Protokoll:
17084

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 17

  • date_rangeSitzungsnummer: 84

  • date_rangeDatum: 20. Januar 2011

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  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 21:56 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 17/84 Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) . . . . . . . . 9366 D Zusatztagesordnungspunkt 4: Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister für Wirtschaft und Technolo- gie: zum Jahreswirtschaftsbericht 2011: Deutschland im Aufschwung – den Wohl- stand von morgen sichern . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Tagesordnungspunkt 3: a) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Jahreswirtschaftsbericht 2011 (Drucksache 17/4450) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Sahra Wagenknecht (DIE LINKE) . . . . . . . . Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . Garrelt Duin (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . Marlene Mortler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Memet Kilic, Tabea Rößner, Brigitte Pothmer, weiterer Abgeord- 9346 C 9346 C 9369 B 9370 D 9372 B 9374 A 9374 B 9375 B 9376 D Deutscher B Stenografisc 84. Sit Berlin, Donnerstag, d I n h a Wahl der Abgeordneten Sylvia Canel zum or- dentlichen Mitglied und des Abgeordneten Patrick Meinhardt zum stellvertretenden Mitglied in der Parlamentarischen Ver- sammlung des Europarates . . . . . . . . . . . . . Wahl der Abgeordneten Johanna Voß zum ordentlichen Mitglied im Beirat bei der Bun- desnetzagentur für Elektrizität, Gas, Tele- kommunikation, Post und Eisenbahnen . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung des Tagesordnungspunktes 27 a . . Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . . 9345 A 9345 B 9345 B 9346 B 9346 B Jahresgutachten 2010/11 des Sachver- ständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Drucksache 17/3700) . . . . . . . . . . . . . . . . 9346 C undestag her Bericht zung en 20. Januar 2011 l t : Rainer Brüderle, Bundesminister BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD) . . . . . . . . Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) . . . . . . Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Peter Friedrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Hermann Otto Solms (FDP) . . . . . . . . . . . Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . 9346 D 9350 B 9352 A 9354 B 9355 B 9357 A 9359 A 9361 B 9363 B 9365 C neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DI GRÜNEN: Fachkräfteeinwanderung durc ein Punktesystem regeln (Drucksache 17/3862) . . . . . . . . . . . . . . . . . E h . 9378 B II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Bosbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hans-Peter Uhl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Manfred Nink (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) . . . . . . . . . Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . . Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 26: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Arzneimittelge- setzes (Drucksache 17/4231) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 5: a) Antrag der Fraktionen SPD und BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Das ungarische Mediengesetz – Europäische Grund- werte und Grundrechte verteidigen (Drucksache 17/4429) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Daniela Wagner, Ingrid Hönlinger, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bestellerprinzip in die Mietwohnungs- vermittlung integrieren (Drucksache 17/4202) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 27: b) – Zweite Beratung und Schlussabstim- mung des von der Bundesregierung 9378 B 9379 D 9381 D 9383 C 9385 A 9388 A 9389 A 9390 B 9391 C 9393 A 9394 B 9395 C 9397 C 9399 B 9400 B 9401 D 9403 B 9404 D 9406 A 9406 A 9406 B eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 29. März 2010 zwischen der Bundes- republik Deutschland und St. Vin- cent und die Grenadinen über die Unterstützung in Steuer- und Steu- erstrafsachen durch Informations- austausch (Drucksachen 17/3959, 17/4280) . . . . – Zweite Beratung und Schlussabstim- mung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 7. Juni 2010 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und St. Lucia über den Informationsaustausch in Steuersa- chen (Drucksachen 17/3961, 17/4280) . . . . – Zweite Beratung und Schlussabstim- mung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Protokoll vom 17. Juni 2010 zur Änderung des Abkommens vom 8. März 2001 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Malta zur Vermeidung der Doppel- besteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen (Drucksachen 17/3962, 17/4280) . . . . Zusatztagesordnungspunkt 2: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Standpunkt und Konsequenzen der Bundesregierung zum ungarischen Mediengesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Roth (Heringen) (SPD) . . . . . . . . . . Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karl Holmeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Martin Dörmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Werner Hoyer, Staatsminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Hofmann (Volkach) (SPD) . . . . . . . . . Johannes Selle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Axel Schäfer (Bochum) (SPD) . . . . . . . . . . . Burkhardt Müller-Sönksen (FDP) . . . . . . . . . Jürgen Hardt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . 9406 B 9406 C 9406 C 9407 A 9407 B 9408 D 9410 A 9411 A 9412 B 9413 C 9414 D 9416 A 9418 A 9419 B 9421 A 9422 A 9423 B 9423 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 III Tagesordnungspunkt 5: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Bekämpfung der Zwangsheirat und zum besseren Schutz der Opfer von Zwangsheirat sowie zur Änderung wei- terer aufenthalts- und asylrechtlicher Vorschriften (Drucksache 17/4401) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Rüdiger Veit, Daniela Kolbe (Leipzig), Gabriele Fograscher, weiteren Abgeordne- ten und der Fraktion der SPD eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes für ein erweitertes Rückkehrrecht im Aufent- haltsgesetz (Drucksache 17/4197) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Memet Kilic, Volker Beck (Köln), Ekin Deligöz, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Opfer von Zwangsverheiratungen wirksam schüt- zen durch bundesgesetzliche Reformen und eine Bund-Länder-Initiative (Drucksache 17/2491) . . . . . . . . . . . . . . . . d) Antrag der Abgeordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Memet Kilic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Residenzpflicht abschaffen – Für wei- testgehende Freizügigkeit von Asylbe- werbern und Geduldeten (Drucksache 17/3065) . . . . . . . . . . . . . . . . e) Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Sevim Dağdelen, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Menschenrecht auf Freizügigkeit unge- teilt verwirklichen (Drucksache 17/2325) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9424 C 9424 D 9424 D 9425 A 9425 A 9425 B 9426 A 9426 C 9427 A 9428 B 9429 B 9430 C 9431 A 9431 D 9432 B Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aydan Özoğuz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Monika Lazar (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . Monika Lazar (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Josef Philip Winkler (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . Tagesordnungspunkt 6: Antrag der Abgeordneten Burkhard Lischka, Lars Klingbeil, Christine Lambrecht, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Zugangserschwerungsgesetz aufheben – Verfassungswidrigen Zustand beenden (Drucksache 17/4427) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Burkhard Lischka (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . Jimmy Schulz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . Lars Klingbeil (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . Christian Ahrendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 6: Vereinbarte Debatte: Weißrussland – Re- pressionen beenden, Menschenrechtsver- letzungen sanktionieren, Zivilgesellschaft stärken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Link (Heilbronn) (FDP) . . . . . . . . . . Uta Zapf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karl-Georg Wellmann (CDU/CSU) . . . . . . . . Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . 9433 B 9434 C 9436 B 9437 C 9438 A 9439 B 9440 B 9440 C 9441 D 9442 D 9442 D 9442 D 9444 A 9445 D 9447 A 9447 C 9449 A 9450 B 9451 B 9451 D 9452 C 9452 D 9454 B 9456 A 9457 B 9458 B 9459 B 9460 B IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jürgen Klimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 7: Vereinbarte Debatte: Arbeitsprogramm der Europäischen Kommission für das Jahr 2011 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Werner Hoyer, Staatsminister AA. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Roth (Heringen) (SPD) . . . . . . . . . . . Thomas Dörflinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Andrej Hunko (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heinz-Joachim Barchmann (SPD) . . . . . . . . . Detlef Seif (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 8: Antrag der Abgeordneten Dr. Dagmar Enkelmann, Roland Claus, Diana Golze, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Fortsetzung der Braunkohlesanie- rung in den Ländern Brandenburg, Sach- sen, Sachsen-Anhalt und Thüringen nach dem Jahr 2012 (Drucksache 17/3046) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Roland Claus (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Michael Luther (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Dr. Peter Danckert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Heinz-Peter Haustein (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jens Koeppen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 9: Unterrichtung durch den Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung: Bericht des Parlamentarischen Beirats für nach- haltige Entwicklung zum Indikatorenbe- richt 2010 des Statistischen Bundesamtes und 9460 C 9461 B 9461 C 9462 C 9462 D 9464 A 9465 B 9466 C 9467 C 9468 C 9469 C 9470 C 9472 A 9473 A 9473 B 9473 D 9475 B 9476 B 9477 B 9478 B Erwartungen an den Fortschrittsbericht 2012 zur nationalen Nachhaltigkeitsstrate- gie der Bundesregierung (Drucksache 17/3788) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrike Gottschalck (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dorothee Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Daniela Ludwig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 10: Antrag der Abgeordneten Petra Crone, Angelika Graf (Rosenheim), Bärbel Bas, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Mehrgenerationenhäuser erhalten und weiterentwickeln – Prävention stärker för- dern (Drucksache 17/4031) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Petra Crone (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katharina Landgraf (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Heidrun Dittrich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Nicole Bracht-Bendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Dagmar Ziegler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 11: Beschlussempfehlung und Bericht des Sport- ausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: 12. Sportbericht der Bun- desregierung (Drucksachen 17/2880, 17/3110 Nr. 5, 17/4420) Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Fraktion der SPD: Nichtstaatliche militärische Sicherheitsunternehmen regis- trieren und kontrollieren (Drucksache 17/4198) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 13: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichts- verfahren und strafrechtlichen Ermitt- lungsverfahren (Drucksache 17/3802) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9479 B 9479 C 9481 A 9482 B 9483 C 9484 B 9485 B 9486 B 9486 C 9487 C 9488 D 9489 D 9490 D 9491 B 9492 B 9493 A 9494 A 9494 B 9494 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 V Tagesordnungspunkt 14: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Abge- ordneten Jan van Aken, Christine Buchholz, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Beziehungen der Europäischen Union mit Afrika solida- risch und gerecht gestalten (Drucksachen 17/3672, 17/4466) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 15: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Anpassung des deutschen Rechts an die Verordnung (EG) Nr. 380/ 2008 des Rates vom 18. April 2008 zur Än- derung der Verordnung (EG) Nr. 1030/ 2002 zur einheitlichen Gestaltung des Auf- enthaltstitels für Drittstaatenangehörige (Drucksachen 17/3354, 17/4464) . . . . . . . . . . Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Daniela Kolbe (Leipzig) (SPD) . . . . . . . . . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 16: a) Antrag der Abgeordneten Krista Sager, Kai Gehring, Priska Hinz (Herborn), wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Einen Pakt für den wissenschaftlichen Nach- wuchs und zukunftsfähige Personal- strukturen an den Hochschulen initi- ieren (Drucksache 17/4203) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, Nicole Gohlke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Wissenschaft als Beruf attrak- tiv gestalten – Prekarisierung des aka- demischen Mittelbaus beenden (Drucksache 17/4423) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 17: Erste Beratung des von den Abgeordneten Christine Lambrecht, Sonja Steffen, Dr. Peter Danckert, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs ei- nes … Gesetzes zur Änderung der Zivilpro- zessordnung (§ 522 ZPO) (Drucksache 17/4431) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9494 C 9494 D 9495 A 9496 A 9496 D 9497 B 9498 B 9499 B 9499 B 9499 C Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU) . . . . . . . . Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mechthild Dyckmans (FDP) . . . . . . . . . . . . . Jens Petermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 18: Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Men- schenwürdiges Existenzminimum für alle – Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen (Drucksache 17/4424) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 19: Antrag der Abgeordneten Stephan Kühn, Winfried Hermann, Dr. Anton Hofreiter, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Zukunftsfähige Al- ternativen zur Nordverlängerung der Bundesautobahn 14 (Magdeburg–Schwe- rin) entwickeln (Drucksache 17/4199) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dietrich Monstadt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Hans-Joachim Hacker (SPD) . . . . . . . . . . . . Jens Ackermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Karl-Heinz Daehre, Minister (Sachsen-Anhalt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 20: Antrag der Abgeordneten Bettina Herlitzius, Dr. Harald Terpe, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Angebot von Spiel- hallen mit dem Baugesetzbuch begrenzen (Drucksache 17/4201) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9499 C 9501 C 9502 B 9502 D 9503 B 9504 A 9504 B 9505 B 9506 A 9507 B 9507 D 9508 B 9509 A 9509 A 9510 A 9511 B 9512 B 9513 A 9513 D 9515 D VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 Peter Götz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Daniela Ludwig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Hans-Joachim Hacker (SPD) . . . . . . . . . . . . . Petra Müller (Aachen) (FDP) . . . . . . . . . . . . Heidrun Bluhm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Erklärung der Abgeordneten Britta Haßelmann im Namen der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung und den Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenar- beit und Entwicklung zu dem Antrag der Fraktion DIE LINKE: Beziehungen der Europäischen Union mit Afrika solidarisch und gerecht gestalten (Tagesordnungs- punkt 14) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: 12. Sportbericht der Bundesregierung (Tages- ordnungspunkt 11) Klaus Riegert (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Martin Gerster (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dagmar Freitag (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Günther (Plauen) (FDP) . . . . . . . . . Frank Tempel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Christoph Bergner, Parl. Staats- sekretär BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Nichtstaatliche militärische Si- cherheitsunternehmen registrieren und kon- trollieren (Tagesordnungspunkt 12) Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . . Henning Otte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 9516 A 9516 D 9517 C 9518 C 9519 B 9519 D 9520 D 9521 A 9521 B 9521 C 9523 C 9524 A 9524 D 9525 C 9526 B 9527 B 9528 B 9529 D Dr. Rolf Mützenich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) . . . . . . . . . Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über den Rechts- schutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (Tages- ordnungspunkt 13) Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Edgar Franke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Jens Petermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesministerin BMJ . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Beziehungen der Europäischen Union mit Afrika solidarisch und gerecht gestalten (Ta- gesordnungspunkt 14) Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karin Roth (Esslingen) (SPD) . . . . . . . . . . . . Joachim Günther (Plauen) (FDP) . . . . . . . . . Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Einen Pakt für den wissenschaftlichen Nachwuchs und zukunftsfähige Personal- strukturen an den Hochschulen initiieren – Wissenschaft als Beruf attraktiv gestalten – Prekarisierung des akademischen Mittel- baus beenden (Tagesordnungspunkt 16 a und b) Monika Grütters (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 9530 C 9532 A 9532 D 9533 C 9534 B 9536 A 9537 B 9538 A 9538 D 9539 C 9540 D 9542 B 9543 B 9544 A 9545 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 VII Tankred Schipanski (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Swen Schulz (Spandau) (SPD) . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP) . . . . . . Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9546 A 9547 A 9548 A 9549 B 9550 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9345 (A) (C) (D)(B) 84. Sit Berlin, Donnerstag, d Beginn: 9
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    Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9521 (A) (C) (D)(B) Europäischen Union mit Afrika solidarisch und gerecht gestalten“ (Tagesordnungspunkt 14) strumentalisierung und Vereinnahmung, sei es rechts- oder linksextremistischer Natur. Wie wir alle zur Genüge Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Erklärung der Abgeordneten Britta Haßelmann im Namen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Ab- stimmung über die Beschlussempfehlung und den Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem An- trag der Fraktion Die Linke „Beziehungen der Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Bär, Dorothee CDU/CSU 20.01.2011 Barthle, Norbert CDU/CSU 20.01.2011 Bülow, Marco SPD 20.01.2011 Burchardt, Ulla SPD 20.01.2011 Connemann, Gitta CDU/CSU 20.01.2011 Fischbach, Ingrid CDU/CSU 20.01.2011 Friedhoff, Paul K. FDP 20.01.2011 Funk, Alexander CDU/CSU 20.01.2011 Hoppe, Thilo BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 20.01.2011 Kruse, Rüdiger CDU/CSU 20.01.2011 Dr. Lehmer, Max CDU/CSU 20.01.2011 Meinhardt, Patrick FDP 20.01.2011 Nord, Thomas DIE LINKE 20.01.2011 Remmers, Ingrid DIE LINKE 20.01.2011 Scholz, Olaf SPD 20.01.2011 Dr. Steffel, Frank CDU/CSU 20.01.2011 Dr. Strengmann-Kuhn, Wolfgang BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 20.01.2011 Tressel, Markus BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 20.01.2011 Zimmermann, Sabine DIE LINKE 20.01.2011 Anlagen zum Stenografischen Bericht Ich erkläre im Namen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, dass unser Votum „Ja“ lautet. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: 12. Sportbericht der Bundesregierung (Tagesordnungspunkt 11) Klaus Riegert (CDU/CSU): Mit Blick auf das Jahr 2011 und den 12. Sportbericht der Bundesregierung freue ich mich sehr, auf die beachtlichen Erfolge der Sportpolitik und des organisierten Sports zurückzubli- cken und zugleich auch auf künftige Vorhaben und Er- eignisse vorauszuschauen und aufmerksam zu machen. Der 12. Sportbericht der Bundesregierung dokumentiert hierbei über den Zeitraum von 2006 bis 2009 auf mehr als 130 Seiten sehr umfangreich die sportpolitischen In- halte und Maßnahmen der Bundesregierung in Koopera- tion mit dem organisierten Sport. Neben der Retrospek- tive werden hierbei erstmals – im Kapitel „Gegenwärtige Planungen und Perspektiven“ – auch zukünftige Vorha- ben und Projekte benannt. Der Entschließungsantrag der Koalitionsfraktion mit dem Titel „Den Sport in seiner Gesamtheit fördern: Chancen einer vernetzten Sportpoli- tik“ bezieht sich in 16 thematischen Punkten bzw. Ab- schnitten insbesondere auf diese im Sportbericht be- schriebenen, künftigen Vorhaben. Wer immer noch glaubt, dass es beim Sport einzig und allein um Bewegung oder Körperertüchtigung geht – oder in den Worten von Sepp Herberger, „das Runde ins Eckige“ zu befördern –, der irrt gewaltig. Der Sport in Deutschland ist zentraler Bestandteil des sozialen Zu- sammenlebens und spielt mittlerweile in beinah fast al- len gesellschaftlichen Bereichen eine wichtige Rolle. Und: Der Sport stellt sich im Rahmen seiner Möglich- keiten verantwortungsvoll eben auch fundamentalen He- rausforderungen unserer Zeit – sei es im Blick auf die Bildung und soziale Teilhabe, den demografischen Wan- del, im Blick auf die Integration und Inklusion, die Um- welt und Nachhaltigkeit oder gar den Frieden und die Völkerverständigung. Der Sport verbindet Menschen und trägt das Potenzial der gesellschaftlichen Verände- rung, Dynamik und Erneuerung in sich. Aber auch nega- tiven Begleiterscheinungen und Gefahren des Sports, wie zum Beispiel Doping, Gewalt, Homophobie, sexuel- ler Missbrauch oder auch politischer Extremismus, wird durch eine verantwortungsvolle Sportpolitik Rechnung getragen und zusammen mit dem organisierten Sport entschlossen begegnet. Lassen Sie mich kurz den letzten Punkt noch einmal betonen, weil dieser mit der Kommunismusdebatte ge- rade auch wieder aktuell diskutiert wird. Die Politik und auch der Sport wehren sich zusammen gegen jegliche In- 9522 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 (A) (C) (D)(B) wissen, wurde der Sport im Nationalsozialismus wie auch im Kommunismus missbraucht und gegen jegliches Verständnis von Fair Play, gegenseitiger Anerkennung, Freiheit und Gleichheit ins Gegenteil verkehrt. Politi- scher Extremismus hat im Sport keinen Platz. Die Sportpolitik des Bundes unterstützt den Sport bei seinen vielfältigen Aufgaben seit Jahren auf hohem und solidem finanziellem Niveau. Unter der Prämisse eines strikten Kurses der Haushaltskonsolidierung des Bundes – und zudem in Zeiten von Finanzkrisen – konnten dabei die Belastungen für den Sport in vertretbaren Grenzen gehalten werden. Zudem ist das Verhältnis zwischen Politik und dem Deutschen Olympischen Sportbund, DOSB, von Vertrauen und konstruktiver Zusammenar- beit gekennzeichnet. Auf der Grundlage der Autonomie des Sports und des Subsidiaritätsprinzips wird die Sportförderung mit den angesprochenen, vielfältigen Themen nunmehr einem ganzheitlichen Sportverständnis stärker gerecht. Hierbei wird der Sport mit seinen unterschiedlichen Funktionen und Potenzialen nicht mehr isoliert oder gar reduktionis- tisch allein nach ministerieller Zuständigkeit betrachtet, sondern in seiner Gesamtheit bereichsübergreifend und in Zusammenhang mit den jeweilig gesellschaftlichen Wechselwirkungen gesehen und entsprechend gefördert. Auch der Sport als Ganzes ist mehr als die Summe sei- ner Teile. Den Sport in seiner Gesamtheit zu fördern be- deutet demnach – entgegen einem monokausalen Ver- ständnis – zukünftige Chancen einer interdependenten und vernetzten Sportpolitik stärker zu ergreifen. Der Grundsatz, über den eigenen Tellerrand und die zum Teil spezifische Zuständigkeit hinauszuschauen, nach Verbindungslinien und Anknüpfungspunkten zu su- chen sowie sprichwörtlich das große Ganze dabei nicht aus den Augen zu verlieren, ist gleichzeitig auch Ar- beitsauftrag. Oder in anderen Worten: Durch interminis- terielle Kooperationen, durch inhaltliche und institutio- nelle Verflechtungen, durch Verknüpfungen zwischen verschiedenen Organisationen und politischen Ebenen bzw. Feldern wird ein Mehrwert für den Sport in unserer Gesellschaft geschaffen. Diesen Mehrwert gilt es vor dem Hintergrund eines ganzheitlichen Sportverständnis- ses und einer vernetzten Sportpolitik zu ergreifen. Doch um welche inhaltlichen Projekte, Vorhaben und sportpolitischen Maßnahmen geht es hierbei? Und wie werden diese entsprechend des vorher dargestellten ganzheitlichen Sportverständnisses realisiert? Auch wenn in Verbindung zum Entschließungsantrag der Ko- alitionsfraktion nicht auf alle 16 Punkte bzw. Abschnitte und schon gar nicht auf alle Verbindungslinien in ihrer Vollständigkeit und Komplexität eingegangen werden kann, möchte ich Ihnen drei Beispiele nennen sowie auf weitere Topthemen verkürzt eingehen: So steht beispielsweise die Förderung Dualer Karrie- ren von Spitzenathleten – mit der Vereinbarkeit von Beruf/Ausbildung oder Studium mit dem Spitzensport – neben anderen wichtigen Themen im Fokus sportpoliti- scher Bemühungen. Dies schließt aber unlängst auch die Förderung dualer Karrieren von Spitzensportlern mit Be- hinderungen ein. So konnten in Kooperation zwischen einer Vielzahl von Ministerien und Bundesbehörden so- wie in enger Abstimmung mit dem Bundesministerium des Innern einzelfallbezogene Lösungen und bedarfsge- rechte Angebote für behinderte Sportlerinnen und Sport- ler geschaffen werden. Ebenso ist auch die stärkere Ein- bindung des Bundesinstituts für Sportwissenschaft in die deutsche Forschungslandschaft mit interdisziplinären Förderschwerpunkten und Nutzung verschiedener, sich daraus ergebender Synergieeffekte ein durch und durch positives Beispiel in diesem Zusammenhang. Dass Sportpolitik als Querschnittsaufgabe unter- schiedlicher Politikfelder und -ebenen und als Koopera- tion zwischen Bund, Ländern sowie entsprechenden Or- ganisationen verstanden und auch umgesetzt werden kann, zeigt sich nicht zuletzt am Beispiel von Jugend trainiert für Olympia, dem Schulsport oder dem Nationa- len Aktionsplan „IN FORM – Deutschlands Initiative für gesunde Ernährung und mehr Bewegung“. Hierbei wer- den Ziele der Bildung, Werteerziehung und der Gesund- heitsprävention miteinander verbunden und in intermi- nisteriellen Arbeitsgruppen unter Einbeziehung der Länder und Kommunen weiterentwickelt. Auch zeigt im Besonderen unsere Unterstützung der Bewerbung Münchens zusammen mit Garmisch-Parten- kirchen und der Kunsteisbahn Königssee um die Austra- gung der Olympischen und Paralympischen Winter- spiele 2018, dass wir uns für Nachhaltigkeit, Umwelt- und Klimaschutz im Sport einsetzen. Dabei zeichnet sich im internationalen Vergleich die Bewerbung München 2018 vorbildlich durch das umfassende, und rund 100 Millionen Euro schwere Umweltkonzept im Bewer- bungsetat aus. Dies wird anerkennend im Ausland sogar als wegweisend bezeichnet, übertrifft bisherige Stan- dards von Olympischen Spielen und setzt neue Maßstäbe in Sachen Nachhaltigkeit. Selbst versierte Sportpolitiker von Bündnis 90/Die Grünen würdigen die Bewerbung als „durch und durch ökologisches Konzept“. Dies än- dert sich auch nicht durch die Tatsache, dass die Mehr- heit der Grünen die Meinung ihrer Experten ignoriert und nach dem Motto „Destruktion statt Partizipation“ kurz vor Mitternacht und innerhalb einer Viertelstunde Beratung sich mit dem Parteitagsbeschluss gegen das Großprojekt stellt. Fernab besseren Wissens um die Fak- ten und somit jedweder Vernunft und jedweden Verant- wortungsgefühls ging es hier wohl eher um eine grund- sätzliche Verdrossenheit gegenüber der Moderne. Der Rückzug von Claudia Roth aus dem Kuratorium der Be- werbung zeigt nicht zuletzt den fehlenden Willen der Grünen, die Bewerbung München 2018 unter ökologi- schen Gesichtspunkten konstruktiv zu begleiten. Gleich- wohl des nicht nachzuvollziehenden Rückzuges der Grü- nen bestehen für das Projekt München 2018 weiterhin sehr gute Chancen. Auf dem weiteren Weg und Goldkurs zu München 2018 können die Bewerber, Athleten und begeisterten Wintersportzuschauer in Deutschland auch weiterhin auf die kraftvolle Unterstützung durch die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag bauen. Nochmals: Die Austragung von internationalen Sportgroßveranstaltungen des Behinderten- und Nicht- behindertensports gehen weit über das singulare Sport- event und Ereignis hinaus. Auch bei der Bewerbung Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9523 (A) (C) (D)(B) Münchens um die Winterspiele 2018 gilt es ebenso, die mit dem Sportevent verbundenen Chancen übergreifend für zum Beispiel die Sportentwicklung, die olympische Erziehung, die ökologische Vereinbarkeit und Nachhal- tigkeit, die Integration bzw. Inklusion, für die Optimie- rung einer leistungsfähigen Verkehrsinfrastruktur oder einen friedlichen Internationalismus zu ergreifen. Neben nationalen und internationalen Dimensionen des Sports und vermeintlichen Superlativen bleibt der Sport letztlich das, was die Menschen und Bürger in un- serem Land daraus machen. In Deutschland engagieren sich 23 Millionen, circa 36 Prozent, der Bürgerinnen und Bürger freiwillig und unentgeltlich in Sportvereinen, So- zialverbänden oder anderen Organisationen und leisten dabei einen unschätzbaren Beitrag für und in unserer Zi- vilgesellschaft. Dabei profitieren vom bürgerschaftli- chen Engagement im Sport das soziale Umfeld wie auch die Freiwilligen selbst. Die CDU/CSU-Bundestagsfrak- tion hat sich dabei für den Ausbau und die Förderung des Ehrenamtes stark gemacht und wird sich auch wei- terhin kraftvoll dafür einsetzen. In Verbindung zur Na- tionalen Engagementstrategie der Bundesregierung oder zum Europäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit 2011 in der EU setzen wir uns mit dem Entschließungsantrag ebenso dafür ein, das Ehrenamt im Sport weiter zu stär- ken. Im Zuge der Reform der Bundeswehr und des Zivil- dienstes gilt es, mögliche Perspektiven für das Freiwil- lige Soziale und Ökologische Jahr im Sport aufzuzeigen. Auch der neue Bundesfreiwilligendienst – offen für alle Generationen – ist eine große Chance für die Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements im Sport. Mit viel Eigeninitiative und Kreativität leben die Bürgerinnen und Bürger eine solidaritätsstiftende und demokratische Kultur. Allen ehrenamtlich Engagierten möchte ich an dieser Stelle für ihr soziales Engagement, für das sie sich im Alltag mit viel Herzblut und großer Leidenschaft ein- setzen, herzlich und nachdrücklich danken. Wie bereits angedeutet ließe sich noch viel länger und ausführlicher über den 12. Sportbericht der Bundesregie- rung und die 16 thematischen Punkten des Entschlie- ßungsantrages der Koalitionsfraktion berichten. Der An- trag reicht in der inhaltlichen Auseinandersetzung und sportpolitischen Agenda von Themen, wie zum Beispiel „der Sport als Schlüssel sozialer Inklusion und gesell- schaftlichen Teilhabe“, über „Förderung des bürger- schaftlichen Engagements im und durch Sport“ bis hin zu beispielsweise „neueren Entwicklungen im Antido- pingkampf“. An dieser Stelle kann ich nur auf unseren Antrag verweisen und um Unterstützung bitten. Ich möchte aber auch abschließend nicht missen, ein paar Worte zu den mehr als knappen und recht ideen- schwachen Beiträgen der Opposition insgesamt Stellung zu verlieren. Der im 12. Sportbericht der Bundesregie- rung genannten sportpolitischen Agenda mit den beacht- lichen Erfolgen der Vergangenheit und einem zielgerich- teten und innovativen Maßnahmenpacket für die Zukunft scheint die Opposition – quantitativ wie auch qualitativ – nicht mehr viel hinzufügen zu können. Ob- gleich sie interessante und zum Teil aktuelle Einzelthe- men anspricht, beziehen sich diese leider nur selten auf den Sportbericht und auf künftige Vorhaben. Diese Rat- und Perspektivlosigkeit zeigt sich auch in jenen Vor- schlägen der Opposition, die einzig formalstrukturelle Aspekte der Gliederung des Sportberichtes betreffen oder sich auf vom BMI bereits angekündigte Ergänzun- gen im 13. Sportbericht beziehen. Ich blicke zusammen mit meinen engagierten, vom Sport begeisterten Kollegen mehr als optimistisch in die Zukunft und auf das Sportjahr 2011. Die mit Spannung und Vorfreude erwartete FIFA-Frauenfußball-WM im ei- genen Land, die Entscheidung um die Austragung der Olympischen und Paralympischen Winterspiele 2018, weitere bedeutende nationale und internationale Sport- wettkämpfe bis hin zu den Aktivitäten in jedem einzel- nen Sportverein veranlassen mich, nochmals zu wieder- holen: Der Sport ist in der Gesamtheit mehr als die Summe seiner Teile. Lassen Sie uns gemeinsam – für den Sport in unserer Gesellschaft – im Sinne einer ver- netzten Sportpolitik diese Chancen weiter stärker nut- zen. Martin Gerster (SPD): Die SPD-Fraktion würdigt den 12. Sportbericht der Bundesregierung. Die Jahre 2006 bis 2009, um die es im Bericht im Wesentlichen geht, sind gute Jahre für den Sport gewesen. Sie waren geprägt von zahlreichen sportlichen Erfolgen und einer soliden Finanzierung sowie Verbesserungen der Rah- menbedingungen für den Sport, unter anderem durch das Gesetzespaket „Hilfen für Helfer“. Wir als SPD-Fraktion und der damalige Finanzminister Peer Steinbrück haben das entscheidend vorangetrieben. Es ist uns auch ein Anliegen, den zahlreichen für den Sport engagierten Menschen für die gute, sachorientierte Zusammenarbeit und ihren Einsatz zu danken. Der Sport ist nach wie vor eine große Bürgerbewegung, die weit- gehend von vielen Ehrenamtlichen getragen wird. Für zahlreiche wichtige Bereiche der Gesellschaft bringt der Sport enormen Benefit, beispielsweise bei der Prävention und Rehabilitation, aber auch bei der Integra- tion von Menschen unterschiedlicher Herkunft, unter- schiedlicher gesellschaftlicher Milieus und Generatio- nen. Insbesondere für Menschen mit Handicap entwickelt der Sport eine unglaubliche Integrationskraft. Mit großer Sorge sehe ich aber, dass Sport sowohl beim Deutschen Olympischen Sportbund, bei der Regie- rung, aber auch bei den Medien zusehends auf Olympia und olympische Disziplinen und auf Medaillenspiegel reduziert wird. Dem gilt es entgegenzuwirken. Nichtolympische Sportarten sind olympische Sportar- ten von morgen und verdienen daher mehr Beachtung, als dies im Sportbericht der Bundesregierung der Fall ist. Wir haben bei der Debatte im Sportausschuss beantragt, der Arbeit, dem Engagement und den Erfolgen im nichtolympischen Sport stärker Rechnung zu tragen. Bis heute ist mir unklar, wieso dieses Anliegen von den Re- gierungsfraktionen nicht unterstützt wird. Für großen Ärger bei den Sportverbänden hat im letz- ten Jahr die Tatsache gesorgt, dass die Zuwendungsbe- scheide des Bundes für 2010 erst Ende August zugestellt und die Fördermittel zum Teil erst im September über- 9524 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 (A) (C) (D)(B) wiesen worden sind. Das hat den einen oder anderen Verband in finanziell schwierige Situationen gebracht; teilweise mussten Verbände Kredite aufnehmen, um Ge- hälter der Trainer oder Angestellten bzw. Wettkampfge- bühren zahlen zu können. Ich bin der Meinung, das darf sich nicht wiederholen. Hier muss die Bundesregierung dafür sorgen, dass die Bescheide frühzeitig zugestellt werden und die Fördermittel zu Jahresbeginn bereitste- hen. Zu kritisieren ist auch, dass die mit den einzelnen Sportverbänden getroffenen Zielvereinbarungen wie Ge- heimpapiere unter Verschluss gehalten werden. Allein schon aus Transparenzgründen ist es unabdingbar, dass der Steuerzahler erfährt, welcher Sportverband wofür wie viel Fördermittel erhält. Erstaunlich ist im Übrigen, welche früheren Forderun- gen urplötzlich unter den Tisch gefallen sind und nicht im Entschließungsantrag der Koalition stehen: Über Jahre hat die FDP mehr Geld für Sportstätten gefordert. Kaum an der Regierung – schon vergessen. Über Jahre hat die FDP gefordert, dass der Sport ins Grundgesetz aufge- nommen wird. Kaum an der Regierung – schon verges- sen. Schade, Chance verpasst! Dagmar Freitag (SPD): Der 12. Sportbericht der Bundesregierung lässt unseren Blick zurückgehen auf den Zeitraum 2006 bis 2009; also eine Zeit, in der Deutschland ohne ständiges Gezänk, sondern weitge- hend geräuschlos und verlässlich von der Großen Koali- tion regiert wurde. Diese Verlässlichkeit findet sich konsequenterweise auch im 12. Sportbericht wieder. Neben der Sicherstel- lung einer stabilen Finanzierung des Spitzensports auf hohem Niveau im Einzelplan 06 oder der Unterstützung der Stiftung Deutsche Sporthilfe wurden beispielsweise auch die Ansätze im Einzelplan 05 des Auswärtigen Am- tes von 2 768 Millionen Euro in 2006 auf 5 272 Millionen Euro hochgefahren: Ausdruck der großen Wertschätzung des Sports auch auf dem Feld der Krisenprävention oder beim Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen durch den damaligen Außenminister Steinmeier. Über die Mittel- kürzungen von Schwarz-Gelb in diesem und anderen Be- reichen werden wir uns bei der Debatte zum 13. Sportbe- richt dann ausführlicher unterhalten. „Größter und unverzichtbarer Förderer des Sports ist die Öffentliche Hand“, heißt es auf Seite 17 des Berichts – richtig! Der Steuerzahler als Hauptsponsor; da sollte man doch meinen, dass Parlament und Bundesregierung als seine Vertreter auch Rechte gegenüber dem Zuwen- dungsempfänger hätten. Gab es im 10. Sportbericht ne- ben dem unstrittigen Verweis auf die Autonomie des Sports noch den Hinweis, dass sich „für den Sport als Bestandteil der Gesellschaft insbesondere da Konse- quenzen ergeben, wo die Vergabe öffentlicher Mittel an die Einhaltung gesetzlich normierter Rahmenbedingun- gen geknüpft ist“, finden wir seit 2006 unter Punkt 5.1 nun folgende Kernformulierung: „Jede sportpolitische Maßnahme muss in Anerkennung der Unabhängigkeit und des Selbstverwaltungsrechts des Sports erfolgen, der sich selbst organisiert und seine Angelegenheiten selber regelt“; von denkbaren Konsequenzen ist hingegen keine Rede mehr. Dass solch eine Formulierung just im Jahr 2006, kurz nach Gründung des DOSB, den Weg in den Sportbericht der Bundesregierung fand, ist aber sicher nur ein zeitlicher Zufall. Glücklicherweise muss man sich diese Lesart der Bundesregierung nicht zu eigen machen, schon mal gar nicht als Parlamentarier. Bereits seit Jahren diskutieren wir über die Wege zu einer erfolgversprechenden und effektiven Dopingbe- kämpfung. Der Weg dahin ist steinig, und die bisherigen Schritte können aus unserer Sicht nur Zwischenetappen sein. Die Verschärfung der gesetzlichen Vorschriften im Jahr 2007 war nur ein kleiner Schritt, ein großer Wurf scheiterte an unserem Koalitionspartner und der massi- ven Einflussnahme durch den organisierten Sport. Aller- spätestens nach der Evaluation dieser Maßnahmen wer- den wir die Diskussion über weitere Maßnahmen wieder auf der Tagesordnung haben, da bin ich sicher. Dieser Sportbericht sollte erstmalig auch einen Blick in die sportpolitische Zukunft werfen. Hierzu gehört auch die Entwicklung der Nationalen Anti Doping Agentur – finanziell wie strukturell. Welche Maßnahmen der Bundesregierung sind vorgesehen, um die NADA bei wachsenden Aufgaben zu stärken? Wie sieht die Bundesregierung den starken Einfluss des Sports auf die NADA? Hierzu finde ich nichts im Bericht – aber diesen und anderen Fragen im Kampf um einen sauberen Sport dürfen wir uns nicht entziehen. Dass wir uns dieser Auf- gabe stellen, kann ich für meine Fraktion versichern. Joachim Günther (Plauen) (FDP): Die FDP-Frak- tion im Deutschen Bundestag begrüßt, dass im 12. Sport- bericht der Bundesregierung die Bedeutung des Sports in all seinen Facetten dargelegt wird – vom Breitensport bis zum Spitzensport. Der Bericht selbst stellt vorrangig die Maßnahmen der Sportpolitik des Bundes dar, dokumen- tiert aber auch, dass Bund, Länder und Kommunen als Gesamtheit wirken müssen, um optimale Ergebnisse zu erzielen. Waren frühere Berichte eher vergangenheitsbe- zogen, so ist der 12. Sportbericht der Bundesregierung nunmehr erstmalig auch mit konkreten Planungen und Perspektiven versehen, wie das Niveau des Spitzen- sports in Deutschland gehalten werden soll. So ist die Unterstützung für die Olympiabewerbung Münchens 2018 ein zukunftsweisender Schritt, um Deutschland als Gastgeber großer Sportveranstaltungen noch mehr zu etablieren. Die Begeisterung, die dabei von Fans und Aktiven gleichermaßen getragen wird, schweißt zusammen und lässt jede Integrationsdebatte viel leichter erscheinen. Daher fordern wir die Bundesre- gierung auf, die Olympiabewerbung Münchens 2018 auch weiterhin kraftvoll zu unterstützen sowie die sich bietenden Chancen der Sportentwicklung, der olympi- schen Erziehung, der ökologischen Vereinbarkeit und Nachhaltigkeit, der Integration und der Völkerverständi- gung zu nutzen. Die ablehnende Haltung der Grünen be- kräftigt deren Haltung als Dagegen-Partei. Und dabei zeichnet sich dieses Bewerbungskonzept sehr vorbild- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9525 (A) (C) (D)(B) lich dadurch aus, dass es mit seinem Umweltkonzept auch klare Bekenntnisse zu diesen Fragen enthält. Aber auch hier haben sich die Grünen wie bei Stuttgart 21 alle vorherigen Überlegungen aus dem Kopf geschlagen und rennen nur noch ihrer Wahlkampfstrategie hinterher. Doch ist der Sport nicht nur wichtig für die Gesund- heit, das Wohlbefinden und die Integration, sondern auch für die Wirtschaft. Man schätzt, dass der Sport als Wirt- schaftsfaktor einen Anteil von 1 bis 3 Prozent zum Brut- toinlandsprodukt der EU-Mitgliedstaaten beiträgt. Daher begrüßen wir auch das gemeinsame Vorgehen von BMI und BMWi bei der Initiative „Sport und Wettbewerb“. Eine Anpassung der europäischen Wettbewerbsregeln an sportrelevante Sachverhalte ist dringend notwendig, um Rechtssicherheit zu schaffen und die Finanzierung des Breitensports, die zum Teil auch aus Einnahmen der Ver- bände stammt, zu sichern. Von unschätzbarem Wert ist auch das ehrenamtliche Engagement für das Sportsystem in Deutschland. Bedau- erlicherweise ist die Anzahl freiwillig Engagierter in Sportvereinen rückläufig, dennoch entspricht deren Ar- beitsleistung einer jährlichen Wertschöpfung von 6,6 Mil- liarden Euro. Das ist beachtenswert! Diesen engagierten Bürgern gebührt unsere Anerkennung und unser Dank. Um erfolgreich Sport zu treiben und auch im interna- tionalen Vergleich wettbewerbsfähig zu sein, müssen ausreichende Trainingsmöglichkeiten vorhanden sein. Wir wollen die Erhaltung der Trainingsanlagen in unse- ren Bundesstützpunkten und unserer Wettkampfpro- gramme. Dies sollte territorial ausgewogen sein, sodass eine möglichst große Anzahl an Regionen von der An- siedlung profitiert. So haben wir zum Beispiel in Ober- hof und Ruhpolding große Stadien, in denen unter ande- rem die Biathlonwettbewerbe ausgetragen werden, die mehrere Tausend Zuschauer anlocken. Den Sport zu den Menschen zu bringen und neue internationale Wettbe- werbe durchzuführen, das ist ein wichtiges Instrument zur Gewinnung neuer Sportler. Dass das funktioniert, zeigen Veranstaltungen wie der Parallelslalom in Mün- chen und der Biathlon auf Schalke. Doch hat der Sport auch seine Schattenseiten. Wir müssen weiterhin unablässig Doping bekämpfen. Das ist die Grundlage für die Chancengleichheit im Sport. Die NADA hat dabei meiner Meinung nach eine weltweite Vorreiterrolle eingenommen. Es fehlt jedoch nach wie vor an einer besseren internationalen Abstimmung der Dopingbekämpfung. Ohne diese Abstimmung und An- gleichung wird auch die Chancengleichheit verschoben. Das müssen wir ändern. Entwicklungsmöglichkeiten ha- ben wir auch, wenn es um die duale Karriere unserer Spitzensportler geht. Das funktioniert bei der Bundes- polizei und beim Zoll zum Beispiel recht gut. Diesen Weg müssen wir weiter ausbauen. Wir müssen uns Ge- danken darüber machen, wie wir dies über Sponsoring, eventuell auch mit Wirtschaftsunternehmen aufbauen können. Dass der Sport nunmehr auch im Lissabon-Vertrag in seiner gesellschaftlichen Bedeutung gewürdigt wird, be- grüßen wir ausdrücklich, jedoch ist die Beachtung und Wahrung der Autonomie des Sports auch weiterhin uner- lässlich, gerade in juristischer Hinsicht. Die Sportge- richtsbarkeit ist auf jeden Fall zu erhalten, sonst gehören übersichtliche und faire Wettkämpfe der Vergangenheit an. Die Entschließungsanträge der Opposition, die sich auf rein formal-strukturelle Aspekte der Gliederung des Sportberichts beschränken, haben aus meiner Sicht zum Teil die Form einer Alibiveranstaltung. Korruptionsbe- kämpfung wird durch andere Behörden durchgeführt. Die von der SPD eingebrachten Änderungsanträge sind ausführlich beraten worden bzw. finden sich in der Glie- derung wieder. Aus diesen Gründen lehnen wir diese Anträge ab. Frank Tempel (DIE LINKE): Der vorliegende Sport- bericht der Bundesregierung stellt fest – das möchte ich ganz vorn anstellen –, dass unsere Republik sowohl im Breitensport als auch im Spitzensport einiges aufzuwei- sen hat. Das kann auch ruhig einmal gelobt werden. Von einem Bericht der Bundesregierung erwarte ich aber mehr als nur die einseitige Betrachtung positiver Bilan- zen. Selbstzufriedenheit bedeutet Stillstand, und Still- stand ist häufig der erste Schritt zurück. Ist denn wirk- lich alles super und das war’s dann? Muss ein solcher Bericht nicht noch viel stärker erkannte Probleme auf- zeigen? Muss er nicht auch Aufgabenstellungen für die Politik auflisten und die Differenzen zwischen Gewoll- tem und Erreichtem untersuchen? Die Fraktion Die Linke möchte bei aller Würdigung des Erreichten die Gelegenheit nutzen, noch einmal ei- nige Aufgaben für die Zukunft aufzuzählen. Im Bericht wird auf die Entwicklung der Mitgliederzahlen in den Vereinen eingegangen. Was fehlt, ist die Frage, inwie- weit der Zugang zum Sport, zu den Sportvereinen, jedem Bürger möglich ist. Wie sieht es denn für Bürger mit ge- ringem Einkommen aus? Wie sieht es ganz besonders für die Kinder und Jugendlichen in einkommensschwa- chen Familien aus? Ist es nicht so, dass ihre Möglichkei- ten nach wie vor stark eingeschränkt sind? In Ihrem Be- richt spielt diese Frage überhaupt keine Rolle. Ich hoffe, dass dies im aktuellen Vermittlungsausschuss zum Harz-IV-Regelsatz und zum Bildungspaket eine Rolle spielt! Bisher hat man davon allerdings nichts gehört. Es geht aber nicht nur um die Zugangsmöglichkeiten für Einkommensschwache. Wie sieht es mit den Mög- lichkeiten für Menschen im ländlichen Raum oder für Menschen mit Behinderungen aus? Sehen sie dort keine Probleme? Ist da alles gut und fertig? Ich weiß ja, dass fast alle von Ihnen auch aktiv in ihren Wahlkreisen un- terwegs sind. Es wird Ihnen im Kontakt mit den Verei- nen doch aufgefallen sein, dass die Baustellen noch rie- sengroß sind. Die Zuständigkeit ist hier sehr schnell auf die Ländern geschoben. Es wurde aber in den letzten Jahren durchaus gezeigt, dass auch der Bund seinen An- teil leisten kann, wenn die politische Bereitschaft dazu vorhanden ist. Die größten Defizite liegen in den neuen Bundesländern. Auf Seite 129 im Sportbericht finden sie solche Zahlen: In Baden-Württemberg sind rund 35 Pro- zent der Bevölkerung im Deutschen Olympischen Sport- bund (DOSB) organisiert, in Thüringen rund 16 Prozent, 9526 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 (A) (C) (D)(B) ebenfalls rund 36 Prozent in Rheinland-Pfalz, in Sachsen nur rund 13 Prozent. Im Bericht finden Sie Zahlen, aber keine Erklärung dafür. Immerhin war es richtig und not- wendig mit dem „Goldenen Plan Ost“ diese Defizite ab- zubauen. Marode Sportstätten sollten hier saniert wer- den. Der Gedanke war richtig, und es sind auch Ergebnisse da. Laut Ihrem Bericht ist dieser Plan nun 2009 ausgelaufen. „Ersatzlos gestrichen“ ist da doch wohl etwas präziser. Die Bezeichnung „ausgelaufen“ lässt den Eindruck entstehen, die Aufgabe sei erfüllt. Das wollen Sie doch aber nicht ernsthaft behaupten?! Alleine in meinem Landkreis kann ich Ihnen genü- gend Beispielen von maroden Sportstätten nennen. In ei- ner Stadt ist es die Kegelbahn, die wegen baulicher Män- gel keine Spielzulassung erfährt, in einer anderen Stadt ist es nicht möglich, für einen Fußballverein mit sechs Kindermannschaften, einer Frauenmannschaft, zwei Männermannschaften und einem Altherrenteam wenigs- ten einen zusätzlichen Bolzplatz für das Training zu be- kommen. Die Kommunen und Länder fühlen sich finanziell zu einer Lösung nicht mehr in der Lage, und im Bericht der Bundesregierung findet all dies keine Er- wähnung. Ich sage es nochmal: Es ist wirklich schon einiges er- reicht worden, und es gibt viele Länder, die sich deut- sche Möglichkeiten in der Sportentwicklung wünschen. Wenn das aber so bleiben soll, muss aber auch von allen Seiten etwas dafür getan werden. Investitionen in den Breitensport, insbesondere in den Kinder- und Jugend- sport, rentieren sich für die Gesellschaft mehrfach. Ich rede von Gesundheitspolitik, von Sozialpolitik und ganz sicher auch von Kriminalprävention. Ich rede von der Wichtigkeit funktionierender Vereinsstrukturen mit al- lem dazugehörigen Ehrenamtsengagement für das Zu- sammenleben in unseren Städten und Gemeinden. Ich fordere deswegen nochmals im Auftrag meiner Fraktion: Der Goldene Plan muss wieder aufgenommen werden und auf die strukturschwachen Regionen der al- ten Bundesländer ausgeweitet werden! Die Arbeit der Vereine gerade mit hohem Nachwuchsanteil muss unbe- dingt durch einen öffentlichen Beschäftigungssektor ge- fördert werden. Mit dieser personellen Unterstützung könnte auch eine Begleitung der Programme gegen Rechtsextremismus erreicht werden. Es ist gut, dass es viele solcher Programme gibt – aber das Problem selbst ist doch noch nicht behoben. Der Bericht erweckt den falschen Eindruck, man habe alles im Griff, aber so weit sind wir noch lange nicht. Der Sportbericht der Bundesregierung muss in Zu- kunft mehr leisten als nur Selbstlob. Wir wollen weiter- kommen, weiterentwickeln – und dazu gehört eben auch ein Bericht über die Probleme und Herausforderungen. Das Ziel muss bleiben, jedem Bürger in diesem Land ei- nen einfachen Zugang zum Sport zu ermöglichen. Ein vollständiger Bericht muss zeigen, wie weit wir davon noch entfernt sind. Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Lassen Sie mich zunächst einige grundsätzliche Bemer- kungen zum 12. Sportbericht der Bundesregierung ma- chen. Aus meiner Sicht ist es gut, dass wir den Bericht haben. In solcher Art und Ausführlichkeit gib es dies in keinem anderen Politikfeld. Ich möchte deswegen ein di- ckes Lob für die umfassende Recherchearbeit ausspre- chen, die dem zugrunde liegt. Der Sportbericht der Bun- desregierung hat mir und meinen Mitarbeitern über die Jahre immer dabei geholfen, über die Situation im Sport auf dem Laufenden zu sein und Bilanz zu ziehen. Er- wähnen möchte ich, dass sich der Sportbericht über die Jahre entwickelt und zum Positiven verändert hat. Er ist mittlerweile sehr neutral und sachlich, was ich schätze. Perfekt ist er aber noch immer nicht. In zukünftigen Sportberichten der Bundesregierung sollten Probleme in verschiedenen Bereichen deutlich thematisiert und mög- liche Lösungsalternativen aufgezeigt werden. Wir Sport- politiker haben dann zwischen dem einen oder dem an- deren zu entscheiden. Beispielhaft hierfür stehen die Probleme bei der Na- tionalen Anti Doping Agentur (NADA), bei der es in kurzer Zeit zu viele Geschäftsführerwechsel gab und die Organisationsstruktur offensichtlich nicht optimal war. Auch die unzulängliche Dopingprävention von der Bun- desregierung über die NADA bis zu den Ländern und Verbänden, nach wie vor ein Stiefkind, will ich an dieser Stelle erwähnen. Willensbekundungen alleine reichen nicht aus. Hier muss deutlich mehr kommen, und ich er- warte Vorschläge der Regierung, wie es in den nächsten Jahren weitergehen soll. Auch sollte aufgezeigt werden, wie die Länder, der organisierte Sport und die Wirtschaft besser einbezogen werden können. Ein anderes Beispiel sind, die Vorgänge in der Sport- medizin in Freiburg, die im Kapitel „Dopingbekämp- fung“ beschrieben werden. Es wird erwähnt, dass keine Bundesmittel berührt worden sind, und damit war Schluss. Hier würde ich mir wünschen, dass dort auch steht: Der Fall Freiburg hat gezeigt, dass es strukturelle und diverse andere Probleme gab. Die Politik muss sich nun darüber Gedanken machen, wie sie in Zukunft ver- hindern kann, dass etwas Ähnliches nochmals geschieht und wie oder welche Kontrollmechanismen eingebaut werden müssen. Dann die Studie „Kiggs“ zur Fitness und Bewegung von Kindern und Jugendlichen: Anfang 2001/2002 gab es die Überlegung, diese zu unterstützen. Sie ist im Sportbericht auch aufgearbeitet worden, und es wird da- rauf hingewiesen, dass die Studie abgeschlossen worden ist. Mich interessiert aber auch: Wo und wie geht es wei- ter? Haben wir als Sportausschuss hierzu einen Hand- lungsbedarf oder ein eigenständiges Interesse, müssen wir das unterstützen oder überlassen wir das dem Ge- sundheitsministerium? Ein eigenes Kapitel, in dem alle vier Jahre über den Fitness- und Gesundheitszustand von Kinder- und Jugendlichen berichtet wird, ist wünschens- wert. Insgesamt brauchen wir noch mehr Ehrlichkeit und weniger Schönfärberei. Nur so kommen wir auf Dauer weiter. Vieles ist zwar schon gut oder über die Jahre gut geworden. Aber es gibt weiterhin viel zu tun. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9527 (A) (C) (D)(B) Eine Bemerkung noch zum Kapitel über Sport, Um- welt und Natur. Dieser Bereich ist im Sportausschuss eher nebensächlich, fällt im Sportbericht aber erfreuli- cherweise relativ ausführlich aus und zeigt, dass im Be- richtszeitraum viel passiert ist, was ich ausdrücklich gut- heiße. Leider existiert der „Beirat für Umwelt und Sport“ seit einem Jahr nur noch auf dem Papier. Die Bundesregierung hat ihn seitdem nicht mehr einberufen. Dies ist eines der vielen Versäumnisse dieser Regierung. Ich würde gerne wissen, wie ernst man das wirklich nimmt. Wann wird der „Beirat für Umwelt und Sport“ wieder ins Leben gerufen? Der Sportbericht ist für uns gewissermaßen auch ein Arbeitsbuch mit Aufträgen für die nächsten Jahre. Ich sehe diesbezüglich klare Schwerpunkte weiterhin im Anti-Doping-Kampf. Hier muss unter anderem eine bes- sere Präventionsstrategie und -praxis erarbeitet werden. Es genügt nicht die WADA-Kriterien formaljuristisch zu erfüllen. Wir wollen den Geist eines sauberen, manipula- tionsfreien Sports bis in den letzten Winkel der Sport- welt getragen sehen. Unter Manipulation fällt allerdings nicht nur Doping. Eine bisher stark unterschätzte Gefahr ist der Wettbetrug und die Korruption. Nach Expertenmeinungen haben wir hier bisher nur die Spitze des Eisberges gesehen. Im Ver- gleich zu anderen Bereichen der Gesellschaft, in denen ähnlich viel Geld bewegt wird, muss man davon ausge- hen, dass da noch viel Unentdecktes unter der Oberflä- che lauert. Die besonderen Strukturen im Sport – häufig mit alten Seilschaften und engen persönlichen Kontakten der Beteiligten – lassen viel Raum für Fantasie. Immer wieder kommen ja auch Fälle von Korruption und per- sönlicher Bereicherung ans Tageslicht – in großem Aus- maße bisher vornehmlich im internationalen Bereich. Es wäre jedoch naiv, zu denken, dass wir in Deutschland auf einer Insel der Glückseligen leben. Aus diesem Grund fordern wir in unserem Antrag, in zukünftigen Sportberichten ein eigenes Kapitel mit der Berichterstat- tung darüber zu machen, was im Bereich der Verbände, von Landesregierungen, Bundesregierung sowie auf in- ternationaler Ebene getan wird, um Korruption und Ma- nipulation zu bekämpfen. Weitere Initiativen in dieser Hinsicht bereiten wir vor. Es wäre auch wünschenswert, von der Bundesregierung Vorschläge in dieser Richtung zu hören. Erfreulicherweise äußerte sich der Vertreter des Bundesinnenministeriums im Sportausschuss äu- ßerst wohlwollend zu unserem Antrag, sodass wir davon ausgehen, dass unsere Anregung aufgenommen wird und im nächsten Sportbericht ihren Niederschlag findet. Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister des Innern: „Wir wissen, dass Sport für die Aktivierung und den Zusammenhalt einer modernen Gesellschaft unverzichtbare Beiträge leistet und dass Deutschland auf großartige Traditionen und Leistungen im Sport verweisen kann, die es zu bewahren und zu ent- wickeln gilt.“ Dies ist der erste Satz des Koalitionsver- trages zum Thema Sport. Er könnte aber auch zugleich das Motto des 12. Sportberichts der Bundesregierung sein. Dieser gibt einen umfassenden Überblick über die Sportpolitik in den Jahren 2006 bis 2009. Zudem richtet er – aufgrund des Beschlusses des Deutschen Bundesta- ges vom 5. Juni 2010 – erstmals den Blick nach vorn. Der Sportbericht zeigt eindrucksvoll, dass die Sportpoli- tik nicht nur eine Sache des Sportministeriums ist. Na- hezu alle Ressorts leisten bedeutsame Beiträge. Ich möchte mich heute auf einige Eckpunkte des 12. Sportberichts beschränken, da wir den Bericht im Sportausschuss ausführlich beraten haben. Wir blicken auf erfolgreiche Jahre der Sportförderpolitik zurück und wollen dies in Zukunft so fortsetzen. Im Mittelpunkt steht entsprechend der Zuständigkeit des Bundes die Spitzensportförderung. Die wichtigste Voraussetzung ist, für eine solide fi- nanzielle Förderung des Spitzensports auf hohem Ni- veau zu sorgen. Die Sportförderung der Bundesressorts betrug im Be- richtszeitraum circa 832 Millionen Euro. Aus dem Etat des BMI mit rund 559 Millionen Euro konnte der vom DOSB im Jahr 2007 vorgelegte Stufenplan „Zur Zu- kunftsfähigkeit der Spitzensportförderung in Deutsch- land“ in den wesentlichen Punkten umgesetzt werden. Ich bin sicher, dass wir auch künftig im internationalen Sport eine führende Rolle unter den Sportnationen ein- nehmen werden. lm Koalitionsvertrag finden wir den Hinweis auf die duale Karriere, die auch Spitzensportlern mit Behinde- rung ermöglicht werden soll. Dieses Ziel konnten wir bereits umsetzen. Ab diesem Jahr gibt es einen Stellen- plafond im Umfang von zehn Stellen, um Sportlerinnen und Sportlern mit Behinderung den Zugang zu einer „dualen Karriere“ zu ermöglichen. Eine unbestrittene Schlüsselaufgabe für Politik und Gesellschaft ist die Integration. Auch hier leistet der Sport bereits einen wichtigen Beitrag. Wir haben in der Vergangenheit – nicht zuletzt bei der Fußball-WM in Südafrika – immer wieder erleben können, wie gegen- seitiges Verständnis und Respekt über kulturelle, sprach- liche und soziale Grenzen hinweg aufgebaut werden konnten. Die Bundesregierung hat bereits seit 1989 das vom BMI finanzierte Programm „Integration durch Sport“ umgesetzt. Im Berichtszeitraum wurde das Pro- gramm erneut mit einer beträchtlichen Summe unter- stützt. Wir Sportpolitiker fühlen uns neben der Begeisterung für den Sport auch dafür verantwortlich. Entwicklungen entgegenzutreten, die die Werte des Sports gefährden. Die Bundesregierung setzt daher konsequent ihre Linie fort, nur in einen sauberen Sport zu investieren, in dem Doping und Betrug keinen Platz haben. Auf diesem Gebiet sind wir im Berichtszeitraum ein großes Stück vorangekommen. Wir haben konsequente Anti-Doping- Arbeit geleistet und eine für manchen Verband schmerz- hafte Überprüfung durchgeführt. Dies ist national und international gewürdigt worden. Unser Augenmerk wer- den wir künftig noch stärker auf die Präventionsarbeit richten. Der im Jahr 2009 unterzeichnete Nationale Do- pingpräventionsplan muss nun mit Leben gefüllt wer- den. 9528 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 (A) (C) (D)(B) Daneben werden wir das Gesetz zur Verbesserung der Bekämpfung des Dopings im Sport bis Oktober 2012 evaluieren. Dabei wird ein wissenschaftlicher Sachver- ständiger einbezogen, der im Einvernehmen mit dem Deutschen Bundestag noch bis Mitte dieses Jahres be- stellt werden wird. Auch im Sport sagen wir dem Rechtsextremismus den Kampf an. Vorgestern wurde in Berlin das „Hand- lungskonzept zur Förderung von Toleranz und Mensch- lichkeit“ vorgestellt. Ich bin davon überzeugt, dass Sport und Politik auch bei diesem Thema auf einem guten ge- meinsamen Weg sind. Zum Schluss möchte ich noch kurz auf die mit Span- nung erwartete Entscheidung über die Bewerbung Mün- chen 2018 eingehen. Mit der Abgabe des Bid Books ist der Kampf um die Winterspiele 2018 nun in die ent- scheidende Phase getreten. Die Bundesregierung unter- stützt die Bewerbung auf nationaler und internationaler Ebene. Die drei Weltmeisterschaften in Bayern in die- sem Winter sind glänzende Plattformen, Deutschland im Vorfeld der IOC-Entscheidung international zu präsen- tieren. So hoffen wir alle darauf, dass am 6. Juli 2011 in Durban der Startschuss für ein „Wintermärchen 2018“ fällt. Die Begeisterung für den Sport und seine Werte ver- eint uns alle, und der 12. Sportbericht zeichnet davon ein eindrucksvolles Bild. Ich habe mich sehr darüber ge- freut, dass der Bericht im Sportausschuss fraktionsüber- greifend als Gewinn für den Sport gelobt wurde. Wir werden die eingebrachten Anregungen der Fraktionen für den nächsten Sportbericht aufgreifen. So werden wir einen eigenen Abschnitt zum Thema „Dopingbekämp- fung“ aufnehmen und auch die Ergebnisse der „World Games“ angemessen darstellen. Für ihren fachkundigen Einsatz, aber auch für manche durchaus lebhafte, aber immer konstruktive Diskussion im Berichtszeitraum möchte ich mich ganz herzlich hier bei allen Mitstreitern für den Sport bedanken. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Nichtstaatliche mili- tärische Sicherheitsunternehmen registrieren und kontrollieren (Tagesordnungspunkt 12) Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): Seit 20 Jahren, seit dem Fall des Eisernen Vorhangs, ist nicht nur unsere Gesellschaft von Veränderungen und Umwälzungen betroffen, sondern im besonderen Maße auch unser Verständnis von Sicherheitspolitik. Ein sichtbarer Höhe- punkt dieser Transformation ist die anstehende Umstruk- turierung der Bundeswehr, die eine erhebliche Reduzie- rung von Soldatinnen und Soldaten und hoffentlich auch Beamtinnen und Beamten der Bundeswehr mit sich bringt. Es wäre falsch, die Reform allein auf den personellen Abbau zu reduzieren, Ziel ist vielmehr, die Streitkräfte und die Bundeswehrverwaltung auf die mannigfaltigen sicherheitspolitischen Herausforderungen unserer Zeit im Sinne eines vernetzten Ansatzes auszurichten. Vernetzte Sicherheit ist die Kunst, umfassend zivile staatliche und nichtstaatliche Akteure, Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen der Entwicklungszusam- menarbeit, Polizei und Militär zu orchestrieren, um poli- tische Ziele im Vorfeld von Krisen oder in Umsetzung eines Mandats der Vereinten Nationen in Krisengebieten zu erreichen. Es sind nicht nur militärische, sondern vor allem ge- sellschaftliche, ökonomische, ökologische und kulturelle Bedingungen, die die sicherheitspolitische Entwicklung bestimmen. Sicherheit wird deshalb weder rein national noch allein durch Streitkräfte gewährleistet. Wesentlich ist vielmehr ein umfassender Ansatz, der nur in vernetz- ten sicherheitspolitischen Strukturen sowie im Bewusst- sein eines umfassenden gesamtstaatlichen und globalen Sicherheitsverständnisses zu entwickeln ist. In diesen oft asymmetrischen Konfliktszenarien kommt es in wachsendem Maße parallel zu militärischen und zu zivilen Kriseninterventionen. Dabei sehen sich militärische und zivile Akteure immer stärker mit Über- schneidungen ihrer Handlungsfelder und der Notwen- digkeit zur Abstimmung und Kooperation konfrontiert. Erschwerend kommt hinzu, dass aufgrund Kostendrucks und Sparmaßnahmen Aufgaben zunehmend an private Militär- und Sicherheitsunternehmen, PMSU, übertragen werden. Wir erkennen ein sprunghaftes Wachstum sol- cher Unternehmen. Die Gefahr dieser Privatisierung ist, dass solche Organisationen staatlicher und parlamentari- scher Kontrolle und dem staatlichen Gewaltmonopol entzogen sein können. Deshalb müssen wir unsere Auf- merksamkeit auf diese Unternehmen richten. Ich danke an dieser Stelle den Kollegen der SPD für diesen Antrag, darüber hinaus gilt aber meine besondere Anerkennung unserem Kollegen Ruprecht Polenz, der bereits 2004 diese Problematik thematisiert hat und ver- antwortlich dafür war, dass wir in der 16. Wahlperiode einen Konsens erzielen konnten. Auf dieser Basis sollten wir weiterarbeiten. Beleuchten wir den großen Umfang, in dem die US- amerikanischen Streitkräfte gegenwärtig auf PMSU zu- rückgreifen, dann wird deutlich, dass wir in Deutschland noch weit von eben diesen Maßstäben entfernt sind, die selbst in den Augen des US Departments of Defense ein „nie gekanntes Maß an Abhängigkeit von zivilen Ver- tragsnehmern“ angenommen haben. Für uns gilt: Wehret den Anfängen! Das staatliche Gewaltmonopol, demokra- tisch legitimiert und kontrolliert, darf nicht aufgeweicht werden. In den USA hat diese Unternehmensbranche in- nerhalb der letzten Dekade eine außergewöhnlich hohe Bedeutung für die militärischen Einsätze der Vereinigten Staaten von Amerika gewonnen. PMSU werden ein be- deutsames Element in den internationalen Beziehungen und im internationalen Konfliktgeschehen bleiben, ihre Bedeutung wird, wenn wir nicht aufmerksam sind, noch weiter zunehmen. Worauf kommt es an? Zunächst ist es wichtig, solche Unternehmen, deren Auftrag in der Durchsetzung politi- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9529 (A) (C) (D)(B) scher oder wirtschaftlicher Ziele mithilfe militärischer Gewalt besteht – Söldner –, rechtlich und politisch strikt abzugrenzen von Unternehmen, die Sicherheitsdienst- leistungen anbieten, bei denen Gewalt keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielt. Beispiele hierfür sind zahlreiche Dienstleistungen im Objekt- oder Personen- schutz oder bei der Ausbildung. Also: nicht alles „über einen Kamm scheren“. Zweitens brauchen wir dringender denn je einen ge- eigneten Rechtsrahmen mit Überprüfbarkeit und klaren Einsatzkriterien. Es bedarf einer strengen Differenzie- rung nach Aufgabenschwerpunkten, um hier ein „Ber- muda-Dreieck“ zu vermeiden von moralischen Aspek- ten, internationalen Erfordernissen in Krisengebieten und dem nachvollziehbaren Gewinnstreben privater Sicherheitsfirmen. Während für meine Fraktion ein Söldnereinsatz in Krisengebieten abzulehnen ist, kann eine Sicherheits- partnerschaft bei humanitären Einsätzen oder bei der Ausbildung lokaler Sicherheitskräfte unter bestimmten Umständen durchaus sinnvoll und vorteilhaft für alle Seiten sein. Vorausgesetzt, dritter Punkt, eine entspre- chende Zertifizierung des Unternehmens und verlässli- che Überprüfungskriterien liegen vor. Viertens unterstreichen wir die Forderungen unseres Antrags aus der 16. Wahlperiode, das Wirken nichtstaat- licher militärischer Sicherheitsfirmen stärker zu kontrol- lieren. Wir fordern die Einführung einer Registrierung von privaten militärischen Sicherheitsunternehmen, eine Mitteilungspflicht der Vertragsabschlüsse, die Einfüh- rung eines Lizensierungssystems für militärische Dienst- leistungen von Unternehmen, um eine Kontrolle der „Dienstleistungen“ ausüben zu können. Fünftens halte ich folgende weitere Kriterien für sinn- voll: Die Firmen sollten die Verträge mit ihrem Personal offenlegen: denn nur dort und nicht in Stellungnahmen und Pressemitteilungen wird stehen, was die „Military Contractors“ im Ausland wirklich tun sollen bzw. für was sie bezahlt werden. Dass solche Überprüfungen und Controllinginstrumente jedoch ein schwieriges und kos- tenintensives Unterfangen sind, ist angesichts der Kom- plexität der Einsätze und der Tatsache, dass private Sicherheitsfirmen oft in Grauzonen operieren, offen- sichtlich. Sechstens muss eine enge Abstimmung mit den poli- tischen Interessen des Entsendestaates erfolgen; insbe- sondere dann, wenn private Sicherheitsfirmen von Auf- traggebern aus der Krisenregion beauftragt werden. Ein bedeutungsvolles Geschäftsfeld für private Si- cherheitsunternehmen wird sicher der Ausbildungssek- tor sein, Entminungen sind es ja bereits. Fest steht, dass eine enorme Bandbreite von Aktivitäten privater Sicher- heitsfirmen besteht, die es zu kontrollieren und bei Bedarf auch einzuschränken gilt. Mir geht es um eine wirksame Kontrolle der Zusammenarbeit und der Unter- nehmen und um angemessene Sanktionierungsmöglich- keiten. Darüber müssen wir im Ausschuss beraten. Der Mangel an Transparenz kann durch verschiedene For- men von Kontrolle aufgehoben werden. Es fehlen bisher vergleichbare Kontrollmechanismen mit entsprechenden Sanktionsmöglichkeiten. Ein Verbot würde die stärkste Form einer Regulation dieser Branche darstellen. Aller- dings würde hierdurch außer Acht gelassen, dass auch kommerzielle Firmen wichtige Beiträge für das Gemein- wohl leisten können. Hierbei sei zum Beispiel auf einen Einsatz im Rahmen von humanitärer Hilfe oder Land- minenbeseitigung hingewiesen. Dementsprechend er- scheint ein generelles Verbot solcher Unternehmen als wenig sinnvoll, eine Feststellung, zu der wir bereits in der 16. Wahlperiode gemeinsam gekommen sind. Es ist notwendig, national und international möglichst einheitliche Genehmigungs- und Registrierungsverfah- ren zu schaffen. Sicherheitsunternehmen müssen sich zuvor registrieren lassen, um überhaupt tätig werden zu dürfen. Auf dieser Grundlage von unternehmens- und transaktionsbezogener Aufsicht könnten in Zukunft die Tätigkeiten kontrolliert werden. Die unternehmensbezo- gene Aufsicht kann jedoch die transaktionsbezogene bzw. projektbezogene Kontrolle und gegebenenfalls Ge- nehmigung nicht ersetzen. Für eine projektbezogene Kontrolle der militärischen Sicherheitsunternehmen muss zunächst ein detaillierter Katalog von Dienstleis- tungen erstellt werden. Dieser Katalog müsste in Pro- blemlagen auf die jeweilige aktuelle Situation und ge- plante Dienstleistung flexibel anwendbar sein. Ist dieses Instrument geschaffen, muss es weiterhin möglich sein, die Genehmigung mit bestimmten Auflagen zu verse- hen. Anschließend muss ein Gremium geschaffen wer- den, welches die Einhaltung der beschriebenen Tätigkei- ten überprüft. Um die Belastung einer Kontrollinstanz oder -behörde in einem erträglichen Rahmen zu halten, sollte die Möglichkeit gegeben sein, bei Dienstleistun- gen von geringem Risiko, wie etwa Instandhaltungs- dienstleistungen, nur eine Meldepflicht vorzuschreiben. Somit schlage ich vor, den Antrag der SPD, dem wir in weiten Teilen zustimmen können, um folgende Punkte zu ergänzen: Zertifizierung der Unternehmen, bevor sie als Auftragnehmer infrage kommen. Ferner muss geklärt werden, unter welchen Rahmenbedingungen die Bun- deswehr oder die deutsche Polizei in Auslandseinsätzen mit Verbündeten und Partnern zusammenarbeiten soll, die statt Soldaten oder Polizisten Angehörige privater Militär- oder Sicherheitsorganisationen in gemeinsame Vorhaben, Operationen und Projekte entsenden. Und schließlich sollten zumindest bis zum Vorliegen ausrei- chender Daten Verträge mit privaten Sicherheitsunter- nehmen mit Beträgen auch unter einer 1 Million Euro zur Kenntnis gegeben werden. Henning Otte (CDU/CSU): Bereits zur Zeit der gro- ßen Koalition im Jahr 2009 haben wir in einem mit gro- ßer Mehrheit des Deutschen Bundestages verabschiede- ten Antrag festgestellt, dass nichtstaatliche militärische Sicherheitsunternehmen einer verbesserten Kontrolle und Lizenzierung unterzogen werden müssen. Der uns nun vorliegende Antrag der SPD lehnt sich sehr eng an den Konsens aus der 16. Wahlperiode an. Insofern bietet ihr Antrag wenig Neues. 