Hilfe holen und Notfallmaßnah-men annehmen, wenn sie noch nicht einmal übereinfache deutsche Sprachkenntnisse verfügt? Das istdoch das Problem, mit dem wir es in der Vergangenheitimmer wieder zu tun hatten.
Diese Beratungsangebote laufen doch völlig ins Leere,wenn nicht zumindest einfache Sprachkenntnisse ver-mittelt worden sind. Insofern geht die Bemerkung, dieSie hier gemacht haben, völlig ins Leere und hilft denFrauen überhaupt nicht.
Letzte Bemerkung, Frau Präsidentin. Ich begrüßesehr, dass Sie, Herr Staatssekretär Schröder, erwähnt ha-ben, dass wir uns um ein gesetzliches Bleiberecht für in-tegrierte Kinder und Jugendliche bemühen wollen. Wirals CDU/CSU-Fraktion sind dafür. Wir haben keine Ta-lente zu verschenken. Wir brauchen jeden, gerade denje-nigen, der seine Integrationsbereitschaft dadurch bewie-sen hat, dass er schulischen Erfolg hat, dass er eineBerufsausbildung macht –
Herr Kollege.
– und dass er sich um eine gute berufliche Perspektive
bemüht.
Es ist auch ein Anreiz für die Eltern – Frau Präsiden-
tin, ich komme zum Schluss –, dafür zu sorgen, dass die
Kinder in die Schule gehen und eine Ausbildung ma-
chen. Insofern sage ich für unsere Fraktion, Kollege
Schröder: Wir sind dabei. Die CDU/CSU-Bundestags-
fraktion ist für ein gesetzliches Bleiberecht –
Herr Kollege!
– ohne jede Stichtagsregelung für gut integrierte Ju-
gendliche.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
Die Kollegin Aydan Özoğuz hat jetzt für die SPD-
Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ichwünsche mir erst einmal ein bisschen mehr Ruhe undeine Versachlichung der Diskussion. Es geht immerhinum ein ernstes Thema.
– Nein. Sie sind derjenige, der Krawall macht und daskomischerweise noch nicht einmal merkt; das ist das Ei-genartige.
Vielleicht direkt am Anfang zwei Worte zu Ihnen. DieAnsichten von Visastellen zur Basis der Integrations-und Zuwanderungsarbeit in unserem Land zu machen,halte ich für abenteuerlich.
Gleichzeitig möchte ich sagen, dass man schlechte Er-fahrungen, die es auch gibt, die aber nicht der Mehrheitanzurechnen sind, nicht zur Grundlage der parlamentari-schen Arbeit machen kann.
– Warum haben Sie das dann so breit ausgeführt?
Ich möchte es einmal andersherum versuchen. Wirsind jahrzehntelange Blockadepolitik von Ihnen ge-wohnt. Jetzt sehen wir, dass Sie durchaus kleine Schrittemachen. Das ist wichtig und gut. Es gibt zwar auch an-dere Entwicklungen, auf die ich noch eingehen werde.Aber erst einmal möchte ich festhalten, dass es auch einegute Nachricht gibt: Sie haben endlich eingesehen, dasses ein eigenständiges Rückkehrrecht für Opfer einerZwangsheirat geben muss. Wir als SPD-Fraktion habenjahrelang darauf hingewiesen. Unser Gesetzentwurf zieltin diese Richtung. Möglicherweise bewegt sich bei Ih-nen an dieser Stelle etwas. Das wird man bei den Bera-tungen im Ausschuss sehen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9435
Aydan Özoðuz
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Aydan ÖzoğuzIch möchte auch daran erinnern, dass Zwangsverhei-ratungen auf Bestreben der SPD-Fraktion seit 2005– eben kam zum Ausdruck, dass das strittig ist – als be-sonders schwerer Fall der Nötigung – es geht also nichtnur ums Zuparken, Herr Wolff –
in § 240 Strafgesetzbuch aufgenommen wurde.Jetzt wollen Sie dafür in § 237 Strafgesetzbuch eineneigenen Straftatbestand einführen. Sie wundern sich,dass dies den Eindruck erweckt, als würden Sie einStück weit Symbolpolitik machen. Das Eigenartige istdoch: Das Strafmaß ändert sich nicht. Es ändert sich ei-gentlich nichts, außer dass diese Regelung nicht mehr in§ 240, sondern in § 237 Strafgesetzbuch steht, an einereigens dafür geschaffenen Stelle. Dass Leute, die sichGedanken über eine Zwangsheirat machen, dadurch so-fort massenweise davon abgehalten werden, kann man,wie ich glaube, durchaus bezweifeln. Es stellt sich alsodie Frage, worauf Sie eigentlich abzielen, wenn Sie da-für einen eigenen Paragrafen schaffen.
Die Praxis zeigt, dass der Opferschutz bei einerZwangsheirat nach der bisherigen Rechtslage noch nichtvollständig gewährleistet ist. Wir haben mit unserem Ge-setzentwurf versucht, diese Lücke zu schließen, geradeim Hinblick auf ungelöste Konstellationen. Dies giltzum Beispiel für den etwas komplizierten Fall, dass einePerson aus Deutschland ohne deutschen Pass im Aus-land zur Eingehung einer Ehe oder zur Fortsetzung einerbereits bestehenden Ehe genötigt wird. In diesem Fallmüsste man sich nach Ihren Vorstellungen mit einemKatalog von Kriterien befassen. Da mein KollegeRüdiger Veit schon auf die Nachteile Ihres Gesetzent-wurfes hingewiesen hat, nutze ich meine Redezeit, umauf einige andere Aspekte einzugehen. Ich glaube näm-lich, dass unser Gesetzentwurf sehr viel umfassenderund besser ist.Wir begrüßen – das sage ich Ihnen gerne –, dass Sieüber den Umweg des Bundesrates und den Beschluss derInnenministerkonferenz im Aufenthaltsgesetz einen ei-genen Aufenthaltstitel für gut integrierte Jugendlicheeinführen wollen. Herr Grindel, das war nicht immer so;auch das muss man einmal deutlich sagen. Bisher hat Siezum Beispiel nicht sonderlich interessiert, ob die Ju-gendlichen gut integriert sind. Wir hatten ja gerade inHamburg einen sehr pressewirksamen Fall. In der Regelist es jedoch so, dass diese Fälle nicht in der Presse ste-hen und keine Aufmerksamkeit erfahren. Es ist absurd,dass junge Menschen, die bei uns groß werden, fast ihrganzes Leben bei uns verbringen, sehr häufig deutschsprechen und unser ganzes System kennen, plötzlich ab-geschoben werden. Diese absurde Situation bestand jah-relang. Da waren Sie nicht gerade die Vorreiter dafür,das zu ändern.Ich sage deshalb hier ganz bewusst: Es ist gut, dasssich offensichtlich auch bei Ihnen ein Stück weit etwasändert. Wir werden sehen, ob das auch tatsächlich so ge-schehen wird.
Schade finde ich – hier komme ich zu einem ganzwichtigen Punkt, der hier schon genannt worden ist, denich aber ganz ausdrücklich noch einmal nennen möchte –,dass Sie die Themenkomplexe Schutz vor Zwangsheiratund Scheinehe verknüpfen. Diese Konstellation richtetsich wieder ein Stück weit gegen die angeheirateten Ehe-partner, insbesondere dadurch, dass Sie die Ehebestands-zeit für ein eigenständiges Aufenthaltsrecht von zwei aufdrei Jahre hochsetzen. Ich finde, man muss auch deutlichsagen, dass Sie damit sowohl symbolisch als auch ganzpraktisch einen Generalverdacht gegen alle aus demAusland angeheirateten Ehepartner richten. Es ist über-haupt nicht in Ordnung, dass Sie ein solches Signal aus-senden.
Es heißt in Ihrem Gesetzentwurf dazu reichlichschwammig, dass die Wahrnehmung aus der ausländer-behördlichen Praxis darauf hindeuten würde, dass eineMindestbestandszeit von drei Jahren den Anreiz zur Ein-gehung einer Scheinehe vermindern würde. BelastbareZahlen dazu können Sie uns nicht nennen. Das habenwir jetzt mehrfach mitbekommen. Das BMI hat das aufAnfrage der Frankfurter Rundschau auch noch einmalbestätigt. Und Innenminister de Maizière sagte in einerBefragung genau an dieser Stelle am 27. Oktober 2010– ich zitiere –:Insofern finde ich drei Jahre besser als zwei, unddrei Jahre sind ein Kompromiss zwischen zwei undvier Jahren.Das nächste Mal können wir dann auch würfeln. Ichfinde, absurder geht es überhaupt nicht mehr.
Zum Zweck des Paragrafen, Zwangsehen zu verhin-dern – Sie vertreten das ja auch sehr deutlich, und daswird auch von all den Organisationen unterstützt –, mussman sagen: Sie sagen zwar, Sie wollten den Opfern hel-fen, Sie wollten denen helfen, die in einer Zwangseheleben, sagen ihnen aber gleichzeitig: Ihr müsst in dieserEhe jetzt nicht zwei, sondern drei Jahre verharren.
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9436 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Aydan Özoðuz
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Aydan Özoğuz– Warten Sie noch einen Augenblick mit Ihrer Frage,denn ich komme ganz sicher jetzt auf das, was Sie ge-rade fragen wollen.
Aber wollen Sie die Frage trotzdem zulassen?
Nein, ich würde das gern erst ausführen. Er kann dann
ja immer noch fragen.
Es gibt die Ausnahmen, auf die Sie gerade in Ihrer
Frage sicherlich hinweisen wollten. Dazu sagen die
Frauenorganisationen und alle anderen Organisationen
ganz deutlich, dass die Frauen davon häufig nicht profi-
tieren können, weil ihnen nicht geglaubt wird, weil sie
die Nachweise, die verlangt werden, wie Fotos oder ir-
gendwelche Zeugen, nicht beibringen können. Dies wird
nicht von uns, sondern von denen, die mit diesen Frauen
sprechen, gesagt. Deswegen greifen diese Möglichkeiten
häufig gar nicht. Man muss also feststellen, dass Sie mit
dieser Erhöhung der Mindestbestandszeit der Ehe genau
denen dieses eine zusätzliche Jahr aufbürden, die sich in
einer ganz furchtbaren Lage befinden. Es bringt also ei-
gentlich überhaupt nichts.
Leider muss ich gleich schon zum Ende kommen.
Deshalb möchte ich hier gern nur noch einen letzten Satz
zu den Integrationskursen sagen. Der Begriff Integra-
tionsverweigerer, der eben auch noch einmal vom Parla-
mentarischen Staatssekretär genannt wurde, ist bei der
Wahl zum Unwort des Jahres auf dem zweiten Platz ge-
landet. Das finde ich übrigens sehr angemessen.
Die Juroren sagten, das Wort unterstelle, dass Migranten
in größerem Umfang selbst ihre Integration verweiger-
ten, dass für diese Behauptung aber die notwendige Da-
tenbasis fehle; dass die Bundesregierung selbst zu wenig
für die Integration tue, werde dabei ausgeblendet. – Sehr
richtig, kann ich da nur sagen.
Vielen Dank.
Der Kollege Serkan Tören hat jetzt das Wort für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierungwird unter anderem in dem Antrag der Grünen als – ichzitiere – „ein weiterer Fall schwarz-gelber Symbolpoli-tik“ bezeichnet. Vorsichtig gesprochen ist das angesichtsder darin enthaltenen Vorschläge kühn und selbstgefäl-lig.Wir machen hier unmissverständlich klar: Menschenzu einer Heirat zu zwingen oder gegen ihren Willen insAusland zu verfrachten, ist weder mit unseren Wertennoch mit unserem Recht vereinbar. Das ist schlichtwegkriminell.
Wir belassen es auch nicht bei Mahnungen und Gesten.Damit haben Sie sich während Ihrer Regierungsverant-wortung begnügt, liebe Kolleginnen und Kollegen derSPD und der Grünen.
So etwas nennt man Symbolpolitik.
Wir betreiben eine Politik der Tat und stärken zudem denOpferschutz, indem wir den Betroffenen endlich ein ei-genständiges Rückkehrrecht einräumen.
Auch hier zeigt sich unser pragmatischer Ansatz;denn aktuell scheitert eine Rückkehr der Betroffenennach Deutschland oft an der Anforderung der eigenstän-digen Lebensunterhaltssicherung. Diese Hürde ist fürviele Frauen und Männer unüberwindbar. Wir haben da-her auf diese Anforderung verzichtet. Das ist keine Sym-bolpolitik, das ist ein echter Fortschritt für die Opfer.Natürlich wird die Zwangsheirat durch diese Rege-lungen nicht gänzlich verhindert werden können. DieserIllusion geben wir uns auch nicht hin. Wir setzen damitaber ein Zeichen und eröffnen dem Rechtsstaat und denBetroffenen neue Möglichkeiten, gegen diesen gewalt-samen Akt vorzugehen.Es gab auch Kritik – das ist hier ja schon mehrmalsangesprochen worden – an der Verlängerung der Ehebe-standszeit von zwei auf drei Jahren. Unser Ziel ist es,Scheinehen deutlich zu erschweren. Es ist nicht unserZiel, eine Not- und Gewaltsituation in einer Ehe zu ver-längern.
Wir wissen um die schlimmen Fälle, in denen ausAngst vor einer Abschiebung untragbare Zustände in ei-ner Ehe hingenommen werden. Genau dafür gibt es dieHärtefallregelung, durch die es dem Ehepartner möglichist, ein eigenständiges Aufenthaltsrecht vor Ablauf derdrei Jahre zu erlangen.
Dieser Notausgang ist richtig und notwendig.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9437
Serkan Tören
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Das bedeutet aber gleichzeitig auch: Die Möglichkeitmuss effektiv und vernünftig genutzt werden.Frau Özoğuz, es stimmt eben nicht, dass es aufgrundder Beweisanforderungen immense Schwierigkeiten gibt,sondern man kann durch einen substantiierten Vortragvor den Verwaltungsgerichten
durchaus nachweisen, dass die Härtefallregelung greift.
Das sage ich insbesondere auch mit Blick auf die Arbeitder Ausländerbehörden und der Beratungsstellen.Meine Damen und Herren, ich freue mich auch überdie Fortschritte beim Thema Residenzpflicht. Auch hierhat Rot-Grün in eigener Verantwortung nie etwas schaf-fen können.
Die aktuelle Praxis hat sich aus liberaler Sicht nicht be-währt. Es wurden hier unnötige Strafverfahren eingelei-tet, viele Ausländer kriminalisiert und die Verwaltungenunverhältnismäßig belastet. Auch aus volkswirtschaft-lichen Gründen ist eine restriktive räumliche Beschrän-kung unklug.Wieso sollten Asylbewerber nicht eigenständig für ih-ren Lebensunterhalt aufkommen? Warum sollte derSteuerzahler hier belastet werden? Warum sollte manden Betroffenen ein Stück Würde, Auskommen undAusbildung versagen? Warum sollte man ihnen dieseWege zur gesellschaftlichen Teilhabe versperren? Ichsehe hier keine Gründe dafür. Deswegen haben wir dieseÄnderungen vorgenommen, zu der Sie sieben Jahre langwährend der Regierungsverantwortung von Rot-Grünnicht bereit waren.
Ich hätte mir sicherlich noch mehr vorstellen können,vielleicht auch eine gänzliche Abschaffung der Resi-denzpflicht.
Dennoch gehen wir mit dem Gesetzentwurf weit überden Koalitionsvertrag hinaus. Wir schaffen nämlichnicht nur eine hinreichende Mobilität hinsichtlich einerArbeitsaufnahme, sondern wir stellen auch die Mobilitätzum Zwecke eines Schulbesuchs oder einer Ausbildungsicher. Hier haben wir in dieser christlich-liberalen Ko-alition eine sehr vernünftige Lösung gefunden.Der vorliegende Gesetzentwurf steht für eine mo-derne Integrationspolitik jenseits ideologischer Scheu-klappen. Darauf bauen wir auf.Vielen Dank.
Monika Lazar hat das Wort für Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Mein Kollege Memet Kilic hat sich ja schon ausführlichmit der Kritik am Gesetzentwurf der Bundesregierungauseinandergesetzt. Selbstverständlich sind wir uns indiesem Hause einig, dass Zwangsverheiratungen be-kämpft werden müssen, weil sie in eklatantem Wider-spruch zu den Werten sowohl unseres Grundgesetzes alsauch der Menschenrechte stehen.Bündnis 90/Die Grünen waren es, die 2003 als ersteFraktion überhaupt mit einer Anhörung auf diese Proble-matik aufmerksam gemacht haben. Rot-Grün hat dann2005 die Zwangsverheiratung ausdrücklich als beson-ders schweren Fall der Nötigung im Strafrecht verankert.Man kann das nicht oft genug sagen. Von daher ist esnicht viel, was hier an Neuerungen vorgelegt wird.Eigenständige Aufenthaltsrechte und Rückkehrrechtesind effektive Maßnahmen, um Migrantinnen wirksamzu helfen, die von Zwangsverheiratungen betroffen sind.
Das geht auch aus den verschiedenen Stellungnahmender Verbände hervor. Sie teilen auch unsere Ansicht,dass der schwarz-gelbe Gesetzentwurf inhaltlich viel zudünn ist.Wir Grünen schlagen in unserem Antrag nicht weni-ger als neun Gesetzesänderungen vor. Denn Migrantin-nen brauchen rechtlich einwandfreie und unbürokrati-sche Möglichkeiten, um im Fall einer Zwangsver-heiratung aus einem Drittstaat wieder einzureisen und inDeutschland ein sicheres Aufenthaltsrecht zu bekom-men. Diesen zweiten Teil haben die Kolleginnen undKollegen von Union und FDP leider vergessen.
In unserem Antrag „Opfer von Zwangsverheiratun-gen wirksam schützen durch bundesgesetzliche Refor-men und eine Bund-Länder-Initiative“ schlagen wir we-sentlich mehr vor, als der Gesetzentwurf vorsieht. Wirlegen einen vollständigen Aktionsplan vor, der mit denBetroffenenverbänden intensiv diskutiert wurde und vonihnen ausdrücklich gewünscht wird. Unter anderemwollen wir eine dauerhafte Bund-Länder-Arbeitsgruppe„Zwangsverheiratungen“ initiieren. Denn Frauen, diesich einer Zwangsverheiratung entziehen wollen, mussschnell, kompetent und effektiv geholfen werden. Wirbrauchen endlich verbindliche Absprachen zwischenBund, Ländern und NGOs, klare Zuständigkeitsregelun-gen und Hilfsangebote.Gut gemeint ist nicht gut gemacht, liebe Kolleginnenund Kollegen von der Regierung. Ich rate Ihnen drin-gend, Ihren ersten Entwurf zu überarbeiten. Anregungen
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9438 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Monika Lazar
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können Sie gerne unserem Antrag entnehmen. Wir sindgespannt auf die Beratungen.So weit erst einmal vielen Dank.
Ute Granold hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich möchte aus der Sicht der Rechts- und Menschen-rechtspolitik einiges zu dem heutigen Thema sagen. Esgeht mir um einen ganzheitlichen Ansatz, und dabeimöchte ich mich hier im Wesentlichen auf den Straftat-bestand der Zwangsheirat und die zivilrechtlichen Fol-gen der Aufhebung einer Ehe beschränken.Es ist richtig, dass die Zwangsheirat heute unterStrafe steht. Nach § 240 Abs. 4 Strafgesetzbuch ist sieein besonders schwerer Fall der Nötigung. Ein besondersschwerer Fall der Nötigung liegt auch dann vor, wennein Amtsträger seine Befugnisse überschreitet. Ich glaubenicht, dass das mit der Zwangsheirat, einer schwerenMenschenrechtsverletzung, vergleichbar ist.
Deshalb halte ich es für ein richtiges Signal an diejeni-gen, die an Zwangsverheiratung denken, dass dies in un-serer Rechtsordnung und unserem Staat nicht geduldetwird. Insofern ist es richtig, dass wir einen eigenständi-gen Straftatbestand mit der Überschrift „Zwangsheirat“vorsehen. Ich meine, das ist ein richtiger und guter Weg.
Das ist aber nur ein Punkt. Denn einem Opfer vonZwangsverheiratung ist alleine mit der Bestrafung desTäters in der Regel nicht geholfen. Es soll eine Abschre-ckung sein, diesen Weg zu gehen. Wenn es zu einerZwangsheirat kommt, ist zu hoffen, dass das Opfer zu-mindest in geringem Maße die deutsche Sprache kenntund integriert ist. Denn nur dann ist es in der Lage, dieHilfsangebote, die es gibt – das Familienministerium hateine Onlineberatung eingerichtet; es gibt Handreichun-gen für die Organisationen und Ämter, die damit befasstsind, und es wurde eine neue Studie in Auftrag gegeben,um das Phänomen näher zu beleuchten –, zu nutzen.Ich kenne aus meiner Tätigkeit als Anwältin – ichpraktiziere seit 30 Jahren – selbst Opfer von Zwangsver-heiratungen. Ich hatte aber jüngst auch den Fall einerScheinehe, auf den ich kurz eingehen will. Es ging umeine junge Frau, die für 7 000 Euro einen Türken gehei-ratet hat. Sie hatten nur pro forma einen gemeinsamenWohnsitz, den sie aber nie gemeinsam genutzt haben.Sie haben sich erst bei der Hochzeit auf dem Standesamtkennengelernt, und das war es schon. Ich habe dann dieScheidung begleitet. Dass es eine Scheinehe gegen Geldwar, wurde mir erst später von der Frau gesagt. Sie sagte,mit zwei Wohnsitzen sei es schwierig gewesen, dieScheinehe schon über zwei Jahre aufrechtzuerhalten,weil von anderen – zum Beispiel Nachbarn – Fragenkommen, wo denn der Mann sei, und Ähnliches.Ich sehe die vorgesehene Verlängerung der Mindest-ehebestandszeit auf drei Jahre als eine richtige Lösungan, um die Eingehung der Scheinehe gegen Geld zur Er-langung eines Aufenthaltstitels zu erschweren. Das istmitten in Deutschland Tatsache; es ist ein Fall aus mei-ner Praxis.
Diese Ehen werden dann später relativ leicht geschieden.Nehmen wir die Zwangsheirat. Ich komme ausMainz. Eine Frau, die in meine Kanzlei kam, sagte, siehabe es nach zwölf Jahren endlich geschafft, aus derZwangsehe herauszukommen. Zuerst war sie in ihrerWohnung isoliert gewesen. Der erste Schritt war, dassihre Kinder in die Kita oder Schule gekommen sind undsie erstmals die Möglichkeit hatte, Kontakte nach außenzu knüpfen und ein bisschen die deutsche Sprache zu ler-nen. Diese Frau hat es dann – wohlgemerkt: nach zwölfJahren – mithilfe des Frauenhauses bzw. der damaligenInterventionsstelle geschafft, aus dieser Ehe herauszu-kommen und für sich eine Lösung zu finden. Es ist fürsolche Frauen, die aus einem ganz anderen Kulturkreiskommen, sehr schwierig, sich gegen die eigene Familieund gegen die des Mannes zu stellen und ganz isoliert zusein.
Diese Frauen – ganz nebenbei, es sind auch Männer vonZwangsverheiratung betroffen – brauchen jedenfallseine Chance. Erst nach einer langen Zeit der Prüfungsind sie bereit, diesen steinigen Weg aus der Ehe zu ge-hen. Dann muss eine Begleitung da sein. Dabei geht esunter anderem um folgende Fragen – ich spreche aus derPraxis –: Bin ich – da ich keinen Beruf ausüben kann –in der Lage, den Unterhalt sicherzustellen? Wie sieht esmit meinen Ansprüchen im Alter aus?Wir wollen uns daher in den folgenden Beratungen– auch im mitberatenden Rechtsausschuss – mit derFrage befassen, wie die Rechtslage aussieht, wenn dieEhe aufgelöst wird.Wir wollen die Antragsfrist zur Aufhebung der Eheverlängern, damit die betroffenen Frauen nach Beendi-gung der Zwangslage, wenn sie zum Beispiel die eheli-che Wohnung verlassen haben, prüfen können, ob sie
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9439
Ute Granold
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den Weg der Aufhebung der Ehe oder den der Scheidunggehen wollen und welche Möglichkeiten bestehen, Un-terstützung vom gewalttätigen Ehemann zu bekommen.Unser Zivilrecht muss begleitend die Möglichkeit eröff-nen, Unterhaltsansprüche zu realisieren, und sicherstel-len, dass das Erbrecht des anderen ausgeschlossen ist.Wenn es um Ehen geht, bei denen beide Partner aus demAusland kommen und alleine ausländisches Recht – zumBeispiel das türkische, das marokkanische oder das alge-rische – Anwendung findet, muss geprüft werden, wel-che Möglichkeiten die betroffenen Menschen haben, diein Deutschland leben, hier ihre Rechte durchsetzen,wenn das Heimatrecht keine rechtliche Grundlage dafürbietet, etwa Ansprüche betreffend den Unterhalt und denVersorgungsausgleich geltend zu machen. Wir müssenden Menschen, denen das Leid einer Zwangsehe wider-fährt – das sind in der Regel Frauen –, eine Absicherunggeben, wenn sie einen Weg aus der Zwangsverheiratungfinden.Zur Härtefallregelung. Eine besondere Härte rechtfer-tigt ein eigenständiges Aufenthaltsrecht in Deutschlandauch bei einer Aufenthaltsdauer unterhalb der Grenzevon drei Jahren.
Ich empfehle, die Verwaltungsvorschriften zum Gesetzzu lesen. Dort steht – das hat der Kollege Tören ebenausgeführt –: Eine besondere Härte stellt zum Beispieldie Zwangsehe dar. Genau so ist es. Man muss substan-tiiert vortragen, wie die Umstände der Zwangsheirat aus-sahen. Wir können diesen Weg – ich hatte einen solchenFall schon – ohne Weiteres gehen. Das eine oder anderekönnen wir während der Beratungen noch vertiefen. Wirsollten ohne jede Polemik versuchen, den Menschen, diesich in einer Zwangsehe befinden – das ist eine schwer-wiegende Menschenrechtsverletzung; das ist nichts an-deres als Sklaverei –, zu helfen.
Frau Kollegin.
Ich bin gleich fertig. – Wir sollten nicht polemisch
werden und nicht Schritte zurück gehen.
Vielen Dank.
Stephan Mayer hat das Wort für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-ginnen! Sehr geehrte Kollegen! Die christlich-liberaleKoalition legt Ihnen heute einen guten, einen gelunge-nen Gesetzentwurf vor. Er stellt eine ausgewogene Mi-schung entsprechend dem Grundsatz „Fördern und for-dern“ im Bereich der Integration dar. Er umfasstwichtige Änderungen des Strafgesetzbuches, des Auf-enthaltsgesetzes sowie des Asylverfahrensgesetzes. Ichmöchte gleich zu Beginn auf die aktuelle wissenschaftli-che Untersuchung des Bundesfamilienministeriums zumThema Zwangsverheiratung in Deutschland hinweisen.Diese Studie belegt eindrucksvoll, dass und in welcherForm Zwangsverheiratung in Deutschland vorkommt.Ich muss ehrlich gestehen, meine werten Kolleginnenund Kollegen von den Grünen, da Sie die Dunkelzifferin Zweifel ziehen und behaupten, man könne nichtgenau sagen, wie hoch die Zahl der Zwangsehen tatsäch-lich sei: Ich halte es für reichlich zynisch und sarkas-tisch, dass Sie die Lösung dieses Problems so unter-minieren.
Ausgerechnet Sie, die Sie sich immer den Mantel derHumanität, der Empathie und des Gutmenschentumsumlegen, gehen mit diesem Thema nicht mit der gebote-nen Seriosität und Fairness um. Dass Zwangsverheira-tung in Deutschland vorkommt und ein Problem dar-stellt, ist doch unbestreitbar.
Es gibt zahlreiche Fälle, die beweisen, welch schlimmesund katastrophales Unrecht insbesondere Frauen inDeutschland widerfährt und wie menschenunwürdig dieUmstände sind.
Nicht nur in Berlin, sondern auch in der bayerischenIdylle haben Zwangsverheiratungen teilweise zu Ehren-morden und anderen Verbrechen geführt. Deswegenmöchte ich Sie bitten, hier mit diesen gravierenden Pro-blemen nicht so sarkastisch und lapidar umzugehen.
Man muss diesem Thema mit Sicherheit in zweierleiHinsicht begegnen. Wenn wir präventiv vorgehen wol-len, ist es notwendig, dass die Integration gelingt. Denneines ist klar: Das Phänomen der Zwangsverheiratungkommt vor allem in patriarchalischen Familienstruktu-ren vor.
Deswegen ist es das beste Mittel zur Prävention, umZwangsheiraten zu verhindern, Frauenrechte zu stärkenund den Frauen ein entsprechendes Selbstbewusstsein zugeben. Unabdingbare Voraussetzung dafür ist es, dassFrauen über ordentliche und ausreichende Deutsch-kenntnisse verfügen.
Nur eine Frau, die sich in Deutschland selbstbewusst be-haupten kann, weil sie die deutsche Sprache spricht, istgegen Zwangsverheiratung gefeit.
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9440 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Stephan Mayer
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Es ist schön, zu sehen, dass wir im Rahmen des Mo-dellprojekts zur anonymen Onlineberatung in den ver-gangenen drei Jahren – von Juni 2007 bis Juni 2010 –sehr gute Erfahrungen gemacht haben. Diesen Weg soll-ten wir weiter beschreiten.Ein weiterer Fortschritt ist, dass ein eigenständigesRückkehrrecht bis zu einer maximalen Dauer von zehnJahren geschaffen wurde. Ich möchte betonen, dass wirals christlich-liberale Koalition unserer christlich-sozia-len Verantwortung gerecht werden, indem wir nicht aufden Geldbeutel schauen und nicht darauf blicken, ob diebetreffende Person in der Lage ist, selbst für ihren Le-bensunterhalt zu sorgen. Dass wir das Angebot unter-breiten, nach Deutschland zurückzukommen und eineigenständiges Aufenthaltsrecht in Deutschland zu er-werben, auch wenn man sieben oder acht Jahre nicht hiergelebt hat, ist meines Erachtens ein großer Schritt in dieZukunft.
Ein weiterer Fortschritt ist, dass wir den eigenenStraftatbestand der Zwangsheirat schaffen, und zwar den§ 237 StGB. Ich muss auch sagen: Mich befremdet IhreReaktion nach dem Motto: Warum schafft ihr einen eige-nen Straftatbestand? Zwangsverheiratung ist doch nach§ 240 Abs. 4, dem Nötigungsparagrafen, bereits unterStrafe gestellt. – Ich möchte diesen Fall einmal mit denStraftatbeständen Totschlag und Mord vergleichen.Mord könnte man theoretisch auch als einen besondersschweren Fall des Totschlags deklarieren und in diesenStraftatbestand einbeziehen. Ich glaube, wir sind unshier im Raum alle einig, dass es gut ist, dass dem beson-deren Unwert, der in einem Mord zum Ausdruck kommt,durch einen eigenen Straftatbestand Rechnung getragenwird.
Herr Kollege, die Kollegin Monika Lazar und der
Kollege Jerzy Montag möchten eine Zwischenfrage stel-
len.
Sehr gerne. Selbstverständlich. Bitte schön.
Wir ziehen das zusammen, und dann antworten Sie
auf beide Fragen. Frau Lazar, bitte schön.
Sehr geehrter Herr Kollege, würden Sie bitte die Stel-
lungnahme vom Caritasverband zur Kenntnis nehmen,
wenn Sie schon die Stellungnahmen von Terre des Fem-
mes oder vom Verein Frauenhauskoordinierung nicht so
christlich-sozial bzw. christlich-demokratisch nah emp-
finden?
Die Caritas schreibt in ihrer Bewertung des eigenstän-
digen Straftatbestandes: Dieser hat vor allem symboli-
sche Funktion. Er führt nicht zu einer unmittelbaren
Besserstellung der Opfer. Die Erfahrung unserer Mitar-
beiterinnen aus der Beratungstätigkeit zeigt, dass die
Opfer ihre Familien zumeist nicht anzeigen. Der Caritas-
verband hält insbesondere praktische Maßnahmen für
notwendig: eine möglichst flächendeckende und niedrig-
schwellige Erreichbarkeit professioneller Beratung und
den Ausbau von Notfallunterbringungsmöglichkeiten
etc.
Ich bitte Sie, dies zur Kenntnis zu nehmen und uns
nicht immer irgendetwas zu unterstellen.
– Sie tun so, als ob das selbstverständlich wäre.
Ich möchte, dass der Kollege das zur Kenntnis nimmt,
weil der eigenständige Straftatbestand einfach nichts än-
dert. Bitte nehmen Sie die Stellungnahme der Caritas zur
Kenntnis.
Herr Kollege Montag.
Herr Kollege Mayer, ich finde, Sie haben mit Ihremmit Emphase vorgetragenen Beispiel von Mord und Tot-schlag einen richtigen Tiefpunkt juristischer Dogmatikerreicht.
Ich würde Sie gern fragen, ob es in Ihren Augen einenUnterschied darstellt, ob man darüber debattiert, zweiseit vielen Jahrzehnten getrennt voneinander vorhandeneStraftatbestände wie Totschlag und Mord mit verschie-denen Strafrahmen in einem Paragrafen zusammenzufü-gen – niemandem in diesem Haus außer Ihnen ist diesbisher eingefallen –, oder ob man einen Straftatbestandauseinanderzieht und den Strafrahmen dabei völliggleich lässt?Nachdem der Kollege von der FDP mit dem etwas ab-seitigen Beispiel des Zuparkens im Straßenverkehr argu-mentiert hat und nachdem die Kollegin Granold völligzu Recht einen anderen besonders schweren Fall der Nö-tigung gemäß § 240 – das Verhalten eines Amtsträgers –als Vergleich herangezogen hat, möchte ich Sie gernefragen, warum eigentlich die Tatsache, dass die Nöti-gung zu einem Schwangerschaftsabbruch ebenfalls in§ 240 Abs. 4 und somit nicht als selbstständiger Straftat-bestand geregelt ist, Ihre Fraktion nicht längst dazu be-wogen hat, zu fordern, die Nötigung zu einem Schwan-gerschaftsabbruch zu einem neuen Straftatbestand zumachen. Das entspräche der Logik, mit der Sie uns hieranbieten, die Zwangsverheiratung aus § 240 herauszuho-len, um sie dann zu einem eigenständigen Straftatbe-stand zu erklären.
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Jetzt muss ich Frau Lazar bitten, sich wieder zu erhe-
ben, damit sie eine Antwort bekommen kann.
Von mir aus könnten Sie gerne sitzen bleiben.
Wir legen schließlich Wert auf die Würde, gerade hier
vorne.
Ich möchte Sie nicht nötigen, stehen zu müssen. Vie-
len herzlichen Dank für die beiden Fragen.
Liebe Frau Kollegin Lazar, ich nehme natürlich gerne
die Stellungnahme der Caritas sowie auch die Stellung-
nahmen anderer Organisationen zur Kenntnis. Ich
möchte nur ganz offen sagen, dass ich am Ende in der
Abwägung zu einem anderen Ergebnis komme. Ich bin
der Auffassung, dass die Schaffung eines eigenen
Straftatbestandes Zwangsheirat – § 237 – keine reine
Symbolpolitik ist.
Meines Erachtens wird mit der Schaffung eines eigen-
ständigen Straftatbestandes auch der besondere Unwert-
gehalt dieser Tat zum Ausdruck gebracht.
Ich habe deshalb den Vergleich zu Mord und Tot-
schlag gezogen, weil ich klarmachen möchte, dass das
Ergebnis leider Gottes das Gleiche ist: Es kommt ein
Mensch ums Leben. Wir sind uns aber doch alle, inklu-
sive meiner Person, vollkommen einig, dass es widersin-
nig wäre, den Straftatbestand des Mordes unter den
Straftatbestand des Totschlags zu subsumieren.
Ebenso bin ich der Meinung, dass dem Gesetzgeber
zugestanden werden muss, zu sagen: Diese schreckli-
chen Straftaten, dieses schreckliche Unrecht, das insbe-
sondere Frauen im Zusammenhang mit einer Zwangs-
verheiratung angetan wird, verdient die Schaffung eines
eigenen Straftatbestandes. Meine werten Kolleginnen
und Kollegen – an dieser Stelle darf ich auch den Kolle-
gen Montag ansprechen –, das ist doch überhaupt kein
Grund, einander hier so echauffiert zu begegnen. Wir
schaffen einen eigenen Straftatbestand. Wir gliedern ei-
nen Absatz aus dem Nötigungsparagrafen aus und schaf-
fen einen eigenen neuen Straftatbestand. Das ist mehr als
Symbolpolitik. Damit wird der besondere Unrechts-
charakter der Taten zum Ausdruck gebracht und sonst
nichts.
Zum Abschluss darf ich noch eines ansprechen, was
mir aufgefallen ist. Der Antrag der Linksfraktion impli-
ziert teilweise eine Diktion, die für mich mehr als be-
fremdlich ist. Ich halte es sogar für unerträglich und für
widerwärtig, meine Kolleginnen und Kollegen von der
Linksfraktion, wenn Sie in Ihrem Antrag Deutschland
mit dem Apartheidsystem in Südafrika vergleichen. Um
es in aller Deutlichkeit zu sagen: Das ist wirklich boden-
los.
Genauso unerträglich finde ich es, dass Sie der Polizei
in Deutschland pauschal rassistische Vorbehalte gegen-
über Ausländern unterstellen, insbesondere mit Blick auf
die Kontrolle ihrer Legitimationspapiere. Dies kommt
ausgerechnet von einer Fraktion, die, wie wir gerade in
diesen Tagen wieder haben erleben können, intensive
Verknüpfungen zu einem früheren Unrechtsregime in
Teilen Deutschlands hat, in der tatsächlich noch Mitar-
beiter beschäftigt sind, die ehemalige Stasi-Informanten
waren.
Hierzu empfehle ich die Dokumentation über den
Kollegen Gysi mit dem Titel „Die Akte Gysi“, die am
kommenden Donnerstag in der ARD ausgestrahlt wird.
Dass gerade aus den Reihen dieser Fraktion Deutschland
der Vorwurf gemacht wird, wir würden ein System un-
terhalten, das vergleichbar mit dem Apartheidsystem in
Südafrika sei, das schrecklich war, das menschenunwür-
dig war, das halte ich für unerträglich. Ich kann Sie hier
nur auffordern, sich insoweit von der Diktion in Ihrem
Antrag zu verabschieden.
Ansonsten handelt es sich um einen guten Gesetzent-
wurf, der heute von der Bundesregierung vorgelegt wird.
Seine Verabschiedung wird mit Sicherheit dazu führen,
dass wir einen weiteren Schritt in Richtung Willkom-
menskultur in Deutschland gehen.
Danke schön.
Es folgt jetzt eine Kurzintervention des KollegenJosef Winkler.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege Mayer,Sie haben uns als Fraktion vorgeworfen, wir verhieltenuns zynisch und sarkastisch, wenn wir uns mit der Fragebeschäftigen, was es zu bedeuten hat, dass StaatssekretärDr. Schröder sagt, bei Zwangsverheiratungen gebe eseine besonders hohe Dunkelziffer. Ich finde, man darfdoch wohl einmal nachfragen, was es damit auf sich hat,wenn die Bundesregierung sagt, hier sei eine Änderungim Strafgesetzbuch notwendig, weil eine besonders hoheDunkelziffer vorhanden ist – anscheinend im Unter-schied zu normalen Dunkelziffern –, und ob es für dieseAussage eine Datengrundlage gibt. Da diese Grundlageoffensichtlich nicht da war, ist die Begründung für dieÄnderung des Strafgesetzbuches denkbar dünn.Ich will Ihnen einmal sagen, was ich zynisch finde– das ist normalerweise nicht meine Wortwahl; aber Siehaben sie in die heutige Debatte eingeführt –: dass Siesagen, Sie veränderten qualitativ etwas für die vonZwangsheirat betroffenen Frauen und Männer; meistenssind es ja Frauen. Denn es ändert sich ja nichts. Durchdie Einfügung eines eigenen Paragrafen in das Strafge-setzbuch wird nicht einmal die Strafnorm erhöht. Wennes Ihnen um die Androhung einer höheren Strafe ginge,dann hätten Sie einen Straftatbestand wählen können,der mit mehr Jahren Haft als Höchststrafe versehen wird,
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9442 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Josef Philip Winkler
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als es bisher der Fall war. Haben Sie das gemacht? Nein!Es ist zynisch und sarkastisch, so zu tun, als würde dieAufnahme eines Paragrafen in das Inhaltsverzeichnis desStrafgesetzbuches für die Frauen, die von Zwangsverhei-ratung betroffen sind, einen qualitativen Vorteil bedeu-ten.Was einen Vorteil bedeuten würde – eine Antwortbleiben Sie schuldig –, sind nämlich massive aufent-haltsrechtliche Verbesserungen. All die Forderungen derFrauenverbände berücksichtigen Sie nicht. Sie sagen:Wir tun etwas für die Frauen. Wo ist denn die Qualitäts-offensive der Bundesregierung für die Frauenhäuser indieser Republik?
Wo stehen denn die Millionen im Haushalt, um das Ver-brechen der Zwangsheirat endlich besser zu bekämpfen?Wo sind die Millionen für bessere niedrigschwellige An-gebote? Wo werden die damit einhergehenden Forderun-gen erfüllt? Nichts von alledem machen Sie. Sie betrei-ben reine Symbolpolitik. Das ist zynisch und sarkastisch.
Herr Kollege Mayer, zur Erwiderung. Bitte.
Sehr geehrter Herr Kollege Winkler, ich habe Ihnen
den Vorwurf des Zynismus und des Sarkasmus gemacht
– ich rücke davon auch nicht ab –, weil ich es für voll-
kommen neben der Sache liegend halte, darauf zu insis-
tieren, dass jetzt endlich gesagt wird, wie hoch die Dun-
kelziffer an Zwangsverheiratungen in Deutschland ist.
Wie wollen Sie denn reagieren? Es gibt offenkundig
– die Zahlen liegen auf dem Tisch – 1 000 Tatverdäch-
tige, gegen die schon offiziell ermittelt wurde. Jetzt sagt
Herr Staatssekretär Schröder – das ist auch meine Mei-
nung –, man könne annehmen, die Dunkelziffer sei weit-
aus höher.
Sehen Sie gesetzgeberischen Handlungsbedarf dann
nicht mehr gegeben, wenn die Dunkelziffer 1 000 Fälle
unterschreitet oder 2 000 Fälle unterschreitet? Es ist
doch zynisch – ich bleibe ganz bewusst bei dieser Wort-
wahl –, sich jetzt an der Frage festzuklammern, wie hoch
die Dunkelziffer tatsächlich ist.
Dass die Problematik der Zwangsverheiratung in
Deutschland evident und offenkundig ist, ist unbestreit-
bar; die Fälle liegen doch auf dem Tisch. Ich würde Ih-
ren Vorwurf uns gegenüber zwar nicht verstehen, aber
vielleicht erklären können, wenn die Schaffung eines ei-
genen Straftatbestandes – § 237 StGB – die einzige Ant-
wort wäre, die wir auf die mit dem Problem der Zwangs-
verheiratung verbundenen Fragen gäben. Ich habe auch
in meinen Ausführungen deutlich gemacht: Man muss
natürlich im Rahmen eines Maßnahmenpaketes gegen
die Zwangsverheiratung vorgehen, sowohl präventiv,
durch eine Stärkung der Frauenrechte, durch verbesserte
Integrationsangebote, vor allem durch ein verstärktes
Angebot an Deutschkursen, die man den jungen Frauen
angedeihen lässt, als auch repressiv, zum Beispiel im
Wege des Strafrechts, durch die Schaffung eines eigenen
Straftatbestandes, aber auch – ich möchte noch einmal
Ihrem Einwand entgegnen – durch die Schaffung eines
selbstständigen Rückkehrrechts mit einer Geltungsdauer
von bis zu zehn Jahren für Frauen, die zwangsverheiratet
oder verschleppt wurden.
Ich glaube, wenn man sich das Maßnahmenpaket der
Bundesregierung bzw. der christlich-liberalen Koalition
ansieht, stellt man fest, dass das wirklich Hand und Fuß
hat. Das kann sich sehen lassen. Dass man daneben na-
türlich auch noch mehr für Frauenhäuser tun kann, ist
vollkommen richtig. Aber, lieber Herr Kollege Winkler,
dafür ist nicht der Bund zuständig, dafür sind die Länder
zuständig. Jeder muss vor seiner Haustür kehren. Ich
glaube, der Bund hat seine Hausaufgaben mit dem Ge-
setzentwurf, der heute in der ersten Lesung beraten wird,
ordentlich gemacht.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksache 17/4401, 17/4197, 17/2491, 17/3065
und 17/2325 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan-
den? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Burkhard Lischka, Lars Klingbeil, Christine
Lambrecht, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD
Zugangserschwerungsgesetz aufheben – Ver-
fassungswidrigen Zustand beenden
– Drucksache 17/4427 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Burkhard Lischka von der SPD das
Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibtganz sicher kaum Straftaten, die abscheulicher sind als
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9443
Burkhard Lischka
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der sexuelle Missbrauch von Kindern. Wir müssen alles,aber auch wirklich alles tun, um solche Straftaten bzw.die Täter zu verfolgen, und wir müssen alles tun, damitsolche Bilder, und zwar für immer, aus dem Netz ver-bannt werden.
Mit Scheinlösungen aber sollten wir uns nicht zufrie-den geben. Deshalb sage ich deutlich: Internetsperrensind hier nicht der richtige Weg. Sie verbannen nicht eineinziges Bild aus dem Netz, sie verstecken es bestenfallsnur. Darüber hinaus sind sie wenig effektiv, ungenau undleicht zu umgehen. Sie schaffen eine Infrastruktur, diegrundsätzliche Bedenken hervorruft und verfassungs-rechtlich höchst problematisch ist. Das ist eine Erkennt-nis, die sich zunehmend durchgesetzt hat und uns in vie-len Anhörungen in letzter Zeit von den Experten immerund immer wieder bestätigt worden ist.Wir brauchen eine komplexe Strategie gegen Verbre-chen an Kindern. Wir brauchen keine Stoppschilder, dieAktion suggerieren, das Leid aber nur ein bisschen bes-ser verstecken. Da, wo vor allem kinderpornografischeBilder gehandelt werden – zum Beispiel an Tauschbör-sen –, bringen Internetsperren überhaupt nichts. Was wirbrauchen, ist deshalb ein effektiver Einsatz der Strafver-folgungsbehörden und ein effektives Löschen der Bilder,die Kinder zum zweiten Mal zum Opfer machen.
Eines geht aber nicht, liebe Kolleginnen und Kolle-gen: Ein von diesem Parlament in einem geordneten par-lamentarischen Verfahren verabschiedetes Gesetz, dasZugangserschwerungsgesetz, kann und darf doch nichtdurch die Verwaltung eines Ministeriums einfach parordre de mufti ausgesetzt werden.
Das Parlament selbst, wir müssen doch das Gesetz auf-heben. Alles andere ist ein glatter Verfassungsbruch.
Es gibt Jahrestage, die wirklich kein Grund zum Fei-ern sind, sie sind vielmehr ein Grund, verschämt zumBoden zu schauen. Einen solchen Jahrestag bescherenuns jetzt Bundesregierung und Regierungsfraktionen,nämlich am 17. Februar. Dann ist es ganz genau ein Jahrher, dass der Bundesinnenminister das Bundeskriminal-amt angewiesen hat, ein von diesem Parlament verab-schiedetes Gesetz nicht anzuwenden. Das ist ein Unding,ein Verfassungsbruch. Es dreht jedem Parlamentarier– einschließlich des Bundestagspräsidenten, der sichhierzu deutlich geäußert hat – den Magen um.
Da wird ein Gesetz nicht angewendet, nur weilSchwarz und Gelb wie so oft nicht auf einen gemeinsa-men Nenner kommen. Das wird dann eben mal auf Kos-ten der Verfassung ausgesessen. Das ist unwürdig.Meine Damen und Herren von den Regierungsfraktio-nen, beenden Sie diesen Zustand, und zwar schnellst-möglich. Machen Sie Nägel mit Köpfen. Heben Sie dasZugangserschwerungsgesetz auf und lassen Sie uns danngemeinsam Kinderpornografie im Internet bekämpfen.Es ist doch weiß Gott alles andere als stringent, aufder einen Seite am Zugangserschwerungsgesetz festzu-halten, auf der anderen Seite das Gesetz im Erlasswegeauszusetzen, um sich dann auf europäischer Ebene– vollkommen zu Recht – wiederum gegen Internetsper-ren einzusetzen. Es würde doch die deutsche Verhand-lungsposition in Europa, nämlich „Löschen statt sper-ren“, ganz maßgeblich unterstützen, wenn Sie diesesHickhack endlich beenden würden. Handeln Sie endlichund versuchen Sie nicht, das Thema weiter auszusitzen,meine Damen und Herren!
Schaffen Sie Wege, dass das Löschen von Kinderpor-nografie schneller und effektiver durchgesetzt werdenkann: durch engmaschigere Kontrollen, durch internatio-nale Vereinbarungen, durch eine gute Zusammenarbeitzwischen den Beschwerdestellen der Polizei und denStrafverfolgungsbehörden. Mir will jedenfalls nicht inden Kopf, warum Banken anscheinend erreichen kön-nen, dass Betrugsseiten innerhalb kürzester Zeit vomNetz genommen werden, uns aber das Gleiche bei sol-chem Schmutz, bei Bildern gepeinigter Kinder, angeb-lich nicht gelingen kann.
Dabei wissen doch alle: Die Server, auf denen solcheBilder sind, befinden sich nicht in erster Linie in irgend-welchen Bananenrepubliken, sondern in den USA und inWesteuropa. Da muss ein schnelles Löschen möglichsein.
Es ist auch nicht nachvollziehbar, dass die Zahlen, mitdenen Bundeskriminalamt, Verbände, einschlägige Be-schwerdestellen operieren, nach wie vor so extrem un-terschiedlich sind und dass noch immer eine Vereinba-rung fehlt, wer wem kinderpornografische Seiten meldetund wie schnell und stringent auf eine Löschung ge-drängt wird. Wir brauchen endlich einheitliche Richtli-nien. Wir brauchen eine Harmonisierung. Die Bemühun-gen, dies alles zu erreichen, dauern schon viel zu lange,und sie haben noch nicht zu irgendeinem Ergebnis ge-führt.Deshalb, meine Damen und Herren von den Regie-rungsfraktionen, Herr Ahrendt, Frau Bundesjustizminis-terin: Beim Kampf gegen Kinderpornografie haben Sieuns wirklich an Ihrer Seite, bei dem Possenspiel, das Sieim Augenblick aufführen, ganz sicher nicht.Recht herzlichen Dank.
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Das Wort hat der Kollege Ansgar Heveling von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Bis vor etwa fünf Jahren habe ich noch gedacht, wirbekommen das Internet in den Griff. Wir müssennur einen großen Verfolgungsdruck aufbauen, unddann sind wir raus. Aber heute weiß ich, das wer-den wir nicht hinbekommen. Den Kampf haben wirschon verloren.Das, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist dieresignative Einschätzung eines Oberstaatsanwalts, dersich viele Jahre intensiv mit der Bekämpfung von Kin-derpornografie in Kommunikationsnetzen befasst hat.Sie ist nachzulesen in einem sehr lesenswerten Artikel,der im vergangenen Jahr in der Zeitschrift Emma er-schienen ist.Der Oberstaatsanwalt hat den Kampf tatsächlich auf-gegeben. Er ist heute für allgemeine Kriminalität zustän-dig.
Und wir? Haben wir den Kampf auch schon verlorenoder gar aufgegeben?
Ich hoffe, nein.Lassen Sie mich dennoch mit etwas Unerhörtem be-ginnen, dem Eingeständnis von Hilflosigkeit. Ich weiß,das gehört sich in der Politik nicht. Schwäche und derenEingeständnis haben hier normalerweise nicht viel zu su-chen. Ich gestehe das aber trotzdem an der Stelle ein. Ichfühle mich bei der Frage nach der richtigen Strategie fürdie Bekämpfung von Kinderpornografie in Kommunika-tionsnetzen oftmals hilf- und machtlos. Ich fühle michauch bei der heutigen Debatte nicht wohl. Vielleicht gehtes Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von hier bis dain diesem Hause, genauso wie mir, vor allem angesichtsder doch manchmal bestehenden Aussichtslosigkeit unse-res Tuns. Gleichgültig, welche Strategie wir verfolgen –machen wir uns bewusst: Während wir hier debattieren,machen andere mit ihrem ekelhaften und schändlichemTun annähernd ungehindert weiter, werden Kinder miss-braucht, wird die Darstellung des Missbrauchs ins Inter-net gestellt oder werden solche Darstellungen ausge-tauscht. Während wir darüber debattieren, ob dieNichtanwendung einer gesetzlichen Alternative verfas-sungswidrig sei oder nicht, werden alle diese Straftatenweiterhin begangen.Ich glaube, wir sollten darüber reden, wie wir Kin-derpornografie in Kommunikationsnetzen gemeinsamentschieden bekämpfen können. Natürlich könnten dieOppositionsparteien es mit der heutigen Debatte vor al-lem auf eines anlegen: zu zeigen, dass die Regierungs-fraktionen unterschiedliche Vorstellungen haben und dieSache noch nicht abschließend geklärt ist. Ja, Sie habenrecht. So ist das. Wir haben da divergierende Vorstellun-gen, die schwer überein zu bringen sind. Und? Bringt esuns in der Sache weiter, wenn nun der Finger in diesevermeintliche Wunde gelegt wird? Ich glaube, nein. Dasgilt zugegebenermaßen genauso für den Hinweis darauf,dass wir in der Koalition daran arbeiten, dieses Problemzu lösen.Natürlich könnte ich auch parieren, indem ich dieSchwächen der SPD bei diesem Thema deutlich mache,die sich auch bei diesem Antrag naturgemäß zeigen.Denn das Gesetz, dessen Aufhebung Sie jetzt begehren,ist von Ihnen selbst mit eingebracht und beschlossenworden. Sie sind damals für das eingetreten, wogegenSie nun sind.
Ich kann dazu aus einem Beitrag der SPD-Fraktion ineiner Debatte von 2009 zitieren.Die Bekämpfung der Kinderpornografie durch Zu-gangssperren im Internet braucht eine klare gesetz-liche Grundlage. Ich bin froh, dass sich die SPD mitihrer Forderung durchgesetzt hat. Nur eine gesetzli-che Regelung schafft Rechtssicherheit und genügtverfassungsrechtlichen Anforderungen.In einer anderen Debatte über das Zugangserschwe-rungsgesetz sagte der Kollege Dörmann:Die Politik ist in der Pflicht, beiden Themen ge-recht zu werden: dem Kampf gegen die Verbreitungkinderpornografischer Inhalte im Internet und demEinsatz für ein freies Internet. … Ich finde, mit die-sem Gesetzentwurf ist uns das gelungen.Weil sich die damalige CDU/FDP-Regierung inNordrhein-Westfalen nach Auffassung der SPD nichtausreichend für Sperren ausgesprochen hat, hatte dieSPD-Fraktion im Landtag von Nordrhein-Westfalen un-ter Führung von Frau Kraft, heute Ministerpräsidentin,seinerzeit sogar beantragt – das können Sie in der Land-tagsdrucksache 14/7830 nachlesen –, die Landesregie-rung von CDU und FDP aufzufordern,die Initiative des Bundeskriminalamtes zu unter-stützen, eine gesetzliche Verpflichtung für Providerzu schaffen, Internet-Webseiten mit kinderporno-grafischen Inhalten zu sperren.Nur zu sperren: Von löschen findet sich in diesem An-trag kein Wort.
Selbstverständlich ist es jedem zugestanden, nach ei-niger Zeit seine Meinung zu ändern. Mit dem heutigenAntrag suggerieren Sie, dass dies auf der Grundlageneuer Erkenntnisse geschehen sei; denn Sie behaupten,zwischenzeitlich habe sich die Erkenntnis durchgesetzt,dass Internetsperren wenig effektiv, ungenau und tech-nisch ohne größeren Aufwand zu umgehen seien. LassenSie uns ehrlich sein. Das „zwischenzeitlich“ ist doch
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9445
Ansgar Heveling
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nichts anderes als Autosuggestion. Tatsache ist doch,dass es keine wirklich grundlegend neuen Erkenntnissegibt. Schon im Jahr 2009, während der Diskussion umden Erlass des Gesetzes zur Bekämpfung von Kin-derpornografie in Kommunikationsnetzen, wurden be-reits genau diese Punkte in den Anhörungen ins Feld ge-führt.
Und jetzt? Steht es unentschieden, weil Sie Ihre Mei-nung geändert haben und wir unterschiedlicher Auffas-sung sind? Letztlich kann man sich nicht des Eindruckserwehren, als würden wir uns alle seit 2009 wunderbarim Kreis drehen. Ich nehme mich und uns dabei nichtaus. Nur: Diejenigen, denen wir ans Fell wollen, könnensich derweil die Hände reiben.Nutzen wir deshalb die heutige Debatte um das Ge-setz zur Bekämpfung von Kinderpornografie doch auchfür ein paar grundsätzliche Überlegungen. Denn im Stel-lungskampf um politische Symbolbegriffe und ange-sichts der Neigung, gegenseitig mit dem Finger aufei-nander zu zeigen, mag nach zwei Jahren hitziger Debattedie Notwendigkeit dafür ein wenig aus dem Blick gera-ten zu sein.Erstens. Wir alle wollen Instrumente, mit denen ef-fektiv gegen Kinderpornografie in Kommunikationsnet-zen vorgegangen werden kann. Da sind wir uns alle ei-nig. Das zieht sich seit der ersten Lesung desGesetzentwurfs durch die gesamte Diskussion.Zweitens. Stichwort: Zusammenarbeit und Selbstre-gulierung. Hierauf zielt eine Forderung des SPD-An-trags ab. Fraglos ist das erst einmal hilfreich, und jedesolcher Maßnahmen ist zu begrüßen. Aber es bleibt dieFrage: Ist das ausreichend?Ich zitiere an dieser Stelle beispielhaft den KollegenWieland bei der zweiten Lesung des Gesetzentwurfs imJuni 2009:Das Internet ist kein rechtsfreier Raum, es darf aberauch nicht zum bürgerrechtsfreien Raum verkom-men.
– Herr Kollege Wieland, völlig d’accord. Ich war damalsnoch nicht dabei, deswegen geht mir das jetzt auch leichtüber die Lippen. Aber ich bin völlig d’accord.Aber das bedeutet doch auch genau das: FreiwilligeVereinbarungen reichen dann ja nicht aus. Wir braucheneine gesetzliche Regelung mit klar definierten Eingriffs-befugnissen, rechtsstaatlichen Kontrollmechanismenund Rechtsschutzmöglichkeiten.
Mit einem bloßen Aufhebungsgesetz wäre also an dieserStelle rein gar nichts gewonnen.Drittens. Stichpunkte wie „Löschen statt Sperren“,„Löschen vor Sperren“ und „Löschen und Sperren“ und,und, und. Wir können uns die Argumente zu der Wirk-samkeit jetzt gegenseitig um die Ohren hauen. Ichglaube, wir haben da alle kein Erkenntnisproblem. Esmag auf den ersten Blick auch hilflos erscheinen, nachwie vor dafür einzutreten, sich die Möglichkeit des Sper-rens als Ultima Ratio offenzuhalten. Das kann aber raschabgelöst werden, dann nämlich, wenn wirklich wirksameAlternativstrategien erkennbar werden. Das ist – ausmeiner Sicht jedenfalls – valide noch nicht der Fall.Heinrich Wefing hat dazu in einem ZEIT-Artikel imJahr 2009 schon bei der damaligen Diskussion beden-kenswert formuliert:Nun könnte man die lärmende Ablehnung jederstaatlichen Regulierung und Rechtsdurchsetzungvielleicht sogar als romantische Utopie belächeln,wenn die Ideologen der Freiheit gelegentlich ein-mal selbst einen Gedanken darauf verwenden wür-den, wie sich der Missbrauch des Mediums eindäm-men ließe.Dem ist nicht mehr viel hinzuzufügen. Gottlob bestehtweder die analoge noch die digitale Welt nur aus Ideolo-gen. Von daher ist nicht von der Hand zu weisen – das istvielleicht der Erfolg der nach wie vor intensiven Debattein dieser Wahlperiode –, dass sich gegenüber dem Jahr2009 doch auch schon einiges verbessert hat. Aber esbleibt dabei: Nach wie vor sind keine wirklich wirksa-men anderen Strategien erkennbar. Solange das so ist,sollte man jedenfalls nicht gänzlich auf die Möglichkeitdes Sperrens verzichten.
Der Antrag der SPD hilft nicht. Er hilft nicht in derSache, und er bringt keine neuen Erkenntnisse. Deshalblehnen wir ihn ab.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Halina Wawzyniak von der
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Ich freue mich, dass sich die SPD-Fraktion endgül-tig für die Aufhebung des Zugangserschwerungsgesetzeseinsetzt. Sie hat aus ihren Fehlern gelernt.
In der Großen Koalition 2009 stimmte sie noch widerbesseres Wissen für die Einführung von Internetsperren.Angesichts der überwältigenden Argumente gegen dieNetzsperren ist es heute aber eigentlich nicht mehr mög-lich, klaren Verstandes für dieses Gesetz einzutreten.Der Verband der deutschen Internetwirtschaft eco hatam Dienstag erneut belegt, dass mit einem schnellenund effektiven Vorgehen kinderpornografische Inhaltezügig – auch international – aus dem Netz gelöscht wer-den können. Dazu braucht man keine Netzsperren. Was
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9446 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Halina Wawzyniak
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man aber nicht braucht, braucht man nicht. Lassen Siedas Gesetz einfach!
Um nicht alle Argumente zu wiederholen, nur einpaar Stichworte: Das Verstecken strafrechtlich relevanterInhalte hinter technisch leicht zu umgehenden Stopp-schildern bringt gar nichts. Schon das Betreiben vonSperrlisten ist kontraproduktiv. Die Erfahrungen in an-deren Ländern zeigen, dass diese Listen nie dauerhaftgeheim bleiben. Einmal öffentlich geworden, können siegeradezu als Wegweiser zu diesen strafrechtlich relevan-ten Inhalten dienen.Stoppschilder werden so zu Hinweisschildern. Siewarnen die Betreiber dieser Seiten davor, dass ihnen dieStrafverfolgungsbehörden auf der Spur sind. Außerdembringen die geplanten Netzsperren auch die Gefahr mitsich, dass es ein Overblocking gibt. Es wird also mögli-cherweise der Zugang zu allen Inhalten eines Servers ge-sperrt – damit auch zu unbedenklichen.Die Einführung von Netzsperren bringt erheblicheKollateralschäden für die Freiheit des Internets mit sich.Nicht mit uns!