9530 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 (A) (C) (D)(B) Private Sicherheits- und Militärunternehmen, PSMU, sind zwischenzeitlich vermehrt Gegenstand politischer und öffentlicher Kritik. Daher besteht in der Tat Hand- lungsbedarf, wenn es um die Kontrolle dieser Unterneh- men geht. Skandale wie der um die Firma Blackwater haben uns gezeigt, dass immer häufiger Konflikte und militärische Operationen in die Hände Privater gegeben werden, die sich offenbar nicht an das humanitäre Völ- kerrecht halten wollen. Daher ist der Forderung der SPD-Fraktion, einen Genehmigungsvorbehalt für die Weitergabe von technischem und militärischem Know- how für private militärische Sicherheitsunternehmen einzuführen, grundsätzlich nichts entgegenzusetzen. Al- lerdings sagen Sie weder, wer die Genehmigung erteilen soll, noch, wer dann wie informiert wird. Auch scheinen Aspekte der Haftung bzw. der rechtliche Aspekt im ak- tuellen Antrag der SPD nicht maßgeblich zu sein. Ihr Antrag ist zumindest in dieser Hinsicht wenig hilfreich. Damit Unternehmen in einem klaren rechtlichen Rah- men agieren können, fordern wir auch klare Haftungsbe- dingungen sowie Regelungen zur Verfolgung bei mögli- chen Straftaten. Seit dem Ende des Kalten Krieges befindet sich un- sere Bundeswehr in einem Reformprozess, der sich ge- rade in einer entscheidenden Phase befindet. Die damit einhergehende Verkleinerung der Streitkräfte darf aber nicht als Grund für die von der SPD negativ bewertete Ausweitung der Beauftragung privater Sicherheitsunter- nehmen herangezogen werden. Die aktuelle Reform dient dazu, mit effizienteren Strukturen arbeiten zu kön- nen. So wird es möglich sein, mehr Soldaten für den Auslandseinsatz bereitzuhalten. Damit kann auch der Ei- genschutz im Einsatz verbessert werden, ohne vermehrt auf Unternehmen zurückgreifen zu müssen. Das schließt aber nicht aus, dass wir weiterhin die Unterstützung vor allem von Unternehmen im Bereich des Transports und der Logistik brauchen, aber auch der einfachen Siche- rung. Diese Aufgaben gehören nicht zum Kernbereich der Bundeswehr und schon gar nicht zu der auch von Ih- nen geforderten Attraktivitätssteigerung. Somit wird keine Aushöhlung des staatlichen Gewaltmonopols be- trieben. Auch müssen wir genau unterscheiden, welche Unternehmen dieser Kontrolle unterzogen werden sol- len; denn Unternehmen, die nur logistische Dienstleis- tungen wie den Transport von militärischen Gütern ab- wickeln, aber nicht in die Konflikte selbst hineingezogen werden, sollten nicht für die Skandale in Haftung ge- nommen werden, die andere verursacht haben. Es darf nicht sein, dass wir Firmen schädigen, die zum Beispiel die Bundeswehr bei ihren wichtigen Auslandseinsätzen unterstützen. Wer hier seriöse Dienstleistungen erbringt, darf nicht vom Gesetzgeber allein gelassen oder gar ver- boten werden. Auch haben wir in der Vergangenheit gute Erfahrun- gen mit der Sicherung von Bundesliegenschaften im In- und Ausland gemacht. Diese Aufgabe gehört ebenfalls nicht zum eigentlichen Kernbereich der Bundeswehr. Beschwerden im Zusammenhang mit rechtlichen Über- tritten hat es nicht gegeben. Selbstverständlich müssen sich Soldaten selbst schützen können. Aber unsere Sol- daten haben eine wichtigere Funktion, als einfache Wachaufgaben zu übernehmen. Wir alle haben die Ver- pflichtung, mit den Steuergeldern sorgsam umzugehen. Unsere Soldaten durchlaufen eine komplexe Ausbildung und sollen entsprechend dieser Ausbildung eingesetzt werden. Hierauf gründet sich auch ihre internationale Anerkennung, die es hier einmal hervorzuheben gilt! Es wird Zeit, dass nichtstaatliche militärische Sicher- heitsunternehmen kontrolliert und registriert werden. Ein Verschieben des Problems ist keine Lösung. Ansons- ten würden diese Unternehmen weiterhin in einer Art Grauzone agieren. Ich stelle fest: Es ist wichtig, einen parteiübergreifenden Konsens zu erzielen, der einen ge- meinsamen Antrag ermöglicht. Wir appellieren, sich dem nicht zu widersetzen. Um diesen Konsens zu erzie- len, schlagen wir eine Überweisung des Antrags an den Auswärtigen Ausschuss vor. Dr. Rolf Mützenich (SPD): Seit dem Ende des Ost- West-Konfliktes ist eine zunehmende Privatisierung des Krieges zu beobachten. Gewalt geht heute meist von pri- vaten Akteuren und Gruppen unterhalb der Schwelle des Nationalstaates aus. Auch wenn die Entstaatlichung des Krieges im Bewusstsein vieler noch überwiegend mit der Herrschaft von Kriegsfürsten und Warlords in Afrika und Afghanistan verbunden ist, erlebt auch der „Westen“ eine zunehmende Privatisierung seines Kriegshand- werks. Private Sicherheitsunternehmen sind heute Teil der modernen Kriegsführung und des Wiederaufbaus in Postkonfliktgesellschaften. Nicht nur Regierungen und Firmen, sondern auch die Entwicklungszusammenarbeit und Nichtregierungsorganisationen nehmen vermehrt nichtstaatliche militärische Sicherheitsunternehmen in Anspruch. Diese haben seit dem Ende des Kalten Krie- ges einen wahren Boom erfahren und sind heute welt- weit tätig. Etwa 300 solcher Firmen haben mehrere Zehntausend Mitarbeiter im Irak, in Afghanistan, in Süd- amerika und in vielen Ländern Afrikas im Einsatz. Auf 250 Milliarden Euro schätzen Fachleute den Jahresum- satz solcher Firmen weltweit. Der Schwerpunkt ihrer Tä- tigkeit liegt im logistischen Bereich, umfasst aber auch Bereiche wie den Personen- und Objekt- sowie den Kon- voischutz, Ausbildung und Training von Sicherheitskräf- ten, technische Dienste und die Informationsgewinnung. Kunden dieser nichtstaatlichen Sicherheitsunternehmen sind vor allem staatliche Institutionen, internationale Or- ganisationen, aber auch Nichtregierungsorganisationen und Wirtschaftsunternehmen. Angesichts international begrenzter staatlicher Ressourcen und der fortschreiten- den Technologisierung und Spezialisierung militärischer Aufgaben ist künftig mit einem weiteren Anstieg der Nachfrage nach Leistungen privater militärischer Sicher- heitsdienste zu rechnen. In Deutschland sind nach Angaben der Bundesregie- rung über 2 500 private Sicherheitsunternehmen tätig. Das Tätigkeitsfeld deutscher Sicherheitsfirmen umfasst bislang vor allem logistische Aufgaben, Dienstleistun- gen im technischen Bereich, aber auch die Übernahme von sogenannten nichtmilitärischen Wachfunktionen. Die Abschaffung der Wehrpflicht und die damit verbun- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9531 (A) (C) (D)(B) dene Reduzierung der Bundeswehr wird voraussichtlich zu einer verstärkten Inanspruchnahme von privaten Dienstleistern und damit auch von privaten militärischen Sicherheitsunternehmen im In- und Ausland führen. Afghanistan und Irak haben sich in den letzten Jahren zum Arbeitsplatz für nichtstaatliche militärische Sicher- heitsunternehmen entwickelt. Und der Druck der Öffent- lichkeit wächst, die regulären Truppen endlich nach Hause zu holen. Im August letzten Jahres hat US-Präsi- dent Obama das Ende der Kampfhandlungen im Irak be- kannt gegeben und angekündigt, dass bis Ende 2011 alle amerikanischen Truppen das Land verlassen haben sol- len. Und auch in Afghanistan soll noch dieses Jahr mit dem Abzug der amerikanischen und deutschen Streit- kräfte begonnen werden. Dabei sind in beiden Ländern längst nicht nur Soldaten im Einsatz, sondern auch Tau- sende private Militärdienstleister. Das US-Außenminis- terium hat nach dem Abzug der Kampftruppen angekün- digt, die Zahl seiner privaten Wachleute im Irak auf etwa 7 000 zu verdoppeln. Zwischen 25 000 und 50 000 An- gehörige von privaten in- und ausländischen Sicherheits- firmen sollen allein in Afghanistan tätig sein, von denen 19 000 allein für das US-Militär Aufträge übernommen haben. Der Trend zur Privatisierung ist also in vollem Gange, ungeachtet aller Kritik der Öffentlichkeit. In Af- ghanistan stehen die privaten Sicherheitsfirmenunter- nehmer zudem dem Aufbau afghanischer Sicherheits- kräfte, besonders der Polizei, im Weg. Denn warum sollte sich ein junger Afghane zur Polizei melden, wenn er einen deutlich besser bezahlten Job bei einer Sicher- heitsfirma kriegen kann? Neben zunehmender Kritik an den Auswüchsen und Missständen gab es in den letzten Jahren auch eine Reihe von Kontroll- und Regulierungsversuchen. So hat der Europarat im Juni 2009 auf der Grundlage eines umfang- reichen Berichts eine Reihe von Forderungen aufgestellt, um auch auf nationaler Ebene Regulierungen dieser Fir- men zu erreichen. Weltweit gibt es allerdings nur wenige Länder, in denen bislang spezielle Gesetze zur Überwa- chung, Regulierung und Begrenzung der Tätigkeit von privaten militärischen Sicherheitsfirmen geschaffen wurden. Nichtstaatliche Sicherheitsunternehmen bewegen sich dennoch nicht im rechtsfreien Raum. Nationale und in- ternationale Normen zum Schutz der Zivilbevölkerung gelten trotz der genannten Durchsetzungsschwierigkei- ten auch für private Sicherheitsunternehmen. Ihre völ- kerrechtliche Einordnung nach den Zusatzprotokollen zur Genfer Konvention, besonders ihr Kombattantensta- tus, ist jedoch strittig. Auch die 1989 von der General- versammlung der Vereinten Nationen verabschiedete Konvention gegen die Rekrutierung, Verwendung, Fi- nanzierung und Ausbildung von Söldnern ist nur be- grenzt auf diese Firmen anwendbar. Sie geht von einer Unterscheidung aus, die auf der einen Seite den guten freiwilligen Kämpfer kennt, der für seine Sache kämpft, und auf der anderen Seite den unehrenhaften Söldner, der aus materiellen Gründen kämpft. Beide Typisierun- gen treffen auf die Angestellten dieser Firmen kaum zu, sodass aus völkerrechtlicher Sicht Regulierungslücken bestehen. Ein erster Versuch auf zwischenstaatlicher Ba- sis, die Rechtsstellung nichtstaatlicher Sicherheits- und Militärfirmen zu konkretisieren, ist das im September 2008 von 17 Ländern verabschiedete Montreux-Doku- ment, bei dem es sich allerdings nicht um einen verbind- lichen völkerrechtlichen Vertrag handelt. Zu den Unter- zeichnenden gehört neben den Vereinigten Staaten, Großbritannien und Afghanistan unter anderem auch Deutschland. Erste Versuche, dies auf internationaler Ebene zu er- reichen, laufen somit bereits. Auch die Sicherheitsunter- nehmen haben reagiert und freiwillige Verhaltenskodizes aufgestellt. Freiwilligkeit ist jedoch im Zusammenhang mit sicherheitsrelevanten Dienstleistungen nicht die op- timale Lösung. Hier bedarf es auch international der Transparenz und vor allem Rechtssicherheit. Bis zu einer sicheren Rechtslage ist es aber noch ein weiter Weg. Die Bundesregierung hat bei der Beantwortung entsprechen- der Fragen aus dem Parlament bis zum Sommer 2010 die Auffassung vertreten, dass nach ihren bisherigen Er- kenntnissen die bestehenden Vorschriften im EG-Sank- tionsrecht, Gewerberecht und Außenwirtschaftsrecht ausreichen, um „Sicherheitsunternehmen mit militäri- schen Absichten wirksam zu begegnen“. Auf Nachfra- gen hat die Bundesregierung schließlich eingeräumt, dass ein weiterer Handlungsbedarf geprüft werden müsse. Ressortübergreifend soll über den Handlungs- und Regelungsbedarf im nationalen und internationalen Bereich eine Verständigung erzielt werden. Es ist bemer- kenswert, dass die Bundesregierung erst auf Drängen des Parlaments zu einer Überprüfung des entsprechen- den Regelungsbedarfs bereit war. Wir erwarten, dass die Bundesregierung ihrer Pflicht ohne weitere Aufforde- rung nachkommt und den Bundestag zeitnah über die Prüfergebnisse unterrichtet. Nichtstaatliche militärische Sicherheitsunternehmen zu registrieren und zu kontrollieren, ist das Ziel des An- trags der SPD-Fraktion. Darin wird unter anderem gefor- dert auf nationaler Ebene eine Registrierungspflicht für private Sicherheitsfirmen und Militärdienstleister, die in Deutschland ihren Sitz haben, ein Lizenzierungssystem für militärische Dienstleistungen von Unternehmen so- wie einen Genehmigungsvorbehalt für die Weitergabe von technischem und militärischem Know-how privater militärischer Sicherheitsunternehmen einzuführen. Weiterhin soll dem Bundestag ein jährlicher Bericht sowohl über die in der Bundesrepublik ansässigen als auch über ausländische private militärische Sicherheits- unternehmen vorgelegt werden, deren Dienstleistungen die Regierung oder ihr nachgeordnete Behörden im Aus- land in Anspruch nehmen. Vor dem Hintergrund der ge- planten Bundeswehrreform und der damit einhergehen- den Reduzierung des Streitkräfteumfangs muss das Parlament darüber informiert werden, in welcher Form und in welchem Umfang die Regierung das Engagement privater Sicherheitsunternehmen im In- und Ausland be- absichtigt. Auf internationaler Ebene fordern wir die Bundesre- gierung dazu auf, die internationale Konvention gegen die Rekrutierung, Verwendung, Finanzierung und Aus- bildung von Söldnern von 1989 zu ratifizieren und bei 9532 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 (A) (C) (D)(B) den Vereinten Nationen darauf hinzuwirken, die der VN- Konvention zugrunde liegenden Begrifflichkeiten zu spezifizieren, um eine konkrete, zeitgemäße, auch auf private militärische Sicherheitsunternehmen anwendbare Norm zu schaffen. Darüber hinaus sollten die bestehen- den Völkerrechtsinstrumente zum Söldnertum durch weitere eigenständige völkerrechtliche und nationale Re- gelungen ergänzt werden, insbesondere durch eine inter- nationale Registrierung der privaten militärischen Unter- nehmen, eine internationale Einrichtung zur Kontrolle der privaten militärischen Unternehmen und der von ih- nen abgeschlossenen Verträge, die beim UN-Sonderbe- richterstatter über das Söldnertum angesiedelt sein sollte sowie die Einführung von Sanktionsmöglichkeiten ge- genüber den privaten militärischen Sicherheitsunterneh- men und deren Auftraggebern. Ich freue mich über die Signale aus den anderen Frak- tionen, auf der Grundlage unseres Antrags zu diesem wichtigen Thema interfraktionell eine Position zu erar- beiten. Dies würde dem Thema auf jeden Fall das nötige Gewicht geben, das ihm zusteht. Lassen Sie uns deshalb diesen Antrag möglichst rasch umsetzen und gemeinsam der Öffentlichkeit vorstellen. Es besteht in jedem Fall Handlungsbedarf. Denn neue Staaten aufbauen zu wol- len, indem ihre innere wie äußere Sicherheit zum Teil entstaatlicht wird, erscheint zunehmend als ein Wider- spruch in sich. Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP): Private Sicherheitsorga- nisationen sind heute weltweit tätig. Die Auslagerung bestimmter Aufgaben in nichtstaatliche Unternehmen hat auch in der Außen- und Sicherheitspolitik Einzug ge- halten. Dieser Trend hat sich seit dem Ende des Ost- West-Konfliktes stetig verstärkt. Die Ursachen dafür sind vielfältig. Ein wesentlicher Grund ist das gestiegene Sicherheitsbedürfnis von Be- hörden, internationalen Organisationen und Unterneh- men, von Politik und Gesellschaft. Was wir hier heute vor allem debattieren, ist daher meines Erachtens nach nicht die Notwendigkeit der Aus- lagerung staatlicher Aufgaben. Vielmehr müssen wir uns im Hinblick auf die weltweiten Entwicklungen endlich um ein umspannendes Regelungswerk kümmern. Wir müssen im Parlament darüber debattieren, in welchem rechtlichen Rahmen wir den Wandel im Verhältnis zwi- schen Nationalstaat und Militär einbetten müssen. Nur wenn wir sämtliche möglichen Konsequenzen im Vor- feld ausführlich analysieren und bewerten, kann diese Herausforderung angenommen werden. Dabei ist eine verantwortungsvolle Ausgestaltung unbedingt notwen- dig. Es stellt sich die Frage nach den Rechten und dem Rechtsstatus der in bewaffneten Konflikten beteiligten privaten Sicherheitsunternehmen. Vor allem die welt- weite Tätigkeit privater Sicherheitsunternehmen macht die Lageanalyse um ein Vielfaches komplizierter. Allein in Afghanistan waren bis vor kurzem mehr als 19 000 private Sicherheitskräfte im Einsatz. Aus diesem Grund ist eine Beschränkung auf nationale Richtlinien nicht sonderlich zielführend. Allerdings gilt auch für die deutschen Richtlinien: Es gibt bisher kein Gesetz im deutschen Rechtsraum, das explizit die Aktivitäten nichtstaatlicher militärischer Sicherheitsunternehmen abschließend regelt. Hier be- steht erkennbar Handlungsbedarf. Von daher möchte ich der SPD danken für diesen gu- ten vorliegenden Antrag. Viele konstruktive Vorschläge werden hier unterbreitet, ob es um eine Registrierungs- pflicht und ein Lizenzierungssystem geht oder um die Kontrolle der Weitergabe von technischem und militäri- schem Know-how. Diese Gedanken müssen wir uns ma- chen. Ich freue mich schon auf die inhaltlichen Beratun- gen zu diesem wichtigen zukunftsträchtigen Thema. In den kommenden Debatten muss dafür gesorgt wer- den, dass internationale Institutionen aktiv werden – und auch dies wird angesprochen im vorliegenden Antrag. Besonders die Vereinten Nationen sehe ich hier in der Pflicht. Ja, wir müssen unseren Einfluss geltend machen und auf die Spezifizierung der in den VN-Konventionen verwendeten Begrifflichkeiten hinwirken. Sicherlich müssen auch die bestehenden völkerrechtlichen Instru- mente durch eigenständige Regelungen ergänzt werden. In Deutschland stehen wir erst am Anfang einer De- batte, die international schon hohe Wellen geschlagen hat. Mit diesem Antrag als Diskussionsgrundlage gehen wir gut gerüstet in die tieferen thematischen Beratungen im Ausschuss. Ich bin zuversichtlich, dass wir gemeinsam mit den demokratischen Fraktionen hier im Hause eine zukunfts- fähige Lösung in der Frage nach einem angemessenen Umgang mit privaten Sicherheitsunternehmen finden werden. Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): Der vorliegende SPD-Antrag ist vor allem ein Eingeständnis des eigenen Scheiterns. Als die SPD im Juni 2009 noch an der Regie- rung beteiligt war, wurde ein ähnlicher Antrag vom Bun- destag angenommen. Er wurde aber von der eigenen Re- gierung nicht umgesetzt! Das ändert allerdings nichts daran, dass für die Linke kein Zweifel besteht, dass Bun- destag und Bundesregierung endlich eine Antwort auf die Risiken der Auslagerung von militärischen Dienst- leistungen finden müssen. Viel zu lange schon starrt man in Deutschland gebannt auf den ICE der Privatisierung militärischer Dienstleistungen, ohne die Weichen richtig zu stellen, die nur in eine Richtung weisen können: in Richtung Verbot! So richtig daher die SPD-Initiative ist, so falsch ist die Halbherzigkeit, mit der sich die SPD diesem Thema an- nimmt. Ein Ja zur Regulierung, ein Ja zur Kontrolle, ein Ja zur internationalen Koordination reichen einfach nicht aus. Die Konflikte im Irak, in Afghanistan, aber auch schon früher Kolumbien, Sierra Leone oder Angola ha- ben doch deutlich gemacht, wie gefährlich der Einsatz privater Militärfirmen ist, wie unkontrollierbar das Ge- schäftsgebaren privater Akteure in Konflikten ist. Diese Firmen untergraben das staatliche Gewaltmonopol, höh- len das Völkerrecht aus, schaffen Abhängigkeiten und tragen vor allem zur Konflikteskalation in fast allen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9533 (A) (C) (D)(B) Kontinenten bei. Nun liebäugeln deren Interessenver- bände sogar damit, Aufträge der Vereinten Nationen für niedrigschwellige Friedensmissionen zu bekommen! Die US-Streitkräfte und das State Department kämp- fen derzeit mit dem Vermächtnis der unter Reagan be- gonnenen Privatisierung militärischer Dienstleistungen. Im Irak und in Afghanistan haben die USA massiv auf diese privaten Anbieter gesetzt. Im Irak waren zeitweise sogar genauso viele private Angestellte mit militäri- schem Auftrag unterwegs wie US-Soldaten. Es kam zu Tötungen von Zivilisten, die Abhängigkeit der US- Streitkräfte von diesen Dienstleistungen wuchs, kompli- zierte Vertragswerke und dubiose Unterauftragnehmer begünstigten Korruption und Destabilisierung. Jetzt grü- belt man in den USA, wie man die Büchse der Pandora wieder schließen kann. Aber das wird schwerfallen. Soll auch Deutschland, soll die Bundeswehr diesen Weg beschreiten? Die Antwort der SPD lautet wohl lei- der: Ja! – Natürlich ein wenig regulierter, kontrollierter und transparenter. Der Antrag liest sich wie ein Déjà-vu. Solche Hoffnungen hat man auch schon in Bezug auf die Kontrolle von Rüstungsexporten und der Rüstungsindus- trie gehegt. Wie die Realität aussieht, weiß jeder: Deutschland gehört zu den größten Rüstungsexporteuren der Welt, der Schutz der Geschäftsinteressen der Rüs- tungsindustrie steht über allem und außerhalb der Kon- trolle des Bundestages. Dieser Fehler darf bei den militä- rischen Dienstleistungen nicht wiederholt werden. Diese Art von Unternehmen sind noch undurchschaubarer als die Rüstungsindustrie: verschachtelte Unternehmens- strukturen, rotierendes Personal, nicht kontrollierbare In- teressenverflechtungen usw. Glauben Sie wirklich, dass Sie wegen möglicher Kriegsverbrechen oder anderer Vergehen die Geschäfts- führung, den gesamten Vorstand und Aufsichtsrat einer privaten Militärfirma vor einen nationalen oder interna- tionalen Strafgerichtshof zitieren können? Eher meldet das Unternehmen Insolvenz an bzw. gründet sich neu: Aus Raider wurde Twix, aus Blackwater wurde Xe. Noch sind die Aktivitäten von deutschen Firmen wie der Asgaard German Security Group in Somalia oder der BDB Protection GmbH in Libyen Einzelfälle. Es besteht keinerlei Notwendigkeit, den Firmen, die militärische Dienstleistungen anbieten, in Deutschland einen Markt- zugang zu verschaffen. Die Bundeswehr hat immer wie- der erklärt, militärische Dienstleistungen nicht auslagern zu wollen. Weiß die SPD mehr? Es ist vielmehr an der Zeit, klar zu machen, dass Deutschland nicht Heimat für Unternehmen ist, die militärische Dienstleistungen auf den Schlachtfeldern anbieten wollen, und dass sich alle deutschen Staatsbürger strafbar machen, die für diese Firmen solche Dienstleistungen erbringen. Die Linke wird entsprechende Initiativen in den Bun- destag einbringen, und hoffentlich wird es gelingen, in den Ausschüssen auch die anderen Fraktionen zur Ein- sicht zu bewegen, dass auch in Zukunft das Gewaltmo- nopol in Deutschland nicht weiter angetastet werden darf, und dass dem modernen Söldnertum auf den heuti- gen Kriegsschauplätzen ein Riegel vorgeschoben wird. Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In dieser Legislaturperiode debattieren wir jetzt zum ersten Mal über das Problem der unzureichenden Regulierung von privaten Sicherheitsfirmen, und ich begrüße grundsätz- lich den Antrag der SPD, der uns dazu heute vorliegt. Allerdings hat es in den vergangenen Jahren zu diesem Thema schon etliche solcher Anträge und Anfragen in unterschiedlichen Konstellationen gegeben. In der letz- ten Legislaturperiode gab es einen Antrag der CDU/CSU und SPD, in dem bereits einige Verbesserungen bei der Kontrolle nichtstaatlicher militärischer Sicherheitsunter- nehmen eingefordert wurden. Ein Gesetzentwurf wurde aber bis heute nicht vorgelegt, obwohl das Problem im- mer größere Ausmaße annimmt. Private Sicherheitsfirmen sind weltweit im Dienste von Staaten, internationalen Organisationen, Unterneh- men und Privatpersonen im Einsatz. Ihre Tätigkeiten rei- chen von Wach- und Schutzaufgaben über Logistik und Wartungsarbeiten bis hin zur Durchführung militärischer Operationen. Auch im Rahmen der militärischen Auf- klärung und Informationsgewinnung sind solche Unter- nehmen tätig. Die USA setzen im Irak und in Afghanis- tan mittlerweile mehr privates Militärpersonal ein als amerikanische Soldaten. Allerdings sind auch deutsche Sicherheitsunternehmen im Ausland tätig. Nach 2003 ar- beiteten sogar ehemalige deutsche Soldaten für ausländi- sche Sicherheitsfirmen, wie Blackwater im Irak, obwohl die deutsche Regierung diese Intervention ablehnte. Die Privatisierung militärischer Fähigkeiten unter- gräbt das staatliche Gewaltmonopol. Das ist besonders in fragilen Ländern mit einer schwach ausgeprägten staatlichen Struktur gefährlich. In bewaffneten Konflik- ten unterliegen private Sicherheitsunternehmen als juris- tische Personen nicht einmal dem humanitären Völker- recht. Jede natürliche Person, die aktiv an einem bewaffneten Konflikt teilnimmt, ist an das humanitäre Völkerrecht gebunden und kann sich gegebenenfalls strafbar machen, nicht aber das Unternehmen, für das diese Person arbeitet. Diese Konstellation war bei der Vereinbarung der Genfer Konvention und ihrer Zusatz- protokolle nicht vorgesehen und ist damit eindeutig eine Regelungslücke. Auch die Söldnerdefinition des Zusatzprotokolls fin- det auf Angehörige von privaten Sicherheitsfirmen nur selten Anwendung, weil sie sehr eng gefasst ist. Trotz- dem wäre es ein wichtiges Zeichen, wenn die Bundesre- gierung endlich die Söldnerkonvention von 2001 ratifi- zieren würde! Einen Grund, warum dies bislang nicht geschehen ist, haben wir auch auf mehrfache Nachfrage bis heute nicht erfahren. Ziel einer gesetzlichen Regulierung privater Sicher- heitsunternehmen muss es sein, die Einhaltung humani- tären Völkerrechts zu gewährleisten und Aktivitäten zu verhindern, die nicht im Einklang mit den menschen- rechtlichen und friedenspolitischen Interessen Deutsch- lands stehen. Umfassende Registrierungs- und Lizensie- rungspflichten – wie sie die SPD vorschlägt – sind ein erster Schritt hin zu einer besseren Kontrolle privater Si- cherheitsfirmen. Ebenso begrüße ich die Forderung nach 9534 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 (A) (C) (D)(B) regelmäßigen Berichten über die Aktivitäten dieser Un- ternehmen. Einen wesentlichen Kritikpunkt habe ich dann aller- dings doch an diesem Antrag: Militärische Sicherheits- dienstleister sollten wir im deutschen Inland nicht regis- trierungspflichtig machen, sondern schlicht verbieten! Privates Militär ist weder mit unserem Waffenrecht noch mit der Gewerbeordnung vereinbar, und das soll auch unbedingt so bleiben! Für Sicherheitsdienstleistungen, die nicht der militärischen Kategorie unterfallen, gibt es allerdings großen Regelungsbedarf, wenn diese Leistun- gen im Ausland erbracht werden sollen. Wir halten es für dringend erforderlich, den Export solcher Dienstleistun- gen in das Außenwirtschaftsgesetz aufzunehmen. Wo das Handeln mit Waffen den Frieden gefährdet, tut dies erst recht das Benutzen einer Waffe! An dieser Stelle bleibt Ihr Antrag leider unklar. Solange es auf internationaler Ebene kein bindendes Vertragswerk gibt, sind die Nationalstaaten gefragt, pri- vate Sicherheitsfirmen durch innerstaatliches Recht ef- fektiv zu binden. Zum Erlass solcher Regelungen hat sich Deutschland mit dem Dokument von Montreux vom 17. September 2008 verpflichtet. Dieser Verpflichtung ist Deutschland bis heute nicht nachgekommen. Meine Fraktion wird in Kürze hierzu eine Große Anfrage ein- bringen. Keinesfalls ausreichend sind in diesem Zusam- menhang freiwillige Selbstverpflichtungen der entspre- chenden Branche. Wer zu Hause auf nationaler Ebene keine effektive Regulierung vorweisen kann, kann auch international nicht glaubwürdig verhandeln. Sollten sich Bestrebungen zu einem interfraktionellen Vorgehen ab- zeichnen, sind wir gerne bereit, unsere Vorstellungen und konkreten Gesetzesänderungsvorschläge mit einzu- bringen. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsver- fahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfah- ren (Tagesordnungspunkt 13) Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): Stel- len Sie sich vor, Sie brechen sich bei einem Unfall auf dem Weg ins Büro einen Arm und das Nasenbein. Es vergehen neun Jahre, bis rechtskräftig über einen An- spruch auf Schadenersatz gegen die Haftpflichtversiche- rung des Unfallgegners entschieden wurde. Es verrinnen weitere 15 Jahre, in denen es der Justiz in den verschie- denen Instanzen nicht gelingen will, über die Höhe des Schadenersatzes abschließend zu entscheiden. Dieser und andere Sachverhalte lagen dem Europäi- schen Gerichtshof für Menschenrechte in den vergange- nen Jahrzehnten aus den verschiedensten Mitgliedstaa- ten vor. Dies nahmen die Straßburger Richter bereits im Jahr 2000 zum Anlass, ihre Rechtsprechung dahin ge- hend zu ändern, die Europäische Menschenrechtskon- vention als verletzt anzusehen, wenn gerichtliche Ver- fahren eine unangemessene Dauer aufweisen und den Betroffenen kein wirksames Rechtsmittel dagegen zur Verfügung gestellt wird. Dem Straßburger Gerichtshof lag im September letz- ten Jahres ein Fall aus der Bundesrepublik zur Entschei- dung vor, in dem der Beschwerdeführer nach 13 Jahren auf eine rechtskräftige Entscheidung zur Neuerteilung eines Waffenscheins warten musste. Wenn man sich die Umstände des Falls vor Augen führt, aufgrund derer der EGMR nun die Bundesrepublik binnen Jahresfrist zur Schaffung eines wirksamen Rechtsmittels auffordert, so wird deutlich, dass es hier nicht allein um das zentrale Verfahrensgrundrecht der Rechtsschutzgarantie nach Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes geht: Der Beschwer- deführer betreibt ein Personenschutzunternehmen. Es fällt daher nicht schwer, eine Betroffenheit seines Grundrechts auf freie Berufsausübung nach Art. 12 GG festzustellen. Auch andere Freiheitsrechte stehen hier im Fokus: In einem anderen prominenten Fall, der im Herbst 2000 entschieden wurde, verbrachte der Beschwerdeführer wesentliche Teile des als überlang empfundenen Verfah- rens in Untersuchungshaft. Insgesamt sind in allen Fäl- len also ganz wesentliche Grundrechte betroffen. Des- halb verlangt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte von der Bundesrepublik, dass wir die verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für einen effekti- ven Rechtsschutz schaffen. Neben Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes verpflichtet uns Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention dazu. Auf der anderen Seite steht mit der Gestaltung und Leitung des Gerichtsverfahrens auch die richterliche Un- abhängigkeit auf dem Spiel. Es sind damit unterschiedli- che grundgesetzlich geschützte Rechte und Grundsätze betroffen, die in praktische Konkordanz gebracht werden müssen. In verfahrensrechtlicher Hinsicht gilt: Bei der Ausge- staltung des Rechtsmittels müssen wir einerseits die Qualität eines tatsächlich wirksamen Rechtsmittels errei- chen, ohne andererseits dem missbräuchlichen Einsatz Tür und Tor zu öffnen. Dabei ist mir die Missbrauchsge- fahr, die ein solch umfassendes, die Gerichtsbarkeiten übergreifendes Rechtsmittel mit sich bringt, bewusst. Die Verzögerungsrüge mit anschließender Entschädi- gungsklage könnte schnell zum Massenphänomen wer- den. Schließlich könnten Rechtsanwälte allein aus Haf- tungsgesichtspunkten regelmäßig veranlasst sein, die Rüge gewissermaßen „pro forma“ zu erheben, um für spätere Entschädigungsklagen nicht präkludiert zu sein. Natürlich muss das Rechtsmittel auch so ausgestaltet sein, dass es sich nicht selbst negativ auf die Dauer des Ausgangsverfahrens auswirkt. Deshalb ist es richtig, dass das Gericht nicht notwendig zu einer förmlichen und begründeten Entscheidung verpflichtet ist. Hier soll- ten wir aber meines Erachtens prüfen, die Eingabe, mit der die Verzögerung geltend gemacht wird, um ein Be- gründungserfordernis, wie es beispielsweise vom Deut- schen Richterbund gefordert wird, zu ergänzen. Nur auf diese Weise kann den Verfahrensbeteiligten konstruktiv Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9535 (A) (C) (D)(B) angezeigt werden, woran die gewünschte Fortsetzung scheitert. Gerade aus der Richterschaft höre ich, dass Verfahren oftmals daran kranken, dass Parteien, Sachverständige und das Gericht sich nicht hinreichend über den Fort- gang des Verfahrens und etwaige Hindernisse und Hür- den austauschen. Ihre Erfahrung ist, dass man oftmals über lange Zeiträume hinweg zwar die Dauer des Ver- fahrens kritisiert, ohne sich gemeinsam über die Gründe zu verständigen. Dem Mangel der unzureichenden Kom- munikation könnte durch eine konkrete Begründung zu- mindest entgegengewirkt werden. Wenn sich eine lange Dauer abzeichnet, müssen die Beteiligten künftig ver- bessert nach Möglichkeiten suchen, wie man das Verfah- ren beschleunigen kann. Gleichermaßen müssen die Ge- richte auch in die Lage versetzt werden, deutlich zu machen, warum im speziellen Fall die Dauer eben doch noch sachgerecht ist. Zudem soll das Rechtsmittel nicht dazu führen, dass die Gerichte in einer Art vorauseilender Anpassung die Gründlichkeit zugunsten der Verfahrensbeschleunigung hintenanstellen. In den allermeisten Fällen entspricht die gerichtliche Gründlichkeit dem Interesse der Parteien. In materieller Hinsicht müssen wir noch im Einzelnen diskutieren, welche Verzögerungsgründe zur Entschädi- gung führen sollen. Klar ist, dass es dabei nicht auf das Verschulden des Gerichts ankommen soll. Deshalb soll- ten wir auch den Begriff der Rüge noch einmal überden- ken, denn damit ist zumeist assoziiert, dass ein Verschul- dungsvorwurf gegenüber dem Gericht erhoben wird. Wenn man sich die Gründe für Verfahrensverzögerungen anschaut, dann ist es in den seltensten Fällen der Spruch- körper des befassten Gerichts selbst, der eine überlange Verfahrensdauer verursacht. Auch ist es – zumindest nicht für die Fälle, über die wir heute reden – nicht etwa eine unzureichende Personalausstattung von Gerichten und Staatsanwaltschaften, die zu Verfahrenslängen von 10, 15 Jahren führt. Die dünne Personaldecke verlängert die Verfahren in der Praxis – zweifellos. Aber dabei geht es um Verzögerungen um einige Monate oder darüber, nicht jedoch um Verzögerungen von acht, neun oder mehr Jahren. Ein gängiges Phänomen ist, so wird es aus der Praxis immer wieder berichtet, dass die Einholung von Sach- verständigengutachten sich als wahre Verfahrensbremse erweist. Dass die Zahl der verfügbaren Gutachter, so bei- spielweise in komplizierten baurechtlichen Verfahren, sehr gering ist, gehört zu der Vielzahl von Gründen, wes- halb sich gerichtliche Verfahren in die Länge ziehen. Das sehen die Parteien in der Regel aber auch ein, sie ha- ben selbst ein Interesse daran, dass der Sachverständige sich die nötige Zeit zur Begutachtung nimmt. Unter wel- chen Voraussetzungen es dann einen Entschädigungsan- spruch geben soll, müssen wir noch diskutieren. Wir müssen uns angesichts der im Gesetzentwurf an- gelegten Entschädigungslösung auch mit der Frage aus- einandersetzen, ob der von der Großen Kammer des EGMR im Urteil vom Sommer 2006 erwogene präven- tive Ansatz zur Verhinderung von überlangen Verfah- rensdauern ein gangbarer Weg wäre. Ob sich die teil- weise vorgeschlagene gesetzliche Fixierung einer Untätigkeitsbeschwerde umsetzen lässt, ohne sich selbst verzögernd auf das Verfahren auszuwirken, wird zu prü- fen sein. Auch die im Entwurf unbegrenzte Höhe des Er- satzes für materielle Schäden müssen wir diskutieren. Ich will an dieser Stelle noch auf die strafrechtlichen Ermittlungsverfahren eingehen, deren überlangem Ver- lauf künftig ebenfalls mit einer Verzögerungsrüge be- gegnet werden soll. Im Strafverfahren sind kompensato- rische Ansätze, beispielsweise in Form eines Straf- oder Vollstreckungsabschlags, bereits gerichtliche Praxis. Hier sind die Maßgaben der Art. 20 Abs. 3 GG und des Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention be- reits richterrechtlich umgesetzt worden. Vor allem in den Fällen, bei denen die Verfahren durch Einstellung oder Freispruch beendet werden, sieht der Europäische Ge- richtshof erheblichen Handlungsbedarf beim Gesetzge- ber. Auch an dieser Stelle soll nun die Verzögerungsrüge greifen und all die Fälle abdecken, in denen verzöge- rungsbedingte Nachteile nicht bereits durch Strafgericht oder Staatsanwaltschaft ausgeglichen wurden. Ob wir uns als Gesetzgeber nun tatsächlich darauf verlassen, dass die richterrechtlich entwickelten Entschädigungs- formen weiter praktiziert werden und die gesetzliche Kompensation lediglich subsidiär greift, ist ebenso zu diskutieren wie die These, nach der das richterliche Strafvollstreckungsmodell mit Inkrafttreten dieses Ge- setzes entbehrlich und damit nicht mehr angewandt werde. Gleiches gilt für die Frage, ob wir mit der Ge- währung einer Rügemöglichkeit für alle Verfahrensbe- teiligten nicht über das Ziel hinausschießen und ohne Not weiter gehen, als es der EGMR von uns verlangt. Eines können wir trotz der im Einzelfall überlangen Verfahren in die Ausschussberatungen mitnehmen: Der Rechtsschutz am Justizstandort Deutschland funktioniert vorbildlich. Dies ist nicht zuletzt im jährlich von der Weltbank herausgegebenen „Doing Business“-Bericht auch für dieses Jahr deutlich gemacht worden: Gerade im Hinblick auf die Rechtspflege bestehen danach gute Investitionsbedingungen in der Bundesrepublik. Wir re- den hier lediglich über Einzelfälle, bei denen die Um- stände des Verfahrens für die Beteiligten wirklich extrem und nicht hinzunehmen sind. Trotzdem ist es gut, dass die Gesetzesinitiative an- scheinend den Willen ausgelöst hat, auch mäßige Verzö- gerungen im Alltag der Gerichte noch einmal zu über- prüfen. So haben, wie zu hören war, einige Verwaltungen bereits die Ankündigung des Gesetzent- wurfs zum Anlass genommen, neben den üblichen „Überlängeanzeigen“ in den Gerichtsbarkeiten auch Er- hebungen zu den einzelnen Verfahrenslängen durchfüh- ren. Hier entsteht auch in einigen Landesjustizverwal- tungen ein Bewusstsein, das ich angesichts der bis- herigen Verfahrenslängen nur begrüßen kann. Abschließend möchte ich noch einen weiteren Gedan- ken in die Beratungen mitnehmen: Wir sollten prüfen, wie man beim Entschädigungsverfahren den Effekt aus- schließt, dass allein Richter über richterliches Handeln des Ausgangsverfahrens entscheiden. Ich gehe davon aus, dass nur in wenigen Fällen das Ergebnis heißen 9536 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 (A) (C) (D)(B) wird, dass ein Verfahren tatsächlich als überlang zu be- werten ist und einen Entschädigungsanspruch auslöst. In den vielen Fällen, in denen Richter entscheiden, dass die Kollegen alles richtig gemacht haben, dass ein langes Gerichtsverfahren trotzdem nur als angemessen und eben nicht als überlang bewertet wird, wird das nicht im- mer die gewünschte Akzeptanz finden. Deshalb wäre es schön, an dieser Stelle nicht ausschließlich professio- nelle Richter mit der Entscheidung zu betrauen, sondern auch die Bewertung durch Laien einfließen zu lassen. In den Gerichtsbarkeiten, in denen Laienrichter im Spruch- körper integriert sind, ist dieses bürgerschaftliche Ele- ment bereits vorgesehen. Wir sollten prüfen, ob und wie man dies darüber hinaus auf die anderen jeweils zustän- digen Gerichte übertragen kann. Dr. Edgar Franke (SPD): Wir beraten heute den Ent- wurf der Bundesregierung zu dem Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren. Die mit diesem Gesetz verbundenen Maßnahmen zur Beschleunigung von Verfahren und vor allem zur Vermeidung von über- langen Verfahren werden seit langem vielfach gefordert. Lassen sie mich zunächst ein paar grundsätzliche An- merkungen machen. Worum geht es bei dem Gesetzentwurf? Mit dem Ge- setz soll eine Rechtsschutzlücke geschlossen werden. Das Gesetz gibt dem Rechtsuchenden die Möglichkeit, bei Gericht die Rüge des überlangen Verfahrens zu erhe- ben und auch eine Entschädigung hierfür zu beanspru- chen. Die Entschädigung umfasst materielle und in Ein- zelfällen auch immaterielle Nachteile. In Strafverfahren darüber hinaus sind besondere Wiedergutmachungsmög- lichkeiten vorgesehen. Über die Entschädigung sollen dann die jeweils nächsthöheren Instanzen entscheiden. Ich denke, eine Regelung ist notwendig. Bei den Pro- zessbeteiligten, insbesondere bei Klägern im Zivilpro- zess, geht oftmals das Vertrauen in den Rechtsstaat ver- loren, wenn Prozesse so lange dauern, vor allem wenn es um richtig viel Geld geht. Wenn gerade bei Mittelständ- lern eine erhebliche Forderung nicht beglichen wird, kann das oftmals für den Gewerbebetrieb eine Existenz- gefährdung bedeuten, weil dieser durch einen Forde- rungsausfall nicht selten in Liquiditätsprobleme kommt. Ein gerichtlicher Rechtsschutz ist nur dann effektiv, wenn er nicht zu spät kommt. Deshalb garantieren Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 GG als auch die Euro- päische Menschenrechtskonvention in Art. 6 Abs. 1 ei- nen Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener Zeit. Die Schaffung eines Entschädigungsanspruchs bei über- langen Gerichtsverfahren ist im Grundsatz zu begrüßen. Damit wird dem Gedanken des Grundgesetzes, betroffe- nen Bürgern effektiven Rechtsschutz zu gewähren, Rechnung getragen. Zum effektiven Rechtsschutz zählt nach meiner Auffassung nämlich auch die Garantie eines raschen Rechtsschutzes. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat bereits mit einem Urteil vom 26. Oktober 2000 entschieden, dass bei überlanger Dauer gerichtlicher Verfahren neben dem Recht auf ein faires und zügiges Verfahren auch das in Art. 13 der Europäi- schen Menschenrechtskonvention verbürgte Recht auf wirksame Beschwerde verletzt sein kann. Danach muss ein betroffener Bürger die Möglichkeit haben, einen Rechtsbehelf wegen der überlangen Verfahrensdauer bei einer staatlichen Stelle einzulegen und sich damit gegen eine unangemessene Verfahrensdauer zu wehren. Bis- lang sieht die deutsche Rechtsordnung einen solchen Rechtsbehelf bei überlangen Gerichtsverfahren aus- drücklich nicht vor. Das geltende deutsche Recht hat kei- nen speziellen Rechtsbehelf bei überlanger Dauer von gerichtlichen Verfahren, wenn man einmal von der Dienstaufsichts- und der Verfassungsbeschwerde ab- sieht. Die Rechtsprechung lässt zwar kraft richterlicher Rechtsfortbildung eine außerordentliche Beschwerde, eine Untätigkeitsbeschwerde zu, aber um Rechtsbehelfs- klarheit für alle Gerichtszweige zu erzielen, erscheint eine Normierung geboten. Und dennoch, liebe Frau Ministerin Leutheusser- Schnarrenberger, besteht bei einigen Punkten aus meiner Sicht noch Klärungsbedarf. Und dennoch, liebe Kollegin Leutheusser-Schnarrenberger, nur eine gute Absicht zu haben, reicht nicht aus! Wichtig erscheint mir, dass ins- besondere bei der Entschädigungsregelung noch Klä- rungsbedarf besteht. Nach meiner Überzeugung ist es notwendig und richtig, dass die Entschädigung nicht erst ab dem Zeitpunkt der Erhebung der Verfahrensrüge durch den Betroffenen zu leisten ist. Nein, sie muss rückwirkend ab dem Zeitpunkt des Beginns des Verfah- rens geleistet werden, damit sie auch eine präventive Wirkung bei den Gerichten entfalten kann. Aber nicht nur das: Auch würde eine solche Regelung verhindern, dass ein Anwalt wegen der zu erwartenden höheren Ent- schädigungssumme frühzeitig im Verfahren diese Rüge vorbringt. Und Sie müssen die Voraussetzungen konkre- tisieren, nach denen Entschädigungszahlungen auch dann geleistet werden, wenn die Schäden der Betroffe- nen keine Vermögensschäden sind. Nach meiner Auffassung ist der von Ihnen in den Ge- setzentwurf geschriebene Regelbedarf von 100 Euro pro Monat Verfahrensdauer in den meisten Fällen absehbar zu niedrig angesetzt. Gerade bei den von mir beschriebe- nen Fällen, wo wirtschaftliche Existenzen bedroht sind, bietet sich beispielsweise auch eine zeitliche Staffelung – zum Beispiel ab einem gewissen Zeitpunkt pro Monat 200 oder 300 Euro – an. Die vorgesehene Öffnungsklau- sel könnte beispielsweise auch entsprechend entwickelt und konkretisiert werden. Gerade auch als jemand, der in seinem Leben vor der Politik als Jurist und Bürgermeister tätig war, will ich mir erlauben, abschließend auf einige praktische Beden- ken hinzuweisen: Erstens. Wenn man den Art. 22, also die Übergangsvorschriften des Gesetzentwurfes, liest, muss man befürchten, dass mit Inkrafttreten des Geset- zes eine Flut von Verzögerungsrügen quer über alle Ge- richtszweige über die Gerichte hereinbrechen könnte, wenn auch möglicherweise zu einem guten Teil unsub- stanziiert. Zweitens. Darüber hinaus muss man befürch- ten, dass zuerst die Verfahren bearbeitet werden, in de- nen die Rüge erhoben wurde, und dann unter Umständen hierbei die Fälle zuerst, in denen die Rüge substanziiert erscheint und es beispielsweise im Zivilrecht um hohe potenzielle Schäden oder Summen geht! Das wäre dann Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9537 (A) (C) (D)(B) eine Bevorzugung der Fälle mit hohem Streitwert, und das kann nicht Sinn der Gesetzgebung sein. Drittens. Ge- nerell ist zu befürchten, dass Anträge auf Fristverlänge- rung und Terminverlegung – auch da, wo es juristisch geboten ist und sinnvoll erscheint – restriktiver gehand- habt werden, um den etwaigen Vorwürfen der überlan- gen Verfahrensdauer von vornherein den Boden zu ent- ziehen. Viertens. Schließlich gilt es zu bedenken, dass es für Gerichte bzw. Richter auch eine Rolle spielen könnte, welche Schadenersatzansprüche sie durch über- lange Verfahrensdauer ausgelösen würden. Mit anderen Worten, wir dürfen Richter auch nicht dem Vorwurf aus- setzen, lieber schnell anstatt richtig entschieden zu ha- ben. Zusammenfassend will ich feststellen, dass auch nach meiner Überzeugung der mittelbare Druck auf das ent- scheidende Gericht verstärkt wird. Insofern wird die Re- gelung präventiv eher zu einem zügigen Gerichtsverfah- ren führen. Ich bin allerdings davon überzeugt, liebe Frau Ministerin Leutheusser-Schnarrenberger, dass es in jedem Fall geboten und notwendig ist, die Verfahrens- dauer auch dadurch zu verkürzen, dass Sie für eine bes- sere Ausstattung an Personal- und Sachmitteln sorgen. Auch an dieser Stelle müssen Sie zweifellos noch deut- lich nachbessern. Und, damit komme ich dann zum Schluss, wenn ich dann lese, dass das Bundesministerium für Justiz selbst davon ausgeht, dass die Schadenersatzansprüche nicht unbedingt zu Mehrbelastungen der öffentlichen Haus- halte führen, weil die Richter jetzt schneller entscheiden und im Gegenzug zukünftig die Kosten der Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegfallen, dann ist, zurückhaltend formuliert, auch an dieser Stelle noch erheblicher Klärungsbedarf. Insofern hoffe ich, dass meine Bedenken bzw. die Bedenken der SPD-Fraktion im Gesetzgebungsverfahren noch Berück- sichtigung finden können. Jens Petermann (DIE LINKE): Was lange währt, sollte besonders gut werden. Die Hinweise des Europäi- schen Gerichtshofs für Menschenrechte blieben zehn Jahre ungehört. Mehrfach wurde die Bundesrepublik Deutsch- land auf eine Lücke im deutschen Recht aufmerksam ge- macht. Wer vor einem Gericht klagt, erwartet ein Urteil in angemessener Zeit. Das verlangen auch das Grundgesetz und die Europäische Menschenrechtskonvention. Nach zehnjähriger Untätigkeit versucht die Bundesregierung mit dem vorliegenden Entwurf, diese Lücke zu schließen. Wie jeder sehen kann, benötigt sie dazu einen unange- messenen Zeitraum; eine Untätigkeitsrüge gegenüber der Regierung ist damit mehr als angebracht! Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll für die Menschen, deren Gerichtsprozesse zu lange dauern, ein gesetzlicher Entschädigungsanspruch eingeführt wer- den. Grundsätzlich ist es die Aufgabe des Staates, ausrei- chende personelle und sachliche Ressourcen zur Verfü- gung zu stellen, damit es gar nicht erst so weit kommt. Durch das nun vorgeschlagene Entschädigungsverfahren werden aber unnötig weitere Kapazitäten bei den Instanzgerichten durch Erhebung der Verzögerungsrüge sowie bei den Oberlandesgerichten durch die Entschei- dung über den Entschädigungsantrag gebunden. Dafür bleiben andere Verfahren, insbesondere Hauptsachever- fahren, liegen. Die von der Koalition angedachte Be- schleunigungswirkung wird ins Gegenteil verkehrt. Die Einführung der Entschädigungsregelung ändert nichts an dem Missstand überlanger Verfahren. Vielmehr wird die ohnehin schon überlastete Justiz zusätzlich belastet. Scheinbar gehen Sie davon aus, dass die Richterinnen und Richter im Moment noch über ausreichend freie Ar- beitszeit verfügen, um sich mit den Gründen der Verzö- gerung zu beschäftigen. Dem ist aber nicht so. Und das sage ich Ihnen aus zwanzigjähriger Erfahrung als Ar- beits- und Sozialrichter. Die einzige Gefahr, die ich mit der Einführung sehe, ist, dass die betroffenen Richterin- nen, Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte das jeweilige Verfahren nach Eingang einer Verzögerungs- rüge auf Kosten anderer – ebenfalls wichtiger und dring- licher Verfahren – vorziehen. Ich habe einen anderen Lö- sungsvorschlag: Sorgen Sie für eine ausreichende sachliche und personelle Ausstattung der Gerichte und Staatsanwaltschaften, geben Sie der Justiz mehr Autono- mie, dann bekommen wir die Probleme mit überlangen Gerichtsverfahren in den Griff. Die Krankheitssymp- tome zu kaschieren, ist der falsche Weg. Die eigentli- chen Ursachen dieses Phänomens werden damit jeden- falls nicht beseitigt. So wurde zum Beispiel durch Ihre verfassungswid- rige Hartz-IV-Gesetzgebung eine Prozessflut an den So- zialgerichten provoziert. 41 Gesetzesnovellen in sechs Jahren haben zum Teil zu chaotischen Zuständen in der Sozialgerichtsbarkeit und damit zu unzumutbaren Belas- tungen für die rechtsschutzsuchenden Bürgerinnen und Bürger geführt. In ihrer Not haben die Landesjustizmi- nister Ressourcen aus den anderen Gerichtsbarkeiten verlagert. Auch innerhalb der Sozialgerichtsbarkeit selbst wurden Stellen zum SGB-II-bearbeitenden Be- reich zulasten der übrigen Bereiche wie Rentenversiche- rung, Krankenversicherung oder Unfallversicherung umgeschichtet. Da muss sich niemand mehr wundern, wenn ein rentenrechtliches Verfahren mit einem Antrag im Jahre 2000 beginnt, über die Instanzen acht Jahre bis zu einer Entscheidung benötigt und im Jahre 2010 mit einer Rüge des Europäischen Gerichtshofs für Men- schenrechte wegen überlanger Verfahrensdauer abge- schlossen wird. Derartige Beispiele lassen sich zuhauf finden, und ihre Zahl wird sich auch trotz des nun vorge- sehenen Entschädigungsanspruchs nicht signifikant ändern. Da wir gerade beim SGB II sind: Was bleibt ei- gentlich einem Hartz-IV-Empfänger, wenn er eine Ent- schädigung für ein mehrere Jahre dauerndes Verfahren zugesprochen bekommt? Wahrscheinlich nichts; denn diese wird wohl auf seine Regelleistungen angerechnet! Die gesetzliche Festlegung eines bestimmten Geldbe- trages, der Nichtvermögensschäden ausgleichen soll, lehnen wir ab. Stattdessen sollte der Betrag von 1 200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung als Unter- grenze und nicht als fester Entschädigungsbetrag festge- legt werden. In anderen derartigen Fällen hat der Gesetz- geber es den Gerichten überlassen, den angemessenen Betrag unter Berücksichtigung aller Umstände des Ein- 9538 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 (A) (C) (D)(B) zelfalls festzusetzen. Dies ist gerade vor dem Hinter- grund der unterschiedlichen psychischen Belastungen der am Gerichtsprozess Beteiligten sinnvoll. Das Ent- schädigungsmodell soll für alle Gerichtsbarkeiten gelten und das jeweilige Oberlandesgericht soll eine Allzustän- digkeit für Entschädigungsverfahren aller übrigen Ge- richtsbarkeiten erhalten. Mir ist schleierhaft, wie Richte- rinnen und Richter am Oberlandesgericht schwierige steuerrechtliche, verwaltungsrechtliche oder arbeits- rechtliche Sachverhalte hinsichtlich einer damaligen Möglichkeit zur Beschleunigung bewerten sollen. Ir- gendwie drängt sich der Verdacht auf, dass nach dem Prinzip „linke Tasche, rechte Tasche“ verfahren wird. Greifen Sie unsere Vorschläge auf, dann können wir dem Gesetzentwurf zustimmen. Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Thema der überlangen Gerichtsverfahren ist von grundlegender Bedeutung für die Rechtspolitik. Der Eu- ropäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Bun- desrepublik bereits in 54 Fällen verurteilt mit der Be- gründung, dass überlange Gerichtsverfahren gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen. Ei- nes dieser Verfahren dauerte 13 Jahre lang. Dabei stritt man sich damals nicht einmal um eine juristisch beson- ders komplexe Materie. Es ging ausschließlich um die Erteilung eines Waffenscheins. In einem anderen Fall musste ein Unfallopfer 24 Jahre auf seine Entschädigung warten. Es war von einer Radfahrerin angefahren wor- den. Dabei hatte es sich Nase und Arm gebrochen und konnte anschließend seinen Beruf nicht mehr ausüben. Derart lange Verfahren führen die Rechtssuchenden oft- mals an den Rand der Verzweiflung. Richtig ist aber auch: Die Alltagsrealität an den deut- schen Gerichten ist das nicht. Überlange Gerichtsverfah- ren sind glücklicherweise kein Massenphänomen, sie sind die Ausnahme. Deutschland weist sich im Allge- meinen durch ein gutes und funktionierendes Rechtssys- tem aus. Was schlägt nun die Bundesregierung vor, um das Problem der überlangen Gerichtsverfahren zu lösen? Die Bundesregierung will für überlange Gerichtsverfahren einen Entschädigungsanspruch einführen. Um diesen Entschädigungsanspruch durchzusetzen, muss die Klä- gerin bzw. der Kläger zuvor im Verfahren die lange Ver- fahrensdauer gerügt haben. Die Entschädigung umfasst materielle Nachteile. Sie umfasst auch immaterielle Nachteile. Dann beträgt sie 1 200 Euro pro Jahr, bei Un- billigkeit kann ein höherer oder niedrigerer Betrag fest- gesetzt werden. Wenn man sich diesen Vorschlag genauer anschaut, dann stellt man fest: Die Entschädigung für immaterielle Nachteile kann nur beansprucht werden – ich zitiere –, „soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalls Wie- dergutmachung auf andere Weise … ausreichend ist“. „Wiedergutmachung auf andere Weise“ bedeutet: die bloße Feststellung, dass das Verfahren zu lange gedauert hat, mehr nicht. Wir fragen uns: Was bringt dem Rechtsuchenden eine solche Feststellung, die er sich dann stolz auf seinen Schreibtisch legen kann? Aus unserer Sicht nicht wirklich viel. Wir Grünen setzen uns deshalb für eine Umkehr des Regel-Ausnahme-Verhältnisses ein. Mit anderen Worten: Jede und Jeder soll Anspruch auf eine Entschädigungs- zahlung haben, wenn ein Verfahren zu lange dauert. Nur in besonderen Fällen soll die alleinige Feststellung der überlangen Verfahrensdauer ausreichen. Auch die Höhe der Entschädigungszahlung überzeugt nicht, wenn wir überlangen Verfahren wirklich vorbeu- gen wollen. Lassen Sie uns noch einmal einen Blick in den vorgelegten Entwurf werfen. Dort steht geschrieben: „Die Entschädigung … beträgt 1 200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung.“ Die Entschädigung wird also nicht nach Monaten, sondern nach Jahren berechnet. Das be- deutet wiederum, dass derjenige, dessen Verfahren sich „nur“ um 11 Monate verzögert, leer ausgeht. Auch mei- nen wir, dass eine reine Entschädigungslösung zu kurz gegriffen ist. Wir müssen zusätzlich die Kontrollmechanismen in- nerhalb der Gerichte stärken. Wenn sich das Präsidium eines Gerichts alle Vorgänge vorlegen lassen müsste, die nicht innerhalb eines Jahres abgeschlossen sind, würde eine bessere und kontinuierlichere Kontrolle innerhalb der Gerichte stattfinden. Das Präsidium müsste dann feststellen, aus welchem Grund ein Verfahren zu lange dauert. Sollte dieser in der Struktur bzw. der Aufgaben- verteilung liegen, sollte das Präsidium die Möglichkeit erhalten, geeignete Maßnahmen zu ergreifen. Gesetzlich könnte das zum Beispiel im Deutschen Richtergesetz verankert werden. Über das Gerichtsverfassungsgesetz könnten wir regeln, dass die Gerichtspräsidien einen er- weiterten Bedarf an Richterstellen dem zuständigen Par- lament als Haushaltsgesetzgeber zur Entscheidung zulei- ten. Wir Grünen werden uns in dieser Sache weiterhin ak- tiv am parlamentarischen Verfahren beteiligen, um den Bürgerinnen und Bürgern geeignete Mittel gegen über- lange Verfahren an die Hand zu geben. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes- ministerin der Justiz: Die Justiz in Deutschland arbeitet im Ganzen gesehen zügig; sie entscheidet rasch, und sie ist damit bürgerfreundlich. Ganz gleich, ob Strafverfah- ren, ziviler Rechtsstreit oder Fachgerichtsbarkeit, die al- lermeisten Verfahren können in einer angemessenen Zeit abgeschlossen werden. Bei den Amtsgerichten zum Bei- spiel wird die Hälfte aller Zivilverfahren innerhalb von drei Monaten erledigt. Trotzdem kommen leider immer wieder Einzelfälle vor, in denen Prozesse viel zu lange dauern. Wenn aber jahrzehntelang Unsicherheit besteht, ob eine Forderung besteht oder wie über eine Anklage entschieden wird, dann kann dies für die Betroffenen eine enorme Belas- tung sein. In Zukunft sollen Bürgerinnen und Bürger deshalb vor überlangen Gerichtsverfahren besser ge- schützt werden. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir einen Entschädigungsanspruch gegen den Staat schaffen; er soll für alle Gerichtsbarkeiten gelten, und er bezieht auch die obersten Bundesgerichte und das Bundesverfassungsgericht mit ein. Damit wollen wir zu- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9539 (A) (C) (D)(B) gleich dafür sorgen, dass in Zukunft überlange Verfahren noch seltener vorkommen als heute. Bislang gibt es im deutschen Recht keinen Rechts- schutz gegen überlange Gerichtsverfahren. Diese Lücke müssen wir schließen; denn sie ist nach der Rechtspre- chung des Europäischen Gerichtshofs für Menschen- rechte ein strukturelles Defizit. Nach den Vorgaben des Gerichtshofs muss Deutschland dieses Defizit bis spätes- tens Ende 2011 beheben. Wir stehen hier also völker- rechtlich in der Pflicht. In der Pflicht stehen wir aber auch verfassungsrechtlich. Das Bundesverfassungsge- richt hat stets den hohen Rang der Prozessgrundrechte bekräftigt. Zu ihnen gehört das Recht, dass in einem Ver- fahren nach angemessener Zeit auch entschieden wird. Die Vorgaben sind also klar. Trotzdem sind in der Ver- gangenheit alle Lösungsversuche an politischen Wider- ständen gescheitert. Ich freue mich deshalb sehr, dass es inzwischen einen breiten Konsens darüber gibt, dass wir den Rechtsschutz gegen überlange Verfahren endlich verbessern müssen. Auch inhaltlich wird das Konzept der Bundesregierung von den Ländern und den Verbänden der Richter- und Anwaltschaft im Grundsatz mitgetragen. Viele sind mit mir der Meinung, dass wir den Entschädigungsanspruch davon abhängig machen sollten, dass die Betroffenen zuvor eine Verzögerungsrüge erheben. Eine solche Vor- warnung dient der Prävention. Sie soll das Gericht dazu bewegen, das Verfahren zu beschleunigen und es gar nicht erst zu einem überlangen Verfahren kommen zu lassen. Natürlich hat es an unserem Entwurf an der einen oder anderen Stelle Kritik gegeben. Manche Länder meinen, der Entwurf gehe zu weit und könne die Länder- haushalte mehr als nötig belasten. Demgegenüber wollen Teile der Anwaltschaft sogar mehr, als der Regie- rungsentwurf vorschlägt; sie wollen eine Kombination aus Entschädigung und einer echten Beschwerdemög- lichkeit an ein höheres Gericht. Wenn ein Gesetzentwurf den einen zu weit und den anderen nicht weit genug geht, gibt das Anlass zu der Annahme, dass er genau richtig liegt, nämlich in der Mitte. Die Regelung ist so ausgestaltet, dass für die Justiz keine unnötigen Mehrbelastungen entstehen. Wir ver- zichten ganz bewusst darauf, für den notwendigen Rechtsschutz ein neues Nebenverfahren zu eröffnen. Das würde nur zusätzlichen Aufwand schaffen. Stattdessen bekommen die Richter, um deren Verfahren es geht, die Möglichkeit, bei berechtigten Verzögerungsrügen Ab- hilfe zu leisten und so einen Entschädigungsprozess zu verhindern. Nur wer nach einer solchen Vorwarnung an den Richter sein Verfahren immer noch für zu langsam hält, der kann eine Entschädigung verlangen. Liegen die Voraussetzungen vor, werden Vermögensnachteile und Nichtvermögensnachteile ersetzt. Dabei kommt es übri- gens nicht auf ein Verschulden der einzelnen Richter an. Der Staat trägt auch dann die Verantwortung, wenn ein Verfahren aus strukturellen, also vom einzelnen Richter nicht zu vertretenden Gründen unangemessen lange dau- ert. Wenn es in Einzelfällen berechtigte Klagen über zu lange Verfahren gibt, dann muss man auch über Verbes- serungen nachdenken. Das bedeutet aber nicht automa- tisch Mehraufwendungen für die Ausstattung der Ge- richte. Verbesserungen lassen sich auch und gerade durch die Geschäftsverteilung und die Organisation in der Gerichtsbarkeit erreichen. Das neue Gesetz kommt deshalb nicht nur den Beteiligten eines Gerichtsverfah- rens zugute, sondern es dient auch der Justiz insgesamt. Damit stärken wir den Rechtsstaat, und deshalb hoffe ich auf eine breite Zustimmung für dieses Projekt. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Beziehungen der Europäischen Union mit Afrika solidarisch und gerecht gestalten (Tagesordnungspunkt 14) Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): Nach dem EU-Afrika-Gipfel Ende November letzten Jahres in Tripolis debattieren wir heute in zweiter und dritter Le- sung den Antrag der Fraktion Die Linke „Beziehungen der Europäischen Union mit Afrika solidarisieren und gerecht gestalten“. Im Fall Ihres Antrags muss ich sagen: Papier ist geduldig. Aber Papier sowie Ihr undifferen- zierter Antrag entwickelt sich manchmal auch genauso schnell, wie es beschrieben wird, zur Makulatur. Wenn Sie den Verlauf des Gipfels in Tripolis mit seinen Ver- handlungsergebnissen verfolgt haben, dann werden Sie feststellen, dass Konsens über die Wichtigkeit der Wirt- schaftspartnerschaftsabkommen zwischen den Mitglied- staaten der EU und den Mitgliedstaaten der AU herrscht. Die Handels- und die Wirtschaftsbeziehungen zwischen der EU und den Ländern des afrikanischen Kontinents müssen als das begriffen werden, was sie sind, nämlich als Chancen für sozialen Aufstieg, wirtschaftlichen Fort- schritt, politische Selbstbestimmung und Unabhängig- keit. Darin liegt der Unterschied zu Ihrer „kolonialen Dominanz“, die Sie in diesen Handelsbeziehungen er- kennen wollen. Der Gewinn durch Handelsbeziehungen ist ungleich größer, als jede Form von Entwicklungszu- sammenarbeit es jemals sein kann. Die Linke tritt ja bekanntermaßen für mehr Solidarität der Menschen untereinander ein. Jetzt ist nur die Frage: Was ist überhaupt Ihre Definition von Solidarität? Ist So- lidarität der Tropf der Entwicklungshilfe, wie es Ihr An- trag implizit fordert? Oder ist Solidarität, wie wir sie se- hen, Partnerschaft, in der beide Partner, in unserem Fall Europa und Afrika, einander auf Augenhöhe begegnen und wirtschaftlich kooperieren? In Ihrem Fall sehe ich den Begriff Solidarität leider nur als ein Verharren im Status quo. Wozu eine Partnerschaft anstreben? Sie woll- ten doch am liebsten zurück in das von Ihnen kritisierte Geber-Nehmer-Verhältnis. Nur hier können Sie Mitleid haben und Ihre ideologische Rhetorik vortragen. Aber dieses Nichtsgetue macht die Menschen nicht satt und schafft auch keine Existenzgrundlage. Das sollten Sie sich endlich eingestehen. 