Das ständige Werben der innenpolitischen Hardliner derCDU/CSU für Netzsperren macht eines deutlich:
Es geht längst nicht mehr um die notwendige Bekämp-fung von Kinderpornografie, sondern um die Errichtungeiner universalen Sperrinfrastruktur. Schon heute wer-den immer wieder Stimmen laut, die den Einsatz vonNetzsperren unter anderem auch bei Urheberrechtsver-letzungen fordern. Die Linke stellt sich solchen Ent-wicklungen entgegen. Eine Zensur des Internets wird esmit uns nicht geben.
Die geplante Einführung von Internetsperren ist abernicht die einzige Bedrohung für das freie Internet. Paral-lel dazu wird auch die Debatte über das Ende der Netz-neutralität geführt.Wenn es nach den Vorstellungen der Netzbetreibergeht, sollen der Zugang zum Internet und die Nutzungverschiedener Dienste zukünftig vom Geldbeutel derNutzer abhängen. Die Netzbetreiber möchten selbst ent-scheiden, welche Inhalte sie zu welchen Preisen undwelchen Geschwindigkeiten durch ihre Netze leiten. DieKoalition geht hier unkritisch mit der Lobby der Netzbe-treiber Hand in Hand. Wir müssen stattdessen aufhören,das Internet als Bedrohung wahrzunehmen, der nur mitGesetzen und Regulierungen begegnet werden kann. Wirmüssen die emanzipatorischen Potenziale des Internetserkennen und nutzen. Wir müssen Strukturen für freieKommunikation und für freies Verbreiten von Informa-tionen sowie die Möglichkeit zur Demokratisierung derGesellschaft gegen alle Angriffe verteidigen.
Reden wir über uns, das Parlament.
Was können wir tun? Wir könnten die demokratischenPotenziale des Internets noch besser nutzen. Die Online-petition ist bereits ein Schritt in die richtige Richtung.
Wir brauchen aber mehr. Gerade in Zeiten sinkenderWahlbeteiligung und steigender Politikverdrossenheitsollten wir das Internet nutzen, um mehr Bürgerbeteili-gung zu ermöglichen. Wir könnten beispielsweise die in-teressierte Öffentlichkeit bereits in der Entstehungs- undBeratungsphase von Gesetzen beteiligen. Lassen Sie unshier mutig vorangehen. – Meine Damen und Herren vonder FDP, ich kann ja verstehen, dass sie mir vorschreibenwollen, was ich sage. Es wird Ihnen nur nicht gelingen,dass ich mich daran halte.
Wir sollten das Internet nicht ausschließlich als einenWirtschaftsraum, sondern als einen globalen Kulturraumbegreifen. Das Einhegen und Abschotten sowie die Er-richtung eines weitgehend regulierten „deutschen“ oder„europäischen“ Internets lehnt die Linke ab. Auf derEU-Ebene wird zurzeit intensiv über Internetsperren dis-kutiert. Ich fordere die Bundesregierung auf, sich auch inEuropa gegen verpflichtende Netzsperren der Mitglied-staaten einzusetzen.
Dafür brauchen wir jede denkbare Unterstützung, auchund gerade aus dem außerparlamentarischen Bereich.
Ich freue mich daher über die Kampagne von EuropeanDigital Rights zum Stoppen der europäischen Netzsper-renpläne. Auf netzpolitik.org wurde am Dienstag aufdiese Kampagne hingewiesen, und ich empfehle dieseLektüre vor allen Dingen den Kolleginnen und Kollegender Koalition.Die Linke fordert ein Umdenken und Umsteuern derdeutschen Netzpolitik weg von Regulierung und Bevor-mundung und hin zu einem dauerhaft geschützten offe-nen und freiheitlichen Internet. Aus diesem Grunde prü-fen wir wohlwollend eine Zustimmung zum Antrag derSPD-Fraktion.
Das Wort hat der Kollege Jimmy Schulz von derFDP-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9447
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten
Damen und Herren! Sie von der SPD legen hier erneut
einen Antrag vor, um ein Gesetz abzuschaffen, das Sie
selbst vor gerade einmal 18 Monaten hier eingebracht
und beschlossen haben. Sie tun dies, weil Sie glauben, es
habe sich mittlerweile die Erkenntnis durchgesetzt, dass
dieses Gesetz den gesetzten Zielen nicht gerecht wird
oder, wie wir glauben, nicht gerecht werden kann. Sie
sagen jetzt das, was wir schon immer gesagt haben: Lö-
schen und nicht Sperren funktioniert bei der Bekämp-
fung von Kinderpornografie. Aber besser spät als nie; es
kommt mir vor, als hätten Sie mit einiger Reaktionszeit
von der Standspur auf die rechte Spur, den rechten Weg,
gewechselt.
Wir haben gute neue Belege dafür erhalten – das ha-
ben wir gerade gehört –, dass Löschen statt Sperren
funktioniert. Der Verband der deutschen Internetbranche
eco hatte im Jahr 2010 eine Erfolgsquote von 99,4 Pro-
zent beim Löschen dieser Dateien. Auch die internatio-
nale Zusammenarbeit konnte deutlich verbessert wer-
den: Bilder können jetzt auch im Ausland sehr schnell
gelöscht werden. Von 208 Webseiten konnten 204 inner-
halb von kürzester Zeit gelöscht werden, davon 84 Pro-
zent innerhalb einer Woche und 91 Prozent binnen zwei
Wochen. Genau deswegen haben wir im Koalitionsver-
trag eine Jahresfrist festgelegt. Wir wollen das Löschen
dieser Webseiten ein Jahr lang anwenden und dann eva-
luieren, genau das werden wir auch tun.
Wir können doch ein Gesetz nicht einfach vor Ab-
schluss der Überprüfung aufheben und damit den Ergeb-
nissen vorweggreifen.
Zudem wird das im Koalitionsvertrag vereinbarte
Verfahren erst seit Oktober 2010 angewendet; denn erst
seit diesem Zeitpunkt leitet jugendschutz.net, eine der
Meldestellen, die vom Bundeskriminalamt erhaltenen
Hinweise an die jeweiligen internationalen Partner wei-
ter. Die Evaluierung muss auch im Lichte dessen be-
trachtet werden.
Sie fordern in Ihrem Antrag die schnellstmögliche
Unterzeichnung des Harmonisierungspapiers, also des
Papiers, in dem die Prozesse der Zusammenarbeit der
Meldestellen und der internationalen Partner geregelt
werden. Aber genau das steht gerade an; das Papier be-
findet sich doch schon längst in der Fertigstellung und
wird demnächst unterzeichnet. Ihre Panikmache ist also
vollkommen unbegründet.
Zu guter Letzt muss ich auf Folgendes zu sprechen
kommen. Ich kann Ihren Antrag aus gutem Grund nicht
wirklich ernst nehmen, war es doch gerade einer Ihrer
Kollegen, der kaum zwei Tage nach der Verabschiedung
des Gesetzes gefordert hat, die Internetsperren nicht nur,
wie vorher angekündigt, gegen kinderpornografische
Webseiten anzuwenden, sondern auch gegen digitale
Falschparker. Gewundert hat mich diese Forderung al-
lerdings nicht; denn damals fuhren Sie noch auf der
Standspur, und dort stören Falschparker natürlich nur.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Konstantin von Notzvom Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Eines vorweg: Diese Debatte verläuft bisher et-was schief. Während der Kollege Heveling hier eineeher nachdenkliche bis moderate Rede hält, sieht es inder Öffentlichkeit ganz anders aus. Man erkennt Flügel-bewegungen: Der Kollege Siegfried Kauder und unserBundestagspräsident Lammert haben angekündigt, dassihnen sozusagen gerade heute aufgefallen ist, dass dieAussetzung eines vom Bundestag erlassenen Gesetzesper Ministererlass verfassungsrechtlich irgendwie pro-blematisch sein könnte.
Dabei handelt es sich aber leider nicht um eine Umkehrder Union bei den Bürgerrechten; denn der fragliche Er-lass kommt aus dem CDU-geführten Innenministerium.Sie wussten doch von Anfang an, dass es so nicht geht:Die Verfassungswidrigkeit dieses Vorgehens war völligoffensichtlich; es stand dem Erlass geradezu neongelbauf der Stirn geschrieben.
Das ist jetzt reine Taktik: Sie wollen Ihren Koalitions-partner, die FDP, erneut vor das Brett schnallen, HerrKauder, und die Sperren durchdrücken. Das ist die trau-rige Wahrheit Ihrer im Gewand der Rechtsstaatlichkeitdaherkommenden Argumentation.Zur Geschichte unserer Diskussion hier im HohenHaus. Nachdem wir einen fraktionsübergreifenden Kon-sens gefunden hatten – wir erinnern uns, dass selbst derKollege Uhl zu Beginn der Legislaturperiode hier in ei-ner Sitzung reuig davon sprach, man habe beim ur-sprünglichen Sperrgesetz „ein bisschen mit der Stangeim Nebel gestochert“ –,
rudern Sie, werte Kolleginnen und Kollegen der Union,seit Monaten kräftig zurück und fordern Stoppschilder,anstatt an der notwendigen Verbesserung der Löschvor-gänge zu arbeiten. Dabei hat der Bundestag keinen Auf-wand und keine Kosten gescheut, um Sachverstand zu-
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9448 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Dr. Konstantin von Notz
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rate zu ziehen. Dieser hat sich mehrheitlich klar gegenNetzsperren positioniert. Liebe Kolleginnen und Kolle-gen der Union, man würde sich doch sehr wünschen,dass Sie die Anhörungen dazu nutzen, um die dort ge-wonnenen Einsichten in die Arbeit als Gesetzgeber ein-fließen zu lassen. Herr Heveling, Sie haben in Ihrernachdenklichen Rede valide Alternativstrategien gefor-dert. Diese sind in der Anhörung genannt worden. Sielassen aber die Einsichten, die dort gewonnen wurden,nicht in Ihre Argumentation einfließen.
Es gab Anhörungen im Unterausschuss Neue Medien,im Rechtsausschuss und, nicht zu vergessen, anlässlichder Onlinepetition gegen Netzsperren. Wir haben vonder ganz überwiegenden Mehrheit der geladenen Fach-leute eindeutig ins Protokoll diktiert bekommen, dasserstens Sperren grundsätzlich der falsche Weg, ja sogarkontraproduktiv sind, wenn man effektiv gegen Miss-brauchsdarstellungen im Netz vorgehen will, zweitensdas Gesetz als solches schwerwiegende verfassungs-rechtliche Fragen aufwirft, drittens der von der Bundes-regierung verfolgte Weg des Aussetzens eines ordnungs-gemäß im Bundestag verabschiedeten Gesetzes par ordredu mufti mit unserer Verfassung unvereinbar ist und wirviertens endlich eine mehrdimensionale Strategie brau-chen, die selbstverständlich das Löschen, nicht aber dasSperren umfasst.Bereits am Anfang der Legislaturperiode habenmeine Fraktion und ich Sie aufgefordert, eine solcheStrategie vorzulegen. Geschehen ist seitdem nichts. Da-bei wissen Sie doch genau, was es braucht, HerrHeveling: Es braucht valide Optionen. Es braucht inter-nationale Abkommen zur effektiven Bekämpfung desKindesmissbrauchs und der Entfernung seiner Darstel-lungen im Internet.
Es braucht verbesserte technische und personelle Aus-stattungen der Strafverfolgungsbehörden und eine Ver-besserung der Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbe-hörden mit den Internetbeschwerdestellen, StichwortHarmonisierungspapier. Hier, bei diesen effektiven,drängenden, allgemein anerkannten Handlungsoptionenhaben Sie nichts gemacht. Das ist ein Armutszeugnis,meine Damen und Herren.
Auf einen Aspekt des hier vorliegenden zustimmungs-würdigen Antrags der SPD möchte ich ausdrücklich ein-gehen. Dort heißt es, dass hinsichtlich der betreffendeneuropäischen Richtlinie Handlungsbedarf bestünde. Dasist einerseits richtig – genau aus diesem Grund haben wirals Oppositionsfraktionen entsprechende Anträge insVerfahren eingebracht –; andererseits scheint es seitDienstag so zu sein, als bestünde die Möglichkeit, dassdieser Handlungsbedarf so bald nicht mehr besteht.Denn im Beschlussentwurf des Innenausschusses desEuropäischen Parlaments zur entsprechenden Richtlinieist die konservative Berichterstatterin von einer generelldie Mitgliedstaaten verpflichtenden Linie abgerückt,weil sie keine Mehrheit mehr für die verpflichtende Re-gelung sieht.
Bei den heute bekannt gewordenen Änderungsanträgenzum Bericht des Europäischen Parlaments wird deutlich,dass sich alle Fraktionen – alle Fraktionen – gegen ver-pflichtende Sperren aussprechen, selbst die Konservati-ven. Nur die deutschen Konservativen im EuropäischenParlament beharren isoliert und uneinsichtig weiterhinauf einer Verpflichtung.
Mit dieser Position stehen Sie in Brüssel genauso wiehier im Parlament alleine da.
Das liegt an der Erkenntnis aus allen Beratungen, dassdie Sperren nicht der falsche Weg zur Bekämpfung desMissbrauchs von Kindern und seiner Darstellung im In-ternet, sondern gar kein Weg sind, um effektiv etwaszum Schutz der Kinder zu unternehmen.Ich komme zum Schluss. Sie, liebe Kolleginnen undKollegen der FDP, haben den Koalitionsvertrag schlechtausgehandelt. Das wurde schon häufiger gesagt; aber dasbeweist sich eben immer wieder. Sie werden von derUnion seit Monaten getrieben. Ihre Wahlkampfverspre-chungen im Bereich der Bürgerrechte waren wohl für dieVerhandelnden – unter ihnen die Freiheitsstatue der Re-publik, Guido Westerwelle – nicht ganz so wichtig. DieAgenda des Koalitionsausschusses heute Abend, FrauJustizministerin, liest sich wie Ihr ganz persönlichesSündenregister des Versagens im Koalitionsvertrag: Vor-ratsdatenspeicherung, Netzsperren, ELENA. Man hatbegründete Sorge, was da heute Abend und in den kom-menden Wochen ausgedealt werden soll. Ich hoffe dasGegenteil; aber es steht zu befürchten, dass die Men-schen in diesem Land auch im Bereich der Bürgerrechteunter Schwarz-Gelb nicht mehr, sondern weniger Nettovom Brutto haben werden.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Stephan Mayer von derCDU/CSU.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9449
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Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr ge-ehrte Kollegen! Der Antrag der SPD, den wir heute bera-ten, spricht Bände über den Zustand der SPD.
Wenn die Grünen die Dagegen-Partei sind
und die Linkspartei mittlerweile die K-Partei ist, dann istdie SPD die Heute-so-und-morgen-anders-Partei. Vorgerade einmal eineinhalb Jahren hat die SPD-Bundes-tagsfraktion in diesem Haus dem Zugangserschwerungs-gesetz fast geschlossen zugestimmt – bei nur drei Ge-genstimmen und drei Enthaltungen. Heute fordern Sienachdrücklich und lautstark die Aufhebung desselbenGesetzes.
Ich gestehe zu, dass Sperren allein kein Königswegsind.
Die Debatte heute zeigt wieder – sie wird Gott sei Dankauch sehr ernsthaft geführt –, dass wir alle um den richti-gen Weg zur Bekämpfung dieser schrecklichen Inhalteim Internet und vor allem der Verbrechen, die diesen Bil-dern vorangehen, ringen. Gerade weil es in diesemHause einen Konsens darüber geben sollte, dass wir allestun, um diese widerwärtigen, diese abscheulichen Ver-brechen zu verhindern und die Verbreitung ihrer Darstel-lung zu vermeiden, sollten wir doch auch von diesemGeist getragen die Debatte führen.Die christlich-liberale Koalition hat deshalb beschlos-sen, es ein Jahr lang mit dem Löschen zu probieren.Dann wollen wir evaluieren, und danach wollen wir wei-terschauen. Lassen Sie uns dieses eine Jahr doch ersteinmal abwarten. Die Vorabergebnisse zeigen ganz deut-lich: Das Löschen funktioniert im Inland. Fast alle Sei-ten mit kinderpornografischen Darstellungen, die aufServern im Inland platziert werden, können durch einenAuftrag zum Löschen eliminiert werden. Anders verhältsich das leider bei Servern, die im Ausland stehen, undzwar unabhängig davon, ob in der westlichen Welt, inden USA, Kanada oder den Niederlanden, oder in Russ-land.
Die Vorabergebnisse der Untersuchung der ersten Mo-nate zeigen ganz klar, dass nach einer Woche noch44 Prozent der Seiten aufrufbar sind.
Von über 1 500 Seiten, die von den Ermittlungsbehördenausfindig gemacht wurden, waren nach einer Woche lei-der Gottes immer noch über 600 Seiten im Netz einseh-bar.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,ich bitte Sie, einmal mit dem Präsidenten des BKA, mitHerrn Ziercke, zu sprechen, der bekanntermaßen wederein Mitglied der FDP noch ein Mitglied der CDU oderder CSU ist. Er bittet händeringend darum, dieses Zu-gangserschwerungsgesetz mit allen Komponenten, alsosowohl dem Löschen als auch dem Sperren, anzuwen-den. Das sagt ein Fachmann. Ich finde, darauf sollte manhören. Ich bitte Sie, auch zur Kenntnis zu nehmen, dassnach Schätzungen von UNICEF jeden Tag ungefähr200 neue Bilder mit diesen widerwärtigen Inhalten indas Netz gestellt werden.
Ich habe schon eingestanden, dass wir mit dem Sper-ren allein nicht zum Erfolg kommen werden. Die bishe-rigen Erfahrungen zeigen aber, dass wir auch mit demLöschen allein nicht zu einem befriedigenden Ergebniskommen werden. Deswegen muss doch die Conclusiosein, auf beide Mittel zurückzugreifen. Dabei muss mannatürlich nach einem Subsidiaritätsprinzip vorgehen. Ichsage ganz offen: Mir ist es lieber, wenn diese Inhaltekomplett aus dem Netz gelöscht werden. Wenn das Lö-schen allein aber nicht zu einem annähernd hundertpro-zentigen Erfolg führt – das ist erwiesen; das ist evident;die Zahlen liegen teilweise schon vor –, dann muss mandoch redundant auf das Mittel des Sperrens zurückgrei-fen können. Daran wollen wir festhalten.
Wir sind der Auffassung, dass man diesen widerwärti-gen kinderpornografischen Inhalten im Netz durch Ein-satz aller effektiven und technisch verfügbaren Möglich-keiten begegnen muss. Daneben müssen natürlich auchdie Kooperationen mit bzw. die Beziehungen zu auslän-dischen Sicherheits- und Ermittlungsbehörden intensi-viert werden. Wir unterstützen das Bundeskriminalamtganz ausdrücklich bei seinen dahin gehenden Bemühun-gen. Es wird schon sehr eng mit den ausländischen Si-cherheitsbehörden kooperiert.Natürlich müssen wir auch ein Auge darauf werfen,dass die Sicherheits- und Ermittlungsbehörden sowohl inpersoneller als auch in technischer Hinsicht ausreichendgut ausgestattet sind. An dieser Stelle dürfen wir unsaber keinem Trugschluss hingeben. Momentan sind achtoder zehn Mitarbeiter beim BKA mit diesem Thema be-traut. Diese Arbeit ist für die einzelnen Mitarbeiter mitSicherheit auch psychisch anstrengend. Aber auch, wennman die Zahl der Mitarbeiter dieser Abteilung verdop-peln oder verdreifachen würde, würde man die Inhalteim Netz allein dadurch nicht tilgen, insbesondere nicht,wenn sie auf ausländischen Servern liegen.Ich glaube, wir brauchen einen ganzheitlichen An-satz. Wir sind noch Suchende. Ich hoffe, dass wir allevon dem Geist getragen sind, alles Mögliche unterneh-men zu wollen, um diesem schrecklichen Verbrechen zu
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9450 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Stephan Mayer
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begegnen, und dass wir weiterhin darüber debattierenwerden. Der Antrag der SPD-Fraktion ist daher aus mei-ner Sicht zu diesem Zeitpunkt falsch. Ich finde das Vor-haben, dieses Gesetz abzuschaffen, auch nicht unterstüt-zenswert.
Wir werden das eine Jahr abwarten. Dann wird evaluiert,und dann werden wir nach vorne schauen.Ich finde, man sollte sich in der Debatte ohne Schaumvor dem Mund begegnen. Was mich, ehrlich gesagt, et-was befremdet, ist – das sage ich zum Abschluss –, dass,obwohl wir alle dasselbe Ziel haben, nämlich dieseschrecklichen Inhalte aus dem Netz zu tilgen, teilweiseunheimlich ideologisch aufeinander losgegangen wird.Die einen sind für Sperren, die anderen für das Löschen.
Man ist in unterschiedlichen ideologischen Lagern. Wirsollten uns auf den Sinn konzentrieren und alles tun, da-mit diese schrecklichen und widerwärtigen Fotos von ei-ner Straftat aus dem Internet gelöscht werden.In diesem Sinne: Herzlichen Dank für die Aufmerk-samkeit.
Das Wort hat der Kollege Lars Klingbeil von der
SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Regierungsfraktionen haben in ihremKoalitionsvertrag vereinbart, das Zugangserschwerungs-gesetz zunächst für ein Jahr nicht anzuwenden. Das Bun-deskriminalamt wurde durch einen Erlass zur faktischenNichtanwendung des Gesetzes angewiesen. Die Fraktionder SPD hat im Februar 2010, also vor beinahe einemJahr, den Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung des Ge-setzes zur Bekämpfung der Kinderpornografie in Kom-munikationsnetzen in den Deutschen Bundestag einge-bracht. In diesem Gesetzentwurf haben wir gefordert,dieses Gesetz zurückzunehmen.Es ist bereits erwähnt worden – ich will das in allerKlarheit sagen –: Indem die SPD-Fraktion diesen Ge-setzentwurf eingebracht hat, hat sie eingeräumt, dass esein Fehler war, dem Zugangserschwerungsgesetz in derGroßen Koalition zuzustimmen.
Wir haben zugehört, wir haben diskutiert, wir haben ge-lernt, und am Ende haben wir eine klare Linie gezogen.Sie können mir glauben: Das war für die SPD nicht im-mer einfach. Aber ich sage in aller Klarheit: Politik mussden Mut haben, Fehler ohne Wenn und Aber einzugeste-hen.
Herr Heveling, Ihnen will ich sagen: Ihre Rede fingbemerkenswert an. Es hätte eine große Rede werdenkönnen, wenn auch Sie diesen Fehler eingestanden hät-ten, wenn Sie gesagt hätten, dass auch CDU und CSUhier einen Fehler gemacht haben.Bereits in der Begründung unseres Gesetzentwurfeshaben wir Sozialdemokraten darauf hingewiesen, dassim Hinblick auf den Erlass des Ministeriums ein verfas-sungswidriger Zustand besteht. Damals hat dies offen-sichtlich kaum jemanden interessiert. Aber wenn nun so-gar Bundestagspräsident Lammert die Regierung dazuauffordert – ich zitiere –, „einen offensichtlich verfas-sungsrechtlich fragwürdigen Zustand schnellstmöglichzu beenden“, dann zeigt das doch, wie dringend es ist,dass wir heute über das Zugangserschwerungsgesetz undden Erlass diskutieren.
Es ist durchaus denkbar, dass sich noch nicht in allenFraktionen die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass Inter-netsperren wenig effektiv, ungenau und technisch ohnegrößeren Aufwand zu umgehen sind. Diese Einschät-zung wurde allerdings im Rahmen einer öffentlichenAnhörung im federführenden Rechtsausschuss und in ei-ner Anhörung im Unterausschuss Neue Medien nach-drücklich bestätigt. Wer die mittlerweile gereiften Er-kenntnisse also pragmatisch, unideologisch und objektivbewertet und sich mit ihnen auseinandersetzt, der kannzu keinem anderen Schluss kommen, als dass Netzsper-ren keine wirkliche Hilfe im ernsthaften Kampf gegenKinderpornografie sind.
Wir als Sozialdemokraten plädieren für einen nach-haltigen Kampf gegen die Darstellung von Kindesmiss-brauch im Internet. Wir sagen: Löschen und effizienteStrafverfolgung müssen unsere Leitlinien sein. Wir brau-chen keine Symbolpolitik durch Netzsperren. Wir müs-sen die Inhalte an der Quelle abschalten. Gleichzeitigmüssen wir dafür sorgen, dass Beweise für die Strafver-folgung sichergestellt werden.Erst in diesen Tagen hat der Verband der deutschenInternetwirtschaft, eco, die neuesten Zahlen bezüglichder Löschung von Internetseiten vorgelegt. Diese Zahlenbelegen eindrucksvoll, dass „Löschen statt Sperren“ er-folgreich ist. Über 99 Prozent der bei deutschen Provi-dern gemeldeten Seiten wurden innerhalb einer Wochegelöscht.
Die Masse davon wurde in der Regel innerhalb einigerStunden bzw. spätestens innerhalb eines Werktages ge-löscht. Auch bei der Bekämpfung von Inhalten im Aus-land wurde im Vergleich zu 2009 ein deutlicher Erfolgerzielt. Der Ausbau der Kooperation zwischen Be-schwerdestellen, Internetserviceprovidern und Strafver-folgungsbehörden hat zu einer deutlich verbesserten Re-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9451
Lars Klingbeil
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aktionszeit geführt. Innerhalb einer Woche waren über84 Prozent der gemeldeten Seiten abgeschaltet, nachzwei Wochen waren es über 91 Prozent.Gerade in den USA und in Russland, also in den Län-dern, in denen die meisten kinderpornografischen In-halte entdeckt wurden, entwickelt sich die Löschge-schwindigkeit überaus erfreulich. In den USA waren87 Prozent der gemeldeten Inhalte binnen einer Wocheoffline, in Russland sogar 98 Prozent. Die Provider ma-chen auch deutlich, dass sie das Prinzip „Löschen stattSperren“ durch internationale Kooperationen, beispiels-weise im Rahmen des Netzwerkes Inhope, ernsthaft ver-folgen und auch weiter ausbauen wollen. Die Faktenlageist also eindeutig: Netzsperren sind für den Kampf gegenKinderpornografie nicht geeignet. Das Löschen funktio-niert, wenn man es richtig macht.Es bleibt zu fragen, was die Regierung eigentlich tut.Es wird immer beschwichtigend gesagt: Wir evaluierenund warten ein Jahr ab. – Auch der Kollege Mayer hatgerade gesagt: Lassen Sie uns doch ein Jahr abwarten. –Aber wenn ich dann die Äußerungen von HerrnLammert lese – auch Herr Kauder hat sich dahin gehendgeäußert –, der darauf verweist, dass dieser Zustandmöglicherweise verfassungswidrig sei, dann glaube ich,dass es doch genau richtig ist, dass wir hier heute da-rüber diskutieren.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,insbesondere liebe Kolleginnen und Kollegen von derFDP, es ist doch nicht so, dass bei Ihnen ein Erkenntnis-defizit besteht. Nach knapp einem Jahr muss man schonsagen, dass es auch kein Handlungsdefizit mehr seinkann; denn Sie wissen eigentlich, was zu tun ist. Ich be-fürchte, die FDP wird langsam ein Glaubwürdigkeits-problem bekommen. Wer sich in der Opposition laut ge-gen Netzsperren ausspricht, dann aber in der Regierungtaktiert und abwartet, der muss sich schon fragen lassen:Was ist eigentlich aus den guten Ansätzen geworden?
Herr Kollege Klingbeil, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Wunderlich von den Linken?
Ja, gerne.
Herr Wunderlich, bitte.
Schönen Dank. – Herr Kollege Klingbeil, ich habe
eine Frage an Sie. Sie sagten, das Gesetz sei per Ministe-
rialerlass ausgesetzt worden, die Koalition warte ab und
wolle evaluieren. Das heißt, das Gesetz wird – wenn ich
das richtig verstehe – nicht angewendet;
gleichwohl soll es evaluiert werden. Ihnen dürften die
verfassungsrechtlichen Bedenken, die seinerzeit vom
jetzigen Staatssekretär Stadler und auch von der jetzigen
Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger gegenüber
diesem Gesetz geäußert worden sind, bekannt sein,
ebenso wie dem Rest der FDP-Fraktion. Gehe ich recht
in dieser Annahme?
In dieser Annahme gehen Sie recht. Umso dringender
ist es, dass heute unser Antrag behandelt und nicht noch
weiter abgewartet wird. Wir befinden uns in einem Zu-
stand, der schnellstens geklärt werden muss. Sie haben
darauf hingewiesen; es gibt bereits entsprechende Äuße-
rungen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
zum Schluss kommen. In einem Argumentationspapier,
das vier junge FDP-Abgeordnete – lassen Sie mich an-
merken, dass ich diese vier jungen, dynamischen Kolle-
gen alle sehr schätze – in dieser Legislaturperiode vorge-
stellt haben, heißt es:
Die FDP-Fraktion der 16. Wahlperiode hat im Juni
2009 geschlossen gegen das Zugangserschwerungs-
gesetz gestimmt. Dies hat uns in der Internet Com-
munity, bei Fachleuten und insbesondere auch bei
zahlreichen Jung- und Erstwählern viel Sympathie
und Respekt verschafft.
Liebe FDP, das waren noch Zeiten.
Was ist nur aus dieser klaren Linie geworden?
Ich wünsche viel Glück bei den Verhandlungen und
sage auch: Linke, Grüne und SPD laden ein, an dieser
Stelle Spur zu halten. Ich hoffe, die FDP wird nicht zum
netzpolitischen Geisterfahrer.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
der Kollege Christian Ahrendt von der FDP-Fraktion das
Wort.
Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen undKollegen! Lieber Herr Kollege Klingbeil, Spurhalten istimmer gut, wenn es eine klare Spur gibt. Wenn es abereinen solchen Zickzackkurs, einen solchen Wendekurs ineiner Geschwindigkeit gibt, wie ihn die SPD an den Taglegt, dann ist das Spurhalten wirklich schwierig. Insofernhaben Sie sich vielleicht gerade bei diesem Gesetz einStück weit den Begriff des Wendehalses verdient.
Was mich an dieser Debatte aber viel mehr stört, istein ganz anderer Punkt. Hören Sie zu! Eigentlich sinddie Auffassungen bekannt. Die einen möchten weiterhinsperren, die anderen möchten das Sperrgesetz aufheben.Man beklagt, dass die Regelung, die gefunden worden
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9452 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Christian Ahrendt
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ist, um das Gesetz derzeit nicht anzuwenden, nicht ver-fassungskonform sei. Man kann die Debatte auch weiterführen; aber sie geht an einem ganz zentralen Punkt vor-bei, über den wir uns wirklich Gedanken machen sollten.Wenn Sie bei der Telekom nachfragen, wie viele Ur-heberrechtsverletzungen in einem bestimmten Zeitraumim letzten Jahr verfolgt worden sind, bekommen Sie alsAntwort eine sehr spannende Zahl. Im Zeitraum von Ja-nuar bis September letzten Jahres sind 2,6 Millionen IP-Adressen bei der Telekom abgefragt worden, um Urhe-berrechtsverletzungen zu verfolgen. Im selben Zeitraum– das ist das Ergebnis einer Kleinen Anfrage der Frak-tion Die Linke – sind 1 407 Internetseiten, die dem Bun-deskriminalamt bekannt geworden sind, durch die ent-sprechenden Stellen gelöscht worden. Das ist doch einspannendes Verhältnis: Fast 2,7 Millionen Urheber-rechtsverletzungen, aber nur 1 407 Internetseiten kin-derpornografischen Inhalts, die vom Netz genommenworden sind.Nun gibt es zwei Möglichkeiten. Die erste Möglich-keit ist: Das Problem ist nicht so groß, wie wir glauben.Dafür steht ein Argument, das wir immer anführen, näm-lich dass die kinderpornografischen Inhalte in Netzwer-ken außerhalb des World Wide Web ausgetauscht wer-den und dass das, was wir mit den Sperren zu greifenversuchen, ganz woanders stattfindet, dass sich die Kri-minalität an einer ganz anderen Stelle aufgebaut hat.
Die zweite Möglichkeit ist, dass wir das ganz andereProblem haben, gar nicht alle Fälle aufklären zu können,wenn es im World Wide Web wesentlich mehr Internet-seiten mit kinderpornografischem Inhalt gibt. Auch dannhaben wir nicht das Problem, zu entscheiden, ob wir dieSeiten sperren oder löschen, sondern dann haben wir dasProblem, dass wir gar nicht genug Beamtinnen und Be-amte haben, um das durchführen zu können. Um dasProblem zu lösen, müssen die Seiten nämlich aufgespürt,identifiziert und gelöscht werden.Nachdem Sie hier einen Gesetzentwurf eingebrachthaben, wollen Sie ihn nun durch einen Initiativantrag inirgendeiner Form befördern. Liebe Kollegen von derSPD, wenn Sie sich mit dem Thema wirklich auseinan-dersetzen wollen und es diese zahlenmäßige Differenzgibt, wäre es wichtig gewesen, einmal vorzuschlagen,wie das Problem eigentlich gelöst werden soll. Darumgeht es. Kinderpornografie im Internet bekämpft mannicht, indem wir uns hier über das Löschen oder dasSperren unterhalten, sondern indem wir die Vollzugsde-fizite beseitigen, um diese grausamen Seiten aus demNetz zu nehmen.
Das ist der eigentliche Punkt, mit dem wir uns auseinan-dersetzen müssen.Wir befinden uns in der entsprechenden Diskussionmit unserem Koalitionspartner. Deswegen werden dieErgebnisse, zu denen wir in diesen Beratungen kommen,wesentlich erfolgversprechender sein als das, was Sievon der Opposition hier vortragen.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 17/4427 zur federführenden Beratung an
den Rechtsausschuss und zur Mitberatung an den Innen-
ausschuss, an den Ausschuss für Wirtschaft und Techno-
logie, an den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend sowie an den Ausschuss für Kultur und Me-
dien zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vor-
schläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Ich rufe jetzt Zusatzpunkt 6 auf:
Vereinbarte Debatte
Weißrussland – Repressionen beenden, Men-
schenrechtsverletzungen sanktionieren, Zivil-
gesellschaft stärken
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache wiederum eine Dreiviertelstunde vorgese-
hen. – Gibt es Widerspruch dazu? Das ist nicht der Fall.
Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als ers-
tem Redner dem Kollegen Michael Link von der FDP-
Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! AlleFraktionen des Bundestages haben sich gemeinsam zudieser vereinbarten Debatte zusammengefunden – ichdanke insbesondere Marieluise Beck für die ursprüng-lich von ihr ausgegangene Initiative –, um geschlossenihr Entsetzen über die brutale Gewalt des belarussischenRegimes gegen seine eigene Bevölkerung auszudrücken.Wir sind schockiert über das Verhalten Lukaschenkos.Noch Anfang November hatte er dem besuchenden Bun-desaußenminister Westerwelle und seinem polnischenKollegen Radek Sikorski vollmundig versprochen:Diese Wahlen werden frei; Sie können selber nachzäh-len. Er hat sein Versprechen auf zynische Art und Weisegebrochen. Dieses Versprechen war nichts wert. Die Bil-der der exzessiven Polizeigewalt gegen friedliche De-monstranten verursachten einen Schock, der nachwirkt.Es kam zu blanker Unterdrückung, purer Willkür und ei-nem Wüten der Sicherheitsdienste auf einem auf euro-päischem Boden lange nicht mehr gesehenen Niveau.Es fällt schwer, zu glauben, dass so etwas gerade ein-mal eineinhalb Flugstunden von Berlin entfernt stattfin-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9453
Michael Link
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det, in fast gleicher Entfernung wie Paris. Die gemesseneEntfernung nach Belarus, nach Minsk mag klein sein;die gefühlte Entfernung entspricht zurzeit dem Durch-messer eines Kontinents. Lassen Sie uns gemeinsam da-ran arbeiten, dass es nicht zu einer Eiszeit kommt, dieletzten Endes noch stärker auf dem Rücken der belarus-sischen Bürger, der Zivilgesellschaft, ausgetragen wird.Die OSZE hat in einer Klarheit, wie es in der Ge-schichte der OSZE selten der Fall war, erklärt, dass dieWahlen weder frei noch fair waren, sondern dass ele-mentare Grundsätze transparenter und demokratischerWahlen verletzt worden sind. Zehntausende Bürger de-monstrierten am Wahlabend und in den Tagen danachfür ein Ende des Autoritarismus und eine Annäherung andemokratische Strukturen. Sie wurden brutal niederge-knüppelt. Es gab Hunderte Festnahmen, Razzien, KGB-Gewalt, Verrat, Unterdrückung jeglicher Kritik im Keim,systematische Verfolgung, einen kalten Wind der Unter-drückung, Geruch eines Regimes aus spätstalinistischerZeit.Sieben der neun Präsidentschaftskandidaten der Op-position wurden verhaftet, einige wie Andrej Sannikowzum Teil schwer verletzt und bewusstlos geschlagen. Ei-nige befinden sich immer noch im Krankenhaus bzw. inKontakt mit den Anwälten. Wir sollten alles tun, um ih-nen Rechtshilfe zu leisten, soweit es unter diesen Um-ständen möglich ist.
Wenn ich von den Präsidentschaftskandidaten rede,dann will ich die mutigen Journalisten und Vertreter derZivilgesellschaft ausdrücklich hinzufügen. Allen voranmöchte ich stellvertretend Irina Chalip nennen. Ichglaube, wir als Deutscher Bundestag müssen all jenen,die dort mutig auf die Straße gegangen sind, unserenRespekt und unsere Solidarität ausdrücken und daran ar-beiten, ihnen konkret zu helfen.
Kolleginnen und Kollegen, letztes Jahr erweckte dieEntwicklung in Belarus den Eindruck, es gäbe eine ArtTauwetter. Ich glaube, wir alle sind uns darin einig. Vieletraditionelle Besucher des Minsk-Forums sind anwe-send. Ich selber konnte leider im letzten November nichtteilnehmen. Ich habe das nach dem, was geschehen ist,umso mehr bedauert, weil man den Eindruck hat, dass essicherlich wichtig gewesen wäre, mit jeder menschli-chen Begegnung die dortigen Vertreter und Freunde zuunterstützen. Wir alle haben gehofft, dass es eine ArtTauwetter gibt.Es gab immerhin real die Möglichkeit, im belarussi-schen Fernsehen Wahlspots zu senden. Es gab auch eineLive-Debatte. Das alles waren immerhin kleine Fort-schritte. Doch alles in allem war es eine Fehleinschät-zung. Lukaschenko hat niemals auch nur im Traum da-ran gedacht, die Macht aus den Händen zu geben.Dennoch war es, glaube ich, den Versuch wert, den Wegzu gehen, alles auszutesten, was ging.Bei diesen tastenden Versuchen hat es sich allerdingserneut als Fehler herausgestellt, naiv heranzugehen. Ichglaube, einige von uns – ich schließe mich davon nichtaus – haben auch immer wieder einmal gedacht, dass wirschon mehr erreicht haben, als es tatsächlich der Fallwar. Lukaschenko wollte testen, was er von Europa be-kommt. Als er aber immer wieder – erfreulich klare –Signale bekommen hat wie beim Westerwelle/Sikorski-Besuch und beim Besuch vieler anderer Außenministerund die vielen Signale aus den Parteien, die hier vertre-ten sind, und aus den vielen Gesprächen, die er mit Ver-tretern aus Brüssel in Belarus geführt hat, dass er ohneechte Fortschritte bei Menschenrechten nicht so einfachdurchkommt, hat er sich doch wieder dort Hilfe geholt,wo er in der Vergangenheit leider schon sehr oft Unter-stützung bekommen hat, um sein Regime weiter zu ver-längern, in Russland.Dieser Versuch, sich tatsächlich zu öffnen und nichtmehr so stark auf russische Hilfe angewiesen zu sein, istmisslungen. Er hat leider von russischer Seite wiedersehr viel mehr Hilfe bekommen, als wir es vermutet hat-ten.Trotzdem sollten wir uns gemeinsam mit allen, auchin Moskau, die bereit sind, daran zu arbeiten, darum be-mühen, neue Wege zur Öffnung in Belarus zu finden.Denn ich glaube, es ist klar, dass er mit seinem Regimemittlerweile für alle Nachbarn ein Problem darstellt. Wirkönnen deshalb keine einseitigen Schuldzuweisungenmachen.
Was können wir tun? Wir haben nicht sehr viele He-bel, aber einige sind sehr effizient. Wir müssen aber beiallen Methoden und Entscheidungen prüfen, ob sie nichtdie Falschen treffen würden.Zunächst die politischen Hebel. Wir haben die OSZE.Kollegin Zapf wird nach mir reden. Liebe Frau Zapf, Siehaben sich wie kaum jemand sonst in diesem Hause– Marieluise Beck habe ich schon genannt; RolandPofalla hat sich mit seinen Einsätzen im Bereich Minsksehr verdient gemacht – mit dem Bereich Belarus be-schäftigt. Sie leiten die Arbeitsgruppe Belarus in derOSZE-PV. Damit haben wir einen Hebel. Lassen Sie unsdarüber nachdenken, ob wir nicht auf der anstehendenOSZE-PV eine Generaldebatte zum Thema Belarus füh-ren und ob wir als Deutscher Bundestag einen Antragzum Thema Belarus einbringen sollten. Das wäre eineschöne Gelegenheit, die in Kürze bevorsteht, nämlicham 24./25. Februar. Lassen Sie uns gemeinsam daran ar-beiten.
Wir sollten auch über Wege nachdenken, wie wir denDialog mit der Zivilgesellschaft möglichst weitgehendan den offiziellen Stellen vorbei führen können, um dieRichtigen zu ermutigen. Wir sollten so oft wie möglichauch selbst hinfahren und unsere Hilfe nicht denjenigen
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9454 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Michael Link
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in der Regierung zukommen lassen, die sie den wirklichBedürftigen und Betroffenen vorenthalten.Bei den konkreten Maßnahmen über das Politischehinaus sollten wir darüber nachdenken, inwiefern wir imBereich des Internationalen Währungsfonds tätig wer-den. Nach dem, was geschehen ist, geht es nicht an, dassLukaschenko weiter IWF-Kredite erhält, als ob nichtsgeschehen sei. Darüber müssen wir verstärkt nachden-ken. Dieser Hebel würde an der richtigen Stelle anset-zen, um Verhaltensänderungen zu bewirken. Aber er er-fordert die Entschlossenheit sehr vieler Mitspieler.Daran müssen wir klug, aber sehr entschlossen arbeiten.Wir müssen uns bei allen anderen Maßnahmen, dieanstehen, aber auch an die eigene Nase packen, zum Bei-spiel bei der Östlichen Partnerschaft. Wir müssen klareWorte finden. Wenn Ungarn tatsächlich wie geplant denGipfel zur Östlichen Partnerschaft in Budapest abhält,dann müssen wir mit Belarus, wenn nötig vor oder hinterden Türen, in einer klaren Sprache sprechen. Das müs-sen wir aber auch – das sage ich uns allen – bei anderenschwierigen Partnern der Östlichen Partnerschaft wie derUkraine tun, wo die Entwicklungen nicht erfreulich sind;das sage ich ausdrücklich für meine Partei. Die uns na-hestehende Stiftung ist – das geht vielen hier im Hauseso – über die Situation in der Ukraine extrem besorgt.Das müssen wir rechtzeitig ansprechen. Das Gleiche giltfür die drei Länder des Südkaukasus, und das gilt auchfür Fälle wie Usbekistan. Präsident Karimow ist auf Ein-ladung von Herrn Barroso gerade in Brüssel. Auch dortmüssen wir deutliche Worte sprechen. Wir dürfen wedernaiv noch mit Schaum vor dem Mund an die Dinge he-rangehen, sondern wir müssen die Dinge mit Augenmaßund dennoch sehr deutlich ansprechen.Letzte Bemerkung. Der nächste konkrete Schritt füruns sollte sein, im Zusammenhang mit dem gemeinsa-men Antrag, den wir, CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne,erarbeiten wollen, über dieses Thema zu sprechen.Lukaschenko mag es vielleicht gelungen sein, sein Volkfür den Moment einzuschließen. Aber wir dürfen undwerden nicht wegsehen. Lassen Sie uns gemeinsam da-ran arbeiten, dass Belarus den Weg zurück in die euro-päische Wertegemeinschaft findet, in der es von 1990 bis1994 schon einmal war, bevor Lukaschenko an dieMacht kam und das Land de facto aus dem Europaratausgeschlossen werden musste. Das sind wir insbeson-dere den tapferen Demonstranten in Minsk schuldig.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Uta Zapf von der SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! AmDienstag, den 18. Januar, erschien in der FAZ ein Artikelmit der Überschrift „Nichts hat funktioniert“. Der Unter-titel war: „Europa und der Umgang mit Weißrussland –eine Geschichte der Ratlosigkeit“. Seit dem 19./20. De-zember ist es auch eine Geschichte der Fassungslosig-keit, der Trauer, der Wut und des tiefen Erschreckensüber die Brutalität, mit der Lukaschenko nach der ge-fälschten Wahl protestierende Bürger niederknüppelnließ und seine Gegenkandidaten und ihre Kampagnen-helfer wegen Anstiftung zum Aufruhr anklagen lässt.Seit diesem Tag hören und lesen wir täglich von Re-pression und Verfolgung, Durchsuchungen und Ankla-gen, Einschüchterungen, Racheakten an Oppositionel-len, sogar vom Verschwinden von Familienangehörigen.Studenten werden von den Universitäten verwiesen.Menschen verlieren ihren Arbeitsplatz und sind Bedro-hungen ausgesetzt, und das jeden Tag. Wenn Sie auf dieInternetseite von Belapan gehen, dann lesen Sie von vie-len solchen Fällen. Das geschieht systematisch undreicht bis in die tiefste Provinz. Dies ist in der Tat ein„Schlag ins Gesicht der Annäherungspolitik“, wie es je-mand aus dem Auswärtigen Amt genannt hat.Die OSZE und die EU müssen natürlich reagieren.Kollege Link, das, was Sie im Hinblick auf die OSZEvorgeschlagen haben, würde ich gerne machen. Aber esgibt rigide Regeln, die festlegen, was auf der Winterta-gung zu passieren hat. Dort gibt es überhaupt keine Re-solutionen oder Ähnliches. Kollege Wellmann, wir wer-den das natürlich in der Generaldebatte und in denKomitees an erster Stelle erwähnen. Da geht es darum,was wir auf der Jahressitzung im Sommer machen. Dannwäre es möglich, eine Resolution einzubringen. KollegeWellmann, wir müssen uns auch darüber verständigen,wie wir mit der Arbeit der Working Group on Belarus imRahmen des OSZE umgehen sollen. Business as usualgeht nicht.Mich hat – das empfinde ich als eine regelrechte Un-verschämtheit – am 21. Dezember der neue Vorsitzendeder belarussischen OSZE-Delegation angeschrieben:Wir wollen doch zusammenarbeiten. Wir wollen das Se-minar, das Sie vorgeschlagen haben und das bisher im-mer verschoben wurde, jetzt machen. – Das geschah am21. Dezember 2010, nachdem die Knüppelei am 19. und20. Dezember 2010 losgegangen war. Das ist etwas, wasmir sehr nahegeht.
– Das ist wahr. Und Pralinen. – Noch am 3. Dezember2010 – Herr Link, Sie erwähnten den Besuch des Außen-ministers – hat Lukaschenko mit seinem eigenen Füllfe-derhalter seine Unterschrift unter das Astana-Dokumentgesetzt und somit die OSZE-Prinzipien Demokratie,Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Meinungs- undVersammlungsfreiheit sowie freie und faire Wahlen un-terschrieben. Aber diese Werte sind durch die Polizei inden Dreck geknüppelt worden.Es ist richtig, dass wir deshalb ratlos sein dürfen. Wirwissen aber auch, dass das, was wir gemacht haben,nicht funktioniert hat. Gerade Deutschland hat viel ge-macht. Ich erinnere an die Extraprogramme, die wirnoch bis letztes Jahr mit finanziellen Mitteln von bis zu5 Millionen Euro versehen haben, um unterschiedlichste
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Uta Zapf
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Gruppen in Belarus zu unterstützen. Dies geschah auchin dem Bewusstsein, dass wir mit einem solchenmenschlichen Verhalten für Demokratie, für Freiheit undfür Menschenrechte werben. Ich habe aber schon öftergesagt: Die Sticks and Carrots haben nichts geholfen.Wir haben keine Sticks mehr, und die Karotten wollensie nicht nehmen. Deshalb sind wir ratlos.Dennoch müssen wir den Dialog aufrechterhalten; ichunterstreiche das, was Sie gesagt haben, Herr KollegeLink. Natürlich müssen wir alles unternehmen, damitwir den Kolleginnen und Kollegen in Belarus, die in derOpposition zurzeit unterdrückt werden wie noch nie,Unterstützung geben. Die Hoffnung auf Verbesserungensind zerstoben. Ich denke trotzdem, dass der Schocknicht dazu führen wird, dass wir in Schockstarre verhar-ren. Es wird zu einem gemeinsamen Antrag kommen.Wir werden genau überlegen, welche Forderungenwir aufstellen sollen und müssen. Dazu gehört als Erstesdie Freilassung der Gefangenen, das Fallenlassen derAnschuldigungen, der Rechtsbeistand, der Zugang zuden Verhafteten und die medizinische Versorgung derHungerstreikenden und der Verletzten. Ich denke, dasversteht sich von selbst. Zwei der Kandidaten sind ver-letzt worden: Nekljajew und Sannikow. Lebedko hat sei-nen Hungerstreik abgebrochen, Statkevich meines Er-achtens noch nicht. Auch an dieser Stelle ist unsere volleSolidarität ganz wichtig.Wir wollen das Reiseverbot aufleben lassen und aufdiejenigen, die an der Knüppelei teilgenommen haben,ausweiten. Wir wehren uns auch nicht dagegen, die Aus-landskonten zu sperren. Wir wollen die Schuldigen sank-tionieren, aber nicht das Volk. Deshalb fordern wir aufder anderen Seite Visa-Erleichterungen für all diejeni-gen, die an diesen Maßnahmen nicht beteiligt waren.Wir wollen die Studenten unterstützen, die unsere Unter-stützung brauchen. Wir müssen für diese Studenten aufalle Fälle mehr Stipendien als bisher bereitstellen. Wirwollen neue Wege finden, die Zivilgesellschaft zu schüt-zen.Ich möchte auf einige Möglichkeiten hinweisen. Wirwollen Menschenrechtler, Journalisten und Rechtsan-wälte unterstützen, die die schwierige Arbeit in den Or-ganisationen, die ich aus ganzem Herzen bewundere,leisten. Sie leisten eine hervorragende Arbeit. Außerdemmüssen wir die vorhandenen Finanzinstrumente nutzen.Es gibt ein Finanzinstrument, das zur Unterstützung sol-cher Gruppen angewandt werden kann, ohne dass wirdeshalb mit der Administration und der Regierung einenVertrag abschließen müssen. Das ist das European In-strument for Democracy and Human Rights, also für De-mokratie und Menschenrechte. Das müssen wir nutzen,aber bitte nicht so bürokratisch, wie sonst die Finanz-instrumente gehandhabt werden. Wenn die Leute zweiJahre lang auf Geld warten müssen, dann ist das Ganzenatürlich sinnlos.Wir müssen auch versuchen, die Familien zu unter-stützen, die jetzt ihrer Existenzgrundlage beraubt sind,weil die Oppositionellen im Gefängnis sitzen. Diesewerden möglicherweise 15 Jahre lang weggesperrt, oderes kommt möglicherweise sogar noch schlimmer, wennes um eine Anklage wegen Hochverrats geht. Deshalbmüssen wir schauen, wie wir dort agieren können.Das Europäische Parlament – das habe ich auch indem Entwurf gesehen, in dem alle schon ein bisschenetwas hineingeschrieben haben – fordert eine unabhän-gige internationale Untersuchungskommission unterLeitung der OSZE. Ich denke, gerade die OSZE bietetdurch den Moskauer Mechanismus die Möglichkeit, einesolche Untersuchungskommission zu installieren, die fürsolche Fälle gedacht ist. Herr Staatsminister Hoyer, des-halb fordern wir, dass die Bundesregierung innerhalb derOSZE darauf hinwirkt, dass dieser Moskauer Mechanis-mus in Kraft gesetzt werden kann. Ich hoffe, dass dasauch klappt.Herr Link, Sie haben gesagt: Wir wollen mit Russlandzusammen etwas erreichen. – Ehrlich gesagt habe ichdaran so meine Zweifel. Inwieweit ist denn auch Russ-land daran beteiligt, dass Wahlbetrug honoriert wordenist? Wieso sagt Russland und wieso sagen einige Abge-ordnete wie Sjuganow, der sich auch dort aufgehaltenhat, das sei eine innere Angelegenheit? Diese Argumen-tation unter diesen Brüdern kennen wir doch. Deshalbbin ich nicht sicher, dass Russland, das von dem profi-tiert, was an Annäherung von Belarus in die Arme Russ-lands geschehen ist, sich jetzt auf die Menschenrechts-seite schlagen wird. Es gibt zwar in RusslandMenschenrechtler, die sich auch gemeldet haben. Ichglaube aber nicht, dass Medwedew, Putin oder anderedies tun.Lassen Sie mich als Letztes noch einmal diese etwasgroteske Geschichte aufgreifen, dass Polen und Deutsch-land diejenigen sind, die offensichtlich die Kalaschnikowswieder unter dem Bett hervorgeholt haben und die dieseUmstürze versucht haben zu provozieren. Das ist bereitsdreimal wiederholt worden. Allmählich wird es schonein bisschen merkwürdig. Wenn man etwas drei Malwiederholt, dann meint man es offensichtlich ernst. Ichdenke, dagegen müssen wir angehen.Sjuganow hat gesagt, Lukaschenko habe richtig ge-handelt, weil er sich rechtzeitig gegen die Tendenzen derAufständischen gewehrt habe. Sonst wäre nämlich das-selbe passiert wie in Jugoslawien, wie in Georgien oderwie in Moldova, dass dann nämlich der Sturz der Regie-rung geklappt hätte.Ich denke, genau das ist die Paranoia, die dortherrscht. Deshalb wird es umso notwendiger sein, dasswir eine sehr gradlinige Stellungnahme entwickeln undtrotzdem die Hand an der richtigen Stelle ausstreckenund mehr tun, liebe Freunde, als wir bisher getan haben,was Stipendien und was Visa betrifft. Darum bitte ichsehr.
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Das Wort hat der Kollege Karl-Georg Wellmann von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir habenin Minsk im Dezember eklatante Menschenrechtsverlet-zungen gesehen. Das, was wir an polizeilicher Gewaltund Brutalität gesehen haben, hat alles, was wir bisherdort wahrgenommen haben, in den Schatten gestellt.Wir verlangen – ich glaube, in der großen Mehrheitdieses Hauses – gemeinsam mit der zivilisierten Staaten-gemeinschaft erstens die sofortige Freilassung der politi-schen Gefangenen und zweitens deren Zugang zu medi-zinischer Versorgung und zu anwaltlicher Betreuung.Der OSZE-Gipfel in Astana ist keine zwei Monate her.Lukaschenko hat persönlich teilgenommen. Ich darf Ih-nen einmal vorlesen, was in der Resolution steht, die erunterschrieben hat:Wir unterstreichen, dass nur ein echter politischerDialog in Belarus den Weg zu freien und demokra-tischen Wahlen ebnen kann, die ihrerseits dieGrundlage für die Entwicklung einer echten Demo-kratie sind.Das hat er unterschrieben. Einen Dreck schert er sich da-rum und lässt die Demonstranten niederknüppeln.Wegen dieser Verhaltensweise, weil er 14 Tage vorden Wahlen diese OSZE-Resolution unterschrieben hat,hat er im Augenblick jegliches Vertrauen zerstört. Kei-ner will mit ihm im Moment reden. Das System in Weiß-russland ist unvereinbar mit den Anforderungen dermodernen Welt. Ohne Flexibilität, ohne freien Informa-tionsfluss, ohne Beteiligung der Bürger an den Entschei-dungen fehlen diesem Land und diesem System die ent-scheidenden Voraussetzungen für eine Entwicklung.Viele von uns, auch die Bundesregierung, auch dieEuropäische Union haben in den letzten Jahren den Ver-such unternommen, Weißrussland in die europäischeNormalität zu begleiten. Auch viele, die hier sitzen, ha-ben sich daran beteiligt. Es bleibt richtig, dass noch imNovember der Chef des Kanzleramts, Roland Pofalla,und der Außenminister, Guido Westerwelle, dort warenund mit ihm geredet haben. Sie sind von Lukaschenkodesavouiert worden. Aber es ist richtig, dass dieser Ver-such unternommen wurde. Es wird auch künftig – da hatHerr Link recht – Gesprächskanäle geben müssen.Die EU-Außenminister werden in drei Tagen Sanktio-nen gegen Weißrussland beschließen. Das ist richtig undwird, glaube ich, von einer breiten Mehrheit in diesemHause unterstützt. Aber mit diesen Sanktionen dürfenwir nicht – das will ich ganz deutlich sagen – die Bevöl-kerung und vor allem nicht die junge Generation bestra-fen. Wir dürfen sie nicht aussperren. In Diskussionen inMinsk wurde uns immer wieder mitgeteilt: Wenn wir de-nen sagen: „Ihr seid hier eingesperrt“, dann entgegnetman: Nein, ihr sperrt uns aus.
Vergessen wir bitte nicht, dass die demokratischenParteien in diesem Haus von alters her für Freizügigkeiteingetreten sind, nicht nur für die Menschen in der DDR,vor dem Mauerfall auch für die Menschen in Polen, inden baltischen Ländern, in Russland, in Weißrussland, inder ganzen früheren Sowjetunion. Dies dürfen wir nichtvergessen. Die Europäische Union gehört zum freienTeil Europas. Sie ist die Hoffnung für viele, die außer-halb leben; wir merken das immer wieder, wenn wir au-ßerhalb der Europäischen Union reisen. Wir müssen unsöffnen für die Verzweifelten in Weißrussland, für die, diejetzt ihren Studienplatz verloren haben und die verfolgtwerden, eingesperrt werden oder zum Militär einge-zogen werden, weil sie ihre politische Meinung gesagthaben.
Wir sollten alle darauf dringen, das Visaregime zu er-leichtern. Wir sollten leichten Zugang, zu uns zu kom-men, insbesondere für die junge Generation schaffen, fürStudenten, für Schüler, für Wissenschaftler.
Außerdem sollten wir dafür sorgen, dass wir hinreichendStudienplätze und auch Stipendien schaffen, damit dieseLeute hier ein Auskommen haben.
Man bedenke neben dem humanitären Aspekt auch,dass es sich in aller Regel in Weißrussland um hervorra-gend qualifizierte Personen handelt, gerade in den tech-nisch-naturwissenschaftlichen Bereichen. In der Weltvon heute habe ich folgende Überschrift entdeckt:„Brüderle: Fachkräfte verzweifelt gesucht“. Das ist fürdiejenigen, die wir noch überzeugen müssen, ebenfallsein Aspekt: dass gute Leute kommen.
– Herr Altsenator Wieland, es gibt immer noch einigebei uns – ich weiß das –, die befürchten –
– nun hören Sie doch erst einmal zu –, dass Europa vonWellen von Schwerstkriminellen und Prostituiertenüberschwemmt wird, wenn wir eine Visa-Erleichterungvornehmen.
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Karl-Georg Wellmann
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Ich darf hier einmal sagen: Diese Kriminellen kommensowieso zu uns; sie finden ohnehin Wege zu uns, wieauch immer.
– Frau Müller, wir haben doch Konsens. Wir müssen unsan dieser Stelle doch nicht streiten.
Ich spreche doch ganz in Ihrem Sinne. Keine Reflexe! –Die Frage der Kriminalitätsbekämpfung – wie halten wirKriminelle draußen? – darf uns nicht davon abhalten,diejenigen hereinzulassen, die wir hier haben wollen.Lieber Herr Staatsminister Hoyer, fühlen Sie sichdoch bitte durch die Stimmung in diesem Plenum ermu-tigt. Helfen Sie dem Kabinett über die Hürde, was Visa-erleichterungen angeht.
Lassen Sie uns die Tür etwas weiter aufmachen. Das istgut für uns und gut für die Menschen in Osteuropa.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Stefan Liebich von der
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!Herr Link, Frau Zapf, Herr Wellmann, wir sind uns inden allermeisten Fragen einig. Herr Wellmann hat ge-rade über Konsens und Reflexe gesprochen. Weil wiruns in den allermeisten Fragen einig sind, gehe ich da-von aus, dass wir jetzt auch umgehend in die Gesprächeeinbezogen werden. Wir würden uns gerne daran beteili-gen. Sie werden doch bei einem so ernsten Thema hiernicht mit den Albernheiten der Vergangenheit weiterma-chen wollen. Ich denke, es ist wichtig, dass es ein ge-meinsames Signal des Hauses gibt. Wir möchten an die-sem Signal gerne mitwirken.
Die Ereignisse nach den Präsidentschaftswahlen inBelarus werfen ein bezeichnendes Licht auf PräsidentLukaschenko. Es gibt ein Klima der Angst in Minsk undim Land. Es gibt ein gewaltsames Vorgehen gegen De-monstranten. Unmittelbar nach der Wahl erfolgte dieVerhaftung mehrerer Präsidentschaftskandidaten. Es gabeine Verhaftungswelle, die über 700 Menschen betraf.Das ist nicht zu akzeptieren. Damit nicht genug: Studen-ten und Dozenten, die protestieren, fliegen von der Uni.Das Büro der OSZE musste schließen, obwohl BelarusMitglied der OSZE ist.Frau Zapf, ich kann Ihnen nur recht geben: Der Vor-wurf von Lukaschenko, in Minsk seien polnische unddeutsche Spezialeinheiten an einer Umsturzvorbereitungbeteiligt, ist an Absurdität einfach nicht zu überbieten.Unsere Partnerpartei in der Europäischen Linkspartei,die United Party of the Left in Belarus, ist, was das Vor-gehen gegen die Opposition angeht, Betroffene. UnserParteivorsitzender Lothar Bisky hat mit deren Vertreterngerade vor einigen Tagen über das repressive Vorgehender Regierung gegen die Demonstranten gesprochen.Diese Partei fordert selbstverständlich harte Sanktionenund bezweifelt die Wahlergebnisse. Ich sage das auchdeshalb, weil entgegen anderslautenden Gerüchten un-sere Partei, Die Linke, mit den Leuten, die dort regieren,nichts zu tun hat und auch nichts zu tun haben will.
Für uns ist klar: Eine freie Meinungsäußerung mussmöglich sein, Wahlen müssen frei und fair sein, und dasErgebnis ist – und zwar sowohl vom Westen, wenn derWahlsieger Lukaschenko hieße, als auch von den bishe-rigen Machthabern, wenn ein alternativer Kandidat ge-winnen würde – zu akzeptieren.Die Charta von Paris, die im Jahr 1990 – auch mitBelarus – beschlossen wurde, hält fest:… niemand darf: willkürlich festgenommen oder inHaft gehalten werden, der Folter oder anderer grau-samer, unmenschlicher oder erniedrigender Be-handlung oder Strafe unterworfen werden; jeder hatauch das Recht: seine Rechte zu kennen und auszu-üben, an freien und gerechten Wahlen teilzuneh-men, auf ein gerechtes und öffentliches Verfahren,wenn er einer strafbaren Handlung beschuldigtwird …Diese Prinzipien der OSZE wurden von Belarus un-terschrieben und gerade erneut von Lukaschenko bekräf-tigt. Frau Zapf hat darauf hingewiesen. Wir dürfen natür-lich nicht hinnehmen, dass diese Rechte mit Füßengetreten werden.
Das Ganze ist besonders tragisch; denn – daraufwurde hingewiesen – es gab ja klitzekleine Verbesserun-gen. Es gab winzige demokratische Standards. Und jetztsind wir so weit zurückgeworfen worden. Nun gibt esnatürlich die Frage, wie Deutschland reagieren soll. Daskann selbstverständlich nur im Verbund mit der Europäi-schen Union geschehen. Hier ist eine gemeinsame, deut-liche Sprache erforderlich. Auch sollte es keine doppel-ten Standards geben.
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9458 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Stefan Liebich
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Meinen Vorrednern muss ich schon sagen – sie er-wähnten kurz Astana; dabei muss ich verweilen –: Auchin Astana wird regiert. Der Staatschef von Kasachstan,Nursultan Nasarbajew, hat in den Häusern seines Parla-ments nur Abgeordnete einer Partei, seiner eigenen Partei.Die Wahlen, die dazu geführt haben, haben nicht denStandards entsprochen, die die OSZE für Wahlen vorsieht.Gibt es eine Einreisesperre gegen Herrn Nasarbajew? ImGegenteil: Kürzlich haben sich 56 Staats- und Regie-rungschefs in Astana bei ihm die Klinke in die Hand ge-geben, um den ungefähr überflüssigsten OSZE-Gipfeldurchzuführen, den es je gegeben hat. Auf weitere Bei-spiele will ich nicht hinweisen, die kennen Sie ja alle sel-ber.Mir scheint es wichtig zu sein, dass wir in Belarus denDialog mit der Zivilgesellschaft weiter ermöglichen,dass es eine zügige Visaliberalisierung gibt. Ja, ich binskeptisch bei Sanktionen. Da bin ich nicht der Einzige.Diese Diskussion gibt es auch im Europäischen Parla-ment und hier im Hause. Ich teile die Sorge von HerrnWellmann, dass diese Sanktionen die Falschen treffen.Aber ganz klar ist: Die Linke tritt für demokratischeund Freiheitsrechte ein. Wir fordern die sofortige Frei-lassung von politisch motiviert Inhaftierten. Das Büroder OSZE in Minsk muss wieder eröffnet werden. DasLand darf nicht isoliert werden; im Gegenteil: Der Dia-log mit der Zivilgesellschaft muss verstärkt werden.
Lassen Sie mich mit der Charta von Paris schließen:Wir bekräftigen,jeder Einzelne hat ohne Unterschied das Recht auf:Gedanken-, Gewissens- und Religions- oder Glau-bensfreiheit, freie Meinungsäußerung, Vereinigungund friedliche Versammlung …Dem haben wir nichts hinzuzufügen.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Marieluise Beck vonBündnis 90/Die Grünen.Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esbesteht Fassungslosigkeit über die ungehemmte Gewaltund Brutalität in Minsk. Das scheint uns alle zu überra-schen. Das fällt aber auf uns zurück, nämlich auf unserkurzes Gedächtnis. Dieser dicke Bericht, den ich mitge-bracht habe, ist eine Untersuchung mit dem Titel„Willkür im Lukaschenko-Staat“. Es geht um vier Men-schen – ich möchte auch die Namen noch einmal nen-nen, damit sie nicht vergessen werden: Juri Sacharenko,Viktor Gontschar, Anatoli Krasowski und DimitriSawatzki –, die in den Jahren 1999 und 2000 verschwun-den sind, in Minsk, zu einer Zeit, als die OSZE vor Ortwar und mit vielen diplomatischen Gesprächen und Ini-tiativen versuchte, das Regime zu begleiten und auch zuverändern. Der Berichterstatter des Europarats, ChristosPourgourides, hat in seinem Sonderbericht mit der Aus-sage geendet, dass er starke Anhaltspunkte dafür fand,dass die Personen offenbar auf Weisung und mit Billi-gung von Verantwortlichen der Staatsführung in Belarusverschwanden und möglicherweise getötet wurden.Das ist nicht Chile, und das ist nicht Argentinien, son-dern das ist Minsk 1999 und 2000. Das heißt, wir habengenau gewusst oder wir konnten wissen, mit wem wir eszu tun haben.Nun kann man sagen: Gut, es ist legitim, dann, wennman mit einer Politik der Isolation nicht weiterkommt,im Interesse der Menschen im Land eine andere Strate-gie zu versuchen. – Da sind zu nennen die erneuten Ini-tiativen der OSZE und die Politik der östlichen Partner-schaft. Trotzdem haben wir uns 2006 geirrt, als wirsagten: „Es gibt Fortschritte“, während Kasulin, einerder beiden Präsidentschaftskandidaten, zu fünf Jahrenverurteilt worden ist.Heute müssen wir uns darüber klar sein, dass wir unsin einem Wettlauf mit der Zeit befinden. Herr Kasulin,der in der vergangenen Woche hier in Berlin gewesen ist,hat uns gesagt: Ein KGB-Gefängnis kann man kaumphysisch oder psychisch überleben. Das heißt, wir arbei-ten gegen die Zeit. Die Menschen, zu denen niemandZugang hat – nicht das Internationale Rote Kreuz, keineOSZE-Beobachter, keine medizinischen Betreuer, keineAnwälte, keine Verwandten –, sind in großer Lebensge-fahr. Das müssen wir hier noch einmal deutlich sagen.Verantwortlich ist ein Diktator, der offensichtlich durchnichts, aber auch gar nichts zu beeinflussen ist. Er kannfür uns kein Partner mehr sein.
Es stellen sich auch Fragen an Russland. Während derWahlkampagne, die wir als politischen Frühling gesehenhaben und sehen wollten, gab es eine massive Medien-kampagne gegen Lukaschenko, eine Schmutzkampagne.Es wurden Kandidaten in Moskau empfangen und vonMoskauer Seite auch massiv unterstützt, unterstützt da-bei, gegen den Präsidenten Lukaschenko anzutreten.Zehn Tage vor der Wahl reist Lukaschenko nach Mos-kau. Er unterschreibt 17 Verträge. Daraufhin erklärtPutin, dieser Staatsmann, der vorher in übelster Weisedenunziert worden war, sei durchaus respektabel.Ich frage, ob in Russland, einem Land, das Mitglieddes Europarats ist, sich eigentlich jemand für die Kandi-daten verantwortlich fühlt, die von dort unterstützt wur-den und jetzt in einer KGB-Haft sitzen, die an die Lub-janka erinnert. Wir müssen die Regierenden und unserePartner in Russland das sehr deutlich fragen. Es ist nichtso, dass ich da Illusionen hätte, aber wir dürfen sie nichtaus der Verantwortung entlassen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9459
Marieluise Beck
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Nun kurz zu dem, was wir tun können. Ich hätte mirvorstellen können – und da hätte es nicht um Gesichts-verlust gehen dürfen –, dass eine AußenministerinAshton oder die Außenminister Polens und Deutsch-lands im Rahmen einer gemeinsamen Initiative in Minskvorstellig geworden wären und die sofortige Entlassungder Häftlinge verlangt hätten.
Ich teile die Einschätzung von Staatsminister Hoyer,dass es um die Isolation des Regimes, aber nicht um dieder Menschen im Land geht. Darin sind wir uns alle ei-nig.Es gibt noch eines, was wir tun können, nämlichwirklich Reisefreiheit herzustellen. Als Honecker dieMenschen eingesperrt hat, haben wir uns nicht mit Visa-erleichterungen und niedrigeren Gebühren für diesenoder jenen zufriedengegeben. Ich verweise in diesemZusammenhang auch auf unsere gemeinsamen Anträgeaus diesem Haus von vor drei Jahren.Es geht um die Herstellung von Reisefreiheit. Schaf-fen wir dies nicht, helfen wir dem Diktator dabei, seineLeute einzusperren. Das kann nicht die Botschaft sein,die wir den Menschen geben. Wir wollen ihnen vielmehrsagen: Für euch, für die Bevölkerung sind die Türen inden freien Westen offen. Wir warten auf euch und wer-den alles tun, damit ihr eines Tages wieder in Freiheitmit uns verbunden seid.Schönen Dank.
Jetzt hat der Kollege Philipp Mißfelder von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Nach der engagierten Rede von KolleginBeck und auch nach den Initiativen, die sie und unserKanzleramtsminister Ronald Pofalla in den vergangenenWochen ergriffen haben, muss ich daran erinnern, dassdies heute kein Schlusspunkt unserer Aktivitäten seinkann. Wir sollten auch nicht einfach abwarten, was derEuropäische Rat – hoffentlich – in den nächsten Tagenbeschließen wird. Vielmehr muss es sich heute um einenBeitrag handeln, der aufzeigt, was folgen muss.
Die Gefahr ist natürlich, dass das Kalkül vonLukaschenko aufgeht, dass die prominenten Kritikersukzessive in Vergessenheit geraten, wenn sie einge-sperrt sind. Deshalb ist jegliche Initiative von uns Parla-mentariern und auch von der Regierung, die dann hof-fentlich auf europäischer Ebene fortgesetzt wird,hilfreich, um das Thema im Bewusstsein der Menschenzu halten.Ich bin auch dafür – Sie wissen, dass das an andererStelle schwieriger ist; da spreche ich auch für die Außen-politiker unserer Fraktion –, dass wir das Thema Visa-regelung auf die Tagesordnung setzen und damit deut-lich machen, dass das leuchtende Bild des Westens, dasvon Freiheit und Meinungsfreiheit geprägt ist, auch fürdiejenigen erfahrbar ist, die sich jetzt in dieser schwieri-gen Situation befinden.
Diese Debatte gehen wir engagiert an und wollen ent-sprechende Maßnahmen so schnell wie möglich auf denWeg bringen.Alles, was möglich ist, um die demokratische Opposi-tion zu unterstützen, tun wir. Wir führen entsprechendebilaterale Gespräche. Der frühere Präsidentschaftskandi-dat Milinkewitsch war vergangene Woche bei Kanzler-amtsminister Ronald Pofalla. Er hat uns eindringlich ge-beten, unsere Aktivitäten fortzusetzen. Das wollen wirauch tun.Wir waren in den vergangenen Monaten sicherlichnicht blauäugig, was Lukaschenko angeht. Angesichtsder Berichte aus Minsk und seiner Äußerungen hatteman, obwohl man etwas anderes hoffte, den Verdacht imHinterkopf, dass sein Handeln nur Show ist. Am Endewar es so. Er hat die Weltöffentlichkeit getäuscht. Insbe-sondere in Astana – Kollege Wellmann, Sie haben es an-gedeutet, Sie waren dabei – hat er versucht, die Welt-öffentlichkeit hinters Licht zu führen. Deshalb müssensich die OSZE und diejenigen, die sich mit dieser Re-gion verbunden fühlen – dazu gehört in erster LinieRussland –, dazu verpflichten, mit uns gemeinsam jetztmehr Druck zu machen.Sosehr ich es begrüße, dass es in der EuropäischenUnion gelungen ist – anders als es noch vor einigen Jah-ren der Fall war –, Sanktionen auf den Weg zu bringenund beispielsweise den italienischen Ministerpräsidentendavon zu überzeugen, dass es richtig ist, eine härtereGangart einzuschlagen, bin ich doch gleichzeitig derMeinung, dass man unter bestimmten Bedingungen dieSanktionen noch weiter verschärfen sollte. Zumindestsollte man darüber diskutieren.Ich glaube nicht, dass es der richtige Weg ist, dieWirtschaftsbeziehungen so fortzusetzen, wie es momen-tan der Fall ist.
Ich teile zwar die Sorge, dass Sanktionen eventuell zu ei-ner Solidarisierung mit Lukaschenko führen könnten.Andererseits sagen unsere Analysen über Weißrusslandaus, dass der Hebel von harten Wirtschaftssanktionenunter Umständen helfen kann, dieser Regierung dasRückgrat zu brechen. Denn in der Tat ist es doch so, dassso viele in Weißrussland raffinierte Produkte in der west-lichen Welt und auch in Russland gekauft werden, dass
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Philipp Mißfelder
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man ernsthaftere Wirtschaftssanktionen bis hin zu einemgänzlichen Einfrieren jeglicher Wirtschaftsbeziehungendiskutieren sollte, zumindest bis zur Erfüllung der Be-dingung, dass die Präsidentschaftskandidaten freigelas-sen werden.
Dauerhafte Sanktionen würden natürlich auch die Be-völkerung treffen. Das will ich natürlich auch nicht, weilsonst die Wohlstandsentwicklung des Landes gefährdetwerden könnte. Aber wir müssen eben – MarieluiseBeck hat es eindringlich gesagt – alle Register ziehenund alle öffentlichen und diplomatischen Möglichkeitennutzen, um dort aktiv zu sein, weil die Zeit wegläuft.Es gibt einen qualitativen Unterschied zum früherenVorgehen von Lukaschenko, denn er hat eine Zeit langversucht, unliebsame Gegner wegzusperren, die dannaber auch wieder freigelassen wurden. Aber nach alle-dem, was wir heute wissen, geht es heute nicht mehr umeinfaches Wegsperren, sondern darum, die Menschenwirklich zu brechen und für immer von der politischenBildfläche verschwinden zu lassen.
Herr Kollege Mißfelder, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Liebich von den Linken?
Ja bitte, natürlich.
Bitte.
Herr Kollege Mißfelder, vielen Dank. Ich möchte auf
die Frage der Sanktionen zu sprechen kommen.
Ich kann nachvollziehen, dass es den Wunsch gibt, mit
möglichst harten Maßnahmen zu reagieren. Ihr Kollege
Wellmann hat die Sorge formuliert, wie auch Sie, dass es
unter Umständen dann auch diejenigen treffen könnte,
die es – auch aus Ihrer Sicht – nicht treffen soll. Was
sagen Sie zu dem Argument, dass, wenn wir harte Sank-
tionen beschließen, wir einfach nur einen Beitrag dazu
leisten, dass die Entscheidungen in Moskau getroffen
werden und immer weniger hier? Es ist ja jetzt schon so,
dass sich die Frage nach IWF-Krediten dadurch erledi-
gen könnte, dass sich Russland entscheidet, Belarus zu
helfen. Es klingt erst einmal gut, zu sagen, wir beschlie-
ßen harte Sanktionen. Aber praktisch führt es dazu, dass
wir in einem noch geringeren Maße Ansprechpartner
sind, als wir es ohnehin schon sind.
Sie kennen ja meine grundsätzlich eher russland-
freundliche Haltung. Gerade deshalb, weil ich an vielen
Stellen mit russischen Politikern vertrauensvoll zusam-
menarbeite und zahlreiche Gespräche geführt habe, gehe
ich davon aus, dass es auch dieser russischen Regierung
nicht egal sein kann, was gerade vor ihrer Haustür pas-
siert. Selbst wenn man unterschiedliche Vorstellungen
davon haben mag, zu welchem Ergebnis man in Weiß-
russland kommen möchte, hat Lukaschenko aus meiner
Sicht – auch was die russischen Partner angeht – jegli-
chen Kredit verspielt. Wenn die Entscheidung in Moskau
liegt, müssen wir dafür sorgen, dass wir gemeinsam mit
Moskau den Druck erhöhen. Ich erwarte von dieser De-
batte heute, dass als Signal nach Moskau und an die rus-
sischen Vertreter in Deutschland geht, dass wir uns na-
türlich von unseren russischen Partnern erhoffen, dass
sie bei diesen Aktivitäten mitmachen, damit
Lukaschenko das Handwerk gelegt wird. Ich glaube,
dass an dieser Stelle Ihre Frage beantwortet ist.
Herr Kollege Mißfelder, auch die Kollegin Beck
möchte gerne eine Frage stellen. – Bitte schön.
Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Ich muss jetzt zu dem Trick 17 greifen: Herr Kollege
Mißfelder, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass
ich dem Kollegen Liebich sagen möchte, –
Aber nicht in dieser Debatte, weil diese Rundumdis-
kussionen nicht möglich sind.
Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
– dass wir bei der Konstruktion eines IWF-Kredites in
der Aufstellung einen Anteil von 270 Millionen Euro
eingestellt haben, der aus dem Haushalt der Europäi-
schen Union kommt, und dass dieses Geld dann in ein
Land fließt, in dem es kein Parlament gibt, und dass es in
die Hände einer Regierung fällt, über die es keine parla-
mentarische Kontrolle gibt, also mittelbar mit diesen
IWF-Geldern und mit dem EU-Budget der Polizeiappa-
rat und der Polizeiterror finanziert werden könnten, mit
dem die Menschen zusammengeknüppelt werden?
Ja, ich bin gerne bereit, das auch dem Herrn KollegenLiebich zur Kenntnis zu geben.
Er hat es jetzt aber nicht überhören können. Ich halte esfür einen wichtigen Hinweis, den Sie gerade gegeben ha-ben, weil natürlich in der Tat die bisherige Strategie war,dass er sich trotz Sanktionsmöglichkeiten so durchlavie-ren konnte, weil er irgendwie doch noch einen Ausweggefunden hat. Solange sein Regime und die Finanzie-rung dessen so hält, hat er das geschafft. Weißrussland
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Philipp Mißfelder
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ist ja kein per se armes Land. Er hat es geschafft, sichdort geschickt an der Macht zu halten.Ich möchte zum Abschluss vier Forderungen aufstel-len, die uns wichtig sind.Erstens. Kurzfristig muss unser Ziel sein, dass diepolitischen Gefangenen freigelassen werden. Deshalbsetzen sich die Bundesregierung und auch der DeutscheBundestag mit Nachdruck dafür ein.Zweitens fordere auch ich ein Einreiseverbot für Prä-sident Lukaschenko und seine regimetreuen Freunde undzugleich Visaerleichterungen für all diejenigen, die ge-gen ihn arbeiten und damit die Demokratie stärken.Drittens fordern wir die Bundesregierung auf, für dieFreilassung der politischen Gefangenen und für die wei-tere Unterstützung oppositioneller Gruppen und rechts-staatlicher Gruppierungen, zum Beispiel NGOs, inWeißrussland selbst zu werben.Viertens können wir die Probleme in Belarus nurdann lösen, wenn wir tatsächlich – ich habe es geradeschon angedeutet – die Visabeschränkung auch generellneu definieren, weil nur Reisefreiheit, Austausch, lang-jährige persönliche Kontakte und Erfahrungen dazu füh-ren können, dass Vertrauen wächst und wir eine Anbin-dung an die Europäische Union hinbekommen, um demletzten Diktator in Europa das Handwerk zu legen.Herzlichen Dank.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt der Kollege Jürgen Klimke von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Im Dezember hatte ich zu-
sammen mit dem Kollegen Schirmbeck die Gelegenheit,
als offizieller Wahlbeobachter der OSZE in Minsk, in
der letzten Diktatur Europas, dabei zu sein und den Vor-
kommnissen bei der Wahl beizuwohnen. Dabei ist uns
vor Augen geführt worden, wie effektiv eine Diktatur
Einfluss auf eine Wahlentscheidung nehmen und dies
auch organisieren kann.
Zu unserer Beobachtungsmission gehörte auch eine
kurze Diskussion mit dem Präsidenten Lukaschenko, in
der wir unsere Vorstellungen von einer funktionierenden
Demokratie deutlich machen konnten. Interessanter-
weise nahm Lukaschenko dies stillschweigend zur
Kenntnis. Er ging in seinem nachfolgendem Statement
nicht auf unsere Argumente ein. Im Gegenteil, er er-
zählte uns, wie man es von einem guten Diktator erwar-
ten kann, wie erfolgreich das Land unter seiner Führung
ist, welche Wege er in Zukunft einschlagen will und dass
er alternativlos sei.
Herr Kollege Klimke, die Frau Kollegin Beck würde
gerne eine Zwischenfrage stellen.
Gerne.
Bitte.
Marieluise Beck (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):
Herr Kollege Klimke, ich halte diesen Punkt für nicht
ganz unwichtig und bitte Sie, mir bei der Aufklärung
dieses Besuchs im Wahllokal mit Lukaschenko Nach-
hilfe zu leisten. Sind Sie bereit, das zu tun?
Nach den Gerüchten und meinen Informationen hatte
der Kollege Schirmbeck ein Kuscheltier für das Söhn-
chen von Herrn Lukaschenko dabei und gab später ein
Interview, in dem er sagte, dass man hier sehen könne,
dass diese Wahlen nach den Vorgaben der OSZE ablau-
fen würden. Wir alle waren über diese Stellungnahme
ziemlich entsetzt. Sie stellen das jetzt vollkommen an-
ders dar. Ich glaube, es ist wichtig, dass dieses Parlament
weiß, was in diesem Wahllokal wirklich passiert ist.
Frau Kollegin, ich gebe meinen ganz persönlichenEindruck von vier Tagen wieder, in denen wir zunächstvon der OSZE in die Voruntersuchungen eingeführt wur-den. Es ist sodann ein Eindruck vom Wahltag selbst, denwir in zwölf Wahllokalen verbracht haben, und es istauch bei der Auszählung der Stimmen ein Eindruck ent-standen. Das alles ist ein sehr ambivalenter Eindruck,weil uns an diesen Tagen vorgeführt wurde, wie man et-was organisieren kann und wie man versuchen kann,vorzuführen, dass man demokratisch ist, ohne es tatsäch-lich zu sein. Das ist, glaube ich, das Entscheidende.
Dieser Versuch ist misslungen; das kann ich eindeutigsagen. Aber es ist immerhin ein Versuch, den man auchzur Kenntnis nehmen muss.Man muss auch die ernüchternden Gespräche zurKenntnis nehmen, die wir in Einzelterminen mit ver-schiedenen Oppositionskandidaten hatten. Dabei ist dieScheindemokratie auch wieder deutlich geworden. Die-sen Kandidaten sind 30 Minuten im Fernsehen zur Ver-fügung gestellt worden, in denen sie ihre politischenGrundlagen darstellen konnten. Aber 90 Prozent derpolitischen Fernsehsendungen wurden von Lukaschenkobestimmt; das ist die andere Seite. Während von jedemKandidaten 100 000 Unterstützerunterschriften mühsamherbeigebracht werden mussten, wurden die 1,1 Millio-nen, die Lukaschenko bekommen hat, natürlich in den
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Jürgen Klimke
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öffentlichen Unternehmen und den Behörden unter Aus-übung von Druck gesammelt. Die Menschen wurden ge-nötigt, zu unterschreiben. Das ist doch das Entschei-dende.Frau Kollegin Beck, am Wahltag selbst sollte uns vor-geführt werden, wie Wahlen frei und fair ablaufen kön-nen. Wir hatten freien Zugang. Wir konnten mit Wählernund Wahlhelfern sprechen und an der Auszählung teil-nehmen. Aber das war eben nur eine Fassade. Wir konn-ten auch hinter die Fassade schauen. Wir haben festge-stellt, dass Wahlurnen nicht bewacht wurden. Uns kamzu Ohren, dass Kandidaten mit Zwang eingeschüchtertwurden, dass Wähler genötigt wurden, das Kreuz bei Lu-kaschenko und nirgendwo anders zu machen.Man hatte in der kurzen Zeit eine gute Chance, dietatsächliche Situation zu analysieren. Das hat mir nocheinmal deutlich gemacht, wie wichtig die Aufgabe derOSZE ist, Wahlbeobachtungen durchzuführen und ent-sprechende Rückschlüsse zu ziehen. Wir haben nur einSechstel eines Eisberges gesehen; er wurde uns schönvorgeführt. Wir haben aber auch die anderen, die gefähr-lichen, negativen fünf Sechstel unter Wasser erahnenkönnen. Das ist bei solch einem kurzen Besuch das Ent-scheidende.Ich unterstütze ausdrücklich das Außenministerium,das auf Grundlage der Erkenntnisse die richtigen Ideenfür den mittelfristigen Umgang mit der Situation in Bela-rus entwickelt hat. Für mich ist es wichtig, dass wir dieIsolierung der Verantwortlichen vorantreiben. Die Isolie-rung der Bürger Weißrusslands ist aus meiner Sicht nichtder richtige Weg. Die Menschen in Weißrussland sindBürger Europas. Aus diesem Grund ist es nicht richtig,die Tür endgültig zuzuschlagen. Unser Plan muss sein– es wurde hier gesagt –, die Opposition zu stärken, ihreSchlagkraft einzufordern und vor allen Dingen sicherzu-stellen, dass die neun Oppositionskandidaten vereinterauftreten. Wir müssen Universitätspartnerschaften aufle-gen, den Studenten und der Jugend des Landes neueChancen in Europa eröffnen, damit sie Europa besserkennenlernen können. Zudem müssen wir das Regimefür die verhängten Strafen sanktionieren; das ist der rich-tige Weg. Ich nenne das Stichwort Visa; auch so etwasgehört aus meiner Sicht dazu.Zugleich ist es mir wichtig, noch einmal zu sagen,dass umfassende, langfristige Sanktionen aus meinerSicht nicht richtig sind, weil dadurch das diplomatischePorzellan eher endgültig zerschlagen würde und wir kei-nen Einfluss mehr nehmen könnten.
Als Entwicklungspolitiker weiß ich, wie es ist, mit Staa-ten umzugehen, die eine schlechte Regierungsführunghaben. Die grundlegende Erfahrung, die man sammelnkonnte, war: Mit Sanktionen kann man nur einen kurz-fristigen Erfolg haben; mit einem Boykott kann man nurkurzfristig etwas bewegen. Langfristig macht man damitaber die Chancen der Menschen in dem Lande kaputt,und genau das sollten wir in Weißrussland nicht tun.Wir sollten also den Fuß in der Tür behalten. Wir ha-ben die Möglichkeit, dies mit Initiativen des Bundesta-ges, die hier besprochen worden sind, kurzfristig zu er-reichen. Ich halte es für völlig richtig, eine Strategie, einKonzept zu entwickeln, das klar definierte Fortschrittebei der Durchsetzung der Menschenrechte, der Demo-kratisierung und der Einbindung in die westliche Sicher-heitsarchitektur als prioritär ansieht. In gleichem Maßegeht es darum, ein Konzept zu entwickeln, das esDeutschland und der EU erlaubt, langfristig aus unserenöstlichen Nachbarn befreundete strategische Partner zumachen.Danke sehr.
Ich schließe die Aussprache.
Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 7 auf:
Vereinbarte Debatte
Arbeitsprogramm der Europäischen Kommis-
sion für das Jahr 2011
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist
das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Staatsminister im Auswärtigen Amt, Dr. Werner
Hoyer, das Wort.
D
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieVorschau auf die kommenden Monate gebietet natürlichauch, kurz auf das vergangene Jahr zurückzublicken. Indiesen Wochen arbeiten wir intensiv daran, die Be-schlüsse des Europäischen Rates vom Dezember umzu-setzen und weitere Wege zu suchen, wie wir unsereWirtschaftspolitiken noch besser untereinander abstim-men können.Im letzten Jahr mussten wir immer wieder sehen, dasswir in unruhiges Fahrwasser gerieten und reagierenmussten. Ich sage ganz bewusst „reagieren“, weil dies jaauch in einem Begründungszusammenhang mit demnoch in der Hauptsache laufenden Verfahren in Karls-ruhe steht, Stichwort Ultima Ratio.Wir wissen nicht, was noch kommen mag, aber wirwissen, was wir verhindern müssen und was wir verhin-dern werden. Wir werden verhindern, dass die drei Säu-len, die Europa in den vergangenen Jahrzehnten getragenhaben, ernsthaft beschädigt werden: Versöhnung, Wohl-stand und schließlich die Überwindung der Teilung Eu-ropas.Wir dürfen uns nicht auf die Verteidigung dieser dreiSäulen beschränken, so schwer dies schon sein mag. Wirmüssen den Blick nach vorn richten, und das heißt zu-nächst, wir müssen den Euro sturmfest machen,
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Staatsminister Dr. Werner Hoyer
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auch um die zentrale Herausforderung, um die es in die-ser Zeit geht, zu bestehen. Das ist die Selbstbehauptungder Europäer in der Globalisierung.Wir brauchen eine starke Wirtschafts- und Währungs-union, in der Haushaltsdisziplin an erster Stelle steht.Wir brauchen europaweit eine Politik, die auf die Steige-rung der Wettbewerbsfähigkeit, auf neues Wachstumund Beschäftigung ausgerichtet ist.Der Maßstab für unsere Wettbewerbsfähigkeit und fürunsere Fähigkeit, im globalen Maßstab zu bestehen, istder globale Wettbewerb und nicht der Wettbewerb derEU-Staaten untereinander. Hierfür müssen wir unsereHausaufgaben erledigen, und dazu gehört, dass wir dafürsorgen, dass sich eine solche Krise nicht wiederholt.Damit sie sich nicht wiederholt, müssen die Fehler imSystem ausgemerzt werden. Die Stärkung des Stabili-täts- und Wachstumspaktes und die Einrichtung einesdauerhaften Krisenmechanismus sind zwei der grundle-genden Aufgaben, die die Europäische Union in denkommenden Monaten zu bewältigen hat.Es ist erfreulich festzustellen, dass wir uns hier ge-meinsam mit unseren Partnern auf die wesentlichen Eck-punkte geeinigt haben. Ich sage ausdrücklich Beibehal-tung des Bail-out-Verbots, Gläubigerhaftung und dienotwendige Vertragsänderung.Deutschlands Stimme wird in Europa gehört. UnsereNachbarn schätzen unsere Meinung, und sehr häufig– nicht immer verständlicherweise – teilen sie sie auch.Deswegen werden wir uns bei vielen weiteren wichtigenVorhaben, die in 2011 zur Entscheidung anstehen,ebenso engagiert und konstruktiv wie bisher einbringenals überzeugte Europäer und in Verantwortung vor denBürgerinnen und Bürgern unseres Landes, zum Beispielbei der weiteren Reform der Finanzmärkte, um Stabilitätund Vertrauen in die Märkte zurückzubringen. Hier sindbereits wichtige Fortschritte erzielt worden. Wir sind beiweitem noch nicht am Ziel.Die Kommission hat nun das Ziel ausgegeben, das ge-samte Reformpaket für den Finanzsektor bis Ende 2011auf EU-Ebene zu verabschieden. Wir unterstützen diesesehrgeizige Vorhaben, und die Bundesregierung wird mitihrem Sachverstand, ihren Ideen zum Gelingen beitra-gen; ich denke, der Deutsche Bundestag auch.Dasselbe gilt für die kommenden Verhandlungen überden mehrjährigen Finanzrahmen 2014 bis 2020, die unsallerdings auch noch weit über 2011 hinaus beschäftigenwerden. Manche Nervosität bei dem Thema ist also et-was voreilig, wie ich glaube, weil erste wesentliche Ent-scheidungen und ein erstes Aufeinanderzugehen erst imJahr 2012 und – ich sage mal voraus – wahrscheinlichauch eher in der zweiten Hälfte des Jahres 2012 zustandekommen werden. Dabei reden wir ja dann über diegrundsätzliche Ausrichtung und die politische Prioritä-tensetzung der Europäischen Union über den Zeitraumvon sieben Jahren und über Haushaltsmittel immerhin ineiner Größenordnung von zusammen nicht weniger als1 000 Milliarden Euro.Mit dem mehrjährigen Finanzrahmen entscheiden wirdarüber, wofür dieser Betrag ausgegeben wird, und da-mit nicht zuletzt über die Zukunftsfähigkeit der Europäi-schen Union insgesamt. Denn diese Entscheidungenwerden ja Einfluss darauf haben, in welchen Spitzen-technologien und Wachstumsbranchen zukünftig inEuropa geforscht, gearbeitet und Geld verdient wird.Wenn wir Zukunft gestalten wollen, ist es wichtig,dass wir diese Möglichkeit der Beeinflussung dieser Fra-gen über den Haushalt der Europäischen Union im Augehaben. Im Kontext werden natürlich auch dann intensivGespräche über die Neugestaltung der GemeinsamenAgrarpolitik und der Kohäsionspolitik zu führen sein;beide zusammen machen immerhin drei Viertel des Ge-samthaushalts der Europäischen Union aus. Deshalb er-fordern sie unsere größte Aufmerksamkeit, und wir dür-fen jetzt den Reformelan nicht verlieren.
Der Europäischen Kommission kommt bei all diesenVorhaben eine Schlüsselrolle zu. Sie ist nicht nur die Hü-terin der Verträge, sie muss auch Motor der Integrationsein. Deshalb ist die Veröffentlichung des Arbeitspro-gramms der Kommission mit rund 200 Einzelvorhabenweit mehr als ein verwaltungstechnischer Routinevor-gang, der jährlich aufs Neue vollzogen wird. Das Ar-beitsprogramm der Kommission gibt einen wichtigenAusblick. Mit manchem hat man gerechnet, manchesseit langem herbeigewünscht, anderes kommt dagegenvielleicht etwas unerwartet und zeigt uns, wo Gesprächs-und Klärungsbedarf gegenüber der Kommission besteht.Insgesamt begrüßt die Bundesregierung die Inhalteund die Ausrichtung des Arbeitsprogramms für 2011.Die Schwerpunktsetzung ist richtig, weil sie entlang derneuen Wachstums- und Beschäftigungsstrategie „Europa2020“ aufgebaut ist und Impulse zur Überwindung derKrise setzt. Wir werden uns die einzelnen Dossiers na-türlich sehr genau anschauen und darüber mit dem Deut-schen Bundestag diskutieren müssen. Sofern wir dieVerhältnismäßigkeit eines angekündigten Vorhabens in-frage stellen oder Bedenken hinsichtlich der Einhaltungdes Subsidiaritätsprinzips haben, werden wir dies deut-lich benennen und auch darüber hier im Deutschen Bun-destag debattieren.Uns geht es darum, dass der Gestaltungsspielraum na-tionaler Politik und nationaler Parlamente nicht ohneNot eingegrenzt wird, und zwar nicht, weil wir etwas ge-gen Europa hätten, sondern gerade deswegen, weil wirein wirkungsvolles, funktionsfähiges Europa wollen, dassich auf diejenigen Aufgaben konzentriert, bei denen na-tionales Handeln allein an seine Grenzen stoßen würde,aber durch gemeinsames, europäisches Handeln tatsäch-lich ein Mehrwert für die Bürgerinnen und Bürger her-beigeführt werden kann.
In diesem Sinne blicken wir auf ein Jahr 2011, in demdie entscheidenden Weichen dringend gestellt werdenmüssen, in dem effektive Schritte zur Überwindung derFinanzkrise und zur Stärkung der Wirtschafts- und Wäh-rungsunion unternommen werden müssen, in dem um-
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Staatsminister Dr. Werner Hoyer
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wälzende Reformen in den öffentlichen Haushalten an-stehen, in dem der Europäische Auswärtige Dienst invollem Umfang seine Arbeit aufnehmen und zu einemangemessenen und kohärenteren Erscheinungsbild Euro-pas in der Welt beitragen kann. Von diesem Jahr 2011wird es später vielleicht einmal heißen, dass Europa indiesem Jahr seine Fähigkeit demonstriert hat, Fehler zubeheben und aus einer schwierigen Situation heraus zuneuer Stärke zu finden; denn die Europäische Union istund bleibt der Garant für Frieden, Stabilität und Wohl-stand auf unserem Kontinent. Die Europäische Unionwird deswegen auch weiterhin von der christlich-libera-len Koalition in vollem Umfang unterstützt.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Michael Roth für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das Arbeitsprogramm der Kommission gibt uns Gele-genheit, auch wenn es dafür jetzt schon ein bisschen spätsein mag – wir hatten dieses Thema schon einmal imDezember auf der Tagesordnung –, das Jahr 2011 in denBlick zu nehmen, über die Rolle der Kommission ge-meinsam nachzudenken, aber sicherlich auch – ichnehme den Ball von Staatsminister Hoyer gerne auf –darüber zu sprechen, welche Rolle die Bundesregierungwahrnimmt; denn die Bundesregierung ist für den Deut-schen Bundestag der erste Ansprechpartner, wenn es umdie Gestaltung und die Kontrolle der Europapolitik geht.Insofern möchte ich zu dem einen oder anderen Punktgerne Stellung nehmen.Herr Hoyer, Ihre europapolitische Märchenstundeeben hat mich schon ein wenig irritiert. Sie will so garnicht zu dem passen, was wir Bundestagsabgeordnete ei-nerseits auf den Fluren in Brüssel hören und andererseitsals besorgte Anfragen fraktionsübergreifend wahrneh-men, nämlich, dass die Europapolitik der Bundesregie-rung in weiten Teilen ein Totalausfall ist.
Sie ist wankelmütig. Sie ist ideenlos. Solidarische Füh-rung in Europa sieht anders aus. Das greift über. Manhört nicht nur vom Auswärtigen Amt als dem zentralenEuropaministerium wenig Konzeptionelles und Wegwei-sendes. Auch die deutsch-französische Zusammenarbeit– das ärgert mich wirklich –, von der in den vergangenenJahrzehnten viele wichtige Impulse ausgegangen sind,funktioniert nicht mehr. Das zeigte sich spätestens aufdem Gipfel in Deauville. Ihre Politik trägt eher zur Spal-tung bei als dazu, dass zukunftsweisende und tragfähigeKompromisse in der Europäischen Union, in der EU der27, geschmiedet werden.Damit, Herr Staatsminister, müssen Sie, Ihr Bundes-minister und die Bundeskanzlerin sich schon einmal aus-einandersetzen. Der Konflikt innerhalb der EVP-Fami-lie, zwischen Ministerpräsident Juncker und derBundeskanzlerin, stellt dabei nur die Spitze des Eisbergsdar.Ich würde mit Ihnen auch gerne über die Rolle derKommission sprechen; denn auch da sehe ich einiges mitSorge. Ich bin mir sicher, Sie als überzeugter Europäer,Herr Hoyer – das würde ich niemals in Abrede stellen –,sehen das wahrscheinlich sogar ähnlich. Die Intergou-vernementalisierung der Europäischen Union hat zuge-nommen. Die EU-Politik wird immer exekutivlastiger.Da stellt sich für uns schon die Frage, inwieweit die EU-Kommission ihre Rolle als die zentrale Institution derGemeinschaftsinteressen und als Hüterin der Verträgeüberhaupt noch wahrnehmen kann, wenn sie ständig undin immer stärkerem Maße am Gängelband der nationalenRegierungen geführt wird.
In der Regel sieht es heute so aus, dass auf den Gip-feln etwas entschieden wird und die Kommission alsbloße Befehlsempfängerin fungiert und man dannschauen muss, was aus den verschiedenen Vorschlägenund Überlegungen der Staats- und Regierungschefswird. Ich sehe das insgesamt mit Sorge, weil wir trotzdes Vertrages von Lissabon überhaupt nicht in der Lagesind – das haben jedenfalls die vergangenen Jahre ge-zeigt –, hier die entsprechenden Kontrollen, die inner-halb der vergemeinschafteten EU-Politik zentral vomEuropäischen Parlament wahrgenommen werden, zuleisten.Ich wünsche mir, dass wir die EU-Kommission nichtschwächen, sondern stärken. Ich könnte es mir jetzt rela-tiv einfach machen und sagen: Die EU-Kommission isteine eher konservativ-liberal besetzte Kommission; ge-rade einmal 6 von 27 Kommissarinnen und Kommissa-ren sind Sozialdemokraten. Das geht uns nichts an. – Al-lerdings ist die EU-Kommission diejenige Institution,die noch am ehesten in der Lage ist, das europäische Ge-meinwohl in den Blick zu nehmen.An dem, was die Kommission in diesem Bereich inden vergangenen Monaten geboten hat, kann ich leiderkein gutes Haar lassen. Wie sehen denn die Vorschlägeder Kommission zur Bewältigung der Krise aus? Sie ent-sprechen alle dem hinlänglich bekannten neoliberalenDreisatz: Sozialabbau gepaart mit Steuersenkungen undRückführung staatlicher Leistungen. Ich habe überhauptnichts dagegen, dass die Kommission zum Beispiel einGrünbuch zur Rente herausgibt. Aber wenn versteckt da-rin steht, dass auf der nationalen Ebene Leistungsabbauim Sozialbereich betrieben werden muss, um die natio-nalen Haushalte auszugleichen, wird doch klar, wesGeistes Kind die Politik der Europäischen Kommissiongrößtenteils ist. Das ist nicht unsere Politik, liebe Kolle-ginnen und Kollegen.
Austeritätspolitik hemmt das Wachstum. Wir brau-chen aber in der Europäischen Union Wachstum, um so-lidarische und nachhaltige Wege aus der Krise zu finden,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9465
Michael Roth
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auf die wir die Bürgerinnen und Bürger trotz ihrer wach-senden Skepsis gegenüber der EU mitnehmen können.Ich will auch ein paar positive Aspekte benennen. Wirunterstützen ausdrücklich die Schwerpunktsetzung derKommission hinsichtlich Wachstumsbelebung undSchaffung von Arbeitsplätzen. Diese wird zwar nochnicht durch konkrete politische Projekte untermauert;aber das ist der richtige Weg. Wenn es uns gelingt, dieentsprechenden Schwerpunkte mit der Strategie EU 2020zu verknüpfen, kann daraus sicherlich etwas Gutes wer-den.Positiv finde ich auch – das fordern die Sozialdemo-kratinnen und Sozialdemokraten im EP und hier im Bun-destag schon seit Jahren – den konsequenten Kampf ge-gen Steueroasen. Ich betrachte den Vorschlag der EU-Kommission, eine gemeinsame konsolidierte Körper-schaftsteuerbemessungsgrundlage einzuführen, als eineInitiative, die in die richtige Richtung weist. Ich forderedie Bundesregierung, das Kanzleramt, das Bundes-finanzministerium und das Bundeswirtschaftsministe-rium, auf, diese Politik und diese Vorschläge konsequentzu unterstützen.
Ich finde es sehr schade, dass es uns noch nicht gelun-gen ist, die notwendige Verordnung für die zumindestvon uns als wichtig erachtete Europäische Bürgerinitia-tive auf EU-Ebene zu implementieren; sie ist immernoch nicht in Kraft getreten. Hier hätte ich mir von derBundesregierung ein etwas beherzteres Vorgehen ge-wünscht.Insgesamt kann die Europäische Union nur erfolg-reich arbeiten, wenn sie eine starke Kommission hat, diedie Zeichen der Zeit erkennt. Aus unserer Sicht erfor-dern sie ein solidarisches gemeinsames Handeln sowieeine konsequent soziale und nachhaltige Ausrichtung derPolitik. Das vermissen wir sowohl bei der Bundesregie-rung als auch bei der Kommission. Da muss dringendnachgebessert werden. Das soll unser Signal in der heu-tigen Debatte sein.Vielen Dank.
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Thomas
Dörflinger das Wort.
Danke schön, Frau Präsidentin. – Meine sehr verehr-ten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Wenn ich mir vorausgegangene Debatten aus denzurückliegenden Jahren über Arbeitsprogramme der Eu-ropäischen Kommission ins Gedächtnis rufe, komme ichnicht an der Feststellung vorbei, dass sich durch viele derDebattenbeiträge der unterschiedlichen Fraktionen – frei-lich mit unterschiedlicher Akzentuierung – als roter Fa-den ein bisschen der Vorwurf zog, dass angesichts derFülle dessen, was da aufgeschrieben worden ist, viel-leicht weniger mehr gewesen wäre und man sich viel-leicht besser auf das konzentriert hätte, was politischprioritär und in einer bestimmten zeitlichen Spannemachbar war, anstatt all das aufzuschreiben, wasschlussendlich wünschenswert war.Das vorliegende Arbeitsprogramm der EuropäischenKommission unterscheidet sich in diesem Punkt wohl-tuend von seinen Vorgängern. Das ist selbstredend undlogischerweise auch der Tatsache geschuldet – Ironie desSchicksals –, dass die Kommission – Herr Staatsminis-ter, Sie haben darauf hingewiesen – beim Thema Bewäl-tigung der Folgen der Finanz- und Bankenkrise einenganz besonderen Schwerpunkt setzt. Dadurch sind logi-scherweise andere Themen in den Hintergrund geraten.Das tut dem Programm insgesamt gut. Ich will an dieserStelle auf diesen Themenkreis, weil das schon dargestelltwurde und der Kollege Silberhorn darauf auch noch zusprechen kommen wird, gar nicht detaillierter eingehen,sondern ein paar Punkte nennen, zu denen ich mir deneinen oder anderen kritischen Unterton nicht verkneifenkann.Meine Damen und Herren, wer schon einmal in sei-nem Wahlkreis das Vergnügen gehabt hat, ein mittelstän-disches Unternehmen mit wenigen Beschäftigten beidem Vorhaben zu begleiten, einen Antrag nach dem For-schungsrahmenprogramm der Europäischen Kommis-sion zu stellen, der weiß, dass aus einem mehrseitigenAntragsformular innerhalb weniger Monate ein Vorgangwird, der mehrere Leitz-Ordner umfasst und das Unter-nehmen zu der Erkenntnis bringt, dass die Beantragungvon Mitteln aus diesem Programm ohne Konsultation ei-nes Unternehmens zur Beratung gar nicht zu leisten ist.Deshalb ist Entbürokratisierung ein wichtiges Thema.In dem Zusammenhang möchte ich ein kritischesWort zu dem Thema Vergabewesen sagen. Wenn ich mirvorstelle, dass zukünftig durch die Verknüpfung der Ver-gabe mit sachfremden Argumenten, die mit der eigentli-chen Dienstleistung, um die es in einem Vergabeverfah-ren geht, nur bedingt etwas zu tun haben, die Gefahrbesteht, dass das Vergabeverfahren selbst länger dauertals die Auftragsabwicklung, stelle ich mir schon dieFrage, ob wir an dieser Stelle auf dem richtigen Wegsind. Ich rate der Kommission, darüber noch einmalnachzudenken.
Der Kollege Roth hat das Weißbuch Pensionen ange-sprochen. Nun kommt es – da weiß ich als Baden-Württemberger, wovon ich rede –
in einer global strukturierten Arbeitswelt nicht so seltenvor, dass jemand heute in Deutschland, morgen in Frank-reich und übermorgen in Österreich arbeitet. Obwohl dieSchweiz nicht zur Europäischen Union gehört, nenne ichauch sie in diesem Kontext; denn sie gehört sehr wohl zuEuropa. Nachdem also jemand im Laufe eines langen
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Thomas Dörflinger
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Arbeitslebens in vier oder fünf unterschiedlichen Staatengearbeitet hat, stellt sich für ihn bei Eintritt in das Ren-tenalter die Frage: Wie sieht es mit der Portabilität vonRentenansprüchen aus? Das ist für den Rentenantragstel-ler bzw. die -antragstellerin nicht selten ein ziemlicherbürokratischer Aufwand. Deshalb ist der Ansatz richtig,das Verfahren an dieser Stelle zu beschleunigen und imSinne der Bürgerinnen und Bürger zu entschlacken. Ichwage aber, die These aufzustellen, dass wir das durch bi-laterale Vereinbarungen zwischen den Staaten mindes-tens genauso gut hinbekommen wie die Kommission,die hier ja selbst einen Legislativbedarf sieht und diesendann möglicherweise noch durch Gründung einer eige-nen Behörde zu untermauern versucht.
Der deutsche Kommissar Günther Oettinger hat voreinigen Wochen sehr plastisch die Summe von1 Billion Euro als notwendige Finanzinvestitionen fürden gesamten Energiesektor in die Diskussion geworfen.Herr Staatsminister Hoyer hat vorhin zu Recht das Fak-tum betont, dass wir Europäer uns in einem globalenWettbewerb auf allen möglichen Sektoren befinden. Dasgilt nach meiner festen Überzeugung nicht nur, sondernsogar in erster Linie auch für den Energiesektor. Wennwir die Technologie, die es uns ermöglicht, Energienachhaltig zu produzieren, nicht nur selbst nutzen, son-dern auch zu einem Exportschlager machen wollen,dann müssen wir notwendigerweise nicht nur in dieseTechnologie, sondern insbesondere auch in die Netze in-vestieren. Ich prognostiziere auch vor dem Hintergrundder einen oder anderen Diskussion, die wir in Deutsch-land dazu schon geführt haben: Das wird nicht konflikt-frei abgehen. Da aber die Netze auch im Wettbewerb mitanderen Regionen in der Welt einen zentralen Standort-faktor für Europa darstellen, rate ich den Kolleginnenund Kollegen im Deutschen Bundestag, diese Debattemit großer Ernsthaftigkeit zu führen und damit auch ge-genüber der eigenen Bevölkerung zu dokumentieren,dass wir mit diesem Faktum, dass das ein zentraler Wett-bewerbsfaktor ist, politisch umzugehen wissen. Dazumüssen wir die notwendigen Entscheidungen sachge-recht treffen und anschließend auch umsetzen.
Fazit: Ich habe zu Beginn gesagt, das Arbeitspro-gramm unterscheidet sich hinsichtlich der Effektivitätund der Struktur wohltuend von seinen Vorgängern. Las-sen Sie uns gemeinsam dieses Arbeitsprogramm in denkommenden Monaten zusammen mit der Bundesregie-rung und der Europäischen Kommission tatkräftig um-setzen.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Andrej Hunko für die Frak-
tion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich binhier heute Morgen ja vom Sitzungspräsidium ausge-schlossen worden. Deshalb bin ich froh, dass ich jetztnoch reden darf.
– Okay.Wir sprechen ja über das Arbeitsprogramm der EU-Kommission. Welche Frage stellen sich die Menschen,wenn sie vom Arbeitsprogramm der EU-Kommissionfür 2011 hören? Sie werden fragen, ob das Arbeitspro-gramm dazu beiträgt, die drängendsten Probleme zu lö-sen. Aber genau das tut es unserer Auffassung nachnicht.Der Kommission ist zwar bewusst, dass das Pro-gramm „zu einem für die EU besonders kritischen Zeit-punkt“ vorgelegt wird, aber ein wirkliches Umsteuernim Bereich der Wirtschafts- und Währungspolitik istnicht festzustellen. Im Gegenteil: Die gescheiterte Lissa-bon-Strategie aus dem Jahre 2000 wird jetzt in der EU-2020-Strategie fortgesetzt. Das ist ja das Gerüst diesesArbeitsprogramms. Das bedeutet noch mehr Deregulie-rung und noch mehr Privatisierung. Dieser Weg hat mitin die Krise geführt und wird die Krise weiter verschär-fen.Dagegen beschwört die Kommission geradezu denAufschwung. Durch die unsozialen europaweiten Kür-zungsprogramme wird die EU-Binnenkonjunktur aberabgewürgt. Wenn bald noch weitere Länder aus derEuro-Gruppe dazu gedrängt werden, Milliarden aus demsogenannten Euro-Rettungspaket abzurufen, werden siezu neuen Kürzungsprogrammen und Schocktherapienverpflichtet. Dazu passt dann auch die Verschärfung desdummen Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Das istschlicht inakzeptabel.
All dies bedeutet: Die Menschen zahlen jeden Tag fürdie Folgen der Wirtschafts- und Bankenkrise, und dieProfiteure werden nicht zur Kasse gebeten. Nicht nur dieLinke sagt: „Profiteure endlich zur Kasse!“, sondern dassagt auch die Mehrheit der Bevölkerung.
Deshalb gehen in vielen Ländern Europas immer wie-der Hunderttausende auf die Straße – zuletzt in Irlandund in Portugal. Dabei zeigt sich immer deutlicher – ichsage das hier sehr eindringlich –: Europa wird sozialsein, oder es wird nicht sein. Ein soziales Europa wird esnur mit einem echten Neustart der EU auf demokrati-scher und sozialer Grundlage geben. Ohne eine Kom-plettrevision und Veränderung der Grundlagenverträgein die richtige Richtung – sie werden ja gerade in die fal-
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Andrej Hunko
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sche Richtung verändert – wird es leider so weitergehenwie bisher.Schauen wir uns aber das Programm an einigen Punk-ten noch einmal konkret an:Erstens. Die Kommission gewährt zusammen mit denMitgliedstaaten und dem IWF die sogenannten Hilfspa-kete. „Hilfe“ klingt erst einmal solidarisch, aber diesePakete sind in erster Linie Bankenrettungspakete. DieMitgliedstaaten verdienen durch die Zinsen sogar nochan der Hilfe für bedürftige Staaten. Darüber hinaus sinddiese Pakete aber vor allem Spardiktate auf Kosten derBevölkerung. Sie führen zu mehr Armut und zu mehr so-zialer Ausgrenzung. Ironischerweise wurde 2010 ja zumEuropäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgren-zung proklamiert. In Wirklichkeit war es genau anders-herum. Ich glaube, 2010 wird als Jahr für Armut und so-ziale Ausgrenzung in die Geschichte eingehen.Zweitens. Die Kommission arbeitet an der Umset-zung der sogenannten Solidaritätsklausel, die in Art. 222des Vertrages über die Arbeitsweise der EuropäischenUnion geregelt ist. Aber auch hier geht es nicht um Soli-darität zwischen den Menschen. Es geht schlichtweg umden Einsatz von Militär in anderen Mitgliedstaaten, undzwar nicht nur bei Terroranschlägen oder Naturkatastro-phen, sondern, wie es im Vertrag heißt, auch bei „einervom Menschen verursachten Katastrophe“. Was kanndas sein? Aufgrund dieser vagen Definitionen könnteEU-Militär auch zur Aufstandsbekämpfung eingesetztwerden, wenn sich die sozialen Konflikte in einem Mit-gliedstaat weiter zuspitzen. In Griechenland und Spanienzum Beispiel gab es in den letzten Monaten Situationen,in denen Militär mit eingesetzt wurde. Die Linke lehnteinen solchen Einsatz von Militär grundsätzlich ab, auchdann, wenn er als Solidaritätsakt verkleidet wird.
Drittens plant die Kommission eine „Mitteilung überstärkere Solidarität innerhalb der EU“. Auch hier findetsich wieder der Begriff Solidarität. Aber was verbirgtsich dahinter? Es geht um die Solidarität zwischen denMitgliedstaaten bei der Bekämpfung von illegalisiertenMigrantinnen und Migranten. Aktuelles Beispiel: Grie-chenland soll nicht mehr allein gegen die Flüchtlingekämpfen, sondern bekommt Unterstützung von der EUmittels FRONTEX-Soforteinsatzteams. Besonders ange-sichts der katastrophalen und menschenverachtendenZustände in den überfüllten Lagern ist das nur noch zy-nisch zu nennen.
Wir fordern stattdessen die Solidarität mit Menschen inNot, und zwar – in dem Fall ist der Begriff sinnvoll – be-dingungslose Solidarität.
Ich komme zum Schluss. Fragen Sie die Menschen inEuropa, welches Arbeitsprogramm sie der Kommissiongeben würden. Der Auftrag wäre ganz klar: Profiteurezur Kasse bitten, Regulierung der Finanzmärkte und einsoziales Europa. Die Menschen müssen in Europa wie-der im Mittelpunkt der Politik stehen. Dafür stehen wirein.Ich danke.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der
Kollege Manuel Sarrazin das Wort.
Herr Hunko, eine ganz so große Rede mit Vorschlä-gen zu einer Komplettrevision der Grundlagenverträgewird mir heute nicht gelingen. Viele Punkte sind zu be-sprechen. Ich möchte meine Redezeit aber vor allem un-serer liebsten Freundin seit über einem Jahr widmen,nämlich der Krise.Herr Staatsminister Hoyer, Sie wissen, dass wir Sieim Europaausschuss für Ihre Arbeit schätzen.
Ich möchte aber daran anknüpfen, was Sie gesagt haben.Sie haben gesagt, die Bundesregierung werde sich 2011ebenso engagiert einbringen wie 2010, was die Bewälti-gung der Krise angehe.Nehmen wir als Beispiel die von Herrn Juncker vor-geschlagenen Euro-Bonds. Herr Juncker steht deutschenInteressen ja durchaus positiv gegenüber. In dem Vor-schlag von Bruegel, Juncker und Tremonti ist so offen-kundig auf Art. 3 und Art. 119 AEUV eingegangen wor-den, dass Sie alle das eigentlich freudestrahlend alsBeitrag zur deutschen Stabilitätskultur hätten begrüßenmüssen. Was aber kommt von der Bundesregierung?Dieser von deutschem Geist durchtränkte Vorschlag,Euro-Bonds im Rahmen der jetzigen Verträge möglichzu machen, wird als Angriff aus dem Süden abgetan. Dahabe ich verstanden, warum Herr Juncker beleidigt ist:weil Sie zwar sehr engagiert, aber in dem Fall völlig amKern vorbei debattiert haben.
Ich denke, es ist uns allen klar, dass wir dort, wo dieFazilität nicht funktioniert, nachbessern müssen. Esmacht keinen Sinn, eine Fazilität, die ein Problem mitdem Triple A hat, was seinerzeit in der Diskussion nochnicht absehbar war, nur deshalb unverändert beizubehal-ten, weil man sich nicht bewegen will.Ich habe Verständnis für die Bedenken, was Konditio-nalität und Ultima Ratio angeht. Das muss in die Ver-träge passen. Es müssen auch weiterhin Verstöße gegendie No-bail-out-Klausel eingeschränkt werden. Ich er-warte aber von der Bundesregierung Bewegung in dieserFrage. Ich glaube, um eine solche Bewegung zu ermögli-chen, ist es wichtig, dass sich die Koalition endlich aufeine Position einigt, damit wir in dieser Debatte eineVorreiterrolle einnehmen können. Das wünsche ich mirvon Ihnen. Denn aus meiner Sicht verpassen Sie geradeeine Chance.
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Manuel Sarrazin
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Theo Waigel hat wie andere Deutsche auch in denVerhandlungen über den Euro die Grundentscheidungdurchgesetzt, das Wirtschaftsmodell der EuropäischenUnion sozusagen nach dem deutschem Zielmaßstab derPreisstabilität auszurichten. Dieses Ziel ist gerade imHinblick auf den Euro – ich verweise auf Art. 119AEUV – so fest in den Verträgen verankert worden wiekaum ein anderes Ziel. Natürlich ist die Entscheidungbislang nicht handlungsmächtig gewesen. Diese Krisemit ihren großen Schwierigkeiten, Herausforderungenund Gefahren bietet aber sowohl Ihnen als auch uns dieChance, diese Grundsatzentscheidung auf dem Papier zueiner in der Realität zu machen. Deshalb verstehe ich diezaudernde und zögernde Haltung nicht, die die Bundes-regierung an den Tag legt.
Wirtschaftsregierung und Wirtschaftskoordinierungsind ein großes Thema. Das europäische Semester hatjetzt mit dem Bericht der Europäischen Kommission be-gonnen. Wir wollen, dass sich daran auch der DeutscheBundestag engagiert beteiligt. Eine Wirtschaftsregierungkann nur funktionieren, wenn man nicht nur über Instru-mente redet, sondern sie auch mit Leben erfüllt. Im nunbegonnenen europäischen Semester kann der DeutscheBundestag den Beweis liefern, dass er sich dieser Sacheannimmt. Deswegen wollen wir am 9. Februar einemöglichst hochrangige Unterrichtung durch die Bundes-regierung über dieses Thema in den Ausschüssen haben.Wir Grüne werden, wenn es um Fragen betreffend eineWirtschaftsregierung und den Euro-Rettungsschirmgeht, immer auf die parlamentarischen Rechte und dieparlamentarische Beteiligung achten,
und zwar auch an den Stellen, wo es uns selber wehtut,wenn zum Beispiel zu viele Informationen oder unbe-queme Wahrheiten kommen. Der Deutsche Bundestagist dafür da, dass die schwierigen Entscheidungen, dieanstehen, legitim getroffen werden, und zwar so, dass sievon der Bevölkerung als legitim angesehen werden. Da-nach werden wir uns weiterhin richten.Herr Hoyer, Ihr Haus hat einen Minister, der in seinerEigenschaft als normalerweise beliebtester Politiker desLandes besonders gut für etwas, das nicht so beliebt ist,eindringlich werben kann. Es darf gerne auch pathetischwerden. In dieser Debatte fragen wir uns: Ist der Außen-minister nicht auch Europaminister? Ich habe HerrnBrüderle vor einer seltsamen Europaflagge auf derTreppe gesehen. Aber ich habe in der ganzen Krise keinrichtig mahnendes oder klares Wort des Außenministersvernommen. Er ist nicht als wortgewaltiger Verfechterder weiteren notwendigen proeuropäischen Schritte,sondern eher als reiner Dementiminister aufgefallen.
Ich komme zum Schluss. Wenn in dieser schwierigenZeit, in der so viel passiert, der Außenminister nicht be-reit ist, die Gunst der Stunde zu nutzen, dann hoffe ich,dass wenigstens der Deutsche Bundestag die Bundes-regierung vor sich hertreibt und dafür sorgt, dass dieGunst der Stunde nicht ungenutzt bleibt.
– Sie sind da und hören uns zu. Das entschädigt mich füralles.Danke sehr.
Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege
Thomas Silberhorn.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Es ist völlig richtig, dass wir über das Ar-beitsprogramm der Kommission für 2011 vor dem Hin-tergrund der Wirtschafts- und Finanzkrise diskutieren.Die Kommission legt deswegen völlig zu Recht einenSchwerpunkt auf die Wachstumsbelebung und auf dieSchaffung von Arbeitsplätzen. Das steht am Beginn ih-res Arbeitsprogramms für 2011. Wir müssen zu einemstabilen Wachstum zurückkehren. Die Zahlen sinddurchaus erfreulich. Wir haben laut dem Herbstgutach-ten der Kommission in der gesamten EuropäischenUnion ein Wachstum von 1,7 Prozent in diesem Jahr und2,0 Prozent im nächsten Jahr zu erwarten. Die deutschenZahlen sind weit besser. Das heißt, Deutschland ist dieWachstumslokomotive der Europäischen Union. Wirmüssen von daher klare Impulse für Wachstum, die Be-lebung der Wirtschaft und neue Arbeitsplätze setzen.Damit finden wir den schnellsten Weg aus der Wirt-schaftskrise heraus.Wir sind wirtschaftlich gesund; aber die Euro-Krisestellt natürlich eine erhebliche Gefährdung dar. Ich habeüberhaupt kein Verständnis dafür, wenn ständig an dieSolidarität appelliert wird, dabei aber unter Solidaritätverstanden wird, dass insbesondere wir Deutschen dieSchulden aller anderen in der Europäischen Union auf-kaufen sollen. Die Geschäftsgrundlage – das steht in denVerträgen – ist, dass es keine Transferunion gibt, dass je-der Staat für seine Schulden einsteht.