9540 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 (A) (C) (D)(B) Wie in Ihrem Antrag dargestellt, sehen Sie das Kon- zept der zivilen Krisenprävention und der vernetzten Si- cherheit als Wurzel staatlicher Repression und indirekt als Ursache für Menschenrechtsverletzungen. Nun, dann muss ich Ihnen sagen, dass Sie das Konzept einfach nicht verstanden haben. Die Krisenprävention, wie der Name sagt, beugt Krisen vor. Dabei sind Krisenpräven- tion und vernetzte Sicherheit eine kohärente Strategie zur Problembewältigung. Nicht die militärische Inter- vention steht im Vordergrund, sondern die Vermeidung bewaffneter Konflikte und Krisen. Wer wie im Kongo, im Sudan und in Somalia den Schutz und die Sicherheit der Bevölkerung sicherstellen will, der muss dafür sor- gen, dass ein Staat auf eigenen Füßen stehen kann. Dazu zählt notwendigerweise auch der Aufbau einer funktio- nierenden Polizei und von Streitkräften. Aber wenn Sie, wie in Ihrem Antrag auf Drucksache 17/4248, den sofor- tigen Abzug deutscher Ausbilder aus Uganda fordern, die dort Sicherheitskräfte für Somalia ausbilden, dann zeigt dies wieder einmal, wer sich mit der Thematik be- fasst hat oder nicht. Deutschland und die Europäische Union haben ein In- teresse an starken, selbstständigen afrikanischen Staaten. Dazu wollen wir in Afrika Wirtschaftswachstum gene- rieren. Doch wirtschaftliche Entwicklung setzt ein Min- destmaß an Stabilität voraus, die wir politisch begleiten müssen. Dazu gehören ein zuverlässiges Steuer- und Rechtssystem sowie eine gute Regierungsführung, die die Achtung der Menschrechte als erstes Paradigma ver- tritt. Die Einigkeit in dieser Frage kam auch auf der Ab- schlusserklärung des EU-Afrika-Gipfels in Tripolis zum Ausdruck. Nur mit einem gemeinsamen Voranschreiten in diesen Fragen werden wir Armut und Hunger in Afrika besiegen können. Und, ich wiederhole es hier noch einmal: Dies passiert in jedem Staat einzeln, unter der Berücksichtigung der Eigenheiten jedes Landes. Ihre „koloniale Dominanz“ tritt darin hervor, dass Sie ganz Afrika über einen Kamm scheren. Deutschlands Ausgaben im Rahmen der Entwick- lungszusammenarbeit steigen stetig. Dies ist ein Zei- chen, wie ernst wir unsere Verantwortung nehmen. Ganz recht, wie Sie sagen: Migration kann nur in den Ländern, in denen die Ursachen liegen, wirkungsvoll bekämpft werden. Dafür treten wir ein. Deswegen haben wir im Jahr 2009 3 478 Millionen Euro in die afrikanischen Länder südlich der Sahara transferiert. Aber von nicht zu unterschätzender Bedeutung sind auch die deutschen Unternehmen, die in zahlreiche afrikanische Länder in- vestieren und so einen Mehrwert für die Menschen vor Ort schaffen. Wirtschaftlicher Austausch führt immer zu beiderseitigem Gewinn. Die Chancen, die darin liegen, gilt es zu nutzen. Hervorheben möchte ich hierbei den Sektor der Informations- und Kommunikationstechnolo- gie, der in Tripolis erwähnt wurde. Hier schlummert ein riesiges Potenzial, das es zu wecken und zu fördern gilt. Auch müssen wir den Bereich des Public-private-Part- nership stärker in unsere Entwicklungsbemühungen ein- beziehen und fördern. Ein Punkt Ihres Antrags ist die Neuausrichtung der Rohstoff- und Energiepolitik auf regenerative, umwelt- verträgliche, gerechte und Konflikte vermeidende Strate- gien der Energieversorgung. In diesem Punkt Ihres An- trags stimme ich Ihnen vollkommen zu. Das Problem ist nur, dass Sie hier der Zeit etwas hinterher sind. Genau dies setzten wir schon lange um. Der Schutz der Umwelt ist ein ausgewiesenes Ziel der MDG. Eine nachhaltige Energieversorgung geht damit unzweifelhaft einher. Dies sahen auch die Staaten in Tripolis so. Der Ausbau eines Marktes für nachhaltige Energien insbesondere mit Investitionen in den Bereich der erneuerbaren Energien wird angestrebt, wie die Abschlusserklärung verlauten lässt. Ein Technologie- und Wissenstransfer kann dem großen Vorschub leisten. In Ihrem Antrag plädieren Sie für die Herstellung von Ernährungssouveränität in den afrikanischen Ländern. In diesem Punkt muss ich Ihnen beipflichten. Aber ich frage mich: Haben Sie die Entwicklung der letzten Jahre verfolgt? Es ist ein ausgemachtes Ziel, die afrikanische Landwirtschaft zu stärken. Daran wird mit vollem Elan gearbeitet. Ihre Forderung ist insofern nichts Neues. Gut wäre es, wenn Sie hierzu eigene Ansätze einbringen würden. Zu allerletzt noch eine Bitte an die linke Seite dieses Hauses: Sie werden den Chancen des Kontinentes Afrika mit solchen ideologisch geprägten Anträgen nicht ge- recht. Noch weniger hilft es, die noch bestehenden Pro- bleme zu lösen. Dies wird unter anderem dadurch deut- lich, dass uns die Bevölkerung der Elfenbeinküste bittet, die Wählerentscheidung der Präsidentschaftswahlen vom 28. November 2010 durchzusetzen und Herrn Ouattara als gewählten Präsidenten anzuerkennen. Dies steht im krassen Gegensatz zu einer Äußerung eines Mit- glieds der Fraktion der Linken in der Zeitung Das Parla- ment, keinen der beiden Kandidaten zum Wahlsieger zu erklären und die Wahlen zu wiederholen. Mit dieser For- derung steht die Linke wieder einmal gegen die gesamte Weltgemeinschaft. Kümmern Sie sich endlich um die Belange der Menschen dieses Kontinents, aber instru- mentalisieren Sie die Nöte der Menschen nicht mehr zu Ihren Zwecken. Karin Roth (Esslingen) (SPD): Das dritte Gipfeltref- fen von Europäischer Union und den afrikanischen Staa- ten am 29. und 30. November 2010 in Tripolis war ein weiterer wichtiger Schritt zu einer echten Partnerschaft auf Augenhöhe. Bedauerlicherweise hat die Bundes- kanzlerin nicht an dem Gipfel teilgenommen und statt- dessen ihren Außenminister geschickt. Dies ist eine völ- lige Fehleinschätzung seitens der Kanzlerin über die Bedeutung Afrikas in der Zukunft. Denn: Die Realität sieht anders aus. 1 Milliarde Menschen in 53 Ländern Afrikas erwarten zu Recht, dass die europäisch-afrikani- sche Partnerschaft nach dem Gipfel nicht nur in gut ge- meinten Absichtserklärungen stattfindet, sondern kon- kret gelebt und weiter ausgebaut wird. Dazu haben sich die Staats- und Regierungschefs mit dem verabschiede- ten Aktionsplan ein ehrgeiziges Ziel bis zum nächsten Gipfel 2013 in Brüssel gesetzt. Um es deutlich zu sagen: Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt den Aktionsplan. Allerdings kritisieren wir, dass es keinen verbindlichen Finanzierungsplan zu dessen Umsetzung gibt. Deshalb fordern wir alle Beteiligten – die Europäische Union, die Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9541 (A) (C) (D)(B) afrikanischen Partnerländer und natürlich auch die Bun- desregierung – auf, den Worten nun Taten folgen zu las- sen und die dafür notwendigen finanziellen Mittel bereit- zustellen. Der Antrag der Fraktion Die Linke, über den wir heute beraten, beschränkt sich im Wesentlichen auf wirt- schafts- und sicherheitspolitische Aspekte und bleibt so- mit unvollständig. Die SPD-Fraktion lehnt den Antrag deshalb ab. Vielmehr muss es darum gehen, die Ent- wicklung der afrikanischen Partnerländer in allen Poli- tikbereichen zu fördern und nachhaltig zu stärken. Wo- rum geht es uns konkret? Zum einen geht es um die künftige Ausgestaltung der Wirtschaftspartnerschaftsab- kommen. Auch hier müssen die gemeinsamen Interessen und das Verbindende in den Vordergrund gerückt wer- den. Die Zeiten des Exportkolonialismus, bei dem es nur darum ging, neue Absatzmärkte für die Industriestaaten zu erschließen, sind glücklicherweise endgültig vorbei. Ich möchte mich in diesem Zusammenhang ausdrücklich bei EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso be- danken, dem es vor allem zu verdanken ist, dass auf dem EU-Afrika-Gipfel alle Beteiligten bei der Frage der Wirtschaftspartnerschaftsabkommen einen oder gar mehrere Schritte aufeinander zugegangen sind. Das ist ein Verdienst und für uns das richtige Verständnis von Partnerschaft auf Augenhöhe. Dazu gehört übrigens auch der Aufbau einer Rohstoff- partnerschaft, bei der es nicht nur darum gehen kann, die Rohstoffe in Afrika für Europa auszubeuten. Stattdessen fordern wir die Eindämmung des illegalen Rohstoffab- baus und die Ausweitung der Zertifizierung. Ich begrüße den entsprechenden Vorschlag der Kommission, in Zu- sammenarbeit mit der Initiative zur Verbesserung der Transparenz in der Rohstoffindustrie – EITI – ein wirksa- mes Controlling aufzubauen. Mit der Annahme des US-Gesetzes über Konfliktmineralien, Conflict Minerals Law, und des Cardin-Lugar-Act, der umfangreiche Be- richtspflichten der Rohstoffindustrie vorsieht, wurden zu- dem große Schritte zu mehr Transparenz und zur Bekämpfung von Korruption und illegaler Rohstoffaus- beutung in Afrika gemacht. Die SPD-Bundestagsfraktion fordert die Kommission und die Bundesregierung auf, schnellstmöglich entsprechende Vorschläge für die Rück- verfolgbarkeit von in den europäischen Markt eingeführten Mineralien und für mehr Transparenz in der Rohstoffwirt- schaft vorzulegen. Letztlich brauchen unsere afrikanischen Partner und wir eine gemeinsame Rohstoffstrategie, die umwelt- und sozialverträglich ausgestaltet ist und auch der örtlichen Bevölkerung zugutekommt. Um es aber klar zu sagen: Wirtschaftliche Zusam- menarbeit im Sinne von nachhaltiger Entwicklungszu- sammenarbeit muss sich auch an der Einhaltung von ge- meinsam vereinbarten Standards messen lassen. Bei der Verhandlung und Durchführung der Wirtschafts- und Handelsabkommen zwischen der EU und Afrika ist si- cherzustellen, dass die von der Internationalen Arbeits- organisation, ILO, vorgegebenen Sozialstandards – die sogenannten ILO-Kernarbeitsnormen – und ökologische Mindeststandards verbindlich festgeschrieben und ein- gehalten werden. Ziel ist es, die Voraussetzungen zu ver- bessern, damit die Menschen durch Erwerbsarbeit ein existenzsicherndes Einkommen erhalten. Dies war übri- gens – in Verbindung mit Wachstum und Investitionen – eine zentrale Frage des EU-Afrika-Gipfels. Die Leitlinien für die Umsetzung des Aktionsplans sind für uns eindeutig. Eine Grundvoraussetzung dafür ist zunächst einmal die Bereitschaft der Geberländer, ihre internationalen Zusagen und Verpflichtungen einzu- halten, allen voran die Erfüllung der sogenannten ODA- Quote. So hatte sich Deutschland verpflichtet, diese öf- fentliche Entwicklungshilfe im Jahr 2010 auf 0,51 Pro- zent des Bruttoinlandsprodukts zu steigern. Davon sind wir weit entfernt. Das Ziel, im Jahr 2015 auf 0,7 Prozent zu kommen, wird diese Bundesregierung – wenn sie so weitermacht – nie und nimmer erreichen. Wir begrüßen deshalb, dass sich die Staats- und Regierungschefs in ih- rer Abschlusserklärung erneut zu dem 0,7-Prozent-Ziel bekannt haben und dass in diesem Rahmen für die nächsten drei Jahre Finanzhilfen in Höhe von 50 Milliar- den Euro zugesagt wurden; denn eines ist klar: Ohne die Einhaltung dieser Zusagen sind die Millenniumsent- wicklungsziele und die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung in den Partnerländern nicht zu erreichen. Aber genau das wollen wir. Wir wollen die nachhaltige wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung der Partnerländer fördern und stärken. Dazu gehört zum Bei- spiel der Aufbau stabiler Strukturen für eine gute und transparente Regierungsführung. Wir wollen die Armut und den Hunger in den afrika- nischen Ländern bekämpfen. Ein wesentlicher Schlüssel ist dabei der Aufbau von Systemen der sozialen Siche- rung – vor allem solidarisch organisierter Gesundheits- systeme. Nur so kann es gelingen, gerade für die Ärms- ten der Armen eine Absicherung gegen alle Risiken von Krankheit zu gewährleisten. Gewinnorientierte pri- vatwirtschaftliche Systeme sind der falsche Weg. Da- mit Gesundheitssysteme aber auch praktisch funktio- nieren, muss die Abwanderung hochqualifizierter Fachkräfte – der sogenannte Braindrain – aus Afrika ge- stoppt werden. Damit diese Fachkräfte wieder in ihr Land zurückkehren, bedarf es starker Anreize. Die Ein- stellung und angemessene Entlohnung von Gesundheits- fachkräften müssen deshalb direkt gefördert werden. Im Bereich der Bekämpfung der Mütter- und Kindersterb- lichkeit ist die Stärkung der Kampagne für die beschleu- nigte Reduzierung der Müttersterblichkeit in Afrika – CARMMA – zu begrüßen. Bis 2013 soll diese Kampa- gne in allen 53 Staaten der Afrikanischen Union an den Start gegangen sein. Wir begrüßen ausdrücklich, dass der Bereich der Wasser- und Sanitätsversorgung in den neuen Aktions- plan aufgenommen wurde. Die SPD-Bundestagsfrak- tion hatte die herausragende Bedeutung dieses Themas für die Menschen in den Partnerländern bereits im Vor- feld des EU-Afrika-Gipfels mit dem Antrag „Das Men- schenrecht auf sauberes Trinkwasser und Sanitärversor- gung umsetzen“ unterstrichen und so erfolgreich gefordert, dass das Menschenrecht auf Wasser und Sani- tärversorgung ein Schwerpunkt der Europäischen Union bleibt und sich im Aktionsplan des EU-Afrika-Gipfels wiederfindet. Hinsichtlich der Vereinbarungen zum Klima- und Umweltschutz ist der Gipfel jedoch deutlich 9542 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 (A) (C) (D)(B) hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Zwar ist es er- freulich, dass das Bekenntnis zur gemeinsamen ökologi- schen Verantwortung erneuert und vertieft wurde. Die gemeinsame Erklärung im Vorfeld der Weltklimakonfe- renz in Cancún ist, obwohl sie unterschriftsreif vorlag, letztlich nicht zustande gekommen. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang auch die Weichenstellungen für eine Energiewende auf dem afrikanischen Kontinent. Dazu gehört das Programm über die Zusammenarbeit zwischen Afrika und der Euro- päischen Union im Bereich der erneuerbaren Energien sowie die im September 2010 in Wien vereinbarten poli- tischen Zielsetzungen bis 2020. Hier ist die Bundesre- gierung ganz besonders in der Pflicht, die gemeinsam mit der österreichischen Regierung den Vorsitz der euro- päisch-afrikanischen Energiepartnerschaft innehat. Der Aktionsplan zur Umsetzung der acht strategi- schen Partnerschaften ist ein ehrgeiziger Fahrplan für die nächsten drei Jahre. Die mit dem Tripolis-Gipfel ge- stärkte Partnerschaft von Europäischer Union und Afrika wird sich beim nächsten Aufeinandertreffen 2013 in Brüssel daran messen lassen müssen. Vor allem die EU- Mitgliedsländer sind aufgerufen, ihren Beitrag zu leis- ten. Das Europäische Parlament hat mit seinem Be- schluss vom 15. Dezember 2010 den richtigen Weg auf- gezeigt. Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt zudem ausdrücklich die Forderung, dass es den Europaabgeord- neten ermöglicht wird, die Umsetzung des Aktionsplans zu überwachen und so dessen Erfolg bis 2013 zu ge- währleisten. Die Bundesregierung muss dabei der Motor in der Europäischen Union sein. Gemeinsam mit den eu- ropäischen und afrikanischen Partnern muss ein konkre- tes Arbeitsprogramm zur Umsetzung der EU-Afrika- Partnerschaft erarbeitet und mit den erforderlichen Fi- nanzmitteln ausgestattet werden; denn sonst geht es wei- ter wie immer. Großen Ankündigungen auf internationa- ler Bühne folgt schon bald die Ernüchterung, wenn es um die konkrete Umsetzung geht. Hier ist durch Schwarz-Gelb in den rund sechzehn Monaten ihrer Re- gierungszeit viel Vertrauen und Kredit verspielt worden. Deshalb muss endlich Schluss sein mit den leeren Ver- sprechungen. Die SPD-Bundestagsfraktion erwartet, dass die Bun- desregierung – allen voran der Entwicklungsminister – sich wieder stärker mit den anderen Geberländern koor- diniert. Es kann und darf nicht sein, dass deutsche Ent- wicklungspolitik mehr und mehr dem Motto „Auf jedem Projekt ein deutsches Fähnchen“ folgt. Wir fordern die Bundesregierung deshalb auf, sich wieder zu den erfolg- reichen multilateralen Geberinitiativen zu bekennen. Denn eines ist klar: Die Erreichung der Millenniumsent- wicklungsziele bis 2015 und die weltweite Bekämpfung der Armut kann nur gemeinsam gelingen. Dies gilt ganz besonders für den Ausbau der europäisch-afrikanischen Partnerschaft. Joachim Günther (Plauen) (FDP): Wir debattieren heute in zweiter Lesung den Antrag der Fraktion Die Linke „Beziehungen der Europäischen Union mit Afrika solidarisch und gerecht gestalten“. Lassen Sie mich zu- nächst festhalten: Wir alle sind fraktionsübergreifend überzeugt von der Wichtigkeit der Beziehungen und der Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und Afrika und auch davon, dass diese solidarisch und ge- recht gestaltet sein müssen. Nur eben in der Ausgestal- tung ist der Antrag der Linken erwartungsgemäß ein im- mer wiederkehrender Angriff gegen die wirtschaftlichen Beziehungen der EU zu Afrika. Dabei wirft die Linke der EU und ihren Mitgliedstaaten vor, sie würden durch ihre Handels-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik die kolonialen Dominanzverhältnisse fortsetzen und damit eine sozial und ökologisch nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung in Afrika erschweren. Beispielsweise wird die Anschuldigung erhoben, die EU-Wirtschaftspartnerschaftsabkommen und die Libera- lisierung der Märkte seien unausgewogen und eine Be- drohung der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung afrikanischer Länder. Die Armut werde damit nicht besei- tigt, ja, sie verschärfe sich dadurch sogar. Die Linke lässt außen vor, dass letztlich nur eine wirtschaftliche Ent- wicklung in den jeweiligen Ländern eine Grundlage für Arbeit und Auskommen ist. Deshalb ist es wichtig, zu be- tonen, dass eine Zunahme des Handels zwischen der EU und den afrikanischen Ländern entwicklungsförderlich ist. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass bereits insgesamt 35 AKP-Staaten bislang ein (Interims-) Wirtschaftspartnerschaftsabkommen paraphiert haben und ihnen damit zoll- und quotenfreier Marktzugang für Waren in die EU gewährt wird, bei Übergangsfristen für Zucker bis 2015 und für Reis bis 2009. Darunter sind ein umfassendes regionales Wirtschaftspartnerschaftsab- kommen mit der Karibik-Region, CARIFORUM, und ein regionales Interimsabkommen mit der Ostafrikanischen Gemeinschaft, EAC – East African Community. In allen anderen Regionen haben Subregionen, zum Beispiel süd- liches Afrika – SADC – bzw. einzelne Länder, Interims- abkommen paraphiert und mit Ausnahme von Namibia auch unterzeichnet. Die Interimsabkommen konzentrie- ren sich dabei auf den Warenhandel. Sie bilden seit 2008 die Grundlage für die Weiterführung der Verhandlungen mit dem Ziel des Abschlusses umfassender WPAs. Paral- lel zur Weiterführung der Verhandlungen sollen die unter- zeichneten Interimsabkommen umgesetzt werden. In ihrem Antrag kritisieren die Linken auch, dass die EU und Deutschland mit Einzelstaaten oder kleineren Staatengruppen Abkommen geschlossen haben. Hierzu möchte ich sagen, dass Afrika aus 54 eigenständigen Staaten besteht, die Voraussetzungen für eine Zusam- menarbeit für jedes Partnerland jeweils unterschiedlich sind und es eine gute EU-Afrika-Strategie ausmacht, ge- rade auf die spezifischen Interessen, Bedürfnisse und Probleme der afrikanischen Staaten einzugehen. Afrika ist ein an Rohstoffen reicher Kontinent, der es in der Vergangenheit oft versäumt hat, daraus die richtigen Entwicklungswege einzuleiten. Diese Fehler der Vergan- genheit dürfen nicht wiederholt werden. Allen sind noch die Worte „Blutdiamanten“ und ähnliche Begriffe be- kannt. Jetzt gilt es, auch mit unserer und der Hilfe der EU neue Wege zu beschreiten. Öleinnahmen sollten über Fonds für kommende Generationen mit angelegt wer- den. Das will zum Beispiel Ghana mit deutschen Ent- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9543 (A) (C) (D)(B) wicklungsexperten vorantreiben. Dazu muss das Land aber erst in die Situation versetzt werden, den Schatz „Erdöl“ fördern zu können und über Pipelines zu vertrei- ben. Voraussetzung dafür ist auch der Schutz der Han- delsinteressen und der Sicherheit im und um das Land. Im Antrag der Linken heißt es auch, die EU sei nur auf den Schutz ihrer Handelsinteressen aus, beispiels- weise durch die Marinemission Atalanta. Außerdem gebe es eine Fokussierung der deutschen und europäi- schen Afrikapolitik auf den Auf- und Ausbau von Sicherheitsstrukturen in Entwicklungsländern. Auch da- rüber möchte ich Sie gern aufklären; denn beim natio- nenübergreifenden Atalanta-Mandat – im Übrigen ist auch China involviert – geht es durchaus um den Schutz des Handels, aber eben zu allererst um den Schutz von Menschenleben und vor Kriminalität durch Piraten. Es wäre absolut unverständlich, würde man der Kriminali- tät im Golf von Aden nichts entgegensetzen. Man könnte annehmen, die Linken meinen, das Leben eines Seeman- nes sei weniger wert als das eines Piraten. Aber lassen Sie mich auf einer sachlichen Ebene bleiben. Weiterhin dient der Auf- und Ausbau von Sicherheitsstrukturen der Wiederherstellung der staatlichen Gewalt durch die Stär- kung von Polizei und Justiz. In vielen fragilen und zer- fallenden Staaten zeigt sich, dass genau der Aufbau der staatlichen Sicherheitskräfte nach demokratischen Spiel- regeln elementar für die Stabilisierung eines Landes ist und kriminelle Banden nicht plündernd und mordend durch das Land ziehen können. Letztlich geht es hier ebenso um den Schutz der Bevölkerung und den Aufbau der Zivilgesellschaft. Die Vorwürfe gipfeln in der Behauptung, dass sich hinter dem zivilen Engagement häufig die Stärkung staatlicher Repressionsorgane, die paramilitärischen oder militärischen Charakter haben, verberge. Hier scheinen die Antragsteller wohl im Hinterkopf Nord- korea zu haben. Aber genau vor solchen Unterdrü- ckungsstaaten, aus denen früher auch der gesamte Ost- block bestand, möchten wir Afrika bewahren. Dem Antrag liegt die permanente Anschuldigung zugrunde, die Bundesregierung finde sich mit Ausbeutung und Menschenrechtsverletzungen ab, sei sogar willens, selbst davon Gebrauch zu machen. Durch seinen Grundtenor disqualifiziert sich der Antrag als eine ernsthafte sachli- che Diskussionsgrundlage. Die FDP-Bundestagsfrak- tion lehnt diesen Antrag ab. Niema Movassat (DIE LINKE): Jede Afrika-Politik muss sich daran messen lassen, ob sie die Armut in Afrika wirksam bekämpft; denn die Lage dort ist drama- tisch: 27 der 29 Länder weltweit, in denen die Ernährung besonders gefährdet ist, liegen südlich der Sahara. Und im Niger und im Tschad herrscht derzeit eine Dürre; die Folgen sind Ernteausfälle und Viehsterben. Rund 2 Millionen Menschen im Tschad – das ist ein Fünftel der Bevölkerung – leiden deshalb an Unterernäh- rung. Im Niger ist sogar jeder zweite Einwohner betrof- fen! Die Bekämpfung von Armut und Hunger muss in den Beziehungen der EU und Deutschlands zu Afrika deshalb uneingeschränkt im Mittelpunkt stehen, und eben nicht eigene Wirtschaftsinteressen. Was selbstver- ständlich klingt, ist nicht Praxis. Die Europäische Union und Deutschland haben auf dem EU-Afrika-Gipfel Ende 2010 erneut bekräftigt, dass sie ihre bisherige Politik der einseitigen Verfolgung von Wirtschafts- und Rohstoffin- teressen unvermindert fortsetzen wollen. Seit Jahren ver- sucht die EU, sogenannte Wirtschaftspartnerschaftsab- kommen mit afrikanischen Staaten abzuschließen, um den Freihandel zu stärken. Um die Entstehung gleichbe- rechtigter Wirtschaftsbeziehungen geht es dabei aber nicht. In Wirklichkeit sollen diese Abkommen die afri- kanischen Märkte einseitig für die Einfuhr von EU-Pro- dukten öffnen. Für hiesige Unternehmen winken neue Absatzmärkte und Gewinne, für Afrika aber noch mehr Armut. Denn mit den oft hoch subventionierten EU-Waren können afrikanische Bauern und Unternehmen nicht konkurrieren. Im Ergebnis werden regionale Märkte und Arbeitsplätze dort vernichtet. So wurden auf dem Ga- neshi-Markt in Ghana früher 3 000 lebende Hühner pro Tag verkauft. Seit der Öffnung des ghanaischen Marktes und der darauf folgenden Importschwemme aus Europa aber ist das Geschäft zusammengebrochen: Heute expor- tieren europäische Länder 1 000 Tonnen Hühnerteile pro Monat nach Ghana. Restfleisch, das hier keiner essen will, wird so zu einem lukrativen Geschäft für europäi- sche Unternehmen. Für den kleinen Hühnerfarmer vor Ort, der gegen die Dumpingpreise nicht mithalten kann, bedeutet es den wirtschaftlichen Ruin. Sollten die Wirt- schaftspartnerschaftsabkommen Realität werden, wird sich die Situation wie in Ghana bald vielerorts wiederho- len. Das ist unverantwortlich! Und die Europäische Kommission macht weiter massiven Druck, um die Ab- kommen durchzusetzen. So hält der Art. 8 des Interimsabkommens mit der SADC-Region, der Südafrikanischen Entwicklungsge- meinschaft, ausdrücklich fest, dass die EU für die Um- setzung des Abkommens eine Priorität bei der Zuteilung von Entwicklungshilfegeldern gewährt. Das ist nichts anderes als Erpressung und hat mit einer Partnerschaft auf Augenhöhe nichts zu tun! Es ist gut, dass die afrika- nischen Staaten sich beim EU-Afrika-Gipfel gegen diese Abkommen positioniert haben. Um eine faire Handelspolitik zu betreiben, müssten Entwicklungsziele in den Abkommen festgeschrieben werden und nicht europäische Wirtschaftsziele! Aber ein Umdenken ist nicht in Sicht: Neueste Strategie der EU und Deutschlands ist es, die Gewährung von Entwick- lungshilfe an den freien Zugang zur Ausbeutung afrika- nischer Rohstoffe zu knüpfen. „Rohstoffpartner- schaften“ heißt das Zauberwort. Im Gegenzug wird die Aus- und Weiterbildung von Fachkräften vor Ort unter- stützt – afrikanisches Personal für die von Deutschland gewünschten Bergbauarbeiten. Das ist ein Einsatz vor allem im eigenen Interesse. Entwicklungsförderung vor Ort sieht anders aus! Echte Entwicklungsförderung würde für die Menschen Möglichkeiten der Existenz- sicherung vor Ort schaffen. Sie würde Perspektiven für ein besseres Leben eröffnen und vor der Flucht vor Ar- mut und Hunger bewahren; denn während wir hier de- battieren, sind in Afrika circa 18 Millionen Menschen 9544 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 (A) (C) (D)(B) auf der Flucht! Beispielsweise aus Mali, einem der ärms- ten Länder der Welt, wo die medizinische Versorgung und das Bildungswesen brachliegen. Vielen Familien se- hen dort keinen anderen Ausweg mehr aus der Not, als ein bis zwei Familienmitglieder auf die lebensgefährli- che Reise nach Europa zu schicken. Und wie reagiert die Europäische Union darauf? Sie schottet sich mit aller Brutalität vom verarmten Süden ab, setzt Kriegsschiffe gegen die Flüchtlinge ein, schließt Abkommen mit nord- afrikanischen Staaten mit katastrophaler Menschen- rechtslage – wie etwa Libyen – zum Stopp von Flücht- lingen. Währenddessen ertrinken täglich Menschen im Mittelmeer, weil ihre Boote seeuntauglich sind. Erst letzte Woche Sonntag sind vor der griechischen Küste wieder 22 Flüchtlinge gestorben. Jeden Tag wird an den Grenzen der Festung Europa die Menschenwürde mit Füßen getreten. Dieser Umgang mit den Flüchtlingen ist für unsere angeblich zivilisierte Gesellschaft die zentrale Schande des 21. Jahrhunderts. Sie ist ein Unrecht, das wir sofort beenden müssen! Die Bekämpfung von Hunger und Armut, die Wah- rung der Menschenwürde und ein Umgang auf Augen- höhe müssen endlich die Grundlage deutscher und euro- päischer Afrikapolitik sein! Es ist Zeit für einen politischen Neuanfang in den Beziehungen zu Afrika! Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): „1,5 Milliarden Menschen, 80 Länder, zwei Kontinente, eine Zukunft“ – so beschreibt die Europäische Kommis- sion die Beziehungen zwischen der EU und Afrika. Der jüngste EU-Afrika-Gipfel in Tripolis Ende November letzten Jahres sollte zu einem weiteren winzigen Schritt auf dieser Etappe werden. Die rhetorischen Ergebnisse des Gipfels begrüßen und unterstützen wir. So bekannten sich die Staats- und Regierungschefs in ihrer Abschlusserklärung zum not- wendigen Ausbau von Infrastruktur auf dem afrikani- schen Kontinent, insbesondere zu der von uns geforder- ten Aufstockung von erneuerbaren Energien. Als positives Ergebnis des Tripolis-Gipfels begrüße ich es besonders, dass die Herausforderungen und vor allem die Verbindungen und Interdependenzen zwischen Migration und Entwicklung endlich klar angesprochen wurden. Hier muss in den nächsten Jahren allerdings mehr passieren. Die auf dem Gipfel nochmals klar geäußerten Be- kenntnisse, etwa zum Ziel der Ernährungssicherheit oder der Bekämpfung von HIV/Aids, unterstreichen einmal mehr, dass die Millenniumsentwicklungsziele zumindest verbal im Mittelpunkt der aktuellen Partnerschaft EU- Afrika stehen. Doch es kommt darauf an, diese hehren Gipfelworte mit Leben zu füllen und den in Tripolis be- schlossenen Aktionsplan tatsächlich umzusetzen. Denn auch auf diesem dritten gemeinsamen Gipfel wurde deutlich, dass die EU auf der einen und Afrika auf der anderen Seite von der angestrebten „Partnerschaft auf Augenhöhe“ noch weit entfernt sind. Wie sonst lässt es sich erklären, dass die so heiklen und von afrikanischer Seite nach wie vor heftig kritisierten Wirtschaftspartner- schaftsabkommen zwischen der EU und Afrika auf dem Gipfel nicht vertieft behandelt wurden, obwohl dies doch ausdrücklicher Wunsch der afrikanischen Partner war? Und wie sonst lässt sich die afrikanische Sorge ein- ordnen, dass die Entwicklungshilfe aus Europa zuneh- mend an den Zugang zu afrikanischen Rohstoffen ge- koppelt wird? Hier besteht seitens der EU noch enormer Nachholbe- darf, vor allem auch im Hinblick auf eine kohärente Politik im Sinne der Entwicklung. Auch die Bundesre- gierung ist angesichts der Ergebnisse von Tripolis in der Pflicht. Denn während sich Deutschland unter Schwarz- Gelb von der Einhaltung des EU-Stufenplans verab- schiedet hat, bekennt sich die Tripolis-Erklärung klar zum 0,7-Prozent-Ziel. Die Gipfelerklärung unterstreicht darüber hinaus die Notwendigkeit von innovativen Fi- nanzierungsmöglichkeiten für die Umsetzung der Mil- lenniumsentwicklungsziele. Auf beiden Feldern versagt die Bundesregierung. Das schadet dem Ansehen der Bundesrepublik sowohl bei den afrikanischen Partnern als auch bei den EU-Mitgliedstaaten. Zum Antrag der Linken. Liebe Kolleginnen und Kol- legen, in vielen entwicklungs- und handelspolitischen Grundsatzfragen stimmen wir mit der Analyse Ihres An- trages überein. Dies gilt beispielsweise für die kritische Haltung zu den Wirtschaftspartnerschaftsabkommen. Es gilt auch für den wichtigen Hinweis, dass Rohstoffpart- nerschaften mit afrikanischen Ländern – seien sie von der EU oder der Bundesregierung initiiert – auf keinen Fall dazu führen dürfen, dass Entwicklungshilfe in ir- gendeiner Form an den Zugang zu Rohstoffen gekoppelt wird. Hier teilen wir Ihre Haltung. Doch in einigen Punkten werden Ihre Positionen von uns nicht mitgetra- gen. Wir lehnen den Antrag daher ab. Ihre Forderung nach einer Abschaffung jeglicher poli- zeilicher und militärischer Kooperation mit den afrikani- schen Partnerstaaten, die aus meiner Sicht unvermittelt am Ende des Antrags auftaucht, ist in ihrer Konsequenz viel zu kurz gedacht. Sie orientieren sich außerdem nicht an den Bedürfnissen der afrikanischen Partnerländer. Entwicklungszusammenarbeit im Allgemeinen und ins- besondere humanitäre Hilfe ist in Krisen- und Konflikt- fällen ohne eine militärische Absicherung häufig einfach nicht realisierbar. Und was ist aus entwicklungspoliti- scher Sicht an ausgebildeten Polizistinnen und Polizis- ten, die zur Rechtssicherheit beitragen sollen, zu bean- standen? In dieser Hinsicht liegen wir weit auseinander. Zu kurz gedachte Forderungen finden sich auch in an- deren Bereichen Ihres Antrags. So lehnen Sie jegliche Form von Privatisierung ab. Teilprivatisierungen und Privatisierungen können jedoch sinnvoll sein, wenn die Rahmenbedingungen stimmen und effektive Kontrollbe- hörden vorhanden sind. Diese aufzubauen und zu stär- ken, ist auch Aufgabe der Entwicklungszusammenarbeit. Diese Forderungen gehen an der Realität vorbei. Was wir wollen und fordern, das ist die aktive Ausgestaltung einer echten Partnerschaft auf Augenhöhe zwischen der EU und den afrikanischen Staaten. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9545 (A) (C) (D)(B) Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Einen Pakt für den wissenschaftlichen Nach- wuchs und zukunftsfähige Personalstruktu- ren an den Hochschulen initiieren – Wissenschaft als Beruf attraktiv gestalten – Prekarisierung des akademischen Mittel- baus beenden (Tagesordnungspunkt 16 a und b) Monika Grütters (CDU/CSU): Die Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen und die Fraktion der Linkspartei le- gen heute jeweils Anträge vor, die sich mit der Situation und den Zukunftsperspektiven des wissenschaftlichen Nachwuchs beschäftigen. Für meine Fraktion kann ich sagen, dass wir in vielen Punkten der Analyse und auch bezüglich der im Antrag formulierten Zielperspektiven zumindest mit den Kolleginnen und Kollegen der Grü- nen übereinstimmen: Natürlich ist es auch ein vorrangi- ges Anliegen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, dem wissenschaftlichen Nachwuchs in Deutschland eine möglichst gute Ausbildung und dementsprechende be- rufliche Perspektiven zu bieten. Ich beziehe hier die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses ganz bewusst mit ein; denn dazu findet man in Ihren Anträgen leider nichts. Dabei haben wir gerade auch diesen Punkt im vergangenen Jahr hier im Plenum häufig debattiert. Ich nenne nur die Stichworte Deutschlandstipendium und BaföG-Erhöhung. Dabei tragen diese Instrumente maßgeblich dazu bei, die Ausbildung des wissenschaftli- chen Nachwuchses in Deutschland zu verbessern. Das gilt im Übrigen auch für die Arbeit der Begabtenförde- rungswerke, die im kommenden Jahr mit mehr als 130 Millionen Euro durch den Bund gefördert werden. Rot-Grün hat demgegenüber im Jahr 2005 nur 80 Millio- nen Euro in die Begabtenförderungswerke investiert. Allein diese Zahl macht deutlich, wie wichtig die Förde- rung des wissenschaftlichen Nachwuchses der Bundes- regierung ist. Grundsätzlich sind wir alle uns hier aber bei der Be- wertung der Situation einig. Gerade die sogenannte Post- docgruppe, also Nachwuchswissenschaftler mit Promo- tion, die ihre Zukunft in Forschung und Lehre an der Universität sehen, können an deutschen Hochschulen häufig zunächst nur befristet beschäftigt werden. Einer- seits dient dies der ständigen Aktualität gerade in der schnelllebigen Forschung. Andererseits aber ist so eine stringente Planung der Karriere für Nachwuchswissen- schaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler häufig schwierig, sodass manche erst mit Ende 40 erkennen, dass sie die Ziele ihrer Hochschulkarriere nur schwer oder gar nicht erreichen können. Diese Problematik ist im Übrigen auch in der letzten Bestandsaufnahme der Bundesregierung zur Situation des wissenschaftlichen Nachwuchses in Deutschland klar benannt worden. Lei- der scheinen die antragstellenden Fraktionen diesen „Bundesbericht zur Förderung des Wissenschaftlichen Nachwuchses (BuWiN)“, den das BMBF 2008 vorgelegt hat, nicht in ihre Willensbildung mit einbezogen zu ha- ben. In den Anträgen wird er jedenfalls an keiner Stelle erwähnt. Der Bundesbericht macht deutlich, dass einer besse- ren Planbarkeit der wissenschaftlichen Karriere große Bedeutung bei der Reform der Förderung des wissen- schaftlichen Nachwuchses zukommt. Die Ausweitung des „Tenure Track“ an den Hochschulen und eine stärkere Konzentration auf die Weiterentwicklung der Juniorprofessur sind auch für die Bundesregierung In- strumente, um mehr Verlässlichkeit und Planbarkeit für Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswis- senschaftler zu schaffen. Nicht ganz zustimmen kann ich aber, wenn unbefristete Beschäftigungsverhältnisse an den Hochschulen als Allheilmittel dargestellt werden. Natürlich sind wir uns alle einig, dass Beschäftigungs- verhältnisse auch und gerade in der Wissenschaft Sicher- heit und Berechenbarkeit brauchen. Aber das Wissen- schaftssystem kann sich in dieser Hinsicht nicht vollständig von gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen lösen. Der Arbeitsplatz auf Lebenszeit ist heute nicht nur im Wissenschaftsbetrieb, sondern in vielen Arbeitsberei- chen nicht mehr die Regel, übrigens nicht unbedingt zum Nachteil des Arbeitnehmers. Gerade gut ausgebil- dete, junge Nachwuchskräfte profitieren überproportio- nal von den Freiheiten, die ihnen die globalisierte Welt bietet. Wenn wir die mahnenden Worte des Wissenschaftsra- tes berücksichtigen wollen, der der Politik und der Wis- senschaft ins Stammbuch geschrieben hat, dass „die Promotion in Deutschland nicht allein auf eine wissen- schaftliche Laufbahn ausgerichtet“ ist, dann müssen be- fristete Arbeitsverhältnisse auch künftig ihre Berechti- gung behalten, um den Austausch zwischen Hochschule, Wirtschaft und Gesellschaft weiter zu ermöglichen, der für beide Seiten, für exzellente Forschung und Lehre und für die sie umgebende Gesellschaft unerlässlich ist. Auch in Bezug auf die Vereinbarkeit von Beruf und Fa- milie muss nicht immer die unbefristete Stelle der einzig gangbare Weg sein. So hat die Bundesregierung zum Beispiel im Jahr 2007 das Programm „Zeit gegen Geld“ gestartet, das Nachwuchswissenschaftlern ermöglicht, Gelder aus Stipendien für Maßnahmen der Kinderbe- treuung zu verwenden. Eng verbunden mit der Verein- barkeit von Beruf und Familie ist auch die Frage der Förderung von Nachwuchswissenschaftlerinnen. Über- raschenderweise haben beide Anträge dazu gar nichts zu sagen. Dabei haben es Frauen im Wissenschaftsbetrieb auch hier immer noch deutlich schwerer als ihre männli- chen Kollegen. Zwar hat das Professorinnenprogramm der Bundesregierung seit 2007 mehr als 200 zusätzliche Professuren für Frauen geschaffen, doch trotz dieses gro- ßen Erfolges kann von einer wirklichen Gleichstellung der Geschlechter an den Hochschulen noch lange keine Rede sein. Deshalb sollten wir bei allem Engagement für Bil- dung und Wissenschaft auch nicht aus den Augen verlie- ren, dass die Zuständigkeit für Bildung und Wissen- schaft im Wesentlichen bei den Ländern und hier vor allem bei den Hochschulen selbst liegt. Ich darf daran er- innern, dass die Länder für die Übernahme der Bildungs- 9546 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 (A) (C) (D)(B) aufgaben allein 2011 mehr als 1,3 Milliarden Euro an Kompensationsmitteln vom Bund erhalten. Auch die Hochschulen haben in der Vergangenheit Schritt für Schritt mehr Autonomie erhalten und müssen damit auch ihrer gewachsenen Verantwortung gerecht werden. Dem Bund allein die Verantwortung für die Finanzierung ei- ner erneuten kostenintensiven Maßnahme aufzuerlegen, ohne in Ihrem Antrag überhaupt einen Finanzierungs- vorschlag zu machen, halte ich für deutlich zu kurz ge- sprungen. Dies alles sind Punkte, die wir trotz grundsätzlicher Einigkeit in den kommenden Ausschusssitzungen noch einmal intensiv debattieren müssen. Auf diese hoffent- lich konstruktiven und fruchtbaren Diskussionen zum Wohle der wissenschaftlichen Nachwuchsförderung freue ich mich. Tankred Schipanski (CDU/CSU): Der wissen- schaftliche Nachwuchs an den Hochschulen und in den außeruniversitären Forschungseinrichtungen in diesem Land liegt uns allen am Herzen. Deswegen beurteile ich das Ansinnen Ihrer Anträge, den jungen Wissenschaftle- rinnen und Wissenschaftlern in unserem Lande gute be- rufliche Perspektiven und verbesserte Arbeitsbedingun- gen zu bieten, grundsätzlich als äußerst positiv. Dies gilt umso mehr, als sich das akademische Personal durch den Bologna-Prozess und die steigende Anzahl von Studie- renden wachsenden Anforderungen ausgesetzt sieht. Sie, liebe Grüne, präsentieren uns in Ihrem Antrag den Vorschlag, mit den Bundesländern in der Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz einen Pakt für den wissenschaft- lichen Nachwuchs und zukunftsfähige Personalstruktu- ren an den Hochschulen zu schließen. Dort fordern Sie unter anderem, 4 000 zusätzliche Professorenstellen ein- zurichten und auch außerhalb der Professuren mehr unbe- fristete Beschäftigungsverhältnisse zu schaffen. Allein, Sie bleiben uns die Antwort schuldig, wie Sie diese Ziele erreichen wollen. Wir alle wissen, dass die Verbesserung von Arbeits- bedingungen für Nachwuchswissenschaftler eng an die finanzielle Ausstattung der Hochschulen geknüpft ist. Und hier sind, ich habe es bereits in der Aktuellen Stunde im Dezember erwähnt und tue es hier gern wie- der, zuallererst die Länder in der Pflicht. Diese müssen dafür sorgen, dass die Grundfinanzierung der Hochschu- len in ihrem Verantwortungsbereich gesichert ist. In Zei- ten knapper öffentlicher Finanzen heißt das eben auch, Prioritäten zu setzen. In einem rohstoffarmen Land wie Deutschland, dessen einzige Ressource die Köpfe der Menschen sind, sollten Bildung und Forschung selbst- verständlich an erster Stelle stehen. Der Bund hat seine Prioritäten klar benannt. Unser Ziel ist es, bis 2015 10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Bildung und Forschung auszugeben. Dabei haben wir selbstverständlich auch den wissenschaftlichen Nach- wuchs im Blick. Mit der Exzellenzinitiative, die im nächsten Jahr in die mittlerweile dritte Runde geht, wurde eine Reihe von Stellen für Doktoranden und Postdocs ge- schaffen. Durch den Pakt für Forschung und Innovation verbessern wir zudem die Bedingungen in den außeruni- versitären Forschungseinrichtungen. Mit dem Bundesbe- richt zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses und der von der Ministerin in Auftrag gegebenen HIS-Studie über wissenschaftliche Karrieren haben wir zudem erstmals empirisch fundierte Erkenntnisse über die Karrierewege des wissenschaftlichen Nachwuchses vorgelegt. Die Evaluation des Wissenschaftszeitvertrags- gesetzes läuft. Sie sehen also: Hier tut sich einiges. Und die Resonanz aus der Wissenschaft zeigt uns, dass wir auf dem richtigen Weg sind: Erst gestern, am 19. Januar 2011, haben die Präsidenten der drei großen Berliner Hoch- schulen beim 52. Treffpunkt WissensWerte des Inforadio des RBB bestätigt, dass Nachwuchswissenschaftler nie zuvor so viele Möglichkeiten hatten, sich um Promo- tionsstipendien oder Doktoranden- bzw. Postdocstellen zu bewerben wie gegenwärtig. Wenn wir über die Zukunft der jungen Wissenschaft- lerinnen und Wissenschaftler in diesem Land sprechen, kann es nicht nur um zusätzliche Stellen und Entfristun- gen gehen. Auch einige andere Punkte dürfen wir nicht aus den Augen lassen. Zum einen – das macht die HIS-Studie deutlich – bemisst sich die Attraktivität der beruflichen Zukunft in der Wissenschaft nicht nur an der Vergütung oder der festen Stelle. Die jungen Wissen- schaftlerinnen und Wissenschaftler brauchen vor allem gute Rahmenbedingungen, um ihrer Kerntätigkeit in For- schung und Lehre nachkommen zu können. Wenn man aber, wie dies in Brandenburg gehandhabt oder in Thürin- gen diskutiert wird, das Lehrdeputat der wissenschaftli- chen Mitarbeiter exorbitant in die Höhe schraubt, sodass ihnen de facto keine Zeit mehr zum Forschen und Publi- zieren oder zur Vernetzung in der Scientific Community bleibt, dann sind wir tatsächlich weit entfernt von guten Rahmenbedingungen. Zweitens ist es ein Gebot der Fairness, zu sagen, dass wir natürlich Wettbewerb in unserem Wissenschaftssys- tem brauchen. Wir wollen vermeiden, dass Leute über Jahrzehnte auf – unbefristeten – Qualifizierungsstellen sitzen, ohne dabei nennenswerte Forschungsergebnisse zu produzieren und ohne Anreize zu haben, im akademi- schen System aufzusteigen, und die Stellen für andere Nachwuchswissenschaftler „blockieren“. Auch müssen wir klar sagen, dass nicht jeder Doktorand später eine Professur oder eine unbefristete Stelle an einer Hoch- schule erlangen wird. Aber das kann auch gar nicht un- ser Ziel sein. Auch außerhalb der Hochschulen und au- ßeruniversitären Forschungseinrichtungen, zum Beispiel in der Industrie, im Mittelstand, in der Verwaltung oder auch im Gesundheitswesen, werden exzellent ausgebil- dete Nachwuchswissenschaftler mehr denn je gebraucht. Ein letzter Punkt, den ich mit Blick auf den Antrag der Grünen noch aufgreifen möchte, betrifft die Tenure- Track-Option. Wir als christlich-liberale Koalition ste- hen – und da verrate ich Ihnen kein Geheimnis – voll und ganz hinter der Möglichkeit, befristete Stellen nach einer positiven Bewertung in unbefristete Stellen umzu- wandeln. Wir können dafür werben, und dies werden wir auch nach allen Kräften tun, aber wir als Bund können sie nicht verordnen, wie Sie das fordern, wenn Sie sagen, Sie wollen künftig alle Juniorprofessuren mit einer Tenure-Track-Option ausgestattet sehen. Lassen Sie uns Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9547 (A) (C) (D)(B) uns also auf das konzentrieren, was wir leisten können, und dazu beitragen, dass der wissenschaftliche Nach- wuchs in Deutschland auch weiterhin eine gute Zukunft hat. Swen Schulz (Spandau) (SPD): Einer aktuellen, von der Bundesregierung in Auftrag gegebenen Studie zu- folge haben Nachwuchswissenschaftler Zukunftsängste. Sie bewerten ihre Arbeit an sich zwar positiv. Doch über 90 Prozent der Nachwuchswissenschaftler müssen sich mit unbefristeten Stellen begnügen. Die Leute wollen in der Wissenschaft arbeiten, aber sie wollen dort auch Per- spektiven haben. Sie wollen ihre Karriere planen kön- nen – und das ist nur zu verständlich, vor allem wenn es um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf geht. Die Zukunftsängste gehen auch die Politik an, weil wir den wissenschaftlichen Nachwuchs brauchen! Wir brauchen ihn für die Lehre an den Hochschulen, und wir brauchen Forscherinnen und Forscher für die technologische, wirt- schaftliche, gesellschaftliche Entwicklung. Wir dürfen diese Hochqualifizierten nicht abschrecken durch schlechte Arbeitsbedingungen. Besonders beeindruckt hat mich ein Zitat aus der er- wähnten Studie. Dort sagt eine wissenschaftliche Mitar- beiterin aus dem Bereich der Naturwissenschaften: „Die Gefahr, nach jahrelangem ,Durchschlagen‘ auf befriste- ten Stellen und einem gewissen ,Berufsnomadentum‘ am Ende keine permanente Stelle zu bekommen, ist hoch. Das Risiko, diesen Weg zu gehen, ist mir persönlich zu hoch, auch wenn ich die Arbeit in der Wissenschaft mag.“ Das können wir nicht einfach hinnehmen, dage- gen müssen wir etwas tun! Sicher, in einem gewissen Rahmen, insbesondere in der Qualifikationsphase, sind Befristungen akzeptabel. Doch spätestens im vierten Le- bensjahrzehnt, wenn neben der beruflichen auch die Fa- milienplanung ansteht, ist der Wunsch nach einer Per- spektive nur mehr als natürlich. Deshalb ist ein deutlich höherer Anteil an unbefristeten Stellen sinnvoll. Es gilt auch hier der sozialdemokratische Grundsatz von der gu- ten Arbeit. Nur mit Perspektiven und nur mit guten Ar- beitsbedingungen können wir die Leute gewinnen, und nur so können diese auch die exzellenten Leistungen ab- liefern, die wir von ihnen sehen möchten. Das wollen wir erreichen: Gute Arbeit, auch in der Wissenschaft! Die Bundesregierung hat bislang nichts unternom- men, um dieses Problem zu lösen. Unter Rot-Grün haben wir Regelungen zur Ausschaltung von Kettenbefristun- gen geschaffen, und in der Großen Koalition haben wir das Wissenschaftszeitvertragsgesetz gemacht. Wir haben aber gleichzeitig gesagt, dass es evaluiert werden soll, weil wir schauen müssen, was tatsächlich in der Realität passiert. Wir haben die Bundesregierung damit beauf- tragt, eine Evaluation vorzulegen. Auf dieser Basis kön- nen wir vorankommen, können sagen, ob die jetzigen Bestimmungen ausreichen oder vielleicht sogar an der einen oder anderen Stelle kontraproduktiv sind. Doch leider liegt der Bericht immer noch nicht vor. Ein Punkt scheint jetzt schon klar zu sein: Die Tarif- sperre muss weg! Es sollte die Möglichkeit geben, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam Regelungen über das Gesetzliche hinaus treffen können. Wir Sozial- demokraten haben das übrigens in der Großen Koalition gefordert, aber unser damaliger Koalitionspartner CDU/ CSU wollte die Tarifsperre unbedingt beibehalten. Ich hoffe, dass da jetzt etwas geht. Dann die Juniorprofessu- ren: Unter Rot-Grün haben wir Juniorprofessuren einge- führt und auch gefördert, weil das vielen Nachwuchs- wissenschaftlern Perspektive gibt. Frau Schavan hat die Förderung beendet bzw. kein neues Programm aufgelegt. Wir wollen Juniorprofessuren. Deswegen schlagen wir ein neues Bund-Länder-Programm vor: 1 000 Juniorpro- fessuren – das wäre ein guter Beitrag. Der sogenannte Tenure Track, also der Karriereweg an der eigenen Hochschule, muss ausgebaut werden. Die Bundesregie- rung sollte da aktiv werden und mit den Ländern ins Ge- spräch kommen, wie wir den Tenure Track ausbauen können. Und wir müssen sehen: Es gibt eine Menge Bund-Län- der-Programme im Hochschulbereich, etwa den Hoch- schulpakt und die Exzellenzinitiative. Die Bundesregie- rung hat in einem Bericht selbst gesagt, dass mit dem Hochschulpakt sicherlich alles viel besser für die Nach- wuchswissenschaftler wird. Aber Vertrauen allein reicht nicht. Da muss man auch genauer hinschauen und viel- leicht auch einmal den Erhalt von Bundesmitteln an Min- destarbeitsbedingungen knüpfen und Anreize für gute Arbeit einbauen. Es kann nicht sein, dass Leute ausgebeu- tet werden, zu ganz schlechten Bedingungen Arbeit leis- ten, die eigentlich von sozialversicherungspflichtig Be- schäftigten geleistet werden sollte. Dem müssen wir einen Riegel vorschieben. Wir sind den Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke dankbar für ihre Impulse in den Anträgen. Die SPD-Fraktion wird ihre Vorstellungen ebenfalls in die Debatte einbringen – einige Aspekte habe ich bereits an- gesprochen. Obwohl wir an verschiedenen Punkten glei- cher Meinung sind und hoffen, dass auch die Regie- rungskoalition sich anschließen kann, sind die Vor- stellungen doch an einigen Stellen unterschiedlich, bzw. wir haben noch Nachfragen, wenn etwa die Grünen un- ter Punkt 6 ihres Antrages einen Risikoaufschlag vor- schlagen. Löst das wirklich das grundsätzliche Problem der Befristung der Mittel und damit der Reserve von Hochschulen, Wissenschaftler unbefristet einzustellen? Wir können und müssen uns Gedanken über Lösungs- möglichkeiten auch im Drittmittelbereich machen. Ich habe das bereits angesprochen. Aber ganz am Ende ist natürlich die beste Lösung, dass wir die steigende Ab- hängigkeit von Hochschulen und Forschungseinrichtun- gen von notwendig befristeten Drittmitteln reduzieren und die Grundfinanzierung wieder erhöhen, ohne in eine ja auch teilweise zu verzeichnende Beamtenmentalität in der Wissenschaft zu verfallen. Letztlich hängt die Beantwortung dieser Grundfrage von der finanziellen Ausstattung der Länder ab, die wie- derum nur in Zusammenarbeit mit dem Bund verbessert werden kann – ein Feld, auf dem die Bundesregierung tätig werden müsste. Das wäre ein tolles Thema für ei- nen Bildungsgipfel von Bundeskanzlerin und Minister- präsidenten. Diese Gipfel sind bisher immer gescheitert. Aber ich will die Hoffnung nicht aufgeben. 9548 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 (A) (C) (D)(B) Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): Der Bundes- tag befasst sich seit Jahrzehnten mit der beruflichen Per- spektive von Nachwuchswissenschaftlern. Natürlich be- wegt uns die Situation unserer klügsten und am besten ausgebildeten Köpfe. Keineswegs können uns Meldun- gen kalt lassen, wonach „nur jeder dritte Doktorand sein Promotionsprojekt tatsächlich abschließt“. Gleichzeitig finden wir es bemerkenswert, dass in Deutschland mehr als 10 Prozent eines Hochschuljahrganges promovieren – diesbezüglich sind wir Weltmeister. Dabei wundert es ei- nen aber doch, weswegen, bei einer so hohen Promo- tionsquote, nur 3 Prozent eines Hochschuljahrganges eine wissenschaftliche Karriere ernsthaft anstreben. Natürlich ist im Hochschulbereich nicht alles rosig. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Schließlich lehre ich an einer Hochschule, stehe im ständigen Kontakt mit Studieren- den und wissenschaftlichem Nachwuchs. Und dennoch stelle ich die, gerade für linke Politiker, provokante These auf, dass dieser Personenkreis deutlich positive Lebensperspektiven aufweist, geradezu gesegnet ist. In einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zei- tung unter der Überschrift „Fördert mich, ich bin For- scher!“ finden sich interessante Beispiele, die Mut ma- chen und zeigen, dass an vielen Hochschulen bereits sehr verantwortungsvoll gehandelt wird. Den bereits vor Jah- ren festgestellten Defiziten zum Beispiel hinsichtlich ei- ner qualifizierten Betreuung, Planbarkeit und Finanzie- rungsmöglichkeiten, Transparenz und Effizienz und in Fragen der Karriereplanung begegnen zahlreiche Univer- sitäten und Fachhochschulen mittlerweile mit strukturier- ten Promotionsprogrammen und Graduiertenkollegs. In diesen werden beispielsweise Softskills wie Kommuni- kationsfähigkeiten vermittelt. Aber es gibt auch mehr und mehr Stipendienprogramme. Und nicht zuletzt leisten auch die Begabtenförderungswerke hier bereits sehr gute Arbeit. Und ja, es trifft zu, dass Projektarbeit und befristete Arbeitsverträge Merkmal wissenschaftlichen Arbeitens sind, nicht nur in Deutschland. Tenure ist auch im Aus- land mehr die Ausnahme als die Regel. Und doch gilt es, die deutschen Eigentümlichkeiten unter die Lupe zu neh- men. Neben den Professuren gibt es nach wie vor – im Gegensatz zu vielen Ländern – nur wenige andere, auf Dauer angelegte Personalkategorien im wissenschaftli- chen Mittelbau. Das hat etwas mit dem Selbstverständ- nis des Wirkungsfeldes Hochschule zu tun. Wir setzen auch beim Personal auf die Einheit von Forschung und Lehre, lassen wenig Differenzierung zu. Eine Karriere in der Wissenschaft wird auch künftig nur dann angestrebt werden, wenn auch tatsächlich eini- germaßen verlässliche Zukunftsperspektiven gesehen werden. Das trifft insbesondere auf die entsprechenden Rahmenbedingungen zu, die Deutschland attraktiv, for- schungsfreundlich und international konkurrenzfähig machen. Vor allem die für die deutsche Wissenschafts- und Forschungspolitik verlorenen Jahre der rot-grünen Bundesregierung mit ihrer fortschrittsfeindlichen Poli- tik, beispielsweise im Bereich der Energieforschung und bei der Gentechnologie, und den damit einhergehenden Folgen bis hin zu dem ganz aktuell beim ITER-Projekt zu beobachtenden Abzug von Know-how aus der deut- schen Industrie haben hier eine große Lücke gerissen und die Zukunftsängste des wissenschaftlichen Nach- wuchses beflügelt. FDP und Union haben genau hier an- gesetzt und werden mit ihrer Politik, die Deutschland tatsächlich wieder hin zu einer Bildungs- und Fort- schrittsrepublik verändern wird, verlässliche Rahmenbe- dingungen für den wissenschaftlichen Nachwuchs schaf- fen. Doch bei unseren Anstrengungen auf Bundesebene darf eines nicht aus dem Blick geraten: Wissenschaftspo- litik – und damit auch die Problematik der Beschäftigung von Nachwuchswissenschaftlern an Hochschulen und Forschungseinrichtungen – ist in erster Linie Ländersa- che. Aber das kann ich heute schon versprechen: Die christlich-liberale Koalition wird mit einem Wissen- schaftsfreiheitsgesetz auch auf Bundesebene die Rah- menbedingungen weiter verbessern und bestehende Hemmnisse im Wissenschaftssystem beseitigen sowie die Handlungsspielräume der Hochschulen und Forschungs- einrichtungen ausweiten. Wo wir in den Ländern in Regierungsverantwortung sind, werden wir die Autonomie der Hochschulen weiter stärken, sei es mit Globalhaushalten oder eigener Perso- nalverantwortlichkeit usw., und für eine bessere Finanz- ausstattung der Universitäten und Fachhochschulen sor- gen. In Nordrhein-Westfalen waren wir dahin gehend schon sehr weit. Und wenn man sich mit den Akteuren vor Ort verständigt, wird sehr schnell deutlich, dass erste positive Effekte gerade auch für den wissenschaftlichen Nachwuchs zu spüren waren. Leider hatte die rot-grüne Minderheitsregierung nichts Besseres im Sinn gehabt, als neben einem verfassungswidrigen Haushalt auch gleich das Ende der Studienbeiträge zu beschließen. Ge- rade durch die Einbindung privater Mittel wie Studien- beiträge oder die Einwerbung privat kofinanzierter Sti- pendien, wie FDP und Union sie nun mit dem Deutschland-Stipendium auch für das gesamte Land durchgesetzt haben, bekommen die Länder die Möglich- keit, die seit Jahren unterfinanzierten Wissenschaftsein- richtungen mit dringend notwendigen finanziellen Mit- teln zu unterstützen; denn nur so wird die Wissenschaft als Arbeitgeber an Attraktivität gewinnen können. Lei- der hat auch hier die rot-grüne Übergangsregierung in Nordrhein-Westfalen sofort die Axt angelegt und mit dem Wegfall der Studienbeiträge dazu beigetragen, dass zahlreiche Tutorenstellen an den Hochschulen gestri- chen werden. Gerade die Grünen sorgen so dafür, dass aus befristeten Beschäftigungsverhältnissen, die sicher in vielen Punkten kritisiert werden können, nun aber ehemalige Beschäftigungsverhältnisse werden. So sieht also der rot-grüne Pakt für den wissenschaftlichen Nach- wuchs in der Realität aus! Auch was die Frage der fairen Beschäftigungsbedin- gungen gerade für den wissenschaftlichen Nachwuchs angeht, sind wir uns vermutlich einig. Es ist eine alte, aber nach wie vor aktuelle Forderung der FDP, dass die Tarifpartner in der Pflicht sind, einen geeigneten Wis- senschaftstarifvertrag auszuhandeln, damit die auch sei- tens Professor Strohschneider vom Wissenschaftsrat im Bildungsausschuss geäußerte „Gefahr einer Prekarisie- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9549 (A) (C) (D)(B) rung des wissenschaftlichen Mittelbaus“, wie es die Linke in ihrem Antrag auch zitiert hat, abgewendet wird! Für mich ist die Kernaussage des in beiden vorliegen- den Anträgen zitierten HIS-Berichts „Wissenschaftliche Karrieren“ jedoch, dass die Mehrheit der befragten Nachwuchswissenschaftler den Beruf des Wissenschaft- lers als attraktives Ziel sieht. Damit das so bleibt, sind alle Beteiligten in Bund, Ländern und an den Hochschu- len aufgerufen, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen. Das Gros der von Linken wie Grünen in ei- ner bunten Sammlung vorgetragenen Wünsche zur Ver- besserung der Berufsperspektiven im Wissenschaftsbe- reich fällt jedoch nicht in den Kompetenzbereich des Bundes. Vielmehr stehen die Länder in der Verantwor- tung, ihren Hochschulen die benötigten Freiräume zuzu- gestehen. Wenn ich mir beispielsweise die Wissenschaftspolitik von SPD und Linken in Brandenburg anschaue, habe ich jedoch eher den Eindruck, dass Anspruch und Wirklich- keit in ihrer Politik wie so oft bei den Oppositionspar- teien im Deutschen Bundestag extrem auseinanderfallen. Mit ihrer unverlässlichen Hochschulpolitik versetzt die rot-rote Landesregierung die Brandenburger Studieren- den und Wissenschaftler in Angst und Schrecken! So wurden im vergangenen Jahr den Hochschulen 10 Mil- lionen Euro aus der vertraglich zugesicherten Rücklage entnommen, um Löcher im Landeshaushalt zu stopfen, natürlich nicht ohne den Hinweis, dass dies eine einma- lige Vorgehensweise sei und ansonsten SPD und Linke Wissenschaft entsprechend ihres vollmundigen Verspre- chens im Koalitionsvertrag mit höchster Priorität behan- deln würden. Nur wenige Monate später wissen wir heute, dass dies eine plumpe Lüge war. Für den Haushalt 2012 hat der von den Linken gestellte Finanzminister be- reits Kürzungen im Wissenschaftsressort in Höhe von weiteren 27 Millionen Euro angekündigt. Welche Folgen dies für das wissenschaftliche Personal haben wird, kann sich jeder vorstellen. Solange Wissenschaftspolitik von SPD, Grünen und Linken in den Ländern so aussieht, wie beschrieben, können Sie hier im Bundestag noch so viele vollmundige Anträge mit Forderungen und Versprechungen für ein Ende der „Prekarisierung des akademischen Mittelbaus“ und für einen „Pakt für den wissenschaftlichen Nach- wuchs“ stellen. Solange diesen schönen Worten ständig nur gegensätzliche Taten in Ihren Landesregierungen folgen, wird sich ganz bestimmt nichts verbessern! Die christlich-liberale Koalition beweist mit ihrem 12-Mil- liarden-Euro-Paket für Bildung und Forschung, dass bei uns Anspruch und Wirklichkeit im Gegensatz zur Oppo- sition nah beieinanderliegen. Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Ich hatte in den ver- gangenen Monaten die Gelegenheit, mit vielen Nach- wuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern bzw. Vertretern des akademischen Mittelbaus zu sprechen. Neben den Organisationen, Gewerkschaften und Verbän- den hatte ich auch mit Promovierenden und Postdocs, die sich bei uns mit ihren Problemen gemeldet haben, das Gespräch gesucht. Ich wollte einen Eindruck gewin- nen, wie sich ihre Situation seit 2008 geändert hat. Da- mals gab es eine umfangreiche Debatte hier im Bundes- tag und im Bildungsausschuss zu dem Thema, und die Bundesregierung gelobte Besserung bei den Arbeitsbe- dingungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft- lern. Leider kann ich nur wenig Positives von der „Basis“ berichten. An erster Stelle der Probleme steht nach wie vor die Frage der prekären Beschäftigung. Da hat sich die Situation keineswegs verbessert. Der Trend zu be- fristeten Verträgen, zu Teilzeitbeschäftigungen, zu Sti- pendien hält ungebrochen an. Und mein persönlicher Eindruck trügt nicht, wie die Zahlen des Statistischen Bundesamtes belegen. Die Zahl der unbefristeten wis- senschaftlichen Vollzeitstellen neben der Professur hat einen historischen Tiefststand erreicht. An Universitäten waren im Jahr 2008 weniger als 12 Prozent der ange- stellten wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitar- beiter dauerhaft beschäftigt. Zehn Jahre vorher hatte diese Zahl immerhin noch knapp 19 Prozent betragen. Das Verhältnis von befristet zu unbefristet angestelltem Personal an allen Hochschularten hat sich von 3,6 : 1 im Jahr 2000 auf 6,7 : 1 im Jahr 2008 dramatisch ver- schlechtert. Ein Großteil des Personals verfügt zudem nicht über Vollzeitstellen. Die Teilzeitquote des gesam- ten hauptberuflichen Personals inklusive Professuren stieg von 24 Prozent im Jahr 2000 auf 35 Prozent im Jahr 2008. Selbst unter den angestellten hauptberufli- chen wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbei- tern beträgt die Quote 40,9 Prozent. Umfragen unter Wissenschaftlerinnen und Wissen- schaftlern, wie aktuell eine Studie der Hochschul-Infor- mations-System GmbH, HIS, ergeben das gleiche Bild. Die Befragten wie auch meine Gesprächspartner sagen übereinstimmend: Das Problem der unsicheren Zukunft und der mangelnden Berufsperspektiven ist nicht nur eine dramatische Beeinträchtigung der Lebenschancen dieser jungen Menschen, sondern behindert auch die Leistungsfähigkeit des gesamten Systems. Wer ständig mit der Sicherung der eigenen Arbeitsmöglichkeiten be- schäftigt ist, verheizt Ressourcen für gute Wissenschaft. Und gerade die Besten verlassen irgendwann das Land, weil ihnen anderswo überhaupt die Möglichkeit zur dau- erhaften und selbstständigen wissenschaftlichen Tätig- keit geboten wird. Für viele endet aber auch der Weg in der Wissenschaft, wenn nach der Habilitation oder der Juniorprofessur keine eigene Professur winkt. Dieses Land behandelt seine Hoch- und Höchstquali- fizierten wie einen lästigen Posten in der Haushalts- kasse. Die Ursachen für diese Entwicklung lassen sich klar aufzeigen. Der Anteil an flexiblen Mitteln in den Haushalten der Forschungsinstitute und Hochschulen steigt immer weiter an. Die großen Forschungsorganisa- tionen haben ihre Finanzierung weitgehend auf wettbe- werbliche Prozesse umgestellt. Eine Kollegin eines Helmholtz-Zentrums berichtete, es gebe in ihrer großen Arbeitsgruppe noch drei Stellen, die nicht aus befristeten Projektmitteln finanziert würden: die des Leiters und die von zwei Sachbearbeiterinnen. Auch ein Direktor eines Leibniz-Instituts erzählte, er sei der einzige Wissen- schaftler am Institut, der dort eine dauerhafte Perspek- 9550 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 (A) (C) (D)(B) tive habe. Alle anderen müssten sich nach wenigen Jah- ren etwas anderes suchen. Aber auch der Boom der Drittmittel hält an: Ihr Anteil ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen. Er betrug im Jahr 2008 bei Hochschulen schon 25,1 Prozent, bei außeruniversitären Einrichtun- gen bereits 35 Prozent. Diese Situation schlägt sich auf die Arbeitsbedingungen nieder: Im Berichtsjahr wurden 36 Prozent des gesamten hauptberuflichen wissenschaft- lichen Personals an Hochschulen und eine Mehrheit des befristeten wissenschaftlichen Personals aus Drittmitteln finanziert. Wir leisten uns um der Flexibilität und der niedrigen Kosten willen einen Verschleiß an Know-how und eine Vergeudung intellektueller Ressourcen, wo- durch immense individuelle und institutionelle Neben- wirkungen produziert werden. Oder glauben Sie, die Professorinnen und Professoren finden es sinnvoll, alle zwei bis drei Jahre ihren Mitarbeiterstab komplett auszu- wechseln? Nun endlich setzt langsam ein Umdenken ein. So hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft empfohlen, mehr Stellen und weniger Stipendien auszureichen. Auch kön- nen Stellen für Promovierende mit mehr als den bisher obligatorischen 20 Wochenstunden gefördert werden. Wir wünschen uns mehr solcher Initiativen, auch in den Forschungsorganisationen. Die Promovierenden-Um- frage des PhDnet bei der Max-Planck-Gesellschaft etwa zeigt die Schwierigkeiten bei deren sozialer Absicherung auf und verweist auf die ganz praktischen Probleme, mit denen sich besonders Stipendiatinnen und Stipendiaten herumschlagen müssen. Sie sind, anders als ihre angestellten Kolleginnen und Kollegen, weder arbeitslosen- noch rentenversichert. Viele Promovierende insbesondere aus dem Ausland überlegen sich trotz gesetzlicher Verpflichtung auch dreimal, ob sie ihr weniges Geld für eine Krankenversi- cherung ausgeben. Und obwohl die Stipendiatinnen und Stipendiaten in den gleichen Laboren stehen wie ihre Kolleginnen und Kollegen, genießen sie keinen Unfall- und Arbeitsschutz. Hier müssen Lösungen erarbeitet werden. Vor allem aber sind Stipendien auf die wenigen Fälle zu reduzieren, in denen sie geeigneter als Stellen sind. Der Regelfall in der Promotion sollte ein Arbeits- verhältnis mit sozialer Absicherung und angemessenem Umfang an Arbeitszeit und Gehalt sein. Auch die großen Probleme in den Phasen nach der Promotion müssen endlich angegangen werden. Wir schlagen ein Programm vor, mit dem die Einrichtung von dauerhaften Beschäftigungsmöglichkeiten neben der Professur durch den Bund unterstützt wird. Wir brau- chen eine Kultur der Selbstständigkeit von jungen Wis- senschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die die Jahre ih- rer größten Kreativität nicht auf befristeten Teilzeitstellen in Projekten ihres Doktorvaters verbrin- gen sollten; denn sie sind eben nicht der ewige Nach- wuchs, der sich ein ganzes Berufsleben lang auf die Pro- fessur vorbereitet – um sie dann im Regelfall doch nicht zu bekommen. Diese Menschen leisten den Großteil der wissenschaftlichen Arbeit in diesem Land – auch wenn der Name des Professors oder der Professorin auf der Publikation steht. Sie sind Leistungsträgerinnen und Leistungsträger und sollten die Bedingungen bekom- men, die sie für ihre wichtige Arbeit brauchen. Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Beschäftigungsbedingungen für den wissenschaftlichen Nachwuchs haben sich in den letzten Jahren dramatisch verschlechtert. Die Hochschulkarriere erweist sich für immer mehr hochqualifizierte Nachwuchswissenschaft- ler als Sackgasse. Befristete Arbeitsverhältnisse sind in- zwischen der Normalfall an unseren Hochschulen. 2008 waren bereits 62 Prozent der hauptberuflichen wissen- schaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nur noch befristet beschäftigt. Das ist ein Zuwachs von 23 Prozent innerhalb von nur fünf Jahren. Genauso rasant breiten sich Teilzeitbezahlung und nebenberufliche Beschäfti- gungsverhältnisse aus. Die Zahl der nebenberuflichen Lehrbeauftragten stieg seit der Jahrtausendwende um satte 50 Prozent. Die Zahl der Professuren stagniert da- gegen seit Jahren. Wir sprechen hier keineswegs von einer kleinen Gruppe von Berufseinsteigern. Die Rede ist vielmehr von der Mehrheit und dem Kernbestand der Wissenschaftle- rinnen und Wissenschaftler, die an den Hochschulen Dau- eraufgaben in Forschung und Lehre übernehmen und die bis weit ins fünfte Lebensjahrzehnt mit diesen prekären und befristeten Beschäftigungsbedingungen konfrontiert sind. Solche Personalstrukturen und solche unsicheren Karriereperspektiven werden auf Dauer nicht ohne Fol- gen für das gesamte deutsche Wissenschaftssystem blei- ben. Der Trend, an den Hochschulen möglichst viel Per- sonal zu möglichst kostengünstigen Bedingungen einzustellen, kommt nicht von ungefähr. Auch dass die Zahl der Professuren seit Jahren stagniert, ist kein Natur- gesetz. Wenn die Aufgaben in Forschung und Lehre wachsen, aber zugleich an der Grundfinanzierung der Hochschulen gespart wird, darf man sich nicht wundern, wenn die Lücken mit kostengünstigen Nachwuchskräften und prekären Verträgen gestopft werden. Wer ein leis- tungsfähiges Hochschulsystem will, muss für die aus- kömmliche Finanzierung gerade auch der grundständigen Aufgaben der Hochschulen in Lehre und Forschung sor- gen. Als Ergänzung haben wettbewerblich vergebene Dritt- mittel eine wichtige Funktion für Innovation und Qualität gerade in der Forschung. Drittmittel müssen aber keines- wegs automatisch zu befristeter Beschäftigung führen. Mit der Herausforderung schwankender Auftragslagen sind nicht nur Hochschulen konfrontiert. Statt die Risiken einseitig auf die Beschäftigten abzuschieben, kommt es vielmehr auf die Steuerungsleistung und das Personalma- nagement der Hochschulleitungen an. Öffentliche Dritt- mittelgeber wie das BMBF und die DFG sollten diese Steuerungsleistung durch gezielte Anreize unterstützen. Allein in der Unterfinanzierung der Hochschulen darf die Ursache für die prekäre Lage des wissenschaftlichen Nachwuchses nicht gesucht werden. Auch die verkruste- ten Personalstrukturen und Qualifizierungswege haben ihren Anteil. Aus internationaler Perspektive leistet sich das deutsche Hochschulsystem eine exotische Besonder- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9551 (A) (C) (D)(B) heit: Unterhalb der Professur existieren hierzulande keine dauerhaften Beschäftigungsmöglichkeiten für be- währte Kräfte. An deutschen Hochschulen gibt es kaum eine Möglichkeit, jenseits der Vollprofessur Wissen- schaft als Beruf selbstständig in Forschung und Lehre auszuüben. Das ist auch ein wesentlicher Grund für die extreme Verengung der Karrierewege für den wissen- schaftlichen Nachwuchs und damit für die ungewissen Perspektiven. Die verstärkten Bemühungen im Rahmen der Exzellenzinitiative, des Pakts für Forschung und Innovation und die Internationalisierungsstrategie wer- den durch diesen Karriereflaschenhals konterkariert; denn nach den Graduiertenschulen und Graduiertenkol- legs gibt es an den Hochschulen selbst für hervorragende wissenschaftliche Postdocs kaum realistische Anschluss- perspektiven. Auch für hervorragende Nachwuchswis- senschaftlerinnen und -wissenschaftler droht an den Hochschulen die Karrieresackgasse. Der Beruf Wissenschaft verliert durch diese Karriere- risiken und Unsicherheiten gefährlich an Attraktivität. Es ist höchste Zeit, dass die Bundesregierung endlich zu handeln beginnt und damit ihrer Verantwortung für das gesamte Wissenschafts- und Hochschulsystem ge- recht wird. Es reicht nicht, auf die Länder zu zeigen und ansonsten den Kopf in den Sand zu stecken. Die Perso- nalstrukturen an den Hochschulen gefährden die Qualität und die Wettbewerbsfähigkeit des gesamten Wissen- schafts-, Forschungs- und Innovationssystems, das auf die Ausbildungsleistung der Hochschulen und den her- vorragenden wissenschaftlichen Nachwuchs angewiesen ist. Wir fordern die Bundesregierung auf, mit den Län- dern einen Pakt für den wissenschaftlichen Nachwuchs und zukunftsfähige Personalstrukturen zu schließen. Ziel muss es sein, die Professuren/Studierenden-Quote auf ei- nen international wettbewerbsfähigen Standard zu he- ben, Daueraufgaben in Forschung und Lehre durch Dau- erstellen erledigen zu lassen und mit der Tenure-Track- Juniorprofessur die Karrierewege in der Postdocphase zu verstetigen und zu entkrusten. Die Tarifsperre im Wis- Der wissenschaftliche Nachwuchs ist zwar hoch moti- viert, begeistert sich für die Forschung und das wissen- schaftliche Arbeiten. Aber er findet an den deutschen Hochschulen keine attraktiven Bedingungen und ver- lässlichen Perspektiven, und das oft in einem Alter, wo auch das Thema Familienplanung ansteht. Als Arbeitge- ber verlieren die deutschen Hochschulen gegenüber pri- vaten Arbeitgebern und den Hochschulen und For- schungseinrichtungen im Ausland im Ringen um die besten Köpfe dadurch an Boden. Je stärker die demogra- fische Entwicklung durchschlägt und je weiter sich die Arbeitsmärkte für Hochqualifizierte internationalisie- ren, desto härter wird die Konkurrenz noch werden und desto mehr werden die deutschen Hochschulen das Nachsehen haben, wenn sich nichts ändert. Schon heute sind Sonderprogramme nötig, um hervorragende Nach- wuchskräfte für die Rückkehr nach Deutschland zu ge- winnen. Aber die Programme laufen ins Leere, wenn sich die Perspektiven für den wissenschaftlichen Nach- wuchs nicht verbessern und wenn Personalstrukturen nicht neu geordnet werden. senschaftszeitvertragsgesetz ist schleunigst aufzuheben, da die Intention des Gesetzes, Befristungen zu be- grenzen, unübersehbar gescheitert ist. Besonders steht der Bund schließlich beim wachsenden Anteil der öf- fentlichen Drittmittelfinanzierung in der Verantwortung. Mehr als zwei Drittel der Drittmittel, die an die Hoch- schulen fließen, stammen direkt vom Bund oder von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Hier müssen effek- tive Anreize für mehr unbefristete Beschäftigungsver- hältnisse gesetzt werden, zum Beispiel durch einen Risi- koaufschlag. Die Fakten sind sattsam bekannt. Jetzt gilt es, zu han- deln und mit den Ländern einen Pakt zu schließen, um dem wissenschaftlichen Nachwuchs verlässliche Per- spektiven zu geben. Morgen findet in Berlin die Follow- up-Konferenz der GEW zum Templiner Manifest statt. Es stünde dem Bundestag gut an, heute das Signal zu geben, dass sich nicht nur die Opposition um die Nöte der Nach- wuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler küm- mern will. 84. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 Inhalt: Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3 Anlage 4 Anlage 5 Anlage 6 Anlage 7
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1708400000