– Selbstverständlich steht das so in den Verträgen. Des-wegen muss die Solidarität in der Europäischen Uniondarin bestehen, dass wir uns gemeinsam auf den Wegmachen, um in einer globalisierten Weltwirtschaft wie-der wettbewerbsfähig zu werden. Wir müssen Anreizedafür schaffen, dass die Mitgliedstaaten in der Euro-Zone ihre strukturellen Reformen angehen. Daran hapertes doch. In vielen Staaten der europäischen Wirt-
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Thomas Silberhorn
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schaftsunion gab es in den letzten Jahren keine struktu-rellen Reformen in den sozialen Sicherungssystemenund auf dem Arbeitsmarkt. Deshalb sind sie in die Ver-schuldung abgeglitten.
Dort muss angesetzt werden, um in diesen Staaten eineOrdnung zu schaffen, die stabiles Wachstum ermöglicht.
Ihr Vorschlag, wir sollten Euro-Bonds auflegen, istabenteuerlich. Haben Sie sich einmal ausgerechnet, wasdas alles kostet?
Wenn wir Schuldenagenturen schaffen, die alle Staatsan-leihen in Europa aufkaufen, dann werden alle Schulden,die irgendwo in Europa gemacht werden, vergemein-schaftet. Somit würde eine gesamtschuldnerische Haf-tung für alle Schulden in der Europäischen Union ge-schaffen.
Das Ergebnis wäre nicht nur, dass Deutschland dengrößten Teil dieser Schulden tragen muss, sondern auch,dass wir die Europäische Union selbst verschulden wür-den.
Der Charme der Europäischen Union ist doch, dass sieaufgrund ihrer sehr soliden Haushaltspolitik im Gegen-satz zu fast allen Mitgliedstaaten der Euro-Zone keineSchulden macht.Deswegen sagen wir Nein zu Schuldenagenturen,Nein zu Euro-Bonds, Nein zur Schuldenübernahme. Dasdarf auch nicht durch die Hintertür geschehen. Deswe-gen sage ich – adressiert an die Bundesregierung und na-mentlich an das Bundesministerium der Finanzen –: Da-für gibt es nach meiner Wahrnehmung in dieserRegierungskoalition zu Recht keine Mehrheit.
Wir müssen natürlich auch die wirtschaftspolitischeKoordinierung zwischen den Mitgliedstaaten in derEuro-Zone verbessern. Das ist gar keine Frage.
Kollege Silberhorn, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Sarrazin?
Aber gerne. Bitte schön.
Herr Silberhorn, offenkundig ist es Ihnen noch nicht
bekannt; deswegen formuliere ich es so: Sind Sie bereit,
etwas von mir anzunehmen, zu lernen bzw. mir zu glau-
ben?
Würden Sie mir glauben, dass die Vorschläge im Hin-
blick auf das Modell der Euro-Bonds, die Juncker und
Tremonti sowie Bruegel gemacht haben, nicht zu Ihrer
Umschreibung passen, sondern sowohl vereinbar sind
mit den bestehenden Vertragsmerkmalen als auch mit
der Funktionsweise des Art. 125 des EU-Vertrages sowie
der individuellen Bonitätsbewertung jedes einzelnen
Landes? Da es deutlich schwieriger ist, Red Bonds zu fi-
nanzieren, würde man sogar einen starken Anreiz für so-
lide Haushaltsführung setzen, und zwar einen stärkeren
Anreiz, als er bisher im Sanktionsmechanismus des Sta-
bilitäts- und Wachstumspaktes verankert ist.
Nein, Herr Kollege Sarrazin, ich glaube Ihnen keinWort.
– Ich bin noch nicht fertig mit meiner Antwort.
Bei allem Respekt – auch vor dem MinisterpräsidentenJuncker und Herrn Tremonti –: Es ist naiv, anzunehmen,man könne Schulden in 60 Prozent, für die man Euro-Bonds auflegt, und 40 Prozent, die die Mitgliedstaatenselber tragen, splitten. Die Reaktion der Finanzmärkte istdoch offenkundig: Man würde testen, wie weit die Soli-darität der Mitgliedstaaten der Eurozone geht. Manwürde die 60 Prozent ausschöpfen und dann fragen: Wiesieht es jetzt mit den 40 Prozent aus? – Was geschieht,wenn die 40 Prozent der Mitgliedstaaten, etwa Griechen-lands oder anderer Staaten, nicht getragen werden kön-nen? Ist die Europäische Union dann weiterhin solida-risch – dann wäre Ihr Modell bereits gescheitert –, oderist sie nicht solidarisch? In diesem Fall würde man Um-schuldungen vornehmen müssen. Dafür haben wir abernoch kein Modell. Das funktioniert also hinten undvorne nicht.Ich sage Ihnen, was funktionieren würde: Man mussgenau das tun, was der Internationale Währungsfondsmit seinen Experten seit Jahren betreibt. Man muss denhochverschuldeten Staaten die Möglichkeit eröffnen,umzustrukturieren und umzuschulden.
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9470 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Thomas Silberhorn
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Meine Prognose ist: Je später wir das hinbekommen,desto teurer wird es werden. Wir sind durch die Akteureauf den Finanzmärkten einem permanenten Stresstestausgesetzt. Wir werden diesen Stresstest nicht dadurchbestehen, dass wir immer frisches Geld in die Märktepumpen. Wir müssen uns vielmehr den strukturellen Re-formen, die die Ursache für die Krise sind, widmen undin den Mitgliedstaaten der Euro-Zone eine stabile Haus-haltspolitik verfolgen.
Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Wir müssen den Sta-bilitäts- und Wachstumspakt schärfen. Wir müssen diestrukturellen Reformen auf dem Arbeitsmarkt und in densozialen Sicherungssystemen angehen.
Wir müssen es am Ende auch ermöglichen, dass sichhochverschuldete Staaten restrukturieren und umschul-den, teilweise zulasten der privaten Gläubiger,
die auf einen Teil ihrer Forderungen werden verzichtenmüssen.
Hinzu kommt, dass wir die wirtschaftspolitische Ko-ordinierung und Überwachung in den Mitgliedstaatender Euro-Zone verbessern müssen. Dabei müssen wiruns an den Wachstumstreibern in der EuropäischenUnion orientieren. Wir können doch nicht die Starkenkünstlich schwächer machen und glauben, dass wir dannin der Europäischen Union insgesamt besser dastehen.Ich weise darauf hin, dass wir bei der Feinsteuerungnicht den Fehler machen dürfen, zu meinen, alles euro-päisch regeln zu wollen. Das wird nicht gelingen. Wirmüssen die makroökonomische Überwachung besser ko-ordinieren. Die mikroökonomischen Fragen aber müssenin der Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten blei-ben.Frau Präsidentin, gestatten Sie mir, noch in einemSatz darauf hinzuweisen, dass uns die EuropäischeKommission ein konkretes Angebot gemacht hat, denDialog mit den nationalen Parlamenten zu vertiefen. DieKommission hat uns zugesagt, jede Stellungnahme dernationalen Parlamente ernsthaft zu prüfen. Das bedeutet,die Kommission wird nicht nur Subsidiaritätsstellung-nahmen prüfen, also Stellungnahmen, die einen Verstoßgegen das Subsidiaritätsprinzip rügen, auch nicht nurStellungnahmen zu Rechtsetzungsvorschlägen, sonderngenerell jede Stellungnahme.Ich finde, das ist ein großartiges Angebot. Wir solltendavon Gebrauch machen,
indem wir uns intensiv einmischen in die Rechtsetzungs-vorhaben und in die weiteren Vorhaben der Europäi-schen Union. Ich weise darauf hin, dass wir im letztenJahr deutlich mehr Stellungnahmen im Deutschen Bun-destag verabschiedet haben, als das vor dem Inkrafttre-ten des Lissabon-Vertrages vorher der Fall war. Insbe-sondere der Rechtsausschuss, aber auch derEuropaausschuss sind dabei fleißig gewesen.
Herzlichen Dank an alle Kolleginnen und Kollegen, diehieran mitgewirkt haben und Europapolitik durch Mitge-staltung der Europäischen Union den Bürgern näherbrin-gen.Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Barchmann
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommis-sion für das Jahr 2011 erscheint auf den ersten Blick am-bitioniert. Mehr als 40 Initiativen werden vorgestellt, umdie Krisen der letzten Jahre zu bewältigen und einenneuen Aufschwung zu unterstützen, damit neue Arbeits-plätze entstehen.Ein zentraler Bestandteil dieses Arbeitsprogramms istder Binnenmarkt. Damit komme ich jetzt ein bisschenvon den Finanzen weg. Es gibt schließlich noch mehr inder Europäischen Union.
In fast allen Bereichen des Arbeitsprogramms wirdauf den Binnenmarkt Bezug genommen. Der ehemaligeKommissar Professor Mario Monti hat in seinem Berichtzum Neustart des Binnenmarktes wichtige Aspekte undauch Probleme aufgezeigt. Monti stellte zum Beispielfest, dass der Binnenmarkt notwendiger sei als jemalszuvor, aber bei den Menschen in Europa auch unbelieb-ter als jemals zuvor.Ich denke, beides ist richtig. Daraus darf man aller-dings nicht den Schluss ziehen, nun alles den vierGrundfreiheiten des Binnenmarktes zu unterwerfen, unddann würde schon alles gut. Nein, gerade jetzt, nachsolch schweren Krisen – der Euro hat sich immer nochnicht stabilisiert, und daran hat auch die Bundesregie-rung ihren Anteil –, müssen wir erkennen, dass derMarkt ohne eine soziale Flankierung ein Irrweg ist.Deshalb fordern wir als SPD seit Jahren, die sozialeFortschrittsklausel in die europäischen Verträge aufzu-
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Heinz-Joachim Barchmann
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nehmen. Immer wieder wurde uns vonseiten der Regie-rungskoalition vorgehalten, dass der Vertrag von Lissa-bon nicht neu zu verhandeln sei und man keine Chancehabe, daran etwas zu ändern. Was wir aber im Dezemberin Brüssel erlebt haben, zeigt, dass durchaus noch Mög-lichkeiten vorhanden waren. Dort wurde nämlich kurz-fristig eine Änderung des Vertrages vom EuropäischenRat beschlossen.Verstehen Sie mich in dieser Beziehung bitte nichtfalsch, liebe Kolleginnen und Kollegen. Dieser Akteuropäischer Solidarität in finanzpolitischen Fragen warwichtig und richtig. Deutschland hat schließlich auch einmassives Interesse an der Stabilität der Gemeinschafts-währung. Zu diesem Zeitpunkt hat die Bundesregierungaber wieder einmal die Chance verpasst, endlich die so-ziale Fortschrittsklausel in die Verträge hineinzuverhan-deln.
Das alleinige Starren auf die Euro-Krise und etwaigeKrisenmechanismen greift einfach zu kurz. Wir müssenin der Tat die Europäische Union weiterentwickeln.Dazu gehört neben der politischen Union und einer koor-dinierten Wirtschafts- und Finanzpolitik ein verbindli-cher sozialer Rahmen. Dieser muss in ganz Europa Min-deststandards setzen und den Bürgerinnen und BürgernEuropas Schutz und Sicherheit bieten. Genau das wäredie soziale Fortschrittsklausel. Leider hat auch die Kom-mission nicht den Mut bewiesen, diese Klausel imSingle Market Act vorzuschlagen, sondern sie hat sichauf einen butterweichen Kompromiss verständigt. Hierenttäuscht uns Sozialdemokraten die Kommission. Hierhatten wir auch nach dem Bericht von Professor Montimehr erwartet.Wirtschafts- und Sozialpolitik sind keine Gegensätze.Deshalb darf es nicht sein, dass vor dem EuropäischenGerichtshof wirtschaftliche Grundfreiheiten Vorrang vorsozialen Rechten erhalten. Die soziale Fortschrittsklau-sel ist ein Schritt, um die Bürgerinnen und Bürger Euro-pas mit dem Binnenmarkt zu versöhnen. Das ist genausowichtig wie die Maßnahmen zur Stabilisierung des Eu-ros. Nur wenn die Menschen der Europäischen Union ih-ren Institutionen vertrauen und sich in ihr sicherfühlen,können sie ihre kreativen Fähigkeiten entfalten. Ver-trauen in die soziale Sicherheit ist für die soziale Markt-wirtschaft ein wichtiges konstitutives Element. Diesesnotwendige Vertrauen wird gerade in den Ländern, dieunter der Euro-Krise am meisten zu leiden haben, mas-siv beschädigt.Woher kommen denn die Schwierigkeiten des Euros?Zum einen haben einige Länder über ihre Verhältnissegelebt. Sie müssen jetzt sparen; aber sie dürfen sich na-türlich nicht kaputtsparen, wie es in Griechenland und inIrland, nicht zuletzt auf Druck der Bundesregierung, vor-geführt wird.
Hartes Sparen allein reicht nicht aus, um die Krise zu be-wältigen, nein, sie verschärft sie nur noch. Das ist auchfür die deutsche Wirtschaft gefährlich; denn wenn un-sere europäischen Nachbarn als unsere Kunden ausfal-len, dann schlagen deren Sparbemühungen auch bei unsnegativ durch.Zum anderen ist die gemeinsame europäische Wäh-rung auch durch stark unterschiedliche Leistungsbilan-zen der einzelnen Länder belastet. Wo einige Länderhohe Defizite einfahren, erwirtschaftet Deutschlandenorme Überschüsse. Diese Ungleichheiten werden vonden Finanzmärkten erkannt und erbarmungslos ausge-nutzt. Der Euro wird als unsicher bewertet.Was macht die Bundeskanzlerin? Anstatt mit klarenMaßnahmen für Ruhe in den Märkten zu sorgen, zaudertund zögert sie weiter. Sie führt über die Presse Debattenmit Kommissionspräsident Barroso über die Ausweitungdes Rettungsschirmes, der, so hört man zumindest, internschon zugestimmt wurde. So beruhigt man die Finanz-märkte nicht, sondern so lädt man Spekulanten dazu ein,gegen den Euro zu wetten.Zur Bewältigung der Krise brauchen wir eine stärkerewirtschaftspolitische Koordinierung der EuropäischenUnion, sodass die Leistungsbilanzungleichgewichte in-nerhalb des Euro-Raumes nicht so stark auftreten kön-nen. Es geht nicht darum, Deutschlands Wettbewerbs-fähigkeit zu schwächen, sondern darum, die Leistungs-bilanzüberschüsse durch die Steigerung der Binnennach-frage zu verringern. Wir brauchen eine schrittweiseAngleichung der Lebensverhältnisse in Europa: mit ho-hem Beschäftigungsniveau, stetigem Wirtschaftswachs-tum und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht. Auf die-sem Weg kann die soziale Fortschrittsklausel intensivhelfen.
Es ist heute zu früh, um das Arbeitsprogramm der Eu-ropäischen Kommission für dieses Jahr abschließend zubeurteilen. Das kann man erst, wenn die konkreten Vor-schläge auf dem Tisch liegen.
Kollege Barchmann, achten Sie bitte auf das Signal.
Ja. – Eines allerdings hat die Kommission der Bun-
desregierung voraus: Sie hat schon einmal ein Programm
für die Weiterentwicklung Europas. Die Bundesregie-
rung scheint nicht einmal eine genaue Vorstellung von
Europa zu haben. Das ist wirklich ein Problem für
Deutschland und Europa.
Danke.
Der Kollege Detlef Seif hat für die Unionsfraktiondas Wort.
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9472 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
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Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DieseDebatte hat eines gezeigt: dass der Schwerpunkt des Ar-beitsprogramms der Kommission richtig gelegt ist. Wiralle sind bewegt nach der schwersten Wirtschaftskrise,der Finanzmarktkrise und den erheblichen Anstrengun-gen im letzten Jahr, um die Stabilität des Euros sicherzu-stellen. All dies sind Gründe dafür, dass das ganz obenauf der Agenda der Kommission steht.Die Kommission will – das ist ein Schlagwort – die„wirtschaftspolitische Steuerung“ stärken. Ich denke,dieser Begriff, der harmlos aussieht, zeigt den Wider-spruch, der auch in diesem Hause herrscht. Wir habenunterschiedliche politische Auffassungen. Die einen sindder Meinung, man muss mehr regulieren und steuern;der Staat soll sich möglichst bis ins Detail einmischen.Die anderen sagen, die Kräfte werden durch den Marktfreigesetzt; sie sind zu bändigen und in gesunde Rah-menbedingungen zu fassen. Deshalb muss das Motto– das gilt auch für die Kommission – lauten: SinnvolleRahmenbedingungen ja, aber kontraproduktive und bü-rokratische Überregulierung nein.Das war meine Feststellung zu dem Teil, der jetzt ei-gentlich die gesamte Debatte ausgefüllt hat. Es gibt abernoch ein paar weitere Punkte in dem Arbeitsprogrammder Kommission. Die „Agenda für Bürgernähe: Freiheit,Sicherheit und Recht“ soll fortgeschrieben werden. Hierist besonders die Unsicherheit für Unternehmen zu er-wähnen, welches Recht bei Vertragsabschlüssen über-haupt zur Geltung kommt. Das ist ganz wichtig; denn dieUnsicherheit führt nicht nur zu rechtlichen Schwierig-keiten, sondern kann auch handfeste wirtschaftlicheKonsequenzen haben.Ganz wichtig ist auch die Richtlinie über die Rechtevon Opfern von Straftaten. Erstmals soll in den EU-Staa-ten insgesamt das Opfer der Straftaten im Fokus stehen.Ihm sollen die notwendigen staatlichen Unterstützungs-maßnahmen in allen EU-Ländern zuteilwerden.Die Kommission legt ihren Fokus auch auf die Stär-kung der Präsenz Europas auf der internationalen Bühne.Ausdrücklich heißt es in dem Programm: Der Europäi-sche Auswärtige Dienst, EAD, soll unterstützt werden. –In diesem Jahr wird es darauf ankommen, ob die Kom-mission die Kompetenzen der Hohen Vertreterin für Au-ßen- und Sicherheitspolitik tatsächlich anerkennt oder obes hier zu erheblichen Reibungsverlusten innerhalb derEU kommen wird.
Die Frage ist: Wird hier eventuell eine Doppeldiplomatieeröffnet, die im Nachhinein belegen würde, dass es sichbei dem Satz in diesem Programm lediglich um eineleere Phrase handelte? Das bleibt abzuwarten.Einige Umweltverbände haben den Kommissionsprä-sidenten Barroso kritisiert und gesagt: Das Programm istwirtschaftslastig. Das soll im Ergebnis bedeuten: Ener-giepolitik und Umweltpolitik spielen in diesem Pro-gramm kaum eine Rolle. Aber der Teufel steckt im De-tail. Das Arbeitsprogramm besteht nicht nur aus denzwölf Seiten Text, sondern auch aus den 40 strategischenInitiativen. Es gibt vier Initiativen, die im Bereich derUmwelt- und Energiepolitik einschlägig sind: der Fahr-plan für eine CO2-arme Wirtschaft bis 2050, der europäi-sche Energieeffizienzplan bis 2020, der Fahrplan fürerneuerbare Energien bis 2050 und die Richtlinie zuEnergieeffizienz und Energieeinsparung.Was mir aber völlig fehlt, ist wenigstens ein Satz zuder Frage: Welche Reduktionsziele verfolgt die Kom-mission? Gilt das Ziel der Reduktion um 20 Prozent biszum Jahr 2020 im Verhältnis zum Referenzjahr 1990noch? Oder hat sich da irgendetwas getan? Wird immernoch die Erhöhung des Reduktionsziels auf 30 Prozent– unter der Bedingung, dass auch andere Volkswirtschaf-ten mitziehen – angestrebt? Das Europäische Parlamenthat mit Blick auf Cancún durch eine Entschließung einZeichen gesetzt, nämlich: bedingungslose Erhöhung auf30 Prozent.Ich teile ausdrücklich die Meinung des Bundesum-weltministers Norbert Röttgen, dass sich die Europäi-sche Union hier als Vorreiter positionieren sollte. Ein„Weiter so“ hilft uns in der Klimapolitik nicht. Nachdemdie Kopenhagener Konferenz gescheitert und Cancún„wenig mehr als nichts“ ist – so ein Originalzitat imHandelsblatt –, wird es Zeit, dass hier deutliche Zeichen– von Deutschland und auch von der EuropäischenKommission ausgehend – gesetzt werden. Wir solltenuns deshalb für das bedingungslose Reduktionsziel von30 Prozent einsetzen.Als Argument gegen diese Ansicht wird angeführt,die Wettbewerbsfähigkeit Europas sei gefährdet.
– Ja. – Meines Erachtens fehlt der Mut, und es fehlt dieInnovationsbereitschaft, hier auch mal einen Schritt nachvorne zu gehen.
Das sage ich als Abgeordneter.Die europäische Automobilindustrie hat schon einmalgezeigt, dass sie die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat.Sie ist über eine gewisse Zeit in einen Tiefschlaf verfal-len. Während andere Antriebs- und Hybridtechnik ent-wickelt haben, die jetzt im Kommen ist – China will einJoint Venture mit Toyota eingehen –, müssen wir daraufachten, dass wir noch den Anschluss finden.Meine Damen und Herren, lernen wir daraus! Werheute nicht begreift, dass morgen nur die Volkswirt-schaften und nur die Unternehmen wettbewerbsfähigsind, die das berücksichtigen, ist nicht zukunftsfähig.Wir müssen Ressourcen sparen, und wir müssen die Um-welt schützen. Machen wir Europa zukunftsfähig undhelfen wir der EU-Kommission in diesem Punkt auf dieSprünge!
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9473
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Ich schließe die Aussprache.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Dagmar Enkelmann, Roland Claus, Diana
Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Fortsetzung der Braunkohlesanierung in den
Ländern Brandenburg, Sachsen, Sachsen-
Anhalt und Thüringen nach dem Jahr 2012
– Drucksache 17/3046 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Roland Claus für die Fraktion Die Linke.
Glück auf, liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Prä-
sidentin! Wir reden hier über ein gutes Stück deutscher
Einheit. Beim plötzlichen Ende der DDR waren da viele
Mondlandschaften: Braunkohletagebaue, die keiner
mehr wollte oder brauchte, geschundene Erde, schlechte
Luft und Hunderttausende Arbeitslose.
Wir erinnern: Nach dem Krieg war im Osten nichts
zur Energiegewinnung und zum Heizen – kein Öl, keine
Steinkohle –, gab es keinen Marshallplan, aber Repara-
tionszahlungen an die Sowjetunion. Blieb nur die Braun-
kohle im Bitterfelder, im Lausitzer und im Zeitzer Re-
vier, und damit entstanden die Folgen der Tagebaue.
Unser Antrag ist ein Vorschlag an das Parlament, die
Braunkohlesanierung fortzusetzen und dafür ein weite-
res Bund-Länder-Abkommen abzuschließen.
Es geht um ein Abkommen des Bundes mit den Braun-
kohleländern Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt
und Thüringen. Um die Dimension einmal zu verdeutli-
chen: Seit 1992 wurden hier Flächen im Umfang von
über 120 000 Hektar saniert und bewirtschaftet. Da das
niemand von uns sinnlich erfühlen kann, will ich Ihnen
sagen: Das ist etwa die Fläche von Berlin und Potsdam
zusammengenommen.
In diesem Jahr wird in meinem Wahlkreis und den
beiden umliegenden Wahlkreisen im Süden Sachsen-An-
halts mit dem Geiseltalsee der größte künstliche Binnen-
see in Deutschland entstehen – natürlich verbunden mit
unendlich vielen Herausforderungen zur Gestaltung ei-
ner solchen Aufgabe, aber auch mit Erwartungen zur
künftigen wirtschaftlichen und touristischen Nutzung.
Dabei kann inzwischen an sehr viele gute Erfahrun-
gen der letzten fast 20 Jahre angeknüpft werden, die in
der LMBV, der Lausitzer und Mitteldeutschen Bergbau-
Verwaltungsgesellschaft, gesammelt wurden. Aber es
gibt auch eine Reihe neuer Herausforderungen. Wir erin-
nern an die tragischen Ereignisse bei der Böschungsrut-
schung bei Nachterstedt und die vielleicht weniger be-
kannten, aber doch komplizierten Vorgänge beim
Grundwasseranstieg in den Sanierungsgebieten.
Deshalb lautet die Forderung der Bergbausanierer,
mit denen wir im guten Kontakt sind: Lasst uns den
Finanzbedarf aktuell, also auch anhand der neu gewon-
nenen Erkenntnisse ermitteln und nicht nur eine
schlichte Fortschreibung vornehmen! Geologie, meine
Damen und Herren, hält sich nicht an Legislaturperio-
den.
Seit unserer Antragstellung im September 2010 ist
das Leben natürlich weitergegangen. Das haben auch wir
verstanden, weil wir im ständigen Kontakt mit den Sa-
nierern stehen. Es gab Verhandlungen zum Abkommen
im September und im Dezember des vergangenen Jah-
res. Just am nächsten Donnerstag, am 27. Januar, erwar-
ten wir die abschließenden Beratungen. Insofern macht
es ausdrücklich Sinn, mit der heutigen Überweisung in
die Ausschüsse und den Endverhandlungen zu dem Ab-
kommen eine Übereinkunft herzustellen. Unser Antrag
– das merken Sie – hat also bereits gewirkt. Ich will es
einmal sehr zurückhaltend formulieren: Wenn Herr Bun-
desminister Brüderle den Antrag zu begründen hätte,
hätte er zumindest gesagt: Der Antrag hat den Verhand-
lungen Flügel verliehen.
Wir fordern Sie auf: Geben Sie sich einen Ruck!
Stimmen Sie dem Antrag zu! Möglicherweise stört Sie
daran nur der Absender. Wenn es Ihnen nicht passt, dass
der Antrag von uns kommt, haben wir auch dafür einen
Lösungsvorschlag: Wir können in dem damit befassten
Ausschuss daraus sehr wohl einen interfraktionellen An-
trag machen. Stimmen Sie also unserem Antrag zu!
Stimmen Sie damit für ein weiteres gutes Stück deut-
scher Einheit!
Glück auf!
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Dr. Michael
Luther das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Linken haben einen Antrag zum ThemaFortsetzung der Sanierung der Braunkohlealtstandortevorgelegt. Ich kann diesem Antrag auch etwas Gutes ab-gewinnen; denn Sie stellen am Anfang fest, dass die Sa-nierungen der letzten 20 Jahre eine Erfolgsgeschichte
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Dr. Michael Luther
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der deutschen Einheit darstellen. Sie loben damit die Re-gierungen der letzten 20 Jahre.
Da die CDU/CSU an diesen Regierungen viele Jahre be-teiligt war, halte ich das für erfreulich. Das sollten Sieals Opposition öfter tun.Die Braunkohlesanierung ist, wie gesagt, eine Er-folgsgeschichte. Sie wurde 1992 unter einer schwarz-gelben Bundesregierung begonnen. Alle weiteren Regie-rungen haben sie fortgesetzt. Ich denke, wir werden siein dieser Legislaturperiode unter einer schwarz-gelbenBundesregierung zu einem guten Ende bringen.
Die Braunkohlesanierung hat den Steuerzahler vielGeld gekostet, bis Ende 2012 rund 8,5 Milliarden Euro.An dieser Stelle will ich einmal Danke sagen für die So-lidarität, die hier gezeigt worden ist.
Das Lob im Antrag ist in Ordnung. Allerdings ist dernachfolgende Teil in Ihrem Antrag ziemlich überflüssig.Warum ist das so? Auch ohne Ihren Antrag haben dieVerhandlungen längst begonnen. Daran kann man einegewisse Kontinuität erkennen. Schließlich handelt essich bei dem Abkommen, das jetzt geschlossen werdensoll, um das fünfte Abkommen seiner Art. Man kann amzeitlichen Verlauf deutlich erkennen, dass man immerrechtzeitig angefangen hat, darüber nachzudenken, wasder nächste Schritt ist, welche Maßnahmen fortgesetztwerden müssen und welche neuen Aufgaben hinzukom-men. Man hat sich dementsprechend über die notwendi-gen Finanzierungen verständigt.Aus diesem Grunde sage ich: Was im Antrag gefor-dert wird, ist für mich nicht neu. Die Bundesregierungverhandelt über das 5. Verwaltungsabkommen seit demletzten Sommer. Ich bin mir sicher, dass wir die Ver-handlungen in diesem Jahr zu einem guten Ende führenwerden. Ihr Antrag ist nicht notwendig; denn es gibtüberhaupt keinen Grund, am Handlungswillen der Bun-desregierung zu zweifeln. Ich denke, die letzten 20 Jahrehaben bewiesen, dass für uns die Sanierung immer einwichtiges Thema war.
Bis Ende 2012 werden rund 97 Prozent der bergmän-nischen Sicherungsarbeiten abgeschlossen sein. In Zu-kunft geht es maßgeblich um andere Themen wie dieWiedernutzbarmachung und die Verwertung der sanier-ten Flächen. Es geht aber auch um die Abwehr von Ge-fahren, die sich für Häuser und Gebäude durch den Wie-deranstieg des Grundwassers ergeben.1990 wurde das ganze Ausmaß der notwendigen Sa-nierungsaufgaben sichtbar. Im Ergebnis gab es bislang– ich habe das schon gesagt – vier Verwaltungsabkom-men über die Regelung zur Finanzierung der Beseiti-gung der ökologischen Altlasten. Bund und Länder ha-ben sich damals darauf geeinigt – das gilt auch heutenoch –, dass der Bund 75 Prozent und die Länder 25 Pro-zent der Kosten tragen.Aber mit dem Fortschreiten der bergbaulichen Siche-rungsmaßnahmen wurden neue Aufgaben erkannt, ins-besondere diejenigen, die sich aus den Gefahren desWiederanstiegs des Grundwassers ergeben. Wir brau-chen hier einen ausgeglichenen Wasserhaushalt. Dafürzu sorgen, ist eine entscheidende Aufgabe, die vor unsliegt. Der schon erwähnte Böschungsrutsch in Nach-terstedt im Sommer 2009, bei dem leider drei Todesop-fer zu beklagen waren, aber auch Erdrutsche beispiels-weise im Spreetal im letzten Jahr zeigen, dass esnotwendig ist, hier zu einer Normalisierung der wasser-wirtschaftlichen Verhältnisse zu kommen. Hier habensich Bund und Länder verständigt, abweichend von derSanierungskostenaufteilung zu einer Kostenaufteilungvon 50 zu 50 für Bund bzw. die Länder zu gelangen.Diese Einigung gilt; diese Einigung steht. Ich habe nochniemanden gehört, der das anders will – bis jetzt zumAntrag von den Linken. Ich weiß auch nicht, warum wir,wenn diese Kostenaufteilung akzeptiert ist, in Zukunftzu einer anderen Kostenaufteilung kommen sollen. Ichsehe hier also keinen Grund, etwas zu verändern. Des-halb halte ich den Antrag für einen reinen Schaufenster-antrag, wo hinter der Scheibe lauter alte Hüte ausgestelltwerden.Aber erlauben Sie mir an dieser Stelle noch ein Wortdazu. Ich habe mir bei der Vorbereitung auf diese Redenatürlich die Frage gestellt, warum wir um Himmels wil-len sanieren und so viel Geld ausgeben müssen. Ich willes mit einer anderen Sache verknüpfen. Die Linke hatmit ihrer Kommunismusdebatte in den letzten Tagenwieder einmal gezeigt, worum es hier in Wahrheit geht,nämlich – die Vorsitzende hat es erklärt –: Sie wollenden Kommunismus. Die Braunkohlesanierung ist ein ty-pisch ostdeutsches Thema. Sie ist für mich eine direkteund unmittelbare Folge der DDR-Misswirtschaft. Werhat diese verursacht? Das passierte unter der Führungder Staatspartei SED, in deren Tradition sich die Linkenheute stellen.
Raubbau an natürlichen Ressourcen, Umweltzerstö-rung in riesigem Ausmaß, Nichtrekultivierung von zer-störten Landschaften – das sind für mich Folgen des realexistierenden Sozialismus auf dem Weg zum Kommu-nismus.
Ich habe immer fein aufgepasst, was im Neuen Deutsch-land stand.Der real existierende Sozialismus hat diejenigenmundtot gemacht, die versucht haben, genau auf dieseProbleme hinzuweisen; die SED hat sie ins Gefängnisgesteckt. Die Linken stellen sich in die Tradition dieserPartei und wollen letztendlich das Gleiche.
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Ich muss sagen: Ich bin froh, dass wir im letzten Jahr20 Jahre deutsche Einheit feiern konnten und dass ichnicht im 60. Jahr der Diktatur des Kommunismus lebenmuss.
Der Braunkohleabbau, die Art und Weise, wie er betrie-ben wurde, und die damit in Verbindung stehende Um-weltzerstörung waren für mich als Ostdeutscher real er-lebter Kommunismus, und diese Erfahrung will ich nichtwiederholen müssen.
Die Braunkohlesanierung unter marktwirtschaftlichenVerhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland isteine Erfolgsgeschichte. Das 5. Verwaltungsabkommenwird diese Erfolgsgeschichte fortsetzen. Dafür brauchenwir den Antrag der Linken nicht und erst recht keine Be-lehrungen durch sie.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Peter
Danckert das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst einmal möchte ich Ihnen gute Besserung wün-
schen. Das ist wirklich ein lang andauernder Prozess,
den Sie durchmachen müssen.
Danke. Ich arbeite daran.
Ich weiß nicht, ob Sie sich bei der Kanzlerin ange-
steckt haben. Ich hoffe nicht.
Ich fürchte, es war eher umgekehrt, wenn ich das im
zeitlichen Ablauf betrachte.
Wir haben heute einen Antrag zur Braunkohlesanie-rung vorliegen. Lieber Kollege Luther, ich finde es ei-gentlich gar nicht schade, dass man auch im Rahmen derBeratung eines solchen Antrags über dieses Thema re-det. Wann sollten wir sonst darüber reden, wenn nichtanhand eines Antrags? Wenn er von den Linken kommt,finde ich das überhaupt nicht schädlich. Es ist – das ha-ben Sie auch hervorgehoben – ein gesamtdeutsches Er-folgsprojekt. Es handelt sich um ein Riesenareal, dashier peu à peu saniert worden ist und saniert wird. Wirhaben inzwischen über 8 Milliarden Euro investiert, undwir sind noch nicht am Ende. Wir haben vier sehr erfolg-reiche Verwaltungsabkommen hinter uns. Ich finde, dasist schon eine gute Leistung. Bei aller grundsätzlichenZuständigkeit des Bundes haben die Länder Branden-burg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen mitge-macht. Es war in den letzten Abkommen nicht immerganz einfach, einen gemeinsamen Nenner zu finden.Aber ich finde, das ist eine Erfolgsgeschichte. Über diekann man im Parlament auch reden.Ich gebe zu, dass da nicht alles neu ist. Verehrter Kol-lege Claus, auch ohne Ihren Antrag hätten sich der Bundund die vier Länder damit beschäftigen müssen. Das ha-ben sie übrigens zu dem Zeitpunkt, zu dem dieser Antragverfasst worden ist, schon längere Zeit getan. Außerdemgibt es die Verpflichtung aus § 5 des 4. Verwaltungsab-kommens, sich damit zu beschäftigen und rechtzeitig einneues Abkommen zu erarbeiten. Von daher ist der An-trag nicht so fundamental, dass ohne ihn diese Dingenicht zur Sprache gekommen wären.Hier ist eine ökologische Meisterleistung – sie istnoch nicht abgeschlossen – vollbracht worden. DieBraunkohlesanierung bringt tagtäglich auch neue Pro-bleme mit sich; wir haben von den Vorfällen in den letz-ten Monaten gehört. Aber hier muss auch – ich wendemich an den Staatssekretär Steffen Kampeter als einfa-chen Abgeordneten –
ein gewaltiger Kraftakt vollbracht werden. Im letztenVerwaltungsabkommen für die Jahre von 2008 bis 2012sind es etwa 1 Milliarde Euro. Wir Brandenburger profi-tieren in einer Größenordnung von 480 Millionen davon,allerdings sind es auch 180 Millionen aus Landesmitteln.Es ist also ein gemeinsames Projekt.Die LMBV hat einen Bericht über den Status quo er-arbeitet, der genau sagt, wo wir uns im Hinblick auf diebergrechtliche und wasserrechtliche Situation im Mo-ment befinden, und daraus eine Plausibilitätsplanung ge-macht, um das Sanierungsgeschehen weiter zu begleiten.In dieser Etappe hat sich gezeigt, dass wir nicht nur sa-nieren müssen, sondern auch sanierte Flächen nacharbei-ten müssen, damit die Sicherheit für unsere Bürgerinnenund Bürger an dieser Stelle gegeben ist. Wir haben ganzerhebliche wasserrechtliche Probleme zu lösen – dabeigeht es um die Wasserqualität –, was ebenfalls einegroße ökologische Herausforderung ist. Auch dieskommt den Menschen in der Region zugute.Die Abwehr von Gefahren aus dem Grundwasserwie-deranstieg muss fortgeführt werden. Diese Gefahren, diesich aus einer Kombination von Altbergbau und Grund-wasserwiederanstieg ergeben, sind natürlich in die Sa-nierungsbemühungen einzubeziehen, um – ich habe eseben schon gesagt – auch das Hab und Gut der Bürgerin-nen und Bürger sowie Gewerbeflächen sicher zu schüt-zen. Dies ist wirklich eine große Herausforderung.In Ihrem Antrag beziffern Sie den Abarbeitungsstandmit etwa 97 Prozent. Dies werden wir in der Beratung imHaushaltsausschuss noch einmal zur Sprache bringen;denn das ist nach dem, was ich aus dem Kreis der auf derArbeitsebene Tätigen höre, bei weitem noch nicht er-reicht. Das heißt, es gibt hier auch zusätzliche finanzielle
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9476 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Dr. Peter Danckert
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Verpflichtungen für den Bund und die Länder. Ich hoffe,Herr Staatssekretär, dass diese Aufgabe, die primär beimBund liegt, ernst genommen wird und sich darüber keinegrößere Debatte ergibt, damit dieses riesige Projekt auchzu Ende geführt werden kann.Wir werden das Jahr 2011 abwarten müssen, um ei-nen zwischen Bund und Ländern abgestimmten Entwurfhinzubekommen. Dann wird sicherlich noch einmal hierim Parlament darüber debattiert werden. Ich vermute,dass in der zweiten Hälfte des nächsten Jahres eine Lö-sung gefunden werden kann. Im Haushaltsausschuss undin den mitberatenden Ausschüssen werden wir noch ge-nügend Gelegenheit haben, diese Dinge im Detail zu er-örtern und die historische Aufgabe hinreichend zu wür-digen. Immerhin ist dies eines der ganz großengesamtdeutschen Projekte, das für viele andere Regio-nen beispielhaft ist, die mit Braunkohlebergbau zu tunhaben. Ich freue mich auf die Debatte in den Ausschüs-sen.Vielen Dank.
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Haustein das
Wort.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Die Braunkohle ist ein fossilerBrennstoff; das ist bekannt.
Ihr Wasseranteil beträgt 50 Prozent. In den festen Be-standteilen sind ungefähr 70 Prozent Kohlenstoff und3 Prozent Schwefel enthalten; der Rest ist Erde. Deshalbhatte die Rohbraunkohle bei uns im Osten den Spitzna-men „Heilerde“. Es ist öfter mal passiert, dass das Feuerim Kessel ausgegangen ist, anstatt schön weiterzubren-nen.Stellt euch vor, es gab einen Staat, der praktisch übereine einzige Energiequelle verfügte, nämlich die Braun-kohle.
Es gab riesige Tagebaue, große Schaufelradbagger undEimerkettenbagger. Es gab kilometerlange Transport-strecken, um die Rohbraunkohle zu den Kraftwerken zuschaffen, wo sie verstromt wurde, oder um sie zu denVerladebahnhöfen zu bringen, von wo aus die Braun-kohle im Land zum Verfeuern verteilt wurde.
Besser war es, die Rohbraunkohle zu veredeln und sie zuBriketts oder zum BHT-Koks, zum Braunkohlehochtem-peraturkoks, zu verarbeiten.Die Braunkohle bildete die Grundlage der Energie-wirtschaft der DDR. Dies hatte zur Folge, dass auf einerFläche von 1 400 Quadratkilometern, ungefähr von hierbis nach Dresden, auf einem 10 Kilometer breiten Strei-fen Tagebaue angelegt wurden. Damit wurde Raubbauan der Natur und am Menschen betrieben. Es wurderücksichtslos abgebaut; man hatte nur die Produktionvon bis zu 300 Millionen Tonnen pro Jahr im Blick. Daswar Fakt; so war es bis 1990: öde Landschaften, Unland,Umweltverschmutzung hoch fünf.Dann kam die Wende, und damit kamen glücklicher-weise ein verehrter Herr Bundeskanzler Kohl und einAußenminister Genscher, die das Problem erkannt habenund die Weichen richtig gestellt haben. Das war ent-scheidend. In den ersten beiden Jahren wurden über112 000 Menschen im Rahmen von ABM in den Braun-kohletagebauen beschäftigt. Mit dem 1. Verwaltungsab-kommen von 1993 wurde die Braunkohlesanierung gere-gelt. Das ist wirklich eine Erfolgsgeschichte: 97 Prozentder Flächen sind bereits bergmännisch saniert,87 Prozent sind rekultiviert. Es tut gut, so etwas Schönessagen zu können.Zum Antrag der Linken. Sie mahnen verschiedenePunkte an, die sowieso schon überholt sind. Die Ver-handlungen, deren Abschluss Sie fordern, laufen bereits– mein verehrter Herr Kollege Michael Luther hat es ge-sagt –;
in der nächsten Woche, am 26. oder am 27. Januar,kommt die Gruppe zusammen und wird die Weichen fürdas 5. Verwaltungsabkommen richtig stellen.Sie fordern, die Braunkohlesanierung „als öffentlicheAufgabe zu betrachten.“ Sie wird zwar von einem Pri-vatbetrieb durchgeführt, aber der Bund ist einziger Ge-sellschafter des Unternehmens und hält 100 Prozent.Also wird die Braunkohleförderung schon jetzt als eineöffentliche Aufgabe durchgeführt.Sie fordern, genug Geld zur Verfügung zu stellen. Dasist selbstverständlich notwendig, um hier zu einem gutenEnde zu kommen. Wir sollten aber nur so viel Geld wienötig bereitstellen. Nur das, was sein muss, was wir un-bedingt machen müssen, sollte gemacht werden, nicht soviel wie möglich.
Eine weitere Forderung bezieht sich auf „Maßnahmenzur Abwehr von Gefährdungen … im Zusammenhangmit einem Wiederanstieg des Grundwassers“. Das ist na-türlich so eine Sache. Sie wissen ja: Der Erzfeind desBergmanns ist das Wasser, egal ob in den Erzgrubenoder in den Tagebauen. Sie müssen es sich so vorstellen:Ein Tagebau mit den verschiedenen Stufen ist manchmal200 oder 300 Meter tief. Die Wasserhaltung hat natürlichzu Verwerfungen geführt. Der Grundwasserspiegelwurde kilometerweise abgesenkt. Zum Teil wurde aufden Flächen neu gebaut. Durch das Fluten der Tagebauesteigt jetzt der Grundwasserspiegel. Dadurch kommt eszu Schäden an Häusern, Straßen und Brücken; es kommt
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9477
Heinz-Peter Haustein
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auch zu Gefährdungen. Der Bergbau im Erzgebirge istgut 800 Jahre alt. Noch immer – auch heute noch – gibtes Einstürze an Straßen und auf Feldern; noch heute ent-stehen Bingen. Der Bergbau ist also sehr langfristig an-gelegt.Ich fasse zusammen: Das ist wirklich eine Erfolgsge-schichte, die die christlich-liberale Koalition schon 1990begonnen hat.
Mir gibt dieser Antrag, eben weil er von den Linkenkommt, Gelegenheit, den Leuten zu sagen: Auch das isteine Seite des Kommunismus – Raubbau an der Natur,Missachtung der Schöpfung. Da spielt das überhauptkeine Rolle. Umwelt- und Naturschutz: gleich null.Auch das muss einmal gesagt werden.Wenn Sie letzte Woche gesagt haben, Sie wollen denKommunismus wieder, dann kann ich nur entgegnen:Ich habe es ja schon immer geahnt; denn Sie halten jaam Kommunistischen Manifest als Grundlage Ihrer Poli-tik fest. Meine Sache ist das nicht. Ich habe, ganz ehrlichgesagt, vom Kommunismus die Schnauze voll.SPD und Grünen in NRW möchte ich noch sagen:Seid vorsichtig, von wem ihr euch tolerieren lasst, sonststeckt es euch irgendwann auch noch an.
Liebe Freunde, in diesem Sinne ein herzliches „Glückauf!“ aus dem Erzgebirge.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kol-
lege Krischer das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ja, es fiele mir schon etwas ein zu dem letzten Debatten-beitrag, aber ich glaube, das hätte weniger mit demThema Braunkohlesanierung zu tun. Deshalb will ichmich lieber mit diesem Thema auseinandersetzen.
Man kann sich in der Tat fragen, warum dieser Antragjetzt hier eingebracht wird. Denn eigentlich war klar:Die Haushaltsmittel waren schon in die mittelfristige Fi-nanzplanung eingestellt. Soweit ich informiert bin, gabes auch keinen großen Dissens darüber, dass das fortge-setzt wird. Da kann man schon fragen: Warum bringtman einen solchen Antrag ein? Aber ich will die Gele-genheit nutzen, einfach Bilanz zu ziehen.Hier ist sehr viel gelobt worden. In der Tat ist da eineMenge geleistet worden. Das ist ein positives Beispiel,ohne Zweifel. Aber es ist nicht alles gut gelaufen, und esgibt eine ganze Reihe von Problemen. Das Unglück inNachterstedt ist nur das augenfälligste, das mit denschlimmsten Folgen gewesen. Wir haben in den Sanie-rungsgebieten eine ganze Reihe von Problemen. Erst imOktober dieses Jahres hat es im ehemaligen TagebauSpreetal einen schweren Grundbruch gegeben, bei dem– man glaubt es nicht – 80 Schafe umgekommen sind.Darüber kann man jetzt vielleicht lachen,
aber man darf sich nicht vorstellen, was passiert wäre,wenn an der Stelle Menschen gewesen wären. Das zeigteben, ganz so optimal läuft diese Sanierung nicht.
Es gibt eine Reihe von weiteren Fällen. Zum Beispiel hates in der Weihnachtszeit im ehemaligen Tagebau Lohsaeinen weiteren Grundbruch gegeben. Wir haben riesigeProbleme mit den Grundwasserständen. Wir haben Schwe-fel im Wasser, es gibt Versauerungen. Wenn ich mir dieStellungnahmen der Naturschutzverbände vor Augen führe,dann sehe ich: Es gibt auch eine ganze Menge Kritik,
dass da die Kriterien der Biodiversität, des Naturschut-zes nicht immer vollständig berücksichtigt worden sind.Auch das, denke ich, muss man in dieser Debatte sagen;auch darauf muss man hinweisen.
Ich finde auch, es ist zu wenig, nur über die Vergan-genheit zu reden. Denn es gibt ja auch noch laufendeBraunkohletagebaue, im Osten und im Westen Deutsch-lands.
Zu den Problemen, die damit verursacht werden, denAltlasten und Ewigkeitskosten, die dort bestehen bzw.noch entstehen werden, finde ich leider in diesem Antragnichts. Ich würde mir wünschen, dass wir uns auch damitauseinandersetzen. Nur Geldforderungen für Folgen derVergangenheit zu stellen, das ist meines Erachtens zuwenig.
Wir müssen darauf achten, dass wir hier nicht in ein paarJahren über die Folgeschäden und die Folgekosten derTagebaue, die heute laufen, diskutieren werden, dannnämlich, wenn sich RWE und Vattenfall, die diese Tage-baue heute betreiben, möglicherweise aus dem Staub ge-macht haben und ihren Verpflichtungen nicht nachkom-men. Dann haben wir die nächsten Altlasten. Dazu wärenjetzt eigentlich Forderungen zu stellen; dazu würde ichmir auch mal einen Antrag wünschen.
– Die rot-grüne Regierung, das kann ich Ihnen sagen, hateine sehr gute Entscheidung getroffen, indem sie sichnämlich dafür entschieden hat, dass es nach dem Auslau-
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Oliver Krischer
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fen der vorhandenen Tagebaue keine neuen mehr gebenwird, weil wir der Meinung sind, dass die Braunkohle-verstromung nicht nur die klimaschädlichste Form derEnergieerzeugung ist, sondern auch die schädlichste inBezug auf die Landschaftszerstörung. Es werden Men-schen vertrieben; sie verlieren ihre Heimat. Das alles istnicht zukunftsfähig. Das ist auch völlig klar. Vor dieserFrage drücken Sie sich natürlich.Sie akzeptieren – das muss man leider auch der rot-roten Landesregierung in Brandenburg sagen –, dass derBraunkohletagebau weitergeht und für die Zukunft Alt-lasten produziert werden.
Das sollte nicht unser Thema sein. Es sollte uns eineWarnung sein, dass in der DDR derart viele Altlastenproduziert worden sind, dass wir bisher schon 9 Mil-liarden Euro in die Sanierung stecken mussten. Sie selbstsagen, dass das noch lange nicht das Ende ist, sondernnoch eine ganze Menge hinzukommen wird. Daraussollten wir lernen und auf die Braunkohle in Zukunft ins-gesamt verzichten. Wir sollten den Betrieb dieser Tage-baue in einem geordneten Verfahren auslaufen lassenund die umweltverträgliche Alternative, die erneuerba-ren Energien, nutzen.Ich danke Ihnen.
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Koeppen das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich konnte beim Lesen des PDS-Antrags
nicht erkennen, was die genaue Zielrichtung dieses An-trags ist.
Herr Claus, auch durch Ihre Rede ist mir das nicht deut-licher geworden. Die Kollegen vom Haushaltsausschusshingegen haben deutlich gemacht, dass es keinerlei par-lamentarischer Korrekturen bedarf, weil das 5. Verwal-tungsabkommen auf dem Weg ist. Außerdem brauchenwir keine Hinweise von Ihnen in dieser Debatte.Der Antrag ist aber trotzdem sehr gut, weil er mir Ge-legenheit gibt, kurz die Gründe hervorzuheben, warumein Milliardenaufwand der Bundesbürger zur Braunkoh-lesanierung notwendig geworden ist. Von Ihrer Seite wirdimmer wieder versucht, zu unterstellen, dass die Lastender öffentlichen Hand mit der heutigen Nutzung verbun-den sind. Das ist schlichtweg falsch. Heute haften die Un-ternehmen für jeden Eingriff. Sie bilden Rückstellungenfür die erforderliche Renaturierung. Diese Renaturierungwird von den Unternehmen, die dort tätig sind, selbstfinanziert. Das ist so. Sie brauchen gar keine anderenSpuren zu legen.Die PDS-Vorsitzende Lötzsch hat auf ihrer verzwei-felten Suche nach dem Kommunismus vor kurzem ge-sagt: Manchmal lohnt sich ein Blick in die Geschichte,um etwas zu verstehen. – Dann machen wir das einmal,um die Notwendigkeit von Verwaltungsabkommen zurRegelung der Finanzierung der ökologischen Altlastenzu erklären. Es handelt sich um fast 9 Milliarden Euro.Eines ist ganz klar: Über diese Verwaltungsabkommenwird ausschließlich die Bewältigung der Altlasten derdesaströsen Energie- und Umweltpolitik des SED-Re-gimes finanziert.
Meine Damen und Herren, Sie haben nicht nur einenpolitischen Scherbenhaufen hinterlassen, sondern Siehaben auch in den Bereichen Wirtschaft und Energie undinsbesondere im Bereich der Umwelt einen Scherben-haufen hinterlassen. Und jetzt stellen Sie sich selbst alsUmweltengel dar, wettern gegen die Braunkohle, be-schimpfen die Kraftwerke als Dreckschleudern und wür-den sie lieber heute als morgen schließen und TausendeMenschen, die dort arbeiten, auf die Straße schicken.Davon wären insbesondere die Menschen in Ostdeutsch-land betroffen.Wäre ein Verständnis für nachhaltige Politik – ichsage das in Anführungsstrichen – bei Ihnen und IhrenFunktionären, die alle noch bei Ihnen hocken, in denJahren vor 1990 in irgendeiner Art und Weise vorhandengewesen, hätte es diese gewaltigen Umweltzerstörungenniemals gegeben. Sie haben Raubbau betrieben. Sie ha-ben die Umwelt geschändet. Sie haben Wälder vernich-tet. Sie haben den Dreck in die Luft geschleudert und dieMenschen am Rande von riesigen Mondlandschaftenwohnen lassen. Es ist absolut unredlich, jetzt solche An-träge zu schreiben.
Die Menschen in den neuen Ländern haben in denletzten beiden Jahrzehnten eine unglaubliche Leistungvollbracht, auch mithilfe – das ist richtig – öffentlicherMittel und einer großen Solidarität. Herr Claus, das ver-steckte SED-Vermögen hätte vielleicht auch geholfen,diese Umweltsünden zu beseitigen,
aber das haben Sie über den Durst gerettet. Die Regio-nen, die mit den SED-Hinterlassenschaften umzugehenhaben, können auch in Zukunft auf die gesamtdeutscheUnterstützung vertrauen.
Noch ein Wort zur Braunkohle – Herr Krischer, dies-bezüglich bin ich überhaupt nicht bei Ihnen –: Dass in
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9479
Jens Koeppen
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den Braunkohleregionen eine Akzeptanz für eine weitereBraunkohlenutzung vorhanden ist, hängt im Wesentli-chen damit zusammen, dass man die Abbaugebiete ver-nünftig saniert und die Menschen nicht, wie zu DDR-Zeiten, mit der Umweltzerstörung alleinlässt.Wir finden, dass die Braunkohle auch heute einewichtige Funktion im Energiemix hat,
und zwar in Bezug auf Versorgungssicherheit, Wettbe-werbsfähigkeit und Klimaschutz. Wenn man das alleszugleich im Blick hat, wird man sehen – auch Sie wer-den es sehen –, dass man in absehbarer Zeit nicht auf denEnergieträger Braunkohle verzichten kann.Im Hinblick auf die Versorgungssicherheit hat diesubventionsfreie Verstromung der heimischen Braun-kohle gerade in Ostdeutschland eine wichtige Funktion.
Natürlich muss sie – da gebe ich Ihnen recht – klima-schonender werden. Wir brauchen effiziente Kraftwerks-technologien – dafür wird unser brillantes deutsches In-genieurwesen, über das wir verfügen, schon sorgen –,aber auch ein CCS-Gesetz, das wir in Kürze verabschie-den werden.
Hier sollten Sie sich einbringen.Da Sie in Brandenburg leider in Regierungsverant-wortung sind, sage ich Ihnen: Sie sollten sich nicht im-mer wegducken und hier das eine, dort das andere sagen.Sie dürfen nicht immer schreien: „Haltet den Dieb!“;denn Sie sind die Räuber. Sie rufen nach dem Staat, denSie auf dem Weg zu Ihrem Kommunismus beseitigenwollen. Ich finde das armselig und beschämend, meineDamen und Herren.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3046 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung der Unterrichtung durch den Parlamen-
tarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung
Bericht des Parlamentarischen Beirats für
nachhaltige Entwicklung zum Indikatorenbe-
richt 2010 des Statistischen Bundesamtes
und
Erwartungen an den Fortschrittsbericht 2012
zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie der
Bundesregierung
– Drucksache 17/3788 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Marcus Weinberg für die Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Daspasst ja ganz gut. Jetzt gehen wir von der alten Braun-kohle zum Thema Nachhaltigkeit über. Mein Vorredner,Herr Koeppen, hat den Bogen zu dem, was nachhaltigePolitik im Jahre 2011 bedeuten könnte, schon gespannt.Ich habe einleitend eigentlich sagen wollen, dass dieMitglieder des Parlamentarischen Beirats für nachhaltigeEntwicklung glücklich sind, den Indikatorenbericht 2010schon am Donnerstag der ersten Sitzungswoche diesesJahres zu einer Topzeit vorstellen zu können.
Zumindest beim Donnerstag und bei der ersten Sitzungs-woche ist es geblieben. Der Beginn der Debatte hat sichallerdings etwas verzögert. Dass diese Debatte ursprüng-lich so angelegt war, beweist aber, dass der Aspekt derNachhaltigkeit dem Deutschen Bundestag im Jahre 2011noch wichtiger ist, als er ihm in der Vergangenheit be-reits war. Schließlich haben wir schon im Jahre 2010viele gute Debatten zu diesem Thema geführt und dieArbeit des Bundestages damit, wie ich hoffe, befruchtenkönnen.Natürlich stellt sich die Frage: „Wie bewertet man insechs Minuten den Indikatorenbericht 2010?“, zumal indieser Debatte auch der Fortschrittsbericht, die Strukturdes Parlamentarischen Beirats und unsere Arbeit zumThema Nachhaltigkeit insgesamt eine Rolle spielen. Es istsehr ambitioniert, alle Indikatoren – es sind 21 plus x –in 30 Minuten zu behandeln.Lassen Sie mich versuchen, in ein, zwei Sätzen zu sa-gen, was uns der Indikatorenbericht über die Entwick-lung der Nachhaltigkeit in der Bundesrepublik verrät.Ich glaube, man kann sagen, dass die Nachhaltigkeit aufeinem guten Weg ist. Man muss klar feststellen: Bei ein-zelnen Indikatoren besteht noch Nachbesserungsbedarf– im Indikatorenbericht sieht man in diesem Fall einenbösen Blitz –, bei vielen Indikatoren haben wir bereits
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9480 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Marcus Weinberg
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gute Entwicklungen hinter uns – in diesem Fall ist im In-dikatorenbericht eine Sonne zu sehen –, und bei einigenIndikatoren ist die Situation noch problematisch.An dieser Stelle vielen Dank an die Obleute. Wir ha-ben es geschafft, diesen Bericht gemeinsam und mit nurwenigen Sondervoten zu verabschieden und ihn demBundestag vorzulegen.Ich will nur zwei, drei Beispiele für Indikatoren, die,wie ich glaube, signifikant Positives, aber auch Proble-matisches aufzeigen, benennen. Wichtig ist, dass wir unszwei Ziele gesetzt haben. Zunächst werten wir die Indi-katoren in den jeweiligen Fachbereichen aus. Dann über-legen wir, wo wir unsere Anstrengungen verstärken undnacharbeiten müssen, um die Nachhaltigkeit immer wie-der ins Bewusstsein der Menschen zu rücken. Ichglaube, insgesamt sind wir auf dem richtigen Weg.Ein sehr positives Beispiel ist der Anteil der erneuer-baren Energien am Energieverbrauch in Deutschland;dieses Thema ist gerade schon ansatzweise erwähnt wor-den. Ich will exemplarisch darauf hinweisen, dass sichdie Bundesregierung für das Jahr 2010 zum Ziel gesetzthat, einen Anteil von 4,2 Prozent zu erreichen. Der An-teil der erneuerbaren Energien am Primärenergiever-brauch betrug bereits im Jahre 2009 8,9 Prozent. DiesesZiel wurde also weit übertroffen.Ein weiteres Beispiel ist die Stromerzeugung. Es wurdedas Ziel formuliert, der Anteil der erneuerbaren Energienan der Stromerzeugung solle bis 2010 12,5 Prozent betra-gen. Mittlerweile liegt ihr Anteil bei 16,1 Prozent. DieserIndikator sagt also: Hier liegt ein Erfolg vor. Da kann manauch einmal sagen, dass sich gewisse Handlungen derPolitik in diesem Bereich nachhaltig auswirken. Icherinnere an gewisse Gesetzesvorhaben, das EEG oderEE-Wärmegesetz. Darüber kann man en détail diskutie-ren, aber sie haben eins bewirkt: Sie haben den Anteil dererneuerbaren Energien am Primärenergieverbrauch deut-lich nach oben steigen lassen. Das ist ein gutes Ergebnis,eine gute Botschaft.