Die Sitzung ist eröffnet.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich.

Bevor wir in unsere heutige Tagesordnung eintreten,
gibt es zwei Umbesetzungen in Gremien, über die wir
befinden müssen. Die FDP-Fraktion schlägt vor, die
Kollegin Sylvia Canel zum ordentlichen Mitglied in der
Parlamentarischen Versammlung des Europarates
und den Kollegen Patrick Meinhardt zum stellvertre-
tenden Mitglied zu wählen. Sind Sie damit einverstan-
den? – Das ist offenkundig der Fall. Dann sind die bei-
den Kollegen gewählt.

Als Nachfolgerin des ausgeschiedenen Abgeordneten
Dr. Herbert Schui im Beirat bei der Bundesnetzagen-
tur für Elektrizität, Gas, Telekommunikation, Post
und Eisenbahnen benennt die Fraktion Die Linke die
Kollegin Johanna Voß. Können Sie auch diesem Vor-
schlag zustimmen? – Das ist offensichtlich der Fall. Da-
mit ist die Kollegin Voß zum ordentlichen Mitglied im
Beirat bei der Bundesnetzagentur gewählt.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-
dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-

Rede
geführten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft
und Verbraucherschutz

Verbraucher konsequent schützen – Höchst-
maß an Sicherheit für Lebensmittel gewähr-
leisten


(siehe 83. Sitzung)


ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:

Standpunkt und Konsequenzen der Bundes-
regierung zum ungarischen Medie

ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der F
LINKE gemäß Anlage 5 Nr. 1 B
GO-BT
zung

en 20. Januar 2011

.00 Uhr

zu den Antworten der Bundesregierung auf
die Fragen 21 und 22 auf Drucksache 17/4406


(siehe 83. Sitzung)


ZP 4 Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister für Wirtschaft und Technologie

zum Jahreswirtschaftsbericht 2011: Deutsch-
land im Aufschwung – den Wohlstand von
morgen sichern

ZP 5 Weitere Überweisungen im vereinfachten Verfah-
ren

Ergänzung zu TOP 26

a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Das ungarische Mediengesetz – Europäische
Grundwerte und Grundrechte verteidigen

– Drucksache 17/4429 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

text
Ausschuss für Kultur und Medien

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela
Wagner, Ingrid Hönlinger, Volker Beck (Köln),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Bestellerprinzip in die Mietwohnungsvermitt-
lung integrieren

– Drucksache 17/4202 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

barte Debatte

ussland – Repressionen beenden, Men-
echtsverletzungen sanktionieren, Zivil-
ngesetz

raktion DIE
uchstabe b

ZP 6 Verein

Weißr
schenr

gesellschaft stärken





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gregor Gysi, Sabine Leidig, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Die Bahn im Einklang mit dem Grundgesetz
am Wohl der Allgemeinheit orientieren

– Drucksache 17/4433 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss

ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann,
Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für eine konsequente Strukturreform der
Deutschen Bahn AG

– Drucksache 17/4434 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss

ZP 9 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und der FDP:

Forderungen der Vorsitzenden der Partei DIE
LINKE, Dr. Gesine Lötzsch, Wege zum Kom-
munismus auszuprobieren – Opfer nicht ver-
höhnen

Von der Frist für den Beginn der Beratung soll, soweit
erforderlich, abgewichen werden.

Der Tagesordnungspunkt 27 a wird heute abgesetzt.

Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Aus-
schussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste auf-
merksam:

Der am 11. November 2010 überwiesene nachfol-
gende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem Ausschuss für
Kultur und Medien (22. Ausschuss) zur Mitberatung
überwiesen werden:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Rege-
lung von De-Mail-Diensten und zur Änderung
weiterer Vorschriften

– Drucksachen 17/3630 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss

Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –
Auch das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so be-
schlossen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 4 sowie die Tagesordnungs-
punkte 3 a und 3 b auf:
ZP 4 Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister für Wirtschaft und Technologie

zum Jahreswirtschaftsbericht 2011: Deutsch-
land im Aufschwung – den Wohlstand von
morgen sichern

3 a) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung

Jahreswirtschaftsbericht 2011

– Drucksache 17/4450 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung

Jahresgutachten 2010/11 des Sachverständi-
genrates zur Begutachtung der gesamtwirt-
schaftlichen Entwicklung

– Drucksache 17/3700 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Nach einer Vereinbarung zwischen den Fraktionen
soll die Aussprache im Anschluss an die Regierungser-
klärung zwei Stunden dauern. – Auch dazu höre ich kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister für Wirtschaft und Technologie,
Rainer Brüderle.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Rainer Brüderle, Bundesminister für Wirtschaft und
Technologie:

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In
Deutschland regiert die Zuversicht.


(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Was bleibt denn sonst?)






Bundesminister Rainer Brüderle


(A) (C)



(D)(B)

In Deutschland regiert das Wachstum. In Deutschland
regiert der Fortschritt. In Deutschland regiert Schwarz-
Gelb.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Es ist eigentlich alles gesagt!)


Die Menschen in unserem Land merken: Es geht vo-
ran. Der Aufschwung kommt bei ihnen an. Der Auf-
schwung kommt beim Facharbeiter an. Statt Kurzarbeit
fährt er jetzt Sonderschichten. Sein Job ist sicher. Sein
Gehalt steigt. Der Aufschwung kommt bei der jungen
Berufsanfängerin an. Ihr steht der Arbeitsmarkt so offen
wie schon lange nicht mehr.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Praktika!)


Der Aufschwung kommt bei den Rentnern an. Sie be-
kommen im wohlverdienten Ruhestand mehr Rente. Der
Aufschwung kommt bei den Familien an. Mit der Erhö-
hung des Kindergeldes und den höheren Steuerfreibeträ-
gen haben sie mehr Geld in der Familienkasse.