Man könnte jetzt jeden einzelnen Indikator durchar-beiten, das mache ich aber nicht. Ich möchte nur nochzwei oder drei herausarbeiten, die für meinen Bereich,nämlich für die Bildung, gewisse Probleme mit sichbringen. Da haben wir zum Beispiel die Schulabbrecher-quote, die Quote der 18- bis 24-Jährigen, die keinenSchulabschluss haben. Das ist eine für den Bildungsbe-reich hochbrisante und hochwichtige Quote. 1990 hattenwir sozusagen als Ausgangsbasis einmal 14,9 Prozent.Jetzt liegt die Quote bei 11,8 Prozent. Richtig ist, dasswir das Ziel von 9 Prozent nicht erreicht haben, richtigist aber auch, dass der Prozess als solcher positiv zu be-werten ist. Wir müssen dennoch darüber diskutieren,weil dieser Indikator zu spät ansetzt. Dieser Indikatorbewertet das Ergebnis der zuvor erfolgten frühkindli-chen, vorschulischen und schulischen Bildung, wenn dasKind schon in den Brunnen gefallen ist. Diesen Indikatorkann man auch nicht alleine stehen lassen, man muss ihnimmer durch einzelne Bildungsberichte ergänzen. In derletzten Sitzungswoche haben wir hier beispielsweiseüber PISA diskutiert. Das alles zusammen muss dann einrundes Bild ergeben. Ich glaube aber auch, dass der Bil-dungsbereich deutlich macht, welche Anstrengungen dieletzten Bundesregierungen gerade in diesem Bereich un-ternommen haben.Gut ist auch die Studienanfängerquote. Dabei mussman jedoch darüber diskutieren, was eigentlich der Be-griff Studienanfängerquote bedeutet. Die Studienanfän-gerquote in Australien liegt bei 86 Prozent, die in Polenübrigens bei 78 Prozent. Sie ist natürlich nicht allein si-gnifikant und aussagefähig hinsichtlich der Frage, wiesich der Bildungsbereich entwickelt hat. Wir haben ein-mal das berühmte 40-Prozent-Ziel festgesetzt – manmuss Ziele definieren –, das bedeutet: 50 Prozent derSchüler erreichen die Hochschulzugangsberechtigung,40 Prozent gehen an die Hochschulen und 30 Prozentsollen dann auch einen Abschluss machen. Mit 39,8 Pro-zent haben wir ein sehr, sehr gutes Ergebnis, sozusagenknapp vor der Zielmarke. Wenn man dann noch berück-sichtigt, dass wir einen doppelten Abiturjahrgang hatten,dass wir die geburtenstarken Jahrgänge hatten, mussman diese Quote noch wesentlich positiver sehen. Sie istübrigens bei den Frauen mit 40,3 Prozent leicht höher alsbei den Männern. Auch das ist bemerkenswert.Aber es sind in einigen Bereichen noch weitere An-strengungen erforderlich, das macht dieser Bericht deut-lich. Ich nenne als Beispiel die Energieproduktivität. Esklingt gut, wenn man sagt: Wir liegen im Vergleich zumBasisjahr 1990 bei über 140 Prozent, das Bruttoinlands-produkt liegt bei 125,7 Prozent, die Energieproduktivitätbei 140 Prozent; die Entwicklung geht also in die rich-tige Richtung. – Richtig.Aber worin liegt der Mehrwert – in Anführungszei-chen –, wenn wir energiesparende Lampen oder Fernse-her produzieren, ich in meinem Haus aber das Dreifachean Fernsehern und brennenden Lampen habe? Der Deut-sche Bundestag – wenn man sich so umschaut – könnteauch einmal überlegen, wie man möglicherweise hieroder da bei der Einsparung ein Vorbild sein könnte.Auch darüber wird zu sprechen sein. Dieser Indikator istalso durchaus auch problematisch zu sehen, wenn esnämlich nicht im Bewusstsein verankert ist, dass dasBeste in Bezug auf Lampen ist, wenn sie gar nicht erstzum Brennen kommen.Leider sind die sechs Minuten Redezeit tatsächlich soschnell zu Ende, wie ich das fast befürchtet hatte. Zielwird es sein, das Bewusstsein zu erweitern und positiveBeispiele aufzunehmen. Ich glaube, zu diesem Indikato-renbericht kann man sagen, dass er zeigt, dass wir aufdem richtigen Weg sind. Jeder setzt seinen Schwerpunkt,die einen bei der ökologischen Entwicklung, die anderenbei der sozialen Entwicklung, wieder andere bei der öko-nomischen Entwicklung. Insgesamt sind wir auf demrichtigen Weg. Wenn wir jetzt das Bewusstsein – auchdurch solche Debatten und ausführliche Diskussioneninnerhalb des Beirates – weiter stärken, dann wird dieNachhaltigkeit im Deutschen Bundestag auch nachhaltigvertreten sein.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9481
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Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin
Gottschalck das Wort.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrteFrau Präsidentin! Wie definieren wir Nachhaltigkeit?Was erwarten wir vom Fortschritt? Der Begriff Nachhal-tigkeit ist in aller Munde, wird zwischenzeitlich für mei-nen Geschmack auch etwas zu inflationär benutzt, aberauf dem Plenarplan steht er nicht ganz so oft. Deshalbfreue ich mich, dass der Punkt heute aufgerufen wird– wenn auch spät – und wir dieses elementare ThemaNachhaltigkeit behandeln.Die Nachhaltigkeitsdebatte wird jenseits parteipoliti-scher Grenzen seit längerem geführt. Wichtig ist aberauch, dass die Politik ihre Kräfte bündelt, um zukunfts-weisende und praxisgerechte Grundlagen für eine wirk-lich nachhaltige und solidarische Gesellschaft der Zu-kunft zu schaffen. Genau dies versuchen die Mitgliederdes Beirates. Es geht hier sozusagen um Grundlagen-arbeit.Wir versuchen im Beirat durchaus, über den Teller-rand zu schauen und parteipolitisches Geplänkel außenvor zu lassen.
Ich will gerne zugeben: Das ist nicht immer ganz ein-fach. Wir arbeiten im Parlamentarischen Beirat sozusa-gen mit diplomatischen Samthandschuhen, weil wirgerne in langen Linien denken wollen, eben auch überLegislaturperioden hinaus; denn ich denke, das ist wich-tig. Ich denke, es spiegelt sich auch in den meisten unse-rer Stellungnahmen wider, dass wir alle – alle Partien –sehr bemüht sind, einen Konsens herzustellen, um wirk-lich etwas voranzubringen.
Ich möchte drei Thesen aufzeigen, die uns besonderswichtig sind:Erstens ist das Leitbild einer nachhaltigen Entwick-lung in der Gesellschaft zu verankern. Herr Weinberg hatdas eben auch angesprochen. Diesem Ziel sind wir alleverpflichtet, insbesondere im Hinblick auf zukünftigeGenerationen.Zweitens. Die empirische Messung der Nachhaltig-keit anhand der Indikatoren kann selbstverständlich nurdann sinnvoll sein, wenn die Ergebnisse quasi als Aus-schlag eines Seismografen oder Frühwarnsystems ange-sehen werden und wir negativen Entwicklungen entge-gentreten können.Drittens. Die Erwartungen an den Fortschrittsbericht2012 der Bundesregierung sind zu Recht hoch. Wir dür-fen hier gemeinsam nicht lockerlassen; denn durch dieErgebnisse in dem Indikatorenbericht 2010 wird dochnoch ein immenser Handlungsbedarf in einigen Berei-chen aufgezeigt.Auch wenn der Begriff Nachhaltigkeit aus der Forst-wirtschaft kommt – es geht darum, den Wald nachhaltigzu bewirtschaften –, hat er doch nicht nur etwas mit derUmwelt zu tun, sondern er hat ökonomische, ökologi-sche, soziale und gesellschaftliche Dimensionen. DieNachhaltigkeit wird uns im politischen Alltag zukünftignoch weiter beschäftigen.Seit einiger Zeit werden die Entwicklungen mit Indi-katoren statistisch erfasst, gemessen und bewertet.Damit erhält der Begriff Nachhaltigkeit auch eine empi-rische Grundlage. An dieser Stelle möchte ich das Statis-tische Bundesamt einmal ausdrücklich loben, das diesenBericht wirklich schön aufbereitet hat. Er ist übersicht-lich und wirklich für jeden verständlich. Daher ein Loban dieser Stelle.
Der Parlamentarische Beirat fordert die Bundesregie-rung auf, Indikatoren, die sich in den letzten Jahren ein-fach nicht bewährt haben, durchaus auch zu überarbeitenund gegebenenfalls auszutauschen. Solche Änderungenmüssen eng zwischen dem Bund, den Ländern und denKommunen abgestimmt werden, damit es dann wirklicheine gemeinsame Nachhaltigkeitsstrategie gibt.An die Länder appelliere ich daher, das Thema Nach-haltigkeit wirklich zur Chefsache zu machen und bei denStaatskanzleien anzusiedeln; denn mit diesem populärenund nach außen getragenen Beispiel könnte man dieNachhaltigkeit auch in den Ländern besser verankern.
Wie Herr Weinberg eben auch schon gesagt hat, kön-nen wir hier keine 21 Indikatoren aufzeigen. Ich greifedrei ganz kurz heraus:Der Klimaschutz nimmt in der öffentlichen Debattebereits einen wichtigen und präsenten Platz ein.Deutschland hat sich ambitionierte Ziele gesetzt. Das Er-reichen dieser Ziele müssen wir nun aber gemeinsam er-kämpfen. Wir vom Beirat fordern deshalb ganz eindeu-tig: Alle Programme zum Einsparen von CO2 müssenweiterentwickelt werden. Gerade in diesem Bereichhätte ein Versagen dramatische Konsequenzen für zu-künftige Generationen.
Bei den Staatsfinanzen müssen wir nachhaltiger den-ken; denn die Zinsen und die Tilgung unserer Schulden-last müssen künftig von immer weniger Steuerzahlerinnenund Steuerzahlern geschultert werden. Wir empfehlendringend eine qualitative Ausgaben- und Einnahmeana-lyse.Ich muss ein bisschen Gas geben, damit meine Rede-zeit reicht. – Bei dem Indikator Gleichberechtigung zwi-schen den Geschlechtern muss ich allerdings deutlicheWorte finden. Denn ich finde die Gewitterstimmung beidiesem Indikator besorgniserregend. Es dürfte unstreitig
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9482 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Ulrike Gottschalck
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sein, dass Männer und Frauen gleichen Lohn für gleicheArbeit am selben Ort und auch dieselben Aufstiegschan-cen bekommen sollten.
Daher fordern wir die Bundesregierung auf, hier Ver-bindlichkeiten zu schaffen, damit wir an dieser Stelle ge-genwirken und bis 2015 konkrete Maßnahmen umsetzenkönnen.Fortschritt ist Zukunft. Aber der Begriff Fortschrittmuss mit Leben gefüllt werden. Deshalb haben wir So-zialdemokraten in der letzten Woche ein Fortschrittspro-gramm diskutiert und unsere Vorstellungen formuliert,wie wir uns Deutschland im Jahr 2020 vorstellen. Wirwollen Fortschritt mit Gerechtigkeit. Das ist unser Ar-beitsplan, und den werden wir umsetzen.Genau das machen auch die Mitglieder des Beirats.Hier schließe ich ausdrücklich alle Mitglieder ein. Wirwollen Wege ebnen und gerechten Fortschritt forcieren.Wir müssen vorausschauend denken und komplexenProblemlagen begegnen. Wir müssen alle Beschlüsseauch daraufhin prüfen, ob sie unsere Kinder und nach-folgende Generationen entlasten oder sogar belasten.Wir müssen Nachhaltigkeit und Fortschritt mit Lebenfüllen und in konkretes Handeln umsetzen. Wir müssenNachhaltigkeit leben.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Kauch für die FDP-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es sindzwar nicht gerade viele Zuschauer auf den Rängen,
aber dennoch ist es, glaube ich, wichtig, das Wort Nach-haltigkeit etwas bürgernäher zu übersetzen. Es gehtnämlich letztendlich darum, dass wir von den Zinsen le-ben müssen statt vom Kapital: weder vom Naturkapitalnoch vom Finanzkapital oder dem Kapital, das in unse-ren Infrastrukturen liegt. Es geht darum, dass künftigeGenerationen faire und vergleichbare Lebenschancenhaben.Mit der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie habenParlament und Bundesregierung 2002 Leitlinien aufge-stellt, die über die Legislaturperioden hinweg ein roterFaden für die Politikentwicklung sind. Deshalb ist eswichtig, dass wir in diesem Haus zu einem möglichstbreiten Konsens kommen.Die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie setzt Ziele; siemisst aber auch Indikatoren. Damit schafft sie Transpa-renz mit einem Managementsystem, wie es nebenDeutschland und Großbritannien nicht viele andere Län-der in Europa haben. Gerade auch die Nachhaltigkeits-strategie der Europäischen Union kann, was Transparenzund Managementsystem angeht, von Deutschland nocheiniges lernen.Ein Blick auf die Indikatoren zeigt, dass wir beim Kli-maschutz und den erneuerbaren Energien sehr gut sind.Wir gehören zu den wenigen Ländern, die die Kioto-Ziele erreichen werden. Wir haben bei den erneuerbarenEnergien die Ziele in den letzten Jahren sogar noch über-troffen. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz hat sich alseffektives Instrument der Förderung erneuerbarer Ener-gien bewährt. Deshalb steht auch meine Fraktion nach-drücklich zum EEG.
Wir haben gleichzeitig die Situation, dass die Kostenfür den Ausbau der erneuerbaren Energien insbesonderein den letzten Monaten aus dem Ruder gelaufen sind. Zueiner Politik der Nachhaltigkeit gehört auch, dass mandie soziale und wirtschaftliche Dimension von Nachhal-tigkeit nicht vergisst. Deshalb ist es richtig, dass wirheute einen Vorschlag vorgelegt haben, um die Solarför-derung an die veränderten Weltmarktbedingungen anzu-passen.
Im Indikatorenbericht ist die Bilanz in einem weiterenPunkt positiv, und zwar im Bereich der Beschäftigung.Wenn wir uns anschauen, wo wir jetzt stehen und wo wirzum Beispiel 2002 standen, als die Nachhaltigkeitsstra-tegie auf den Weg gebracht wurde, dann erkennen wir,dass wir sukzessive – daran sind alle Regierungen seitdiesem Zeitpunkt beteiligt gewesen – Reformen auf demArbeitsmarkt durchgeführt haben, die dazu geführt ha-ben, dass wir zum einen die Krise besser als andere Län-der durchgestanden haben und zum anderen den Auf-schwung besser als andere Länder genutzt haben. Das istpositiv für die Menschen hier im Land. Es ist auch posi-tiv, dass wir uns im Bereich der Beschäftigung nicht nurkonjunkturell, sondern auch strukturell verbessert haben.Wir sind vorne in Europa. Das ist ein Verdienst nicht nurder Politik in den vergangenen Jahren, sondern auch deraktuellen Politik.Es gibt aber auch Bereiche, in denen sich Deutschlandverbessern muss. Ich möchte den Bereich der Artenviel-falt herausgreifen. Wir haben es in den vergangenenzehn Jahren nicht geschafft, unsere Ziele in diesem Be-reich zu erreichen. Das betrifft übrigens nicht nurDeutschland, sondern die ganze Welt. Die Konventionüber die biologische Vielfalt hat sich vergleichbare Zieleauf UN-Ebene gesetzt und ist genauso dramatisch ge-scheitert wie die deutsche Politik in diesem Bereich. Ge-nauso wie in Nagoya auf internationaler Ebene müssenwir auf nationaler Ebene ernsthaft darüber nachdenken,wie wir die genetischen Ressourcen, die für die Men-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9483
Michael Kauch
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schen auch in Zukunft wertvoll sind, erhalten können.Das ist ebenso eine Herausforderung wie die Staatsver-schuldung. Wir haben zwar mit der Schuldenbremse undder daraus folgenden Politik eine Abkehr von der hem-mungslosen Verschuldung auf Bundesebene erreicht.
Wir haben es aber noch immer nicht geschafft, alle Bun-desländer dazu zu bringen. Wenn Nordrhein-Westfalennun vom Landesverfassungsgerichtshof gezwungen wer-den muss, die Kreditaufnahme einzustellen, dann ist daskein Zeichen für Nachhaltigkeit im föderalen System.
Zur Überarbeitung der Indikatoren. Es gibt insbeson-dere einen Indikator, bei dem sich die Bundesregierungfragen lassen muss, ob sie die Empfehlungen des Parla-mentes in den letzten Jahren ignoriert hat. Wir möchten,dass die Bundesregierung endlich wahrnimmt, dass derIndikator für Kriminalität aus Sicht des Parlamentari-schen Beirats für nachhaltige Entwicklung völlig unge-eignet ist.
Man kann die Sicherheitslage der Menschen nicht nur ander Zahl der Wohnungseinbrüche messen, wenn es ge-rade die Gewaltdelikte sind, die den sozialen Zusam-menhalt gefährden. Wir müssen die Indikatoren in die-sem Bereich neu ausrichten.
Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Punkt desFortschrittsberichts ansprechen, den die Bundesregie-rung jetzt erarbeitet. Wir haben – das habe ich bei derStaatsverschuldung kurz angerissen – ein großes Pro-blem in der Nachhaltigkeitspolitik in Deutschland. Wirverabschieden eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie.Aber in Wirklichkeit handelt es sich um eine Nachhal-tigkeitsstrategie des Bundes. Wenn wir eine wirklich na-tionale Nachhaltigkeitsstrategie erreichen wollen – dasist gerade beim Thema Bildung von elementarer Bedeu-tung –, dann müssen wir die Bundesländer dazu bringen,gemeinsam mit uns vergleichbare Strategien zu erarbei-ten. Das ist eine Herausforderung für die nächsten Jahre.Auf Bundesebene sind wir sehr weit vorangekommen.Auf Länderebene gibt es noch viel zu tun. Außerdemfehlt bisher völlig eine Verlinkung zu dem, was der Bundmacht.Vielen Dank.
Die Kollegin Dorothee Menzner spricht nun für die
Fraktion Die Linke.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Nachhaltigkeit scheint mir ein Modewort zusein. Wenn ich mir nur die Mails dieser Woche an-schaue, dann stelle ich fest: Da ist von nachhaltig zertifi-zierter Biomasse ebenso die Rede wie von nachhaltigenGeldanlagen. In meinem Fachbereich, der Energie- undKlimapolitik, ist die Forderung nach Nachhaltigkeitschon lange in den Präambeln aller Dokumente veran-kert, egal aus welchem politischen Lager sie stammen.An sich könnte dies ein Grund zur Freude sein. Dochmanchmal scheint mir der Verweis auf Nachhaltigkeiteher eine Art verkaufsförderndes Argument zu sein.Nicht überall, wo Nachhaltigkeit draufsteht, ist auchNachhaltigkeit drin.
Das gilt nicht zuletzt für die Politik der Bundesregie-rung.
Ich möchte die Gelegenheit nutzen, auf einige grund-legende Widersprüche aufmerksam zu machen, die michals Umweltpolitikerin bewegen. Der ParlamentarischeBeirat für nachhaltige Entwicklung, dessen Indikatoren-bericht wir heute diskutieren, hat einen sehr unterstüt-zenswerten Satz an den Anfang seines Berichts gestellt:Damit eine Gesellschaft sich nachhaltig entwickelnkann, muss dieses Leitbild in sämtliche Bereichedes Lebens integriert werden. Es braucht eine Kul-tur der Nachhaltigkeit, die helfen soll, die Kluftzwischen Wissen und Handeln zu schließen.Wie aber sieht es in unserer politischen Realität mitdieser Kluft zwischen Wissen und Handeln aus?
Wir stehen am Ende des Zeitalters, in dem wir Energiedurch Verbrennen fossiler Stoffe gewonnen haben. DieseErkenntnis hat sich mittlerweile durchgesetzt und istnicht mehr zu verdrängen. Die Aufgabe der Politik mussalso darin bestehen, konsequent die notwendigenSchritte – und zwar schnelle Schritte – in Richtung Ener-giewende zu gehen. Das gebietet nicht nur der Klima-schutz, sondern auch die Verantwortung gegenübernachfolgenden Generationen.
Sie erinnern sich sicherlich an die Debatten, die wirhier in diesem Haus zum Energiekonzept der Bundesre-gierung geführt haben. Das Energiekonzept war diktiertvon Profitinteressen der großen Energiekonzerne unddekoriert mit irreführenden Floskeln wie jene von derAtomenergie als Brückentechnologie. Dieses Gesetzbremst den Ausbau der erneuerbaren Energien, anstattihn zu befördern. Wir erleben, dass es so weitergeht. Ge-rade heute – der Kollege Kauch hat das angesprochen –hat die Bundesregierung verkündet, dass sie die Mittelzur Solarförderung im Rahmen eines „Europaanpas-
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9484 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Dorothee Menzner
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sungsgesetzes“ kürzen will. Das ist wieder ein Schritt,der nicht in Richtung Nachhaltigkeit geht.Mit der Novellierung des Erneuerbare-Energien-Ge-setzes wird uns mit Gewissheit ein nächster Rollback-Versuch beschert. In der Präambel wird garantiert wiederstehen, alles geschehe zum Nutzen der Nachhaltigkeit.Machen wir doch endlich Schluss mit dieser Augen-wischerei. Wo Profitinteressen von Konzernen die Poli-tik bestimmen, bleiben ökologische und soziale Notwen-digkeiten zwangsläufig auf der Strecke.
Die kleine Schicht der ökonomisch Herrschenden die-ser Erde ist weder gewillt noch in der Lage, die Interes-sen der gesamten Menschheit zu vertreten. Das zeigtsich tagtäglich aufs Neue. Nachhaltigkeit in der gesell-schaftlichen Entwicklung zu garantieren, heißt, die„Teilhabe am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen undpolitischen Leben zu ermöglichen“. Das ist übrigenskein Zitat von Karl Marx, sondern stammt aus dem Be-richt, über den wir heute diskutieren.
Mit anderen Worten: Demokratie und nicht Lobby-ismus ist die Grundlage für nachhaltige Politik. MeinOptimismus, dass das mit einer schwarz-gelben Bundes-regierung in die Tat umzusetzen ist, ist allerdings nichtbesonders ausgeprägt.Ich danke.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die
Kollegin Dr. Wilms das Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Wir widmen uns heute nach längerer Zeit wieder einmaldem Thema nachhaltige Entwicklung. Das ist auch gutso; denn das sollten wir nicht in Vergessenheit geratenlassen. Nachhaltigkeit ist für uns Mitglieder im Parla-mentarischen Beirat nun wirklich keine Floskel. Es gehtschließlich darum, wie wir mit den Ressourcen der Erdeso umgehen, dass wir jetzt und nachfolgende Generatio-nen zukünftig gut leben können.
Schon Anfang der 70er-Jahre, noch vor dem erstenÖlschock, legte der Club of Rome unter der Federfüh-rung von Dennis Meadows das berühmte Buch DieGrenzen des Wachstums vor. Die Diskussion führteschließlich zur Konferenz der Vereinten Nationen überUmwelt und Entwicklung 1992 in Rio. Um ihrer Ver-pflichtung von Rio nachzukommen, hat die damaligerot-grüne Bundesregierung im Jahre 2002 die nationaleNachhaltigkeitsstrategie vorgelegt. Wir wollen heuteeine Zwischenbilanz ziehen.Ich möchte einige jener Bereiche nennen, die mir da-bei besonders wichtig erscheinen. Kolleginnen und Kol-legen haben das mit einigen anderen Bereichen auchschon gemacht. Ich habe vor allem solche Bereiche aus-gesucht, bei denen es noch viel zu tun gibt.Schauen wir erstens auf den Umgang mit begrenztenRessourcen. Der Indikatorenbericht 2010 zeigt: Wir sindzwar etwas effizienter mit importierten Rohstoffen um-gegangen. Wir haben aber auch erheblich mehr Fertig-teile importiert. Denken Sie nur an die vielen Handysund Computer, die wir alle paar Jahre durch neue erset-zen.Da wir als rohstoffarmer, aber auch hochentwickelterIndustriestaat auf Importe angewiesen sind, wird es Zeit,über Alternativen nachzudenken.
Diese Alternative muss lauten: sukzessive Verwendungnachwachsender Rohstoffe sowie Kaskadennutzung undRecycling von Erzeugnissen, die aus fossilen Rohstoffenhergestellt sind. Das ist der Weg in die Zukunft.
Auch wenn das geltende Regelwerk den Export vonElektroschrott verbietet, landet viel Müll im unterentwi-ckelten Ausland. Dort sorgen dann Kinder unter mise-rablen Bedingungen dafür, dass wertvolle Metalle wie-der in den Kreislauf gelangen. Ist das der richtige Weg?Wohl kaum. Wir müssen dabei umdenken.
Von den jährlich verkauften circa 1,9 Millionen Ton-nen Elektrogeräten werden lediglich 0,6 Millionen Ton-nen – also ein Drittel – gesammelt. Da stimmt doch ir-gendetwas nicht. Da müssen wir noch weiter vorgehen.Schauen wir uns zweitens die Energieproduktivitätan. Diese hat Kollege Weinberg auch schon kurz ange-sprochen. Wir müssen höllisch aufpassen, dass wir denReboundeffekt, den Kollege Weinberg angesprochenhat, tunlichst vermeiden.Die Industrie benötigt wachstumsbedingt mehr Ener-gie, die durch Effizienzmaßnahmen nur teilweise kom-pensiert werden kann. Ich glaube nicht, dass wir in die-sem Zusammenhang mit freiwilligen Verpflichtungenunsere Ziele erreichen können.
Schauen wir drittens auf die Mobilität. Güterverkehrund Personenverkehr nehmen weiter zu. Mobilität istwichtig und belastet uns zugleich mit verstopften Stra-ßen, Lärm und Emissionen. Dabei gibt es wirklich guteAlternativen: Stärkung der Schiene für den Fernverkehr,kombiniert mit einem weitaus stärkeren Carsharing-Netzvor Ort.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9485
Dr. Valerie Wilms
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Ich appelliere an dieser Stelle an die Bundesregie-rung, dafür zu sorgen, dass das Verursacherprinzip suk-zessive angewendet wird. Wer für Lärm, verstopfte Stra-ßen und Umweltverschmutzung bezahlen muss, wird essich beim nächsten Mal überlegen, ob nicht ein andererTransportweg günstiger ist.Gerne würde ich noch weitere Bereiche ansprechen,zum Beispiel die zunehmende Flächenversiegelung,aber auch die hohe Staatsverschuldung, die KolleginGottschalck schon angesprochen hat.Im Beirat betreiben wir gerne Arbeitsteilung. Das ha-ben wir heute hier auch bei unseren Redebeiträgen ge-zeigt. Wir sind uns bei wichtigen Dingen meist einig.Kolleginnen und Kollegen, langfristige Politikziele kön-nen nur über die Fraktionsgrenzen hinweg festgehaltenwerden. Deshalb stehen wir im Parlamentarischen Beiratfür nachhaltige Entwicklung. Das haben wir auch beidiesem Bericht wieder gezeigt.Herzlichen Dank.
Für die Unionsfraktion hat nun die Kollegin Daniela
Ludwig das Wort.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Nach vielen inhaltlichen Aspekten hinsichtlichder unterschiedlichen Indikatoren würde ich gern einenSchritt zurück in Richtung Nachhaltigkeitsmanagementgehen. Auch das beschäftigt uns immer wieder.Wie bereits zum Fortschrittsbericht 2008 zur nationa-len Nachhaltigkeitsstrategie und in der Unterrichtungzum Peer-Review 2009 haben wir uns auch in unsererStellungnahme zum Indikatorenbericht 2010 dafür aus-gesprochen, dass das Thema nachhaltige Entwicklungund auch die nationale Nachhaltigkeitsstrategie beimZuschnitt der Referate im Bundeskanzleramt endlich sei-nen Niederschlag finden muss. Unser langandauerndesDrängen und Bohren wurde nun endlich erhört. Es ist eineigenständiges Referat „Nachhaltige Entwicklung“ imBundeskanzleramt geschaffen worden.Ich gratuliere der Bundesregierung ausdrücklich zudiesem weisen Entschluss. An dieser Stelle möchte ichaber auch die Hoffnung zum Ausdruck bringen, dassdieses Referat – gerne auch mit tatkräftiger Unterstüt-zung des Beirats – nunmehr auch mit Leben gefüllt wird.
Wir können nur helfen, die Arbeit dieses Referates mitLeben zu füllen, wenn es unseren Beirat weiterhin gibt,wenn er zu einem dauerhaften Gremium wird.Wir, der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Ent-wicklung, haben völlig zu Recht – das sage ich ganz be-wusst – eine herausgehobene Stellung im Vergleich zuden vielen Ausschüssen in diesem Haus. Diese Stellungist deshalb herausgehoben – das ist mittlerweile mehr-fach angesprochen worden –, weil wir uns bei allemHauen und Stechen, das wir uns zwischendurch aucheinmal leisten, immer wieder durch Überparteilichkeitund gute Zusammenarbeit zwischen den Fraktionen aus-zeichnen. Wir haben hervorragende Grundlagenarbeitgeleistet. Um das zu verstetigen, wäre es ein ausgespro-chen sinnvolles und sehr bewusstes Signal, wenn unserBeirat endlich fest verankert würde, möglichst in der Ge-schäftsordnung des Bundestages oder darüber hinaus.Ich denke, dieses Thema ist wichtig genug, um dieses Si-gnal endlich zu geben.
Wie bereits angesprochen wurde, wird es wenig hel-fen, wenn der Bund allein beim Thema Nachhaltigkeitvorturnt. Gebraucht werden die Länder und vor allemdie Kommunen. Als ein Beispiel verweise ich auf dasThema Flächenversiegelung/Flächenverbrauch. Es nutztrelativ wenig, wenn der Bund immer wieder darauf auf-merksam macht, man möge bitte berücksichtigen, dassnicht allzu viel Fläche verbraucht wird. Wenn eine sol-che Vorgabe letztlich durch die überehrgeizige Auswei-sung von neuen Bau- und Gewerbegebieten vor Ort un-terminiert wird, dann strampeln wir wie der Hamster imRad, arbeiten also, ohne dass es etwas bringt. Deswegensage ich: Die Verzahnung über alle Ebenen hinweg istunerlässlich dafür, dass sich eine nationale Nachhaltig-keitsstrategie bis ganz nach unten auswirkt.
Liebe Frau Kollegin Gottschalck, ich habe sehr gernegeklatscht, als Sie gesagt haben, das Bundeskanzleramtgäbe ein gutes Beispiel und die Regierungschefinnenund -chefs der Länder könnten dem gern folgen. Ichwünsche mir, dass auch auf Länderebene an prominenterStelle ein entsprechendes Referat eingerichtet wird, dasses dann mit Leben gefüllt wird, dass sich auch unsereKollegen in den Landtagen mit dem Thema Nachhaltig-keitsstrategie intensiv auseinandersetzen. Ich habe inden letzten Tagen vom Kollegen Stefan Mappus gehört,dass er im Rahmen einer Ministerpräsidentenkonferenzdas Thema Nachhaltigkeit aufgreifen möchte. Ich binoptimistisch, dass er das auch tun wird. Aber auch hierreicht es nicht, das einmal zu tun, sondern dieses Themamuss kontinuierlich Tagesordnungspunkt sein, der eben-falls immer wieder mit Leben gefüllt werden muss; dennsonst ist „Nachhaltigkeit“ wirklich nur eine Floskel. Wirsind die Letzten, die genau dies unterstützen wollen.
Zur Weiterentwicklung der Indikatoren ist einiges ge-sagt worden. Herr Kauch, unser liebstes Beispiel ist inder Tat der Wohnungseinbruchsdiebstahl. Weiter dane-ben liegen kann man nicht, wenn man über das Sicher-heitsgefühl von Bürgerinnen und Bürgern spricht. Natür-
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Daniela Ludwig
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lich sind wir dafür, dass wir auch im Rahmen derIndikatoren eine gewisse Beständigkeit haben, um dieBewertung immer wieder nachvollziehen zu können.Aber Beständigkeit sollte nicht dazu führen, dass letzt-lich die Zielschärfe der Strategie komplett getrübt wird.Das heißt, wir erwarten von der Bundesregierung eineeindeutige Überarbeitung der Indikatoren. Auch hierbeisind wir mit unserem Fach- und Sachverstand gern be-hilflich.
Eine solche Überarbeitung wünsche ich mir. Der Fort-schrittsbericht 2012 bietet die beste Gelegenheit dazu.Vielleicht ist damit die Chance verbunden, das neue Re-ferat im Kanzleramt entsprechend einzusetzen, lieberHerr Bauernfeind; Sie sind ja anwesend.Das Prinzip der nachhaltigen Entwicklung beeinflusstalle Politikfelder. Technologischer, ökonomischer undgesellschaftlicher Fortschritt müssen sich immer an die-sem Prinzip messen lassen. Wir, der ParlamentarischeBeirat für nachhaltige Entwicklung, werden die Aktivi-täten der Bundesregierung zur nationalen Nachhaltig-keitsstrategie weiter durchaus kritisch begleiten, und wirwerden in unserem Wirkungskreis für eine stärkere Be-rücksichtigung von Nachhaltigkeit in der gesamten poli-tischen Praxis, also von ganz oben bis ganz unten, wer-ben. Wir laden alle Kolleginnen und Kollegen in diesemHohen Hause gern dazu ein, dabei mitzumachen.Vielen herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3788 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra
Crone, Angelika Graf , Bärbel Bas,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Mehrgenerationenhäuser erhalten und weiter-
entwickeln – Prävention stärker fördern
– Drucksache 17/4031 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Interfraktionell wurde vereinbart, darüber eine halbe
Stunde zu diskutieren. Ich sehe, dass Sie auch damit ein-
verstanden sind. Dann werden wir so verfahren. Ich er-
öffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die Kolle-
gin Petra Crone für die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!Im Herbst 2006 hat die damalige Familienministerin,Frau Ursula von der Leyen, mit Pauken und Trompetendie ersten Mehrgenerationenhäuser eingeweiht. So kenntman sie. Aber – „Chapeau!“ – es ist etwas Gutes darausgeworden. Die meisten der nun existierenden 500 Mehr-generationenhäuser haben sich zu wichtigen Treffpunk-ten und Wirkungsstätten für Jung und Alt entwickelt,und zwar genau nach den Bedürfnissen in den jeweiligenStädten, Stadtteilen und Gemeinden. Aber dennoch – lei-der, leider! – haben sie einen eklatanten Geburtsfehler.Frau von der Leyen hat vor lauter Öffentlichkeitsarbeitbei der Geburt der Häuser vergessen, sich um eine guteWeiterfinanzierung zu kümmern.
Es gab keine Vereinbarung – weder mit den Ländernnoch mit den Kommunen, noch mit den Trägern. Nunstehen die Mehrgenerationenhäuser vor einem großenDilemma. Schon im Herbst laufen für 45 Häuser die Zu-schüsse aus, für weitere 112 am Jahresende. Sie, FrauMinisterin Schröder, sind heute Abend nicht da und las-sen die Verantwortlichen für die Häuser im Regen ste-hen.Viele wissen nicht, wie es weitergehen soll. Die Häu-ser drohen als Projektruinen zu enden. Darum habenwir, die SPD-Fraktion, die Initiative ergriffen und diesenAntrag für ein Folgeprojekt vorgelegt,
das einen ganz wichtigen neuen Schwerpunkt als Grund-lage für die Mehrgenerationenhäuser, die Prävention, be-nennt; denn wir wollen die Häuser nicht nur erhalten,sondern auch weiterentwickeln.Prävention in der Gesundheit betrifft Ernährung undBewegung. Prävention in der Bildung betrifft lebenslan-ges Lernen. Prävention in der Integration bedeutet dassoziale Miteinander. Alle bestehenden Häuser könnenihre selbstgewählte Ausrichtung beibehalten, und wei-terhin sind alle Generationen angesprochen.Ich habe mich gefreut, als die Ministerin ankündigte,ein Anschlusskonzept vorzulegen. Aber wo bleibt es?Sollen die Pressemitteilung und der mündliche Berichtim Ausschuss alles gewesen sein? Auf jeden Fall war derInhalt sehr erschreckend. Ohne ausreichende Absprachemit den Betroffenen soll den Mehrgenerationenhäusernein enges Korsett angelegt werden, das ihnen die Luftzum Atmen nimmt. Alle sollen über einen Kamm ge-schoren werden, egal ob sie in Berlin-Neukölln oder inOlpe im Sauerland stehen. Gleichzeitig sprengt die An-zahl der geforderten neuen Leistungen alle Ketten.Da sollen die Pflegestützpunkte plötzlich in die Mehr-generationenhäuser integriert werden. Ich frage: Was
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Petra Crone
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soll das? Warum soll da eine gut etablierte und wichtigeInfrastruktur zerschlagen werden?
Da sollen die Häuser Dienstleistungsdrehscheiben zurUnterstützung und Beratung von Pflegebedürftigen, fürDemenzkranke und für die Vereinbarkeit von Familieund Beruf werden. Da sollen die Häuser Knotenpunktewerden für bürgerschaftliches Engagement und – hört,hört! – für die neuen Bundesfreiwilligendienste. Da sol-len die Häuser Integrationsaufgaben leisten. Damit, liebeKollegen und Kolleginnen, habe ich nur einiges aufge-zählt.Ich frage die Ministerin: Wie, bitte, sollen diese Auf-gaben mit den von Ihnen genannten 30 000 Euro Zu-schuss bewältigt werden? Ich gebe dem Expertennetz-werk recht, wenn es fordert, dass die 40 000 EuroZuschuss nur die unterste Grenze sein können. Wie sollein Mehr an Angeboten und Aufgaben – und damit auchan Personal – mit weniger Geld machbar sein? Oder sol-len die Kosten auf die Städte und Kommunen abgewälztwerden? Wie viele von Ihnen sind heute noch in derLage, diese freiwillige Leistung zu erbringen? Sollensich nur noch reiche Städte und Gemeinden die Mehrge-nerationenhäuser leisten können? Wie sollen die Modali-täten für eine neue Bewerbung aussehen? Es gibt heutekeine detaillierte Beschreibung der neuen Förderung.Die Träger fühlen sich alleingelassen und warten.Wieso halten Sie die Information zurück, dass dasMinisterium einen geringeren Zuschuss, befristet aufdrei Jahre Laufzeit, für weniger Häuser vorsieht? Wiesowird vorgegaukelt, es könne für die Mehrgenerationen-häuser so weitergehen wie bisher?Meine Herren und Damen, es wird Neubewerbungengeben und auch neue Mitbewerber. Darum fordern wirSozialdemokraten die Bundesregierung auf: Legen Sieein Anschlusskonzept vor, das diesen Namen auch ver-dient!
Erarbeiten Sie gemeinsam mit den Betroffenen, mit Län-dern, Kommunen und Trägern, ein Konzept, in dem dieFinanzierung klar geregelt ist! Übernehmen Sie unserenVorschlag und richten Sie es nach Angeboten der Ge-sundheitsförderung und Prävention aus, damit sich dieMehrgenerationenhäuser in ihrem jeweiligen Umfeldpassgenau weiterentwickeln können.Liebe Kollegen und Kolleginnen, gerade im ländli-chen Raum, gerade in sozialen Brennpunkten, gerade infinanziell schwachen Kommunen müssen wir unbedingtverhindern, dass Mehrgenerationenhäuser schließen.Vielmehr müssen sie Vorbildfunktion für ein generatio-nenübergreifendes Miteinander haben.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nun die Kollegin Katharina Landgraf für
die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Der Antrag der SPD ist in Teilen durchaus be-grüßenswert. Glücklicherweise ist er jedoch schon über-holt. Dank unseres Einsatzes in der christlich-liberalenKoalition stand bereits Anfang Dezember letzten Jahresfest, dass es ein Folgeprogramm für die Mehrgeneratio-nenhäuser geben wird. Dieses ist auch nicht, wie von Ih-nen behauptet, längst überfällig; denn der erste Teil IhrerForderungen, ein Folgeprogramm, ist schon erfüllt. Dieöffentliche Ausschreibung beginnt in diesem Jahr. DasFolgeprogramm startet dann Anfang 2012 für die Dauervon drei Jahren. Das bedeutet auch, dass sich die Mehr-heit der Mehrgenerationenhäuser ohne Leerlauf für dasneue Programm bewerben kann. Zusätzliche könnensich ebenso bewerben. Dies ist eine Anerkennung für dieLeistungen der engagierten und größtenteils ehrenamt-lichen Mitarbeiter in den Häusern.Das neue Programm wird vier inhaltliche Schwer-punkte haben:Erstens. Alter und Pflege. Hier wird es darum gehen,gut funktionierende und aufeinander abgestimmte Netz-werke und Kooperationen zu schaffen sowie auf regio-nale Besonderheiten einzugehen. Gerade für Ältere undGebrechliche wäre zum Beispiel ein Begleitservice fürden Weg zum Arzt eine gute Sache.Zweitens. Integration und Bildung. Im Fokus sindunter anderem der Auf- und Ausbau der Betreuung so-wie die Unterstützung von Kindern und Jugendlichen.Außerdem soll das Potenzial von Migrantinnen und Mi-granten beim bürgerschaftlichen Engagement verstärktund gezielt genutzt werden. Auch das gehört zu unsererWillkommenskultur.Drittens. Haushaltsnahe Dienstleistungen. Hier sol-len die Mehrgenerationenhäuser vor allem Anlauf- undVermittlungsstelle sein. In Sachsen hat sich bereits jetztein Verständnis der Mehrgenerationenhäuser als Vermitt-ler und Anbieter unterstützender Leistungen wie Leih-omas, Einkaufshelfer und Betreuer für Kinder und Äl-tere entwickelt.
Die vierte Säule ist das freiwillige Engagement. Da-bei sollen die Mehrgenerationenhäuser als Knotenpunktedes neuen Bundesfreiwilligendienstes und des bürger-schaftlichen Engagements in den Kommunen etabliertwerden.Damit haben wir die verpflichtenden Anforderungenan die Mehrgenerationenhäuser von ursprünglich siebenauf vier gekürzt. Damit sollen das Profil geschärft undeine Überforderung der Häuser vermieden werden.
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Katharina Landgraf
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Der Vorschlag der SPD, einen neuen verpflichtendenSchwerpunkt im Bereich der gesundheitlichen Präven-tion zu setzen, wäre meiner Ansicht nach eine Überfor-derung.
Das heißt natürlich nicht, dass dieses Thema im Folge-programm überhaupt nicht berücksichtigt wird. Das Ziel,insbesondere älteren Menschen möglichst lange ein mo-biles und selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, habendie Akteure bereits jetzt im Blick. Hier können dieMehrgenerationenhäuser tatsächlich einen qualifiziertenBeitrag leisten. Sie tun dies vielfach bereits heute. Dasgilt genauso für die Angebote im Bereich der Gesund-heitsförderung und Prävention für Menschen jedenAlters. Viele Mehrgenerationenhäuser sind hier – zumBeispiel im Bereich Kindergesundheit – sehr aktiv. IhreErkenntnisse und Erfahrungen geben die Häuser bereitsheute über die internen Vernetzungsstrukturen weiter.Die SPD fordert weiterhin den Erfahrungsaustausch,die Vernetzung zwischen den Mehrgenerationenhäusernund Qualifizierungen der Akteure vor Ort. Diese Punktewerden im Folgeprogramm der Regierung natürlich auchBerücksichtigung finden. Die enge Beratung und Beglei-tung der Mehrgenerationenhäuser hat sich bereits im lau-fenden Programm bewährt. Die Aktiven in den Mehrge-nerationenhäusern haben mir gesagt, dass sie sehr vielvon dem Voneinander-Lernen profitieren. Auch zukünf-tig wird deren Qualifizierung einen hohen Stellenwerthaben.Meine Damen und Herren der SPD-Fraktion, Ihr An-trag ist, wie schon erwähnt, durchaus gut gelungen. Al-lerdings ist er überfrachtet mit Ideen, die nicht für jedesMehrgenerationenhaus umsetzbar sind. Statt hochgesto-chener Ziele wie zum Beispiel soziale Inklusion von ein-kommensschwachen und benachteiligten Menschen istes viel wichtiger, genau hinzuschauen, was von denMenschen vor Ort nachgefragt wird. Dabei ist vor allemauf die regional unterschiedliche Prägung der schon jetztexistierenden Mehrgenerationenhäuser zu achten.Es sollte nicht zuallererst darauf geschaut werdenmüssen, ob den neuen Schwerpunkten entsprochen wird.Es wäre also noch zu klären, ob die Bewerber alle Pro-grammschwerpunkte erfüllen müssen oder ob eigeneSchwerpunkte innerhalb der vorgegebenen möglich sind.Ich werde mich dafür einsetzen. Beispielsweise sollte esmöglich sein, nur drei der genannten Schwerpunkte zuerfüllen. Außerdem ist zu fragen, ob wirklich alle Ange-bote der Mehrgenerationenhäuser direkt in dem jeweili-gen Haus verortet sein müssen oder ob nicht eine Vernet-zung mit Partnern außerhalb der eigenen vier Wändewirkungsvoller ist.Für die Praktiker in den Mehrgenerationenhäusernwäre es zudem wünschenswert, die Art und Weise derAbrechnung und Dokumentation effektiv und effizientzu gestalten. Ein Verwaltungsaufwand wie im bisherigenProgramm bindet zu viel Kraft und Zeit.Unerlässlich ist bei alldem die Unterstützung durchdie Kommunen. Dies ist der entscheidende Indikator da-für, ob und wie die Mehrgenerationenhäuser im kommu-nalen Angebot verankert sind. Ich hätte außerordentlichgroße Bedenken, wenn der Bund eine verstärkte finan-zielle Beteiligung der Kommunen fordern sollte. Dawerden wohl einige Mehrgenerationenhäuser auf derStrecke bleiben. Viele Häuser werden bereits jetzt nachMöglichkeit von den Kommunen unterstützt. Eine fest-geschriebene finanzielle Beteiligung würde in manchenFällen sogar eine Kürzung an anderen Stellen bedeuten,zum Beispiel bei Jugendklubs. Das kann nicht in unse-rem Interesse sein.Trotzdem ist es unser gemeinsames Ziel, dass dieMehrgenerationenhäuser langfristig auch ohne Bundes-förderung und ohne Schaffung von Modellprojektenexistieren können. Daher werden schon nächsten Diens-tag, also am 25. Januar, erste Gespräche mit den Bundes-ländern und Kommunen geführt, um gemeinsam einedauerhafte Eingliederung der Häuser in die lokale Infra-struktur erreichen zu können. Die spürbare Wertschät-zung der Mehrgenerationenhäuser in Familien, Gemein-den und Regionen bestärkt uns darin.Meine Damen und Herren von der SPD, Sie sehen:Wir sind schon mitten in der praktischen Arbeit ange-langt.Vielen Dank.
Das Wort hat nun die Kollegin Heidrun Dittrich für
die Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Der SPD geht es in ihrem Antrag um dieAnschlussfinanzierung der 500 Mehrgenerationenhäuserin Deutschland; denn dieses Projekt läuft 2011 in der Tataus.Was findet in einem Mehrgenerationenhaus statt? Äl-tere Menschen betreuen im Tagestreffpunkt zeitweiseKinder. Die Kinder unterhalten die Senioreninnen undSenioren. Ehrenamtliche unterstützen die Begegnungder Generationen. Die Fördermittel reichen leider nur füreine halbtagsbeschäftigte Sozialpädagogin. Aber dieMenschen haben sich mit diesen Einrichtungen ange-freundet. Diese Beziehungen einfach abzubrechen, dieEnttäuschung der Kinder und Senioren, wenn ihr Treff-punkt wegfällt, bewusst einzuplanen, ist menschlich ge-sehen ein Skandal.
Aber das schert die Regierung wenig. Es war von An-fang an auf fünf Jahre geplant – basta! Die Leute sollendoch sehen, wo sie bleiben.
Die von der Familienministerin vorgelegte Anschluss-förderung bedeutet nicht, dass die bisherigen Mehrgene-
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Heidrun Dittrich
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rationenhäuser erhalten bleiben. Nein, das neue Projektrichtet sich auch an neue Nutzer. Es sollen Pflegestütz-punkte aufgebaut werden, und die Jugendlichen, die kei-nen Ausbildungs- oder Studienplatz erhalten, dürfen sichdarin im Rahmen des neuen Bundesfreiwilligendienstesbewähren. Wieder wird mit einem neuen Konzept einneuer Personenkreis gewonnen, wieder werden Vertrau-ensverhältnisse beendet. Wie kann eigentlich soziale Ar-beit gelingen?Ich will Ihnen ein Beispiel aus meiner Tätigkeit imJugendamt der Stadt Hannover schildern. Im TreffpunktAllerweg in Hannover waren einst zwei städtische So-zialarbeiterinnen in Vollzeit beschäftigt und boten vonmorgens bis abends Mietschuldnerberatung und Hilfe-stellung bei Erziehungsfragen an und schufen Raum fürein selbstverwaltetes Bürgercafé mit Kinderbetreuung.40 Kinder wurden wöchentlich im Tagestreffpunkt be-treut. Die Eltern entwarfen im Stadtteilcafé ihre Stadt-teilzeitung. Türkische und spanische Migranten mit Kin-dern trafen sich zum Spieleabend. Die Spiele waren dieBrücke, um sich generationen- und sprachübergreifendzu unterhalten.Als Mitte der 90er-Jahre die städtischen Sozialarbei-ter eingespart wurden,
sollte der Treffpunkt von Ehrenamtlichen weitergeführtwerden. Das aber scheiterte am Geldmangel. Die Kin-derbetreuung fiel weg. Als die Kinder wegblieben, warder Treffpunkt gestorben. Später machte der Stadtteil ne-gative Schlagzeilen: 12-Jährige fielen durch fortgesetzteSachbeschädigung auf, und die Polizei war hilflos. Sol-len diese verödeten Städte jetzt Programm der Bundesre-gierung werden? Genau das macht die Regierung. Siekürzt zusätzlich noch die Mittel beim Programm „So-ziale Stadt“ um zwei Drittel und schafft damit vor allemTreffpunkte von Migranten ab.
Soziale Arbeit ist nur dann erfolgreich, wenn dauerhaftvertrauensvolle Beziehungen aufgebaut werden können,und pädagogische Arbeit gibt es nicht zum Nulltarif.
Verankern Sie die Mehrgenerationenhäuser dauerhaft.Sozialer Zusammenhalt soll in einer Bürgergesell-schaft organisiert werden. Das klingt gut, aber was stecktdahinter? – Die nationale Engagement-Strategie und dieAbschaffung des Sozialstaates. Die Finanzierung derMehrgenerationenhäuser zeigt, wie es gehen soll. EinDrittel bezahlt die Stadtverwaltung, ein Drittel ein fi-nanzkräftiges Unternehmen mit dem SchwerpunktPflege. Wenn sich das eingefunden hat, zahlt das letzteDrittel der Bund. Mit dieser Einsicht unterscheiden wiruns in der Tat von allen anderen Parteien. Hierzu zitiereich den Sachverständigen Rupert Graf Strachwitz derEnquete-Kommission des Deutschen Bundestages:Die Bürgergesellschaft ist nicht Zustands- oder Le-bensumstandsbeschreibung, sondern die Vision ei-ner Gesellschaftsverfassung als Gegenmodell zumgegenwärtigen Versorgungs- und Verwaltungsstaat.Im Klartext heißt das: die Abschaffung des Sozial-staates ohne Wenn und Aber. Mit Ihrer Agenda 2010 ha-ben Sie, meine Damen und Herren von den Grünen undder SPD, begonnen, den Sozialstaat noch mehr auszu-höhlen. Die jetzige Regierung aber versetzt ihm den To-desstoß. Damit wird die Demokratie untergraben. Denndie Unternehmen entscheiden nun über den Inhalt unddie Fortsetzung der sozialen Arbeit.
Aus unserer Sicht darf die öffentliche Daseinsvor-sorge nicht privatisiert werden. Der Staat muss das Ge-meinwohl organisieren. Die Regierung verzichtet auf dieBesteuerung der Millionäre, mutet den Menschen die so-ziale Wüste zu und entlässt die Reichen in die Steuer-oase.
Sichern wir zum Beispiel mit der Millionärsteuer denSozialstaat.
Die nächste Rednerin ist die Kollegin Nicole Bracht-
Bendt für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Mehrgenerationenhäuser sind sinnvolle Ein-richtungen. Die FDP-Fraktion fand die Idee, die dahin-tersteht, immer gut, nicht aber das Finanzierungsmodellund schon gar nicht das Modell, das die SPD-Fraktion inihrem vorliegenden Antrag fordert. Mehrgenerationen-häuser sollen nach Auslaufen des Pilotprojektes nachdem Gießkannenprinzip weiter mit Steuergeldern desBundes am Leben erhalten werden. Da machen wirLiberale nicht mit.Vor sechs Jahren hat die damalige Familienministerinvon der Leyen das Modellprojekt der Mehrgenerationen-häuser gestartet. Ich betone: Modellprojekt. Der Bundwollte klammen Ländern und Kommunen auf dieSprünge helfen, wichtige Vorhaben anzustoßen. Ziel wares, Orte zu schaffen, in denen sich Männer und Frauen,Kinder und Jugendliche generationenübergreifend tref-fen. Schon damals war also klar, dass es sich um eineAnschubfinanzierung für Projekte handelte, die wichtigsind und die das Land und die die Stadt nicht alleineschultern können. Jedes Land und jede Kommunewusste also von Anfang an, dass nach fünf Jahren derwarme Regen aus Berlin aufhören wird.
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Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Ziegler?
Nein, ich möchte bitte zum Ende kommen.
Fünf Jahre hatten die Städte und Gemeinden Zeit, sich
darauf einzustellen und nach Sponsoren oder Spendern
Ausschau zu halten, von denen es noch welche gibt. Ge-
nau aus diesem Grund hat die FDP-Bundestagfraktion
bisher auch daran festgehalten, dass es sich lediglich um
ein Pilotprojekt handelt.
Wir haben viel Kritik aus den Kommunen erfahren,
weil wir diese Unterstützung durch den Bund nicht als
Dauereinrichtung wollten. Es gab auch Kritik aus den
Ländern. Diese Reaktion fand ich besonders bemerkens-
wert, da es normalerweise doch gerade die Länder sind,
die laut aufschreien, wenn der Bund sich in ihre Angele-
genheiten mischt.
Als Ministerin Schröder Ende letzten Jahres eine Neu-
ausschreibung der Mehrgenerationenhäuser ankündigte,
habe ich keine kritischen Töne aus den Bundesländern
gehört.
Im Übrigen sieht das Konzept der Bundesregierung
vor, dass bestehende Einrichtungen nicht automatisch ei-
nen Freibrief für weitere Bundesmittel erhalten. Nur
Einrichtungen, die ein überzeugendes und langfristig
tragfähiges Konzept haben und dabei sind, eigenständige
finanzielle Strukturen aufzubauen, sollen weiter geför-
dert werden, und zwar nicht nur bestehende, sondern
auch neue Häuser.
Ohne Zweifel sind in den zurückliegenden fünf Jah-
ren viele interessante Einrichtungen entstanden. Ich habe
Häuser mit tollen Angeboten für alte Menschen gesehen,
aber auch solche, in denen eine bessere Vereinbarkeit
von Familie und Beruf durch Kinderbetreuung, Hausauf-
gabenhilfe und Frühförderung erreicht werden sollte.
Über die Hälfte der Mehrgenerationenhäuser arbeitet zu-
dem in ländlichen Gebieten oder Kleinstädten, und das
ist gut.
Die Stadt Buchholz, in der ich wohne, ist ein typi-
sches Beispiel. Bewährt hat sich dort zum Beispiel der
Kindernotfalldienst; aber auch die Angebote für die Äl-
teren und Migranten werden gut angenommen. Wir ha-
ben zwar Hamburg mit seiner Infrastruktur direkt vor der
Tür. Aber ältere Menschen wissen oft nicht, wie sie dort
hinkommen sollten. Deshalb sind Infrastrukturangebote
für alte Menschen besonders in den Regionen wichtig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion,
in Ihrem Antrag fordern Sie als Schwerpunkt der künfti-
gen Arbeit der Mehrgenerationenhäuser die Integration
von Migrantinnen und Migranten. Diesem wichtigen
Thema widmet sich auch das Folgeprogramm der Bun-
desregierung. Ihre weiteren Schwerpunktthemen Ge-
sundheitsförderung und vor allen Dingen Prävention
sind natürlich gut und wichtig. Deshalb arbeitet das Ge-
sundheitsministerium gerade an einer Präventionsstrate-
gie. Aber Themen wie Alter und Pflege, die im Konzept
von Familienministerin Schröder vorgesehen sind, sind
drängender. Wir brauchen mehr Unterstützungs- und Be-
ratungsangebote für ältere Menschen, vor allem für Pfle-
gebedürftige und Demenzkranke und deren Angehörige;
denn die Zahl der Betroffenen wird, wie wir alle wissen,
in jedem Jahr größer.
Unabhängig von künftigen Schwerpunkten sind für
uns Liberale Mehrgenerationenhäuser ein wertvolles
Modell, das sich in vielen Regionen bewährt hat. Den-
noch kann es nicht sein, dass der Bund auf Dauer das
Füllhorn mit Wohltaten ausschüttet. Wir sind ganz klar
der Auffassung, dass sich die Länder und Kommunen
bei neuen Modellprojekten stärker als bislang an der Fi-
nanzierung beteiligen müssen. Als Kommunalpolitikerin
im Buchholzer Stadtrat weiß ich, wie schwer es für
Kommunen ist, solche Einrichtungen zu finanzieren.
Dies erfordert eine ausführliche öffentliche Debatte da-
rüber, wie wichtig dem Ort eine solche Begegnungsstätte
ist und wie diese finanziert werden kann. Die Kommu-
nalpolitiker müssen hier Flagge zeigen. Wenn sie es wol-
len und kreativ sind, gibt es Lösungen. Sie hatten fünf
Jahre lang Zeit, finanzielle Strukturen zu entwickeln,
und viele von ihnen bekommen nun sogar noch mehr
Zeit, in der der Bund Zuschüsse bereitstellt.
Pilotprojekte sind, wie gesagt, keine Dauereinrich-
tung. Ziel muss es sein, dass der Bund aus der Finanzie-
rung herauskommt. Wir Liberale werden dem SPD-An-
trag nicht zustimmen. Uns ist wichtig, dass der warme
Regen aus Berlin nicht zum Dauerregen wird.
Danke schön.
Nun hat sich Frau Kollegin Ziegler zu einer Kurzin-
tervention gemeldet. – Bitte.
Sehr geehrte Kollegin, es hat mich schon etwas ge-wundert, dass Sie unterstellt haben, die Kommunen hät-ten von vornherein gewusst, dass es sich hier nur um einModellprojekt handelt und die Weiterfinanzierung ihnenobliegen soll. Ich kann Ihnen als ehemalige Familienmi-nisterin von Brandenburg eines sagen: Wir haben vonAnfang an kritisiert, dass Frau von der Leyen durch dieLande gezogen ist und Mehrgenerationenhäuser als Mo-dellprojekte etabliert hat, ohne dass die Länder in diekonzeptionelle Arbeit und bei der Frage, wo Mehrgene-rationenhäuser angesiedelt werden sollten, einbezogenworden sind. Wir haben Frau von der Leyen mit einemeinstimmigen Beschluss der Fachministerkonferenz,also aller 16 Familienministerinnen und -minister, ein-dringlich darum gebeten, von diesem Verfahren Abstandzu nehmen und dafür zu sorgen, dass die Länder einbe-zogen werden; denn auch die Länder leisten in diesemBereich konzeptionelle Arbeit. Die Mehrgenerationen-
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Dagmar Ziegler
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häuser sind aber völlig losgelöst von den Ministerien mitden Kommunen vereinbart worden.Ich habe mich geweigert, an der Eröffnung von Mehr-generationenhäusern teilzunehmen,
weil genau das abzusehen war: Der Bund zieht sich nachAblauf des Zeitraums zurück; dann stehen die Vertreterder Mehrgenerationenhäuser bei den Kommunen undden Ländern vor der Tür und bitten um Weiterfinanzie-rung der sehr sinnvollen Projekte, die dort durchgeführtwerden. Wir alle haben vorher gewusst, dass das Geldweder auf der kommunalen Ebene noch auf der Länder-ebene vorhanden sein wird. Insofern verstehe ich IhrenVorwurf überhaupt nicht, dass wir auf diesen Ebenenfünf Jahre Zeit gehabt hätten, „finanzielle Strukturen zuentwickeln“, um die Weiterfinanzierung vorzubereiten.Diese Ebenen werden sich mit Ihnen damit auseinander-setzen, und zwar parteiübergreifend; denn das war gelo-gen.
Nun hat der Kollege Kai Gehring für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das Bundesfamilienministerium hat die Mehrgeneratio-nenhäuser viel zu lange über eine mögliche Weiterförde-rung im Unklaren gelassen; das ist einfach Fakt.
Daher begrüßen wir, dass wir uns heute hier im Parla-ment mit diesem Thema und mit der Zukunft dieser Häu-ser beschäftigen. Die schwarz-gelbe Koalition muss jetztendlich für Planungssicherheit, Klarheit und echteTransparenz in der Frage sorgen, ob und wie es mit denMehrgenerationenhäusern weitergehen soll.
Offensichtlich fehlt aber bis heute ein wirklich sinn-volles Übergangsmanagement, damit wir von einemModellprojekt zu einer nachhaltigen Etablierung erfolg-reicher Mehrgenerationenhäuser kommen. Das Ministe-rium hat zwar erste Eckpunkte per Pressemitteilung derÖffentlichkeit bekannt gegeben; aber die darin genann-ten Schwerpunkte sind schlichtweg willkürlich gewählt.Die Mehrgenerationenhäuser dürfen nicht in Konkur-renz zu bestehenden Strukturen vor Ort treten; das istuns ganz wichtig. Dieses Risiko könnte jedoch beim vor-gesehenen Schwerpunkt „Alter und Pflege“ durchaus be-stehen. Die Große Koalition hat in der vergangenenLegislaturperiode die Pflegestützpunkte auf den Weg ge-bracht. Die Pflegeversicherung leistet hierfür eine An-schubfinanzierung in Höhe von 60 Millionen Euro. Eswurde ein Rechtsanspruch auf die in Länderverantwor-tung durchgeführte Pflegeberatung und vieles mehr ge-schaffen. Da stellt sich doch die Frage, ob hier eine Dop-pelstruktur geschaffen wird.
Diese Frage stellt sich auch beim Bereich „Freiwilli-ges Engagement“. Dort, wo es vor Ort eine gut funktio-nierende, tolle Ehrenamtsagentur gibt, braucht man viel-leicht kein Mehrgenerationenhaus mit dem Schwerpunkt„Freiwilliges Engagement“. Man muss sehr genau hin-schauen, wie das auf bestehende Strukturen vor Ortwirkt, damit Doppelstrukturen nicht vorprogrammiertsind und die Zielgruppen, die Sie erreichen wollen, nichtirritiert, sondern orientiert sind.
Wir müssen bei jedem neuen Modellprogramm vonvornherein darauf achten, dass keine Modellruinen ent-stehen. Bei den Mehrgenerationenhäusern muss mansehr deutlich sagen: Die große Mehrzahl der Häuser leis-tet eine hervorragende Arbeit; einzelne Häuser könnenaber nicht überzeugen. Wenn man Mehrgenerationen-häuser zukunftsfähig gestalten will, dann muss man sichfragen: Wie unterscheiden sich die Häuser von denvorhandenen Strukturen, die es vor Ort gibt, in der Ju-gendhilfe, in der Altenhilfe etc.? Welche sinnvollen Er-gänzungen zur kommunalen Infrastruktur können sie ei-gentlich leisten? Welchen dauerhaften Mehrwert gibt esfür die Menschen vor Ort? Die Koalition muss diese Fra-gen noch beantworten. Wenn Sie ein Folgeprogrammvorlegen, dann müssen Sie sich ein Vorbild an den guten,erfolgreichen Mehrgenerationenhäusern nehmen.
Aus Sicht der Grünen muss es das zentrale Ziel derHäuser sein, dass ein Miteinander von Alt und Jungstattfindet. Wo Mehrgenerationenhaus draufsteht, mussKontakt und Dialog zwischen den Generationen tatsäch-lich drin sein und tagtäglich stattfinden; denn sonst wirdja mit dieser Überschrift etwas vorgegaukelt. Viele glau-ben immer noch, es findet ein Mehrgenerationenwohnenstatt. Aber es ist sozusagen eine Kontaktstelle, wo unter-schiedliche Menschen zusammenkommen. Wenn dorttatsächlich ein Mehrgenerationendialog stattfindet, dannkann das auch ein Beitrag dazu sein, den demografi-schen Wandel aktiv zu gestalten. Dieser generationen-übergreifende Gedanke zwischen Alt und Jung, zwi-schen Jugendlichen, Erwachsenen und älteren Menschenmuss in allen Mehrgenerationenhäusern viel stärker zumTragen kommen. Dann wird man dem Namen auch ge-recht.