Der Facharbeiter, die Berufsanfängerin, der Rentner,
die Familien – das sind die Gesichter dieses Auf-
schwungs.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es werden immer mehr. Der Aufschwung hat die
Mitte der Gesellschaft erreicht. Ganz Deutschland feiert
einen Beschäftigungsrekord. Wir freuen uns über
3,6 Prozent Wachstum im letzten Jahr. Die Entlastung
aus dem Jahr 2010 von über 24 Milliarden Euro hat ge-
wirkt. Das ist 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das
war und ist eine konjunkturrelevante Größe.

Es gab ja einige, die Anfang letzten Jahres gesagt ha-
ben: Steuerentlastungen bringen nichts. Diese Äußerun-
gen sind jetzt widerlegt. Der Politikwechsel hat gewirkt.
Wir setzen auf Wachstum, Wandel und Dynamik.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Der Aufschwung ist keine Kurzgeschichte, der Auf-
schwung ist ein Fortsetzungsroman. 2011 schlagen wir
ein weiteres Kapitel auf. Wir rechnen mit einem realen
Wachstum von 2,3 Prozent. Die Wirtschaftsentwicklung
steht auf einem stabilen Fundament. Die Binnennach-
frage gewinnt an Kraft und Dynamik. Bereits letztes Jahr
hat sie mit zwei Drittel zum Wachstum beigetragen. Die-
ses Jahr sind es über drei Viertel. Die Binnennachfrage
hat die Fackel vom Export übernommen. Der klassische
Aufschwung wird vom Export ausgelöst, und die Bin-
nennachfrage springt quasi nach dem Lehrbuch an.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die Ausgangslage ist also gut.

Jetzt geht es darum, den Wohlstand von morgen zu si-
chern. Wir tun das mit Vollbeschäftigungspolitik, Ord-
nungspolitik und Chancenpolitik. Noch vor kurzer Zeit
wurde die Vollbeschäftigung von manchen als Illusion
abgetan. Jetzt ist sie in aller Munde. Dieses Kunststück
haben die vielen fleißigen Arbeitnehmer und Arbeitge-
ber in unserem Land geschafft. Sie haben vor Ort die
richtigen Antworten auf die Wirtschaftskrise gefunden.
Mit flexiblen Lösungen haben sie ein gar nicht so kleines
Jobwunder geschaffen. Das Jobwunder ist inzwischen
erwachsen geworden.

Der Arbeitsmarkt wird sich auch weiterhin gut entwi-
ckeln. In diesem Jahr wird die Arbeitslosigkeit im Jah-
resdurchschnitt unter 3 Millionen liegen. Ich erinnere:
Wir kommen von 5 Millionen. Das ist auch das Ver-
dienst von Schwarz-Gelb.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Das ist ein klarer Unterschied zur Opposition. Die setzt
auf Blockade, Stagnation und sozialistische Tristesse.

Ich erinnere mich noch gut daran: Herr Gabriel
schwadronierte vor kurzem von einer Abwärtsspirale. Er
sagte wörtlich:

CDU/CSU und FDP führen Deutschland in eine
Abwärtsspirale und die Bundeskanzlerin schaut ta-
tenlos zu!


(Thomas Oppermann [SPD]: Wir meinten die Umfragewerte!)


Das Gegenteil ist der Fall. Wachstum und Arbeitsmarkt
sind auf Rekordjagd. „Aufwärtsspirale“ wäre besser ge-
wesen, Herr Gabriel.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ich freue mich über jeden, der unsere Politik der Voll-
beschäftigung unterstützt. Besonders freue ich mich über
Sie, Herr Steinmeier. Sie halten Vollbeschäftigung für
möglich, und es regiert Schwarz-Gelb. Herr Kollege
Steinmeier, Sie sind eine Insel der Vernunft im Meer der
Unvernunft der SPD.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Thomas Oppermann [SPD]: Das ist gemein!)


Mit unserer Vollbeschäftigungspolitik führen wir die
Kurzarbeit auf das Normalmaß zurück. Die Opposition
dagegen will Arbeit gesetzlich verbieten. Wir wollen Be-
schäftigungshemmnisse für Ältere ausräumen. Auf ihre
Erfahrung können und wollen wir nicht verzichten. Die
Opposition dagegen will sie in die Altersteilzeit abschie-
ben. Wir wollen das große Potenzial der Frauen fördern.
Wir setzen auf die qualifizierten Frauen in Deutschland.
Unsere Wirtschaft braucht sie. Viele Unternehmen haben
schon die Zeichen der Zeit erkannt, darunter viele Fami-
lienunternehmen. Wir schlagen konkrete Maßnahmen
für eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf
vor. Wir leisten einen finanziellen Beitrag für neue Be-
treuungsplätze. Wir haben die Initiative „Familienbe-
wusste Arbeitszeiten“ gestartet. Wir machen Tempo auf
der Schnellstraße zur Vollbeschäftigung. Gut, dass
Schwarz-Gelb Deutschland regiert!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Das garantiert: Im nächsten Jahr wird die Erfolgsge-
schichte am Arbeitsmarkt fortgeschrieben. Wir rechnen
2012 im Jahresschnitt mit nur noch 2,68 Millionen Ar-
beitslosen.





Bundesminister Rainer Brüderle


(A) (C)



(D)(B)

Meine Damen und Herren, zum ersten Mal seit langer
Zeit gibt es in Deutschland wieder eine Regierung der
sozialen Marktwirtschaft. Deshalb ist ein Axiom dieser
Regierung: Wir brauchen eine klare und verlässliche
Ordnungspolitik. Manche reden am Sonntag über Wett-
bewerb und Marktwirtschaft, und am Montag wollen sie
Millionen umverteilen. Diese Bundesregierung steht da-
für ein, dass Ordnungspolitik nicht zu einer Floskel für
Sonntagsreden wird.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Für Hotels!)


Deswegen haben wir bei Opel Nein zu staatlicher
Hilfe gesagt.


(Lachen des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD])


Deswegen haben wir bei Karstadt die Kräfte des Marktes
walten lassen. Deshalb spreche ich mich auch für einen
möglichst schnellen Ausstieg des Bundes aus Bankenbe-
teiligungen aus.


(Thomas Oppermann [SPD]: Aber für Mövenpick! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Mövenpick!)


Ordnungspolitik ist kein Kurzstreckenlauf. Ordnungs-
politik braucht einen langen Atem. Ordnungspolitische
Grundsätze müssen auch in Europa gelten. Das hat zu-
letzt die Euro-Krise deutlich gemacht. Deutschland war
und ist sich in dieser Krise seiner großen Verantwortung
für Europa bewusst. Wir sind bereit, erhebliche Beiträge
zu leisten, aber es darf keine Fehlanreize für unsolide
Haushaltspolitik geben. Wir müssen beim Euro ein
Wächteramt übernehmen. Wir lehnen die Euro-Bonds
ab. Erfolgreiche Länder würden damit automatisch für
laxe Haushaltspolitik der anderen einstehen. Das ist
keine Lösung.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie werden sie machen am Ende! Wollen wir wetten, Herr Brüderle?)


Die deutsche Staatsräson ist: stabiles Geld. Die deut-
sche Staatsräson ist: ein stabiles Europa.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die deutsche Staatsräson ist: Demokratie!)


Schwarz-Gelb fühlt sich beidem verpflichtet. Wenn das
Geld schlecht wird, wird alles schlecht. Das ist eine bit-
tere historische Erfahrung. Die Bundesregierung ist sich
dessen sehr bewusst und handelt entsprechend.

Die Opposition hat aus der Geschichte offenbar wenig
gelernt. Die Opposition will die Euro-Bonds. Die Oppo-
sition will die Transferunion.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben eine Transferunion! Ganz Europa ist eine Transferunion!)


Sie ist ordnungspolitisch vollkommen auf dem falschen
Dampfer.

Gleiches gilt für diejenigen, die im internationalen
Handel auf die Planwirtschaft setzen. Exportquoten kön-
nen nicht die Lösung sein. Wir wollen uns unsere Ex-
porte nicht in Brüssel genehmigen lassen. Wir brauchen
Wettbewerb und offene Märkte.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ein Jahr christlich-liberale Koalition hat bewiesen:
Wir machen Chancenpolitik für alle. Das bedeutet: Jeder
erhält eine faire Chance, in Freiheit und Eigenverant-
wortung etwas aus seinem Leben zu machen. Genau
diese Chancenpolitik hat dafür gesorgt, dass die Bundes-
republik zu einer einzigartigen Erfolgsstory wurde.

Hier zeigt sich der Unterschied zur Opposition. Sie
von der Opposition betreiben Chancenverhinderungs-
politik. Sie wollen Steuererhöhungen. Das bringt die
Menschen um einen Teil ihres hart erarbeiteten Geldes.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr hart arbeitendes Geld? Die Menschen arbeiten, nicht das Geld! Bei Brüderle arbeitet das Geld!)


Sie wollen die Krankenversicherung verstaatlichen. Da-
durch senken sie mittelfristig die Leistungen. Die rot-
grüne Haushaltspolitik ist nahe am Verfassungsbruch.
Der Verfassungsgerichtshof in Nordrhein-Westfalen hat
gerade ein deutliches Stoppzeichen für rot-grüne Haus-
haltspolitik gesetzt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Das ist Ihr Scheiterhaufen!)


Das ist hemmungslose Schuldenmacherei auf Kosten der
nächsten Generationen.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagen Sie mal Herrn Pinkwart!)


Das zerstört Chancen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die Bundesregierung dagegen schafft Chancen. Sie
stärkt die Bildung. Wir fangen schon bei den ganz Klei-
nen an. Das Erlernen der deutschen Sprache ist der ent-
scheidende Integrationsschritt; denn Sprache bedeutet
Teilhabe. Die Grünen sehen das offensichtlich anders.
Für die Grünen ist wichtig, dass türkische Kinder in der
Schule Türkisch lernen. Für die Grünen ist wichtig, dass
arabische Kinder in der Schule Arabisch lernen.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und chinesische Kinder Chinesisch!)


Dann beklagen sie die Integrationsschwierigkeiten. Wir
wollen, dass alle Kinder in Deutschland zuerst einmal
Deutsch in der Schule lernen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Am besten bei Frau Sarrazin! Die müssen alle bei Frau Sarrazin in die Grundschule gehen!)


Die Bundesregierung setzt sogar noch früher an. Mit der
Offensive „Frühe Chancen“ unterstützen wir die Sprach-
förderung in den Kindergärten.





Bundesminister Rainer Brüderle


(A) (C)



(D)(B)

Auch auf dem Ausbildungsmarkt gibt es noch Hand-
lungsbedarf, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen. In
manchen Regionen macht sich bereits der demografische
Wandel bemerkbar.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Wirtschaftsministerium!)


Dort herrscht nicht mehr Lehrstellenmangel, dort
herrscht Lehrlingsmangel, Mangel an Auszubildenden.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Im Wirtschaftsministerium gibt es offensichtlich einen Mangel an der Spitze des Ministeriums!)


Unser Ausbildungspakt mit der Wirtschaft nimmt des-
halb die Jugendlichen in den Blick, die noch keine Aus-
bildungsreife haben.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und den Fachkräftemangel der Bundesregierung!)


Auch die Studierenden können sich über mehr Unter-
stützung freuen. Wir fördern in der Breite mit mehr
BAföG, wir fördern die Spitze mit Stipendien. Mit all
diesen Maßnahmen setzen wir auf den Wissensdurst der
Kleinen und der Großen. Daneben dürfen wir bereits
vorhandenes Wissen nicht verkümmern lassen. Wir müs-
sen ihm zu neuer Blüte verhelfen. Zum Beispiel müssen
im Ausland erworbene Berufsabschlüsse leichter aner-
kannt werden.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Dann macht mal!)


Der Taxifahrer mit ausländischem Ingenieurabschluss
soll der Vergangenheit angehören.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kein Vorschlag dazu im Jahreswirtschaftsbericht! Das wäre ein Thema für den Jahreswirtschaftsbericht!)


Wir schaffen auch Chancen durch mehr Freiräume.
Niedrigere Steuern und Abgaben bedeuten für den Ein-
zelnen mehr Gestaltungsmöglichkeiten. Schon kurzfris-
tig werden wir das Steuersystem spürbar vereinfachen.
Darauf hat sich die Koalition geeinigt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Thomas Oppermann [SPD]: Aber wie!)


Mit der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte er-
arbeiten wir uns weitere Spielräume. Bis zum Jahr 2014
werden wir die Neuverschuldung halbieren. Schwarz-
Gelb hat diese Herkulesaufgabe bereits erfolgreich in
Angriff genommen. Schon in diesem Jahr werden wir
das Maastricht-Kriterium von 3 Prozent Defizit wieder
einhalten. Das ist zwei Jahre früher, als von der EU ge-
fordert.

Unser Zukunftspaket steht für intelligentes Sparen.
Das schafft Zukunftschancen für künftige Generationen.
Unsere Politik steigt konsequent aus der Staatsverschul-
dung und den Krisenmaßnahmen aus. Deswegen haben
wir den Deutschlandfonds Ende 2010 auslaufen lassen.
Nächsten Dienstag werde ich den Lenkungsrat des
Deutschlandfonds verabschieden. Die acht Experten mit
Professor Hellwig an der Spitze haben sehr gute Arbeit
geleistet. Wir können sie nun guten Gewissens verab-
schieden; denn jetzt herrschen wieder die Kräfte des
Marktes und des Wettbewerbs.

Die Bundesregierung steht ohne Wenn und Aber für
das Innovationsland Deutschland. Denn auch Innovatio-
nen eröffnen neue Chancen für die Menschen in
Deutschland. Wir fördern deshalb massiv Forschung und
Entwicklung von mittelständischen Unternehmen. Inno-
vationen können helfen, Krankheiten zu besiegen. Wir
unterstützen deshalb die Gesundheitsforschung. Innova-
tionen können unsere Ressourcen sichern. Wir lassen
deshalb die Nutzung nachwachsender Rohstoffe untersu-
chen. Das zeigt: Technischer Fortschritt hat auch eine
ethische Komponente.

Eine Dagegen-Republik können wir uns nicht leisten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wenn die Neinsager das Zepter in die Hand nehmen,
dann gibt es keine neuen Energienetze.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind die Neinsager in Europa!)


Der Weg ins regenerative Zeitalter bleibt versperrt. Des-
wegen hat die Bundesregierung ein umfassendes Ener-
giekonzept vorgelegt. Die Grünen hingegen machen lie-
ber Fundamentalopposition im Bundestag und draußen
auf der Straße.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr wundert euch wohl nicht, warum ihr bei 4 Prozent liegt?)


Das ist leider nichts Neues. Die Grünen waren gegen den
Flughafen München. Die Grünen sind gegen den Flug-
hafen Berlin Brandenburg International. Die Grünen wa-
ren gegen die bemannte Raumfahrt. Die Grünen waren
gegen Handys und Funkmasten. Jetzt sind die Grünen
auch noch gegen die Olympischen Spiele. Ihre Dagegen-
Haltung bringt unser Land nicht weiter. Schwarz-Gelb
ist die Dafür-Regierung.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir sind für einen technologieoffenen Standort. Wir
sind für moderne Verkehrsnetze. Wir sind für die Beteili-
gung der Bürger an solchen Projekten. Das ist keine
leichte Aufgabe,


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach ja? – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie schaffen das doch gerade ab!)


aber wir gehen sie an. Wir nehmen die Menschen mit.
Wir wollen den Menschen keine Ideologie überstülpen.


(Lachen des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Das rufe ich auch all denen zu, die den Kommunismus
wieder salonfähig machen wollen. Kommunismus be-
deutet das Gegenteil von Demokratie und sozialer





Bundesminister Rainer Brüderle


(A) (C)



(D)(B)

Marktwirtschaft. Kommunismus bedeutet Diktatur und
Menschenverachtung.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die Bundesregierung entwickelt auf der Grundlage der
freiheitlich-demokratischen Grundordnung das klare Ge-
genmodell. Wir schaffen mit mehr Bildung, Innovation
und steuerlichen Freiräumen neue Chancen, aus denen
ein ganzes Chancenland wird. Für ein solches Chancen-
land Deutschland arbeiten wir.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die Menschen in unserem Land sind wieder zuver-
sichtlich. Diese Zuversicht ist hart erarbeitet. Das haben
die vielen fleißigen Menschen in unserem Land ge-
schafft. Auch in Zukunft werden wir uns ordentlich an-
strengen müssen und anstrengen; denn die erfreuliche
Entwicklung der deutschen Wirtschaft ist kein Selbstläu-
fer. Schwarz-Gelb gibt die nötigen Impulse. Wir stellen
die Weichen für die Vollbeschäftigung. Wir geben mit
der Ordnungspolitik den richtigen Rahmen vor. Wir
schaffen Chancen für unser Land. Deutschland hat gute
Chancen, wir sollten gemeinsam daran arbeiten und uns
über die Erfolge, die wir gemeinsam erreicht haben,
auch gemeinsam freuen, sie nicht zerreden und unser
Land nicht schlechtreden.

Vielen Dank.


(Anhaltender Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Hättest du geschwiegen, wärest du Philosoph geblieben!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1708400100

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält Frank-

Walter Steinmeier für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD):
Rede ID: ID1708400200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr

Brüderle, es ist schön, dass Sie gute Laune haben. Aber
Sie müssen verstehen: Diese zur Schau getragene Selbst-
zufriedenheit versteht nicht jeder hier im Saal. Ich weiß
auch nicht, ob Ihnen eines aufgefallen ist, wenn Sie Zah-
lenreihen beobachten, die normalerweise nicht zusam-
menpassen: die Wachstumsrate in Deutschland und die
Umfragewerte der FDP. Die beiden Kurven treffen sich
im Augenblick irgendwo zwischen 3 und 4 Prozent. Da
gibt es einen Zusammenhang.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich kann Ihnen versichern: Wenn wir uns von dieser
Krise besser erholt haben als andere, Herr Brüderle,
dann freut das die Opposition nicht weniger als die Re-
gierung, aber wir – und ich in aller Deutlichkeit – sagen:
Das ist nicht Ihr Verdienst. Darüber hilft auch Ihr Froh-
sinn nicht hinweg.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)

Die Wahrheit ist doch – das diskutieren auch Sie intern –:
Die gute Wirtschaftslage auf der einen Seite und eine re-
gierende FDP bundesweit unter 5 Prozent auf der ande-
ren Seite zeigen, dass die Menschen in Deutschland be-
griffen haben, dass Sie, Herr Brüderle, sie im September
2009 veräppelt haben.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie sind auch nicht gerade ein Umfrageheld!)


Sie haben unhaltbare Wahlversprechen gegeben –, die
jedenfalls nicht für die 3,6 Prozent Wachstum gesorgt
haben, die wir jetzt erfreulicherweise verzeichnen. Sie
haben für wachsende Enttäuschung Ihrer Wähler ge-
sorgt, für sonst aber nichts.


(Beifall bei der SPD)


Wenn es uns in Deutschland vergleichsweise gut geht,
worüber ich mich freue, dann hat das mit vielem zu tun.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Aber nicht mit Ihnen!)


– Seien Sie vorsichtig. Viele Schultern tragen diesen Er-
folg. Das hat auch mit mutiger Reformpolitik in der
Mitte des letzten Jahrzehnts zu tun, die uns – das sage
ich Ihnen ganz offen – belastet hat und über die wir ge-
stritten haben. Aber das war eine mutige Reformpolitik,
die wir von dieser Regierung erst einmal sehen wollen.
Allerdings kommt von Ihnen nichts.


(Beifall bei der SPD – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Was ist denn davon übrig geblieben?)


Das war eine mutige Reformpolitik, für die man sich
entscheiden muss – da reicht es nicht aus, hier nur Paro-
len vom Pult zu verkünden –, und es war dann auch klu-
ges Krisenmanagement in der Phase der Großen Koali-
tion: eine Politik, Herr Brüderle, gegen die Sie und Ihre
Leute von diesem Pult aus elf Jahre lang aus der Opposi-
tion gestritten haben, die Sie verdammt haben. Das ist
Ihr Beitrag gewesen, allerdings kein Beitrag zum Wachs-
tum.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Jetzt sind wir Gott sei Dank ein bisschen aus der
Krise heraus, es geht uns ein bisschen besser.


(Jörg van Essen [FDP]: Ein bisschen?)


Was kommt nach 15 Monaten Schwarz-Gelb? Die alte
Leier: Steuern runter, Steuern runter! Sie haben es hier
von diesem Pult eben auch noch einmal verkündet. Nur,
Herr Brüderle, ich sage Ihnen eines: Wir sind hier nicht
im Wahlkampf.


(Lachen bei der FDP – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ach so?)


– Dies beweist nur meinen alten Satz: Sie sind nicht
wirklich in der Verantwortung als Regierungsfraktion
angekommen. Das ist Ihr Problem.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)






Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) (C)



(D)(B)

Wir sind hier nicht im Bundestagswahlkampf; 2013 ist
noch lange hin, falls Sie denn bis dahin durchhalten, wo-
ran ich Tag für Tag ein bisschen mehr zweifle.

Aber weil wir nicht im Wahlkampf sind, taugen jetzt
für eine Regierung eben keine Parolen. Vielmehr haben
Sie Verantwortung dafür, dass die gute Basis bleibt, von
der Sie eben gesprochen haben, für die Sie nicht gearbei-
tet haben, sondern die Ihnen in den Schoß gefallen ist.
Aber dafür sorgen Sie nicht. Was Sie hier vorgestellt ha-
ben, ist keine Wirtschaftspolitik. Kaum kommt Geld in
die Kassen zurück – wir haben das bei dieser Regierung
gerade in dieser Woche erlebt –, soll es möglichst
schnell wieder raus, und das, was dringend notwendig
ist, wird nicht gemacht. Herr Brüderle, verzeihen Sie es
mir, aber manchmal sind Sie mir in diesen Tagen wie ein
Lottokönig vorgekommen, der sich über den neuen
Reichtum freut und ihn verjuxt, als gäbe es in diesem
Lande kein morgen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Wessen Haushalt ist denn gestoppt worden, der in NRW oder der hiesige?)


– Darüber können wir gerne diskutieren, und das wird in
diesem Haus garantiert noch einmal geschehen. Wenn
wir uns noch einmal anschauen, wie der Nachtragshaus-
halt in Nordrhein-Westfalen zustande gekommen ist und
warum er notwendig war, dann wird deutlich, dass die-
sen Scherbenhaufen Ihre Partei in Nordrhein-Westfalen
und niemand anderes zu verantworten hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, wenn es uns in diesem
Land erfreulicherweise besser geht als vielen in der eu-
ropäischen Nachbarschaft, dann haben viele dazu beige-
tragen – das ist wahr; Herr Brüderle, Sie haben das auch
gesagt –, und es war weiß Gott nicht nur die Politik. Die
Frage ist nur immer wieder: Was ist eigentlich der Anteil
dieser Regierung in den 15 Monaten ihrer Amtszeit seit
Oktober 2009 außer der täglichen Portion Regierungs-
chaos, an dem doch Ihre Partei, Herr Brüderle, seit Ta-
gen, seit Wochen, seit Monaten kräftig mitgewirkt hat?
Hier aber tun Sie so, als hätten Sie in sieben Tagen Him-
mel und Erde und das Paradies gleich noch mit erschaf-
fen. Das macht Sie doch so unglaubwürdig, und das kön-
nen die Leute nicht mehr ertragen.


(Beifall bei der SPD)


Dabei wissen wir im Grunde genommen alle, dass wir
in dieser Situation wirklich keinen Anlass haben, uns zu-
rückzulehnen. Es stecken unheimliche Chancen darin,
wenn es uns besser als der europäischen Nachbarschaft
geht. Aber wir sind drauf und dran, diese Chancen zu
vergeigen, wenn wir jetzt nicht ein paar Weichenstellun-
gen vornehmen.

Schauen wir uns ein bisschen um in der Welt. Sie von
der Regierung hatten Besuch vom chinesischen Vizemi-
nisterpräsidenten. China bildet die dynamischste Wachs-
tumsregion der Welt, ist mittlerweile nicht nur Export-
weltmeister – das ist sozusagen Binse –, sondern, wie
man weiß, auch größter Gläubiger der USA. Seit kurzem
wissen wir aber auch, dass dieses Land ein größeres Kre-
ditvolumen ausreicht als die Weltbank. Brasilien und In-
dien sind auf dem Sprung; ganze Erdteile machen sich auf
in Richtung Wohlstand. Die technologischen Revolutio-
nen bei Energie, Effizienz, bei Informations- und Bio-
technologien gewinnen wahnsinnig an Tempo. Ein Indus-
trieland wie dieses, ein Innovationsland wie Deutschland
muss jetzt investieren wie nie zuvor.

Herr Brüderle, als Sie da unten saßen, haben Sie all
das gewusst; Sie haben es uns elf Jahre lang aus der Op-
position heraus vorgebetet. Ich habe es noch gut im Ohr.
Seit Sie in der Regierung sind, scheinen Sie all das ver-
gessen zu haben. Lieber Herr Brüderle, das, was ich hier
sehe, ist politische Amnesie, aber es ist keine Politik.


(Beifall bei der SPD)


Was müssen wir in einer solchen Situation tun? Wir
müssen Risiken abwenden. Wir sehen täglich, dass die
Ressourcen knapper und teurer werden. Die Finanz-
märkte sind nicht wirklich stabilisiert. Ich führe mir Ihre
Rede von eben vor Augen und frage mich: Ist da wirk-
lich Einsicht? Ist da ein neuer Realismus? Hat sich Ihre
Sicht der Dinge seit dem Wahlkampf 2009 wirklich ver-
ändert? Ich finde, nein. Sie wollen noch immer zweistel-
lige Milliardensummen mit der Steuersenkungsgieß-
kanne in der Landschaft verteilen. Sie wollen das
Gemeinwesen – es braucht, wie sich zuletzt in der Wirt-
schaftskrise bewiesen hat, in einer Krise Muskeln – aus-
hungern lassen. Sie stellen sich bei der Kardinalaufgabe
einer Rechtsstaatspartei blind, für Ordnung auf den Fi-
nanzmärkten zu sorgen, also nicht nur ordnungspoliti-
sche Reden zu halten.

Reden Sie nicht nur über Opel, reden Sie auch über
Hochtief! Sie verweigern Hilfe, wenn kerngesunde deut-
sche Unternehmen von ausländischen Wettbewerbern
übernommen und – wir und die Arbeitnehmer befürchten
das – anschließend filetiert werden. Sie sagten, da könne
man nicht helfen, sie stünden zur Verhinderung von Wett-
bewerb nicht zur Verfügung. Nur ging es im Falle von
Hochtief gar nicht darum; Sie waren da im ganz falschen
Film. Es ging doch um die Frage: Wie sichern wir eigent-
lich fairen Wettbewerb? Wenn man nichts tut, wenn man
die Dinge laufen lässt, dann führt das zur Verzerrung von
Wettbewerb, dann werden die gesunden Strukturen ver-
nichtet, die wir erhalten müssen. Es wäre die Pflicht eines
Wirtschaftsministers gewesen – ein Wirtschaftminister
hat doch nicht viele Gesetzgebungsaufgaben –, hier zu
handeln; aber Sie haben sich da in die Furche gelegt. Das
ist keine Wirtschaftspolitik; das ist die Verweigerung von
Wirtschaftspolitik. Das merken die Menschen, lieber
Herr Brüderle.


(Beifall bei der SPD)


Aber nicht nur das. Sie zeigen auch bei einem anderen
Thema die kalte Schulter, das eine eminente wirtschafts-
politische Bedeutung für dieses Land hat – wir reden in
einem anderen Zusammenhang im Vermittlungsausschuss
darüber –: Mindestlöhne.






(A) (C)



(D)(B)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1708400300

Herr Kollege Steinmeier, gestatten Sie eine Zwi-

schenfrage des Kollegen Lindner?


Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD):
Rede ID: ID1708400400

Ja, sicher.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1708400500

Bitte.


Dr. Martin Lindner (FDP):
Rede ID: ID1708400600

Kollege Steinmeier, Sie sprachen gerade Hochtief an.

Die Anbahnung der Übernahme geschah in einer Phase,
in der große Industriemächte – Sie haben sie teilweise an-
gesprochen –, auch die USA, erheblichen Druck auf uns
ausgeübt haben, damit wir unsere Exporte drosseln. In
dieser Phase wurde im Falle von Hochtief Druck auf uns
ausgeübt, damit wir selbst die Märkte abschotten. Wir ha-
ben in allen Runden, in Doha und bei allen anderen Ver-
anstaltungen, immer wieder für offene Märkte geworben.
Was glauben Sie, was passiert wäre, wenn wir genau in
dieser Zeit, in der ein deutsches Unternehmen von auslän-
dischen Investoren gekauft werden sollte – zugegebener-
maßen keine erfreuliche Geschichte –, eine Lex Hochtief
geschaffen hätten, um ausländische Investoren abzu-
schotten? Was hätten die anderen Länder dann gemacht?
Sie hätten gesagt: Ihr seid doch in all den Runden über-
haupt nicht mehr glaubwürdig. Eure Unternehmen, die
Lufthansa und andere, sind immer die Investoren in unse-
rem Gemüsegarten; aber in dem Moment, in dem es ein-
mal andersherum läuft, ändert ihr die Gesetze. – Wir hät-
ten uns doch, um in Ihrem Duktus zu bleiben, in die
Furche gelegt, wenn wir eine solche Lex Hochtief ge-
schaffen hätten. Klare Ordnungspolitik kann nicht am
Einzelbeispiel gestaltet werden, sondern muss einen lan-
gen Atem haben.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ist das eine Kurzintervention, oder was?)


Genau hier unterscheidet sich unsere Position von Ihrer
Position in dieser Frage.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD):
Rede ID: ID1708400700

Wenn uns das dauerhaft unterscheidet, dann müssen

Sie mit dem Problem fertig werden. Das sage ich Ihnen
nur. Es ging hier nie um eine Lex Hochtief


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Natürlich!)


– das wissen Sie, oder das wissen Ihre Leute –,


(Jörg van Essen [FDP]: Selbstverständlich ging es darum!)


sondern es ging einzig und allein um die Frage, Herr van
Essen, ob wir in Deutschland gemeinsam, Regierung
und Opposition, in der Lage sind, unser Wettbewerbs-
recht auf ein durchschnittliches europäisches Niveau an-
zuheben.


(Beifall bei der SPD)

Das wollten Sie nicht bei Hochtief. Unser Gesetzesvor-
schlag bleibt auf dem Tisch, und ich rate Ihnen: Überle-
gen Sie, ob wir in den nächsten Wochen nicht doch noch
darangehen sollten.


(Beifall bei der SPD – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ihren Gesetzentwurf hat Hochtief geschrieben!)


– Das ist wirklich Quatsch, und Sie wissen das. Das soll-
ten Sie nicht wiederholen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Ja, ja!)


Lassen Sie es. Es ist falsch. Das brauchen wir hier nicht.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ganz flach, Herr Michelbach! Sie sind ja nicht Guttenberg! – Joachim Poß [SPD]: Der weiß es eigentlich auch besser!)


Meine Damen und Herren, Wirtschaftspolitik – Sie
haben darüber gesprochen, Herr Brüderle – muss den
Anspruch haben, die Modernisierung in diesem Land
voranzubringen. Sie haben das aber an den falschen Bei-
spielen aufgezäumt, weil doch ganz klar ist: Die einzige
strategische Entscheidung, die diese Koalition getroffen
hat, ist schon jetzt der wirtschaftspolitische Rohrkrepie-
rer Nummer eins. Mit dem energiepolitischen Konzept,
von dem Sie eben gesprochen haben, wollten Sie eine
langfristige Orientierung schaffen. Aber schauen wir uns
doch einmal an, was tatsächlich passiert.

Schauen wir einmal auf die kommunalen Investoren
bei den Stadtwerken. Was haben die gesagt? 7 Milliar-
den Euro an kommunalen Investitionen sind durch diese
Entscheidung dauerhaft blockiert.


(Bettina Hagedorn [SPD]: So ist das!)


Die großen Betreiber sind nicht alle der Meinung, dass
jetzt wirklich etwas vorangeht. Wenn man mit ihnen ein-
mal außerhalb der politischen Runden redet, wo man sich
etwas offener unterhalten kann, dann sagen die: Ja, ob uns
das wirklich Orientierung gegeben hat, weiß ich auch
nicht. – Der Chef von EnBW jedenfalls hat am Freitag
vergangener Woche noch öffentlich gesagt, wegen der ex-
trem negativen Effekte von außen – und mit „außen“ wa-
ren nicht wir gemeint, sondern die Regierung – könne
sein Unternehmen weniger investieren, als es ursprüng-
lich vorhatte.

Bei den Großen herrscht Verunsicherung. Bei den
Stadtwerken gibt es eine Blockade bei den Investitionen.
Die Erzeuger regenerativer Energien wissen im Augen-
blick nicht, wie es unter dieser Regierung überhaupt
weitergeht. Das ist doch ein toller Zwischenstand, Herr
Brüderle, den Sie uns hier berichtet haben.


(Beifall bei der SPD)


Beim CCS-Gesetz weiß ich nicht, wie der Stand in-
nerhalb der Bundesregierung ist. Ich stelle nur fest: Wir
hampeln da von Jahr zu Jahr, von Monat zu Monat he-
rum, ohne dass irgendetwas passiert. Das ist die energie-
politische Realität nach Ihrem wunderbaren Energiekon-
zept: maximales Durcheinander. Ich prophezeie Ihnen:
Bleibt das so, dann werden die Kraftwerke der Zukunft





Dr. Frank-Walter Steinmeier


(A) (C)



(D)(B)

im Ausland entstehen. Das liegt nicht an den Grünen,
das liegt nicht an der SPD, das liegt nicht an der Links-
partei, nicht an der Opposition insgesamt hier im Haus,
sondern das liegt an Ihnen, an dieser Regierung, meine
Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Diese Passage ist ja nur noch peinlich!)


Statt Weichenstellungen vorzunehmen, wie das nötig
wäre, folgt Gipfel auf Gipfel. Als ich mich auf den heuti-
gen Tag vorbereitet habe, habe ich mich an den Gipfel
für Elektromobilität erinnert und meine Mitarbeiter ge-
fragt: Was ist eigentlich seit diesem wunderbaren Elek-
trogipfel – Autos rund um das Brandenburger Tor – pas-
siert? Nichts ist passiert, nichts geht voran.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Arbeitskreis!)


Andere Länder investieren wesentlich mehr. Wenn das
so bleibt – das ist doch meine Sorge; deshalb melde ich
mich dazu zu Wort –, dann findet der nächste Auf-
schwung eben nicht in Deutschland statt.

Herr Brüderle, Ihre Aufgabe als Wirtschaftsminister
dieses Landes ist es nicht, den gegenwärtigen Auf-
schwung zu feiern, sondern ist es, den nächsten Auf-
schwung zu organisieren. Das ist Ihre Verantwortung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe Ihnen die aktuelle Ausgabe der Wirtschafts-
woche nicht mitgebracht, weil ich es immer etwas albern
finde, wenn hier vorne Zeitungsartikel hochgehalten wer-
den. Ich empfehle Ihnen aber, den Artikel mit dem Titel
„Bröckel-Republik Deutschland“ einmal sehr sorgfältig
zu lesen. Dieses Thema geht nämlich, anders als das Ti-
telbild es vermuten lässt, nicht nur Herrn Ramsauer an,
der jetzt der Bahn noch einmal eben 500 Millionen Euro
an Investitionsmitteln wegnimmt. Das betrifft alle, die
auf der Regierungsbank sitzen. Deutschland lebt von
Hightechprodukten. Unser Land braucht eine Spitzenin-
frastruktur mit neuen Stromnetzen für die erneuerbaren
Energien, mit intelligenten Stromnetzen, damit wir mehr
Lebensqualität und eine bessere Energieeffizienz bekom-
men, mit Breitband- und Glasfasernetzen, mit schnellen
Schienenwegen sowie guten Straßen und Brücken, die
nicht für Lkws gesperrt werden müssen, sodass diese
auch noch weite Umwege fahren müssen.


(Birgit Homburger [FDP]: Und das soll alles in einem Jahr passieren?)


Die Frage ist nur: Wann werden wir solche Netze haben?
Werden wir sie jemals haben, wenn Sie die Prioritären
anders setzen und die zur Verfügung stehenden Finanz-
mittel zunächst einmal zur Erfüllung Ihrer Wahlverspre-
chen benutzen? So kann die Infrastruktur nicht verbes-
sert werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn in dieser für das Industrieland Deutschland ent-
scheidenden Frage etwas zustande kommen soll und Sie
die Opposition bei dem einen oder anderen Gesetzge-
bungsverfahren vielleicht sogar brauchen, dann kann ich
Ihnen nur raten – das ist meine einzige Bitte –: Hören
Sie auf, diese Republik in eine Dafür- und eine Dage-
gen-Republik zu teilen. Machen Sie Ihren Job. Legen Sie
ein durchdachtes Konzept für den Ausbau moderner
Netze vor. Ich sage Ihnen: Am Ende werden wir das
brauchen, was wir vorgeschlagen haben. Wir brauchen
in diesem Land so etwas wie einen Infrastrukturkonsens,
und zwar gleich am Anfang und nicht erst, wenn ir-
gendein Großprojekt gegen die Wand gefahren wurde
und Sie Herrn Geißler bitten müssen, die Scherben zu-
sammenzukehren. Das ist kein Konsens, und so entsteht
keine verbesserte Infrastruktur.


(Beifall bei der SPD)


Ein letztes Wort zum Thema Europa. Herr Brüderle,
ich sage ganz offen: Dazu hätte ich gerne mehr von Ih-
nen gehört. Das war erstaunlich wenig. Das klang, als
habe all das, was im Augenblick in Europa passiert,
nichts mit der Zukunft unserer Wirtschaft in den nächs-
ten Monaten oder gar in den nächsten Jahren zu tun, als
exportierten wir nicht 60 Prozent der hier produzierten
Waren ins benachbarte europäische Ausland. Dieser
Umstand sagt einem Wirtschaftsminister doch eigentlich
nur eines: Wenn es dem europäischen Ausland schlecht-
geht und wenn es nicht schnellstmöglich wieder auf die
Beine kommt, dann können Sie hier ruhig die Steuern
senken – am Ende können Sie vermutlich sogar auf Steu-
ern verzichten –, aber Sie werden durch diese Politik die
Wirtschaft in diesem Land nicht weiter nach vorne brin-
gen. Deshalb ist das Thema Europa auch Ihr Thema; es
ist nicht allein das Thema des Finanzministers und der
Kanzlerin. An der Frage Europa wird sich entscheiden,
wie die Zukunft unseres Landes, einer starken Export-
nation in Europa, aussehen wird.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ganz im Ernst: Das, was mir am meisten Sorge berei-
tet, ist, dass wir dazu nicht nur von Ihnen, Herr Brüderle,
sondern auch von den anderen Regierungsbeteiligten
nicht sehr viel hören. Das Versteckspiel setzt sich im
Grunde genommen fort. Sie betreiben es sogar offen
miteinander über die Medien.

Sie haben eben gesagt, was Sie auf keinen Fall in Eu-
ropa wollen. Ich habe das verstanden. Ich sage noch ein-
mal: Im Dezember habe ich in einer europapolitischen
Debatte von diesem Pult aus vorausgesagt, dass das, was
Sie uns damals im Deutschen Bundestag vorgelegt ha-
ben, nicht die Lösung der europäischen Probleme sein
wird. Ich habe auch gesagt, dass Sie das ganz genau wis-
sen. Ich habe Ihnen vorausgesagt, dass Sie im neuen Jahr
– das hat jetzt begonnen – auf die Opposition zugehen
und vorschlagen werden: Wir brauchen eine Erweite-
rung des Rettungsschirms, und wir werden auch etwas
mit europäischen Anleihen machen müssen. – Von die-
sen europäischen Anleihen spricht Frau Koch-Mehrin,
die zu Ihrer Partei gehört, schon jetzt. Ich habe Ihnen vo-
rausgesagt, dass Sie mit diesen beiden Themen kommen
werden.






(A) (C)



(D)(B)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1708400800

Herr Kollege Steinmeier, Sie behalten bitte das Zeit-

budget Ihrer Fraktion im Auge.


Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD):
Rede ID: ID1708400900

Ich bin gleich durch.

Jetzt haben Sie noch einmal eine Atempause gewon-
nen, weil die portugiesischen Anleihen offensichtlich ge-
kauft worden sind. Ich sage Ihnen nur: Das ist kein
Grund, sich zurückzulehnen. Die Situation – Sie wissen
das ganz genau – ist nicht so, dass die Probleme, über
die wir hier sprechen und über die wir in der Sache hart
diskutieren müssen, gelöst sind. Sie, Frau Bundeskanzle-
rin – sie ist jetzt nicht da – und die anderen Mitglieder
der Bundesregierung, werden an diesem Pult vor dem
Hohen Haus und auch vor Ihren Regierungsfraktionen
begründen müssen, warum das, was aus Ihrer Sicht im
Dezember letzten Jahres falsch und verwerflich war, im
neuen Jahr richtig sein wird.


(Holger Krestel [FDP]: Ihre Partei ist doch der Verursacher der Probleme!)


Das Problem ist nur: Wer verschweigt, was notwen-
dig ist, und erst später Schritt für Schritt mit der Wahr-
heit herauskommt,


(Bettina Hagedorn [SPD]: Salamitaktik!)


der schafft in diesem Lande, in der deutschen Bevölke-
rung kein Engagement für Europa, sondern der betreibt
ein gefährliches Spiel mit der europäischen Integration.
Auch das ist ein wirtschaftspolitisches Thema.

Herzlichen Dank.


(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1708401000

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer

für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Joachim Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1708401100

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Deutschland und die deutsche Wirtschaft starten in
der Tat mit Rückenwind ins Jahr 2011: mit dem höchsten
Wirtschaftswachstum seit der Wiedervereinigung, mit
der besten Beschäftigungsentwicklung seit der Wieder-
vereinigung, mit deutlich besseren Haushaltszahlen und
Verschuldungszahlen, als vor Jahresfrist erwartet. Auch
wenn es die vornehmste Pflicht der Opposition ist, das
berühmte Haar in der Suppe zu finden, Herr Steinmeier,
müssen doch auch Sie anerkennen, dass dies nun wirk-
lich die beste und heißeste Suppe ist, die wir seit der
Wiedervereinigung in Deutschland haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Freuen wir uns doch gemeinsam über diese heiße
Suppe, zum Beispiel darüber, dass wir nach 3,6 Prozent
Wirtschaftswachstum im letzten Jahr in diesem Jahr
wohl mindestens 2,3 Prozent Wirtschaftswachstum er-
zielen werden. Das sind 25 Prozent mehr, als noch im
Herbst letzten Jahres vorausgesagt wurde. Das Wirt-
schaftswachstum ist in Deutschland doppelt so hoch wie
der Durchschnitt des Wirtschaftswachstums in Europa.
Deutschland ist vom kranken Mann Europas zur Wachs-
tumslokomotive in Europa geworden.

Freuen wir uns doch gemeinsam darüber, dass neben
dem Export erstmalig auch die Binnennachfrage mit ei-
nem Plus von 1,6 Prozent in diesem Jahr ein zentraler
Wachstumsmotor sein wird. Freuen wir uns darüber,
dass die verfügbaren Einkommen in Deutschland, also
das, was die Menschen, die in diesem Land arbeiten, zur
Verfügung haben, so deutlich ansteigen werden, dass sie
mehr ausgeben, mehr konsumieren und mehr investieren
können.

Freuen wir uns gemeinsam darüber, dass sich der Ar-
beitsmarkt weiter positiv entwickelt; so wird die Arbeits-
losigkeit in diesem Jahr in absoluten Zahlen wohl erst-
mals unter 2,5 Millionen sinken. Freuen wir uns darüber,
dass vor allem die Beschäftigung weiter zunimmt. Mit
über 41 Millionen Menschen, die in Arbeit sind, ver-
zeichnen wir die höchste Beschäftigung, die es in der
Bundesrepublik jemals gab,


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


und das, obwohl noch vor eineinhalb Jahren befürchtet
wurde, dass die Zahl der Arbeitslosen auf 5 Millionen
steigt. Was heißt das? Um ein paar Zahlen zu nennen:
100 000 Arbeitsplätze mehr führen zu Mehreinnahmen
der Sozialversicherung in Höhe von 80 Millionen Euro
und zu rund 600 Millionen Euro Steuermehreinnahmen,
und sie sparen im Gegenzug Ausgaben, zum Beispiel für
die Arbeitslosenversicherung, in einer Größenordnung
von 1,5 bis 1,6 Milliarden Euro. Der Unterschied zwi-
schen 3 Millionen Arbeitslosen, die wir jetzt zu ver-
zeichnen haben, und 5 Millionen Arbeitslosen, die pro-
gnostiziert wurden, besteht darin, dass wir gesamtstaatlich
rund 40 Milliarden Euro weniger aufwenden müssen.
Freuen wir uns darüber doch gemeinsam!

Freuen wir uns auch darüber, dass dieser Zuwachs,
anders als es von den esoterischen Linken und vom Rest
der Opposition immer dargestellt wird, vor allem bei so-
zialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen und in der
Vollbeschäftigung entstehen wird. Insofern gibt es auch
hier positive Nachrichten, die uns ermuntern sollten und
können.

Wenn dies die beste und heißeste Suppe seit langem
ist und wir uns darüber freuen, dann muss man sich viel-
leicht eingestehen, dass dies auch etwas mit den Köchen
zu tun hat. Herr Trittin, ich weiß, Sie sind lieber Kellner
als Koch; aber wir sind lieber Koch. Wenn in anderen
Ländern Europas diese Suppe nicht so heiß, sondern
mehr lau ist, obwohl sie aus den gleichen Zutaten be-
steht, hat das offensichtlich auch etwas mit den Köchen
zu tun.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie sind eine Frittenbude!)






Dr. Joachim Pfeiffer


(A) (C)



(D)(B)

Deshalb ist es schade, dass die SPD, Herr Heil und Herr
Steinmeier, sich quasi von ihrer eigenen Kochkunst dis-
tanziert. In der Tat haben Sie durch die Arbeitsmarktre-
formen, die in den letzten zehn Jahren durchgeführt wor-
den sind, daran mitgewirkt, dass wir diesen Aufschwung
haben. Das war ein Bestandteil.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


– Es wäre schön, wenn Sie nicht nur hier applaudieren
würden. Sie distanzieren sich doch; Sie wollen doch al-
les rückgängig machen. Sie wollen die Reform am Ar-
beitsmarkt rückgängig machen;


(Thomas Oppermann [SPD]: Nein! Das ist unsere Reform!)


Sie wollen die Rente mit 67 rückgängig machen,


(Thomas Oppermann [SPD]: Nein!)


die ein entscheidender Baustein ist, dass das Beschäfti-
gungsvolumen in diesem Land zunimmt.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die ist doch noch gar nicht in Kraft getreten! Ist Ihnen das schon einmal aufgefallen?)


Da besteht Fragebedarf, Herr Präsident.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1708401200

Bitte schön, Herr Kollege.


Peter Friedrich (SPD):
Rede ID: ID1708401300

Vielen Dank, Herr Präsident! – Herr Pfeiffer, ich habe

eine Frage zum Thema Rückgängigmachen. Wir haben
gemeinsam ein Konjunkturpaket für die Kommunen mit
insgesamt 13 Milliarden Euro aufgelegt. Gerade werden
viele kommunale Haushalte verabschiedet, und in fast
allen Kommunen – selbst in unserem sehr wohlhabenden
Baden-Württemberg – erleben wir, dass sie ihre Investi-
tionsvorhaben aufgeben und ihre Haushalte nicht aus-
gleichen können. Das, was wir als Konjunkturprogramm
auf den Weg gebracht haben und was viel zu dem Auf-
schwung beigetragen hat, indem wir die Kommunen in
die Lage versetzt haben, vor Ort für Aufträge zu sorgen,
hat jetzt dazu geführt, dass man dort vom Gaspedal auf
die Bremse gewechselt ist. Das ist auch das Ergebnis Ih-
rer Politik.

Machen Sie durch Ihre Politik nicht das rückgängig,
was wir an Aufschwung durch die Kommunen generiert
haben und was uns durch die Krise gebracht hat? Wie
stehen Sie zu diesem Teil des Rückgängigmachens durch
Ihre Politik und auch zu Ihren steuerlichen Maßnahmen
nicht nur bei den Hotels, sondern auch bei den Zurech-
nungen, die dazu geführt haben, dass die Steuereinnah-
men der Kommunen flächendeckend wegbrechen?


(Beifall bei der SPD)



Dr. Joachim Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1708401400

Es fällt mir wirklich schwer, das jetzt intellektuell

nachzuvollziehen.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das glauben wir! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das wundert uns nicht!)


Es stellt sich die Frage, an wem das liegt: ob das am
mangelnden Intellekt meinerseits liegt – das müsste man
einmal überprüfen – oder ob da offensichtlich etwas
durcheinandergebracht wird.

Was waren die Ziele der Konjunkturprogramme und
der Hintergrund? Wir haben damals, Ende 2008, wo wir
auf Sicht gefahren sind und das Schlimmste zu befürch-
ten war – keiner wusste, was passiert –, gemeinsam in
der Großen Koalition gesagt: Jetzt ist die Zeit, wo der
Staat, die Politik auf allen Ebenen, im Bund, in den Län-
dern und in den Gemeinden, ein Zeichen setzen und ver-
suchen muss, Vertrauen zu schaffen und Anreize dafür
zu setzen, dass investiert wird und dass in diesem Land
noch etwas geht. Wir haben von vornherein gemeinsam
beschlossen, dass die Konjunkturpakete auf zwei Jahre
begrenzt sind, nämlich auf 2009 und 2010. Für die Kom-
munen haben wir die Stellhebel so gestellt, dass die
Konjunkturpakete nur Maßnahmen beinhalten sollten,
die nicht schon im Haushalt sind, sondern normaler-
weise erst 2011, 2012 oder 2013 hätten realisiert werden
können. Sie sollten vorgezogen werden; das war doch
der Ansatz. Genau diesen Ansatz haben wir umgesetzt.

Jetzt sind wir auf einen Wachstumspfad einge-
schwenkt; das Vertrauen ist da, ein selbsttragendes
Wachstum kann sich wieder organisieren. Wir mussten
die Laufzeit der Konjunkturpakete nicht verlängern, son-
dern sie sind planmäßig ausgelaufen. Insofern kann ich
überhaupt nicht erkennen, wo wir den eingeschlagenen
Weg, der konsequent und stringent war, jetzt in irgend-
einer Art und Weise verändert haben sollten. Das tut mir
wirklich leid.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es ist jetzt mit Sicherheit aber auch nicht die Zeit,
sich einfach zurückzulehnen und zu sagen: Alles wun-
derbar! Weiter so! Wir brauchen nichts zu tun, um an der
Spitze zu bleiben; das alles ist ohne Risiken. – Das ist
mit Sicherheit nicht so. Die Punkte sind bereits ange-
sprochen worden.

Neben allgemeinen Risiken wie Vulkanausbrüchen,
Seuchen, Erdbeben und auch Terror, die wir im letzten
Jahr erlebt haben und die das Wachstum gefährden kön-
nen, sind die Rohstoffversorgung und die Preisentwick-
lung bei den Rohstoffen wieder auf der Agenda. Dies
wird uns dieses Jahr beschäftigen. Auch die Inflation ist
eine Gefahr für das weitere Wachstum. Wichtig ist auch
die Freiheit der Handels- und Transportwege. Bei den
weltweiten protektionistischen Bestrebungen, die dem
Freihandel, durch den wir unser Wachstum im Wesent-
lichen geschaffen haben, entgegenwirken, müssen wir
darauf achten, dass es kein Rollback gibt, sondern dass
die WTO-Verhandlungen jetzt endlich zum Abschluss
kommen und die internationalen Märkte geöffnet wer-
den. Deshalb ermuntern wir den Bundeswirtschafts-
minister und alle in Europa, in diesem Jahr bei den
WTO-Verhandlungen endlich weiter voranzukommen.





Dr. Joachim Pfeiffer


(A) (C)



(D)(B)

Auch was in den USA passiert, ist für uns nicht ohne
Sorge zu betrachten. Zu der privaten Verschuldung
kommt jetzt auch eine exorbitante und mit einer un-
glaublichen Geschwindigkeit ansteigende öffentliche
Verschuldung hinzu. Ich kann bei allem Optimismus und
bei allem Wachstum in den USA – vom Grundsatz her
herrscht dort ja ein etwas anderes Verständnis – noch
nicht so richtig erkennen, wie die Wettbewerbsfähigkeit
dort in Kürze so hergestellt werden kann, dass diese
Handelsungleichgewichte ausbalanciert werden können.
Das sind sicher Gefahren, die uns hier begegnen.

In Europa gibt es die Euro-Problematik. An dieser
Stelle will ich aber noch einmal darauf hinweisen, dass
das nicht aufgrund des Euro ein Problem ist, sondern
aufgrund der Verschuldung der Staaten und der Diver-
genzen im Bereich der Wirtschaftspolitik innerhalb der
Europäischen Union. Auch zu Beginn des Jahres 2011
ist festzuhalten: Der Euro wirkte in der Krise stabilisie-
rend. Wir erinnern uns an die Wechselkursprobleme An-
fang der 90er-Jahre mit Italien und anderen. Ohne den
Euro wäre uns der Laden in den letzten zwei Jahren im
wahrsten Sinne des Wortes um die Ohren geflogen. Hier
hat der Euro stabilisierend gewirkt.

Anders, als das häufig dargestellt wird, ist der Euro
auch kein Inflations-Euro und kein „Teuro“. Wir hatten
in der Zeit des Euro, von 1999 bis jetzt, eine Inflations-
rate von durchschnittlich 1,6 Prozent, während sie in den
Zeiten der D-Mark 1 Prozentpunkt höher lag, nämlich
bei 2,6 Prozent. Das heißt, der Euro hat zur Werterhal-
tung, zur Nachhaltigkeit beigetragen. Durch den Euro
wurde auch verhindert – das geschieht nach wie vor –,
dass die Unternehmen Transaktionskosten haben. Das
bedeutet eine bessere Transparenz und ein besseres
Funktionieren des Binnenmarktes.

Es ist aber zweifelsohne richtig, dass wir die Ver-
schuldenskrise in Europa in den Griff bekommen müs-
sen. Die Frage ist, wie man sie in den Griff bekommt.
Dies erreicht man sicher nicht – darin stimmen wir mit
dem Bundeswirtschaftsminister vollkommen überein –
mit Euro-Bonds. Sie sind im besten Fall süßes Gift, weil
dadurch schnelle Hilfe versprochen, langfristig aber die
Wettbewerbsfähigkeit des gesamten Euro-Raumes zer-
stört wird und die falschen Anreize gesetzt werden.

Wir wollen eine Lösung, durch die die richtigen An-
reize gesetzt werden, sodass derjenige, der konsolidiert,
spart und in Innovationen investiert, am Ende des Tages
besser dasteht als derjenige, der sich nur auf Transfer-
leistungen verlässt. Wohin das führen kann, sehen wir
am eigenen Land; das muss man auch einmal sagen. Wir
sind nicht in der Lage, die Finanzbeziehungen der Län-
der so zu ordnen, dass das Saarland und Bremen aus ih-
ren Positionen herauskommen. Hier sehe ich keinen
Ausweg. Wenn wir Euro-Bonds einführen würden, dann
würde das für Europa „Saarland und Bremen hoch zehn“
bedeuten. Das kann nicht unser Ziel sein. Deshalb wol-
len und werden wir keine Euro-Bonds einführen.

Wir werden aber auch nicht nachlassen, weiter die
Grundsatzentscheidungen zu treffen, durch die die Wett-
bewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft gestärkt
wird. Wir werden den Breitbandausbau weiter voran-
bringen. Wir werden das Telekommunikationsgesetz
wettbewerblich novellieren und Wettbewerbspotenziale
im Post- und Bahnbereich heben, und zwar nicht nur um
des Wettbewerbs willen, sondern um Innovationspoten-
ziale freizusetzen, die dann über niedrigere Preise und
bessere Leistungen an die Verbraucher weitergegeben
werden können. Das ist nämlich der Kerngedanke der
sozialen Marktwirtschaft.

Wir werden Forschung und Entwicklung weiter aus-
bauen. Wir haben in Bund und Ländern die höchsten
Ausgaben für Forschung und Entwicklung seit über
20 Jahren. Das werden wir konsequent weiter ausbauen.
Wir haben das Zentrale Innovationsprogramm Mittel-
stand, das hervorragend einschlägt, auf hohem Niveau
stabilisiert und werden es fortführen.

Wir werden aber auch neue Maßnahmen angehen, die
die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands im europäischen
Kontext stärken. Die geplante steuerliche Forschungs-
förderung wird in dieser Legislaturperiode nicht mehr
eingeführt. Wir müssen und werden aber den Einstieg
schaffen.


(Beifall des Abg. Dr. Heinz Riesenhuber [CDU/CSU])


Wir machen nicht nur eine Energiepolitik, die neue
erneuerbare Energien ins Netz bringt und langfristig den
Umstieg schafft, wie wir ihn im Energiekonzept festge-
legt haben, sondern wir werden auch für bezahlbare
Energiepreise für Wirtschaft und Verbraucher sorgen.
Denn ohne wettbewerbsfähige Energiepreise ist die
deutsche Wirtschaft bzw. der deutsche Mittelstand nicht
wettbewerbsfähig und in seiner Export- und Wirtschafts-
kraft gefährdet.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1708401500

Herr Kollege.


Dr. Joachim Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1708401600

Insoweit sind wir auf dem richtigen Weg, meine Da-

men und Herren. Es ist nicht alles glänzend, aber der
Weg und die Richtung stimmen. Wir werden den einge-
schlagenen Pfad konsequent weitergehen. Dann wird
Deutschland in den nächsten Jahren die Lokomotive Eu-
ropas in der wirtschaftlichen Entwicklung bleiben.

Lassen Sie uns gemeinsam und freudig daran arbei-
ten, um Deutschland und Europa nach vorne zu bringen,
statt nur als Kritikaster unterwegs zu sein.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1708401700

Dr. Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN – Thomas Oppermann [SPD]: Aber jetzt nicht so wie Brüderle!)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708401800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr

Steinmeier, mir ist aufgefallen, dass Sie gesagt haben,
dass die Union und die FDP die Reformen von SPD und
Grünen nutzen. Es sollte Ihnen aber nicht positiv auffal-
len, sondern negativ, dass den Konservativen und Neoli-
beralen Ihre Reformen so gut gefallen.


(Beifall bei der LINKEN)


Aber abgesehen davon, Herr Brüderle, haben Sie im
Zusammenhang mit dem Aufschwung ein paar Fakten
vergessen; daran muss ich Sie einfach erinnern. Der
Aufschwung macht ein Wirtschaftswachstum von
3,6 Prozent aus. Im Jahr davor hatten wir ein Minus von
4,7 Prozent. Das heißt, wir stehen immer noch schlechter
da als 2008. Das hätte doch Ihr erster Satz sein können.

Abgesehen davon haben Sie – das ist das Entschei-
dende – überhaupt nicht über die Frage geredet, wem der
Aufschwung zugutekommt und wem nicht. Was Sie dazu
gesagt haben, stimmt nicht. Wir haben – das stimmt – einen
Aufschwung für die Deutsche Bank. Wir haben auch ei-
nen Aufschwung für Vermögende und Spekulanten; das
stimmt.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: PorscheFahrer! – Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Porsche-Fahrer aus Ihrer Fraktion!)


Aber wir haben keinen Aufschwung für Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer. Wir haben keinen Aufschwung
für Rentnerinnen und Rentner.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir haben keinen Aufschwung für Kranke. Wir haben
keinen Aufschwung für Hartz-IV-Empfängerinnen und
Hartz-IV-Empfänger. Was hat denn die Hartz-IV-Emp-
fängerin von Ihrem Aufschwung? 5 Euro wollen Sie ihr
geben. Machen Sie sich doch nicht lächerlich, kann ich
da nur sagen.


(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei der CDU/CSU)


Die Reallöhne sind im letzten Jahren um 0,1 Prozent
gestiegen, Herr Brüderle. Aber das Geldvermögen ist im
letzten Jahr in Deutschland um 4,7 Prozent gestiegen.
Das Bruttogeldvermögen hat um 220 Milliarden Euro
zugenommen und liegt jetzt bei 4,9 Billionen Euro, ein
unvorstellbarer Betrag.

Nun könnte man zwar sagen: Was spricht denn dage-
gen, wenn alle mehr Vermögen haben? Das Problem ist
aber, dass 1 Prozent der Bevölkerung ein Viertel des
Geldvermögens besitzt. 10 Prozent der Bevölkerung be-
sitzen 60 Prozent des Geldvermögens. Zwei Drittel der
Bevölkerung besitzen gar kein Vermögen. Das ist die
grobe Ungerechtigkeit, an der Sie nichts ändern. Sie spit-
zen das sogar weiter zu.


(Beifall bei der LINKEN)


In der Krise – das hätten auch Sie eigentlich kriti-
sieren müssen, Herr Brüderle – hat die Zahl der Ver-
mögensmillionärinnen und Vermögensmillionäre um
51 000 zugenommen. Die Zahl liegt jetzt bei 861 000.
Erklären Sie das einmal denjenigen, die nicht wissen,
wie sie irgendwas bezahlen sollen. Wozu brauchen wir
denn so viele Vermögensmillionäre? Mit etwas weniger
kann man in unserer Gesellschaft auch sehr gut leben.


(Lachen bei der FDP)


– Sie nicht, meine Damen und Herren von der FDP! Es
tut mir leid, wenn Sie sich das nicht vorstellen können.

Bei uns nimmt nicht nur der Reichtum zu, sondern
auch die Armut. Hier hilft am besten ein Zehnjahresver-
gleich. Von 2000 bis 2010 hat das private Geldvermögen
von 3,5 Billionen auf 4,9 Billionen Euro zugenommen.
Es ist also auf 150 Prozent gestiegen. Nach einer Studie
des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung hat die
Armut in den letzten zehn Jahren um ein Drittel zuge-
nommen. Der Anteil der Armen ist von 11 Prozent auf
14 Prozent der Bevölkerung gestiegen. Das heißt, von
Armut sind nicht mehr 7,7 Millionen, sondern 11,5 Mil-
lionen Menschen betroffen. Da reden Sie von Auf-
schwung? Erklären Sie diesen 11,5 Millionen Menschen,
worin der Aufschwung für sie besteht!


(Beifall bei der LINKEN)


Nur in Deutschland sanken in den letzten zehn Jahren
die Reallöhne laut Internationaler Arbeitsorganisation,
ILO – einer UN-Sonderorganisation –, um 4,5 Prozent.
Der durchschnittliche Bruttoverdienst sank um
100 Euro. Wir sind Lohnsenkungsweltmeister. Herr
Brüderle, wenn Sie vom Export reden, müssen Sie auch
sagen, dass der Exportanstieg darauf zurückzuführen ist,
dass in Deutschland die Löhne gesenkt wurden, die Ren-
ten gesenkt wurden und die Sozialleistungen gesenkt
wurden. Das machte die Produkte billiger. Das heißt, Ihr
ganzer Exportüberschuss ging zulasten der Bevölkerung.
Das müssen Sie sagen, und das haben Sie verabsäumt zu
erklären.


(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei der FDP)


Die Reallöhne in anderen Ländern haben sich anders
entwickelt; sie sind gestiegen: in Spanien, in Frankreich,
in Großbritannien, in Finnland und in Norwegen – in
Norwegen sogar um 25 Prozent. Nur bei uns sind sie ge-
sunken. Dafür tragen die letzten drei Regierungen Ver-
antwortung: SPD und Grüne, Union und SPD sowie jetzt
Union und FDP. Die umgekehrte Entwicklung in
Deutschland hat natürlich auch etwas damit zu tun, dass
die prekäre Beschäftigung in Deutschland – das haben
Sie alle so gewürdigt – zugenommen hat. 22 Prozent der
Beschäftigten in Deutschland sind prekär beschäftigt,
zum Beispiel in Teilzeit, in Leiharbeit und in Minijobs.
Oder sie sind Aufstockerinnen und Aufstocker. Erklären
Sie diesen Menschen den Aufschwung! Die Zahl dieser
Menschen nimmt nicht ab, sondern zu.

Nehmen wir als Beispiel die Entwicklung bei den so-
zialversicherungspflichtigen Vollzeitarbeitsplätzen im
Laufe der letzten zehn Jahre. Deren Zahl hat nicht zuge-
nommen, Herr Brüderle – Sie sind ja so stolz auf den
Abbau der Arbeitslosigkeit –, sondern abgenommen, und
zwar um 1,4 Millionen. Aber die Zahl der Teilzeit-
arbeitsplätze hat zugenommen, und zwar um 1,6 Millio-





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)

nen. Jetzt sind wir bei 5,4 Millionen Teilzeitarbeitsplätzen.
Die Zahl der Niedriglohnbeschäftigten hat zugenom-
men: von 5 Millionen auf 6,6 Millionen. Die Zahl der
Minijobs ist gestiegen: von 5,5 Millionen auf 7 Millio-
nen. Die Zahl der Leiharbeiter ist gestiegen: von 320 000
auf 921 000. Erklären Sie den betroffenen Menschen,
was sie vom Aufschwung haben! Sie haben den ganzen
Arbeitsmarkt zerstört und die Gewerkschaften unge-
heuer geschwächt. Das merken wir alle.


(Beifall bei der LINKEN)


Selbst die Zahl der Aufstockerinnen und Aufstocker
hat während des Aufschwungs zugenommen, und zwar
um 100 000. Wir sind jetzt bei 1,4 Millionen. Auch ein
toller Aufschwung für die Betroffenen! In Ostdeutsch-
land muss fast jeder Dritte zu einem Einkommen unter
860 Euro arbeiten. In ganz Deutschland sind es
22 Prozent. Eine Studie hat jetzt herausgearbeitet, dass
eine Leiharbeiterin oder ein Leiharbeiter im Schnitt
900 Euro weniger verdient als eine Beschäftigte oder ein
Beschäftigter ohne Berufsausbildung. Daran müssen Sie
etwas ändern. Anstatt vom Aufschwung zu reden, sollten
Sie sich um das Schicksal von Millionen Menschen in
diesem Land kümmern.


(Beifall bei der LINKEN)


Was wir jetzt wirklich dringend brauchen – das ver-
weigern Sie leider, gerade Sie von der FDP –, ist ein flä-
chendeckender gesetzlicher Mindestlohn. Sie wissen gar
nicht, was Sie anrichten, wenn am 1. Mai Freizügigkeit
herrscht und wir keine Mindeststandards diesbezüglich
gesetzt haben. Ich sage Ihnen: Die Folge werden dann
eine zunehmende Ausländerfeindlichkeit und ein zuneh-
mender Rassismus sein.


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Die schüren Sie doch gerade wieder! – Zurufe von der FDP: Sie schüren die doch!)


Das können wir überhaupt nicht gebrauchen. Überneh-
men Sie einfach einmal Verantwortung, und führen Sie
einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn in
Deutschland ein!


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Sie und die NPD schüren das doch!)


– Quatschen Sie doch nicht so ein dummes Zeug, Herr
Lindner! Was an Ihnen liberal ist, würde ich auch gerne
wissen. Sie sind das Intoleranteste, was mir je begegnet
ist.

Abgesehen davon, sage ich Ihnen, weil Sie vom Auf-
schwung reden: Die Druckerei Schlott macht gerade
dicht. 2 000 Beschäftigte werden in Freudenstadt, Nürn-
berg, Landau und Hamburg entlassen. Das Unternehmen
Alstom Power in Mannheim baut 400 Stellen ab. Erklä-
ren Sie den betroffenen Menschen den Aufschwung!

Die Lohnsteigerungen, die wir jetzt brauchen, müssen
wirklich von einem anderen Kaliber sein als in den ver-
gangenen Jahren. Wir hatten einen Reallohnverlust von
4,5 Prozent. Deshalb sage ich: Wir brauchen in diesem
Jahr einen Anstieg der Reallöhne um mindestens
5 Prozent, angemessen wären 10 Prozent, wenn man tat-
sächlich an einen Produktivitätsaufschwung denkt.


(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der FDP)


Ja, wir brauchen Rentenerhöhungen. Wir brauchen auch
Erhöhungen der Sozialleistungen. Statt Hartz IV brau-
chen wir endlich eine angemessene Grundsicherung in
unserer Gesellschaft, und zwar sanktionsfrei.


(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der FDP)


Sie sagen, die gesamte Entwicklung sei toll, sie gin-
gen einen anderen Weg, und die anderen Länder mach-
ten alles falsch. Ich kenne diese Art von Egozentrismus.
Ich glaube, er ist völlig falsch. Ich will Ihnen sagen, was
Sie in Griechenland anrichten. In Griechenland werden
die Reallöhne um 11,2 Prozent gesenkt, die Industriepro-
duktion um 20,7 Prozent, die Industrieaufträge sind um
über 46 Prozent zurückgegangen. Das alles finden Sie
richtig. Sie sagen: Die müssen sparen, sparen, sparen.
Dasselbe sagen Sie bei Irland, dasselbe sagen Sie bei
Portugal, und dasselbe sagen Sie bei Spanien. Ich sage
Ihnen: Verträge, die die Menschen zu einem solchen So-
zialabbau zwingen, haben verheerende Folgen.

Sie müssen das einmal in einem Geschichtsbuch
nachlesen. Durch den Vertrag von Versailles wurde
Deutschland gezwungen, einen solchen Weg zu gehen.
Der Weg war völlig falsch; denn er hat mit dazu geführt,
dass die Nazis so stark geworden sind. Wir können über-
haupt nicht regulieren, was in den genannten Ländern
passiert, wenn Sie dort einen solchen Sozialabbau orga-
nisieren. Das ist der völlig falsche Weg.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der FDP: Geschichtsklitterei!)


Ich habe übrigens noch ein Beispiel für den Auf-
schwung. Die Europäische Zentralbank darf Griechen-
land keinen Kredit geben. Aber die Europäische Zentral-
bank darf der Deutschen Bank einen Kredit geben. Die
Deutsche Bank holt sich dort 1 Milliarde Euro und zahlt
1 Prozent Zinsen. Dann geht die Deutsche Bank nach
Griechenland und sagt: Ihr bekommt die Milliarde, aber
ihr müsst leider 11 Prozent Zinsen zahlen. Da verdient
die Deutsche Bank für eine Überweisung 10 Prozent
Zinsen, das sind 100 Millionen Euro. In diesem Bereich
organisieren Sie den Aufschwung, das stimmt, Herr
Brüderle, aber wir brauchen einen anderen Aufschwung
in unserer Gesellschaft.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Risikoaufschlag!)


– So ein Quatsch.

Wir haben es mit Spekulationen auf den Nahrungs-
mittel- und Rohstoffmärkten zu tun. Die Weizenpreise
sind um 40 Prozent gestiegen. Ich sage Ihnen: Spekula-
tionen mit Nahrungsmitteln sind ein Verbrechen. Das
müssen Sie verbieten.


(Beifall bei der LINKEN)






Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)

Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Sie wollen nur
den Export stärken, wir wollen die Binnenwirtschaft
stärken. Sie wollen und organisieren den Aufschwung
für die Deutsche Bank, die Konzerne, die Großaktionäre
und die Vermögenden, wir dagegen fordern einen Auf-
schwung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
für die Rentnerinnen und Rentner, für die Hartz-IV-Be-
ziehenden und die kleinen und mittleren Unternehmerin-
nen und Unternehmer. Es wird Zeit, dass auch sie einen
Aufschwung erleben.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1708401900

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Hermann Otto

Solms für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708402000

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Es ist ganz schön, Herrn Gysi bei uns zu haben;


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das finden wir auch!)


dann weiß man mal wieder, wie Klassenkampfreden aus-
sehen:


(Beifall bei der FDP)


völliger Realitätsverlust, nur Negatives wird dargestellt,
obwohl alle Daten positiv ausfallen,


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Eben nicht alle!)


und zwar positiv für alle. Alle können sich über die Ent-
wicklung freuen. Kein Mensch sagt, dass alles Gold ist,
aber die Entwicklung ist äußerst positiv, weit über die
Erwartungen von allen hier im Raume hinaus. Das muss
man doch entsprechend bewerten.

Sie behaupten, die Hartz-IV-Empfänger, die Rentner,
die Arbeitslosen und die Arbeitnehmer hätten alle nichts.


(Joachim Poß [SPD]: Sie werden zusätzlich gequält!)


Das widerspricht total den Realitäten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben jetzt 2 Millionen Arbeitskräfte, die früher ar-
beitslos waren, und nun wieder in Arbeit und Brot ge-
kommen sind. Das ist doch ein riesiger Fortschritt. Das
Sozialste an dieser Entwicklung ist, dass die Menschen
ihren Lebensunterhalt wieder durch eigene Arbeit finan-
zieren können.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Aber genau das passiert nicht! Was ist mit den Aufstockern?)


Die Langzeitarbeitslosigkeit nimmt ab, und zwar stärker
als bisher. Die Jugendarbeitslosigkeit ist drastisch zu-
rückgegangen. Die Erwerbstätigenquote steigt. Die Zahl
der Vollzeitarbeitsplätze steigt stärker als die Zahl der
Teilzeitarbeitsplätze. Das alles sind positive Entwicklun-
gen. Die Nettolöhne, so das Statistische Bundesamt, stei-
gen im Jahre 2010 stärker als in den letzten 17 Jahren.


(Jörg van Essen [FDP]: 17 Jahre!)


Wenn das kein Fortschritt ist, dann frage ich mich, was
Fortschritt sein soll.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Heute ist ein Tag der Freude für alle in der Gesell-
schaft, insbesondere für die Masse der Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer. Es ist aber auch ein Tag der
Freude für uns und für die Bundesregierung. Offenkun-
dig hat sie nicht alles falsch gemacht. Sie hat beispiels-
weise nicht bei Opel oder Karstadt interveniert, obwohl
andere sie dazu aufgefordert haben. Erinnern Sie sich an
Holzmann: Staatsintervention durch Schröder. 200 Mil-
lionen Euro in den Wind geschrieben;


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ja! Ja!)


denn die Firma ist trotzdem pleitegegangen. Wenn eine
Firma keine Basis mehr hat, kann der Staat auch nicht
mehr helfen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz sind An-
fang des Jahres 24 Milliarden Euro freigesetzt worden.
So wurde mit 24 Milliarden Euro dazu beigetragen, die
Kaufkraft der Bürger zu stärken, insbesondere die der
Familien und der kleinen und mittleren Unternehmen.


(Joachim Poß [SPD]: Quatsch!)


Nun regen Sie sich doch nicht über die Hotels auf.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch! Darüber regen wir uns auf!)


Natürlich wäre es besser gewesen, die Umsatzsteuer für
die Hotels in eine Gesamtumsatzsteuerreform einzubin-
den; das gebe ich zu. Nun ist es aber so gelaufen. Die
Hotels haben die Mittel genutzt, um in großem Stil zu in-
vestieren und zu erneuern. Außerdem sind im Touris-
musgewerbe in Deutschland etwa 2 Millionen Menschen
beschäftigt. Deswegen war das wichtig, und deswegen
hat das auch zum Aufschwung beigetragen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein ordnungspolitischer Sündenfall war das!)


Meine Damen und Herren, in Wirklichkeit ist dieser
Aufschwung also ein Beschäftigungsaufschwung. Das ist
das, was wir in erster Linie erreichen wollten, und dabei
haben wir uns in Wahlkämpfen mit Versprechen gegen-
seitig überboten. Deswegen möchte ich daran erinnern:
Es ist auch ein glücklicher Tag für die Oppositionspar-
teien SPD und Grüne. Natürlich ist es richtig, dass die
Reformen, die damals durchgeführt worden sind – Hartz-IV-
Reform, Arbeitsmarktreform und auch die Steuerre-
form 2000 –, einen positiven Beitrag zu dieser Entwick-





Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

lung geleistet haben. Wer wollte denn das aberkennen?
Wir haben diesen Reformen seinerzeit doch auch zuge-
stimmt.


(Jörg van Essen [FDP]: So ist es!)


Das ist in doppelter Hinsicht glücklich für Sie. Sie
können froh sein, dass Sie heute in der Opposition sit-
zen. Sonst müssten Sie nämlich Ihre absolut wachstums-
und beschäftigungsfeindlichen Beschlüsse, die Sie in der
Zwischenzeit gefasst haben, umsetzen. Dabei denke ich
an den flächendeckenden Mindestlohn, an die Zurück-
nahme der Rente mit 67, an die Erhöhung des Spitzen-
steuersatzes bei der Einkommensteuer auf 49 Prozent, an
die Wiedereinführung der Vermögensteuer und an die
Abschaffung der Abgeltungsteuer, die Sie selbst gerade
erst eingeführt haben. Das alles wäre natürlich Gift.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was?)


– Der Abgeltungsteuer. Das habe ich nachgelesen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo steht denn das? Quelle!)


– In Ihren Beschlüssen vom September letzten Jahres.
Wenn das nicht der Fall sein sollte, so kann man zumin-
dest sagen, dass das andere längst reicht. Das wäre Gift
für diese Entwicklung.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Sie müssen sich damit und mit der Frage auseinander-
setzen, wie Sie das Wachstum auf Dauer verfestigen
können.

Deswegen sagen wir: Entscheidend ist eine klare Ord-
nungspolitik. Der Staat hat das zu tun, was seine Aufgabe
ist. Er hat die Spielregeln festzulegen und die Durchset-
zung der Spielregeln zu garantieren und zu überwachen.
Dazu gehört beispielsweise auch eine effiziente Banken-
aufsicht. Ich habe damals Herrn Eichel gesagt: Sie müs-
sen die Bankenaufsicht in eine Hand geben. – Was hat er
aber gemacht? Er hat die BaFin geschaffen. Dann haben
sich die BaFin und die Bundesbank gegenseitig bekämpft.
Die Bankenaufsicht hat die eigentlichen Probleme aber
nicht erkannt. Deswegen muss dies jetzt nachgeholt wer-
den: Wir brauchen eine klare und wirkungsvolle Regulie-
rung der Finanzmärkte.


(Joachim Poß [SPD]: Wo ist eigentlich Schäuble, der Verlierer dieser Tage?)


Wir brauchen aber keine Regeln in den Bereichen, in
denen sie den Wettbewerb stören. Wir müssen uns durch
Wettbewerb und Ausleseverfahren auf den Märkten an-
passungsfähig und zukunftsfähig machen; denn nur dann
werden wir in dem zunehmend schwieriger werdenden
weltweiten Wettbewerb bestehen können. Das ist keine
europäische Frage, sondern das ist eine weltweite Frage.

Natürlich gilt auch hier: Die Finanzpolitik muss die
Wirtschaftspolitik unterstützen und umgekehrt. Das ha-
ben wir auch gemacht. Das Wachstumsbeschleunigungs-
gesetz war mit einer Freigabe von Finanzmitteln für die
Bürger verbunden. Das hat dazu beigetragen, dass sich
die Wirtschaft positiv entwickelt. Dadurch steigen die
Steuereinnahmen wieder, und dadurch wird das eine ver-
nünftige Maßnahme.
Deswegen gilt auch jetzt: Wir sind dafür, dass die
Haushalte konsolidiert werden. Wir haben schon in unse-
rem Wahlprogramm zum Ausdruck gebracht, dass Steu-
erreform und Haushaltskonsolidierung Hand in Hand ge-
hen müssen. Sie müssen zusammen durchgeführt werden.

Wir haben der Aufnahme der Schuldenbremse in die
Verfassung zugestimmt. Schon jetzt wollen wir den
Fahrplan der Schuldenbremse konsequent erfüllen. Wir
wollen zwischen 2011 und 2016 in gleichmäßigen
Schritten die Neuverschuldung auf einen Restbestand
von höchstens 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
abbauen.

Wenn sich aber auf dem Weg dorthin über die Erfül-
lung der Vorgaben durch die Schuldenbremse hinaus
Spielräume ergeben, dann sollen sie nicht durch neue
Staatsausgaben verschwendet werden, sondern dann
müssen sie genutzt werden, um sie den Arbeitnehmern
zu geben, die ja jetzt bei wachsenden Löhnen von der
kalten Progression besonders betroffen sind.

Ich möchte gerade die Sozialdemokraten daran erin-
nern, dass sie in ihrem Wahlprogramm – ich habe es mit-
gebracht – genau das gefordert haben, wie wir und wie
die CDU/CSU auch, mit unterschiedlichen Formulierun-
gen; aber es ist genau das Gleiche:

Wir wollen die Entlastungen daher auf die Bezieher
niedriger und mittlerer Einkommen sowie die Fa-
milien konzentrieren.

An anderer Stelle in diesem Programm sprechen Sie noch
von einem Jahreseinkommen von etwa 53 000 Euro. Sie
beziehen sich also genau auf den Bereich, auf den wir
unsere Reformanstrengungen konzentrieren wollen. Da
stimmen wir völlig überein.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Es ist schön, dass Sie bei uns so viel nachlesen!)


Wenn die Löhne nun stärker steigen, was mich freut,
dann werden die Arbeitnehmer umso frustrierter sein,
wenn sie feststellen, dass ein immer größerer Teil des
zusätzlichen Einkommens wegbesteuert wird. Deswegen
ist es zur Bekämpfung der kalten Progression und des
Mittelstandsbauches zwingend notwendig, Spielräume,
die sich ergeben, zu nutzen, um hier zu Entlastungen zu
kommen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Lassen Sie mich abschließend noch etwas zur Diskus-
sion um die Währungspolitik und die Stabilisierung des
Euro sagen. Die Frage ist doch nicht, ob wir europa-
freundlich sind oder nicht. Wir sind alle europafreund-
lich.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Mit Ausnahme der Linken!)


Die Frage ist nur: Was führt zu einer dauerhaften Stabili-
sierung? Ist es richtig, wenn Krisen entstehen, laufend
neue Mittel zur Verfügung zu stellen – ich frage dies
auch vor dem Hintergrund, dass wir hier um jeden Euro
im Haushalt kämpfen, während da gleichzeitig viele
Milliarden zur Verfügung gestellt werden –, um dann bei





Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

der nächsten Finanzierungsrunde wieder in die Situation
dessen zu kommen, der erpresst werden kann? Da sind
einige Akteure in den Finanzmärkten sehr geschickt. Sie
drohen, die Banken würden zusammenbrechen, wenn
jetzt nicht der Steuerzahler einspringen würde. So wer-
den von Runde zu Runde die stabilen Staaten in Europa
erpresst, um das Schlimmste zu verhindern.

Ist es auf der anderen Seite nicht richtig, die Staaten,
die in einer schwierigen Situation stecken, von Grund
auf zu sanieren? Hilfe zur Selbsthilfe, das ist das, was
angezeigt ist. Ein Staat, der seine Schulden wegen seiner
mangelnden Wirtschaftskraft in den nächsten zehn Jah-
ren nicht bedienen kann, wird um eine Umschuldung un-
ter Einbeziehung der Gläubiger nicht herumkommen,
die dann auf einen Teil ihres Darlehens verzichten müs-
sen. Das ist der richtige Weg.

Dieser Weg ist ja nicht neu. Er ist insbesondere in
Südamerika, in Argentinien, aber auch in Europa, in
Polen, in Russland, in vielen Ländern über den Pariser
Club beschritten worden. Das hat vorzüglich funktio-
niert, und das hat zu einer anschließenden dauerhaften
Stabilisierung geführt. Ich warne davor, zu glauben, es
bedürfe irgendeines Aktionismus; da wird jetzt in
Europa diskutiert. Dabei geht es eigentlich nur darum,
dass die Triple-A-Staaten in Europa – das sind Deutsch-
land, Frankreich, Österreich, Niederlande, Luxemburg
und Finnland – für die Schuldnerländer eintreten müs-
sen, ohne dass es zu einer dauerhaften Sanierung kommt.
Ganz im Gegenteil: Gerade das löst den Moral Hazard
aus. Die Regierungen sind dann nicht mehr veranlasst,
eine solide Politik zu betreiben; denn sie können sagen:
Die Defizite werden sowieso von den anderen ausgegli-
chen.

Wir müssen vielmehr an die Grundlagen gehen: Jeder
Einzelstaat muss aus sich heraus saniert werden, und er
muss natürlich Auflagen bekommen und Sanktionen an-
gedroht bekommen, wenn er die Voraussetzungen nicht
erfüllt.

Meine Damen und Herren, ich glaube, diese Frage ist
für die Zukunft von Europa von eminenter Bedeutung.
Hier werden historische Entscheidungen getroffen, und
sie dürfen nicht in die Richtung einer Transferunion ge-
hen.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1708402100

Nächste Rednerin ist die Kollegin Kerstin Andreae

für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708402200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Solms, ich finde es bemerkenswert und auch aner-
kennenswert, dass Sie nochmals darauf hingewiesen ha-
ben, dass die arbeitsmarktpolitischen Reformen jetzt
Wirkung zeigen. Das heißt aber im Umkehrschluss na-
türlich auch, dass Sie durchaus anerkennen, dass institu-
tionelle Reformen notwendig sind, um am Arbeitsmarkt
und in Bezug auf die Wirtschaftslage Verbesserungen zu
erlangen. Ich muss Ihnen jetzt Folgendes vorhalten: Das,
was Sie uns an Reformen und institutionellen Verände-
rungen vorschlagen, ist überhaupt nicht ausreichend. Ich
komme im Einzelnen noch dazu.

Sie verzeihen, wenn ich etwas hochhalte: Das ist der
Jahreswirtschaftsbericht 2011. Der Titel dieses Jahres-
wirtschaftsberichtes macht mir extreme Sorgen, Herr
Minister. Natürlich ist unbestritten: Wir haben einen
Aufschwung und mehr Leute in Jobs. Das ist gut, richtig
und notwendig. Aber dass Sie allen Ernstes behaupten,
dass die Krise überwunden ist, zeugt von einer unglaub-
lichen Kurzsichtigkeit. Wir sind noch lange nicht über
den Berg; wir müssen jetzt handeln. Das ist das, was uns
wirklich Sorgen macht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die Ursachen der Finanz- und Wirtschaftskrise sind
noch keineswegs beseitigt. Wir haben eine enorme
Schuldenkrise in Europa und weiter unzureichende Fi-
nanzmarktregulierungen. Wir haben globale und euro-
päische Ungleichgewichte in den Leistungsbilanzen. Wir
haben zwar eine Währungsunion, aber wir haben doch
noch lange keine Wirtschaftsunion.

Wenn Sie sich hier hinstellen und sagen „Wir müssen
halt aufpassen, dass Triple-A-Deutschland hier nicht ge-
schädigt wird“, dann haben Sie nicht verstanden, dass es
auch im nationalen Interesse ist, Europa zu stabilisieren,
und dass Deutschland hier eine ganz große Aufgabe hat.
Das müssen Sie verstehen, wenn Sie nicht nur national,
sondern europäisch denken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir vermissen zutiefst die Europäer in Ihrer Regierung,
die sagen „Wir nehmen etwas in Angriff, wir starten, wir
überlegen, wir gestalten mit“, sondern Sie sind in einer
Bremserrolle, was Europa angeht. Das ist hochdrama-
tisch; auch das haben Sie nicht begriffen. Hier stecken
noch so viele Krisensituationen drin, die uns in Deutsch-
land betreffen werden.

Aber auch die Klimakrise ist nicht vorbei. Vor ein paar
Jahren haben Sie sich alle – das ist unser Eindruck – da-
mit einmal ein bisschen thematisch auseinandergesetzt.
Inzwischen haben Sie damit gar nichts mehr zu tun. Am
Montag hat sich in diesem Bundestag eine Enquete-
Kommission zu dem Thema Wachstum konstituiert, wo
auch von Ihnen, Herr Präsident Lammert, durchaus kriti-
sche Töne in Bezug auf die Frage unserer Wachstumsab-
hängigkeiten angeschlagen wurden. Ich hoffe sehr, dass
Ihre Vertreterinnen und Vertreter in dieser Enquete-Kom-
mission nicht nur reine Lippenbekenntnisse abgeben,
sondern dass es ihnen tatsächlich darum geht, dass wir
anerkennen, auf einem Planeten mit begrenzten Ressour-
cen zu leben, der 2050 eine Weltbevölkerung von
9 Milliarden Menschen haben wird. Diese Weltbevölke-
rung wird wohnen wollen, sie wird arbeiten wollen, sie
wird sich ernähren wollen, und sie wird Mobilität haben
wollen.





Kerstin Andreae


(A) (C)



(D)(B)

Wenn wir aus deutscher Sicht heraus wirtschaftspoli-
tisch denken, dann wird es mit unsere Aufgabe sein, hier
Lösungen für diese Herausforderungen zu finden. Das
ist aus weltpolitischer Sicht richtig, das ist aus nationaler
Sicht richtig, und das ist aus umweltpolitischer Sicht
richtig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wenn Sie hier vorangehen, haben wir ein bisschen mehr
als die Prosa in diesem Jahreswirtschaftsbericht.

Ich komme jetzt zur Haushalts- und Finanzpolitik. Sie
muss ja seriös sein, um für wirtschaftliche Stabilität sor-
gen zu können. Dieses Klein-Klein, das Sie uns in den
letzten Tagen bei der Steuervereinfachung geliefert ha-
ben, ist schon echt ein Hammer. Da haben Sie jetzt durch
die Anhebung des Arbeitnehmerpauschbetrags pro Mo-
nat 1,95 Euro für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
herausgeholt. Zwischenzeitlich hat die FDP wegen die-
ser Nummer mit dem Koalitionsbruch gedroht. Ich frage
mich, was Sie eigentlich tun werden, wenn Sie einmal
ernsthafte und große Probleme angehen. Was wird dann
mit Ihrer Koalition los sein? Sie haben bei dieser Ge-
schichte den Finanzminister demontiert. Sie feiern sich
jetzt für 80 Euro Anhebung des Arbeitnehmerpauschbe-
trags. Sie haben die Koalition infrage gestellt. Es ist lä-
cherlich, was Sie hier geliefert haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Noch einmal zur Krise. Diese Krise hat Deutschland
laut IWF 115 Milliarden Euro gekostet. Folgekosten der
Wirtschafts- und Finanzkrise: 115 Milliarden Euro. Wir
haben eine Schuldenquote von 80 Prozent. Sie müssen
uns irgendeine Antwort liefern, wie Sie hier herauskom-
men wollen. Die Antworten, die Sie liefern, haben über-
haupt keine Substanz. Das Einzige, was Ihnen wieder
einfällt, sind Steuersenkungen. Ich frage mich manchmal
– diese Frage richte ich auch an die FDP –: Wundern Sie
sich eigentlich noch, warum Sie bei den Umfragewerten
bei 3 Prozent oder meinetwegen vielleicht bei 4 Prozent
liegen?


(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eher 3 Prozent!)


Wundern Sie sich noch darüber? Die Menschen sind viel
schlauer als die FDP, und sie sind auch viel schlauer, als
die FDP denkt.


(Zuruf von der CDU/CSU: Schlauer als die Grünen!)


Sie wissen nämlich genau, dass starke Schultern natür-
lich mehr tragen müssen. Natürlich müssen wir diese
Belastungen irgendwie zurückführen. Das wissen die
Menschen. Deswegen glauben sie Ihnen diese Steuersen-
kungsfantasien nicht – unabhängig davon, dass sie es
auch gar nicht wollen. Wundern Sie sich also nicht, dass
Sie, wenn Sie so weitermachen, bei 4 Prozent landen
werden. Uns soll es recht sein.

Ehrlichkeit wird belohnt. Ehrlichkeit heißt: Wir sa-
gen, was geht. Wir sagen, was wir zumuten. Sie sind zu
feige, den Menschen zu sagen, was notwendig ist.

(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das wollen wir mal sehen!)


Sie erschöpfen sich im lächerlichen Klein-Klein und im
Rückwärtsgang.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Jetzt werde ich ein innovatives Beispiel anführen. Wir
haben den Jahreswirtschaftsbericht bekommen. Es gab
einen Vorläufer. Im Dezember/Januar wurde uns der
erste Entwurf zugänglich gemacht. Darin haben Sie über
den Fachkräftemangel gesprochen. Der Fachkräfteman-
gel – wir werden nachher noch eine ausführliche Debatte
dazu haben – ist einer der Punkte, die in Deutschland tat-
sächlich absehbar zu einer Krise führen werden. Wir ha-
ben im IT-Bereich, bei den Ingenieuren, im Pflegebe-
reich definitiv einen Fachkräftemangel. Sie werden das
Problem allein mit inländischen Kräften nicht mehr lö-
sen. Wir sagen Ja zur Bildungsoffensive. Wir sagen Ja
zur Frauenförderung. Wir sagen Ja dazu, ältere Arbeit-
nehmer länger im Job zu behalten. Trotzdem werden Sie
sich über die Frage der Zuwanderung Gedanken machen
müssen.

Ein innovatives Land, ein Wachstumsland, wie es
Deutschland ist, ist immer auch ein Einwanderungsland.
Wir sind inzwischen ein Auswanderungsland. Was ist
passiert? Nichts! Es steht nichts mehr darin! Bayerisch-
konservative Ideologie hat sich durchgesetzt. Sie haben
gesagt: Zuwanderung wollen wir eigentlich nicht, brau-
chen wir nicht.


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!)


Wo sind hier Ihre Siebenmeilenstiefel? Das ist ein Gän-
semarsch, was Sie hier als CDU/CSU und FDP vorfüh-
ren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Völlig absurd, was Sie erzählen!)


Jetzt komme ich noch zur Rohstoffstrategie. Wir ha-
ben von Ihnen, auch von anderen Rednern hier, gehört,
dass für unsere Wirtschaft ein ganz großes Problem der
Zugang zu bezahlbaren Rohstoffen und Ressourcen ist.
Wir haben vor einigen Wochen die Rohstoffstrategie der
Bundesregierung diskutiert. Ich sage Ihnen: Es ist ökolo-
gisch, aber auch wirtschaftlich überhaupt nicht rational,
wenn wir das, was wir haben, nicht nutzen und stattdes-
sen eine reine Beschaffungsstrategie fahren. Wo sind
Ihre Vorschläge zur Kreislaufwirtschaft, zu Recycling,
zu vernünftiger Materialeffizienz, zu Ressourceneffi-
zienz? Dazu kommen keine Vorschläge! Heute – das
muss man sich einmal vorstellen! – werden gerade ein-
mal 50 Prozent des Schrotts in Recyclingprozessen auf-
gearbeitet. Das heißt, bei 50 Prozent geschieht das nicht.

Ich will einen Wirtschaftsminister haben, der sagt: Ich
gehe bei der Kreislaufwirtschaft voran. Ich mache mir
hierzu Gedanken. – Aber nein, wir haben eine Beschaf-
fungsstrategie und überlegen uns, wie wir in anderen
Ländern, vielleicht sogar verknüpft mit der Zusage von
Entwicklungshilfe, an Rohstoffe herankommen. Kurz-





Kerstin Andreae


(A) (C)



(D)(B)

fristig, kurzsichtig, falsch gedacht! Sie haben nicht die
Erkenntnis, dass wir Umwelt und Ressourcen schonen
müssen. Wenn wir es nicht tun, dann verbauen wir Chan-
cen der Zukunft, und das wollen wir nicht. Sie betreiben
eine völlig falsche Politik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zum Schluss. Allein auf Wachstum zu setzen, reicht
nicht aus. Sie brauchen Zukunftsinvestitionen und rich-
tige institutionelle Reformen. Sie müssen auch einmal
einen Vorschlag machen, der zu Diskussionen führt, und
sagen: Das muten wir euch zu. Das ist das, was wir brau-
chen, um in die Zukunft zu gehen. – Sie brauchen eine
seriöse Finanz- und Haushaltspolitik. Vor allem brau-
chen Sie das Verständnis, dass Deutschland sich in Eu-
ropa befindet, dass wir in einer Wirtschafts- und in einer
Währungsunion sind. Der Großteil der Reden, die wir
von der Koalitionsseite gehört haben – bis auf wenige
Ausnahmen –, hatte eine nationale Sichtweise.


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Nationales Parlament, Frau Kollegin!)


Sie verstehen nicht einmal mehr, dass es notwendig ist,
Europa zu stabilisieren, auch aus einem nationalen Inte-
resse.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1708402300

Frau Kollegin.


Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708402400

Europa zu stabilisieren, ist natürlich im europäischen

Interesse. Das ist auch ein zutiefst grünes Interesse.
Wenn Sie hier sagen: „Die Krise ist ausgestanden“, dann
haben Sie es nicht verstanden. Das macht uns Sorgen.
Ich hoffe, dass Sie noch zu neuen Erkenntnissen gelan-
gen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1708402500

Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Michael Fuchs

für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Michael Fuchs (CDU):
Rede ID: ID1708402600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wenn man so
positive Zahlen verkünden kann wie heute der Bundes-
wirtschaftsminister und Kollegen, dann ist dieses ein-
fach erfreulich. Dass man das so zerredet, wie das der
eine oder andere Kollege hier getan hat, kann ich über-
haupt nicht nachvollziehen.

Lieber Kollege Brüderle, Sie haben eben gesagt, Herr
Steinmeier sei die Insel der Vernunft. Ich habe das Ge-
fühl: Er ist im Hochwasser untergegangen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Da lacht nicht mal einer von Ihnen!)

Wenn ich mir vergegenwärtige, was Sie, Herr
Steinmeier, gesagt haben, dann frage ich mich, ob Sie in
der gleichen Welt leben wie wir. Wenn ich letztes Jahr
3,6 Prozent Wachstum vorausgesagt hätte, hätten Sie
mich schlicht für verrückt erklärt.

Wir werden dieses Jahr ein Wachstum von 2,3 Pro-
zent haben. Als wir noch gemeinsam regierten, haben
wir gedacht, wir würden für das Jahr 2010 eine Neuver-
schuldung von circa 80 Milliarden Euro haben. Im
Steinbrück’schen Haushalt war eine Neuverschuldung
von 86 Milliarden Euro vorgesehen. Wir sind dank der
vernünftigen Haushaltspolitik unseres Bundesfinanz-
ministers Schäuble bei 44 Milliarden Euro gelandet.


(Thomas Oppermann [SPD]: Und unseres Konjunkturprogramms!)


Das müssen Sie doch einmal registrieren; das können Sie
doch nicht einfach wegdiskutieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Als Sie mit Herrn Schröder noch im Kanzleramt sa-
ßen, Herr Steinmeier, hatten wir 5 Millionen Arbeitslose.
Jetzt sind wir auf dem Weg, unter 3 Millionen zu kom-
men. Im Jahreswirtschaftsbericht gehen wir davon aus,
dass der Durchschnitt für dieses Jahr bei 2,9 Millionen
liegen wird. Auch das ist eine ausgesprochen positive
Zahl. Herr Gysi, diese Zahlen zeigen, dass wieder mehr
Menschen in Lohn und Brot stehen, dass sie Chancen am
Arbeitsmarkt haben und dass sie wieder mitmachen kön-
nen. Das kann man nicht so zerreden, wie Sie es getan
haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Was meinen Sie, wie froh diese Leute darüber sind,
dass sie wieder die Chance haben, Arbeit zu bekommen.
Es passiert in diesem Bereich eine ganze Menge. Oben-
drein handelt es sich um Arbeitsplätze, die in industriel-
len Sektoren entstanden sind, also in den Bereichen, in
denen Deutschland stark ist. Ich sage Ihnen noch eines:
Ich bin verdammt froh, dass wir in Deutschland eine so
gut funktionierende Industrie haben, die komplett durch-
organisiert ist. Mein Deutschlandbild ist das Bild von ei-
nem Industrieland und nichts anderes.

Ich bin auch froh, dass bei uns immer noch über
35 Prozent der Arbeitsplätze in der Industrie zu finden
sind. In England beträgt der Anteil gerade noch
7 Prozent. Was meinen Sie, wie uns die Engländer um
unsere industriellen Arbeitsplätze – bei denen es sich im
Wesentlichen um hochbezahlte Arbeitsplätze handelt –
beneiden! Ich möchte nicht, dass in Deutschland
27 Prozent des Bruttoinlandsproduktes an Orten wie dort
der City of London erwirtschaftet werden. Da ist mir un-
sere Struktur wesentlich lieber. Wir müssen alles daran-
setzen, dass diese Struktur erhalten bleibt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir haben etwas dafür getan. Wir sind nach wie vor
Vizeexportweltmeister. Wir haben aber auch ein riesiges
Importvolumen. Wir kaufen sowohl in den Industrielän-





Dr. Michael Fuchs


(A) (C)



(D)(B)

dern als auch in den Schwellenländern ein. Es ist also ein
Gutteil Entwicklungshilfe mit dabei. Das ist positiv.

Das Wirtschaftswachstum hat zum Teil auch den Bin-
nenmarkt beeinflusst. Der Handel hat mitgeteilt, dass er
das beste Weihnachtsgeschäft aller Zeiten verzeichnen
konnte. Das kann man nicht einfach wegdiskutieren. Das
heißt auch – Herr Gysi, das sollten Sie sich merken –,
dass Geld in den Taschen der Bürger vorhanden ist; denn
sonst hätten sie im Weihnachtsgeschäft nicht so intensiv
einkaufen können.

Wir haben dafür zu sorgen, dass das so bleibt. Das be-
deutet, dass wir uns weiter um die Preisstabilität küm-
mern müssen. Diese war im letzten Jahr erfreulich nied-
rig. Eine Inflation in Höhe von 1,1 Prozent ist eine Zahl,
die auch Sie, lieber Herr Steinmeier, zur Kenntnis neh-
men sollten. Diese positive Entwicklung sollte man nicht
wegdiskutieren.


(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Die Zahlen hat keiner dementiert!)


Diese positive Entwicklung hat damit zu tun, dass in
Deutschland Bürgerinnen und Bürger, Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer sowie Unternehmen einen guten
Job gemacht haben. Dafür können wir dankbar sein. Die
Politik hat die richtigen Weichen gestellt.

Dass wir am Anfang des letzten Jahres für eine Ent-
lastung von circa 24 Milliarden Euro gesorgt haben, hat
dazu geführt, dass die Kaufkraft gestärkt wurde. Das hat
dazu geführt, dass der Binnenmarkt und speziell der Ein-
zelhandel erstmalig wieder signifikant gewachsen sind,
was in den Jahren zuvor leider nicht der Fall war.

Ich gehe davon aus, dass wir diese Krise überwunden
haben, Frau Andreae. Sie sagen, das stimme nicht. Na-
türlich stimmt das. Wir sind Gott sei Dank jetzt in der
Lage, die Krisenmechanismen zurückzufahren. Zum
31. Dezember 2010 haben wir den „Wirtschaftsfonds
Deutschland“ geschlossen. Sie wissen genau, dass wir
115 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt hatten. Diese
Summe wurde allerdings bei weitem nicht in Anspruch
genommen. In der Spitze waren es nur 14,2 Milliarden
Euro. Das zeigt, dass die deutsche Wirtschaft auf der
Kreditseite gut durch die Krise gekommen ist. Sie ist
jetzt so erfolgreich, dass wir diesen Mechanismus zu-
rückführen können. Darauf können wir stolz sein.

Das Wachstumsbeschleunigungsgesetz hat genauso
wie das noch gemeinsam – ich bin da ehrlich – beschlos-
sene Bürgerentlastungsgesetz zu dieser positiven Ent-
wicklung beigetragen. Das waren richtige Entscheidun-
gen.

Dass es in Deutschland jetzt gut läuft, ist Schwarz-
Gelb und unserer Koalition zu verdanken. Wie es denn
laufen kann, wenn eine rot-grüne Koalition regiert, se-
hen wir in NRW. Da hat Ihnen das Landesverfassungsge-
richt bestätigt, dass der Haushalt nicht verfassungskon-
form ist


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: WestLB!)


und hat Ihnen per einstweiliger Verfügung untersagt,
diesen Haushalt zu exekutieren. Blamabler geht es nicht.

(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Vorwurf geht so was von nach hinten los!)


Noch schlimmer ist es in meinem Heimatland. Ich zitiere
aus dem Bericht des sozialdemokratischen Präsidenten
des Rechnungshofs Rheinland-Pfalz,


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Reden Sie doch Rheinland-Pfalz nicht schlecht!)


der Folgendes gesagt hat – diese Entwicklung in Rhein-
land-Pfalz macht mir Sorge –: Dem Land droht der
Verlust der finanzpolitischen Handlungsfähigkeit. Und
weiter: Demnach überschreiten die jährlichen Kreditauf-
nahmen die verfassungsrechtliche Kreditobergrenze zum
Teil erheblich.

Da, wo Sozialdemokraten regieren, funktioniert es
nicht. Da funktioniert weder der Haushalt noch die Wirt-
schaftsförderung oder die Investitionen – die Investi-
tionsquote ist von allen Flächenländern in Rheinland-
Pfalz die niedrigste überhaupt. Das ist sozialdemokrati-
sche Politik, und die läuft fehl.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Was Christdemokraten hinterlassen, haben wir 1998 gemerkt!)


Bei Ihnen funktioniert es auch deswegen nicht, weil
Sie sich permanent in einer Dagegen-Mentalität bewe-
gen, weil Sie mehr oder weniger gegen alles sind. Wenn
ich mir überlege, dass wir auf der einen Seite von den
Grünen hören, wir brauchten mehr erneuerbare Energie,
aber dann in den Ländern gegen Leitungsnetze demon-
striert wird, die wir dringend brauchen, um die erneuer-
baren Energien dahin zu bringen, wo sie gebraucht wer-
den, dann ist das einfach traurig.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: An der Spitze der Oberbürgermeister vor Ort!)


– Frau Andreae, das sollten Sie zur Kenntnis nehmen.
Vielleicht sollten Sie – bei Ihnen habe ich den Eindruck,
dass Sie diesen wirtschaftspolitischen Sachverstand zu-
mindest partiell noch haben – einmal mit Ihren Kollegin-
nen und Kollegen in den Ländern reden, dass sie endlich
diese Einstellung aufgeben,


(Ingrid Nestle [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden Sie mal mit Ihren Kollegen!)


dass sie dafür sorgen, dass dort die Netze ausgebaut wer-
den können, und sich nicht überall dagegen wenden.

Das Dagegen ist ja nun zum – ich sage einmal – Si-
gnum Ihrer Politik geworden. Sie werden damit am Ende
des Tages nicht durchkommen, weil die Bevölkerung ir-
gendwann merkt, dass Wachstum nicht mit einer Dage-
gen-Haltung funktionieren kann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es kann auch nicht so funktionieren – wie Sie offen-
bar der Meinung sind –, dass wir überall ein wenig mehr
an Steuern kassieren. Frau Andreae, Sie wollen mit Ihrer
Vermögensabgabe, von der Sie eben selbst gesprochen





Dr. Michael Fuchs


(A) (C)



(D)(B)

haben, 20 Prozent innerhalb von zehn Jahren von den
Vermögenden einkassieren – netto 20 Prozent wegneh-
men. Das ist konfiskatorische Politik, das wird mit uns
nicht funktionieren.

Bei Ihnen ist das so ähnlich: wieder die Vermögen-
steuer! Sie haben alle den Halbteilungsgrundsatz, den
uns das Verfassungsgericht einmal aufgeschrieben hat,
vergessen. Das kann ich ja verstehen. Zur Vergesslich-
keit neigen die einen oder anderen, weil das in der Poli-
tik einfacher ist. Aber merken Sie sich das: Mehr als
50 Prozent geht nicht, und wir sind verdammt nahe dran.
Es ist auch heute schon so, dass die berühmten breiten
Schultern jede Menge zu tragen haben. Die obersten
10 Prozent der Einkommensteuerzahler zahlen rund
53 Prozent der gesamten Einkommensteuer, Herr Gysi.
Die obersten 25 Prozent zahlen über 75 Prozent, und die
untersten 30 Prozent der Einkommensteuerzahler zah-
len lediglich 0,3 Prozent der Einkommensteuer. Mit an-
deren Worten haben wir da schon eine gewaltige Umver-
teilung, die man doch nicht wegdiskutieren kann. Das
muss in diesem Haus auch immer wieder gesagt werden.
Sie machen sich das zu einfach.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Mit so viel Populismus werden Sie auch nicht durch-
kommen.

Wir werden alles daransetzen, dass wir in Deutsch-
land eine vernünftige Politik machen, die unsere Wirt-
schaft und unsere Industrie erhält. Wir werden dafür sor-
gen, dass Energie zu bezahlbaren Preisen zur Verfügung
steht. Ich finde es richtig, wenn der Bundesumweltmi-
nister die Exzesse bei der Photovoltaik zurückfährt. Es
kann nicht sein, dass in einem Bereich rund 48 Prozent
der Subventionen aus dem EEG ankommen, aber nur
8 Prozent des Stroms erzeugt wird. Das ist Photovoltaik.
Das sind Fehlentwicklungen, die wir jetzt schnell korri-
gieren, weil das nicht sein darf.

Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Punkt an-
führen, der mir sehr wichtig ist: Es ist so, dass wir als
Bundesrepublik Deutschland, als Industrieland Deutsch-
land sehr vom Export abhängen. Leider sind die Tenden-
zen, die zurzeit im internationalen Sektor zu spüren sind,
negativ. Sie sind deswegen negativ, weil überall Free
Trade Agreements, bilaterale Handelsabkommen, ge-
schlossen werden. Das ist eine Tendenz, die für uns sehr
ungünstig ist, schon gerade deswegen, weil wir viele
kleinteilige Exporte haben, weil mittelständische Unter-
nehmen im Export sind, und die können sich nicht in je-
dem Land nach den unterschiedlichen Richtlinien aus-
richten. Das ist zu kompliziert und kostet sehr viel Geld.

Wir sollten alles daransetzen, Herr Wirtschaftsminis-
ter, dass wir die Doha-Runde wieder in Gang bringen,
dass dort weiterverhandelt und mit den Amerikanern ge-
sprochen wird, die für mich zurzeit die größten Bremser
auf diesem Sektor sind. Wir sollten alles daransetzen,
dass wir Multilateralismus wieder Einzug halten lassen.
Ich bitte Sie, dass Sie sich auch mit der WTO, mit Pascal
Lamy, intensiv zusammensetzen, um so schnell wie
möglich wieder auf den Pfad der Tugend zurückzukom-
men. Ich halte dies für dringend notwendig; denn ande-
renfalls werden wir im Export Schwierigkeiten bekom-
men. Das, was da so läuft, wenn Amerikaner heute
sagen, sie hielten es auch mit bilateralen Abkommen
sehr gut aus, weil ihre Volumina so groß seien, dass sie
auf großflächige internationale Abkommen nicht ange-
wiesen seien, darf nicht so weitergehen. Wir müssen in
diesem Jahr dafür sorgen, dass der Multilateralismus so
schnell wie möglich wieder Einzug hält. Helfen Sie alle
dabei mit!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1708402700

Das Wort erhält nun der Kollege Hubertus Heil für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1708402800

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und

Kollegen! Weil Sie, Herr Fuchs, davon gesprochen ha-
ben, dass man die schöne Frage, wem der Aufschwung
gehöre, ein bisschen nüchtern betrachten solle,


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Tun wir doch immer!)


sollten wir ein paar Dinge miteinander festhalten: Wir
alle sind, glaube ich, der Meinung, dass es nach dieser
furchtbaren Wirtschaftskrise tüchtige Unternehmer wa-
ren, die mitgeholfen haben, dass Deutschland gut durch
die Krise gekommen ist, und dass es fleißige Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer waren, die im letzten Jahr
übrigens auf viel verzichtet haben.


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Das habe ich, glaube ich, gesagt!)


Dass es aber auch etwas mit Strukturreformen der rot-grü-
nen Bundesregierung zu tun hat – das hat ein Teil Ihrer
Regierung anständigerweise einmal anerkannt gehabt –
und dass es etwas mit dem Krisenmanagement in Zeiten
der Großen Koalition zu tun gehabt hat, mit Kurzarbeits-
regelungen und Konjunkturprogrammen zum richtigen
Zeitpunkt, das wissen Sie, Herr Fuchs, und das weiß ich.
Der Einzige, der das nicht sagt, ist Rainer Brüderle.

Herr Brüderle, Sie benehmen sich hier wie ein Presse-
sprecher des Statistischen Bundesamtes. Sie verkünden
Zahlen, für die Sie überhaupt nichts können. Sie sind
aber nicht Pressesprecher des Statistischen Bundesam-
tes, sondern Wirtschaftsminister der Bundesrepublik
Deutschland. Deshalb hat Frank-Walter Steinmeier voll-
kommen recht: Ihre Aufgabe ist es nicht, hier Zahlen ab-
zufeiern, für die Sie nichts können, sondern Ihre Auf-
gabe ist es, Deutschland zu sagen, wie wir aus diesem
Aufschwung einen dauerhaften Fortschritt machen kön-
nen, der bei den Menschen auch ankommt. Das ist Ihre
Aufgabe.


(Beifall bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Jörg van Essen [FDP]: Das hat er doch getan! Da haben Sie wieder einmal nicht zugehört!)






Hubertus Heil (Peine)



(A) (C)



(D)(B)

Herr Brüderle, wo ist denn die Fachkräftestrategie,
die notwendig ist, damit wir keinen gespaltenen Arbeits-
markt in Deutschland bekommen? Unternehmen bekla-
gen sich in manchen Branchen und Regionen – Frau
Andreae hat darauf hingewiesen – jetzt schon über Fach-
kräftemangel, während auf der anderen Seite immer
noch 3 Millionen Menschen in Langzeitarbeitslosigkeit
abgehängt sind. Wo sind denn Anstrengungen der Bun-
desregierung für eine Bildungsoffensive, die dazu führt,
dass wir kein Kind zurücklassen, dass nicht 65 000 Ju-
gendliche Jahr für Jahr unsere Schulen ohne Abschluss
verlassen und dass nicht weiterhin 1,5 Millionen Men-
schen zwischen 20 und 30 Jahren ohne berufliche Erst-
ausbildung dastehen. Wo sind denn da Ihre Antworten?

Herr Brüderle, Sie haben in Ihrer Amtszeit genau
zwei Dinge in der Koalition durchgesetzt: erstens die be-
rühmte Hotel-Mehrwertsteuer und zweitens eine Ener-
giepolitik zugunsten von Oligopolen und Monopolen
großer Konzerne und zulasten des Wettbewerbs.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Zulasten der Stadtwerke!)