Grundsätzlich kann man der Koalition sagen: vielleichtein bisschen weniger Leuchtturmprojekte und mehrwirklich nachhaltige Strukturen. Eine gute Infrastruktur,eine gute Förderung würden wir uns wünschen.
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9492 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Kai Gehring
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Wenn man sich in die Evaluation vertieft, dann wirddeutlich, dass die Mehrgenerationenhäuser vor allemdann erfolgreich sind, wenn sie kommunal gut verankertsind und wenn sie sich mit der Förderung und Unterstüt-zung von Familien beschäftigen. Das ist etwas, woraufman aufbauen sollte.Aber zwei Fragen muss die Koalition noch beantwor-ten; vielleicht kann Herr Geis dazu etwas sagen. WennSie jetzt schon festlegen, dass sich die Kommunen künf-tig in einem viel stärkeren Maße an der Finanzierungbeteiligen sollen, wie wollen Sie dann eigentlich verhin-dern, dass in armen, in finanzschwachen Kommunenkein Mehrgenerationenhaus mehr gegründet, ge-schweige denn finanziert werden kann? Wie wollen Siesicherstellen, dass alle Kommunen ein solches Mehrge-nerationenhaus kofinanzieren können?Sie betonen auch – das ist die zweite Frage –, dass esein neues nachbarschaftliches Miteinander und eineNetzwerkarbeit im Sozialraum gibt. Das wird zu Rechtgelobt. Aber wenn Sie das Programm Soziale Stadt zu-sammenstreichen, dann passt das nicht zusammen; dennhier hat ein wirklich gutes Quartiersmanagement inStadtteilen mit besonderem Erneuerungsbedarf stattge-funden.Deshalb ein ganz klarer Appell an die Regierung:Schaffen Sie endlich Transparenz über die Konzeptionund die Fördermodalitäten für ein Nachfolgeprogramm!Zentral bleibt für uns die Frage der Nachhaltigkeit dieserHäuser, damit wir auch diese Debatte nicht alle paarJahre führen müssen.Vielen Dank.
Nun hat der Kollege Norbert Geis für die CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich gebe Herrn Gehring recht, dass die Mehrge-nerationenhäuser dann in der Zukunft Bestand habenwerden, wenn sie einen wichtigen Beitrag für den Zu-sammenhalt innerhalb der Gesellschaft leisten können.Das tun sie im Augenblick; jedenfalls ist das auch heutebei dieser Debatte zum Ausdruck gekommen.Was heißt „Beitrag zum Zusammenhalt“? Das sozialeKlima in einer Gesellschaft wird dadurch bestimmt, dassdie Menschen aufeinander zu gehen. Es geht um die Zu-wendung zum anderen, insbesondere zu den älterenMenschen, die oft krank sind und oft auch verbittert da-heim allein in ihren Wohnungen leben, ohne Kontakt zurAußenwelt. Aber es geht auch um den Kontakt der aus-ländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger mit den deut-schen. Es geht um Integration, eine der wichtigsten Auf-gaben der Gesellschaft in der nächsten Zeit überhaupt.Es geht aber auch um den Kontakt von Jung und Alt. Esgeht darum, dass die Menschen zueinanderfinden. Dannherrscht ein Klima vor, in dem es sich zu leben lohnt.Darum geht es den Mehrgenerationenhäusern.Natürlich haben wir viele Institutionen, und es bestehtschon ein wenig die Frage, ob da nicht Doppelfunktio-nen entstehen. Wir haben die Vereine, die dergleichenleisten; wir haben auch andere Institutionen. Insbeson-dere die Familie ist nach wie vor das stabilisierende Ele-ment in einer Gesellschaft.
Aber wir erleben auch, wie die Familien mehr und mehrins Hintertreffen geraten. Viele Bindungen zerbrechen.Viele Verbindungen werden als Ehe gar nicht mehr auf-genommen. Das heißt schon, dass wir uns Gedankendarüber machen müssen, wie wir darüber hinaus dieChance haben, dass in der Gesellschaft genug Bindungs-kräfte sind und die Menschen nicht nebeneinanderher le-ben. Daher kann es, so meine ich, durchaus richtig sein,solche Mehrgenerationenhäuser zu installieren. Sie sind– das ist heute schon zur Genüge gesagt worden – An-laufstellen, insbesondere für ältere Menschen. Sie kön-nen dort das finden, was ihnen im Alltag fehlt, den Kon-takt zu Mitmenschen, insbesondere zu jungen Leuten.Hier können auch ausländische Mitbürgerinnen und Mit-bürger, was in vielen Mehrgenerationenhäusern der Fallist, Kontakt zu Einheimischen aufnehmen. Hier könnenJung und Alt zusammenfinden. Diese Häuser bieten alsotatsächlich die Chance, innerhalb der Gesellschaft Bin-dungskräfte zu entwickeln, die wir dringend brauchen.Wir müssen uns deshalb Gedanken darüber machen,wie und ob wir den Bestand dieser Häuser in Zukunftgarantieren wollen. Es ist richtig, dass die Bundesregie-rung die Einrichtung dieser Häuser initiiert hat, und esist auch richtig – da gebe ich Ihnen recht –, dass dabeiversäumt worden ist, sich mit den Gemeinden und insbe-sondere den Ländern in Verbindung zu setzen, um einefinanzielle Grundlage für diese Häuser zu finden.
Deswegen müssen wir das jetzt in der Folgevereinba-rung nachholen. Die Koalition will diese Häuser erhal-ten, weil sie als gute Einrichtung erkannt worden sind.Aber wir müssen eine vernünftige finanzielle Grundlagefinden. Deswegen kommt es jetzt darauf an, dass mandiesen Fehler, den man vor fünf Jahren gemacht hat,nicht wiederholt.Sicherlich haben wir den Trägern der Mehrgeneratio-nenhäuser vor fünf Jahren gesagt, dass die Förderung infünf Jahren ausläuft. Aber man kann sich sehr leicht aus-rechnen, dass man die Kontakte, die entstanden sind,nachdem ein solches Haus eingerichtet worden ist, nichteinfach beenden kann, weil die Finanzierung fehlt. Eskommt entscheidend darauf an, dass Bund, Länder undGemeinden gemeinsam vorgehen. Ich teile die Auffas-sung, dass man den Gemeinden nicht zu viel aufbürdenkann, Herr Gehring. Die Gemeinden haben wirklich diegrößte Last zu tragen, wenn es um die soziale Absiche-rung geht. Das kann auf Dauer so nicht weitergehen. Wirmüssen uns auch in anderer Hinsicht Gedanken darüber
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9493
Norbert Geis
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machen, wie wir die Gemeinden stärker entlasten kön-nen, oder wir müssen ihnen einen größeren Anteil amEtat zukommen lassen.Die Länder müssen ebenso wie der Bund begreifen,dass die Mehrgenerationenhäuser eine hervorragendeChance bieten, um innerhalb der Gesellschaft Bindungs-kräfte entstehen zu lassen, die notwendig sind, damit dieMenschen nicht nebeneinanderher leben, sondern aufei-nander zu gehen.Danke schön.
Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin
Angelika Graf für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich habe in den letzten Jahren eine ganze Reihe von
Mehrgenerationenhäusern besucht und immer feststellen
können, wie unterschiedlich sie aufgestellt sind, immer
gerade richtig für den Ort, an dem sie entstanden sind.
Ich habe auch feststellen können, welch wichtige Rolle
sie inzwischen für die soziale Infrastruktur spielen. Sie
waren ein Impulsgeber für Jugend-, Familien- und
Altenhilfestrukturen vor Ort. Oft findet man dort Kin-
derbetreuungseinrichtungen, Hausaufgabenhilfen, Vorle-
sedienste, Integrationsangebote oder auch einen günsti-
gen Mittagstisch für sozial schwache Familien oder
Alleinstehende. Die Arbeit dort steht und fällt mit dem
bürgerschaftlichen Engagement. Anders wäre das bei der
schwachen Finanzierung, die schon jetzt gegeben ist, de-
finitiv nicht zu machen. Die Menschen gehen aufeinan-
der zu. Herr Geis, die Bindungskräfte werden durch
diese Häuser zweifellos größer.
Schon heute gibt es in vielen Mehrgenerationenhäu-
sern präventive Grundansätze. Diese wollen wir aus-
bauen. Darauf bauen wir in unserem Antrag. Wir wollen
die gesundheitliche Prävention zu einem neuen Schwer-
punkt der Mehrgenerationenhäuser machen. Wir wollen,
dass die Prävention nicht nur in die Hände der Ärzte ge-
legt wird, wie es der Gesundheitsminister vorhat – er führt
eine entsprechende Honorarabrechnungsziffer ein –,
sondern wir wollen eine Prävention im Sinne eines
Präventionsgesetzes, wie es bereits die rot-grüne Bun-
desregierung verfolgt hat. Aktiv sein, Vorsorge treffen,
Prävention ernst nehmen und nutzen, das sind, wie ich
denke, die Schlüsselbegriffe für ein gesundes Leben.
Insbesondere die Prävention im Alter können wir so stär-
ken.
Wir möchten durch die Verknüpfung der Mehrgenera-
tionenhäuser mit Prävention und Gesundheitsförderung
die Potenziale der Prävention vor Ort über niederschwel-
lige Angebote heben. Wir wollen eine gesundheitliche
Prävention, die im alltäglichen Leben greift, gerade für
Personen aus einem sozial schwachen Umfeld sowie für
Ältere, zum Beispiel durch vermehrte Ernährungs- und
Bewegungsberatung. Wir wollen mit unserem Antrag
dazu beitragen, die Mehrgenerationenhäuser in diesem
Aufgabenbereich zu stärken.
Wir freuen uns, dass Bundesfamilienministerin
Schröder nach langem Zögern nun ebenfalls Vorschläge
zur Weiterfinanzierung und zum Erhalt der Mehrgenera-
tionenhäuser gemacht hat. Was die Bundesfamilien-
ministerin zum Schwerpunkt der künftigen Mittelver-
gabe machen möchte, geht meines Erachtens allerdings
weit über die Möglichkeiten eines Mehrgenerationen-
hauses hinaus. Da soll ein Knotenpunkt für Bundesfrei-
willigendienste entstehen, da soll eine Ehrenamtsbörse
entstehen, und es geht um die Beratung und Betreuung
von Pflegebedürftigen und Demenzerkrankten. Das ist
noch lange nicht alles. Hier steht nicht „Entweder-oder“,
sondern „und, und, und“. Ich denke, die Mehrgeneratio-
nenhäuser werden überfordert. Die Beratung und Be-
treuung von Pflegebedürftigen und Demenzerkrankten
zum Beispiel braucht qualifiziertes Fachpersonal. Das
kann ein Mehrgenerationenhaus mit einem Zuschuss des
Bundes in Höhe von 40 000 Euro pro Jahr definitiv nicht
leisten, zumal die Bundesförderung nach dem Willen der
Familienministerin sogar sinken soll.
Mit den Pflegestützpunkten, die Sie im Rahmen der
Mehrgenerationenhäuser schaffen wollen, haben wir be-
reits in der letzten Legislaturperiode den Aufbau einer
Beratungsinfrastruktur in der Pflege gestartet.
Frau Kollegin, ich muss Sie auf die Redezeit auf-
merksam machen.
Ich komme gleich zum Schluss, Frau Präsidentin. –
Pflegestützpunkte und Mehrgenerationenhäuser sind
zwei sehr unterschiedliche Konzepte. Beide brauchen
wir, aber nicht miteinander verwurschtelt. Wir brauchen
keine Doppelstrukturen.
Ich rate Ihnen: Bringen Sie die Möglichkeiten, die wir
Ihnen mit diesem Antrag eröffnet haben, in die Beratun-
gen ein. Vielleicht kommen Sie ja doch noch zu dem
Schluss, dass unser Vorschlag der richtige ist.
Vielen herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/4031 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, damitsind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-schlossen.Wir kommen nun zu einer ganzen Reihe von Abstim-mungen zu Tagesordnungspunkten, zu denen die Redenzu Protokoll gegeben wurden. Sind Sie damit einverstan-den, dass ich darauf verzichte, die Namen der Redner zu
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9494 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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nennen? Das können Sie dann im Protokoll nachlesen. –Ich sehe, das ist der Fall. Dann sparen wir uns einige Mi-nuten.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Sportausschusses zu derUnterrichtung durch die Bundesregierung12. Sportbericht der Bundesregierung– Drucksachen 17/2880, 17/3110 Nr. 5, 17/4420 –Berichterstattung:Abgeordnete Klaus RiegertMartin GersterDr. Lutz KnopekKatrin KunertViola von Cramon-TaubadelHierzu liegt ein Entschließungsantrag der FraktionDie Linke vor.Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.1)Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Sportaus-schusses auf Drucksache 17/4420. Der Ausschuss emp-fiehlt, in Kenntnis des 12. Sportberichts auf Drucksa-che 17/2880 eine Entschließung anzunehmen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dage-gen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung istdamit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen beiEnthaltung der Oppositionsfraktionen angenommen.Nun kommen wir zur Abstimmung über den Ent-schließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksa-che 17/4448. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-trag? – Wer ist dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – DerEntschließungsantrag ist damit abgelehnt. Dafür habendie Oppositionsfraktionen gestimmt, dagegen die Koali-tionsfraktionen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:Beratung des Antrags der Fraktion der SPDNichtstaatliche militärische Sicherheitsunter-nehmen registrieren und kontrollieren– Drucksache 17/4198 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAuch zu diesem Tagesordnungspunkt wurden die Re-den zu Protokoll gegeben.2)Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/4198 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Wie ich sehe, sind1) Anlage 32) Anlage 4Sie damit einverstanden. Dann ist die Überweisung sobeschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über denRechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfah-ren und strafrechtlichen Ermittlungsverfah-ren– Drucksache 17/3802 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
InnenausschussHierzu wurden die Reden zu Protokoll gegeben.3)Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/3802 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Wie ichsehe, sind Sie auch damit einverstanden. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung
zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van Aken,Christine Buchholz, Dr. Dietmar Bartsch, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEBeziehungen der Europäischen Union mitAfrika solidarisch und gerecht gestalten– Drucksachen 17/3672, 17/4466 –Berichterstattung:Abgeordnete Hartwig Fischer
Karin Roth
Joachim Günther
Niema MovassatUte KoczyDie Reden wurden zu Protokoll gegeben.4)Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss fürwirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung emp-fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache17/4466, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Druck-sache 17/3672 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Gibt es Ent-haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist damitangenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionenund der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der FraktionDie Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.5)Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Anpassung des deutschen Rechts an dieVerordnung Nr. 380/2008 des Rates vom18. April 2008 zur Änderung der Verordnung3) Anlage 54) Anlage 65) Anlage 2
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Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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Nr. 1030/2002 zur einheitlichen Gestal-
tung des Aufenthaltstitels für Drittstaatenan-gehörige– Drucksache 17/3354 –Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
– Drucksache 17/4464 –Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard GrindelDaniela Kolbe
Hartfrid Wolff
Jan KorteMemet KilicHierzu liegt ein Entschließungsantrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen vor.Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.
Wie ich bereits in der ersten Lesung dieses Gesetzes
betont habe, setzen wir mit dem elektronischen Aufent-
haltstitel eine EU-Verordnung um. Wenn jetzt etwa die
Grünen die Erfassung von Fingerabdrücken auf diesem
einheitlichen Dokument in Kartenform kritisieren, dann
geht das in doppelter Hinsicht ins Leere. Zum einen
müssen wir die Verordnung eins zu eins bis zum 21. Mai
2011 umsetzen und haben gar keinen Handlungsspiel-
raum, auf die Fingerabdrücke zu verzichten. Zum ande-
ren zeigt sich an dieser Verordnung, dass offenbar viele
Staaten in Europa die Bedenken der Opposition an der
Erfassung von Fingerabdrücken nicht teilen. Insoweit
sollte nicht die Regierungskoalition ihre Position über-
denken und einen Verstoß gegen EU-Recht riskieren,
sondern die Grünen sollten ihre Ablehnung der Erfas-
sung von Fingerabdrücken überdenken, weil sie damit in
Europa ziemlich allein dastehen.
Denn die EU-Staaten haben aus gutem Grund auf
dieses Instrument der Erfassung des Fingerabdrucks ge-
setzt. Der elektronische Aufenthaltstitel bietet dadurch
eine Menge Vorteile:
Die Identitätsfeststellung wird europaweit einheitlich
geregelt und schafft deutlich mehr Sicherheit, weil durch
die biometrischen Erkennungsmerkmale eine verlässli-
chere Verbindung zwischen dem Ausländer und seinem
tatsächlichen Aufenthaltstitel geschaffen wird.
Die für alle EU-Staaten einheitliche Aufenthaltskarte
erfüllt sehr hohe technische Anforderungen, die Fäl-
schungen ausschließen. So können wir besser illegale
Einwanderung verhindern und illegalen Aufenthalt in
Deutschland bekämpfen.
Für Ausländer hat der elektronische Aufenthaltstitel
gleichzeitig den Vorteil, dass er wie der deutsche Perso-
nalausweis als elektronische Identitätsfeststellung ge-
nutzt werden kann.
Nun haben die Länder Bedenken gegen die neue Auf-
enthaltskarte wegen möglicher hoher Kosten geäußert.
Das ist nicht ganz unberechtigt; denn für die Ausländer-
behörden entsteht ein gewisser Mehraufwand durch die
Abnahme der Fingerabdrücke, zusätzliche Datenerfas-
sungen, mindestens eine zusätzliche Vorsprache des
Antragstellers und sicher auch einen gewissen Bera-
tungsaufwand in Sachen Zusatzfunktionen der „elektro-
nischen Signatur“ und des „elektronischen Identitäts-
nachweises“. Die Koalitionsfraktionen haben in den
Ausschussberatungen deshalb entschieden, dass der ge-
setzliche Gebührenrahmen um 60 Euro anzuheben ist.
Wir liegen damit um 10 Euro höher, als das Bundes-
innenministerium ursprünglich vorgesehen hat, und tra-
gen den Bedenken des Bundesrates insoweit Rechnung.
Ich will an dieser Stelle aber auch mit allem Nach-
druck darauf verweisen, dass der neue Aufenthaltstitel
den Kommunen natürlich eine Menge Vorteile bringt,
die sich auch vor Ort finanziell auswirken werden.
Erst einmal werden die Karteien der Ausländerbe-
hörden um solche Personen bereinigt werden können,
die Deutschland verlassen haben, ohne den Behörden
davon Kenntnis zu geben. Das wird jetzt auffallen. Man
bekommt also einen besseren Überblick, wie viele Dritt-
staatsangehörige sich in der Kommune aufhalten und
welchen Aufenthaltsstatus sie haben.
Außerdem werden jetzt EU-weit Doppelanmeldungen
verhindert werden können und damit auch das doppelte
Abkassieren von Sozialleistungen. Wanderungsbewe-
gungen innerhalb der EU kann man durch die Aufent-
haltskarte leichter ermitteln. Diese Argumente haben
offenbar auch die SPD überzeugt, deren kommunalpoli-
tische Experten im Unterausschuss Kommunales unse-
rem Gesetzentwurf immerhin zugestimmt haben.
Eine zweite Änderung, die wir im Ausschuss vorge-
nommen haben, will ich hier nur kurz erwähnen. Die EU
hat mit der Schweiz ein Abkommen über Freizügigkeit.
Danach gilt zwischen Deutschland und der Schweiz in
Fragen des Aufenthaltsrechts das Prinzip der Gegensei-
tigkeit. Die Schweiz hat uns nun mitgeteilt, dass sie nicht
beabsichtigt, deutschen Staatsbürgern einen elektroni-
schen Aufenthaltstitel auszuhändigen. Deshalb haben
die Koalitionsfraktionen entschieden, dass Schweizern
der elektronische Aufenthaltstitel optional auf Antrag
ausgestellt wird. Sicherheitsprobleme sind damit er-
sichtlich nicht verbunden.
Einen dritten Änderungspunkt will ich auch nicht ver-
schweigen. Die in den elektronischen Aufenthaltstitel
eingebrachten Chips brauchen eine Zertifizierung. Die
Bundesdruckerei hat uns während des laufenden Gesetz-
gebungsverfahrens mitgeteilt, dass eine rechtzeitige Zer-
tifizierung nicht möglich ist. Etwaige Zwischenlösungen
wären mit einem unverhältnismäßigen Verwaltungsauf-
wand verbunden. Deshalb haben wir uns entschieden,
das Datum für das Inkrafttreten des Gesetzes auf den
1. September 2011 festzulegen. Ich sage ausdrücklich,
das ist nicht schön. Wir hätten uns hier eine rechtzeitige
Zertifizierung seitens der Bundesdruckerei gewünscht.
Aber die zeitliche Überschreitung ist gerade noch hin-
nehmbar, zumal auch andere EU-Länder noch nicht
startklar sind. Das gibt den kommunalen Ausländerbe-
hörden auch noch etwas mehr Vorbereitungszeit.
Reinhard Grindel
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Der elektronische Aufenthaltstitel sorgt für mehr
Sicherheit und hilft im Kampf gegen den Missbrauch von
Sozialleistungen. Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion
stimmen dem Gesetzentwurf deshalb gerne zu.
Zum 1. Mai 2011 sollte nach bundesgesetzlicherUmsetzung der europarechtlichen Vorgaben der elek-tronische Aufenthaltstitel, eAT, im Scheckkartenformateingeführt werden. Die mit dem eAT verbundenen Zu-satzfunktionen elektronischer Identitätsnachweis undqualifizierte elektronische Signatur sind neue und fürdie Ausländerbehörden untypische Aufgaben, Aufgaben,die mehr Kosten produzieren und signifikant mehr Ver-waltungsaufwand.Nun sind auch fast zwei Monate vergangen, seit wirden vorliegenden Gesetzentwurf in einer ersten Lesunghier im Bundestag beraten und diskutiert haben. Mankönnte annehmen, damit wären zwei Monate Zeit für dieschwarz-gelbe Bundesregierung gewesen, in Bezug aufden Gesetzentwurf Kritik, Anmerkungen oder Hinwei-sen, sei es von anderen Fraktionen, von Experten odervon den Ländern und Kommunen, nachzugehen, ernst zunehmen und auch Änderungen vorzunehmen.Nur wieder einmal muss man hier und heute feststel-len: Nichts, aber auch gar nichts Positives ist passiert.Im Gegenteil.Beginnen wir damit, dass das Gesetz urplötzlich undaus heiterem Himmel erst zum 1. September 2011 – also4 Monate später als geplant – in Kraft treten soll. AlsGrund wird laut Bundesregierung und Bundesdruckereiangegeben, dass ein fristgerechter Abschluss der not-wendigen Zertifizierung durch T-Systems und das beauf-tragte Zertifizierungsinstitut nicht mehr möglich sei.Das kommt jetzt aber sehr plötzlich. Planungssicherheitfür alle Beteiligten sieht anders aus. Ich kann nur hof-fen, dass die entsprechende Software dann aber zum1. September 2011, zum nächsten Einführungstermin,funktioniert und nicht noch beim Start für Chaos in denjeweiligen Ausländerbehörden sorgen wird.Doch zurück zu den Inhalten. Laut dem zweiten vor-liegenden Änderungsantrag von FDP und Union sollder vorgegebene gesetzliche Gebührenrahmen in § 69Abs. 3 Nr. 1 bis 3 des Aufenthaltsgesetzes um jeweils60 Euro erhöht werden, also noch über die bisher schonvorgesehene Steigerung im Gesetzentwurf der Bundesre-gierung hinausgehen. Zur Begründung heißt es kurz,dass damit die hohen Verwaltungskosten bei den Auslän-derbehörden kompensiert und obendrein für die Zukunftnoch mehr Spielraum für künftige Korrekturen geschaf-fen werden sollen.Wer muss also die Kosten des entstehenden Mehrauf-wandes tragen? Einerseits sind das die Antragstellerin-nen und Antragsteller eines Aufenthaltstitels. Aber vorallen Dingen werden die Kommunen noch stärker alsbislang belastet. Denn was die schwarz-gelbe Bundesre-gierung und auch die schwarze und die gelbe Fraktionübersehen, ist die Tatsache, dass bereits heute überZu Protokoll40 Prozent der Antragsteller von den Gebühren befreitsind oder Ermäßigungen in Anspruch nehmen können.Die dabei entstehenden Mehrkosten fallen dann aufdie Kommunen zurück. Tatsache ist, bereits heute ist dieSituation der kommunalen Haushalte äußerst kritischund die Bilanz negativ zwischen den Gebühreneinnah-men einerseits und den Kosten für die Erteilung des Auf-enthaltstitels andererseits. Denn nach der jetzt gültigenAufenthaltsverordnung können Ausländer unter be-stimmten Bedingungen Gebührenermäßigung oder aucheine Gebührenbefreiung erhalten, die wiederum von denKommunen kompensiert werden müssen.Hier knüpft der von uns als SPD vorgelegte Ent-schließungsantrag an.Befreiungstatbestände müssen aus unserer Sicht aufPersonengruppen reduziert werden, bei denen eine Be-freiung wirklich geboten ist. Dazu zählen für uns nichtunbedingt die pauschale Befreiung von beispielsweiseLebenspartnerinnen und -partner minderjährigen Kin-dern Deutscher oder Eltern minderjähriger Deutscher.Diese Besserstellung von Menschen lediglich auf-grund eines engen Verwandtschaftsverhältnisses zu ei-nem deutschen Staatsangehörigen geht zulasten derKommunen. Wir wollen, dass dieser Privilegierungstat-bestand abgeschafft wird.Den Kommunen entstehen durch den elektronischenAufenthaltstitel hohe Mehrkosten, vor allem durch diestark erhöhten Verwaltungskosten, durch ein Mehr anAufgaben wie die Abnahme der Fingerabdrücke, die zu-sätzliche Datenerfassung, mindestens eine zusätzlicheVorsprache je Antragsteller, Informations- und Bera-tungsaufwand zu den Zusatzfunktionen „elektronischerIdentitätsnachweis“ und „elektronische Signatur“. EineStadt wie Leipzig rechnet mit circa sieben zusätzlichenVerwaltungsstellen, und das bei einer Kommune mit ver-hältnismäßig geringem Ausländeranteil.Wir fordern die Bundesregierung nochmals eindring-lich dazu auf, zu überprüfen, ob weitere Möglichkeitenbestehen oder Maßnahmen ergriffen werden können, dieKosten für Kommunen und Antragstellerinnen und An-tragsteller zu senken. Ebenso ist es für uns noch immerbedenklich, dass der Bund sich nicht in der Lage sieht,die tatsächlichen Produktionskosten der Bundesdrucke-rei transparent zu gestalten.Auch wenn die SPD-Fraktion die grundsätzliche In-tention einer einheitlichen Gestaltung von Aufenthaltsti-teln im Chipkartenformat sehr begrüßt, so können wirdem vorliegenden Gesetzentwurf, der die Lasten einsei-tig den Kommunen aufbürdet, nicht zustimmen.Hartfrid Wolff (FDP):Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, bis spätestens21. Mai 2011 den elektronischen Aufenthaltstitel fürDrittstaatsangehörige einzuführen. Dieser Pflicht wirddurch den vorgelegten Gesetzentwurf entsprochen. An-gesichts der Probleme bei der Zertifizierung musstenwir den Zeitpunkt des Inkrafttretens für das Gesetz aufden 1. September 2011 verschieben. Die Bundesdrucke-
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9496 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
gegebene RedenHartfrid Wolff
(C)
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rei hatte mitgeteilt, dass der Abschluss der Zertifizie-rung nicht vor Ende Juli 2011 möglich ist. Es hätte kei-nen Sinn gemacht, für einen derart kurzen Zeitraumnoch eine andere Lösung zu suchen.Verbindlich ist von europäischer Seite vorgeschrie-ben, entsprechende Karten mit einem Chip auszustatten.Darauf werden neben Daten des Titelinhabers, wie bei-spielsweise Name und Staatsangehörigkeit, auch einLichtbild und zwei Fingerabdrücke gespeichert werden.Vor einigen Wochen hat dies zu einem großen Aufschreibei der Opposition geführt – und das, obwohl das Vorha-ben schon lange bekannt ist. Bereits vor zwei Jahrenwurde der entsprechende Beschluss auf europäischerEbene gefasst. Aber wie so oft hat die Opposition vorherkeinen Ansatzpunkt für Kritik gefunden. Die Grünenversuchen in ihrem Entschließungsantrag, ein großesFass aufzumachen: keine Umsetzung mit Fingerabdrü-cken, Neuverhandlung der Richtlinie, bis die Fingerab-drücke herausverhandelt sind. Dieses Petitum zeigt nurdie Realitätsferne der Grünen und ihre grundsätzlicheDagegen-Haltung.Ich möchte nicht verhehlen, dass die FDP-Bundes-tagsfraktion seit jeher der Speicherung biometrischerDaten im Pass, im Personalausweis und an anderenStellen kritisch gegenübersteht. Dabei handelt es sichum sehr sensible Daten. Allerdings steht jetzt die euro-päische Vereinbarung; wir müssen sie nun umsetzen.Dies tut der Gesetzentwurf. Die Kritik der Opposition istdaher unangebracht. Von einer Stigmatisierung der Be-troffenen, wie dies von der Opposition in der öffent-lichen Diskussion dargestellt worden ist, kann nun wirk-lich nicht die Rede sein. Auch werden sie nicht, wiebehauptet wurde, unter Generalverdacht gestellt. In derStellungnahme des Bundesrates wurden bedenkenswerteAspekte angesprochen: Die Herstellungskosten für die-sen neuen elektronischen Aufenthaltstitel werden sicherhöhen; der Arbeitsaufwand bei den Ausländerbehör-den wird ansteigen. Insgesamt wird der Belastungsauf-wand für die Kommunen steigen. Deshalb haben wir denim Gesetzentwurf vorgesehenen Gebührenrahmen zurAbdeckung der Kosten erhöht. Die Bedenken des Deut-schen Städtetages sind dabei in unsere Überlegungeneinbezogen worden.Ein weiteres Wort zu dem Entschließungsantrag derGrünen: Diesen lehnen wir – wie bereits angedeutet –selbstverständlich ab. Den Kommunen helfen wir kon-kret durch die Anhebung der Gebühren. Den Vorschlagder Grünen, die finanzielle Unterstützung von Bundes-seite zu prüfen, verbirgt hinter einer vorgetäuschtenguten Absicht nur den Eingriff in die grundgesetzlichgeschützte Selbstständigkeit der Kommunen. Diesen leh-nen wir ab. Wir bekennen uns zu dieser Selbstständig-keit. Wir haben überdies dafür gesorgt, dass SchweizerStaatsbürger nach Antrag fakultativ diesen elektroni-schen Aufenthaltstitel erhalten können. Durch diesesGesetz wird europäisches Recht in nationales umgesetzt.
Wir debattieren heute abschließend über die Einfüh-rung eines elektronischen Aufenthaltstitels für Bürgerin-Zu Protokollnen und Bürger, die aus Staaten außerhalb der EU kom-men und in Deutschland einen befristeten oderunbefristeten Aufenthaltstitel besitzen. Sie sollen in Zu-kunft eine Karte mit maschinenlesbarem Chip erhalten,der alle ihre persönlichen Daten, ein digitalisiertes Fotound die Fingerabdrücke enthält. Die Koalition ist eineAntwort auf die Frage schuldig geblieben, ob die Ein-führung dieses elektronischen Aufenthaltstitels ange-sichts des enormen technischen Aufwandes und der da-mit verbundenen Kosten wirklich notwendig ist.Ich will noch einmal auf die wesentlichen Bedenkender Linksfraktion zur Einführung des elektronischenAufenthaltstitels eingehen.Wie bei der Einführung des elektronischen Personal-ausweises und des elektronischen Reisepasses mitsamtder digitalisierten Erfassung von Bildern und Fingerab-drücken bezweifeln wir die sicherheitspolitische Not-wendigkeit des elektronischen Aufenthaltstitels. Wederin der zugrunde liegenden EU-Verordnung noch im Ge-setzentwurf der Bundesregierung wird substanziell dar-gelegt, welche Sicherheitslücken bisher bestanden ha-ben oder welchen quantitativen Umfang Fälschungenund Verfälschungen von EU-Aufenthaltstiteln aufgewie-sen haben. Man hat den Eindruck, es ist wie bei vielenaktuellen sicherheitspolitischen Forderungen: Einereale Gefahr besteht nicht, aber ein von den Sicherheits-behörden und zahlreichen profitierenden Unternehmenentworfenes Szenario. Gehandelt wird nicht auf Basisder realen Gefahrenlage, sondern aufgrund der entwor-fenen Szenarien. Diese Politik lehnen wir ganz grund-sätzlich ab.Die Ablehnung resultiert auch aus den Risiken undGefahren der elektronischen Erfassung sensibler per-sönlicher Daten. Wo Daten erfasst und verarbeitet wer-den, besteht auch immer die Gefahr von Sicherheits-lücken bei der Übermittlung und des Datendiebstahls.Auch die Karten selbst sind für jeden auslesbar, der überdie entsprechenden technischen Mittel verfügt. Es wer-den aber auch weitere Begehrlichkeiten bei den staat-lichen Behörden selbst geweckt: Wenn doch ohnehinPassbilder und Fingerabdrücke digital erfasst werden,warum diese dann nicht speichern? Ich sage Ihnen, wirwerden eines Tages hier stehen und darüber debattieren,welche dieser biometrischen Daten von den kommuna-len Behörden oder sogar dem Ausländerzentralregisterdauerhaft gespeichert und den Sicherheitsbehörden zu-gänglich gemacht werden sollen!Schließlich lehnen wir den Gesetzentwurf auch we-gen des diskriminierenden Charakters ab, alle Men-schen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines EU-Staa-tes besitzen und zum Teil ja dauerhaft in Deutschlandleben, zur Abgabe ihrer Fingerabdrücke zu zwingen. Ichwill darauf hinweisen, dass davon ja nicht nur Erwach-sene betroffen sind. Kinder ab dem sechsten Lebensjahrsollen ihre Fotos und Fingerabdrücke ebenfalls digitalerfassen lassen. Es ist schlicht skandalös, hier eine er-kennungsdienstliche Behandlung von Kindern durchfüh-ren zu wollen. Das sicherheitspolitische Argument ist andieser Stelle nicht einfach zweifelhaft, sondern geradezuabsurd. Das Signal, das von diesem Vorgang an die Kin-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9497
gegebene RedenUlla Jelpke
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der und Jugendlichen ausgesandt wird, ist integrations-politisch verheerend.Auch die Kostenfrage muss ich hier noch einmal an-sprechen: Hier sind vor allem die betroffenen Ausländerdie Leidtragenden, denn sie haben die immens hohenKosten dieser Ausweiskarte zu tragen. Statt bislang biszu 200 Euro zahlen sie für eine Niederlassungserlaubnisbis zu 260 Euro, bei einer Aufenthaltserlaubnis werdenzukünftig 140 statt 80 Euro fällig. Schon allein die Pro-duktionskosten liegen weit oberhalb der derzeitigenKosten: Bislang erhielten Ausländer einen Aufkleber inihren Pass, aus dem der Aufenthaltstitel hervorging.Diese Aufkleber kosteten in der Produktion 78 Cent. Dieelektronische Karte kostet in der Produktion 30 Euro.Hinzu kommt der deutlich gestiegene Aufwand bei denBehörden: Sie müssen nun eine neue technische Infra-struktur für die digitale Erfassung der Passfotos und derFingerabdrücke und die Weiterverarbeitung der Datenbereithalten. Die tatsächlich entstehenden Kosten kön-nen noch gar nicht exakt eingeschätzt werden.Noch einmal kurz zusammengefasst: Die Einführungdes elektronischen Aufenthaltstitels ist sicherheitspoli-tisch überflüssig. Sie ist eine Belastung der kommunalenVerwaltung. Sie kommt die Kommunen und vor allem dieBetroffenen teuer zu stehen. Die Erfassung und Digitali-sierung der persönlichen Daten, besonders der biome-trischen Daten, schafft neue Sicherheitslücken und Be-gehrlichkeiten der Sicherheitsbehörden. Die digitaleErfassung ganzer Familien aufgrund ihres Aufenthalts-status und ihrer Herkunft von außerhalb der EU ist dis-kriminierend und integrationspolitisch verheerend. DieLinke lehnt diesen Gesetzentwurf daher ab.
Es ist unbegreiflich, dass ausgerechnet die FDP, diesich immer wieder als Bürgerrechtspartei rühmt, diesenGesetzentwurf mit zu verantworten hat. Mit diesem Ge-setzentwurf werden ausländische Staatsangehörige samtihrer Kinder dazu verpflichtet, für den Erhalt einer Auf-enthaltskarte – wie in einem Strafverfahren – ihre Fin-gerabdrücke abzugeben. Hier wird das Selbstbestim-mungsrecht mit Füßen getreten. Das lehnen wir Grüneentschieden ab. Der Standard, der deutschen Staatsan-gehörigen garantiert wird, muss allen hier lebendenMenschen gewährt werden. Wir sind gegen einen Zwei-klassendatenschutz und wollen nicht, dass sechsjährigeKinder wie Straftäter erkennungsdienstlichen Maßnah-men unterzogen werden.Es ist ein Beweis für die fehlende politische Sensibili-tät, dass die Bundesregierung der Europäischen Verord-nung zur einheitlichen Gestaltung des Aufenthaltstitelsfür Drittstaatsangehörige im Jahr 2008 zugestimmt hat,obwohl ihr bekannt war, dass Fingerabdrücke für denPersonalausweis heftig in Deutschland diskutiert wur-den. Aus guten Gründen fand der obligatorische Finger-abdruck für den Personalausweis keine Mehrheit imBundestag. Die Bundesregierung scheint die Einwande-rinnen und Einwanderer als Türöffner für solche Maß-nahmen zu missbrauchen. Die Aufnahme von Fingerab-drücken in die Aufenthaltskarte ist überflüssig. Es istZu Protokollnicht bekannt, dass bisher in nennenswertem UmfangMissbrauch und Fälschungen von Aufenthaltstitelnstattgefunden haben.Es verwundert nicht, dass die ersten technischenSchwierigkeiten bei der elektronischen Aufenthaltskarteschon aufgetreten sind, bevor die Aufenthaltskarte über-haupt eingeführt wurde: Wegen diverser Probleme beider Zertifizierung der Chipkarte und der darin enthalte-nen Software soll die Einführung der Aufenthaltskarteum mehrere Monate verschoben werden. Das wird keinEinzelfall bleiben. Die Verwendung der Aufenthaltskarteals elektronischer Identitätsnachweis ist äußerst proble-matisch. Das Bundesamt für Sicherheit in der Informa-tionstechnik, BSI, empfiehlt den Ausweisinhaberinnenund -inhabern, zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen zuergreifen. Seitens der Regierung hört man außer wenighilfreichen Empfehlungen, wie die Antivirensoftwarestets auf dem aktuellen Stand zu halten, nichts. Was kön-nen Betroffene jedoch tun, wenn die Betreiber der Anti-virensoftware nicht schnell genug Updates anbietenoder die Anwenderinnen und Anwender mit der Softwarenicht klarkommen? Außerdem kann eine Antivirensoft-ware nicht vor allen Risiken schützen. Darauf hat dieBundesregierung keine Antwort.Schließlich bedeuten die mit der neuen Aufenthalts-karte einhergehenden Kostensteigerungen für Betrof-fene und Kommunen eine besondere Härte. Der Gesetz-entwurf der Bundesregierung sieht für die neuen Aufent-haltstitel eine Gebührenerhöhung von 60 Euro vor. Da-mit verdoppelt sich die Gebühr für die Erteilung einerAufenthaltserlaubnis, während die Gebühr für die Ertei-lung einer Niederlassungserlaubnis auf bis zu 260 Euroerhöht wird. Die Kommunen gehen davon aus, dass derdurch die Einführung der Aufenthaltskarte verursachteMehraufwand nicht durch die im Gesetzentwurf derBundesregierung vorgesehene Gebührenerhöhung aus-geglichen werden kann. Vielmehr werden die Kommu-nen selber mit erheblichen Mehrkosten konfrontiert sein.Die Bundesregierung muss prüfen, durch welche Maß-nahmen sie die Antragstellenden und Kommunen finan-ziell entlasten kann. Sie darf die durch ihre Entscheidun-gen verursachten Zusatzkosten für die Erteilung einesAufenthaltstitels nicht auf Dritte abwälzen und sich ausder Verantwortung stehlen.Daher fordern wir die Bundesregierung mit unseremEntschließungsantrag erstens auf, unverzüglich im Rah-men der Europäischen Union darauf hinzuwirken, dassdie Verordnung zur einheitlichen Gestaltung des Aufent-haltstitels für Drittstaatsangehörige dahin gehend geän-dert wird, dass für die Erteilung des AufenthaltstitelsFingerabdrücke nicht erfasst werden, und bis dahin aufdie Erfassung von Fingerabdrücken zu verzichten.Zweitens fordern wir die Bundesregierung auf, zuprüfen, auf welche Weise der Bund die Ausstellung desAufenthaltstitels finanziell unterstützen kann, damit dieAntragstellenden und Kommunen durch die Einführungdes Aufenthaltstitels nicht über Gebühr belastet werden.Es ist für einen Rechtsstaat äußerst bedenklich, wennbereits sechsjährige Kinder sich wie Straftäter erken-
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9498 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9499
Memet Kilic
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nungsdienstlichen Maßnahmen unterziehen müssen.Das können wir nicht akzeptieren.
Wir kommen damit zur Abstimmung.
Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/4464, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3354 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Wer ist dagegen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung angenommen mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen und der Fraktion Die Linke und bei Enthal-
tung der SPD-Fraktion.
Wir kommen zur
dritten Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer ist dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzent-
wurf ist mit dem gleichen Stimmverhältnis wie bei der
zweiten Beratung angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
der Drucksache 17/4465. Wer stimmt für diesen Ent-
schließungsantrag? – Wer ist dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Entschließungsantrag ist damit abgelehnt.
Dafür hat die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ge-
stimmt, dagegen haben die Koalitionsfraktionen und die
SPD-Fraktion gestimmt, enthalten hat sich die Fraktion
Die Linke.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista
Sager, Kai Gehring, Priska Hinz , wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Einen Pakt für den wissenschaftlichen Nach-
wuchs und zukunftsfähige Personalstruktu-
ren an den Hochschulen initiieren
– Drucksache 17/4203 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Arbeit und Soziales
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Petra
Sitte, Agnes Alpers, Nicole Gohlke, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE
Wissenschaft als Beruf attraktiv gestalten –
Prekarisierung des akademischen Mittelbaus
beenden
– Drucksache 17/4423 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Auch hierzu wurden die Reden zu Protokoll gege-
ben.1)
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/4203 und 17/4423 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –
Wie ich sehe, sind Sie damit einverstanden. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Christine Lambrecht, Sonja Steffen, Dr. Peter
Danckert, weiteren Abgeordneten und der Frak-
tion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Änderung der Zivilprozessordnung
– Drucksache 17/4431 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Auch hierzu wurden die Reden zu Protokoll gege-
ben.
Lassen Sie mich mit einem klaren Bekenntnis anfan-gen: Ich halte den aktuellen Rechtszustand tatsächlichfür unbefriedigend! Gerade gestern Abend konnte manin der ARD-Dokumentation „Patient ohne Rechte“ amvielen von Ihnen sicherlich bekannten Schicksal derkleinen Deike nachvollziehen, dass die Anwendung desBeschlussverfahrens nach § 522 Abs. 2 ZPO tatsächlichmanchmal zu Ergebnissen führt, die niemand von unswill. Hier etwas zu ändern ist daher absolut richtig undberechtigt. Das ist also einer der seltenen Fälle, in de-nen ich der SPD inhaltlich zustimmen kann. Bevor Siesich aber zu früh freuen, meine Damen und Herren vonder SPD: Das gilt freilich allein für Ihr Grundanliegen,aber keineswegs für die von Ihnen vorgeschlagene Lö-sung!In der Tat ist das schon ein bemerkenswerter Vor-gang: Die SPD schlägt uns hier die ersatzlose Strei-chung des § 522 Abs. 2 und 3 ZPO vor, die Streichungeiner Regelung, die im Rahmen der ZPO-Reform 2001geschaffen wurde. Sie schlägt also die Streichung einerRegelung vor, die in Verantwortung der damaligen rot-grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder insWerk gesetzt wurde. Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen von der SPD, Sie waren es selbst, die § 522 ZPO inseiner heutigen Form eingeführt haben! Es ist schon er-staunlich, mit welcher Geschwindigkeit Sie sich heutevon vormals für richtig erachteten Positionen verab-schieden. Wenn ich an die Hartz-IV-Gesetzgebung oderan die Rente mit 67 denke, scheint das neuerdings einMuster bei Ihnen zu sein. Das kann man alles machen –nur, mit konsistenter und glaubwürdiger Politik hat dasdann nichts mehr zu tun!Wir von der Union haben die Neuregelung des § 522ZPO im Übrigen damals kritisiert, weil wir durch dieZPO-Reform mehr Bürgernähe und nicht weniger1) Anlage 7Dr. Jan-Marco Luczak
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Rechtsschutz erreichen wollten. Nun könnte man natür-lich meinen, zehn Jahre sind eine lange Zeit, in zehnJahren kann viel passieren, da kann man dazulernen undals falsch erkannte Entscheidungen revidieren. Nur trifftdas leider für die SPD-Kollegen so nicht zu; denn manmuss gar nicht zehn Jahre zu den Beratungen über dierot-grüne ZPO-Reform zurückgehen; vielmehr ist es istnoch keine zwei Jahre her, da hat Ihre JustizministerinZypries hier im Plenum bei der Debatte über einenFDP-Antrag zur Einführung einer Rechtsbeschwerdevehement die rot-grüne Regelung der Zurückweisungdurch Beschluss als – wörtlich – „ordentliche Reform“mit einem „gutem Ergebnis“ verteidigt, die „voll akzep-tiert“ werde. Welche bahnbrechenden Rechtserkennt-nisse Sie nun allerdings in den letzten zwei Jahren ge-wonnen haben, die nicht schon bei der Debatte 2009vorlagen, ist mir nicht ersichtlich.Was auch immer der Grund sei – nun wollen Sie je-denfalls eine Rolle rückwärts machen: zurück auf denAnfang, ohne den bisher zurückgelegten Weg zu be-trachten. Die Politik im Allgemeinen und die Rechts-politik im Speziellen sind aber meistens zu komplex, umsie in richtig oder falsch einzuteilen oder sie schwarzoder weiß zu malen. Genau das machen sie aber jetzt,wenn sie nicht genau hinsehen, wo es bei der Regelungdes § 522 Abs. 2 ZPO Defizite gibt und wo Erfolge durchdie ZPO-Reform erreicht worden sind.Lassen Sie mich mit den Defiziten beginnen. Ich habeanfangs ja bereits ausgeführt, dass ich den aktuellenRechtszustand für unbefriedigend halte und dass ichhier gesetzgeberischen Handlungsbedarf sehe. Seit derrot-grünen ZPO-Änderung muss das Berufungsgerichtgemäß § 522 Abs. 2 ZPO eine Berufung durch Beschlusszurückweisen, wenn es davon überzeugt ist, dass die Be-rufung keine Aussicht auf Erfolg hat, die Rechtssachekeine grundsätzliche Bedeutung hat und die Fortbildungdes Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Recht-sprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichtsnicht erfordert. Eine mündliche Verhandlung findet indiesen Fällen nicht statt. Der Beschluss ist zudem unan-fechtbar. Obwohl der § 522 Abs. 2 ZPO die kumulativenVoraussetzungen des Zurückweisungsbeschlusses ab-schließend und ohne Eröffnung eines gerichtlichen Er-messens definiert, bestehen in der Praxis erhebliche re-gionale Unterschiede in seiner Anwendung. Nach derZivilgerichtsstatistik bewegen sich die Quoten der Erle-digung durch Zurückweisungsbeschluss auf der Ebeneder Landgerichte im Jahr 2009 zwischen 6,4 Prozent imOLG-Bezirk Karlsruhe und 23,8 Prozent im OLG-BezirkBraunschweig und auf der Ebene der Oberlandesge-richte zwischen 9,1 Prozent beim OLG Hamm und27,1 Prozent beim OLG Rostock.Wir brauchen uns jetzt nicht über Zahlen oder da-rüber zu streiten, welche Umstände man bei der Evalu-ierung der unterschiedlichen Quoten berücksichtigenmuss, etwa inwieweit auch einbezogen werden muss,wenn nach einem Hinweisbeschluss im Verfahren nach§ 522 ZPO die Berufung zurückgenommen wird. Unterdem Strich bleibt eine regional deutlich unterschiedlicheHandhabung. Das führt aber dazu, dass je nachdem, wogegen ein erstinstanzliches Urteil Berufung eingelegtZu Protokollwird, ein Rechtsschutzsuchender ganz unterschiedlicheChancen hat: Einmal kann er mündlich über das erstin-stanzliche Urteil verhandeln und ein dann gegen ihn er-gehendes Urteil anfechten, das andere Mal gibt es keinemündliche Verhandlung, und er erhält einen unanfecht-baren Beschluss.Diese Ungleichheit in der Rechtsanwendung ist einProblem. Sie ist ein Gerechtigkeitsproblem. Anders alsdie SPD in ihrer Antragsbegründung zu insinuieren ver-sucht, ist sie aber kein verfassungsrechtliches Problem.Das Bundesverfassungsgericht hat vielmehr mehrfachdie Verfassungsgemäßheit des Beschlussverfahrens nach§ 522 Abs. 2 ZPO bestätigt. Es hat allein – und daraufnehmen Sie Bezug – beanstandet, dass eine den Zugangzur Revision erschwerende Auslegung und Anwendungdes § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO mit dem Gebot effektivenRechtsschutzes unvereinbar sei, nämlich wenn sie sach-lich nicht zu rechtfertigen ist, sich damit als objektivwillkürlich erweist und dadurch den Zugang zur nächs-ten Instanz unzumutbar einschränkt. Diese sich im kon-kreten Fall möglicherweise stellende Frage hat mit derRegelung als solcher aber nichts zu tun.Dennoch – es bleibt das Gerechtigkeitsproblem.Wenn auch nicht verfassungsrechtlich zwingend notwen-dig, so ist dies doch ein rechtsstaatlich gebotener Auf-trag an uns, zu handeln. Überdies halte ich in vielen Fäl-len die Durchführung einer mündlichen Verhandlung– auch wenn der Fall rechtlich eindeutig und von derersten Instanz richtig entschieden sein mag – für ange-messen; denn eine mündliche Verhandlung dient nichtallein der Rechtsfindung und des Erkenntnisgewinns.Sie gibt auch einen besseren Rahmen für eine gütlicheEinigung auf dem Vergleichswege und ermöglicht zudemein Rechtsgespräch zwischen den Parteien, aber auchzwischen dem Gericht und den Parteien. Hierüber kannso manches Mal mehr Überzeugungskraft erzeugt wer-den als durch schriftliche Ausführungen. Eine mündli-che Verhandlung schafft Akzeptanz in die gerichtlicheEntscheidung und erfüllt auf diese Weise die Befrie-dungsfunktion des gerichtlichen Verfahrens in hervorra-gender Weise. Dies ist ein rechtsstaatlicher Wert an sich,der durch das Beschlussverfahren des § 522 Abs. 2 ZPObislang ausgeschlossen wird.Berücksichtigt man zudem, welche gravierenden Aus-wirkungen die fehlsame oder sogar missbräuchliche An-wendung des Verfahrens nach § 522 Abs. 2 ZPO im Ein-zelfall haben kann – ich erinnere nochmals an dasSchicksal der kleinen Deike –, dann kann man nicht an-ders, als festzustellen, dass die derzeitige Regelung an-gepasst werden muss. Aber wo Schatten ist, da mussauch irgendwo Licht sein. Deswegen gehört es zu einerseriösen Diskussion dazu, zu fragen, welche positivenAspekte das Beschlussverfahren des § 522 Abs. 2 ZPOseit 2001 bewirkt hat und welche Folgen dessen ersatz-lose Streichung nach sich zöge. Und da gibt es durchauseinige Dinge, die man nicht vernachlässigen sollte.Die Reform der ZPO – da waren sich Union und SPDin der 13. Legislaturperiode einig – war notwendig.Menge und Länge der Verfahren sollten ein gesundesMaß erreichen, um jedem Bürger den ihm zustehenden
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9500 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
gegebene RedenDr. Jan-Marco Luczak
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Rechtsschutz zukommen zu lassen. Zuvor war es so, dassauch solche Berufungen terminiert werden mussten, dieoffensichtlich unbegründet waren und die keinerlei Aus-sicht auf Erfolg hatten. Das ist nicht effizient und bindetrichterliche Arbeitskraft, die an anderer Stelle nichtmehr zur Verfügung steht. Das verzögert nicht nur daskonkrete Verfahren, sondern mittelbar auch alle ande-ren, für die dann keine oder weniger Zeit mehr ist. Guter,effizienter Rechtsschutz setzt aber voraus, dass er in an-gemessener Zeit gewährt wird.Meine Damen und Herren von der SPD, Ihre eigeneMinisterin Zypries hat 2009 ausgeführt, dass es vor derMöglichkeit einer Zurückweisung durch Beschluss keingutes – weil nur langsames – Recht gab. Im Kern ist dasrichtig. Und die Daten zeigen uns ja auch, dass es durchdas Beschlussverfahren tatsächlich zu einer Verfahrens-beschleunigung gekommen ist. Die wollen wir – im Inte-resse aller Rechtssuchenden – nicht wieder völlig aufge-geben. Man darf in der Diskussion auch nicht vergessen,dass es die Interessen von zwei Parteien zu berücksichti-gen gilt: das Interesse des weiteren Rechtsschutzsuchen-den, des Berufungsklägers, aber auch das Interesse desBerufungsbeklagten. Der in der ersten Instanz erfolgrei-che Berufungsbeklagte hat verständlicherweise ein Inte-resse daran, das erstrittene Urteil möglichst schnell um-,nämlich durchsetzen zu können. Dafür benötigt er dieschnelle Rechtskraft des Urteils, die unmittelbar durcheinen Zurückweisungsbeschluss eintritt. Wenn man die-sen – so wie die SPD das will – ersatzlos abschaffte,steht zu befürchten, dass es vermehrt Anreize gibt, Beru-fung nur deswegen einzulegen, um das Verfahren zu ver-zögern, nämlich die Vollstreckung eines zu Recht titu-lierten Anspruchs zu vereiteln. Für die in erster Instanzerfolgreiche Partei ist es aber wichtig, möglichst schnellKlarheit über die Endgültigkeit ihres Obsiegens, alsoRechtssicherheit zu haben. Das alles würden wir negie-ren, wenn wir dem SPD-Antrag folgen würden. Die Zieleder ZPO-Reform 2001 waren aber im Kern richtig undhaben sich auch – das zeigen die empirischen Daten undUmfragen – weitgehend verwirklicht.Deswegen verfolgt die christlich-liberale Koalitioneinen anderen Weg. Wir erkennen, dass der gegenwär-tige Zustand unbefriedigend ist. Und wir anerkennen,dass mehr Rechtsschutz gewährleistet sein muss. Wirhaben daher einen Gesetzentwurf erarbeitet, der dieSchwächen des jetzigen §-522-Verfahrens beseitigt undgleichzeitig die Vorteile der ZPO-Reform bewahrt. Un-sere Lösung soll alle Prozessbeteiligten – Kläger undBeklagte, Richter und Berufungsrichter sowie die Bun-desländer als Träger der Landesjustiz – unter einen Hutbringen. Mit unserem Gesetzentwurf werden wir denzwingenden Charakter des § 522 Abs. 2 ZPO klarer for-mulieren und für Zurückweisungsbeschlüsse mit einerBeschwer über 20 000 Euro das Rechtsmittel der Nicht-zulassungsbeschwerde einführen. Damit gewährleistenwir, dass eine bundeseinheitliche Handhabung der Vo-raussetzungen des Beschlussverfahrens nach § 522Abs. 2 ZPO und darüber die rechtsstaatlich geboteneRechtsanwendungsgleichheit befördert wird. Zugleichermöglichen wir die Durchführung einer mündlichenVerhandlung in den Fällen, wo dies angemessen ist undZu Protokolldem Rechtsfrieden und der Akzeptanz einer gerichtli-chen Entscheidung dienlich ist. Dieser Gesetzentwurfwird in der kommenden Woche im Bundeskabinett bera-ten und kann dann von uns im Detail debattiert werden.Zum Schluss bleibt also festzuhalten: Die SPD hat mitihrem Antrag den Finger in die Wunde gelegt; dieseWunde hat sie allerdings selbst geschlagen. Wir ver-schließen uns dem Anliegen nicht; es ist in der Tat be-rechtigt. Allein der Lösungsvorschlag, den Sie uns hierunterbreiten, negiert die positiven Effekte des Be-schlussverfahrens nach § 522 Abs. 2 ZPO und schießtdaher über das Ziel hinaus. Wir als christlich-liberaleKoalition werden daher den skizzierten eigenen Gesetz-entwurf einbringen, der ausgewogen ist und allen Inte-ressen gerecht wird. Ihrem Antrag werden wir dahernicht zustimmen.
Wir debattieren heute in erster Lesung über den vonmeiner Fraktion eingebrachten Gesetzentwurf zur Strei-chung des § 522 Abs. 2 und Abs. 3 ZPO. Danach kanndas Berufungsgericht eine Berufung ohne mündlicheVerhandlung durch einstimmigen Beschluss zurückwei-sen, wenn es davon überzeugt ist, dass die Berufungkeine Aussicht auf Erfolg hat. Der Beschluss ist unan-fechtbar. Diese Vorschrift ist im Januar 2002 im Zugeder ZPO-Reform in Kraft getreten. Hauptziele der Re-form waren es, gütliche Lösungen zu fördern sowie stär-kere Transparenz und Akzeptanz der Entscheidungen zuschaffen. Diese Ziele wurden in weiten Teilen mit derReform erreicht – im § 522 Abs. 2 ZPO wurden sie ver-fehlt.Zunächst ist festzustellen, dass die Vorschrift beson-ders anfällig für Verletzungen des verfassungsrechtli-chen Anspruchs der Parteien auf rechtliches Gehör ist.Der Rechtsuchende empfindet sich im Verfahren des§ 522 Abs. 2 ZPO nicht als Rechtssubjekt, sondern fühltsich der Willkür und der alleinigen Entscheidungsbefug-nis der Richter ausgeliefert. Entgegen der ursprüngli-chen Absicht des Gesetzgebers führt die Vorschrift da-rüber hinaus zu keiner spürbaren Entlastung derGerichte; denn wenn die Regelung ernst genommenwird, bereitet eine aussagekräftige Hinweisverfügungvor der Beschlussfassung, wie sie das Gesetz vorsieht,den Richtern nicht weniger Arbeit als ein Votum für einemündliche Verhandlung. Auch der Zurückweisungsbe-schluss ist ausführlich zu begründen, wobei es mit einerbloßen Wiederholung der Hinweisverfügung nicht getanist. Wodurch also sollte eine Entlastung eintreten? Aberselbst wenn § 522 Abs. 2 ZPO zu einer Beschleunigungund Entlastung der Gerichte beitragen würde: Diesedarf niemals zulasten der Einzelfallgerechtigkeit undder Transparenz der Rechtsprechung gehen.§ 522 Abs. 2 ZPO wird nämlich in der Praxis völligunterschiedlich und teilweise widersprüchlich gehand-habt. So werden etwa in Bremen nur 5,2 Prozent, inMecklenburg-Vorpommern hingegen 27,1 Prozent derBerufungssachen nach § 522 Abs. 2 ZPO entschieden.Im Ergebnis führt das zu Gerechtigkeitsdefiziten undJustizverdrossenheit der betroffenen Kläger, nicht dage-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9501
gegebene RedenSonja Steffen
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gen zur Beschleunigung der Verfahren. Würde einemündliche Verhandlung durchgeführt, könnte die unter-liegende Partei ihre Stellungnahme in öffentlicher Ver-handlung vortragen und damit die Richter vielleicht zueiner anderen Beurteilung bewegen. Die mündliche Ver-handlung ist das Herzstück eines jeden Zivilprozesses.Sie räumt oft Missverständnisse aus, schafft Rechtsfrie-den und kann gegebenenfalls auch den Unterlegenenüberzeugen.Der vom Justizministerium vorgelegte Referentenent-wurf sieht in seiner aktuellen Fassung vor, dass gegenden Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO eine Nichtzulas-sungsbeschwerde eingeführt wird. Diese soll jedoch dergleichen Grenze für die Beschwer unterliegen wie dasBerufungsurteil selbst, ist also nur statthaft, wenn dieBeschwer über 20 000 Euro liegt. Damit wird an dembisherigen Zustand jedoch wenig geändert; denn diemeisten Beschlüsse, zumindest im Zuständigkeitsbereichder Landgerichte, werden auch nach Einführung derNichtzulassungsbeschwerde nicht anfechtbar sein.Letztlich unterstützt das BMJ mit dem nun vorgelegtenReferentenentwurf einen nicht zielführenden Weg undverbessert die Situation für den Rechtsuchenden nur un-zulänglich. Die Abschaffung dieser Vorschrift ist dersinnvollste Weg. Er beseitigt das Problem der zersplit-ternden Rechtsanwendung der verschiedenen Spruch-körper, behebt die gegenwärtig zu beklagenden Gerech-tigkeitsdefizite und trägt damit zum Rechtsfrieden undzur Transparenz bei.
Gegenstand dieses Tagesordnungspunktes ist ein Ge-
setzentwurf der SPD-Fraktion zur Änderung der Zivil-
prozessordnung. Offensichtlich war man sich in der SPD
sehr unsicher, ob man diesen Entwurf überhaupt ein-
bringen sollte; denn er erreichte uns, obwohl schon auf
der Plenartagesordnung für den heutigen Donnerstag
angekündigt, erst am Mittwochmorgen, also gestern.
Nun ist der Gesetzentwurf zugegebenermaßen sehr kurz.
Er enthält nur den einzigen inhaltlichen Satz: „In § 522
werden die Abs. 2 und 3 gestrichen.“
Wer die Diskussionen zur Änderung des § 522 ZPO in
der letzten Legislaturperiode verfolgt hat, wird sich aber
verwundert die Augen reiben. Im März 2009, genauer
gesagt am 5. März 2009, verteidigte die SPD noch im
Deutschen Bundestag mit der geballten Kraft ihrer Bun-
desjustizministerin Frau Zypries und ihres damaligen
Obmannes im Rechtsausschuss die bestehende Regelung
in § 522 ZPO und lehnte jedwede Änderung kategorisch
ab. Die FDP, die damals einen Änderungsentwurf einge-
bracht hatte, gehe von falschen Voraussetzungen aus.