Das ist die Bilanz des Wirtschaftsministers Rainer
Brüderle. Sie sind nicht zukunftsfähig.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Brüderle, Sie haben sich vorhin, weil es irgend-
wie zur Folklore Ihrer Partei gehört, über den Mindest-
lohn geäußert. Ich sage Ihnen einmal, warum ich der fes-
ten Überzeugung bin, dass Sie sich auch mit Frau
von der Leyen einmal länger über die Entwicklung in ih-
rem Haushalt unterhalten sollten. Wir geben als Steuer-
geld, Herr Fuchs, Jahr für Jahr 11 Milliarden aus dem
Bundeshaushalt allein für aufstockende Arbeitslosen-
geld-II-Leistungen aus. Das heißt, wir nehmen den Steu-
erzahlern 11 Milliarden Euro weg, um Armutslöhne in
diesem Land aufzustocken.


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Nein!)


– 11 Milliarden Euro im Bundeshaushalt! Wenn das so
weitergeht, dann kommen wir zu staatlicher Lohnbewirt-
schaftung. Das hat mit sozialer Marktwirtschaft nichts
zu tun. Das ist der Grund, warum wir sagen, Herr
Brüderle: Wir wollen im Sinne der arbeitenden Men-
schen und einer sozialen Marktwirtschaft und im Inte-
resse von fairem Wettbewerb wie in anderen Ländern
dafür sorgen, dass Menschen von ihrer Arbeit wieder le-
ben können. Auch wegen der Ordnung der Wirtschaft in
unserem Lande brauchen wir Mindestlöhne.


(Beifall bei der SPD)


Herr Brüderle, in Ihrer Rede hat das Thema der Arbeit-
nehmerfreizügigkeit ab dem 1. Mai 2011 vollständig ge-
fehlt. Inzwischen sagt sogar die BDA, die Bundesvereini-
gung der Deutschen Arbeitgeberverbände, gegen Ihren
Widerstand, dass wir einen Mindestlohn in der Zeitarbeit
brauchen, weil wir sonst in die Situation geraten – Sie
wissen es –, dass Unternehmen aus Osteuropa, die hier
als Zeitarbeitsunternehmen tätig sind, den Wettbewerb in
der Zeit- und Leiharbeitsbranche kaputtmachen und
gleichzeitig Lohndumping befördern. Sie waren lange
dagegen. Ich sage Ihnen: Das reicht nicht aus. Wir brau-
chen den Mindestlohn für den Bereich der Zeit- und
Leiharbeit; das ist inzwischen fast Konsens, abgesehen
von Teilen der FDP. Wir werden den Mindestlohn für die
verleihfreie Zeit durchsetzen. Um dem Missbrauch der
Zeit- und Leiharbeit entgegenzutreten, ist es aber wichti-
ger, den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“
für Stamm- und Leihbelegschaft durchzusetzen; Sie wer-
den es begreifen müssen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich wünsche mir einen Wirtschaftsminister, der mit
ökonomischem Sachverstand einfach sagt: Wir wollen
Zeit- und Leiharbeit nicht verbieten; sie ist ökonomisch
vernünftig, wenn sie, Herr Fuchs, auf den Bereich der
Auftragsspitzen von Unternehmen – auf nichts anderes –
konzentriert wird. Wir dürfen aber nicht länger zu-
schauen, wenn die Zeit- und Leiharbeit zum Einfallstor
für Lohndumping zulasten der Stammbelegschaft wird.
Herr Oswald, ich habe mich lange mit Ihrem Minister-
präsidenten Seehofer über dieses Thema unterhalten; ich
habe den Eindruck, er hat angefangen, das zu begreifen.
Wir führen an dieser Stelle gerade Verhandlungen.
Meine herzliche Bitte ist: Unterstützen Sie Horst
Seehofer und überlassen Sie dieses Thema bitte nicht
Rainer Brüderle; denn das wäre nicht gut für Deutsch-
land.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Herr Brüderle, ich bin der festen Überzeugung, dass
Sie ein Mensch sind, mit dem man reden kann. Manch-
mal erinnern Sie mich ein bisschen an den Satz von
Johannes Rau, der einmal gesagt hat:

Mein Hund ist als Hund eine Katastrophe, aber als
Mensch unersetzlich!

Herr Brüderle, ich will sagen: Ich finde Sie menschlich
vollkommen in Ordnung; man kann gut mit Ihnen reden.
Aber als Bundeswirtschaftsminister sind Sie in dieser
Zeit leider eine Fehlbesetzung.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1708402900

Dr. Martin Lindner ist der nächste Redner für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Martin Lindner (FDP):
Rede ID: ID1708403000

Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Kollege

Heil, niemand von uns bestreitet, dass Rot-Grün und
Schwarz-Rot vor uns ihren Teil zum Aufschwung beige-
tragen haben.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie waren gegen alles!)






Dr. Martin Lindner (Berlin)



(A) (C)



(D)(B)

Ich sage es Ihnen hier ganz klar und ausdrücklich: Die
Hartz-Gesetzgebung der damaligen rot-grünen Regie-
rung hat einen wesentlichen Anteil daran, dass wir bei
der Erwerbstätigkeit heute so dastehen, wie wir daste-
hen; das macht Ihnen überhaupt niemand streitig. Das
Problem ist, dass sich Ihre Partei selbst von alldem ver-
abschiedet, was sie damals richtigerweise gemacht hat:


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie verabschieden sich selbst von der Hartz-Gesetzge-
bung und von der Rente mit 67. Sie machen nur noch
populistischen Dödelkram, seit Sie hier in der Opposi-
tion sitzen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Wo denn?)


Das ist der große Unterschied zwischen uns und Ih-
nen: Wir haben die Hartz-Gesetze auch in der Opposi-
tion mitgetragen, weil wir sie für vernünftig halten; wir
handeln eben nicht heute in der Opposition so und mor-
gen in der Regierung anders, auch wenn es möglicher-
weise manchmal angesichts der Umfragen wehtut. Kol-
lege Heil und Kollege Steinmeier, es ist eher ein
Treppenwitz, dass ausgerechnet Sie sich im Moment in
Umfrageergebnissen baden; das muss man einmal ganz
klar sagen.

Frau Andreae, genießen Sie die Umfragen; ich gönne
sie Ihnen von ganzem Herzen. Das gab es schon auf dem
Schulhof: die Trainingsweltmeister, die erzählt haben,
wie viele Asse sie gestern auf dem Tennisplatz hinter-
einander geschlagen haben, dass sie die 100 Meter unter
11 Sekunden gelaufen sind. Das Problem war nur: Wenn
die Turniere, die Wettbewerbe anstanden, war nichts
mehr los. Schauen Sie also einmal, dass Sie Ihre PS auf
die Straße bringen und Sie bei den Landtagswahlen, die
vor uns stehen, tatsächlich so tolle Ergebnisse haben. Ich
darf Sie zum Schluss daran erinnern: Zwischen 1998 und
2002 hatten wir immer wieder super Umfrageergebnisse;
die CDU/CSU hatte teilweise absolute Mehrheiten.
Dummerweise sah es dann bei der Wahl 2002 ganz an-
ders aus. Frau Andreae, warten wir also ab, wie sich das
entwickelt.

Kommen wir zurück zum Thema Mindestlohn. Wenn
Sie sich einmal mit Unternehmern unterhalten – ich habe
es Ihnen schon gestern gesagt –, dann werden Sie sehr
schnell feststellen, dass Ihnen Unternehmen beispiels-
weise aus der Sicherheitsbranche, die sehr für den Min-
destlohn sind, auf Nachfrage klarmachen, was passiert,
wenn ein einheitlicher gesetzlicher Mindestlohn einge-
führt wird: Genau die Leute, die jetzt für ein Gehalt un-
ter dem Mindestlohn arbeiten, den Sie anstreben, würden
wieder freigestellt; man würde dann, so wurde mir ge-
sagt, Schichten zusammenlegen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein, das stimmt aber nicht!)


Genau diese 1,5 Millionen, die Sie gerade beklagt ha-
ben, die vom Staat teilalimentiert werden, die dürfen Sie
dann voll alimentieren. Das kann doch keine sinnvolle
Politik sein, Kollege Heil, Kollege Steinmeier. Es kann
doch wirklich nicht Ihr Ernst sein, dass das die Alterna-
tive ist.


(Thomas Oppermann [SPD]: In Irland ist das nicht passiert! Bei den Liberalen!)


Schauen Sie sich die internationalen Vergleiche an!


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja!)


Die Länder, die den Mindestlohn haben, wie Frankreich
und andere, die sind doch in der Entwicklung der Er-
werbstätigkeit alle deutlich hinter Deutschland.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Luxemburg 11 Euro!)


– Entschuldigung. Sie können doch eines der größten In-
dustrieländer der Welt nicht mit Luxemburg vergleichen!
Das ist doch wirklich völlig abwegig.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich meine, was wollen wir hier denn machen? Offshore-
gesellschaften gründen oder Ähnliches? Das ist doch
läppisch.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Besonders perfide, Kollege Gysi, ist, dass Sie sich
hinstellen und hier sagen, wenn wir den Mindestlohn
nicht einführen würden, würde das im Zuge vollständi-
ger EU-Freizügigkeit zu einer Zunahme von Fremden-
feindlichkeit führen. Es ist doch Ihre Partei, die das
schürt


(Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Was?)


durch dieses Hetzen gegen den Vertrag von Lissabon,
mit den Fremdarbeitersprüchen Ihres ehemaligen Vorsit-
zenden Lafontaine. Sie, die Linke, und die NPD sind
führend in dem Schüren dieser Fremdenfeindlichkeit.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Dr. Heinz Riesenhuber [CDU/CSU])


Das ist doch ganz klar. Und dann stellen Sie sich hier hin
und beklagen das. Das ist genau das, was gestern auch
Frau Wagenknecht im Ausschuss an Ressentiments ge-
schürt hat.

Wir haben eine gesunde Entwicklung auch bei der
privaten Konsumzunahme, aber, Frau Kollegin Andreae,
Sie haben recht.

Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das finde ich
auch!)

Ich meine das, was Sie zu den Krisen sagen. Ich meine,
ein richtig gestandener Grüner braucht Krisen, sonst
fühlt er sich nicht richtig wohl. Das ist auch die Geburts-
stunde Ihrer Partei. Krise hier, Krise da.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie haben recht, wenn Sie sagen, dass wir wachsam
sein müssen, dass gerade die Bewahrung der Euro-Stabi-
lität eine der zentralen Herausforderungen ist.





Dr. Martin Lindner (Berlin)



(A) (C)



(D)(B)


(Zuruf von der SPD: Ich will den anderen Lindner hören!)


Wenn uns das nicht gelingt, dann werden wir natürlich
auch für die deutsche wirtschaftliche Entwicklung gra-
vierende negative Folgen haben. Deswegen setzt sich
diese Bundesregierung so massiv dafür ein, zu verhin-
dern, dass wir eine Transferunion bekommen. Es kann
doch niemand hier, der deutscher Volksvertreter ist, das
ernsthaft wollen, was da von Ihnen teilweise gestreut
wird.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Interessante ist, dass wir schon eine haben!)


Sie können doch nicht zulassen, dass in Griechenland
mit Mitte 50 in Rente gegangen wird und der deutsche
Arbeitnehmer, der bis 67 arbeiten soll, das aus seinem
Steuergeld finanzieren soll. Das kann doch keine ver-
nünftige Politik sein.


(Beifall bei der FDP)


Wahr ist aber, dass wir hier schon gemeinsame Wege,
auch gemeinsame Wege wirtschaftlicher Entwicklung,
finden müssen. Diese Balance, auf der einen Seite zu
Umschuldungsverfahren zu kommen, zu sogenannten
Haircuts, zu staatlichen Insolvenzverfahren, und auf der
anderen Seite zu sehen, dass wir durch eine zusätzlich
integrierte gemeinsame Wirtschaftspolitik Europa stär-
ken und auf jeden Fall verhindern, dass wir hier in eine
Renationalisierung in Europa kommen, das, glaube ich,
muss auch gemeinsames Ziel und gemeinsame Politik
dieses Hauses sein.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben neben der Haushaltsstabilität, die auch
diese Bundesregierung in exzellenter Weise hinbekom-
men hat, dieses Jahr ein Defizit unter 2,5 Prozent. Das
hätte uns am Anfang des vergangenen Jahres niemand
zugetraut. Natürlich ist es für uns eine große Herausfor-
derung, dies in einen Kontext mit unserem gemeinsamen
Ziel einer Entlastung unserer Bürger bei Steuern und
Abgaben zu bringen. Das bleibt unser Ziel, und da rin-
gen wir natürlich miteinander, um dieses Ziel zu errei-
chen, es den Menschen ein Stück einfacher zu machen,
ihre Steuererklärung abzugeben, dass sie sich nicht dau-
erhaft damit beschäftigen müssen, wie sie dem Staat
Steuern entziehen können – legal oder vielleicht sogar il-
legal –, sondern dass sie einen Weg bekommen, sich we-
niger damit zu beschäftigen, und dass der Staat auf der
anderen Seite solidere Einnahmen hat. Das ist doch auch
eine vernünftige Politik.

Natürlich ringen wir auch um Entlastungen für die
Bürger. Da können Sie sich ja gern über kleine Erfolge
lustig machen, aber wenn Sie diesen kleinen Erfolgen
einmal gegenüberstellen, was Sie im Unmaß von Steuer-
gier in den letzten Wochen und Monaten – Sie und die
SPD – beschlossen haben, dann weiß da draußen doch
auch jeder, woran er ist, wenn Sie tatsächlich irgend-
wann einmal an die Macht kommen sollten:

(Joachim Poß [SPD]: Jeder nicht, nur Millionäre!)


Wegfall des Ehegattensplittings und dann auch immer
Ihre schöne Forderung nach Erhöhung der Spitzensteuer.

Schauen Sie sich einmal an, wie sich die Spitzen-
steuer entwickelt hat! Sie haben sie gesenkt. Sie haben
sie doch gesenkt.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Kubicki ist auch dafür!)


– Ja, aber Sie müssen sich einmal anschauen, wer heute
alles Spitzensteuer bezahlt, Herr Kollege Heil.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Der Satz kann ja später einsetzen!)


Das sind doch nicht mehr allein nur Millionäre und Vor-
stände von DAX-Unternehmen. Zu dieser Gruppe zählt
doch mittlerweile jeder Facharbeiter. Das ist es doch. Sie
wollen den Leuten in die Tasche greifen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Kohl hatte damals recht: Masse bringt Masse. – Das
wissen Sie ganz genau.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Kohl hatte 53 Prozent!)


Sie können nicht von den Steuern der paar Einkommens-
millionäre leben. Der Ertrag aus der Reichensteuer liegt
bei gerade einmal 400 Millionen Euro. Wenn Sie Masse
kassieren wollen, dann machen Sie das auch deutlich.
Frau Schwesig hat neulich zusammen mit Herrn
Scharping, der ja brutto und netto verwechselt, gesagt,
bei 100 000 Euro solle es losgehen. Wir werden Ihnen
Ihre Gier um die Ohren hauen, die Sie an den Tag legen,
wenn Sie an die Steuersäckel der Bürgerinnen und Bür-
ger wollen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: 3 Prozent, Herr Lindner! – Gegenruf des Abg. Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: 1,5 Milliarden!)


Meine Damen und Herren, wir haben auch im Bereich
Forschung und Entwicklung deutlich zugelegt und ver-
zeichnen hier große Erfolge.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sagen Sie doch einmal etwas zu Kubicki!)


Trotz Haushaltskonsolidierung haben wir die Fördermit-
tel auf 13 Milliarden Euro pro Jahr erhöht. Wir wollen
und werden diesen Weg weitergehen, wobei das Thema
Fachkräftemangel


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Bei der FDP!)


in einer gesonderten Debatte zu behandeln ist.

Wir wollen auch in die Infrastruktur investieren. Sie
müssen aber vor Ort mitmachen. Die SPD kann sich
nicht immer, wie bei Stuttgart 21, wegdrücken, wenn ihr
die Kugeln um die Ohren fliegen, und die Arbeit den an-
deren überlassen. Sie müssen dann auch mitmachen und
zu dem, was Sie in der Vergangenheit gemacht haben,
als Sie in der Regierungsverantwortung waren, auch





Dr. Martin Lindner (Berlin)



(A) (C)



(D)(B)

dann noch stehen, wenn es einmal unangenehm wird.
Sonst können Sie keine Infrastrukturpolitik machen. Da
wird es immer wieder einmal unangenehm. Es werden
immer 20 000, 30 000 oder auch mal 50 000 Menschen
auf der Straße demonstrieren. Man kann sich nicht jedes
Mal in die Büsche schlagen und sagen: Um Gottes wil-
len, jetzt wird es aber gefährlich, das ist ja eine Massen-
demonstration. Man muss vielmehr auch dann zu seinen
Entscheidungen stehen.

Lieber Herr Kollege Steinmeier, Sie haben hier die
„Bröckel-Republik Deutschland“ reklamiert. Fahren Sie
einmal durch Berlin, wo Rot-Rot regiert. Dort können
Sie die Schlaglöcher ohne Großcomputer an Bord gar
nicht mehr zählen. Daran sehen Sie, welche Infrastruk-
turpolitik Sie vor Ort machen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708403100

Herr Kollege Lindner, Sie möchten bitte zum Ende

kommen. Sie haben Ihre Redezeit weit überschritten.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wir sind hier nicht mehr im Abgeordnetenhaus!)



Dr. Martin Lindner (FDP):
Rede ID: ID1708403200

Wo Sie regieren, geht es den Leuten schlechter. Wo

wir, wo Schwarz-Gelb regiert, in den Ländern und im
Bund, geht es den Leuten besser.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Deshalb werden Sie abgewählt!)


Das wird an nichts deutlicher als an diesem Jahreswirt-
schaftsbericht.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708403300

Das Wort hat nun Kollegin Sahra Wagenknecht für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: „Wege zum Kommunismus“ hören wir jetzt!)



Dr. Sahra Wagenknecht (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708403400

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich

denke, nach so viel Selbstbeweihräucherung sollte man
mal wieder auf die Realität zu sprechen kommen.


(Beifall bei der LINKEN – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Wege zum Kommunismus!)


Auch wenn Sie sich noch so sehr in die Tasche lügen:
Dieser Wirtschaftsaufschwung, für den sich diese Regie-
rung hier seit inzwischen zwei Stunden selbst feiert, fin-
det für die große Mehrheit der Menschen in diesem Land
schlicht nicht statt. Er findet genauso wenig statt wie der
letzte Wirtschaftsaufschwung 2005 bis 2007. Damals
hatte noch eine andere Regierung die Verantwortung ge-
tragen; aber über Kontinuität ist hier ja schon mehrfach
gesprochen worden.
Was wir jetzt haben, ist ein Aufschwung für die
Ackermänner, die wieder nach Herzenslust zocken kön-
nen.


(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh! – Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Für die Millionäre, die in Irland leben und in Deutschland Steuern hinterziehen wollen!)


Das ist ein Aufschwung für die Konzerne, die sich schon
wieder dumm und dämlich verdienen und trotzdem nicht
investieren, und es ist natürlich ein Aufschwung für die
Multimillionäre, deren Vermögen in den letzten zwei
Jahren explodiert ist, vor allen Dingen auch im
Krisenjahr 2009.

Dass wir immer wieder Aufschwünge dieser Art be-
kommen, hat natürlich auch damit zu tun, dass dieses
Land seit Jahren mit Regierungen gestraft ist, die von
den Ackermännern, von den Konzernen, von den Multi-
millionären gekauft sind. Das ist das zentrale Problem.
Das fing bei Rot-Grün an und hat sich bis heute nicht
verändert.


(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch bei der FDP – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Reden Sie über sich selber?)


Es gab in grauen bundesdeutschen Vorzeiten mal ei-
nen Kanzler, der tatsächlich Wohlstand für alle schaffen
wollte. Wie fremd Ihnen auch nur dieser Anspruch ge-
worden ist, merkt man daran, mit welcher Selbstgefällig-
keit Sie hier eine Situation in den Himmel loben, in der
der Wohlstand der großen Mehrheit der Menschen nicht
steigt, sondern sinkt. Und das feiern Sie hier auch noch!


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Hummer für alle, ja?)


Wenn in den letzten zwei Jahren in Deutschland
366 000 Industriearbeitsplätze abgebaut werden – davon
allein im Jahr 2010 136 000 –, ist das für diese Regie-
rung ein Jobwunder. Wenn die Maschinenbaubranche in
Deutschland derzeit 17 Prozent weniger produziert als
vor der Krise und die realen Nettolöhne pro Arbeitneh-
mer sich unterhalb des Niveaus des Jahres 2000 bewe-
gen, dann feiern Sie das als den größten Wirtschaftsauf-
schwung der bundesdeutschen Geschichte. Das ist doch
absurdes Theater, was Sie hier vorspielen – schlechtes
absurdes Theater.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Gefahr ist natürlich groß, dass es noch erheblich
schlimmer kommt; das ist schon angesprochen worden.
Ab Mai dieses Jahres gibt es in Europa die Arbeitnehmer-
freizügigkeit. In eine solche Situation mit einem deregu-
lierten Arbeitsmarkt wie dem deutschen zu gehen – ohne
Mindestlohn und mit einem boomenden Leiharbeitssektor,
der mit seinen perspektivlosen Hungerlohnjobs schon jetzt
immer mehr reguläre Arbeitsverhältnisse verdrängt –, ist
doch ein Himmelfahrtskommando!


(Beifall bei der LINKEN)


Oder es ist eine bewusst kalkulierte neue Runde bru-
talen Lohndumpings. Wenn es Ihnen darum geht, erzäh-
len Sie uns aber bitte nicht mehr, wie es im Jahreswirt-





Sahra Wagenknecht


(A) (C)



(D)(B)

schaftsbericht steht, dass Sie erwarten, dass der Konsum
in diesem Jahr wahnsinnig zulegen wird.


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Es wird so sein!)


Da fragt man sich schon: Wo soll denn dieser plötzliche
Konsumrausch eigentlich herkommen? Von den Be-
schäftigten, die Anfang des Jahres schon wieder weniger
Netto vom Brutto haben? Von den Rentnerinnen und
Rentnern, deren Kaufkraft seit Jahren sinkt, weil ihre
Renten, wenn sie überhaupt steigen, in geringerem Um-
fang als die Inflation steigen? Von den lächerlichen
5 Euro pro Monat mehr für Hartz-IV-Empfänger, die Sie
ihnen längst schon wieder zehnfach aus der Tasche gezo-
gen haben? Das ist doch das, was läuft! Oder von den
Kleinunternehmern, die froh sein können, wenn sie vom
Kreditgeiz der Banken noch nicht in die Pleite getrieben
wurden? – Da soll Ihr Konsumrausch herkommen? Das
ist doch absurd!

Die Konjunktur des letzten Jahres wurde nahezu aus-
schließlich vom Export und von den Staatsausgaben ge-
tragen.


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Lesen bildet! Die Zahlen sind andere!)


Beides wird sich nicht fortsetzen. Die Bestellungen aus
dem Euro-Raum sind bereits eingebrochen; schon Ende
letzten Jahres sind sie eingebrochen, und das ist auch
kein Wunder. Und von einer Ausweitung öffentlicher
Ausgaben kann angesichts überschuldeter Kommunen
und angesichts von Spardiktaten in Bund und Ländern
sowieso keine Rede sein. Wenn Export und Binnennach-
frage in so einer Situation die, wie Sie im Jahreswirt-
schaftsbericht schreiben, stabilen Säulen bzw. stabilen
Standbeine dieses Aufschwungs sein sollen, dann heißt
das nichts anderes, als dass der Aufschwung auf ver-
dammt tönernen Füßen steht.

Wenn Sie wirklich wollen, dass sich der Binnenmarkt
erholt, dann müssen Sie einen Mindestlohn von 10 Euro
pro Stunde einführen.


(Beifall bei der LINKEN)


Erzählen Sie nicht immer wieder diesen elenden
Quatsch, dass dadurch Arbeitsplätze vernichtet würden.
Durch Einführung eines Mindestlohns wurden weder in
Frankreich noch in Großbritannien noch sonst wo Ar-
beitsplätze vernichtet, sondern Arbeitsplätze geschaf-
fen. Verbieten Sie das Lohndumping via Leiharbeit, und
erhöhen Sie den Hartz-IV-Satz auf 500 Euro.


(Holger Krestel [FDP]: Nein! Lieber gleich auf 600 Euro! – Dr. Daniel Volk [FDP]: Ach was! 700 Euro! Alles kein Problem!)


Das ist das Mindeste, was ein Mensch zum Leben
braucht. Sie alle könnten davon wahrscheinlich gar nicht
leben.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Wie viel Hummer würde sich die Frau Wagenknecht wohl davon kaufen? – Holger Krestel [FDP]: Kaschmirpartei!)

Sorgen Sie vor allem dafür, in Deutschland und in Eu-
ropa, dass die explodierenden Staatsschulden denen in
Rechnung gestellt werden, die sie verursacht haben, und
nicht der Bevölkerung. Dafür sollten Sie sich einsetzen,
statt immer mehr Länder in die Depression zu treiben
und zugleich immer größere Risiken beim deutschen
Steuerzahler abzuladen. Das ist verantwortungslos.


(Beifall bei der LINKEN)


Abschließend möchte ich Ihnen sagen: So wie ich Sie,
Herr Brüderle, bei Ihrer Regierungserklärung und die
Vertreter der Regierungsparteien hier erlebt habe, hatte
ich das eine oder andere Déjà-vu-Erlebnis. Die Art und
Weise, wie Sie die wirtschaftliche Realität wegreden,
wie Sie Instabilität und Krisenanfälligkeit wegreden und
den Leuten heile Welt vorspielen, und die Selbstgefällig-
keit, die Sie zur Schau tragen,


(Norbert Schindler [CDU/CSU]: Das alles müsste Ihnen doch eigentlich gefallen! Ganz wie in der DDR!)


erinnert mich – das muss ich sagen – wirklich sehr an die
letzten Ausgaben der DDR-Nachrichtensendung Aktu-
elle Kamera. Das ist das Niveau, auf dem Sie inzwischen
angekommen sind.


(Beifall bei der LINKEN – Holger Krestel [FDP]: Dass Sie sich daran noch gut erinnern können, liegt wahrscheinlich daran, dass diese Sendung die einzige ist, die Sie damals geguckt haben! Sie haben das doch alles geglaubt! – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: So eine Frechheit!)


Man kann sich nur wünschen, dass die Menschen Ihnen
dafür bei den anstehenden Wahlen eine angemessene
Quittung verpassen werden.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708403500

Das Wort hat nun Kollegin Ingrid Nestle für die Frak-

tion Bündnis 90/Die Grünen.


Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708403600

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr

Präsident! Lieber Herr Brüderle, Sie jubilieren über die
Wachstumszahlen der letzten Monate. Ich glaube zwar
nicht, dass dies größtenteils Ihr Verdienst ist; aber es sei
Ihnen gegönnt, zu jubilieren


(Beifall der Abg. Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Der springende Punkt der heutigen Debatte ist jedoch
die Frage, welche Weichen Sie für die Zukunft stellen.
Sie als Politiker haben nicht die Aufgabe, die Vergan-
genheit zu beobachten. Sie haben die Aufgabe, die Zu-
kunft zu gestalten und Warnsignale rechtzeitig wahrzu-
nehmen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das machen wir doch!)






Ingrid Nestle


(A) (C)



(D)(B)

Ein Warnsignal haben Sie, wie ich glaube, selbst er-
kannt. Herr Pfeiffer, Sie sprachen von steigenden Ener-
giepreisen. Herr Brüderle, Sie haben gestern in der SZ,
weil Sie sich um die steigenden Benzinpreise Sorge ma-
chen, gefordert, Benzin solle von Discountern verkauft
werden. Sie haben argumentiert: Wenn es ein größeres
Angebot gäbe, dann würden die Preise fallen.


(Holger Krestel [FDP]: Ja! Es geht um mehr Wettbewerb!)


Aber leider habe ich den Eindruck, dass Sie an der Stelle
die Marktwirtschaft nicht ganz verstanden haben. Denn
nur weil Benzin von Discountern verkauft wird, ist na-
türlich auf dem Weltmarkt nicht ein größeres Angebot an
Rohöl vorhanden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Hier haben wir eine ganz entscheidende Alarmlampe,
deren Leuchten Sie sehen und wahrnehmen müssten und
worauf Sie mit Ihrer Politik reagieren müssten.

Es ist wenige Jahre her, da gingen die allermeisten da-
von aus, dass der Ölpreis noch über Jahrzehnte bei
30 Dollar pro Barrel bleiben würde. Die Hochpreissze-
narien gingen von 60 Dollar aus, und es wurde gesagt,
das sei richtig teuer und ein richtiges Problem für unsere
Wirtschaft – so hieß es damals. Die ganzen letzten Tage
lag der Ölpreis bei über 90 Dollar pro Barrel – 60 Dollar
sind schon ein Problem –, aber es hat sich an Ihrer Poli-
tik seit den Tagen, als er bei 30 Dollar lag, nichts verän-
dert. Es hat sich nichts geändert in dem Sinne, dass Sie
mit einer Effizienzstrategie für mehr Effizienz gesorgt
hätten. Aber genau das müsste im Interesse der Wirt-
schaft passieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Bleiben wir bei dem Beispiel Auto. Es gibt gerade die
Anstrengungen, ein Effizienzlabel einzuführen. Das gibt
es auf deutscher und auf europäischer Ebene. Im Wirt-
schaftsausschuss wurde ganz offen und unverhohlen
klargestellt, dass die Regierung nur ein Interesse daran
hat, deutsche Autos zu fördern, nicht etwa effiziente Au-
tos. Es ist Ihnen also völlig egal, ob die Autos effizient
oder ineffizient sind. Hauptsache, die deutschen Autos
kommen gut dabei weg. Das führt dazu, dass letztlich je-
mand, der eine Bleiplatte unter sein Auto schraubt, nach
den Vorstellungen, die Sie einbringen, mit seinem Auto
in eine bessere Effizienzklasse kommt. So kommen wir
nicht voran.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte unsere Autos fit für die Zukunft machen.
Ihre Regierung geht davon aus, dass sich die Zahl der
Autos weltweit bis 2030 verdoppeln wird. Glauben Sie
ernsthaft, dass wir die Rohölproduktion bis 2030 werden
verdoppeln können? Sie können über Peak Oil glauben,
was Sie wollen. Fest steht, wir werden die Produktion
nicht verdoppeln. Wem wollen Sie dann die Autos ver-
kaufen, wenn Sie heute für die Industrie Anreize schaf-
fen, Spritfresser zu bauen? Wem wollen Sie dann in Zu-
kunft die Autos verkaufen?
Ich weiß, dass Sie die heutigen Wirtschaftszahlen im
Kopf haben, aber denken Sie doch auch an die Zukunft.

Jetzt möchte ich noch zu dem Thema kommen, um
das es hier geht, nämlich den Jahreswirtschaftsbericht.
Sie leiten den Energieteil mit der Behauptung ein, das
Energiekonzept der Bundesregierung sei der Weg in eine
Zukunft mit erneuerbaren Energien. Das ist der Hohn.
Eigentlich ist das gelogen, aber ich fürchte, Sie wissen
an der Stelle einfach nicht, was Sie tun. Ihr Energiekon-
zept basiert auf Zahlen, nach denen der Ausbau von
Windanlagen an Land über die nächsten zehn Jahre im
Vergleich zu dem, was wir die letzten zehn Jahre hatten,
gedrittelt wird. Eine Drittelung des Ausbaus ist nicht der
Weg in die Zukunft der erneuerbaren Energien, das ist
das Gegenteil.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Konkret wird Ihr Konzept lediglich beim Thema
Atom, ansonsten fehlt es an Maßnahmen. Auch in einem
anderen Punkt ist der Jahreswirtschaftsbericht entlar-
vend: Er enthält einen Kasten „Ziele, Maßnahmen und
Überwachung“. In dem ganzen Kasten steht nicht eine
einzige Maßnahme, und das charakterisiert Ihr Energie-
konzept, dass nämlich keine Maßnahmen darin enthalten
sind, nur Ziele und Konkretes zum Thema Atom.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Da ja unter anderem von Herrn Fuchs das Thema Netz-
ausbau angesprochen worden ist, noch ganz kurz dazu:
Ich gebe Herrn Steinmeier recht, dass es die Bundesre-
publik nicht voranbringt, sie in eine Dafür- und eine Da-
gegen-Ecke zu teilen. Aber an dieser Stelle muss ich das
doch korrigieren. Beim Stromnetzausbau ist die CDU/
CSU die Dagegen-Partei, die Dagegen-Partei sind Sie!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf des Abg. Dr. Georg Nüßlein [CDU/ CSU])


Wir können über die Leute reden, die vor Ort für oder
gegen Stromleitungen sind. Zig Landräte der Union
kämpfen zum Beispiel gegen Stromleitungen. Aber re-
den wir doch hier im Bundestag darüber, was wir auf
Bundesebene machen. Und da haben wir letzte Woche
ein Stromnetzkonzept vorgelegt, das deutlich detaillier-
ter ist als alles, was Sie haben, das deutlich konkreter
wird als all das, was Sie vorlegen, und in dem wir uns
klar zum menschenfreundlichen Ausbau der Stromnetze
bekennen.

Sie dagegen blockieren seit Jahren den Ausbau der
Stromnetze, weil Sie bis heute den generellen Vorrang
der Erdverkabelung vor neuen Hochspannungsleitungen
nicht akzeptieren und den Ausbau der Erdkabel blockie-
ren. Dagegen wehren Sie sich, dagegen haben Sie sich
immer gewehrt. Sie akzeptieren auch nicht den generel-
len Vorrang der Teilverkabelung bei neuen Höchstspan-
nungsleitungen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie blockieren das bis heute, wie Sie es schon seit unseren
Regierungszeiten gemacht haben. Sie haben damit jede





Ingrid Nestle


(A) (C)



(D)(B)

Menge Stromleitungen verhindert, die es heute schon ge-
ben könnte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie sind die Dagegen-Partei, die Neinsager-Partei.

Herr Brüderle, ich freue mich, dass Sie unser Konzept
zur Kenntnis genommen und auch gelesen haben. Sie
haben es ja gestern in der Presse kommentiert. Sie haben
aber nur einen Punkt herausgegriffen und gesagt, wir
wollten mehr Verstaatlichung, Sie dagegen wollten mehr
Wettbewerb. Ja, nennen Sie es ernsthaft Wettbewerb,
wenn Sie verhindern, dass Netz und Erzeugung getrennt
werden? Das Netz ist ein natürliches Monopol, bei dem
es im Moment überhaupt keinen Wettbewerb gibt. Sollen
diese Netze angesichts der Tatsache, dass 80 Prozent der
Stromerzeugung bei nur vier Unternehmen liegen, bei
den Erzeugern bleiben? Nennen Sie es Wettbewerb
schaffen, wenn Sie zulassen, dass dieses Monopol in den
Händen der Großkonzerne bleibt? Vor diesem Hinter-
grund ist es nicht fair, uns vorzuwerfen, wir würden hier
nicht für Wettbewerb eintreten. Wir haben Ideen dafür
vorgelegt, wie man im Stromsektor – unter anderem im
Ausschreibungsverfahren – mehr Wettbewerb schaffen
kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir sind bei den Stromnetzen die Dafür-Partei, Sie
sind die Dagegen-Partei.


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Das nimmt Ihnen keiner ab!)


Sie wehren sich an dieser Stelle, und ich hoffe, dass Sie
hier mit etwas mehr Ehrlichkeit in die Zukunft gehen;
denn auch das ist für unsere Demokratie notwendig.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708403700

Das Wort hat nun Kollege Georg Nüßlein für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1708403800

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Kolle-

gin Nestle, wenn wir gegen etwas sind, dann gegen die-
ses industrie- und energiepolitische Harakiri, das Sie uns
hier ständig anbieten. Es ist unglaublich, was Sie uns
hier auftischen wollen,


(Undine Kurth [Quedlinburg] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist natürlich schrecklich für Sie!)


wie Sie hier mit ideologisch gefärbten Fantasien versu-
chen, uns weiszumachen, dass man schon morgen ohne
Verwerfungen und ohne Probleme in das Zeitalter der re-
generativen Energien einsteigen könnte, und dass Sie
immer dann, wenn es zum Schwur kommt und wir sa-
gen, wir müssen auch mit Blick auf die Preissituation an
der einen oder anderen Stelle eingreifen und etwas än-
dern, wieder dagegen sind.


(Ingrid Nestle [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind dafür!)


Das werden wir demnächst wieder erleben. Ich bin mir
sehr, sehr sicher, dass uns das wieder blühen wird, dass
Sie dagegen sind und sagen: Nein, nein, 100 Prozent er-
neuerbare Energie ist möglich. – Das mag stimmen, aber
natürlich nicht zu Konditionen, die wirtschaftlich sind
und durch die unser Industriestandort vorangebracht
wird.

Liebe Kollegin Wagenknecht,


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: „Liebe“ streichen!)


am meisten treibt mich die Definition von Armut um, die
Sie uns hier immer wieder auftischen. Die ist einfach un-
glaublich. Informieren Sie sich doch einmal, was die
Länder um uns herum unter Armut verstehen und wie sie
unser Sozialsystem einschätzen. Dann kommen Sie
nämlich zu einem ganz anderen Befund als dem, den Sie
hier vortragen. Ich weiß aber, dass Sie das nicht interes-
siert und dass Sie das nicht hören wollen. Sie haben wie
viele Ihrer Kommunistenfreunde – Lafontaine in der
Villa, Ernst im Porsche – ein besonderes Verhältnis zum
Vermögen. Ihre Brillanten, die mich vorhin geblendet
haben, als Sie hier vorne standen, sind auch verräterisch.
Dadurch zeigen Sie, wie Sie über diese Thematik den-
ken.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Dass Sie dann auch noch die Statistiken komplett an-
zweifeln, mag ja vielleicht an Ihrer Erfahrung mit der
ehemaligen DDR liegen, wo die Statistiken in der Tat ge-
fälscht waren. Dadurch zeigt sich Ihr besonderes Ver-
hältnis zur Statistik und im Übrigen auch zur Stasi.


(Zurufe von der LINKEN)


Dazu werden wir in der nächsten Zeit von Ihrer Seite ja
auch noch einiges hören. Es ist eine unglaubliche Dreis-
tigkeit, mit der Sie sich regelmäßig hier an dieses Red-
nerpult stellen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die Dreistigkeit unseres Altkanzlers Gerhard
Schröder ist mir da deutlich lieber. Dadurch wird mir
schon wieder ein gewisses Maß an Respekt abgenötigt.
Direkt nach der Kanzlerwahl hat er verkündet: „Das ist
mein Aufschwung“, und jetzt, nachdem er nicht mehr
Kanzler ist, sagt er wieder: „Das ist mein Aufschwung.“


(Garrelt Duin [SPD]: Recht hat er!)


Das ist schon bemerkenswert. Mir ist diese Frechheit
aber lieber als die Selbstverleugnung, der Kleinmut und
der politische Opportunismus, den man hier und da spürt
und der bei Ihnen allgegenwärtig ist.

Ich glaube, wir alle miteinander verpassen hier eine
große Chance für die Demokratie. Es ist uns gelungen,





Dr. Georg Nüßlein


(A) (C)



(D)(B)

einen kurzen und direkten Weg aus der Krise zu finden.
Er ist gegangen worden von mutigen Arbeitnehmern, ge-
gangen worden von mutigen Unternehmern, aber ge-
pflastert worden von beherzten Politikern. Die Bot-
schaft, dass nationale Politik im internationalen Konzert
etwas bewegt, müssten wir doch alle miteinander nach
draußen tragen, anstatt hier jetzt das eine oder andere
kleinzureden. Das ist wichtiger als die Debatte darüber,
wem dieser Aufschwung gehört. Wir haben Vertrauen in
die soziale Marktwirtschaft geschaffen. Es liegt an uns
allen miteinander, Vertrauen in die Politik zu schaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich will an dieser Stelle kurz an die Zahlen erinnern:
3,6 Prozent Wachstum, 40,5 Millionen Beschäftigte, nur
noch 2,9 Millionen Arbeitslose.


(Zuruf der LINKEN: Weggerechnet!)


Bei diesen Zahlen hätten Sie in Ihrer rot-grünen Regie-
rungszeit Freudenfeuer angezündet. Heute sagen Sie:
Jetzt geht es darum, sicherzustellen, dass sich das fort-
setzt. – Das stimmt, aber es gibt gute Indizien dafür, dass
das geschieht: Es wird einen weiteren Rückgang der Ar-
beitslosenquote geben. 41 von 46 befragten Wirtschafts-
verbänden sagen, dass die Stimmung noch besser ist als
im letzten Jahr. 32 dieser Verbände rechnen mit besseren
Umsätzen. Viele Unternehmen wollen auch in diesem
und im nächsten Jahr mehr Arbeitsplätze schaffen. Ich
will aufgrund dieser Zahlen jetzt nicht in einen Freuden-
taumel verfallen. Das wäre sicherlich falsch.

Die Kollegin Andreae hat sicher recht: Wir müssen
insbesondere mit Blick auf das, was in Europa stattfin-
det, jetzt einen Weg finden, das alles und vor allem die
geniale Idee Europa zu stabilisieren. Aber mit dem, was
Sie gesagt haben, liebe Kollegin, haben Sie auch beson-
dere grüne Positionen entlarvt, nämlich zum einen, dass
Krise, Angst und Sorge grundlegend zu grüner Politik
dazugehören, und zum anderen, dass Sie sich immer
noch damit schwertun, was nationale Politik ausmacht.

Die Kollegin Nestle hat vorhin darüber philosophiert,
dass wir sagen, dass es unser ureigenstes Interesse sei,
deutsche Autos zu verkaufen.


(Klaus Barthel [SPD]: Bayerische Autos, Herr Nüßlein!)


Da wir wissen, dass der konjunkturelle Aufschwung zu
einem wesentlichen Teil von der Automobilindustrie ab-
hängt, haben wir in der Tat ein legitimes Interesse daran,
dass deutsche Automobile verkauft werden. Das ist eine
ganz klare Sache, und dafür stehen wir auch ein.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich meine, dass Europapolitik auch heißen darf, in
Brüssel nationale Interessen zu vertreten. Ein fundamen-
tales nationales Interesse von uns ist es, keine Transfer-
union zu schaffen. Das ist ein zentraler Punkt.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind schon eine!)

Wir können zwar darüber diskutieren, ob es uns gelingt,
das zu vermeiden – darin bin ich ganz auf Ihrer Seite –,
aber wir müssen es zumindest versuchen.

Heute ist schon viel über Arbeitskräftemangel disku-
tiert worden. Wir sollten jetzt nicht in Panik und Aktio-
nismus verfallen. Minister Brüderle hat in bemerkens-
werter Weise deutlich gemacht – darin gebe ich ihm
ausdrücklich recht –, dass es darum gehen muss, das in-
ländische Fachkräftepotenzial zu heben und in dem Zu-
sammenhang unser duales Ausbildungssystem zu stär-
ken.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was machen Sie denn?)


Dieses System gibt uns einen Vorsprung gegenüber an-
deren Ländern. Dieses System gibt auch mir die Gewiss-
heit, dass uns Freizügigkeit im zukünftig eine halbe Mil-
liarde Menschen umfassenden Binnenmarkt nicht mit
Sorge erfüllen muss. Indem ich explizit darauf verweise,
dass wir ab Mai einen Arbeitsmarkt haben, der eine
halbe Milliarde Menschen umfasst, will ich zugleich zei-
gen, dass ich guter Dinge bin, dass wir aus diesem
Potenzial auch unseren Fachkräftebedarf decken kön-
nen.

Diejenigen, die uns einreden wollen, ein Arbeitsmarkt
in dieser Größe werde nicht reichen, verfolgen entweder
spezielle Ziele, die nicht immer ehrenhaft sind, oder ken-
nen schlicht und schlank das deutsche Ausländerrecht
nicht. Aus den USA oder aus Japan kann jeder kommen,
der bei uns Forschung und Lehre betreiben will. Jeder,
der mehr als 66 000 D-Mark verdient,


(Klaus Barthel [SPD]: Euro!)


kann von außerhalb der Europäischen Union ohne Vor-
rangprüfung zu uns kommen. Derjenige, dessen Ver-
dienst darunter liegt, kann mit Vorrangprüfung – die im
Übrigen meist positiv beschieden wird – zu uns kom-
men.

Das heißt doch ganz klar: Wir brauchen kein pseudo-
gerechtes Punktesystem. Wir brauchen keine Änderun-
gen im Ausländerrecht. Wir brauchen keine Multikulti-
fantasien wie die der Grünen. Wir brauchen aber schon
gar keine Zuwanderung in unsere Sozialsysteme.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich konzediere an dieser Stelle ausdrücklich, dass wir
Handlungsbedarf im Bereich der Zeitarbeit haben. Es
kann nicht in unserem Interesse liegen, den Arbeitneh-
mer zweiter Klasse zu institutionalisieren.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja!)


Flexibilität ist wichtig, darf aber auch etwas kosten.

(Joachim Poß [SPD]: Sehr gut!)


Aus meiner Sicht geht es um das Abdecken von Spitzen-
kapazitäten und Spitzenbedarf. Es darf nicht zu Lohn-
dumping kommen. Deshalb besteht hier dringender
Handlungsbedarf.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)






Dr. Georg Nüßlein


(A) (C)



(D)(B)

Seien Sie versichert, dass wir das Problem lösen werden.
Da sind wir eng beieinander.


(Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Meine Redezeit ist leider abgelaufen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708403900

Stimmt, eigentlich ist Ihre Redezeit abgelaufen. Kol-

lege Heil, bestehen Sie auf Ihrer Nachfrage? Das ist
keine Zwischenfrage mehr.


Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1708404000

Ja.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708404100

Bitte schön.


Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1708404200

Herzlichen Dank, Herr Präsident! – Herr Kollege

Nüßlein, da Ihre Redezeit vorbei ist, möchte ich Ihnen
gerne Gelegenheit geben, das, was Sie zum Schluss ge-
sagt haben, gemeinsam mit mir zu konkretisieren. Sie sa-
gen: Zeit- und Leiharbeit werden missbraucht. Zeit- und
Leiharbeit sollen auf die Auftragsspitzen von Unterneh-
men konzentriert werden.

Sind Sie mit mir der Meinung, dass man als Gesetzge-
ber dafür etwas an zwei Stellen tun muss, nämlich dass
wir zum einen das Prinzip „Gleicher Lohn für gleiche
Arbeit“ durchsetzen müssen, damit das nicht tatsächlich
ein Einfallstor für Lohndumping ist, und dass wir zum
anderen einen Zeitarbeitsmindestlohn einführen müs-
sen? Können Sie mir bestätigen, dass wir beides brau-
chen?


Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1708404300

Schade ist, dass Sie meine Redezeit nicht so verlän-

gern, wie ich mir das gewünscht und erhofft habe; denn
diese Frage kann ich schlicht und schlank mit Ja beant-
worten. Das werden und müssen wir tun.

Vielen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708404400

Das Wort hat nun Kollege Garrelt Duin für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Jetzt kommt die Kritik an Gabriel!)



Garrelt Duin (SPD):
Rede ID: ID1708404500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrter Herr Minister, das ist verschiedentlich
schon angesprochen worden: Sie haben heute hier den
Eindruck erweckt, dass die Krise überwunden ist. Ich
sage Ihnen: Sie blenden einen wesentlichen Teil der Rea-
lität aus.

(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Nämlich NRW!)


– In NRW scheint es immerhin so zu sein, dass Sie als
FDP geradezu auf Knien betteln, in die Regierung zu
kommen. Das wird aber nach einer Neuwahl nicht funk-
tionieren, weil Sie dann im Landtag gar nicht mehr ver-
treten sein werden. Genauso werden Sie auch in Ham-
burg nicht in die Bürgerschaft kommen.


(Beifall bei der SPD)


Angesichts meiner kurzen Redezeit will ich darauf aber
nicht näher eingehen.

Herr Brüderle, der erste Punkt, wo Sie die Realität
ausblenden, sind die Geschehnisse in Griechenland. Na-
türlich ist es richtig, dass wir den Griechen gesagt haben:
Ihr müsst konsolidieren! – Natürlich ist es richtig, dass
wir bestimmte Auflagen machen, wenn dort geholfen
wird. Aber so, wie das jetzt konstruiert ist, wird die grie-
chische Volkswirtschaft nicht wettbewerbsfähiger und
nicht erstarken. Vielmehr wird man das Ganze in kürzes-
ter Zeit fast zwangsläufig an die Wand fahren. Dann ist
der deutsche Steuerzahler richtig dran. Dann können Sie
alle Ihre Prognosen – verzeihen Sie mir den Ausdruck –
in den Papierkorb werfen, weil sie nichts mehr wert sind.
Es ist dringend notwendig, endlich anzufangen, eine ge-
meinsame europäische Wirtschaftspolitik zu initiieren.
Die Bundeskanzlerin hat es jetzt – so war es zu lesen –
begriffen. Herr Schäuble hat es begriffen. Der Einzige,
der sich dieser Realität verweigert, ist der Bundeswirt-
schaftsminister. Das ist tragisch.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Der zweite Punkt, wo Sie die Realität ausblenden, ist
das Datum 1. Mai. Ab 1. Mai dieses Jahres herrscht ab-
solute Arbeitnehmerfreizügigkeit. Es ist absehbar, dass
sich das auf die Löhne gerade im Niedriglohnbereich
massiv negativ auswirken wird, weil Sie nichts tun. Sie
sagen: Da kommt keiner. – Das ist nicht die Antwort, die
wir auf diese Herausforderung brauchen. Vielmehr brau-
chen wir Mindestlöhne in Deutschland, und zwar gesetz-
lich und flächendeckend.


(Beifall bei der SPD)


Der dritte Punkt, wo Sie sich der Realität verweigern,
ist das Krisenthema Investitionen und Innovation. Sie
haben noch im letzten Jahr ein industriepolitisches Kon-
zept vorgelegt. Im nun vorliegenden Jahreswirtschafts-
bericht herrscht dazu Fehlanzeige. Sie machen eine
Energiepolitik, die Wettbewerb, aber vor allen Dingen
auch Investitionen verhindert. Jedes große Energieunter-
nehmen und nicht zuletzt die Stadtwerke in Deutschland
bestätigen Ihnen, dass es sich hier um Investitionsbehin-
derungspolitik handelt und nicht das gemacht wird, was
wir in Deutschland wirklich brauchen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Sie singen stattdessen immer das gleiche Lied: Wir müs-
sen die Spielräume nutzen, um Steuern zu senken. – Die
Sachverständigen sagen Ihnen ohne Wenn und Aber,
dass das der falsche Weg ist und dass dafür keine Spiel-





Garrelt Duin


(A) (C)



(D)(B)

räume bestehen. Herr Brüderle, Sie sind stolz darauf,
dass die Neuverschuldung nicht so hoch wie geplant ist
und nur bei 44 Milliarden Euro liegt. Bei einer Neuver-
schuldung von 44 Milliarden Euro über Steuersenkun-
gen zu fabulieren, das passt einfach nicht zusammen,
und die Menschen wissen das.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Solange die Schulen in Deutschland nicht saniert und
personell entsprechend ausgestattet sind, solange die
Bahn aufgrund der mangelnden Infrastruktur an Früh-
ling, Sommer, Herbst und Winter scheitert, solange es
Schlaglöcher gibt – nicht nur in Berlin, sondern leider in
ganz Deutschland –, die eine Gefahr für jeden Verkehrs-
teilnehmer sind, solange wir also die bauliche und so-
ziale Infrastruktur in Deutschland nicht auf Vordermann
gebracht haben, solange ist kein Platz für Ihre Steuersen-
kungsfantasien.


(Beifall bei der SPD)


Werter Herr Minister, Sie haben heute Morgen davon
gesprochen, dass der Aufschwung keine Kurzgeschichte,
sondern ein Fortsetzungsroman sei. Deswegen will ich
mit dem Auszug aus einem Gedicht schließen, das zu Ih-
nen passt wie die Faust aufs Auge. Es ist von Heinrich
Hoffmann aus dem Jahre 1844 und heißt Hans Guck-in-
die-Luft.

Wenn der Hans zur Schule ging,
Stets sein Blick am Himmel hing.
Nach den Dächern, Wolken, Schwalben
Schaut er aufwärts allenthalben:
Vor die eignen Füße dicht,
Ja, da sah der Bursche nicht,
Also daß ein jeder ruft:
„Seht den Hans Guck-in-die-Luft!“

So ist es: Sie gucken nach der Schwalbe Steuersenkung,
anstatt sich um das zu kümmern, was in Deutschland
notwendig wäre, damit der jetzige Aufschwung von
Dauer ist.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708404600

Das Wort hat nun Andreas Lämmel für die Fraktion

der CDU/CSU.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Andreas G. Lämmel (CDU):
Rede ID: ID1708404700

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Der Jahreswirtschaftsbericht 2011 zeigt, dass
Deutschland im vergangenen Jahr das größte Wachstum
seit Beginn der deutschen Einheit erreicht hat. Das ist
durchaus bemerkenswert; denn in den letzten 20 Jahren
hat Deutschland eine sehr unterschiedliche wirtschaftli-
che Entwicklung vollzogen.
Eine Überschrift im Jahreswirtschaftsbericht lautet:
„Durch Forschung und Innovationen Wohlstand si-
chern“. Genau auf diesen Punkt möchte ich zu sprechen
kommen; denn das Thema Forschung, Entwicklung und
Technologieentwicklung hat in der Debatte bisher über-
haupt keine Rolle gespielt.

Deutschland ist nach wie vor Exportweltmeister.
China exportiert zwar inzwischen mengenmäßig mehr;
aber umgerechnet auf die Einwohnerzahlen ist Deutsch-
land eindeutig Exportweltmeister. Dass wir das sein kön-
nen, liegt ganz klar daran, dass es in Deutschland Unter-
nehmen gibt, die hochinnovative Produkte herstellen
und hervorragende Verfahren exportieren können. Des-
wegen konnten wir nach der Krise ziemlich schnell wie-
der Exportweltmeister werden. Auch im Vergleich zu
Frankreich, Italien oder den anderen großen europäi-
schen Ländern wird deutlich: Deutschland steht eindeu-
tig an der Spitze.

Aus diesem Grunde ist es wichtig, dass wir Forschung
und Entwicklung in Deutschland weiterhin stark fördern.
Man kann nicht leugnen, dass die schwarz-gelbe Regie-
rung, aber auch die Große Koalition für das Thema For-
schung und Entwicklung in den letzten Jahren Enormes
geleistet haben. Ich erinnere nur daran, dass 12 Milliar-
den Euro zusätzlich in Investitionen in Bildung und For-
schung geflossen sind. Durch die Hightech-Strategie der
Bundesregierung sind die zukünftigen Technologiefelder
für die deutsche Entwicklung definiert worden und wer-
den intensiv gefördert.

Natürlich gibt es noch Defizite, die in den nächsten
Jahren beseitigt werden müssen. Zum einen gilt das für
das Thema der steuerlichen FuE-Förderung. Hier konnte
eine Lösung bisher noch nicht herbeigeführt werden.
Zum anderen brauchen wir eine neue Gründerkultur. Wir
haben die Krise jetzt zwar erst einmal überwunden. Das
heißt aber nicht, dass diese Entwicklung in den nächsten
zehn Jahren so fortschreiten muss.

Die deutsche Industrie ist mittlerweile global aufge-
stellt. Überall auf der Welt gibt es Forschungseinrichtun-
gen deutscher Unternehmen, die neue Verfahren und
neue Produkte entwickeln. Die Frage, die sich letztend-
lich stellt, ist: Werden diese neuen Produkte in Deutsch-
land hergestellt? Wird hier investiert, oder investiert man
dort, wo man die Forschung angesiedelt hat? Das ist aus
meiner Sicht die grundsätzliche Frage, die wir in
Deutschland beantworten müssen. Wollen wir die Rah-
menbedingungen für Investitionen in Deutschland und
damit für neue Arbeitsplätze schaffen?

Dadurch würde sich auch das Thema 1. Mai erübri-
gen, das Sie, Herr Duin, eben angesprochen haben.

Der linken Seite, die einen Mindestlohn von 10 Euro
fordert, möchte ich sagen: Reden Sie doch einmal mit
Ihren Freunden von der Gewerkschaft! Schauen Sie sich
einmal die Tarifverträge an, die von den Gewerkschaften
geschlossen worden sind! Zum Teil liegen diese weit un-
ter dem Mindestlohn, den Sie jetzt fordern.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Und warum?)






Andreas G. Lämmel


(A) (C)



(D)(B)

Der erste Schritt müsste sein, dass man sich auf tarifli-
cher Basis auf eine Lohnuntergrenze einigt, die dann
auch Allgemeinverbindlichkeit erlangen kann.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Unterstützen Sie die Gewerkschaften?)


Meine Damen und Herren, es ging um die deutsche
Einheit. Ich möchte darauf hinweisen, dass die ostdeut-
sche Wirtschaft zu dem Wachstum von 3,6 Prozent einen
ganz entscheidenden Beitrag erbracht hat. Es ist notwen-
dig, auch das einmal zu würdigen, Herr Gysi. Positive
Entwicklungen sind aber nicht in Ihrem Sinne. Sie sind
eigentlich der Verfechter der negativen Meldungen.

In Sachsen hat der Anstieg des Bruttoinlandsprodukts
3 Prozent betragen. Allein im Jahr 2010 sind 14 000
neue Beschäftigungsverhältnisse – davon 80 Prozent so-
zialversicherungspflichtig – geschlossen worden. Das ist
eine hervorragende Leistung, die zeigt, dass die Aufbau-
leistung der letzten 20 Jahre genau die Früchte trägt, die
wir alle erwartet hatten. Die Umsätze sind stark gestie-
gen. Die Wertschöpfung ist stark gestiegen. Auch die in-
ternationale Verflechtung der ostdeutschen Wirtschaft
hat sich in den letzten Jahren enorm verbessert.