Eine unterschiedliche Praxis der Berufungsgerichte in
den Ländern bei Berufungsentscheidungen ohne münd-
liche Verhandlung durch unanfechtbaren Beschluss sei
nicht in relevantem Ausmaß gegeben, so die damalige
Bundesjustizministerin. Jedenfalls habe sich das Rechts-
institut der Berufungszurückweisung durch Beschluss
bewährt und stelle auch keine Rechtsschutzverkürzung
dar.
Zu Protokoll
Das liest sich in der Begründung zu dem heute einge-
brachten Entwurf der SPD ganz anders. Nunmehr lassen
die unterschiedlichen Zurückweisungsquoten von
5,2 Prozent in Bremen und 27,1 Prozent in Mecklen-
burg-Vorpommern es auch für die SPD fraglich erschei-
nen, ob die in § 522 Abs. 2 und 3 ZPO statuierte Mög-
lichkeit des unanfechtbaren Zurückweisungsbeschlusses
noch rechtsstaatlichen Anforderungen entspricht.
Lehnte Frau Zypries es noch ausdrücklich ab, die Er-
folgsquote der Zulassungsrevision beim Bundesge-
richtshof zur Beurteilung der Frage heranzuziehen, ob
der BGH bei einer Überprüfung der Zurückweisungsbe-
schlüsse zu einer anderen Bewertung käme, ist diese Er-
folgsquote heute für die SPD-Fraktion ausdrücklich die
Begründung für den Gesetzentwurf.
Nun könnte man sich ja darüber freuen, wenn auch
die SPD-Fraktion zur besseren Einsicht kommt. Leider
schießt sie aber mit ihrem Streichungsantrag über das
Ziel hinaus. Der Vorschlag lässt nämlich völlig außer
Acht, dass die Vorschrift auch dazu dienen sollte, ra-
schen und effektiven Rechtsschutz zu gewähren. Das
Berufungsgericht sollte bei Vorliegen bestimmter Vo-
raussetzungen die Berufung durch Beschluss ohne
mündliche Verhandlung zurückweisen. Dies hat – so
auch die Landesjustizminister – zur Beschleunigung der
Verfahren und auch zur Entlastung der Gerichte geführt.
Diesen für alle Beteiligten positiven Effekt darf ein Än-
derungsvorschlag zu § 522 ZPO nicht vernachlässigen.
Es sollte daher eine Regelung gefunden werden, die ei-
nerseits der bisher unterschiedlichen Anwendungspra-
xis entgegenwirkt und andererseits die Entscheidung
nach § 522 Abs. 2 ZPO durch Beschluss hinsichtlich der
Rechtsfolgen einer Entscheidung durch Urteil gleich-
stellt. Genau einen solchen abgewogenen Gesetzentwurf
wird die Bundesjustizministerin in der nächsten Woche
dem Kabinett vorlegen. Wenn dieser anschließend das
Parlament erreicht hat, werden wir im Rechtsausschuss
ausreichend Gelegenheit haben, die Vor- und Nachteile
der unterschiedlichen Regelungen zu diskutieren.
Mit der Reform der Zivilprozessordnung hat Rot-Grün im Jahre 2002 versucht, die Rechtsmittelmöglich-keiten neu zu gestalten, um die Gerichte zu entlasten.Hinsichtlich einer Änderung schossen sie jedoch weitüber das Ziel hinaus: die Einfügung der Abs. 2 und 3 in§ 522 der Zivilprozessordung. Nach nunmehr über achtJahren der Erprobung müssen wir leider feststellen,dass die Änderung des § 522 ZPO eher ein Fluch als einSegen für die Rechtsschutzsuchenden darstellt und auchdie gewünschte Entlastung der Gerichte verfehlt wurde.Sie haben damit den Rechtsschutzsuchenden Steine stattBrot gegeben. Deshalb ist der vorliegende Gesetzent-wurf der SPD-Fraktion sehr zu begrüßen. Die Sozialde-mokraten haben eingesehen, dass die damalige Reformfehlerhaft war. Nun sollte die heutige Bundesregierungder SPD und den Grünen die Möglichkeit geben, ihrenFehler zu korrigieren. Ganz nebenbei wird damit einverfassungswidriger Zustand korrigiert. Art. 103 Abs. 1GG sichert jedermann vor Gericht einen Anspruch aufrechtliches Gehör zu. Wenn aber eine Berufung durch ei-
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9502 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
gegebene RedenJens Petermann
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nen einfachen, unanfechtbaren Beschluss zurückgewie-sen werden kann, so stellt dies meines Erachtens eineVerletzung eines durch die Verfassung zugesichertenGrundrechts dar.Der Gesetzentwurf sieht nun eine vollständige Strei-chung der beiden damals eingeführten Abs. 2 und 3 des§ 522 ZPO vor und geht somit viel weiter, als der von derBundesregierung vorgelegte Referentenentwurf. Der Re-ferentenentwurf versucht lediglich, kosmetisch zu ka-schieren, und übernimmt so die früheren Fehler von Rot-Grün! Er sieht neben den drei bestehenden noch eineweitere Bedingung für die Zurückweisung der Berufungvor. Und als kleine zusätzliche Verbesserung sollen demBetroffenen nun Rechtsmittel gegen den ablehnendenBeschluss zugestanden werden. Das ist nicht genug unddamit inakzeptabel!Durch den Entwurf der SPD soll diese überflüssigeRegelung beseitigt werden. Mit der Einführung des § 522Abs. 2 ZPO wurde dem Berufungsgericht die Möglich-keit eröffnet, die Berufung zurückzuweisen, wenn es zuder Überzeugung gelangte, dass die Berufung keine Aus-sicht auf Erfolg hat, die Rechtssache keine grundsätzli-che Bedeutung aufweist und weder die Rechtsfortbildungnoch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechungeine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert. Die-ser Beschluss ist bisher nach § 522 Abs. 3 ZPO unan-fechtbar. Entschiede aber das Gericht in dem gleichenRechtsstreit durch Urteil, ist gegen die Zurückweisungder Berufung eine Nichtzulassungsbeschwerde möglich.Zu Recht wird eine solche Vorgehensweise von vielen Ju-risten als „kurzer Prozess“ bezeichnet.Gerade in Arzthaftungsfällen ist die Anwendung des§ 522 ZPO in seiner heutigen Form im Hinblick auf diefinanzielle und gesundheitliche Belastung der Geschä-digten eine wirkliche Zumutung. Da ist es nur verständ-lich, wenn der Glaube der Bürgerinnen und Bürger andie Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit in diesemLande verloren geht. Wenn man sich die Intention desdamaligen Gesetzgebers anschaut, kommt man zu demSchluss: Kosteneinsparung im Justizsektor führt zu un-gerechten Entscheidungen und lässt das Vertrauen in dieJustiz und den Rechtsstaat schwinden. Dies dürfen wirnicht länger zulassen. Die Linke stimmt darum dem vor-liegenden SPD-Entwurf zu.
Heute diskutieren wir über den Gesetzentwurf derSPD zur Änderung der Zivilprozessordnung – konkretüber die Änderung von § 522 ZPO, der einen Teil derRechtsmittel regelt. Dies beinhaltet eine äußerst wich-tige Angelegenheit: den Zugang der Bürgerinnen undBürger zum Recht. Die Regelung des § 522 ZPO wurdemit der Zivilprozessreform 2002 eingeführt. Es wurdendamals neben anderen Strukturänderungen die Rechts-mittel neu gestaltet. Ziel der Neugestaltung war die Ent-lastung der Gerichte. Zudem sollten die Rechtsmittelver-fahren beschleunigt werden. Beides sind wichtige undbegrüßenswerte Ziele, die aber nicht um jeden Preisdurchgesetzt werden dürfen, vor allem dann nicht, wennZu Protokolldadurch der Zugang zum Recht für die Bürgerinnen undBürger erschwert wird.Um zu verstehen, inwiefern der Rechtsweg für Bürge-rinnen und Bürger durch § 522 Abs. 2 ZPO verkürztwird, müssen wir uns diese Norm etwas genauer anse-hen. Sie besagt, dass die Berufungsgerichte verpflichtetsind, eine Berufung durch einstimmigen Beschluss zu-rückzuweisen, wenn sie davon überzeugt sind, dass dieBerufung keine Aussicht auf Erfolg hat. Das bedeutetkonkret: In diesen Fällen findet keine mündliche Ver-handlung statt. Gegen den im schriftlichen Verfahren ge-fassten Beschluss besteht kein weiteres Rechtsmittel, derzurückweisende Beschluss ist unanfechtbar. Damit istder Rechtsweg für die Berufungsklägerin bzw. den Beru-fungskläger vor den ordentlichen Gerichten erschöpft.Sie haben keine weitere Möglichkeit, in ihren Angele-genheiten weiter gerichtlich vorzugehen!Für die Rechtsuchenden stellt es einen großen Unter-schied dar, ob ihre Berufung im schriftlichen Verfahrenzurückgewiesen wird oder ob eine mündliche Verhand-lung stattfindet, in der sie sich äußern können. Ohnemündliche Verhandlung in einem Gerichtssaal vor ei-nem Richter kann bei den Bürgerinnen und Bürgern dasGefühl entstehen, von der Justiz nicht wirklich gehört zuwerden und nur „eine Akte“ unter vielen zu sein. Einweiteres Problem ist die unterschiedliche Anwendungder Vorschrift in der Praxis. Im Gesetz steht, dass durchschriftlichen Beschluss über die Berufung entschiedenwird, wenn alle Voraussetzungen des § 522 Abs. 2 ZPOnebeneinander vorliegen. Die Vorschrift hat also einenzwingenden Charakter.Daraus könnte man folgern: Alle Berufungsgerichtewenden diese Vorschrift in der gleichen Art und Weisean. Schauen wir uns aber die Statistiken an, müssen wirfeststellen, dass es große Differenzen in der praktischenHandhabung bei den Oberlandesgerichten gibt. 2005wurden am Oberlandesgericht Rostock 23,1 Prozent al-ler erledigten Berufungssachen nach § 522 Abs. 2 ZPOentschieden, am Oberlandesgericht Saarbrücken warenes dagegen nur 4,3 Prozent. 2009 lagen die Prozentzah-len beim Oberlandesgericht Hamm bei 8,3 Prozent, dasOberlandesgericht Rostock erledigte im Vergleich dazuganze 27,1 Prozent der Verfahren nach § 522 Abs. 2ZPO. Damit lag in beiden Fällen eine Diskrepanz von18,8 Prozent vor. Das sind Missstände, die so nicht hin-genommen werden dürfen. Die Bürgerinnen und Bürgerhaben einen Anspruch auf gleichen Zugang zum Recht.Das schließt auch die Rechtsmittelinstanzen mit ein. An-gesichts der regional sehr unterschiedlichen Verfahrens-weisen ist dieses jedoch nicht gewährleistet.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sieschlagen vor, § 522 Abs. 2 ZPO zu streichen. Das würdedas Problem der unterschiedlichen Handhabung durchdie Gerichte endgültig lösen; denn die Bürgerinnen undBürger hätten dann regelmäßig den Zugang zum Rechtüber die mündliche Verhandlung. Jedoch gilt es auch zubedenken, dass die Gerichte dieses nicht ohne Weitereswerden leisten können. Im Zuge der Einführung von§ 522 Abs. 2 ZPO wurden Richterstellen abgebaut.Wenn wir diese Vorschrift jetzt streichen, müssten wei-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9503
gegebene Reden
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9504 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Ingrid Hönlinger
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tere Richterinnen und Richter eingestellt werden. Bevordas geschieht, könnte mit einer längeren Prozessdauerzu rechnen sein. Auch das liegt nicht im Interesse derBürgerinnen und Bürger. Es gilt also, noch einiges abzu-wägen, bevor wir hier zu einer Neuregelung kommen.Abschließend möchte ich noch einmal betonen: DieBeschleunigung von Rechtsmittelverfahren sowie dieEntlastung der Justiz sind wichtige und begrüßenswerteZiele. Aber nicht um jeden Preis. Der gleiche Zugangzum Recht und die Wahrung des Rechtsfriedens sind sobedeutend, dass sie nicht immer hinter Einsparargumen-ten zurücktreten können.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/4431 an den Rechtsausschuss
vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge? – Das ist
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Menschenwürdiges Existenzminimum für
alle – Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen
– Drucksache 17/4424 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Hierzu wurden die Reden zu Protokoll gegeben.
Der vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke
knüpft an die zahlreichen Initiativen von Linken und
Grünen zur Abschaffung des Asylbewerberleistungsge-
setzes, AsylbLG, an. Bereits im Juni des vergangenen
Jahres haben wir über einen Gesetzentwurf der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen, der fast wortgleich schon im
November 2008 im Deutschen Bundestag debattiert
worden ist, beraten.
Meine Damen und Herren von der Fraktion Die
Linke, mit Ihrer Forderung nach Abschaffung des
AsylbLG stellen Sie die Grundkonzeption dieses Geset-
zes infrage und begründen dies mit „einem diskriminie-
renden Ausschluss von Asylsuchenden aus der Sozial-
hilfe und der Grundsicherung für Arbeitsuchende“. Für
eine solche Diskriminierung kann ich keine Anhalts-
punkte erkennen; denn unser Asylrecht in Deutschland,
das unser Grundgesetz im Übrigen als eine von wenigen
Verfassungen der Welt jedem politisch Verfolgten ge-
währt, verfolgt einen ganz anderen Zweck als unser So-
zialhilferecht. Kerngedanke des AsylbLG ist es, die Leis-
tungen für Asylbewerber gegenüber der Sozialhilfe zu
vereinfachen und auf die Bedürfnisse eines, in aller Re-
gel nur vorübergehenden, Aufenthaltes in der Bundesre-
publik Deutschland abzustellen. Wir sprechen hier von
Asylbewerbern, die einen Asylantrag gestellt haben und
sich bis zur Entscheidung über diesen Antrag bei uns
aufhalten dürfen.
Da gerade die Grünen immer wieder so tun, als ob sie
schon immer in der Opposition gewesen wären und nicht
sieben Jahre lang mit der SPD in Regierungsverantwor-
tung gestanden hätten, möchte ich noch einmal auf den
Ursprung dieses AsylbLG zu sprechen kommen. Erin-
nern wir uns: Anfang der 1990er-Jahre stieg die Zahl
der asylbegehrenden ausländischen Staatsangehörigen
stark an, von rund 438 000 Personen im Jahr 1992 bis
auf den Höchststand im Jahr 1996 mit 490 000 Perso-
nen. Für viele Migranten war der wirtschaftliche Wohl-
stand in Verbindung mit der günstigen geografischen
Lage und der verfassungsrechtlich verankerten Asylga-
rantie der Bundesrepublik Deutschland Hauptursache
ihres Kommens; die politische Verfolgung stand aus-
weislich der Anerkennungszahlen im Asylverfahren we-
niger im Vordergrund. Vor diesem Hintergrund verstän-
digten sich die Bundestagsfraktionen von CDU/CSU,
SPD und FDP am 6. Dezember 1992 in dem so-
genannten Asylkompromiss auf eine Neugestaltung des
Asylrechts. Unter anderem sollte dadurch der Anreiz für
nicht politisch Verfolgte reduziert werden, Asyl in
Deutschland zu suchen. Daher einigten sich die Frak-
tionen auch darauf, ein Gesetz zur Regelung des
Mindestunterhalts von Asylbegehrenden und anderen
ausländischen Staatsangehörigen ohne dauerhaftes Auf-
enthaltsrecht zu schaffen.
Wenn Sie nun behaupten, dass 17 Jahre nach Inkraft-
treten des AsylbLG festzustellen sei, dass dieses Gesetz
weder damals noch heute dazu geeignet war und ist, die
Asylsuchenden bzw. Geduldeten zu einer schnellen Aus-
reise aus Deutschland zu bewegen, dann haben Sie die
Zahlen nicht verfolgt. Das Statistische Bundesamt stellt
in seiner Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung vom
4. Mai 2009 fest, dass die Empfängerzahlen sowie die
Ausgaben für Hilfeleistungen nach dem AsylbLG seit
Mitte der 1990er-Jahre stark rückläufig sind. Waren es
Ende 1994 noch 446 500 Menschen, die Leistungen nach
dem AsylbLG erhielten, waren es zum 31. Dezember
2009 nur noch 121 235 Personen. Das ist der niedrigste
Stand seit Einführung des AsylbLG. Die Bruttoausgaben
nach dem AsylbLG sind von rund 2,8 Milliarden Euro im
Jahr 1994 auf rund 789 Millionen Euro im Jahr 2009 zu-
rückgegangen. Im Jahr 2008 erhielten 128 000 Personen
in 73 000 Haushalten Leistungen nach dem AsylbLG.
Zu den Auswirkungen des Bundesverfassungsge-
richtsurteils zu Hartz IV möchte ich Folgendes sagen:
Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf die Große
Anfrage der Linken festgestellt, dass die Leistungssätze
im AsylbLG nicht den Anforderungen des Urteils des
Bundesverfassungsgerichtes vom 9. Februar 2010 ent-
sprechen. Deshalb prüft die Bundesregierung eine An-
passung der Leistungssätze und wird dabei auch den An-
passungsmechanismus im AsylbLG mit einbeziehen.
Darüber hinaus hat die Bundesregierung – wie es im
Koalitionsvertrag vereinbart worden ist – eine Evalua-
tion des Sachleistungsprinzips bereits eingeleitet. Die
CDU/CSU-Fraktion setzt sich dafür ein, das AsylbLG
sobald wie möglich anzupassen und so für eine verfas-
Dr. Johann Wadephul
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(B)
sungsfeste Lösung zu sorgen. Nach Abschluss der Leis-
tungsreform des Sozialgesetzbuches II werden wir diese
Anpassungen gesetzlich regeln. Mit den Einzelheiten
werden wir uns bei einer Anhörung im Ausschuss für
Arbeit und Soziales Anfang Februar dieses Jahres befas-
sen.
Eine Abschaffung des AsylbLG lässt sich aus den Er-
wägungen des Bundesverfassungsgerichtes jedoch nicht
folgern. Vielmehr hat es das Bundesverfassungsgericht
in früheren Entscheidungen gerade dem Gesetzgeber
überlassen, ein eigenes Konzept zur Sicherung des Le-
bensbedarfes für Asylbewerber zu entwickeln. Dies räu-
men Sie, meine Damen und Herren von der Fraktion Die
Linke, in Ihrem Antrag auch ein. Der Ausschluss von
Asylsuchenden aus der Sozialhilfe und der Grundsiche-
rung für Arbeitsuchende hat besondere Gründe, die eine
andere Beurteilung der Situation rechtfertigen. Dies hat
auch das Bundesverwaltungsgericht so bestätigt. Der
Grund hierfür ist, dass es bei Asyl zunächst nicht um ei-
nen dauerhaften Aufenthalt, sondern um eine vorüberge-
hende Versorgung der Betroffenen bis zur Entscheidung
über ihren Asylantrag geht. Es kann nicht in erster Linie
darum gehen, diese Menschen hier bei uns aufzuneh-
men, ohne dabei die Ursachen für ihren Aufenthalt zu
bekämpfen. Vielmehr liegt die Ursache doch offensicht-
lich in den schlechten Verhältnissen vieler Länder, wo
Millionen Menschen vor Ort zurückbleiben und Not lei-
den müssen. Dieses Problem kann nicht allein auf natio-
naler Ebene, sondern nur mit internationaler Abstim-
mung gelöst werden. Hier spielt die Entwicklungspolitik
eine entscheidende Rolle.
Fazit: Das schwierige globale Problem steigender
Flüchtlingsströme werden wir nicht durch eine Abschaf-
fung des AsylbLG lösen. Eine ausreichende Versorgung
der Asylbewerber bei uns in Deutschland steht bei uns in
Deutschland außer Frage; dafür sorgt das AsylbLG.
Deshalb werden wir die Leistungssätze des AsylbLG
auch im Hinblick auf das Bundesverfassungsgerichtsur-
teil des vergangenen Jahres anpassen, sobald wir die
Leistungsreform im Sozialgesetzbuch II abgeschlossen
haben.
Bereits seit Inkrafttreten des Asylbewerberleistungs-gesetzes, meine lieben Kolleginnen und Kollegen derLinken, kritisieren Sie dieses – leider immer mit dengleichen, nicht überzeugenden Argumenten. Damit ver-schwenden Sie wertvolle Energie für konstruktive poli-tische Arbeit.Verabschiedet wurde das Gesetz 1992 von den Frak-tionen CDU/CSU, SPD und FDP, da in jenem Jahr95 Prozent der Asylsuchenden nicht politisch verfolgtwaren, sondern andere oder häufig wirtschaftlicheGründe für ihren Aufenthaltswunsch in Deutschlandhatten. Dieser Zustand belastete unsere Sozialkassen soerheblich, dass Regelungen zu einem Mindestbedarf vonAsylsuchenden nötig wurden. Wie die Entwicklungen derletzten Jahre zeigten, wirkt das Gesetz diesem Asylmiss-brauch erfolgreich entgegen und erfüllt auch seinen zen-Zu Protokolltralen Zweck: Es gewährt politisch Verfolgten und un-menschlich Behandelten die nötige Unterstützung.Zudem gebe ich zu bedenken, dass wir mit Maßnah-men gegen einen Missbrauch des Asylrechts, auf wel-chen das Asylbewerberleistungsgesetz abzielt, dentatsächlich politisch verfolgten und misshandelten Men-schen in ihren menschenrechtlichen Bedürfnissen aner-kennen, bekräftigen und unsere staatsrechtlichen Plich-ten ernst nehmen.Und, meine sehr geehrten Damen und Herren derLinken, die Bundesregierung prüft derzeit genau, welcheBedeutung die Entscheidung des Bundesverfassungsge-richtes vom 9. Februar 2010 zu den Hartz-IV-Regelsät-zen auf das Asylbewerbergesetz hat. Dabei handelt essich um komplexe Sach- und Rechtsfragen, deren Prü-fung noch nicht abgeschlossen ist.Keinesfalls kann, wie in Ihrem Antrag, von einem„andauernden verfassungswidrigen Umgang mitSchutzsuchenden“ gesprochen werden – dies möchte ichdeutlich zurückweisen. Diskussionen vor Abschluss desPrüfergebnisses bringen uns leider keinen Schritt wei-ter!Doch lassen Sie mich auf einzelne Punkte eingehen.Der Antrag der Linken beschreibt ein „Existenzmini-mum zweiter Klasse“ und bemängelt, dass Asylsuchendenicht die gleichen Sozialleistungen wie deutsche Staats-bürger erhalten. Das Urteil des Bundesverfassungsge-richts macht deutlich, dass der Gesetzgeber für dieHilfeleistung gruppenbezogene Differenzierungen vor-nehmen kann. Wir befassen uns mit einer Übergangs-regelung für Asylsuchende, die nur solange Gültigkeitbehält, bis die Entscheidung über den Asylantrag gefal-len ist – oder eben maximal vier Jahre. Es handelt sichum keine Dauerregelung.Sie sprechen in Ihrem Antrag von einer „systemati-schen Desintegration“. Es ist auch sinnvoll, dass syste-matische Integrationsmaßnahmen erst beginnen, wenndem Antrag auf Asyl stattgegeben wurde. Asylsuchende,deren Anträge abgelehnt werden, müssen zu einer Aus-reise aus Deutschland bewegt werden. Sie können nichtumgehend sozial integriert und den inländischen Be-dürftigen gleichgestellt werden.Hier gebe ich auch zu bedenken, dass Leistungszah-lungen, die sich aus inländischen Steuereinnahmen er-geben, in einem angemessenen Verhältnis verteilt wer-den müssen. Die Steuerzahler in unserem Land sindbereits enorm belastet. Überdies würde eine Aufhebungdes Asylbewerberleistungsgesetzes den Druck auf un-sere Sozialkassen nur noch weiter erhöhen.Außerdem bemängelt ihr Antrag die Sachleistungs-versorgung und kritisiert gleichzeitig, dass Preissteige-rungen nicht berücksichtigt wurden. Durch die vor-nehmliche Gewährung von Sachleistungen wird doch invollem Maße der Preisentwicklung Rechnung getragen:Der Staat trägt in diesem Fall die Preissteigerungenselbst, wenn beispielsweise Bekleidung oder Hausrat alsSachleistung gewährt werden. Dies ist wohl eher bei denPauschalbeträgen, die das SGB XII und das SGB II vor-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9505
gegebene RedenPaul Lehrieder
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sieht, der Fall. Ihr Vorwurf, dass die Preisentwicklungenseit 1993 nicht mehr angepasst wurden, ist also zurück-zuweisen.Es ist eine wichtige staatliche und auch moralischePflicht, Menschen, die politisch verfolgt und misshan-delt werden, zu unterstützen, aufzunehmen und so ihrLeid zu mindern. Es ist wichtig, die Asylgesuche mög-lichst zügig zu bearbeiten, um Menschen nicht unnötiglange in einem ungewissen Zustand zu lassen.In Deutschland besteht für Flüchtlinge in dieserÜbergangsphase eine gute Versorgung. Für weitere Ent-wicklungsmaßnahmen müssen wir die Ergebnisse desVermittlungsausschusses abwarten. Der vorliegendeAntrag ist hierfür weder konstruktiv noch zielführendund muss deshalb abgelehnt werden.
Heute debattieren wir über das Asylbewerberleis-tungsgesetz. Das ist gut so; denn das Thema brennt un-ter den Nägeln. Leider werden unsere Reden, wie in derletzten Debatte auch schon, wieder nur zu Protokoll ge-geben. Die Grünen hatten bereits im Sommer ihren Ge-setzentwurf eingebracht. Nun kommt die Fraktion DieLinke mit ihrem Antrag. Das Ziel beider Initiativen ist,das Asylbewerberleistungsgesetz aufzuheben bzw. abzu-schaffen. Das wollen wir nicht. Wir werden uns mit ei-nem Forderungskatalog einbringen, um die Lage derBetroffenen zu verbessern. Die Expertenanhörung am7. Februar steht ebenfalls noch bevor. Ich hoffe, dass eswenigsten dann gelingen wird, dem Thema die Beach-tung zu verschaffen, die es verdient.Wenn wir über das Asylbewerberleistungsgesetz spre-chen, dann reden wir auch über 120 000 Menschen, diedavon betroffen sind. Diese Menschen dürfen inDeutschland nicht arbeiten, sie sind also auf Grund-sicherung angewiesen. Sie müssen aber mit deutlich we-niger auskommen als Sozialhilfe- oder Arbeitslosen-geld-II-Bezieher, und das, obwohl sie zum großen Teilbereits viele Jahre in Deutschland leben. Spätestens seitFebruar 2010 wissen wir, dass das verfassungswidrigist. Die Richter des Bundesverfassungsgerichts habenein klares Urteil zu den Regelsätzen im Sozialgesetz-buch II und XII – also zum ALG II und der Sozialhilfe –gesprochen. Und natürlich gilt dieses Grundsatzurteilgenauso auch für das Asylbewerberleistungsgesetz. Dieshabe ich bereits in meiner Rede zum Antrag der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen im Sommer deutlich ge-macht.Das Verfassungsgericht fordert, dass der Gesetzgeberalle existenzsichernden Aufwendungen in einem trans-parenten Verfahren ermittelt und diese Berechnungennachvollziehbar offenlegen muss. Außerdem müssensich die zu erbringenden Leistungen an den bestehendenLebensbedingungen orientieren und dementsprechendbeständig aktualisiert werden. Dies hat die Bundesre-gierung inzwischen auch offiziell eingestanden – mehrist allerdings seitdem nicht geschehen. Wir fordern dieBundesregierung und insbesondere die zuständigeMinisterin von der Leyen deshalb erneut auf, endlich ei-nen Gesetzentwurf vorzulegen, der die derzeitige verfas-Zu Protokollsungswidrige Leistungspraxis des Asylbewerberleis-tungsgesetzes durch ein nachvollziehbares Verfahren zurBemessung der Leistungen beendet. Wir haben dieseForderung bereits in unserem Antrag zur Neufestsetzungder Regelsätze vom 2. März 2010 formuliert und in un-serem Antrag zur transparenten Bemessung der Regel-bedarfe vom 10. November 2010 erneuert. Ich frage dieMinisterin: Frau von der Leyen, wollen Sie so lange ab-warten, bis Sie vom Bundesverfassungsgericht durch einexplizites Urteil zum Asylbewerberleistungsgesetz mitFrist zum Handeln aufgefordert werden? Sollen dieBundesrichter zukünftig Ihre Antreiber sein? Nur zu Ih-rer Information: Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hat bereits ein Verfahren zum Asylbewerber-leistungsgesetz an die Bundesverfassungsrichter über-wiesen. Warten Sie also nicht länger, handeln Sie end-lich!Nicht nur die Regelsätze selbst müssen neu berechnetwerden, auch deren fortlaufende Aktualisierung muss si-chergestellt werden. Seit Einführung des Asylbewerber-leistungsgesetz 1993 gab es keinerlei Erhöhung der Re-gelsätze. Der Kaufkraftverlust betrug allein zwischen1994 und 2009 etwa 25 Prozent. 2001 haben wir ge-meinsam mit den Grünen versucht, die Leistungen fürAsylsuchende anzupassen. Die damalige Mehrheit imBundesrat von CDU, CSU und FDP lehnte unsere Ge-setzesinitiative jedoch ab. Darüber hinaus sehe ich inweiteren Bereichen des AsylbewerberleistungsgesetzesHandlungsbedarf: Das Sachleistungsprinzip sollte ab-geschafft und die Regelleistungen in voller Höhe ausge-zahlt werden. Gutscheine für Kleidung und Lebensmittelsind diskriminierend und menschenunwürdig! Auch dasZusammenstellen von Essenspaketen ist kein würdigerUmgang mit den Hilfebedürftigen. Es ist zudem äußerstfragwürdig, ob durch das Sachleistungsprinzip, wie be-hauptet, tatsächlich Kosten eingespart werden oder imGegenteil es nicht wegen des Verwaltungsaufwandesteurer wird. Überdenken müssen wir auch den Zugangzu medizinischen Leistungen. Auch hier liegt einiges imArgen.Ganz wichtig ist darüber hinaus, dass der Kreis derLeistungsberechtigten überprüft wird. Er sollte wiederauf den ursprünglich Personenkreis, für den das Asylbe-werberleistungsgesetz 1993 geschaffen wurde, zurückge-führt werden, nämlich auf Asylsuchende und Flüchtlinge,die unser Land in absehbarer Zeit wieder verlassen wer-den. Zurzeit fallen außerdem Geduldete unter das Asylbe-werberleistungsgesetz. Auch deshalb haben wir bereitsEnde 2009 eine Gesetzesinitiative – Drucksache 17/207 –ins parlamentarische Verfahren eingebracht, um dieZahl der bislang Geduldeten zu reduzieren und damitvielen eine Perspektive für die gesellschaftliche undökonomische Integration in Deutschland zu eröffnen.Auch die Dauer des Leistungsbezuges sollte von denderzeit 48 Monaten wieder abgesenkt werden. Denn bei4 Jahren kann nicht mehr von einer vorübergehendenAufenthaltsdauer gesprochen werden. Außerdem beträgtdie durchschnittliche Dauer aller rechtskräftig abge-schlossenen Asylverfahren lediglich 15 Monate.Wir setzen uns für die grundsätzliche Abschaffung derheutigen Residenzpflicht für Asylbewerber und für ge-
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9506 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
gegebene RedenGabriele Hiller-Ohm
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duldete Ausländer ein. Sie müssen sich, wie alle anderenMenschen auch, in unserem Land frei bewegen können.Wir wollen stattdessen, dass Asylbewerber und Gedul-dete einen festen zugewiesenen Wohnsitz haben, dannaber keinen Mobilitätseinschränkungen mehr unterlie-gen. Die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünftensollte ebenfalls überdacht werden, da dies für die Betrof-fenen meist belastend ist; denn oftmals befinden sichdiese außerhalb von Ortschaften, was zu Isolation führtund Mobilitätskosten erhöht. Die Unterbringung inWohnungen kann zudem kostengünstiger sein. Da es je-doch auch bereits heute möglich ist, die Betroffenen inWohnungen unterzubringen, sollten die Kommunen da-von Gebrauch machen. Diese Themenkomplexe werdenGegenstand unserer parlamentarischen Initiative sein.Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/DieGrünen und der Linken, Sie fordern eine komplette Auf-hebung des Asylbewerberleistungsgesetzes. Dafür sehenwir nach wie vor keine politischen Mehrheiten, wederhier im Bundestag noch im Bundesrat. Sie fordern in Ih-rem Antrag, dass Asylsuchende und deren AngehörigeLeistungen nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozial-gesetzbuch erhalten sollen. Das würde bedeuten, dasserwerbsfähige Asylsuchende sofort eine Förderung zurEingliederung in den Arbeitsmarkt erhalten. Bei unge-klärtem Aufenthaltsstatus ist das aus unserer Sicht je-doch kein geeigneter Weg. Ich bin sehr gespannt, wasuns die Bundesregierung vorlegen wird. Ich hoffe sehr,dass wir die Diskriminierung von Menschen im Asylbe-werberleistungsgesetz endlich überwinden. Dieses Ge-setz ist kein Ruhmesblatt – das haben uns auch die Ver-fassungsrichter ins Stammbuch geschrieben.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Fe-
bruar letzten Jahres hat auf die politische Arbeit der
letzten Monate große Auswirkungen gehabt. Und selbst
wenn wir das Vermittlungsverfahren zur Neuberechnung
der Regelbedarfe bald abgeschlossen haben werden,
wird das Urteil noch weitere Auswirkungen für unsere
Arbeit haben; denn viele der Kritikpunkte, die das Bun-
desverfassungsgericht an den rot-grünen Hartz-IV-Ge-
setzen hatte, betreffen wohl auch das Asylbewerberleis-
tungsgesetz. Daher werden wir jetzt, bevor uns ein
Gericht dazu konkreten Anlass geben wird, das Asylbe-
werberleistungsgesetz so ändern, dass es den Ansprü-
chen, die wir an gute Politik haben, gerecht wird. Wir
werden die Leistungen für Asylbewerber genauso trans-
parent und nachvollziehbar darlegen, wie wir das jetzt
für die Bezieher von Arbeitslosengeld II gemacht haben.
Der Gesetzgeber ist 1993 bei der Festsetzung der
Leistungssätze im AsylbLG von dem in den Verhandlun-
gen zum Asylkompromiss vereinbarten Ziel ausgegan-
gen, dass im ersten Jahr des Leistungsbezugs eine Ab-
senkung der Leistungen für Asylbewerber gegenüber
den Leistungen nach dem damaligen Bundessozialhilfe-
gesetz erfolgen sollte. Der Umfang der Leistungen nach
dem AsylbLG wurde als zumutbar und zur Ermögli-
chung eines Lebens, das durch die Sicherung eines Min-
destunterhalts dem Grundsatz der Menschenwürde ge-
recht werden soll, als ausreichend angesehen. Dass sich
Zu Protokoll
dies in der Zwischenzeit verändert haben dürfte, möchte
ich nicht infrage stellen, und genau deshalb werden wir
die Sache auch angehen. Es ist jedoch auch klar, dass
wir eine Neufestsetzung der Leistungssätze des Asylbe-
werberleistungsgesetzes erst dann vornehmen werden,
wenn die Neufestsetzung der Regelbedarfe nach dem
Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch durch das
Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Ände-
rung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch
abgeschlossen ist. Sie wird dann auf Grundlage der da-
raus gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse erfol-
gen.
Wenn die Linke nun aber fordert, das Asylbewerber-
leistungsgesetz ganz abzuschaffen, dann geht das ein-
deutig zu weit. Es gibt natürlich einen gerechtfertigten
Unterschied, auch in der Höhe, zwischen den Leistun-
gen für Asylbewerber und denen von Menschen in der
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Dass dies so ist,
werden wir im Rahmen der Neufestsetzung offen und
transparent darlegen. Die FDP-Bundestagsfraktion hat
sich in der Vergangenheit übrigens dafür stark gemacht,
dass die Hürden, die Asylbewerber haben, um selbst für
ihren Lebensunterhalt zu sorgen, weiter abgesenkt wer-
den. Dies ist, wie überall in der Sozialpolitik, der we-
sentlich bessere Ansatz: Hilfe zur Selbsthilfe statt reiner
Alimentierung. Ich kann Ihnen daher zusagen, dass wir
das Asylbewerberleistungsgesetz nach Abschluss der
Neuregelung der Leistungen des Sozialgesetzbuchs II di-
rekt neu regeln werden. Eine Abschaffung kommt für uns
jedoch nicht infrage.
Die Linke hat dem Bundestag einen Antrag vorgelegt,mit dem die Fraktion die Abschaffung des diskriminie-renden Asylbewerberleistungsgesetzes fordert. Der An-trag ist eine Reaktion auf das Urteil des Bundesverfas-sungsgerichts zur Verfassungswidrigkeit der sogenanntenHartz-IV-Sätze. Das Gericht hat in seinem aufsehenerre-genden Urteil unterstrichen, dass das Grundrecht aufGewährleistung eines menschenwürdigen Existenzmini-mums universale Gültigkeit besitzt. Damit gilt es auchfür Asylbewerber und andere Menschen mit einem unsi-cheren Aufenthaltsstatus, die bislang unter das Asylbe-werberleistungsgesetz fallen. Das Verfassungsgerichthat außerdem die Anforderung aufgestellt, dass diesesExistenzminimum auf Grundlage realitätsnaher, trans-parenter und nachvollziehbarer Kriterien berechnetwerden muss.Beides trifft auf das Asylbewerberleistungsgesetznicht zu. Weder wird ein menschenwürdiges Existenz-minimum gewahrt, noch liegen den Leistungssätzennachvollziehbare Kriterien zugrunde. Sie sind schlichtund ergreifend politisch festgelegt worden, ohne Rück-sicht auf die realen Bedürfnisse der betroffenen Asylbe-werber, geduldeten Ausländer und Flüchtlinge. Die pau-schalierte Festlegung der Leistungssätze steht in klaremWiderspruch zum genannten „Hartz-IV-Urteil“ desBundesverfassungsgerichts. Dies musste mittlerweileauch die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eineGroße Anfrage der Fraktion Die Linke einräumen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9507
gegebene RedenUlla Jelpke
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Mit der Einführung des Asylbewerberleistungsgeset-zes wurden die Sätze der sogenannten Grundleistungenim Gesetz festgelegt und seitdem nicht der Preisentwick-lung angepasst. Sie liegen damit mittlerweile über30 Prozent unter den Hartz-IV-Sätzen. Die Bezugsdauerder abgesenkten Sozialleistungen wurde von zunächsteinem Jahr schrittweise auf mittlerweile vier Jahre aus-gedehnt. Der Bezug dieser sogenannten Grundleistun-gen schließt gleichzeitig den Zugang zum Gesundheits-system aus, medizinische Leistungen gibt es nur inakuten Notfällen. Die Behandlung chronischer Krank-heiten und psychischer Traumatisierungen ist damitnicht möglich. Der Schulbesuch der Kinder ist er-schwert, die Wohnsituation in maroden Sammelunter-künften eine zusätzliche und andauernde Belastung. Dasgeltende Sachleistungsprinzip verschärft den diskrimi-nierenden Charakter noch zusätzlich. Dieses Prinzipbedeutet, dass die Existenzsicherung in Form vonEssens- und Kleidungspaketen oder über Gutscheine ab-gewickelt wird. Wenigstens die Mittel des täglichen Be-darfs selbst einkaufen zu können, bedeutet, ein Minimuman Selbstbestimmung und Würde zu bewahren. Selbstdiesen Rest von Würde und Anstand nimmt das Asylbe-werberleistungsgesetz den Betroffenen.Mit dem Asylbewerberleistungsgesetz wurde ein Exis-tenzminimum zweiter Klasse eingeführt. Unverhohlenwurde und wird von seinen Verteidigern ins Feld ge-führt, es solle „missbräuchliche Asylantragstellung“und „Einwanderung in die sozialen Sicherungssysteme“verhindern. Abschreckung als Ziel eines Gesetzes, dasnach dem Grundgesetz eine menschenwürdige Existenzsichern soll – dieser Widerspruch ist allzu offensichtlich.Diese beiden Ziele sind absolut unvereinbar. Das Asyl-bewerberleistungsgesetz ist die in Gesetzesform gegos-sene Unterstellung, Flüchtlinge kämen nicht aus Angstvor Verfolgung und Unterdrückung, sondern aus reinökonomischen Interessen. Von dort aus ist es nicht weitbis zu rechtsextremen Parolen gegen vermeintlicheSchmarotzer und Parasiten, die schleunigst außer Lan-des geschafft werden sollten.Das Asylbewerberleistungsgesetz ist diskriminierendund trägt zur Stigmatisierung von Asylbewerbern undFlüchtlingen bei. Es ist Ausdruck einer fatalen Abschre-ckungspolitik, die de facto den Schutzanspruch vonFlüchtlingen verneint. Und schließlich ist es gleich inmehrfacher Hinsicht ein Verstoß gegen das Menschen-würdegebot des Grundgesetzes. Es muss abgeschafftwerden.
Es ist gut und richtig, dass nun auch endlich die Linkemit dem vorgelegten Antrag die Abschaffung des Asylbe-werberleistungsgesetzes fordert. Es fragt sich nur, wa-rum die Linke erst jetzt reagiert. Bündnis 90/Die Grünenfordern schon seit Jahren die Abschaffung des Gesetzes.Hierzu haben wir einen Gesetzentwurf in den DeutschenBundestag eingebracht – 17/1428 –, der Gegenstand derAnhörung im federführenden Ausschuss für Arbeit undSoziales am Montag, dem 7. Februar 2011, ist. Auch dieBundesregierung ist inzwischen von der Verfassungs-widrigkeit des Asylbewerberleistungsgesetzes überzeugtZu Protokollund kündigt Nachbesserungen an. Die Einschätzung derBundesregierung bestätigt unsere Kritik am Asylbewer-berleistungsgesetz. Weniger Geld als im Regelsatz fürALG-II-Beziehende ist mit der Menschenwürde nicht zuvereinbaren. Einzig eine Neuberechnung der Leistungenfür Asylbewerberinnen und -bewerber greift aber zukurz.Das Asylbewerberleistungsgesetz führt seit nun mehrals 17 Jahren zu einem diskriminierenden Ausschlussvon Asylsuchenden und Geduldeten aus der Sozialhilfeund der Grundsicherung für Arbeitssuchende. FürBündnis 90/Die Grünen gelten die Leitsätze des Urteilsdes Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 zuden ALG-II-Regelsätzen nicht nur für Deutsche, sondernfür alle Menschen im Geltungsbereich des Grundgeset-zes. Das menschenwürdige Existenzminimum ist zu ge-währleisten und nach einem transparenten und nach-vollziehbaren Verfahren zu ermitteln. Dass die Bundes-regierung bei der Umsetzung des Urteils trickst, stehtauf einem anderen Blatt Papier und ist derzeit Gegen-stand der Verhandlungen im Vermittlungsausschuss zwi-schen Bundesrat und Bundestag.Das Bundesverfassungsgericht sagt ganz klar, dassdas soziokulturelle Existenzminimum nicht „ins Blauehinein“ zu schätzen ist. Es dürfte doch hier allen ein-leuchten, dass das selbstverständlich ein universalerAnspruch ist, der nicht nur für das Zweite Buch Sozial-gesetzbuch gilt. Dieser gilt für alle Menschen, und des-halb brauchen wir kein Sondergesetz, das Menschen-würde für Flüchtlinge separiert und im ErgebnisMenschen mit ihrer Würde herabsetzt. Doch seit es dasAsylbewerberleistungsgesetz gibt, geschieht genau diesmit vielen Menschen, ob asylsuchend, ob geduldet oderbleibeberechtigt: Der Aufenthaltstitel unterscheidetsich, nicht aber die Unterversorgung. Die Leistungendes Asylbewerberleistungsgesetzes liegen um ein Drittelunter den ohnehin schon zu niedrig bemessenen Sätzendes SGB II. Und sie sind entgegen geltender Rechtslagenach § 3 Abs. 3 Asylbewerberleistungsgesetz nie ange-passt worden – nicht ein einziges Mal in mehr als17 Jahren.Ein weiterer wichtiger Punkt muss erwähnt werden:Zum Gesundheitssystem in Deutschland haben Men-schen, die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungs-gesetz bekommen, keinen Zugang. Nur bei akuten Er-krankungen und Schmerzzuständen gibt es Hilfe.Konkret heißt das: keine Prävention, keine Untersu-chungen. Es muss schon erst so schlimm sein, dass derKrankenwagen vorfahren muss, bevor es Hilfe gibt.Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Asylbewer-berleistungsgesetzes wurden schon mehrmals in Gut-achten aufgezeigt. Diese kommen zu dem Ergebnis, dassdas Asylbewerberleistungsgesetz gegen Art. 1 Grundge-setz – Menschenwürde –, Art. 3 Grundgesetz – Diskrimi-nierungsverbot – und Art. 20 Grundgesetz – Sozial-staatsprinzip – verstoßen würde. Das Bundesverfas-sungsgericht hat noch nicht über Eignung, Erforderlich-keit und Verhältnismäßigkeit des Asylbewerberleis-tungsgesetzes geurteilt. Wir als Gesetzgeber haben es in
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9508 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9509
Markus Kurth
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der Hand, einer Entscheidung des Bundesverfassungs-gerichts zuvorzukommen und das Gesetz abzuschaffen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4424 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie ein-
verstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan
Kühn, Winfried Hermann, Dr. Anton Hofreiter,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Zukunftsfähige Alternativen zur Nordverlän-
– Drucksache 17/4199 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Auch hierzu wurden die Reden zu Protokoll gege-
ben.
Was zeigt uns die heutige Debatte? Die Dagegen-
Partei hat wieder einmal zugeschlagen. Der heutige An-
trag steht in einer Reihe mit der Ablehnung des Bahn-
hofsneubaus in Stuttgart, der Entscheidung, die Olympi-
schen Spiele in München nicht zu unterstützen, und der
Entscheidung gegen den Ausbau des Flughafens in
Frankfurt am Main. Jetzt also auch die Ablehnung des
wichtigen Verkehrsprojekts für die Länder Sachsen-An-
halt und Mecklenburg-Vorpommern.
Vor fast genau einem Jahr, am 26. Januar 2010,
wurde die parteiübergreifende Bürgerinitiative für den
Bau der Bundesautobahn 14 „BAFA 14“ durch den
Ministerpräsidenten des Landes Mecklenburg-Vor-
pommern mit dem „Großen Preis der Wirtschaft“ des
Unternehmerverbandes Norddeutschland Mecklenburg-
Schwerin e. V. für ihr langjähriges ehrenamtliches
Engagement ausgezeichnet. Heute müssen wir uns mit
einem Antrag der Grünen beschäftigen, der rückwärts-
gerichtet ist und den jahrelangen Einsatz vieler Men-
schen in Mecklenburg-Vorpommern für den Bau der
A 14 konterkariert.
Die eingangs genannte Tatsache unterstreicht aus
meiner Sicht sehr deutlich, dass der Weiterbau der A 14
in der Region Westmecklenburg, insbesondere in mei-
nem Wahlkreis Schwerin-Ludwigslust, von breiten Teilen
der Bevölkerung getragen wird. Dies zeigen auch die
Reaktionen auf den Antrag, den wir heute im Parlament
diskutieren. Sowohl die Regierungsfraktionen von CDU
und SPD im Landtag, als auch die Oppositionsfraktio-
nen von FDP und Linke haben diesen Antrag aufs
Schärfste kritisiert. Der Landkreis Ludwigslust und füh-
rende Wirtschaftsverbände haben sich ebenfalls für den
zügigen Weiterbau der A 14 von Schwerin nach Magde-
burg ausgesprochen. Die Grundlagen dafür haben die
Grünen übrigens im Jahr 2004 mit ihrer Zustimmung
zur Aufnahme der A 14 in den vordringlichen Bedarf des
Bundesverkehrswegeplans selbst mit beschlossen. Es
stellt sich daher die Frage, warum die Grünen erst jetzt
nach Alternativen fragen!
Nach Angaben des Landesverkehrsministers kommen
die Vorbereitungen für den 155 Kilometer langen Auto-
bahnbau gut voran. Anfang dieses Jahres soll mit dem
Planfeststellungsverfahren für den Abschnitt vom Auto-
bahndreieck Schwerin bis Ludwigslust-Süd begonnen
werden. Bis zum Jahr 2020 soll das Gesamtprojekt fer-
tiggestellt sein.
Im Hinblick auf die Landtagswahl in Mecklenburg-
Vorpommern wollen sich die Grünen scheinbar auch in
unserem Bundesland als Dagegen-Partei etablieren. Die
aufgezeigten Reaktionen verdeutlichen jedoch, dass die
Argumente der Grünen auf keinen sehr fruchtbaren Bo-
den fallen. Von daher verwundert es nicht, dass die Grü-
nen bisher bei allen Landtagswahlen in Mecklenburg-
Vorpommern an der 5-Prozent-Hürde gescheitert sind.
Mit realitätsfernen Initiativen wie dem vorliegenden An-
trag tragen Sie dazu bei, dass Ihr Landesverband auch
nach dem 4. September 2011 nicht in dem neuen Land-
tag von Mecklenburg-Vorpommern vertreten sein wird.
Vor dem Hintergrund dieses Antrages ist das auch gut
so!
Die große Mehrheit der Mecklenburger und Vorpom-
mern hat kein Verständnis für die Position der Grünen,
die sich bereits ohne Erfolg gegen den Bau der Ostsee-
autobahn 20 eingesetzt hatten. Gerade das Beispiel der
A 20 verdeutlicht die Bedeutung solcher Projekte für ein
strukturschwaches Bundesland wie Mecklenburg-Vor-
pommern. Durch die Autobahn wird die Anbindung der
Ostseeküste an das Hinterland verbessert. Die Wirt-
schaft und der Tourismus, aber vor allem die Bürgerin-
nen und Bürger in meinem Bundesland haben davon
nachhaltig profitiert. Auch die Fertigstellung der A 14
wird für Mecklenburg-Vorpommern nachhaltig spürbare
Effekte in diese Richtung bringen.
Die CDU/CSU-Fraktion wird es deshalb nicht zulas-
sen, dass die Grünen mit ihrem Antrag die wirtschaftli-
che Zukunft Mecklenburg-Vorpommerns gefährden. Der
Lückenschluss auf der A 14 zwischen Schwerin und Wis-
mar vor gut einem Jahr hat bereits zu spürbaren Entlas-
tungen für die Bundesstraßen vom Lkw-Verkehr geführt.
Gerade auch im Interesse unserer Häfen in Rostock und
Wismar brauchen wir einen zügigen Weiterbau der A 14
vom Norden in den Süden. Der Geschäftsführer der Ha-
fenentwicklungsgesellschaft Rostock und der Chef des
Seehafens Wismar haben sich in der „Ostsee-Zeitung“
vom 23. Dezember 2010 ganz klar gegen den Antrag der
Grünen ausgesprochen und die A 14 für die Häfen
Mecklenburg-Vorpommerns als essenziell bezeichnet.
Der Weiterbau der Autobahn erhöht die Lebensqualität
für die Einheimischen und macht Mecklenburg-Vorpom-
mern für Urlauber und Investoren noch attraktiver. Mit
der A 14 wird es uns weiterhin gelingen, Unternehmer
für Investitionen in Mecklenburg-Vorpommern zu
gewinnen. Nur durch eine leistungsfähige Verkehrsin-
frastruktur ist ein Flächenland wie Mecklenburg-Vor-
Dietrich Monstadt
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pommern in der Lage, wirksame Schritte gegen die
Abwanderung zu organisieren. Nur eine damit einherge-
hende wirtschaftliche Entwicklung kann die Abwande-
rung ganzer Jahrgänge junger und hochqualifizierter
Fachkräfte verhindern.
Der Lückenschluss der A 14 hat gleichzeitig eine
enorme bundesverkehrspolitische Bedeutung. Die neue
Nord-Süd-Achse wird nicht nur die Landeshauptstädte
von Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt mit-
einander verbinden, sondern auch zu einer spürbaren
Entlastung anderer Autobahnen führen. Verkehrsbehin-
derungen durch Zeitverzug und Staus und damit einher-
gehende volkswirtschaftliche Verluste können deutlich
reduziert werden. Eine solche Verbindung hilft damit
auch den Nachbarbundesländern. Im Namen der CDU/
CSU-Fraktion bitte ich Sie deshalb nicht nur im Inte-
resse des Landes Mecklenburg-Vorpommern darum, den
Antrag der Grünen abzulehnen!
Um es gleich auf den Punkt zu bringen: Dieser An-trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gehört in denPapierkorb. Er ist sachlich unbegründet. Der Antragstellt unrealistische Alternativkonzepte vor, ist nichtaktuell und wäre bei seiner Umsetzung ein schwererSchlag gegen die Wirtschaftsentwicklung in struktur-schwachen Regionen. Mecklenburg-Vorpommern, Bran-denburg und Sachsen-Anhalt brauchen dringend denLückenschluss zwischen der A 24 und der Landeshaupt-stadt Magdeburg. Das Straßenbauprojekt A 14 ist Be-standteil des Bundesverkehrswegeplanes 2003 und wirdim Investitionsrahmenplan 2006 ebenfalls als priori-täres Bauvorhaben ausgewiesen. In den Bundesver-kehrswegeplan werden bekanntermaßen nur Vorhabeneingestellt, die einem komplexen Bewertungsverfahrenstandhalten und bei denen ein volkswirtschaftlicher Nut-zen nachgewiesen wird. Genau dies liegt bei der A 14vor.Ich stelle an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen vonBündnis 90/Die Grünen die Frage, welchen Wert Sie Ih-ren parlamentarischen Anfragen und den betreffendenAntworten der Bundesregierung beimessen. Bekannter-maßen sieht es mit der Beantwortung von Anfragen derOpposition durch die Regierung nicht gut aus, aber aufIhre Kleine Anfrage „Zur Kosten-Nutzen-Berechnungder Verkehrsprojekte Bundesautobahn 14 und 39“ hatdie Bundesregierung am 1. Dezember 2009, Drucksache17/98, ausnahmsweise etwas ausführlicher geantwortet.In der Vorbemerkung stellt die Fraktion Bündnis 90/DieGrünen fest, dass das Ministerium für Bau und Verkehrdes Landes Sachsen-Anhalt das Nutzen-Kosten-Verhält-nis für die A 14 mit 4,6 ausgewiesen hat. Der vorlie-gende Antrag geht fälschlicherweise davon aus, dass essich bei dem Infrastrukturprojekt A 14 um das „umstrit-tenste Straßenverkehrsprojekt Ostdeutschlands“ han-deln würde und die prognostizierte Verkehrsstärke von16 000 Fahrzeugen pro Tag den Bedarf für eine milliar-denschwere Investition nicht rechtfertigen würde. AlsAlternative wird der zweistreifige Querschnitt einerBundesstraße angeboten. Beide Annahmen gehen an derWirklichkeit vorbei und sind in ihrer Aussage offensicht-Zu Protokolllich falsch. In den von dem geplanten Autobahnbau be-troffenen Regionen Südwestmecklenburg, Prignitz undAltmark gibt es eine hohe Zustimmung zu dem Investi-tionsvorhaben. Bürgerinitiativen, Kommunal- und Lan-despolitiker und nicht zuletzt die Wirtschaft stehen zudiesem Projekt. Alle fordern eine Beschleunigung derPlanungsarbeiten, damit mit dem Bau begonnen werdenkann. Die Finanzierung für den ersten Bauabschnitt, erbeinhaltet eine Summe von 775 Millionen Euro, ist imInvestitionsrahmenplan festgeschrieben und nach denermittelten Kostensteigerungen zwischen dem Bund undden Ländern 2009 nochmals bestätigt worden.Die Feststellung im Antrag zur prognostizierten Ver-kehrsstärke pro Tag – 16 000 Fahrzeuge – ist schlicht-weg falsch. Schauen Sie in die bereits zitierte Antwortder Bundesregierung vom 1. Dezember 2009. Unter Zif-fer 10 werden werktägliche Verkehrsstärken für das Jahr2015, basierend auf Berechnungen aus 2003, sowie fürdas Jahr 2025 aus Nachberechnungen 2008 wie folgtausgewiesen: Bei der Prognose für 2015 werden 15 000bis 30 000 Fahrzeuge/Tag angenommen und bei derPrognose für 2025 sind es 22 000 bis 34 000 Fahrzeuge.Der von Ihnen angegebenen Verkehrsstärke von 16 000Fahrzeugen/Tag stehen also tatsächlich größere Ver-kehrsstärken gegenüber. Sie sollten einfach in das rich-tige Zahlenwerk schauen.Natürlich ist es so, dass eine Infrastrukturmaßnah-men für sich genommen nicht der alleinige Schlüssel fürdie regionale Wirtschaftsentwicklung sind. Diese hängtvon mehreren Faktoren ab, von denen allerdings die ver-kehrliche Anbindung eine nicht unbedeutende Rollespielt. Wenn die infrastrukturelle Erschließung nichtstimmt, stimmen auch die Rahmenbedingungen für dieWirtschaftsansiedlung nicht. Regionen mit einer gutenInfrastruktur – das ist ein immobiler Produktionsfaktor –ziehen die mobilen Produktionsfaktoren Humankapitalund Realkapital – Investitionen – nach sich. Sie befindensich in dieser Frage auf dem gleichen Holzweg wie dieFraktion Die Linke. Deren Berichterstatter LutzHeilmann erklärte am 25. Mai 2007 in seiner Bundes-tagsrede zum Bericht des Parlamentarischen Beirats fürnachhaltige Entwicklung „Demografischer Wandel undnachhaltige Infrastrukturplanung“ – Drucksache 16/4900 –Folgendes – ich zitiere: „Es macht aber überhaupt kei-nen Sinn, Milliarden auszugeben, um schrumpfende Re-gionen an das Autobahnnetz anzuschließen, wenn aufdiesen Straßen am Ende keine Autos fahren. Es ist dochUnsinn, in der vagen Hoffnung auf wirtschaftliche Ent-wicklung Geld zum Fenster hinauszuwerfen. Ein Para-debeispiel dafür ist die zusammenhängende Planung derAutobahn A 14 und A 39 in Brandenburg und Nieder-sachsen …“Ganz abgesehen davon, dass es bei Herrn Heilmannetwas mit der Geografie hapert und er nebenbei die Län-der Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern beidiesem Verkehrsprojekt verschwinden lässt, zeugenseine demografischen Bewertungen von Hilflosigkeitund fehlendem Konzept für die neuen Länder. Er hattesich damit abgefunden, dass die Regionen Westmecklen-burg, Prignitz und Altmark wegen ihrer noch vorhande-nen Strukturschwäche abgeschrieben sind. Die Position
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9510 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
gegebene RedenHans-Joachim Hacker
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der Linken wird auch nicht dadurch glaubwürdiger, dasssich ihr Bundestagskandidat Dr. Dietmar Bartsch imWahlkampf 2009 auf einmal für den Bau der A 14 aus-sprach. Das ist Politik nach Stimmungslage und Tages-form, die den Menschen in diesen Regionen nicht hilft.Wir brauchen Beständigkeit, gerade in der Frage der In-frastrukturentwicklung, weil damit Perspektiven für dieZukunft verbunden sind und vor allem für junge Men-schen Chancen für ein Bleiben in der Region eröffnetwerden.Die A 14 ist das letzte große Infrastrukturprojekt inden neuen Ländern. Damit wird eine Lücke im Auto-bahnnetz geschlossen. Die Ostseehäfen Rostock, Wis-mar und Lübeck erhalten eine optimale Hinterlandan-bindung. Von diesen Häfen und aus den betroffenenRegionen können Verkehre in den mitteldeutschenRaum, nach Süddeutschland und zu unseren südöstli-chen EU-Partnern besser fließen. Ich will hervorheben,dass bei der Vorbereitung und Durchführung der Bau-maßnahme A 14 die naturschutzfachlichen Erforder-nisse umfassend berücksichtigt werden. Das hat nichtzuletzt auch zu Kostensteigerungen geführt. Wir brau-chen jetzt eine zügige Durchführung der laufenden Plan-feststellungsverfahren und keine neue Diskussion zu Al-ternativen mit zweistreifigen Bundesstraßen.Die geforderten Ausbaumaßnahmen für den Schie-nenverkehr sind sicherlich richtig, aber diese gegen dieA 14 auszuspielen, zeugt von Kurzsichtigkeit in der Ver-kehrspolitik. Und im Übrigen: Die im Antrag geforderteSchließung der Elektrifizierungslücke bei der Eisen-bahnstrecke Bad Kleinen–Lübeck und die Verbesserungder Bahnverbindung Schwerin-Lübeck sind Bestandteilder vom Bundesverkehrsministerium im Herbst 2010vorgelegten Überarbeitung des Bedarfsplanes Schiene.Diese beiden Maßnahmen sind auch deswegen notwen-dig, um im Zuge der Festen Fehmarnbelt-Querung – ge-gen die die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gestimmthatte – eine optimale Eisenbahnverbindung zwischenKopenhagen und Berlin auch über Schwerin–Ludwigs-lust zu schaffen.Mein Appell zum Schluss an den Antragsteller: Siesollten den Antrag schleunigst zurückziehen. Sie wissen:Ihr Antrag wird in diesem Hause keine Mehrheit finden.Es bleibt dabei, die Regionen Südwestmecklenburg,Prignitz und Altmark benötigen die A 14 – vor allem dieMenschen, die in diesen Regionen leben.
Der Autoverkehr ist ein fester Bestandteil unseresmodernen Lebens. Soviel ist uns allen klar. Ohne Pkw,Lkw und Busse liefe heutzutage vieles nicht mehr oderwäre nur mit Mühen machbar. Erst das Auto ermöglichtdie Flexibilität und Mobilität oder die Schnelligkeit, dieheute erwartet werden. Es ist unsere Realität, dass vieleArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf den eigenenWagen angewiesen sind, um in vertretbarer Zeit oderüberhaupt zur Arbeit zu kommen. Das, liebe Kollegin-nen und Kollegen betrifft auch Sie. Wie Sie, wie wir,brauchen im ganzen Land tagtäglich viele Familien einAuto, um ihre Kinder nachmittags zum MusikunterrichtZu Protokolloder Sportverein zu bringen oder sie abends vom Sportabzuholen. Doch auch für Handel und Gewerbe sindschnelle Lieferungen direkt bis vor die Firmen- oder La-dentür unabdingbar. Kurz gesagt: Eine gute Verkehrsan-bindung ist Voraussetzung für die ökonomische Entwick-lung jeder Gemeinde und jeder Stadt. Gerade im länd-lichen Raum, wo die Bahnanbindungen schlecht oderkaum vorhanden sind, brauchen wir über die Bedeutungvon Autos nicht zu diskutieren.Deshalb ist es auch nicht von der Hand zu weisen,dass Fernstraßen und Autobahnen elementar für Gesell-schaft und Wirtschaft sind. Sie sind zweifellos immernoch die Lebensadern der Moderne. Autobahnen brin-gen Menschen zusammen, und hier werden wertvolleGüter transportiert. Damit tragen sie sowohl zur wirt-schaftlichen Standortsicherung wie zur Lebensqualitätder Bürgerinnen und Bürger bei. Zudem sind die Auto-bahnen eine der wichtigsten Grundlagen für den Touris-mus in unserem Land; denn sonst würden wohl wenigerMenschen durch unser schönes Land reisen können.Fast 50 Prozent der Familien mit Kind fahren mit demAuto in den Urlaub und nur dahin, wo sie sich sichersein können, dass sie schnell und heil an ihr Ziel kom-men.Deshalb geht der Antrag von Bündnis 90/Die Grünenauch an der Realität vorbei. Doch nicht nur das: Mitdiesem Antrag wollen die Grünen wieder einmal aufKosten der Bürger ihren Wahlkampf, diesmal in Sach-sen-Anhalt, betreiben. Dabei machen sie mit der Forde-rung nach einem Baustopp bei der A 14 ihrem Ruf als„Dagegen-Partei“ alle Ehre. Von den Grünen werdenRealitäten verkannt, Chancen nicht gesehen und Bedürf-nisse ignoriert. Mit dem Antrag werden Notwendigkei-ten vom Tisch gewischt, Sinnvolles weggedrückt undWichtiges nicht angegangen. Das Ziel der Grünen istdoch wohl uns allen klar: Hier wird nur danach ge-schaut, wo es Pläne für Fortschritt geben könnte, woChancen für Wachstum lägen, um dann eine einfacheund platte Antwort zu geben: einfach nur dagegen zusein.Doch wir antworten darauf klar und entschieden: Wirsind für die A 14! Denn wir setzen auf Erfolgsmöglich-keiten und Vorteile, die dieses Verkehrsprojekt bringensoll. Wir stellen uns der Diskussion. Der Antrag, den wirhier diskutieren, geht eindeutig an den Erfordernissender Menschen vorbei: Die A 14 ist und bleibt eine derwichtigsten Verkehrsadern in Sachsen-Anhalt. Sie hatnur ein Problem: Sie ist unvollendet. Deshalb ist aucheine Anbindung des mitteldeutschen Wirtschaftsraumesan die Ostseehäfen längst überfällig. Die Menschen inder strukturschwachen Region der Altmark warten seit20 Jahren auf den Ausbau der A 14 und ihren Anschlussan das Autobahnnetz der Bundesrepublik. Die Menschenwarten und hoffen und wissen dabei eines: Mobilitätverspricht Arbeit. Das beweisen nicht nur die Ansiede-lungen in Barleben oder Osterweddingen.Deshalb können wir das Ansinnen der Grünen nichtverstehen. Würde doch der Lückenschluss zwischenSchwerin und Magdeburg die lang ersehnten wichtigenImpulse für die angrenzenden Regionen bringen. Ja, es
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9511
gegebene RedenJens Ackermann
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wäre die langersehnte Grundlage und eine bedeutendeVoraussetzung für das weitere Wachstum im ganzenLand. Wachstum, Fortschritt, Zukunftsfestigkeit sind na-türlich nicht die Argumente der Grünen. Sie stellen sichhin und bringen, wie so oft, wieder das Argument desmangelnden Umweltschutzes an. Umweltschutz ist wich-tig, und ich nehme diesen Punkt gerne und mit Freudeauf; denn in diesem Falle kann man ihn eben nicht alsGegenargument ins Feld führen. Das Phantomargumentmangelnden Umweltschutzes kann sogar ganz leicht ent-kräftet werden; denn: In Sachen Naturschutz wurdenbislang alle umweltrelevanten Aspekte berücksichtigt.Geplant sind nämlich Wildbrücken, Unterbauten und so-gar Überflugbrücken für Fledermäuse. Also: Verkehrs-sicherheit nicht nur für die Menschen, sondern auch fürdie Tiere, Wachstumschancen nicht nur für die Wirt-schaft, sondern auch für die Umwelt. Das hat zwar letzt-endlich auch die Kosten in die Höhe getrieben, aber wirunterstützen Entwicklungsmöglichkeiten da, wo sie vie-len nutzen – egal ob Mensch oder Tier.Wenn die Grünen jetzt mit dem Antrag genau diesewichtige Nord-Süd-Verbindung unvollendet lassen wol-len, wenn sie auch hier reflexartig einfach Nein sagen,anstatt zu prüfen und zu bewerten, wenn sie den Kopfschütteln, anstatt die Augen zu öffnen, dann schwächensie den Norden Ostdeutschlands auf unabsehbare Zeit.Doch das ist ihnen offensichtlich egal. Ebenso wie dieTatsache, dass die A 14 bereits unter der rot-grünenBundesregierung im Bundesverkehrswegeplan fest ver-ankert worden ist. Aber wir wollen jetzt nicht zurückbli-cken, sondern nur eines: entschlossen nach vorneschauen und unser Land voranbringen. Wir sind nichtnachtragend, sondern wollen, dass Sie erkennen, wasSie – damals zu Recht – Sinnvolles angestoßen haben.Der Norden Ostdeutschlands liegt zu Unrecht seitJahren in einem verkehrspolitischen Dornröschen-schlaf. Unterstützen Sie jetzt die Menschen vor Ort;denn weitere Jahrzehnte des Stillstands verträgt die Re-gion nicht. Deshalb lassen Sie uns gemeinsam die Re-gion wachküssen. Geben wir zusammen mit dem not-wendigen Verkehrsprojekt wichtige Impulse für dieFlexibilität und für die Wirtschaft. Wir haben in den Pla-nungen für die Verlängerung der A 14 die Umwelt undden Naturschutz nicht aus den Augen gelassen. DieMenschen in dieser Region dürfen wir aber auch nichtvergessen. Deshalb kann ich Ihnen ganz klar sagen:Eine solche Verhinderungspolitik, wie sie in diesem An-trag dokumentiert wird, ist mit den Liberalen nicht zumachen! Der Lückenschluss der A 14 muss unverzüglichangegangen werden. Wahlkampf darf nicht auf denSchultern der Menschen ausgetragen werden.
Große Verkehrsinfrastrukturprojekte bringen mehrWirtschaftswachstum. Dieses Dogma, das von den Be-fürwortern solcher Pläne immer wieder vorgetragenwird, trägt nicht. Auch durch ständige Wiederholungwerden solche Sätze nicht wahrer. Im römischen Senatbeendete Cato seine Reden mit dem Satz: „Und im Übri-gen muss Karthago vernichtet werden“, so heißt es. WirZu Protokollwissen, dass das Beharren auf jenem Dogma später zumUntergang Roms selbst beigetragen hat.Der Antrag der Grünen fordert die Bundesregierungauf, auf die Länder Sachsen-Anhalt, Brandenburg undMecklenburg-Vorpommern einzuwirken, damit diese diePlanungsverfahren einstellen. Dass die Landesregierun-gen das nicht tun werden, weiß man heute schon. Alledrei Landesregierungen wollen die Autobahn bauen.Und sie stützen sich dabei auf breite parlamentarischeMehrheiten. Ohne einen Aushandlungsprozess übersinnvolle und notwendige Alternativen wäre diese Auf-forderung anmaßend.Aber nochmal zurück zum Projekt A 14: Aufschwung,Arbeit und Wohlstand wurden auch bei der Ostseeauto-bahn A 20 versprochen. Dieser Autobahnbau hat eineähnlich hohe ökologische Brisanz wie die A 14. Er be-rührt 19 Flora-Fauna-Habitate und zerschneidet dreiEU-Vogelschutzgebiete. Bei der A 20 kann man heutesagen, dass Aufschwung und Wohlstand für alle nichtstattgefunden haben. Die erwartete wirtschaftliche Ent-wicklung ist nicht eingetreten, dafür haben die dort le-benden Menschen Lärm, Abgase und die Zerschneidungder Region bekommen. Ich will ein weiteres Argumentanbringen, mit dem sich auch die Landesregierungenauseinandersetzen müssen. Die A 14 ist immer als Be-standteil der sogenannten Hosenträgervariante gesehenworden, zu der auch die umkämpfte und umstrittene VW-Autobahn A 39 in Niedersachsen und die B 190 neu ge-hörten. In der gegenwärtigen Bewertung des A-14-Pro-jekts tauchen die einst als so wichtig bezeichneten Pro-jektteile nicht mehr auf. Der „Hosenträgerteil“ A 39 inNiedersachsen ist umstritten. Lediglich die Industrie-und Handelskammern kämpfen tapfer weiter.Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker derLinken haben lange für Alternativen zur A 14 gekämpftund für den Ausbau der B 189 als einer „A 14 light“ ge-worben. Diese Bundesstraße verläuft parallel zur A 14und würde durch ihren Ausbau die Steigerung des Ver-kehrs, die auf der A 14 zu erwarten ist, auffangen. Aller-dings bedeutete diese Variante, dass auch die B 5, dieB 106 und die B 189 noch mehr Verkehr bewältigenmüssten. Für die Anwohner der Stadt Lauenburg hießedas noch mehr des heute schon unerträglichen Lärmsund Drecks, den die Lkws in die Stadt tragen. Hiermüsste gründlich abgewogen werden, ob ein Autobahn-neubau oder ein Bundestraßenausbau eine bessere Lö-sung sein kann. Innerhalb dieser Abwägung wünschteich mir, dass praktikable Lösungen gefunden werden, diejenseits von Dogma und Romantik den Anwohnerinnenund Anwohnern helfen.An dieser Stelle begrüßen wir die – wenn auch späte –Einsicht der Grünen, über die Infrastruktur in diesemGebiet noch einmal nachzudenken. Ich möchte zumin-dest daran erinnern, dass die Grünen selber 2004 be-schlossen haben, dass die A 14 in den Vorrangigen Be-darf aufgenommen wird. Sie distanzieren sich hiermitalso von ihrem Bundesverkehrswegeplan 2003, was ichgrundsätzlich begrüße. Konkret müssten bei diesemNachdenken dann nicht nur Vogelschutzgebiete, sondern
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9512 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
gegebene RedenHerbert Behrens
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vor allem auch die Belastungen der Menschen durchDreck, Lärm und Unfallgefahren berücksichtigt werden.Der Antrag der Grünen geht davon aus, dass Mittel,die beim Autobahnbau gestrichen werden, direkt in denAusbau des Schienennetzes gesteckt werden können. Da-bei übersehen die Grünen aber, dass die Mittel für dieA 14 nicht zweckgebunden im Safe liegen, sondern erstnoch vom Bundestag bewilligt werden müssen. Auch dieLinksfraktion befürwortet den Ausbau der Schiene in derFläche. Wir setzen uns ein für eine deutliche Erhöhungder Mittel für die Investitionen in den Neu- und Ausbauvon Schienenwegen auf 2,5 Milliarden Euro im Jahr. DieGrünen hingegen wollen lediglich 1,8 Milliarden Europro Jahr. Da sind sie ein Stück unglaubwürdig und vorallem auch unsystematisch. Umgeschichtet wird zwi-schen den Verkehrsträgern insgesamt, aber nicht von ei-nem konkreten Straßenprojekt zu konkreten Schienen-projekten.Aus diesen Gründen können wir uns dem Antrag:„Zukunftsfähige Alternativen zur Nordverlängerung derBundesautobahn 14 entwi-ckeln“ mehrheitlich nicht anschließen. Wir werden unsbei der Abstimmung über diesen Antrag mehrheitlichenthalten.
Der geplante Bau der Nordverlängerung der Auto-
bahn 14 von Magdeburg nach Schwerin ist ein beson-
ders absurdes Beispiel für die vorherrschende Verkehrs-
politik in unserem Land.
1,3 Milliarden Euro sollen für die Asphaltpiste durch
Altmark und Prignitz in den Sand gesetzt werden.
Wir sind der Meinung, mit dieser erklecklichen
Summe können wir mehr erreichen, als nur ein 155 Kilo-
meter langes Asphaltband durch die Landschaft zu zie-
hen. Wir können Sinnvolleres für die betroffenen Regio-
nen erreichen, und wir können vor allem Projekte mit
einem höheren verkehrlichen Nutzen realisieren.
Angesichts der knappen Investitionsmittel geht es
künftig darum, angemessene Lösungen zu finden. Auf der
Bundesstraße 189 von Magdeburg nach Stendal – die
derzeit den überregionalen Verkehr aufnimmt – haben
wir heute ein Verkehrsaufkommen von täglich rund
8 150 Fahrzeugen; der Lkw-Anteil liegt bei 10 Prozent.
Wie uns die Zahlen des Bundesamts für Straßenwesen
zeigen, stagniert das Verkehrsaufkommen seit 2005. In
der Prognose, die der A-14-Planung zugrunde liegt, ist
dagegen von 16 000 bis 30 000 Fahrzeugen die Rede,
und man fragt sich angesichts der aktuellen Zahlen, wo
dieses Aufkommen jemals herkommen soll. Aber schon
in den Unterlagen zum Raumordnungsverfahren heißt es
entlarvend: „Die Notwendigkeit der A 14 ist nicht durch
hohe Verkehrsmengen und überlastete Straßenab-
schnitte begründet.“
Genau das ist unser zentraler Kritikpunkt: Der Be-
darf für die Nordverlängerung der A 14 ist bis heute
nicht plausibel nachgewiesen worden. Das heutige und
künftig zu erwartende Verkehrsaufkommen in der Nord-
Süd-Relation Magdeburg–Schwerin rechtfertigt nun ein-
Zu Protokoll
mal keine Maximallösung in Form einer teuren Auto-
bahn, die zudem nicht durchfinanziert ist.
Stattdessen brauchen die Regionen schnell realisier-
bare und vor allem finanzierbare Lösungen. Dazu zählt
unserer Ansicht der angemessene Ausbau des Bundes-
straßennetzes – also der B 189, der B5 und der B 71. Mit
einem Drittel der Kosten des Autobahnbaus lässt sich
die Leistungsfähigkeit dieser Bundesstraßen signifikant
erhöhen. Für diese den örtlichen Gegebenheiten ange-
passten Verkehrsprojekte setzen sich mehrere Bürgerini-
tiativen ein.
Zudem können die für das Autobahnprojekt vorgese-
henen EFRE-Mittel für Bildung, Klimaschutz und die
Förderung klein- und mittelständischer Unternehmen
eingesetzt werden. Das stärkt die Regionen.
Was können wir zusätzlich mit dem eingesparten Geld
in den Regionen alles anschieben? Ganz oben auf der
Liste steht der Ausbau der „Amerikalinie“ Stendal–
Salzwedel–Uelzen, eine Eisenbahnstrecke, die dringend
zweigleisig ausgebaut werden muss. Die Verbindung ist
eine Teilstrecke des sogenannten Korridors Ost, der dem
wachsenden Seehafenhinterlandverkehr dienen soll. Ein
Projekt, das mit einem Nutzen-Kosten-Faktor von 17
aufwarten kann und zudem mit 140 Millionen Euro auch
finanziell überschaubar ist und dem verkehrspolitischen
Ziel dient, mehr Güterverkehr auf die Schiene zu brin-
gen.
Es bleibt also weiteres Geld übrig, mit dem endlich
die Elektrifizierung der Strecke von Lübeck nach Bad
Kleinen finanziert werden kann. Es ist ein verkehrspoli-
tisches Armutszeugnis, dass 20 Jahre nach Vollendung
der staatlichen Einheit immer noch solche Defizite zwi-
schen dem ost- und westdeutschen Eisenbahnnetz beste-
hen.
Jeder Euro für den sinnvollen Ausbau des Bahnnetzes
stärkt die Zukunftsfähigkeit unseres Verkehrssystems.
Wer weg will vom Öl, der muss den Verkehrsträger aus-
bauen, der heute schon weitgehend unabhängig vom
Erdöl ist – also die Bahn. Wer dagegen weiterhin äu-
ßerst zweifelhafte Autobahnprojekte vorantreibt, macht
genau das Gegenteil und verspielt so unsere Zukunft.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Der von den Autobahnen A 2, A 7, A 24 und A 10 um-schlossene Raum ist straßenverkehrlich weit unter-durchschnittlich erschlossen. Betroffen sind sowohl dieAnbindung an das Fernstraßennetz als auch die Qualitätdes vorhandenen Straßennetzes innerhalb dieses Rau-mes. Im Bundesvergleich stellt dieser Bereich einenstrukturschwachen ländlichen Raum mit sehr starkenEntwicklungsproblemen dar. Beispielhaft sind hier fol-gende Strukturmerkmale zu nennen: eine extrem nied-rige Bevölkerungsdichte, eine unzureichende technischeund soziale Infrastruktur, ein eingeschränktes Angebotan öffentlichen Verkehrsmitteln, fehlende Arbeitsplätzeim sekundären und tertiären Sektor, ein geringes Niveauan Investitionstätigkeit, anhaltende Binnenwanderungs-verluste durch die Abwanderung der jungen Bevölke-rung, geringe Geburtenzahlen, die mittel- und langfris-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9513
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Rede von: Unbekanntinfo_outline
(C)
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tig den Bestand der gesellschaftlich und wirtschaftlichfunktionsfähigen Siedlungsräume und Kulturlandschaf-ten gefährden und eine periphere Lage im europäischenIntegrationsprozess mit fehlendem Anschluss an dastranseuropäische Straßennetz.Die Vorhaben der sogenannten Hosenträger-Variante,zu denen der Neubau der A 14 von Magdeburg über Wit-tenberge nach Schwerin, der Neubau der A 39 vonWolfsburg nach Lüneburg, die Schaffung einer leis-tungsfähigen Verbindung zwischen der A 39 und derA 14 im Zuge der B 190n und Weiterführung nach Ostenüber Havelberg bis zu A 24 bei Neuruppin, die Schaf-fung einer leistungsfähigen Verbindung von der A 14 beiWittenberge bis zur B 96 bei Neustrelitz im Zuge derB 189/B 198, der Ausbau der B 188 von der A 14 bisWolfsburg und der Neubau der B 71n im Raum Haldens-leben gehören, haben daher das Ziel, infrastrukturelleDefizite in den direkt betroffenen Regionen zu beseiti-gen. Es geht im Kern also auch darum, den dort leben-den Menschen eine lebenswerte Perspektive zu eröffnen.Vor diesem Hintergrund erscheint es mir geradezu zy-nisch, wenn die Gegner dieses so wichtigen Infrastruk-turvorhabens versuchen, die Umsetzung zu verzögern.mit Klagen, mit der Verbreitung von Halbwahrheiten undmit der Diskussion über Alternativen, von denen doch je-der vernünftige Mensch weiß, dass sie keine sind.Die Strategie, die sich dahinter verbirgt, ist klar: Hiersoll der Öffentlichkeit Sand in die Augen gestreut wer-den, ein sinnvolles Vorhaben soll diskreditiert und dieMenschen sollen verunsichert werden. Ich sage: Das istunanständig!Wer Minderheitsinteressen auf diese Weise durchset-zen will, der vergeht sich nicht nur an den Bürgerinnenund Bürgern in der Altmark, die zu Recht gleiche Chan-cen für ihre Heimatregion einfordern. Wer so handelt, istan fairem Meinungsstreit nicht interessiert, der stellt de-mokratische Grundprinzipien infrage. Das ist nicht ak-zeptabel!Die A 14 stellt ein Verbindungselement zwischen denOberzentren Schwerin, Magdeburg, Dessau, Halle/Leip-zig, Zwickau, Chemnitz und Dresden und der damit ver-bundenen Anbindung an die Metropolregionen Sachsen-dreieck, Hamburg und Bremen-Bremerhaven-Oldenburgdar. Weiterhin wird sie zukünftig zu den bereits vorhan-denen Fernstraßen auf der Nord-Süd-Relation eine Al-ternative für die Routenwahl darstellen und entlastet da-mit die vorhandene Infrastruktur. Insbesondere dieregional bedeutsamen Seehäfen Lübeck, Rostock undWismar können von der verbesserten Anbindung desHafenhinterlands durch den notwendigen und direktenAnschluss an das regionale Straßennetz und das überre-gionale Fernstraßennetz profitieren.Mit dem Neubau dieser Autobahn in einer Region, diedurch besondere Strukturschwäche und schlechte Er-reichbarkeit geprägt ist, wird künftig die zwingend er-forderliche Beteiligung an den Wachstumsprozessen derOberzentren und insbesondere der wirtschaftlich dyna-misch wachsenden Metropolregionen Hamburg undSachsendreieck ermöglicht.Zu ProtokollIm Hinblick auf die im Antrag von Bündnis 90/DieGrünen genannten Prognoseverkehrszahlen ist festzu-stellen, dass gemäß der Verkehrsprognose für dieBAB 14 für das Jahr 2025 Verkehrsbelastungen von20 000 bis circa 39 000 Kraftfahrzeugen pro Werktag zuerwarten sind, wobei die Verkehrsmenge von Nordennach Süden zunimmt. Die Verkehrsbelastungen weisenin allen Prognosen – übrigens trotz rückläufiger Bevöl-kerungszahlen! – nach wie vor auf einen hohen Bedarfhin. Bei den durchgeführten Berechnungen wurden diejeweils zum Zeitpunkt der Bearbeitung verfügbaren An-sätze und Prognosen über die Entwicklung der Sied-lungs- und Wirtschaftsstruktur sowie der Mobilität undüber die jeweiligen Vorstellungen zum Ausbau der Ver-kehrsinfrastruktur herangezogen. Alle Entwicklungsan-sätze und -prognosen wurden im Rahmen der turnusmä-ßig vorgesehenen Fortschreibungen im Rahmen derBundesverkehrswegeplanung weiterentwickelt und zu-letzt mit der bundesweiten Verkehrsprognose für dasZieljahr 2025 in Übereinstimmung gebracht.Im Rahmen der Projektentwicklung für die BAB 14wurden im Vorfeld der Bedarfsüberprüfung in der Bun-desverkehrswegeplanung 2003 in der Verkehrsuntersu-chung Nordost – VUNO, 1995/ 2002 – Netzalternativenzur Verbesserung der Fernstraßenerreichbarkeit imGroßraum zwischen den Metropolräumen Berlin, Ham-burg und Hannover untersucht. Derartige Konzeptalter-nativen enthielten neue und auszubauende Autobahnenund Bundesstraßen in unterschiedlicher Lage und Ver-knüpfung. Sie wurden im Hinblick auf ihre verkehrlichenVor- und Nachteile ausführlich miteinander verglichen.Umweltbelange wurden ebenfalls aufbereitet und in dieAbwägungsentscheidung einbezogen – in einem Maßeübrigens, wie es bislang noch nie der Fall gewesen ist.Die BAB 14 Magdeburg–Wittenberge–Ludwigs-lust–Schwerin wurde als das wirkungsvollste und vor-dringlichste Projekt im Untersuchungsraum ermittelt.Die hohe Wirksamkeit der BAB 14 resultiert aus der di-rekten Nord-Süd-Führung des Trassenkorridors unterEinbeziehung der zentralen Orte – Einwohnerschwer-punkte – Stendal, Wittenberge und Ludwigslust.Die Umweltrelevanz der Netzkonzeptionen wurde imRahmen einer Risikoeinschätzung ermittelt und berück-sichtigt. Auf Basis der zum Zeitpunkt bekannten Natura-2000-Kulisse wurde ermittelt, dass keine mit Natura-2000-Belangen konfliktfreie Lösung vorliegt. Jede Netz-alternative hätte insbesondere die Querung der beson-ders sensiblen Elbeniederung erfordert. Die Ausrich-tung des Trassenkorridors der A 14 auf die StadtlageWittenberge wirkt hier eher positiv.Auf der Grundlage der Ergebnisse der VUNO habensich im Juli 2002 der Bundesminister für Verkehr, Bau-und Wohnungswesen sowie die Fachminister der LänderSachsen-Anhalt, Niedersachsen, Brandenburg und Meck-lenburg-Vorpommern auf die „Hosenträger-Variante“als weiter zu verfolgenden Lösungsvorschlag verständigt.Die einzelnen Netzelemente wurden von den Ländern zurFortschreibung des Fünften Bedarfsplans für Bundes-fernstraßen angemeldet und im Rahmen der BVWP 2003überprüft und bewertet, als Projekte mit vordringlichem
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9514 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9515
Rede von: Unbekanntinfo_outline
(C)
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Bedarf in den Bedarfsplan für die Bundesfernstraßen
übernommen sowie durch das Fernstraßenausbauände-
rungsgesetz 2004 bestätigt. Dem gleichzeitig festge-
schriebenen besonderen naturschutzfachlichen Pla-
nungsauftrag wurde im Rahmen der laufenden
Planungen zu dem Projekt in allen beteiligten Bundes-
ländern selbstverständlich umfassend Rechnung getra-
gen. Die Planungen wurden kontinuierlich den aktuellen
naturschutzfachlichen Anforderungen, beispielsweise
aus dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes zur
A 143, Westumfahrung Halle, angepasst.
Der gegen das Projekt immer wieder ins Gespräch
gebrachte Ausbau der vorhandenen Bundesstraßen ist
im Rahmen einer Null-plus-Variante sehr umfangreich
untersucht worden. Dabei wurde festgestellt, dass eine
den bestehenden Bundesstraßen B 189, B 5 und B 106
folgende Bundesfernstraßenverbindung der Null-plus-
Lösung rund 17 Prozent länger ist als die Vorzugsva-
riante, die gewachsenen Verbindungs- und Anbindungs-
strukturen der vorhandenen Bundesstraßen weitgehend
neu entwickelt werden müssen und vorhandene Fahr-
bahnen der Bundesstraßen nur in Ausnahmefällen ge-
nutzt werden können, die neue Fernstraße nahezu voll-
ständig neu gebaut und zusätzlich das Sekundärnetz in
weiten Teilen ergänzt werden muss, der nach dem Be-
wertungsverfahren ermittelte gesamtwirtschaftliche
Nutzen der Null-plus-Lösung um rund 30 Prozent gerin-
ger ist als bei der Vorzugslösung BAB 14.
Allein schon diese Fakten zeigen, wie substanzlos die
ideologisch geprägte Scheindiskussion über angebliche
Alternativen zum A-14-Lückenschluss ist. Sie ist ge-
nauso falsch und unwahr wie der Hinweis auf die angeb-
lich nicht gesicherte Finanzierung. Eine Lüge wird eben
auch dann nicht zur Wahrheit, wenn man sie oft genug
wiederholt. Denn jeder weiß doch: Schon seit dem Früh-
jahr 2009 gibt es eine solide Finanzierungsvereinba-
rung zwischen dem Bund und den beteiligten Ländern.
Und die hat Bestand!
Auch die Ergebnisse der aktuell vom Bundesver-
kehrsministerium abgeschlossenen verkehrsträgerüber-
greifenden Überprüfung der Ansätze des Bedarfsplanes
ergeben keine Notwendigkeit, die A 14 infrage zu stellen.
Es wurden großräumig wirksame Fernstraßenverbin-
dungen wie die BAB 14 ebenso untersucht wie großräu-
mig wirksame Schienenverbindungen. Mit der Bedarfs-
feststellung für die BAB 14 wurde auf der Ebene der
BVWP auch eine generelle Systementscheidung für den
Verkehrsträger Straße getroffen. Dies ist gleichbedeu-
tend damit, dass alternative Verkehrsträger wie zum Bei-
spiel die Eisenbahn, Ziel und Zweck des Vorhabens nicht
in gleichem Maße erfüllen können. Diese Feststellung ist
im Fall der BAB 14 unter anderem aus folgenden Grün-
den plausibel und sachgerecht: Der Planungsraum der
BAB 14 verfügt über eine überdurchschnittliche Anbin-
dung an das Schienenfernverkehrsnetz. Stendal liegt an
der ICE-Fernverkehrsstrecke Berlin–Hannover und ist
Verkehrsknotenpunkt zwischen dem Fernverkehr und
dem regionalen Schienenverkehr. Eine Bahnverbindung
für den Fernverkehr zwischen Magdeburg und Schwerin
ist ebenfalls bereits vorhanden. Das prognostizierte Ver-
kehrsaufkommen auf der geplanten BAB 14 liegt demge-
genüber um mindestens das 10-Fache höher als die Ver-
kehrsnachfrage auf der vorhandenen Bahnstrecke
Magdeburg–Schwerin. Die Verkehrsnachfrage der
BAB 14 ist daher mit der Verkehrsnachfrage der Bahn-
strecke Magdeburg–Schwerin in der Größenordnung
nicht direkt vergleichbar. Für den Fall, dass die Nach-
frage im Personen- oder im Güterverkehr auf der Bahn-
strecke Magdeburg–Schwerin zunehmen sollte, sind
ausreichende Kapazitätsreserven vorhanden.
Abschließend möchte ich herauszustellen, dass ich
keine Zweifel habe, dass der A-14-Lückenschluss und
die Umsetzung der „Hosenträger-Variante“ für die wei-
tere Entwicklung einer in der Gesamtbetrachtung stark
benachteiligten Region von herausragender Bedeutung
ist. Entgegen der Position von Bündnis 90/Die Grünen
stehen nicht nur der Landtag von Sachsen-Anhalt mit
großer Mehrheit von CDU, SPD und FDP sondern auch
nahezu 90 Prozent der Bevölkerung in der Altmarkre-
gion hinter der Realisierung dieses wichtigen Verkehrs-
projekts.
Gestatten Sie mir eine abschließende Bemerkung. Ich
empfehle jedem, der sich ein objektives Bild über die
Notwendigkeit und die enorme Akzeptanz des A-14-Lü-
ckenschlusses machen will: Fahren Sie in die Altmark,
schauen Sie sich dort um und sprechen Sie mit den Men-
schen, die dort zu Hause sind. Dabei werden Sie eines
wahrscheinlich ziemlich schnell feststellen: Die Bürge-
rinnen und Bürger in dieser Region haben langsam kein
Verständnis mehr dafür, wenn selbsternannte „Berufs-
gutmenschen“, von denen viele nicht einmal in der Alt-
mark wohnen, ihnen ständig erklären wollen, was für sie
das Beste ist. Die Menschen sind alt und klug genug, um
selbst entscheiden zu können. Und ihr Votum ist eindeu-
tig: Sie wollen den A-14-Lückenschluss.
Es wird vorgeschlagen, dass die Vorlage auf
Drucksache 17/4199 an den Ausschuss für Verkehr, Bau
und Stadtentwicklung überwiesen wird. – Damit sind Sie
einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina
Herlitzius, Dr. Harald Terpe, Britta Haßelmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Angebot von Spielhallen mit dem Baugesetz-
buch begrenzen
– Drucksache 17/4201 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Auch hierzu wurden die Reden zu Protokoll gege-
ben.
(C)
(B)
Es ist unstrittig: In den letzten Jahren hat die Anzahl
von Spielhallen, die dem bauplanungsrechtlichen Be-
griff der Vergnügungsstätten zuzurechnen sind, zuge-
nommen. Mit ihrem Antrag wollen die Grünen deshalb
die Baunutzungsverordnung ändern. Es ist kein Geheim-
nis, dass der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und
FDP für das Bauplanungsrecht unter anderem vorsieht,
die BauNVO umfassend zu prüfen. Wie ferner bekannt
ist, laufen zurzeit im dafür zuständigen Bundesministe-
rium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung die Vorbe-
reitungen für die notwendigen Änderungen beim BauGB
und bei der BauNVO. Wir wollen sie nicht einzeln, son-
dern insgesamt in einem Gesetzgebungsverfahren bera-
ten. Es macht wenig Sinn, von der Tierhaltung im Au-
ßenbereich über Kindertageseinrichtungen bis zu den
Vergnügungsstätten jeden Einzelvorgang isoliert durchs
parlamentarische Verfahren zu schicken. Wir sollten bei
unserem Handeln auch an die denken, die in den Kom-
munen damit arbeiten müssen.
Deshalb begrüßt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
den von Bundesminister Dr. Ramsauer eingeschlagenen
Weg, den notwendigen Änderungsbedarf sorgfältig zu
prüfen, um danach in sogenannten Feldversuchen die
Auswirkungen mit den Betroffenen – nämlich den Städ-
ten und Gemeinden – zu bewerten. Dieses Verfahren hat
sich bei allen Baugesetzbuchnovellen, die ich für die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion bearbeiten und begleiten
durfte, sehr bewährt. Und an Bewährtem sollte man
ohne Not nichts ändern. Durch dieses Vorgehen werden
die Kommunen sehr frühzeitig beteiligt. Das ist uns sehr
wichtig.
So hat das Deutsche Institut für Urbanistik, Difu, im
vergangenen Jahr eine Kommunalumfrage zum Novel-
lierungsbedarf bei der Baunutzungsverordnung ausge-
wertet und veröffentlicht, an der sich 158 Städte und
Gemeinden beteiligt haben. Als Ergebnis der Umfrage
kann festgestellt werden, dass das Instrumentarium der
geltenden BauNVO grundsätzlich zur Bewältigung der
anstehenden städtebaulichen Aufgaben ausreicht.
Gleichwohl sieht die kommunale Ebene in Detailfragen
einen Nachbesserungsbedarf. Wir wollen die kommuna-
len Erfahrungen und Auswirkungen nicht ignorieren,
sondern bei den Beratungen zu den notwendigen Geset-
zesänderungen berücksichtigen. So wurde in den vom
Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
lung gemeinsam mit dem Deutschen Institut für Urba-
nistik organisierten „Berliner Gesprächen“ zum Städte-
baurecht, an denen unter anderem Praktiker aus den
Kommunen beteiligt waren, auch die Fragen nach der
Zulässigkeit von Vergnügungsstätten diskutiert. Dort
wurde deutlich, dass bereits das geltende Bauplanungs-
recht den Kommunen erlaubt, die Ansiedlung von Spiel-
hallen, Kasinos und anderen sogenannten Vergnügungs-
stätten in den einzelnen Baugebieten differenziert zu
steuern. Hierbei ist zu beachten, dass die Steuerung im
Allgemeinen die Aufstellung eines Bebauungsplans
durch die Gemeinde erfordert. Nach dem vorliegenden
Bericht über die „Berliner Gespräche“ scheint es au-
ßerdem einen Trend zu geben, moderne Spielzentren mit
Zu Protokoll
mehreren kerngebietstypischen Spielhallen an Ausfall-
straßen in Gewerbegebieten anzusiedeln.
Unabhängig davon wird die im Antrag der Grünen
angesprochene Problematik der Spielsucht gesehen. Zu
Recht hat sich der Gesundheitsausschuss in dieser Wo-
che mit der Suchtprävention auseinandergesetzt und vor
allem die Fragen des Jugendschutzes erörtert. So sind
bei der Glücksspiel-VO Verbesserungen notwendig. Die
Frage, ob das Baurecht das geeignete Instrumentarium
bietet, diese Negativentwicklung zu verhindern, bedarf
einer sorgfältigen Prüfung. Wir haben bereits heute eine
Reihe von planungsrechtlichen Steuerungsmöglichkei-
ten für die Kommunen, die vor Ort angewandt werden
können.
Für CDU und CSU sind die kommunale Selbstver-
waltung und die kommunale Planungshoheit hohe Gü-
ter, die wir stärken müssen. Die Kommunen müssen in
die Lage versetzt werden, eigenverantwortlich zu ent-
scheiden, was für die Bewohner ihrer Stadt oder Ge-
meinde richtig oder falsch ist. Das ist in jedem Fall bes-
ser als Vorgaben aus Berlin oder Brüssel. Wir sollten
prüfen, wie wir im Gesetzgebungsverfahren zum BauGB
und der BauNVO die Steuerungsmöglichkeiten pla-
nungsrechtlich stärken können und wie durch klarstel-
lende Regelungen die Handhabung vor Ort einfacher
wird. Alle paar Wochen einzelne Bestimmungen der
BauNVO herauszufischen und zu ändern, ist kontrapro-
duktiv und verwirrt die Akteure, weil sie zu Recht davon
ausgehen, dass wir – wie in der Koalitionsvereinbarung
festgelegt – in dieser Legislaturperiode die BauNVO
insgesamt in die Hände nehmen.
Wir werden uns im federführenden Bundestagsaus-
schuss Verkehr, Bau und Stadtentwicklung in diesem
Jahr mit dem Bau- und Planungsrecht ausführlich befas-
sen. Dazu gehört neben Fragen zum Bauen im Außenbe-
reich, Klimaschutzfragen im Innenbereich oder im Zu-
sammenhang mit der Zulässigkeit bestimmter Vorhaben
auch die Frage der Genehmigung von Spielhallen. Des-
halb plädiere ich dafür, das Bau- und Planungsrecht im
Gesamtzusammenhang zu sehen und nicht jetzt durch
Aktionismus und Schauanträge in den Städten und Ge-
meinden Verwirrung zu erzeugen. Vor diesem Hinter-
grund lehnen CDU und CSU den Antrag der Grünen ab.
In etwa 8 000 Spielstätten sowie in rund 60 000 Gast-stätten, Beherbergungsbetrieben und bei konzessionier-ten Buchmachern sind nahezu 400 000 münzbetätigteUnterhaltungsautomaten mit und ohne Geldgewinnmög-lichkeit aufgestellt. Ich glaube, unter uns ist niemand,dem sie nicht schon längst aufgefallen sind, die zuneh-mende Zahl der Spielhallen, die in Städten, Gemeindenund Dörfern fast wie Pilze aus dem Boden wachsen.Über diese wollen wir heute sprechen.Manchmal hat man den Eindruck, dass ganze Stra-ßenzeilen in bestimmten Gegenden fast ausschließlichaus solchen Spielhallen und Glückstempeln bestehen,die zwar verdunkelte Fenster haben, sodass man nichthineinsehen kann, aber die dafür umso bunter mitLeuchtreklame oder überdimensionierten Schriftzügen
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9516 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
gegebene RedenDaniela Ludwig
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auf sich aufmerksam machen. Nicht nur mir sind sie einDorn im Auge; aber leider werden offenbar immer mehrvon ihnen eröffnet und immer häufiger Konzessionen fürMehrfachspielhallen und Spiele-Center vergeben. Mankann das Phänomen ein wenig mit Graffiti vergleichen,das zunächst an einer Hauswand prangt und dann einenNachfolgeeffekt auslöst. Wenn dann schließlich eineganze Straßenzeile „zugesprayt“ ist, hat sich längst dieAttraktivität der Straße verändert, Mieter und Ge-schäftsinhaber fühlen sich nicht mehr wohl, und letzt-endlich sinkt der Wohnwert der ganzen Gegend, wassich, wenn man nichts dagegen macht, sogar auf denMietspiegel auswirken kann. Ähnlich verhält es sich inGegenden mit zahlreichen Spielhallen.Was kann man gegen diese Flut tun? Die Spielhallensind kein Gewerbe, das man sich als Nachbar oder Mie-ter eines Hauses unbedingt wünschen würde. Es istleider richtig, dass Städte und Gemeinden nach der be-stehenden Rechtslage immer wieder Spielhallen geneh-migen müssen, wenn die bau- und gewerberechtlichenVoraussetzungen dafür vorliegen. Spielhallen sind nachder Baunutzungsverordnung, BauNVO, sogenannte Ver-gnügungsstätten. Diese sind in Reinen und AllgemeinenWohngebieten unzulässig – §§ 3 und 4 BauNVO –, in Be-sonderen Wohngebieten – § 4 a BauNVO –, Mischgebie-ten – § 6 BauNVO – und Kerngebieten – § 7 BauNVO –sind sie hingegen uneingeschränkt bzw. mit gewissenEinschränkungen zulässig. Besonders im ungeplantenInnenbereich haben die Gemeinden kaum die Möglich-keit, die Ansiedlung einer Spielhalle zu unterbinden.Dies kann bedauerlicherweise auch dann nicht verhin-dert werden, wenn zum Beispiel die Nähe zu Schulen undanderen Jugendeinrichtungen vorliegt, was ich für au-ßerordentlich bedenklich halte.Gerade in diesen Gegenden halten sich viele jungeoder suchtgefährdete Personen auf, die dann möglicher-weise der Verlockung nicht widerstehen können, Geld zugewinnen oder sich im Spiel mit anderen zu messen.Schnell kann man in eine Spirale der Abhängigkeit gera-ten. Deshalb halte ich es grundsätzlich für richtig, denKommunen auch baurechtliche Instrumente für die Ge-nehmigung oder Ablehnung von Spielhallen an die Handzu geben; denn nicht nur der schlechte Ruf eilt diesenVergnügungsstätten voraus, auch die Tatsachen, dassSpielsucht in Deutschland ein echtes Problem darstellt,spricht gegen sie.Natürlich sind die Nutzer dieser Automatenspielhal-len oft normale Menschen wie du und ich, die einfachgerne einmal den Kick eines Automatenspiels erlebenmöchten und die nicht gefährdet sind, spielsüchtig zuwerden. Dennoch: Das sogenannte pathologische Spie-len ist ein eigenständiges psychiatrisches Krankheits-bild, das in den letzten Jahren immer öfter dokumentiertund behandelt wird. Insgesamt geht man von circa100 000 krankhaften Spielern in Deutschland aus, wasunter anderem aus einer Erhebung durch die Bundes-zentrale für gesundheitliche Aufklärung, BZgA, hervor-geht.Jedoch verhehle ich nicht, dass neben dem Gesetzge-ber und Behörden auch die Automatenwirtschaft hierZu Protokollhohe Verantwortung trägt und diese durchaus auch ernstnimmt. Die Branche zeigt den Willen und den Wunsch,Verantwortung zu übernehmen, was sie schon seit eini-gen Jahren erfolgreich durch Selbstbeschränkung alsQualitätsmerkmal verfolgt. So kämpft zum Beispiel derVerband der Automatenwirtschaft gegen die schwarzenSchafe in der eigenen Branche und verlangt von seinenMitgliedern einen hohen Standard und Verantwortungs-gefühl. Im Sinne des vorbeugenden Jugend-Medien-schutzes wurde zum Beispiel von der deutschen Unter-haltungsautomatenwirtschaft die Automaten-Selbst-kontrolle, ASK, eingeführt. Intensive Mitarbeiterschu-lungen und vielfältige Informationen sollen das Auge derMitarbeiter schulen und so dazu beitragen, exzessivemSpielverhalten entgegenzuwirken.Gesetzgeberisches Handeln ist dennoch notwendig.Im Ministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklungliegt die geplante Novelle des BauGB und der BauNVOin den letzten Zügen. Die Beratungen sind fast abge-schlossen, sodass wir im Bundestag diese dann bald inGänze beraten können. Deshalb plädiere ich heute da-für, nicht Einzelpunkte dieser Novelle herauszugreifen,so richtig sie auch sein mögen. Eine allumfängliche Än-derung halte ich für sinnvoll, zumal das Ministerium si-gnalisiert hat, auch Regelungen zu Spielhallen in dieNovelle aufgenommen zu haben. Meines Wissens ist eineentsprechenden Regelung vorgesehen. Wir sind also aufeinem guten Weg.
Spielhallen sind für viele Menschen in Deutschlandzur Spielhölle geworden, für diejenigen, die sich durchdie drastische Zunahme dieser Geschäfte in der Nach-barschaft belästigt fühlen, aber auch für alle, die süchtiggeworden sind – süchtig nach dem Kick am Glücksspiel-automaten. Der Traum vom großen Gewinn und dauerndklingenden Münzen erfüllt sich aber nicht. Spielerinnenund Spieler geraten in einen immer dramatischer wer-denden Abwärtsstrudel. Spielhallen sind ein großes Är-gernis in Deutschland. In vielen Kommunen wird da-rüber geklagt, dass die Spielhallen wie Pilze aus demBoden schießen und kaum noch zu bändigen sind. Es istwie überall: Wo sich ein Markt ergibt, öffnet ein Ge-schäft. Und das hat Auswirkungen – nicht nur auf dieje-nigen, die in eine Spielhalle gehen, sondern auch aufNachbarn oder die Tourismuswirtschaft, die sehenswür-dige Altstädte durch Spielhallen verschandelt sehen.Um des Problems Herr werden zu können, bedarf eseines umfassenden Konzeptes, das die verschiedenenBetroffenen und Betroffenheiten erfasst und ganzheitlichbetrachtet. Dazu gehören zunächst noch stärkere Maß-nahmen gegen die Spielsucht; denn die effektivste Maß-nahme gegen Spielhallen ist dann gegeben, wenn es nie-manden mehr gibt, der sich der Spielsucht in Spielhallenhingibt. Dazu sind frühzeitige Präventionskampagnen,auch und gerade in Schulen und Jugendeinrichtungen,notwendig. Das Lotterie- und Sportwettenmonopol musserhalten bleiben. Wir wollen einen kleinen, einen regu-lierten Markt, auf dem die Suchtbekämpfung ein stärke-res Gewicht erhält.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9517
gegebene RedenHans-Joachim Hacker
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Inwiefern das Angebot von Spielhallen mithilfe desBaugesetzbuches begrenzt werden kann, wie es die Grü-nen in ihrem Antrag fordern, wird bereits seit geraumerZeit unter Fachleuten diskutiert. An dieser Stelle nur einHinweis zur Begrifflichkeit: Der Antrag spricht in derÜberschrift von Begrenzungsregelungen im „Baugesetz-buch“. Tatsächlich wird jedoch eine Änderung derBaunutzungsverordnung gefordert. Experten verweisendarauf, dass es schon jetzt Möglichkeiten gibt, wie dieErrichtung von „Vergnügungsstätten“ – und zu denenzählen offiziell auch die Spielhallen – gesteuert werdenkann. So können alle Arten von Vergnügungsstätten mit-hilfe der Festsetzung von Bebauungsplänen ausge-schlossen werden. Die Kommunen können mit Auflagenbei der Erteilung von Baugenehmigungen verhindern,dass an bestimmten Orten Spielhallen entstehen. DieKommunen können sogar mithilfe der Baunutzungsver-ordnung spezielle Vergnügungsstätten und dabei dannausdrücklich Spielhallen ausschließen oder beschrän-ken. In der Praxis hilft das aktuell in vielen Kommunenjedoch nicht; denn viele Städte und Gemeinden sind vonder Entwicklung der Spielhallen in den letzten Jahrenüberrascht worden. Sie haben vorher keine Bebauungs-pläne aufgestellt oder aber – auch das ist eine Möglich-keit – eine Gemeindekonzeption zur Steuerung von Ver-gnügungsstätten nicht erstellt. Mit diesen bestehendenSpielhallen muss man nun umgehen. Auch deshalb ist eswichtig, das Problem ganzheitlich zu betrachten undnicht auf eine baurechtliche Frage zu reduzieren. DieFrage der Suchtprävention stellt sich umso stärker in al-len Städten und Gemeinden, in denen es bereits einegroße Anzahl Spielhallen gibt. Ich verweise hierbei ins-besondere auf die Antwort der Bundesregierung auf eineKleine Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion „Zukunftdes Glücksspielwesens sowie Prävention und Bekämp-fung von Glücksspielsucht“, Drucksache 17/4358. Dortwerden Hinweise gegeben, mit welchen Projekten derSpielsucht begegnet werden kann. Das reicht aber nochnicht aus. In der Antwort wird auch deutlich, dass Stu-dien ergeben haben, dass genauso von Spielautomatenin Gaststätten Gefahren für Spielsucht ausgehen. Hiersieht man, dass lediglich die Beschränkung der Bau-möglichkeiten von Spielhallen nicht gleich die Spiel-sucht bekämpft, wenn Spielsüchtige dann eben in dienächste Gaststätte an den Automaten gehen oder aberzu Hause im Internet ihrem „Hobby“ frönen.Mit der Föderalismusreform 2006 ist die Kompetenzfür das Spielhallenrecht auf die Länder übergegangen.Es ist zwar wichtig, auch hier im Bundestag diesesThema zu debattieren, jedoch ist der Grünenantrag nurein zahnloser Tiger. Der Vorschlag, Spielhallen in dieGewerbegebiete zu verlagern, löst das Problem nicht,und Appelle an die Länder sind bei dieser Thematik keinzielführender Weg zur Lösung des Problems. Vielmehrkönnen und müssen die vorhandenen Möglichkeiten desBauplanungs- und Bauordnungsrechts schon jetzt aus-geschöpft werden.Ich hatte eingangs bereits auf die negative gesell-schaftspolitische Dimension der Spielsucht hingewie-sen. Diese Feststellung wird belegt durch das Ergebniseiner Expertenanhörung im Gesundheitsausschuss desZu ProtokollBundestages zur Evaluierung der Novelle der Spielver-ordnung, die am 18. Januar 2011 stattfand. DasErgebnis dieser Anhörung kann man in einem Satz zu-sammenfassen: Die Spielverordnung des Bundes mussverschärft werden, um die zunehmende Spielsucht imBereich der Geldspielautomaten wirksam einzudämmen.An die schwarz-gelbe Bundesregierung und die Koali-tionsregierung richte ich den Appell, die Kritik der Ex-perten, die in der Anhörung deutlich wurde, ernst zunehmen. Wenn die Bundesregierung nicht mit wirksamenMaßnahmen gegen die Spielsucht im Bereich der Geld-spielautomaten vorgeht, muss ihr vorgehalten werden,dass sie bewusst eine weitere Zunahme der Zahl derSüchtigen und die daraus resultierenden sozialpoliti-schen Folgen in Kauf nimmt. Auch in diesem Fall musssie sich entscheiden: zwischen einer Klientelpolitik fürdie Automatenindustrie und einer der Gesellschaft inDeutschland verpflichteten Politik der Eindämmung derSpielsucht. Wir müssen gemeinsam mit den Ländern dieGesamtproblematik erörtern und nach wirksamen We-gen suchen, die die Handlungsmöglichkeiten des Staatesverbessern und den Menschen, die spielsüchtig sindoder aber sich auf dem Weg dorthin befinden, Hilfe an-bieten.
Wer die Spielsucht bekämpfen will, tut dies nicht mitdem Baugesetzbuch. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen beantragt, die Baunutzungsverordnung dahingehend zu ändern, dass Spielhallen zukünftig nur nochin Ausnahmefällen außerhalb von Gewerbegebieten zu-lässig sein sollen. Sie erhofft sich von dieser Maßnahme,Spielhallen aus dem Innenstadtbereich – also aus Be-sonderen Wohngebieten, Misch- oder Kerngebieten – zuverbannen. Wer dies fordert, muss sich aber der negati-ven Folgen bewusst sein: In Gewerbegebieten isoliertund konzentriert, werden sich die von Ihnen selbst be-schriebenen typischen Begleiterscheinungen bei ge-werblichen Spielstätten verstärken, also die Beschaf-fungskriminalität und soziale Isolation der pathologischbetroffenen Spieler. Zudem steigt die Gefahr, dass sichzusätzlich illegale Spielstätten etablieren. Gleichzeitigwird in einigen Gewerbegebieten oder Ausfallstraßen, indenen sich Spielbetriebe konzentrieren, bereits heute be-klagt, dass Grundstückspreise und Mieten gebiets- undgewerbsuntypisch steigen. Mit den Möglichkeiten einesSpielbetriebs oder einer Geschäftskette können viele an-dere Gewerbe- oder Handwerksbetriebe, die sich nichtohne Grund in preisniedrigen Außenbezirken angesie-delt haben, oft nicht mithalten. Hier kommt es unter Um-ständen zu nicht unerheblichen Wettbewerbsverzerrun-gen.Ein weiteres gravierendes Problem kommt hinzu: Au-ßerhalb der Kernstädte wird sowohl die soziale Kon-trolle als auch die Durchsetzung der gesetzlichenSchutzbestimmungen erheblich erschwert. Jeder, dersich mit Kriminalstatistiken oder Erfahrungen der ge-werblichen Prostitution beschäftigt hat, muss um dieseGefahren wissen, und jeder muss gewarnt sein. Dies zuignorieren, ist entweder fahrlässig oder Sie müssen sichnach der Ernsthaftigkeit Ihres Anliegens fragen lassen.
Metadaten/Kopzeile:
9518 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
gegebene RedenPetra Müller
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Nur um die große Welle zu machen, wohl wissend, dassder Antrag fachlich kontraproduktiv wirkt, müssen wiruns nicht zur grünen Selbstbespiegelung hier hinsetzen.Für mich als liberale Politikerin noch erschreckenderjedoch ist die Selbstverständlichkeit, mit der Sie meinen,in die Selbstverwaltungsrechte der Kommunen und indie Gewerbefreiheit eingreifen zu können. Beides ist vomGrundgesetz geschützt und Grundpfeiler unseresRechts- und Wirtschaftssystems.Das gewerbsmäßige Aufstellen von Glücksspielauto-maten ist nach § 12 Abs. 1 des Grundgesetzes als wirt-schaftliche Betätigung geschützt. Den Kommunen er-laubt das bereits jetzt geltende Bauplanungsrecht, dieseFreiheit einzuschränken, um damit die Ansiedlung vonSpielhallen, Kasinos und anderen Vergnügungsstätten ineinzelnen Baugebieten differenziert zu steuern und städ-tebaulichen Fehlentwicklungen vorzubeugen. Bei feh-lender Gebietsverträglichkeit kommt § 15 Abs. 1 Satz 1BauNVO zum Tragen, bei Ausschlussfestsetzungen greift§ 1 Abs. 5. Selbst der von Ihnen im Antrag beschriebene„Trading-down-Effekt“ kann nach herrschender Recht-sprechung dazu herangezogen werden, eine Genehmi-gung für eine Vergnügungsstätte zu versagen. NachMeinung der FDP-Fraktion sind diese bestehenden In-strumente völlig ausreichend. Die Baunutzungsverord-nung lässt den Kommunen viel Spielraum und Kreativi-tät für lokale Lösungen. Zuletzt würde ein generellesVerbot der Ansiedlung außerhalb von Gewerbegebietendie Städte und Gemeinden in ihrem gesetzlich geschütz-ten Selbstverwaltungsrecht beschränken.Ich fasse zusammen: Jede weitere bundesrechtlicheEinschränkung der Gewerbefreiheit und der kommuna-len Selbstverwaltung ist in diesem Fall weder notwen-dig, noch entspräche sie unserem freiheitlichen Rechts-und Wirtschaftsgedanken. Einig sind wir uns im HohenHause, dass Automatenspiele die gefährlichste Formder Spielsucht darstellen. Einig sind wir uns auch, dassdie Politik den an der Spielsucht erkrankten Menschenin unserem Land unterstützend zur Seite stehen muss –nicht jedoch im Baugesetzbuch. Den Antrag der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen lehnt die FDP-Fraktiondeshalb ab.
So sehr ich das Anliegen dieses Antrages – wenn das
denn das Anliegen ist –, die Spielsucht einzudämmen
und zurückzudrängen, unterstütze, so sehr zweifle ich
daran, dass das Baurecht dafür ein geeignetes Instru-
ment ist. Vielleicht kann über entsprechende Bestimmun-
gen in der Baunutzungsverordnung das Spielhallenprob-
lem aus den Innenstädten und Wohngebieten verdrängt
und so die Zugangsschwelle für Spielerinnen und Spie-
ler, die noch nicht süchtig sind, erhöht werden. Vielleicht
kann man damit einer Entwertung von Immobilien und
Stadtquartieren, die mit der Nachbarschaft solcher
Spielhallen gestraft sind, entgegenwirken. Das Problem
der Spielsucht, das der vorliegende Antrag zu seiner Be-
gründung benutzt, wird dadurch jedenfalls nicht gelöst.
Im Gegenteil: Dadurch, dass Spielhallen und Spieler
aus Innenstadtlagen in Gewerbegebiete abgedrängt
Zu Protokoll
werden, entzieht sich das Problem höchstens der tägli-
chen öffentlichen Wahrnehmung.
Anstelle kleinerer Spielhallen in den Innenstädten
entstehen dann eben große Glücksspielcenter auf der
grünen Wiese. Spielerinnen und Spieler – und übrigens
auch Spielhallenbetreiber – werden stigmatisiert und
möglicherweise an den Rand der Legalität gerückt. Mit
Verlaub: Das ist genauso wirksam wie die Bekämpfung
der Prostitution durch die Ausweisung von Rotlichtbe-
zirken!
Der Konflikt, mit dem wir es hier zu tun haben, liegt
doch ganz woanders: fast 10 Milliarden Euro Umsatz
der Spielhallen in Deutschland 2009; Umsätze, Ge-
winne und Arbeitsplätze in der Automatenindustrie, Um-
satzsteuer, Gewerbesteuer und Vergnügungssteuer für
die chronisch klammen Kommunen.
Was kann eine Änderung in der Bauordnung dagegen
ausrichten? Und was wollen die Antragsteller entgeg-
nen, wenn die privaten Spielhallenbetreiber auf den
Gleichheitsgrundsatz verweisen und dabei mit dem Fin-
ger auf die ländereigenen Kasinos und Lottoannahme-
stellen zeigen? Wenn wir die Novellierung des Baurechts
dazu nutzen wollen, auch soziale Probleme zu entschär-
fen, bin ich selbstredend dabei. Dann aber konsequent
und gründlich; denn andere Konfliktthemen sind ebenso
drängend wie das hier angesprochene, zum Beispiel die
Bestandsgarantie für Kindergärten und Schulen in
Wohngebieten ebenso wie die Zulässigkeit von Spiel-
und Bolzplätzen sowie anderen Begegnungs- und Erho-
lungsmöglichkeiten dort, wo die Menschen wohnen und
zusammen leben.
Trotz aller Einwände gegen den vorliegenden Antrag:
Wenn Sie mich davon überzeugen, dass die vorgeschla-
genen Änderungen der Baunutzungsverordnung dazu
beitragen, auch nur einen Menschen vor der Spielsucht
zu bewahren, will ich mich dem nicht verschließen.
Gestern fand im Gesundheitsausschuss ein Experten-gespräch zur Evaluierung der Spielverordnung statt.Gegenstand der Anhörung war unter anderem eine ak-tuelle Studie des Instituts für Therapieforschung Mün-chen zu den Auswirkungen der Novelle im Jahr 2006.Die Ergebnisse dieser Studie sind erschreckend: Fast40 Prozent der in Spielhallen befragten Spieler zeigtenSymptome einer Abhängigkeit oder waren zumindest da-bei, eine solche zu entwickeln. Rund 50 Prozent der be-fragten Spieler gaben selbst zu, ihr Spielen nicht mehrunter Kontrolle zu haben. Mehr als die Hälfte der Spie-ler erklärten, dass sie sich wegen des Spielens finanzielleinschränken oder sogar zusätzliches Geld beschaffenmüssten.Wir wissen seit langem, dass Geldspielgeräte inSpielhallen diejenige Glücksspielform sind, die diemeisten Abhängigen hervorbringt. In einem aktuellenModellprojekt der Deutschen Hauptstelle für Suchtfra-gen hatten rund 87 Prozent der Spieler, die in Bera-tungsstellen kamen, ein Problem mit diesen Automaten.Wir sind uns einig, dass ein generelles Verbot des
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9519
gegebene Reden
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9520 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Dr. Harald Terpe
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Glücksspiels oder solcher Spielhallen der falsche Wegwäre. Es geht uns um die Reduzierung des Angebots,denn aus der Suchtforschung ist bekannt, dass die Ver-fügbarkeit einer Droge oder eines Suchtmittels einenwesentlichen Einfluss auf die Zahl der Abhängigen hat.Auch bei Geldspielgeräten wird diese wissenschaftlicheErkenntnis durch Erfahrungen aus der Praxis bestätigt.Genauso wie die Zahl der Spielhallen und Spielgeräte inden letzten Jahren erheblich angestiegen ist, genausostieg auch die Zahl der therapiebedürftigen Spieler.In der bereits erwähnten IFT-Studie geben über dieHälfte der befragten Spieler an, dass sie Spielhallen denstaatlichen Spielbanken vorziehen, weil erstgenanntebesser erreichbar seien. Auch diese Studie belegt also,dass die Verfügbarkeit ein wesentlicher Aspekt für dieEntscheidung ist, an Automaten zu spielen. Viele von unswissen aus der Wahlkreisarbeit: Deutschlandweit habenKommunen seit einigen Jahren mit einer inflationärenVermehrung von Spielhallen zu kämpfen. Auch die Zahlder dort aufgestellten Geldspielgeräte hat um 50 Pro-Entwicklung bestimmter Stadtviertel. Spielhallen gehenoft mit dem sogenannten Trading-down-Effekt einher,das heißt, die Attraktivität einer Straße sinkt, Fachge-schäfte werden durch Ramschläden ersetzt, Mieter zie-hen weg. Die gesamten volkswirtschaftlichen Kosten,die durch diese Begleitprobleme entstehen, dürften er-heblich sein und den Nutzen weit übersteigen.Wir haben diesen Antrag eingebracht, um die Bun-desregierung in die Pflicht zu nehmen. Ihr steht mit derBaunutzungsverordnung ein Instrument zur Verfügung,mit dem sie den Kommunen helfen und die Versuchungfür abhängige oder zumindest gefährdete Menschen ab-mildern kann. Wir fordern die Bundesregierung auf: TunSie etwas gegen dieses Problem! Geben Sie den Kommu-nen mehr Möglichkeiten, sich gegen diese Zunahme vonSpielhallen zu wehren! Begrenzen Sie die Zulassung vonSpielhallen auf Gewerbegebiete, sodass sie nicht mehrdort, wo die Menschen leben, direkt und rund um dieUhr verfügbar sind! Und setzen Sie sich bei den Länderndafür ein, dass keine Mehrfachkonzessionen mehr erteiltzent zugenommen. Die Mittel, die die Kommunen dementgegensetzen können, sind begrenzt. Spielhallen dür-fen nach der Baunutzungsverordnung nur in bestimmtenWohngebieten untersagt werden. Die Bauleitplanung invielen Kommunen hat dieses Problem leider nicht vonAnfang an berücksichtigt. Nachträgliche Änderungensind aufwendig und langwierig. So sind die Kommunenweiterhin verpflichtet, neue Spielhallen zu genehmigen,wenn die bau- und gewerberechtlichen Voraussetzungendafür vorliegen. Zudem werden vermehrt sogenannteMehrfachkonzessionen beantragt, mit denen großeSpielhallenkomplexe betrieben werden können, die sichmit Gastronomieangeboten und anderem den Anscheineiner harmlosen Familienunterhaltung geben.Die Auswirkungen dieser Spielhallenflut sind nichtnur für die Spieler, sondern auch für die Kommunen einerhebliches Problem. Neben einer steigenden ZahlSpielsüchtiger mit allen bekannten Begleiterscheinun-gen wie Verschuldung und Beschaffungskriminalität se-hen wir vielerorts bereits heute negative Folgen für dieund Spielhallen nicht dort zugelassen werden können,wo sich Kinder und Jugendliche aufhalten! Lassen Siedie Kommunen nicht im Stich!
Es wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Druck-
sache 17/4201 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse zu überweisen. – Auch damit sind Sie ein-
verstanden, wie ich sehe. Dann ist auch diese Überwei-
sung so beschlossen.
Schon sind wir am Ende unserer heutigen Tagesord-
nung. Ich danke Ihnen für das lange Ausharren.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 21. Januar 2011,
9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch
einen schönen Abend.