Ein Thema, das im Jahreswirtschaftsbericht 2011
deutlich hervorgehoben worden ist, sind die Instrumente,
die in den vergangenen Jahren dazu geführt haben, dass
wir letztendlich dieses gute Ergebnis erreichen konnten.
An dieser Stelle möchte ich ganz speziell auf die GRW,
die Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der regionalen
Wirtschaftsstruktur“, zu sprechen kommen. Das ist ein
Instrument, über das wir im Deutschen Bundestag schon
öfter diskutiert haben. Es zeigt sich, dass durch die Auf-
stockung der Mittel der GRW Investitionen angestoßen
werden konnten, die genau jetzt wirksam werden, die ge-
nau jetzt ihren Beitrag zur Erhöhung des Bruttoinlands-
produkts erbringen. Es zeigt sich, dass die eingesetzten
staatlichen Mittel den Ertrag erbringen, den die Gesell-
schaft erwartet.

Eine Gefahr besteht allerdings für die GRW, nämlich
das Auslaufen der Förderperiode der Europäischen
Union im Jahre 2013. Wir brauchen hier eine Anschluss-
lösung, um auch in den nächsten Jahren die mittelständi-
sche Unternehmerschaft unterstützen zu können.

Nun zum Thema Fachkräftemangel, weil dieses
Thema hier verschiedentlich angesprochen worden ist.
Die Entwicklung mag regional unterschiedlich sein. Ich
will gar nicht abstreiten, dass das Thema möglicher-
weise in Bayern oder Baden-Württemberg keine Rolle
spielt. Aus meiner Sicht ist das in Ostdeutschland aber
ein sehr drängendes Problem.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei uns auch!)


Dazu liegen nicht nur politische Aussagen, sondern auch
klare Berechnungen, zum Beispiel des Ifo-Instituts, vor.

Wenn das Arbeitskräftepotenzial in den neuen Bundes-
ländern bis 2015 definitiv um 5 Prozent zurückgeht – was
nicht mit Abwanderungsbewegungen, sondern mit den
nicht geborenen Kindern Anfang der 90er-Jahre zusam-
menhängt –, während der Rückgang in den alten Bun-
desländern weniger als 1 Prozent beträgt, dann bedeutet
das, dass sich dieses Problem in Ostdeutschland fünfmal
stärker auswirken wird als in manchen westdeutschen
Bundesländern. Deswegen brauchen wir eine Regelung
für eine gezielte Zuwanderung von Fachkräften. Das
möchte ich an dieser Stelle ganz klar betonen. Es geht
überhaupt nicht darum, Zuwanderung in die Sozialsys-
teme zu organisieren. Vielmehr brauchen wir gut ausge-
bildete Fachleute. Ich denke, darüber muss man reden.

Meine Damen und Herren, das Fazit: Zur Erreichung
eines Wachstums von 3,6 Prozent auch in den nächsten
Jahren müssen wir erstens die Konsolidierung des Haus-
haltes fortsetzen, um die stark angestiegene Verschul-
dung zu reduzieren, und zweitens die Themen Technolo-
gie und Innovationsförderung an die Spitze unserer
politischen Diskussion stellen; denn das ist die Grund-
lage der zukünftigen wirtschaftlichen Entwicklung.

An die Linken gerichtet möchte ich sagen: Wir brau-
chen keine neuen Wege hin zum Kommunismus. Wir
wollen auch keine kleine neue DDR gründen, Herr Gysi,
sondern wir wollen im System der Marktwirtschaft wei-
ter für wirtschaftliche Entwicklung kämpfen. Dafür ha-
ben wir gute Bedingungen geschaffen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708404800

Das Wort hat nun Marlene Mortler für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Marlene Mortler (CSU):
Rede ID: ID1708404900

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! „Boom bei Geschäftsreisen, Erholung bei Ur-
laubsreisen“, so war es gestern einer Internetseite – der
FVW, der führenden Branchenzeitung für Touristik- und
Geschäftsreisen in Deutschland – zu entnehmen. Das ist
ein Grund zur Freude; denn sie bezieht sich auf eine Rei-
sestudie, die gestern im Rahmen der CMT, der Touristik-
messe in Stuttgart, vorgestellt worden ist. Freuen wir uns
jetzt einmal wirklich! Ich habe vor allem bei der Opposi-
tion heute das Gefühl gehabt, dass Freuen in unserem
Land verboten ist. Was gibt es Schöneres als so einen
Auftakt im neuen Jahr, nämlich positive Zahlen zu ver-
künden?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Da fällt mir schon was ein!)


Ich möchte mich an dieser Stelle ausdrücklich und
ganz herzlich bei der Arbeitsgruppe Wirtschaft bedan-
ken, dass ich den Bereich Tourismuswirtschaft wieder
einmal ins rechte Licht rücken darf, eine Branche, die
aus meiner Sicht vielfach unterschätzt wird, und das, ob-
wohl sie weltweit zu den wenigen langfristigen Wachs-
tumsbranchen zählt.





Marlene Mortler


(A) (C)



(D)(B)

Ich erinnere an dieser Stelle aus aktuellem Anlass
ganz bewusst an ein Land, an Tunesien. Ich wünsche mir
für die Menschen vor Ort, dass es ganz schnell wieder
Stabilität und Sicherheit gibt. Ich danke auf der anderen
Seite unserem deutschen Reiseverband und dem Aus-
wärtigen Amt, dass es hier eine sehr gute, eine professio-
nelle Zusammenarbeit gab und dass alle deutschen Tou-
risten, die aus dem Land reisen wollten, innerhalb
weniger Tage auch wirklich aus dem Land geholt wor-
den sind.

Dass wir diese positiven Zahlen über unseren Touris-
musstandort, Deutschland, verkünden können – es geht
uns so gut wie nie zuvor; ausländische Gäste kommen in
großer Zahl, und es werden immer mehr; wir Deutsche
haben unsere Heimat wieder lieb gewonnen –, kommt
nicht von ungefähr; vielmehr ist dabei das Thema „Si-
cherheit und Stabilität“ ein ganz wichtiger Faktor.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP])


Wir sind Reiseweltmeister im eigenen Land, aber
auch im Ausland. Wenn wir über Tourismus reden, dann
reden wir über 2,8 Millionen Arbeitsplätze – nicht ex-
portierbar, quer durchs Land –, dann reden wir über eine
Branche, die den dritten Platz hinter dem Handwerk und
hinter der Gesundheitswirtschaft einnimmt, und dann re-
den wir über 114 000 Ausbildungsplätze. Allein 100 000
Ausbildungsplätze stellt der Bereich Hotellerie und Gas-
tronomie. Außerdem reden wir darüber, dass Deutsch-
land EU-weit bei den Übernachtungen inzwischen auf
dem ersten Platz liegt, also vor den klassischen Urlaubs-
ländern Italien und Frankreich. Mit 380 Millionen Über-
nachtungen pro Jahr steuern wir auf das beste Jahreser-
gebnis aller Zeiten zu.

Wir sind weltweit Messestandort Nummer eins. Beim
Thema „Tagungen und Kongresse“ sind wir EU-weit
Nummer eins und weltweit hinter den USA Nummer
zwei. Darüber hinaus erwirtschaften wir in der Touris-
musbranche einen Jahresumsatz von 233 Milliarden
Euro. Tourismus ist eben mehr als Wasser, Sonne,
Strand. Wenn ich diese 233 Milliarden Euro aufschlüs-
sele, dann stelle ich fest, dass davon allein auf den Ta-
gestourismus 163 Milliarden Euro entfallen. Der Rest,
70 Milliarden Euro, entfällt auf Übernachtungstouris-
mus. Ein ganz wichtiges Segment ist und bleibt der Städ-
tetourismus als umsatzstärkstes Segment mit 83 Milliar-
den Euro. Auch hier gilt: Freuen wir uns, dass wir in
diesem Jahr im Städtebereich teilweise sensationelle Zu-
wächse bis zu 13 Prozent erzielen konnten!

Seit der Fußballweltmeisterschaft 2006 hat Deutsch-
land zweifellos an Attraktivität gewonnen. Das ist nicht
nur der Freundschafts- bzw. Gastfreundschaftskampagne
geschuldet. Die Menschen haben nach der Fußball-WM
immer wieder zu mir gesagt: Du, Marlene, die Leute
sind ja immer noch freundlich! – Ich glaube, auch hier
hat sich etwas verändert.

Nun haben wir die Fußball-WM der Frauen. Ich freue
mich, dass wir mit Steffi Jones eine wirkliche Sympa-
thieträgerin im Organisationsteam haben. Sie sagt: Wir
wollen mit der Fußball-WM der Frauen 2011 Geschichte
schreiben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir alle können unseren Beitrag leisten, dass alle Spiele
an den neun Spielorten zwischen Berlin und Augsburg
vor ausverkauftem Haus stattfinden.

In 2011 haben wir noch weitere Großereignisse: die
Ski-WM in Garmisch, den Eurovision Song Contest in
Düsseldorf und den Papstbesuch in Berlin. Im Bereich
Kulturtourismus haben wir zum Beispiel „200 Jahre
Franz Liszt“ in Thüringen zu feiern.

An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an die
Deutsche Zentrale für Tourismus, die mit unserer Hilfe
über Mittel in Höhe von 24 Millionen Euro aus dem
Bundeshaushalt verfügen kann und im Inland, aber vor
allem im Ausland taffe Werbung für unseren Standort
macht. Die DZT handelt nach dem Motto: Trends erken-
nen, aufgreifen, bewerben. Deshalb ist das Thema „Ge-
sundheitsurlaub und Wellness“ heuer besonders wichtig.
Nächstes Jahr sind es Geschäftsreisen. 2012 geht es um
Weinkultur und Natur in Deutschland. Außerdem wollen
wir 2012 auf die vielfältigen Kulturlandschaften der
13 Weinanbaugebiete in Deutschland hinweisen, was ja
eine wunderschöne Sache ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


2013 ist „Junges Reiseland Deutschland“ ein wichti-
ges Thema. 2014 geht es um UNESCO-Weltkulturerbe-
Stätten in Deutschland. Uns ist viel zu wenig bewusst,
dass wir, wenn es um das Weltkulturerbe geht, über 2000
Jahre Kulturgeschichte in Deutschland sprechen. Diese
2000 Jahre haben Spuren hinterlassen. Es gibt weltweit
kein Land, das so viele einzigartige Natur- und Kultur-
stätten in solch einer Dichte vorzuweisen hat. Weitere
Stätten stehen Schlange.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Weil ich aus Franken komme, weiß ich, dass auch Nürn-
berg in dieser Schlange steht.

Wir haben aber nicht nur große Glanzlichter, sondern
auch viele kleine Leuchttürme. Deutschland-Tourismus
zeichnet sich vor allem durch eine große, attraktive Viel-
falt aus. Dazu gehören Kreuzfahrten, Wandern, Cam-
ping, Wassersport, Radfahren, Urlaub auf dem Bauern-
hof und das Bedürfnis nach Naturnähe. Es ist aber auch
festzustellen, dass das Bedürfnis nach nachhaltigem
Tourismus im Bewusstsein der Verbraucher und Touris-
ten erfreulich gestiegen ist.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708405000

Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.


Marlene Mortler (CSU):
Rede ID: ID1708405100

Es ist unglaublich, wie schnell die Zeit vergeht, wenn

man über Positives spricht.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ich habe mich gerade so wohlgefühlt!)






Marlene Mortler


(A) (C)



(D)(B)

Herr Präsident, ich komme in die Zielgerade und ver-
weise noch auf die erste und einzige Möglichkeit,
Marktforschung in der Tiefe zu betreiben, nämlich auf
das sogenannte Sparkassen-Tourismusbarometer. Das
Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung –


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708405200

Aber Frau Kollegin, ich habe Sie doch schon er-

mahnt.


Marlene Mortler (CSU):
Rede ID: ID1708405300

– leistet allen Akteuren, egal auf welcher Ebene,

Hilfe. Wir Politiker werden unseren Beitrag leisten und
die Rahmenbedingungen für eine wettbewerbsfähige
Tourismuswirtschaft auch in Zukunft setzen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708405400

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/4450 und 17/3700 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 4 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Memet
Kilic, Tabea Rößner, Brigitte Pothmer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Fachkräfteeinwanderung durch ein Punkte-
system regeln

– Drucksache 17/3862 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache zwei Stunden vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Memet Kilic für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.


Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708405500

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-

nen und Kollegen! Die vorangegangene Debatte ist für
die Bundesregierung signifikant. Sie rühmt sich mit den
Verdiensten der kleinen und mittelständischen Unterneh-
men, die mit Mühe und Not sich und unsere Wirtschaft
über Wasser gehalten haben, der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer, die mit Lohnverzicht die Finanzkrise ge-
schultert haben, tut aber selbst nichts Signifikantes für
die Verbesserung unserer Wirtschaftslage und die Zu-
kunftsfähigkeit unseres Landes.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Daher wird das Thema der Fachkräfteeinwanderung ein
Lackmustest für die Bundesregierung sein.

Ohne kompensatorische Maßnahmen wird die demo-
grafische Entwicklung zu einem erheblichen Rückgang
nicht nur der allgemeinen Bevölkerungszahl, sondern
auch der Zahl der Erwerbspersonen in Deutschland füh-
ren. Nach den Berechnungen der statistischen Ämter soll
die Zahl der Erwerbstätigen bis 2030 auf 25 Millionen
sinken. Das Potenzial an Arbeitskräften in Deutschland
werde, so die OECD, in den kommenden zehn Jahren so
stark schrumpfen wie in keinem anderen Industrieland.
Schon jetzt haben wir in einigen Branchen Personalnot.
Allein im naturwissenschaftlich-technischen Bereich
fehlen bereits heute 65 000 Fachkräfte. Unter „Fach-
kräfte“ dürfen nicht nur IT-Spezialisten verstanden wer-
den. Größte Not herrscht und wird herrschen bei den
Pflegekräften, insbesondere in der Altenpflege.

Als Reaktion auf die demografische Entwicklung und
den daraus resultierenden Rückgang an Arbeitskräften
brauchen wir eine kluge Mischung aus Bildung, Qualifi-
zierung, Anerkennung ausländischer Qualifikationen
und Aktivierung der inländischen Fachkräftepotenziale.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Nach den Prognosen der Wirtschaftsforschungsinstitute
und der Bundesagentur für Arbeit werden diese Maßnah-
men allein aber nicht ausreichen. Für sie ist völlig klar:
Deutschland braucht Einwanderung, und zwar in weit
größerem Umfang als bisher angenommen. Deutschland
braucht pro Jahr eine Nettozuwanderung von 200 000
bis 400 000 Menschen.

Das geltende System wird diesen Bedürfnissen nicht
gerecht. Auf Grundlage der restriktiven Einwanderungs-
regelungen entscheiden sich zu wenige ausländische
Fachkräfte für ein Leben in Deutschland. So kamen etwa
im Jahr 2009 auf Grundlage der Hochqualifiziertenrege-
lung lediglich 169 Personen nach Deutschland, mit Zu-
stimmung vom Arbeitsamt sogar nur 41 Personen.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unerhört!)


Wir Grüne plädieren für eine einladende Einwande-
rungspolitik für ausländische Fachkräfte. Dafür brau-
chen wir ein modernes und transparentes Auswahl-
verfahren mit einem Punktesystem. Mit dem
bedarfsorientierten Auswahlverfahren sollen einwande-
rungswillige Personen, die nach klaren Kriterien ihre
Qualifikation und Integrationsfähigkeit unter Beweis ge-
stellt haben, eine dauerhafte Aufenthaltsperspektive in
Deutschland erhalten.


(Beifall des Abg. Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Für dieses Auswahlverfahren schlagen wir vor, dass
das Bundesamt für Migration in Zusammenarbeit mit ei-
nem Beirat eine Bedarfsanalyse und darauf aufbauend





Memet Kilic


(A) (C)



(D)(B)

ein Qualifikationsprofil erstellt sowie eine Quote vor-
schlägt. Ein solcher Punktekatalog kann beispielsweise
die Kriterien „Alter“, „Sprachkenntnisse“ und „Berufs-
erfahrung“ enthalten. Sowohl das Qualifikationsprofil
als auch die Quotenregelung erfordern die Zustimmung
des Bundestages und des Bundesrates.

Die Wirtschaft, viele Verbände, der Gewerkschafts-
bund und Wirtschaftsforschungsinstitute unterstützen
eine solche Forderung nach einem Punktesystem, das
deutlich unbürokratischer und einfacher gestaltet ist als
das heutige System. Ideologische Blindheit hilft nicht,
sondern schadet unserem Land.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Manfred Grund [CDU/CSU])


Wir müssen entscheiden, ob wir ein weltoffenes und
modernes Deutschland in einer globalisierten Welt sein
wollen, das Einwanderinnen und Einwanderer willkom-
men heißt und als gleichberechtigte Bürger in unserer
Demokratie anerkennt. Wir sind für einen Klimawandel
in der Gesellschaft. Einwanderinnen und Einwanderer
sollen nicht mehr als Eindringlinge, sondern als Neu-
deutsche angesehen werden.

Eine einladende Einwanderungspolitik für Fach-
kräfte kann trotz vieler positiver Effekte auch die Gefahr
von Braindrain mit sich bringen. Mit der Abwanderung
von Arbeitskräften verlieren die Entwicklungsländer sel-
ber wichtige Fachkräfte. Diese Gefahr müssen wir ernst
nehmen. Um Härten zu vermeiden, sollte unser Punkte-
system daher um Maßnahmen ergänzt werden, die die
Risiken für Entwicklungsländer minimieren.

Uns Grünen wird seit einigen Tagen vorgeworfen, die
Dagegen-Partei zu sein.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Stimmt doch!)


Wir sind seit Jahren für ein Punktesystem. Blockiert
wird die Einführung durch die Unionsparteien. Sie sind
die Dagegen-Parteien – nicht wir.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie wissen nicht, was Sie wollen. Sie haben keine Ideen
und bieten keine Lösungen für den wachsenden Fach-
kräftebedarf. Sie sind einfach nur dagegen. Das ist billig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Rüdiger Veit [SPD])


Während wir Gesetzentwürfe und Anträge in den
Bundestag einbringen, um Deutschland für ausländische
Fachkräfte attraktiver zu gestalten, verspielt die Bundes-
regierung Deutschlands Chancen. Außer Streit fällt
Schwarz-Gelb zur Beseitigung des Fachkräftemangels
und zu Maßnahmen mit Blick auf die Überalterung unse-
rer Gesellschaft nichts ein. Bundesministerin von der
Leyen will sich mit marginalen Korrekturen wie der be-
fristeten Aussetzung der Vorrangprüfung in bestimmten
Branchen begnügen. Selbst das ist in der Union umstrit-
ten. Der Bundesinnenminister kann sich ein Punktesys-
tem überhaupt nicht vorstellen. Er möchte der Fachkräf-
tezuwanderung lediglich „besondere Aufmerksamkeit“
widmen. Wie großzügig! Seehofer und Co. verweigern
jegliche Reformen auf diesem Gebiet. Die FDP kann
sich wieder einmal mit nichts durchsetzen. Das ist be-
zeichnend für sie.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Aydan Özoguz [SPD])


Deswegen wurde bei den letzten beiden Koalitions-
ausschüssen im November und Dezember eine Entschei-
dung zur Fachkräfteeinwanderung vertagt. Mit der Ver-
schiebung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zeigt die
Regierung, wie ineffizient sie arbeitet. Sie ist nicht ein-
mal in der Lage, ihre eigenen Prüfaufträge aus dem Ko-
alitionsvertrag abzuschließen. Seit mehr als einem Jahr
tut die schwarz-gelbe Koalition nur so, als ob sie regie-
ren würde. Das ist aber nicht wahr.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir fordern die Bundesregierung auf, endlich zu han-
deln. Die Einwanderungspolitik muss dem
21. Jahrhundert gerecht werden.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708405600

Das Wort hat nun Wolfgang Bosbach für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Wolfgang Bosbach (CDU):
Rede ID: ID1708405700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dem Antrag der
Grünen nicht zustimmt, ist sicherlich


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Tragisch!)


keine politische Sensation. Wir lehnen den Antrag aber
nicht ab, weil er von der Opposition oder speziell von
den Grünen kommt – ich füge hinzu: da habe ich schon
Schlimmeres von den Grünen gelesen –,


(Heiterkeit bei der CDU/CSU – Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das geht mir auch so!)


sondern wir lehnen den Antrag ab, weil er erstens auf-
grund der darin enthaltenen Vorschläge nicht geeignet
ist, einen wirksamen Beitrag zur Behebung des Fach-
kräftemangels zu leisten. Sie lösen ja gerade die notwen-
dige Verknüpfung von Zuwanderung und Zuwanderung
in den Arbeitsmarkt auf einen konkreten Arbeitsplatz
auf. Sie verlangen nicht, dass die Zuwanderung nur dann
erfolgen darf, wenn damit ein konkreter Arbeitsplatz be-
setzt werden kann.

Zweitens geht es Ihnen in dem Antrag – mein Kom-
pliment für Ihre Ehrlichkeit – ausdrücklich um eine Aus-
weitung der Zuwanderung, insbesondere aus Entwick-
lungsländern. Auch das geht aus dem Antrag hervor.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber qualifizierte Zuwanderung!)






Wolfgang Bosbach


(A) (C)



(D)(B)

Die Union ist jedoch der Überzeugung: Nicht mehr Zu-
wanderung, sondern mehr Integration ist das Gebot der
Stunde. Das ist für uns die wichtigste Aufgabe.


(Beifall bei der CDU/CSU – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dabei brauchten wir eine qualifizierte Zuwanderung in die Union!)


Im Grunde bietet der Antrag alten Wein in neuen
Schläuchen. Hier wird der alte § 20 des Gesetzentwurfes
von Rot-Grün zum Aufenthaltsgesetz reanimiert.


(Zuruf des Abg. Memet Kilic [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Das ist Ihr gutes Recht. Aber die Gründe, die damals
dazu geführt haben, diesen § 20 abzulehnen, sind die
gleichen, die heute zur Ablehnung führen.

Zunächst einmal zur Prognose. Es ist richtig, die Poli-
tik muss hören, was die betriebliche Praxis sagt. Es ist
richtig, die Politik muss hören, was die Wissenschaft
sagt. Wir müssen aber auch bedenken, was die Wissen-
schaft uns schon alles gesagt hat. Von dieser Stelle aus
haben wir vor zehn Jahren anlässlich der CeBIT 2000
um die Zuwanderung von IT-Fachkräften gerungen. Da-
mals sagten uns sogenannte Experten: Deutschland hat
einen Bedarf von 200 000 IT-Fachkräften. Die Bundes-
regierung hat daraufhin gesagt: So viele müssen es auch
nicht sein. Wir rechnen mit der Zuwanderung von
70 000.

Dann hat Rot-Grün aus lauter Vorsicht bei 20 000
eine Obergrenze eingezogen. Schließlich haben Sie die
Sonderregelung für die Zuwanderung von IT-Fachkräf-
ten auf den Weg gebracht.

Jetzt schauen wir uns die Zahlen einmal an. Bei einem
prognostizierten Bedarf von 200 000 kamen 2001 6 400;
2005 kamen dann noch schlappe 2 300.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das ist traurig! – Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil unsere Ausländerbehörden sich verweigern!)


Was Sie fordern, ist längst geltendes Recht. Wer IT-
Fachkraft ist, kann kommen. Es gibt keine Quoten, es
gibt keine Höchstzahlen, es gibt keine Begrenzungen.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur auf fünf Jahre begrenzt!)


– Für Drittstaatsangehörige. – IT-Fachkräfte können
kommen. Offensichtlich ist das Problem jedenfalls nicht
das Ausländerrecht. Möglicherweise sind andere Staaten
mit ihren Möglichkeiten attraktiver als die Bundesrepu-
blik Deutschland und ihre Arbeitgeber.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist es!)


Das hat aber erkennbar nichts mit dem Ausländerrecht
zu tun.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Zuruf des Abg. Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Herr Kilic, ich habe Ihnen doch ganz ruhig zugehört.
Ganz interessant ist: Ihr Vorbild im Antrag hinsicht-
lich der Zuwanderung sind Kanada und die USA. Merk-
würdigerweise sind Sie dann nicht konsequent und wol-
len die Sozialsysteme der USA und von Kanada nicht
bei uns einführen. Die wollen Sie natürlich nicht haben.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Natürlich nicht! Die wollen wir nicht!)


Sie können doch nicht gleichzeitig das Zuwanderungs-
recht der Bundesrepublik Deutschland, die Sozialsys-
teme der Bundesrepublik Deutschland und das Punkte-
system angloamerikanischer Länder haben wollen.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)


Die Zuwanderung in den Arbeitsmarkt dort funktioniert
gerade deshalb, weil diejenigen, die in die USA oder
nach Kanada gehen, genau wissen, dass diese Länder
nicht daran denken, Sozialleistungen zu zahlen, ohne
dass vorher durch Erwerbstätigkeit in die sozialen Siche-
rungssysteme eingezahlt worden wäre.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht doch jetzt um qualifizierte Zuwanderung! – Zuruf des Abg. Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Herr Kilic, es ist ja schön, dass Sie da Temperament
haben, aber ein wenig Respekt vor dem, der eine andere
Auffassung hat, sollten wir alle an den Tag legen.

Was ist das beste Mittel gegen den Fachkräftemangel?
Das beste Mittel ist erstens Qualifizierung und Vermitt-
lung von Arbeitslosen. Wer den Antrag liest, muss ja
glauben, wir hätten fünfmal mehr offene Stellen als Ar-
beitslose. Es ist genau umgekehrt: Wir haben fünfmal
mehr Arbeitslose als offene Stellen.


(Rüdiger Veit [SPD]: Dann tun Sie doch was!)


Wir müssen doch zunächst einmal die inländische Er-
werbsbevölkerung gleich welcher Staatsangehörigkeit in
Beschäftigung bringen, bevor wir nach mehr Zuwande-
rung rufen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kann man doch gleichzeitig tun!)


Zweitens ist eine gute Bildungspolitik zu nennen, und
zwar: nicht jedem Kind eine Bildung, sondern jedem
Kind seine Bildung. Wir lehnen die Einheitsschule nicht
aus ideologischen Gründen ab; wir lehnen sie ab, weil es
keine Einheitskinder gibt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Kinder haben unterschiedliche Interessen, unterschiedli-
che Talente, unterschiedliche Begabungen, und jedes
Kind soll individuell gefördert werden.

Drittens. Ein hoher Stellenwert sollte auch der beruf-
lichen Bildung zukommen.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Was für eine Märchenstunde hier im Parlament!)






Wolfgang Bosbach


(A) (C)



(D)(B)

Der Mensch beginnt nicht mit dem Akademiker. Wir be-
wundern tolle Entwürfe von Architekten, aber wir brau-
chen auch fleißige Bauhandwerker, die in der Lage sind,
diese Bauwerke zu errichten. Wir konzentrieren uns fast
ausschließlich auf die wissenschaftliche Ausbildung und
die Hochschulpolitik. Die berufliche Bildung hat bei uns
nicht den Stellenwert, den sie eigentlich haben müsste.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was tun Sie denn dagegen?)


Viertens. Es muss auch, bevor wir nach mehr Zuwan-
derung rufen, aufhören, dass wir systematisch ältere Ar-
beitnehmer aus dem Arbeitsmarkt verdrängen.


(Zuruf des Abg. Memet Kilic [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Wir alle haben doch Bürgersprechstunden. Ich kann
doch nicht der Einzige sein, bei dem 50- oder 55-Jährige
mit tollen Zeugnissen und langjähriger beruflicher Er-
fahrung erklären, dass sie keine Chancen mehr auf dem
heimischen Arbeitsmarkt haben. Es kann ja sein, dass
die Jüngeren schneller laufen, aber die Älteren kennen
die Abkürzungen. Da geht manche Erfahrung verloren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Vieles steht in dem Antrag nicht, was in ihm aber ste-
hen müsste.


(Zuruf von der FDP: Das sehe ich auch so!)


Wir werden ab dem 1. Mai 2011 die volle Arbeitnehmer-
freizügigkeit für die Menschen aus den neuen EU-Mit-
gliedstaaten haben. Wir wissen doch noch gar nicht, wie
sich das in den nächsten Jahren auswirken wird. In unse-
rem Land haben wir 167 000 arbeitslose Akademiker.
Sind sie alle keine Fachkräfte? Ich brauche jetzt keine
Belehrung; ich weiß selber, dass demjenigen, der einen
Maschinenbauingenieur sucht, mit einem Archäologen
nur begrenzt geholfen ist. Aber es kann doch nicht sein,
dass wir knapp 170 000 arbeitslose Akademiker haben
und gleichzeitig beklagen: Es gibt in unserem Lande
keine Fachkräfte.

Zwei Anmerkungen noch zum Schluss. Die für mich
problematischste Stelle in dem Antrag ist, wenn Sie da-
von schwärmen, dass es insbesondere in den USA und in
Großbritannien so viele Ärzte aus Afrika gibt.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir schwärmen nicht, wir problematisieren das! Das muss ich richtigstellen!)


– Ich muss Ihnen sagen, Herr Kollege Kilic, dass ich das
eher mit Sorgen sehe. Es arbeiten mehr Ärzte aus Mali in
England als in Mali selber. England hat eine Relation
von 35 Ärzten auf 10 000 Einwohner, in Mali ist es ein
Arzt auf 10 000 Einwohner. Sie problematisieren das
und lösen das Problem wie folgt – da muss man sich
wirklich beim Lesen festhalten –:

Wenn Migrantinnen und Migranten durch Rück-
überweisungen, die Anbahnung von Geschäftsbe-
ziehungen, Investitionen und Know-how-Transfer
zur wirtschaftlichen Entwicklung ihrer Herkunfts-
länder beitragen …


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist auch Fakt! Das geschieht heute!)


Liebe Leute, welchen Know-how-Transfer soll denn ein
Arzt aus Mali, der in England arbeitet, für die Patienten
in Mali leisten? Denen ist doch nicht mit Geld geholfen,
sondern nur mit Zuwendung und ärztlicher Heilkunst.


(Beifall bei der CDU/CSU – Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso denken Sie dabei nicht an einen Ingenieur? Wieso denken Sie nicht an einen IT-Spezialisten?)


Kommen wir zum Ärztemangel in Deutschland, den
es tatsächlich gibt. In manchen Regionen finden wir
keine sogenannten Landärzte mehr und rufen dann nach
mehr Zuwanderung. Das hat doch nichts mit Ausländer-
recht zu tun, wohl aber jede Menge mit Inländerrecht.
Wir hatten 10 800 Zulassungen zum Medizinstudium
und über 40 000 Bewerber. Den Ärztemangel in
Deutschland beheben wir damit, dass wir jungen Leuten,
die Medizin studieren wollen, bei uns eine Chance ge-
ben. Dadurch beheben wir den Ärztemangel, aber nicht
dadurch, dass wir die Türen weiter aufmachen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind Regierung!)


Der Arbeitsmarkt bei uns ist nicht verriegelt. In den
letzten drei Jahren haben über 270 000 Drittstaatsange-
hörige den Weg nach Deutschland gefunden. Deutsch-
land ist ein weltoffenes und tolerantes Land. Aber wir
haben auch die Verpflichtung, zunächst diejenigen in
Beschäftigung zu bringen, die in Deutschland arbeitslos
sind, und das ist für uns die wichtigste Aufgabe.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708405800

Das Wort hat nun Rüdiger Veit für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1708405900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst

einmal ist die Idee – Herr Kollege Bosbach, da haben Sie
recht –, die in dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
verfolgt wird, so sensationell neu nicht. Interessanter
sind dann vielleicht schon die Debatte und die Positio-
nierungen, die heute – so nehme ich es jedenfalls an –
eingenommen werden. Wo die Grünen nun einmal recht
haben, haben sie recht.


(Beifall des Abg. Dr. Harald Terpe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir werden in unserer Gesellschaft weniger, und wir
werden überdies auch älter. Die Geburtenrate ist zu nied-
rig; die entsprechende negative Statistik in Europa füh-
ren wir zusammen mit den Italienern vom Schluss her
an. Der Wanderungssaldo – das haben wir auch gestern
noch einmal gehört und besprochen – ist negativ. Herr
Kollege Kilic hat zu Recht darauf hingewiesen: Selbst





Rüdiger Veit


(A) (C)



(D)(B)

bei der Zuwanderung von Hochqualifizierten und Quali-
fizierten zum Teil auf sehr konkrete Arbeitsplatzange-
bote ist ein Rückgang im letzten Jahr im Vergleich zu
den Vorjahren zu verzeichnen.

Im Übrigen haben wir deswegen schon im Jahre 2001
in der Unabhängigen Kommission Zuwanderung, die
von Frau Professor Süssmuth geleitet wurde – Stellver-
treter war Hans-Jochen Vogel –, es für richtig und gut
gehalten, ein Auswahlverfahren, ein Punktesystem zu
schaffen, mit dem wir Zuwanderung gezielt organisie-
ren. Als rot-grüne Mehrheit haben wir dies damals im
Bundestag aufgegriffen und in der Tat, Herr Kollege
Bosbach, in dem § 20 umsetzen wollen, wohingegen die
Union uns dies mit dem Argument „Kinder statt Inder“
wieder herausgeschossen hat; der eine oder andere wird
sich vielleicht noch daran erinnern.

Ich war damals im Übrigen gar nicht so furchtbar
traurig darüber, dass dieser Punkt herausgenommen wor-
den ist – jedenfalls nicht so traurig wie bei anderen
Punkten –, weil mir klar war: Eines Tages wird der Zeit-
punkt kommen, an dem die Wirtschaft selbst oder ihre
Interessenvertreter hier im Bundestag, die FDP, ange-
sichts der demografischen Entwicklung auf den Plan tre-
ten und sagen werden, dass wir dringend zusätzliche
Fachkräfte benötigen und deshalb Zuwanderung organi-
sieren müssen. Diese Diskussion läuft jetzt seit dem letz-
ten Herbst.

Schließlich haben wir, die SPD-Fraktion, in einem
Papier vom April 2009 zum Thema Migrationspolitik
ausdrücklich darauf hingewiesen, dass wir ein Zuwande-
rungsverfahren nach Punktesystem für richtig halten.

So ist es, und so bleibt es auch. Damit aber klar wird,
welche Prioritäten wir setzen: Wir müssen uns zunächst
einmal all denjenigen widmen, die bereits in Deutsch-
land leben. Da gibt es in der Tat gewisse Unterschiede zu
Bündnis 90/Die Grünen, auf die ich noch im Einzelnen
zu sprechen kommen werde, gerade was den vorliegen-
den Antrag angeht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die
Grünen, ich finde es – darf ich das so sagen? – vielleicht
ein kleines bisschen naiv, ausgerechnet von dieser Bun-
desregierung zu erwarten, dass sie uns einen Gesetzent-
wurf dazu vorlegt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. HansPeter Uhl [CDU/CSU]: Sie sprechen aus Erfahrung, Herr Veit!)


– Ich spreche aus der Erfahrung, die ich in über einem
Jahr gesammelt habe. Wir warten noch darauf, dass Sie
mit dem Regieren beginnen. Sie sind in einem Lernpro-
zess begriffen, der selten von Erfolg gekrönt ist. Manch-
mal ist man über die Ergebnisse eher erschrocken. Herr
Kollege Dr. Uhl, damit das nicht vergessen wird: Ich bin
stolz auf gemeinsame Regierungsjahre; die Große Koali-
tion war gelegentlich besser als ihr verbreiteter Ruf.


(Beifall des Abg. Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD] – Hartfrid Wolff [RemsMurr] [FDP]: Na ja!)

Wir wollen aber gar nicht nur allgemein über diese
Regierung und die Mehrheitsfraktionen reden, sondern
über die Frage, wie Sie sich hierzu positionieren. Nun
wurde unter der Überschrift „Zuwanderung: De
Maizière blockiert“ im Handelsblatt geschrieben, er sei
dagegen, grundsätzlich, zunächst. Am Schluss des Be-
richts wird richtigerweise gesagt, dass Deutschland nach
Auffassung der Regierung „an erster Stelle sein inländi-
sches Arbeitskräftepotenzial besser ausschöpfen“ solle.
Darüber kann und muss man in der Tat reden.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das ist ja nicht falsch!)


– Ich höre sogar Zustimmung von der FDP. – In der Welt
vom 20. Januar, also von heute, liest es sich ganz anders:
Während die FDP massiv für eine verstärkte gesteuerte
Zuwanderung eintritt, so auch Herr Brüderle, der da zi-
tiert wird, ist es nun ausgerechnet Frau Haderthauer, die
bayerische Arbeitsministerin, die gesagt hat – das muss
ich einfach zitieren –:

„Wir haben keinen echten Fachkräftemangel, so-
lange die Rahmenbedingungen für unsere jungen
Leute gekennzeichnet sind von befristeten Arbeits-
verträgen, unflexiblen Arbeitszeitmodellen und un-
befriedigenden Gehältern.“ Was die Wirtschaft be-
klage, sei doch in Wirklichkeit „ein Mangel an
Arbeitnehmern, die bereit sind, zu diesen Bedin-
gungen zu arbeiten“.


(Beifall der Abg. Daniela Kolbe [Leipzig] [SPD])


Das ist der Punkt. Diese Übereinstimmung mit der Ein-
schätzung von Frau Haderthauer sollte einen eigentlich
nachdenklich stimmen.

Wir wollen Ihnen jedenfalls klar und deutlich sagen,
dass man zwar immer darüber reden kann, ob man mit
einer kleinen Zahl von Anwerbungen beginnt, um das
System auszuprobieren – das war auch 2001 und 2002
unsere Vorstellung –, man aber, bevor man in großer
Zahl Zuwanderung organisiert, daran denken muss und
soll: Wir haben trotz Aufschwung immer noch 3 Millio-
nen Arbeitslose, von denen etwa ein Drittel länger als
ein Jahr arbeitslos ist. Wir haben in Deutschland immer
noch 1,5 Millionen Jugendliche ohne Berufsabschluss.
Wir haben – auch das ist eine Schande, eine Vergeudung
von Ressourcen und eine Beeinträchtigung menschlicher
Entwicklungen und Schicksale – immer noch 300 000,
400 000, 500 000 oder 600 000 Menschen ausländischer
Herkunft in Deutschland – lassen Sie uns nicht über die
Zahlen streiten –, deren Berufsabschlüsse nicht vernünf-
tig anerkannt werden; da ist diese Koalition und diese
Regierung nunmehr endlich gefordert. Wir haben die
Problematik, die mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit für
Menschen aus den neuen EU-Mitgliedstaaten ab dem
1. Mai verbunden ist; niemand kann eine Prognose dazu
abgeben, jedenfalls fühle ich mich dazu nicht imstande.
Wir haben immer noch – ich werde nicht müde, Ihnen
das auch an dieser Stelle zu sagen – eine fünfstellige,
vielleicht sogar eine sechsstellige Zahl von in Deutsch-
land lebenden lediglich geduldeten Mitbürgerinnen und
Mitbürgern – wir haben dieses Thema schon gestern an-





Rüdiger Veit


(A) (C)



(D)(B)

gesprochen –, die ohne Perspektive hier sind und denen
man erst einmal Gelegenheit geben sollte, in Deutsch-
land ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Viele von ih-
nen sind bereits in Deutschland geboren oder hier aufge-
wachsen und haben Integrationsleistungen erbracht.
Man sollte auf die Gruppe der jetzt schon bei uns leben-
den Menschen Rücksicht nehmen und sie mit entspre-
chender Bildung gezielt fördern, anstatt nur an die Zu-
wanderung von außen zu denken.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Uwe Schummer [CDU/CSU] und Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind
also nach wie vor für eine gesteuerte Zuwanderung nach
Punkten und mit Auswahlverfahren. Wir sagen aber
auch: Wir brauchen zunächst


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Ja, so halb und halb!)


eine inländische Allianz für Fachkräfte, eine Allianz
zwischen den Beteiligten im Wirtschaftsgeschehen, aber
auch aller staatlichen Ebenen, von Kommunen, Land
und Bund. Auch das tut not. Da gibt es einiges zu regeln.

Ich habe schon die Unterlassungen dieser Regierung
und der Koalitionsfraktionen bei der Anerkennung aus-
ländischer Abschlüsse angesprochen. So könnte man das
beliebig fortsetzen. Wir brauchen flexible Arbeitszeit-
modelle, eine Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die
durch entsprechende Kinderbetreuungsangebote noch
besser gelingt – auch das verweigern Sie –, und wir
brauchen für eine Reihe von Berufen attraktive Arbeits-
bedingungen; das heißt vor allen Dingen attraktive
Löhne. Denn es geht ja nicht nur darum, dass es die
Leute nicht gibt, um bestimmte Arbeitsplätze zu beset-
zen; vielmehr werden Arbeitsplätze auch deswegen nicht
angenommen, weil sie nicht vernünftig entlohnt werden.
Wir brauchen auch Mindestlöhne. Das ist notwendig,
aber auch hier verweigert diese Koalition entsprechende
Taten. Wir haben hier mehr oder weniger nur hohle und
leere Worte gehört.

Noch einmal: In der Tendenz sind wir durchaus bei
Bündnis 90/Die Grünen. Wir wollen vorher aber durch
eine Allianz für Fachkräfte, durch eine entsprechende
Offensive für die bereits in der Bundesrepublik lebenden
Menschen die Voraussetzungen dafür schaffen, dass alle
Potenziale genutzt werden. Da sind wir uns mit man-
chem Diskussionsbeitrag wieder einig.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708406000

Das Wort hat nun Hartfrid Wolff für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Stim-

men für eine Zuwanderungssteuerung nach klaren, trans-
parenten, zusammenhängenden und nachvollziehbaren
Kriterien mehren sich in allen Fraktionen und Parteien.
Die FDP freut sich darüber. Wir Liberalen haben in den
vergangenen Legislaturperioden dafür bereits entschei-
dende Anstöße gegeben. Nun steht dieses Ziel auch im
Koalitionsvertrag mit den Unterschriften von Angela
Merkel, Guido Westerwelle und Horst Seehofer.

Dabei geht es uns nicht einfach nur um die demogra-
fische Entwicklung. Es geht auch nicht einfach nur um
die Alterung der Gesellschaft oder andere statistisch dar-
stellbare Prozesse. Uns geht es vor allem um die Men-
schen. Wir Liberale wollen Chancen eröffnen. Wir wol-
len nicht falsche Versprechungen auf Kosten anderer
Leute machen, sondern Perspektiven eröffnen. Wir wol-
len, dass die Menschen, die zu uns kommen, sich ihre
Zukunft selbst erarbeiten können.

Das bisherige Recht zur Arbeitsmigration ist voller
bürokratischer Hemmnisse,


(Zuruf vom Bündnis 90/Die Grünen: Hört! Hört!)


und zwar nicht nur in der sachlichen Regelung selbst,
Herr Staatssekretär, sondern vor allem in seiner unüber-
sichtlichen Struktur, die für einen Außenstehenden kaum
zu durchschauen ist.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)


Weder Menschen, die sich für die Zuwanderung nach
Deutschland interessieren, noch die Menschen hierzu-
lande, die Ängste in Bezug auf die Zuwanderung haben,
können das gegenwärtige Zuwanderungsrecht abschät-
zen oder seine Wirkung durchschauen. Daraus resultie-
ren häufiger Ablehnung und Skepsis in Bezug auf Zu-
wanderung nach Deutschland, und zwar auf beiden
Seiten – bei Inländern und Ausländern.

Wir meinen, Deutschland braucht klare, faire und ein-
fache Regeln. Wir brauchen Vertrauen in eine verlässli-
che und sinnvoll gesteuerte Zuwanderung.

Die demografische Entwicklung lässt erwarten, dass
wir mittelfristig den wirtschaftlichen Standard nicht
mehr werden halten können, wenn wir uns nicht für qua-
lifizierte Zuwanderung öffnen. Davon sind alle Men-
schen in unserem Land betroffen. Unser Wohlstand so-
wie unsere Fähigkeit, Menschen in Not etwa durch
Sozialleistungen zu helfen, gerät in Gefahr, wenn die da-
für notwendige Wertschöpfung nicht mehr gelingt.

In Baden-Württemberg etwa hat sich die Koalitions-
regierung aus Union und FDP und besonders der für In-
tegration zuständige Minister Professor Goll mit diesen
Zukunftsfragen intensiv befasst. Hier fehlen bereits
heute rund 37 000 Fachkräfte.

McKinsey hat ermittelt: Deutschland benötigt 2020
– das ist in neun Jahren – rund 250 000 Akademiker und
250 000 Fachkräfte mehr als heute, davon die Hälfte in
den eher technisch geprägten Wachstumskernen. Zur





Hartfrid Wolff (Rems-Murr)



(A) (C)



(D)(B)

Deckung dieses Bedarfs wäre bei heutiger Abbrecher-
quote ungefähr eine Verdopplung der Studienanfänger-
zahlen nötig. Lieber Kollege Bosbach und andere, es ist
absolut utopisch, zu glauben, eine Verdopplung der Stu-
dienanfängerzahlen bei anhaltend niedriger Geburten-
quote im eigenen Land erreichen zu können. Das ist ma-
thematisch schlicht nicht möglich.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr richtig!)


Wir werden es selbst bei Verbesserungen im Bildungs-
wesen in einem geradezu unvorstellbaren Ausmaß nicht
schaffen, diese Zahlen zu erreichen.

Deshalb hat die Koalition zu Recht vereinbart: Wir
brauchen ein System, dass die Zuwanderung nach klaren
Kriterien steuert und unsere Interessen und Erwartungen
an die Zuwanderer klar definiert. Entscheidend ist: Wen
wollen wir nach Deutschland einladen? Wer kann unsere
Gesellschaft weiterbringen? Für diese Menschen brau-
chen wir eine Willkommenskultur, die es Hochqualifi-
zierten und Fachkräften aus dem Ausland leichter macht,
sich für Deutschland zu entscheiden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deutschland ist im Wettbewerb um die weltweit bes-
ten Köpfe weit zurückgefallen. Deutschland verliert der-
zeit sogar Fachkräfte: Es wandern mehr Fachkräfte ab
als zu. Andere Staaten wie Kanada und natürlich die
USA, aber auch Dänemark und Großbritannien ziehen
die Besten der Welt an. Wir hingegen erlauben es uns,
mit hohen bürokratischen Hürden, intransparenten Re-
geln und einer mangelhaften Zuwanderungskonzeption
die Besten der Welt an Deutschland vorbeiziehen zu las-
sen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Wir erlauben es uns in Deutschland sogar, ausgebildete
Fachkräfte aus Drittstaaten auf dem Arbeitsmarkt nach-
rangig zu behandeln und sie lieber ziehen zu lassen, als
sie hier zu beschäftigen.

Es ist gut, dass diese Koalition verbindlich vereinbart
hat, diese kurzsichtige Kirchturmpolitik zu beenden. Wir
brauchen eine Systematisierung des bestehenden Rechts
zur Fachkräftezuwanderung: klarer, einfacher, transpa-
renter.


(Zuruf von der FDP: Gerechter!)


Wir brauchen schnelle Entscheidungen, also eine Vor-
rangprüfung bei ausländischen Fachkräften innerhalb
von zwei Wochen. Wir brauchen eine Senkung des Min-
desteinkommens und gezielte Anwerbemöglichkeiten.


(Rüdiger Veit [SPD]: Wir brauchen Mindestlöhne!)


– Wir reden nicht über Protektionismen, die Sie gerade
angesprochen haben, Herr Kollege Veit. – Als ersten
Schritt schlagen wir eine Genehmigungsfiktion für die
Vorrangprüfung und die Senkung des Mindesteinkom-
mens auf 40 000 Euro vor.

(Beifall bei der FDP – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir ja auch vorgeschlagen!)


Trotz des sympathischen Titels des vorliegenden An-
trags der Grünen wollen die Grünen etwas anderes. Sie
wollen eine Erhöhung der Nettoeinwanderung. Sie wol-
len nur kompensatorische Maßnahmen für die befürch-
tete demografische Entwicklung. Die Grünen wollen die
Kriterien, die sie zunächst für die Zuwanderungssteue-
rung fordern, sofort wieder aushebeln. Bildungsanforde-
rungen sollen nach Auffassung der Grünen nicht mehr
gestellt werden, wenn ein Zuwanderer sie, etwa auf-
grund der Wahrnehmung von Familienpflichten, nicht
erfüllen konnte. Damit wird vor allem der unqualifizier-
ten Zuwanderung aus Regionen mit aus unserer Sicht
nicht mehr zeitgemäßen Familienvorstellungen Tür und
Tor geöffnet.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat uns jetzt tief getroffen!)


Gesteuerte Zuwanderung ist kein Selbstzweck, son-
dern ökonomische und gesellschaftliche Notwendigkeit.
Verbindliche Kriterien sind notwendig.


(Rüdiger Veit [SPD]: Wo ist euer Gesetzentwurf? – Gegenruf des Abg. Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: In der Schublade!)


Zuwanderung nach Deutschland ist keine Zuwanderung
in einen leeren Raum, sondern in eine gewachsene Kul-
tur. Wer hierher zuwandert, muss sich auch hier integrie-
ren wollen, das heißt sich unsere Sprache und unsere
Grundwerte überzeugend zu eigen machen. Nur so eröff-
net sich für sie die Perspektive, Deutsche zu werden und
auch als solche anerkannt zu werden.


(Rüdiger Veit [SPD]: Das klingt manchmal gar nicht so schlecht!)


Die Zukunft unseres Landes hängt davon ab, dass wir
uns weiterentwickeln können, nicht stehen bleiben und
die entsprechenden Kapazitäten dafür haben.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das geht gegen die Union, was Sie jetzt sagen!)


Dazu müssen wir das Problem des Fachkräftemangels
dringend beheben. Lieber Herr Kollege Veit, Gewerk-
schaften und Arbeitgeber sind sich einig, dass der ge-
steuerte Zuzug von Fachkräften nach Deutschland nach
klaren, transparenten und richtig gewichteten Kriterien
einen Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit bei
uns darstellt.


(Rüdiger Veit [SPD]: Habe ich das bestritten?)


Der Einsatz jeder weiteren Fachkraft zieht weitere Ar-
beitsplätze nach sich.


(Rüdiger Veit [SPD]: Sag’ das mal denen von der Union!)


Es geht aber nicht um ein schlichtes Mehr an Zuwan-
derung, sondern es geht um ein System, das für den
Deutschland-Interessierten durchschaubar ist, ihm seine
Chancen aufzeigt und deutlich macht, wen wir brauchen.





Hartfrid Wolff (Rems-Murr)



(A) (C)



(D)(B)

Es geht um eine Regelung, die auch den Menschen hier-
zulande das Gefühl gibt, dass diese Zuwanderer unsere
Gesellschaft bereichern und uns alle gemeinsam voran-
bringen.


(Beifall bei der FDP – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann kommen die denn? – Rüdiger Veit [SPD], an Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] gewandt: Josef, hast du die Rede geschrieben?)


Diese Koalition hat dies im Koalitionsvertrag verein-
bart und wird noch in dieser Legislaturperiode die Wei-
chen dafür stellen.


(Rüdiger Veit [SPD]: Da sind wir aber neugierig!)


Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708406100

Das Wort hat nun Kollegin Sevim Dağdelen für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708406200

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Auf der Internetseite meines geschätzten Kolle-
gen Kilic von den Grünen


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich danke Ihnen!)


steht zum Punktesystem Folgendes:

Hier geht es um die Einwanderung von Fachkräf-
ten, die Deutschland in einigen Branchen dringend
benötigt. Die in Arbeit stehenden ausländischen
Fachkräfte werden mit ihren Steuerzahlungen dazu
beitragen, unser Sozialversicherungssystem auf-
rechtzuerhalten.

Sie, Herr Kilic, und die Grünen insgesamt – so ist mein
Eindruck – verstehen Einwanderinnen und Einwanderer
anscheinend nur als Ware.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie redest du wohl erst über nicht geschätzte Kollegen? – Weitere Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh! Oh! – Sie sind aber gemein zu uns!)


Sie beurteilen Migration bzw. Migrantinnen und Mi-
granten nämlich fast ausschließlich unter dem Gesichts-
punkt des volkswirtschaftlichen Nutzenkalküls.

Dieses Zitat hört sich für viele Menschen in Deutsch-
land gar nicht so schlimm an. In den 90er-Jahren war es
noch verpönt, unter Nützlichkeitserwägungen über Men-
schen zu sprechen. Damals, Anfang der 90er-Jahre, als
viele Asylbewerberheime brannten,


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht doch jetzt nicht um Asylbewerber! Es geht um Arbeitsmarktzuwanderer!)


war es verpönt, darüber zu sprechen, ob Menschen für
unsere Gesellschaft nützlich sind oder nicht. Heute ist
das anders, weil der neoliberale Mainstream mittlerweile
überall fest verankert ist.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Allerdings! Selbst bei Herrn Kilic, wie Sie sehen!)


Ich kann den Grünen nur sagen: Eine auf der Basis
von Arbeitsmarktkriterien betriebene und nur ökono-
misch legitimierte Migrationspolitik führt zu sozialer
Exklusion und rechtspopulistischen Ressentiments ge-
gen Einwanderer und Minderheiten à la Sarrazin & Co.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Und à la Lafontaine!)


Das ist die Erfahrung aus Kanada, meine Damen und
Herren.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist die Selbstdisqualifizierung der Linken! – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Aha! Die Linken wollen sich also abschotten!)


Sie sagen: Es gibt einen Fachkräftemangel. Ich sage:
Das ist ein Mythos. Das denkt übrigens nicht nur die
Linke. So spricht zum Beispiel auch der Focus vom
„Mythos Fachkräftemangel“;


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh! Der Focus ist natürlich ein guter Kronzeuge! – Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt ja auch noch die Bild-Zeitung! Haben Sie da vielleicht auch etwas gelesen?)


der Focus ist wahrlich kein linkes oder linksliberales
Blatt.

Hinzu kommt, dass es in Deutschland keinen flächen-
deckenden Fachkräftemangel gibt, weder aktuell noch
auf absehbare Zeit.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Bei den Linken ist der Fachkräftemangel am größten!)


Das sagt selbst das Deutsche Institut für Wirtschaftsfor-
schung in Berlin; auch das ist kein linksliberaler oder
linker Thinktank.

Lesen Sie sich ruhig einmal den Wochenbericht
Nr. 46 des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung
vom November letzten Jahres durch. Dann werden Sie
erfahren, dass es für ein derzeit generell knappes Arbeits-
kräfteangebot keine Belege gibt. Weder die untersuchte
Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt noch die Lohn-
entwicklung noch die Ausbildungssituation lassen den
Schluss auf einen Fachkräftemangel zu. Die Studenten-
zahlen zeigen laut dieser Studie, dass der Bedarf in den
akademisch-naturwissenschaftlich-technischen Berufen
in den kommenden Jahren gedeckt werden kann.





Sevim Daðdelen


(A) (C)



(D)(B)


Sevim Dağdelen

(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und was machen wir jetzt? Müssen deshalb die Grenzen abgeschottet werden, oder was?)


Auch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsfor-
schung der Bundesagentur für Arbeit sieht keinen flä-
chendeckenden Fachkräftemangel. Ich kann Ihnen aber
sagen, woran es einen Mangel gibt: Es gibt einen Man-
gel an gut bezahlten Arbeitsplätzen in Deutschland. Der
Bedarf an Fachkräften könnte in Anbetracht der hohen
Erwerbslosigkeit problemlos gedeckt werden, wie selbst
das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung sagt.
Doch wollen die deutschen Unternehmen – auch das
stellte dieses Institut fest – nicht den gerechten Preis für
eine gute Arbeit bezahlen.

An dieser Stelle verweist das DIW zu Recht auf die
Lohnentwicklung. Die Preise sind in Deutschland und
anderswo nach wie vor Indikator für Knappheiten auf
den Märkten.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das ist auch gut so! Alles andere wäre Planwirtschaft!)


Wenn es also einen allgemeinen Fachkräftemangel gäbe,
müsste er sich ja auch bei der Lohnentwicklung zeigen.
Es zeigt sich aber, dass die Löhne in Deutschland immer
noch sinken. Das heißt, die Lohnentwicklung in
Deutschland macht deutlich, dass es diesen Fachkräfte-
mangel so nicht gibt.


(Beifall bei der LINKEN – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Diese Logik kannst du für dich behalten! Die kann nämlich kein anderer verstehen!)


Meine Damen und Herren von den Grünen, eines
finde ich unerträglich:


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! Kommt jetzt etwa der Vorwurf „menschenverachtend“?)


Mit dem Punktesystem sollen ausländische Fachkräfte
angezogen werden, um das deutsche Sozialversiche-
rungssystem am Leben zu erhalten. War es nicht Rot-
Grün, die mit der Agenda 2010, durch den Abbau von
Sozialleistungen und die Entlastung von Unternehmen
mehr Arbeitsplätze schaffen wollten? War es nicht Rot-
Grün, die durch die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe
und die Einführung von Hartz IV Hunderttausende in
Armut und soziale Ausgrenzung getrieben haben,


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Falsches Thema!)


die die Beschäftigten durch eine drastische Kürzung des
Arbeitslosengeldes und die Verschärfung der Zumutbar-
keitsregelungen erpressbar gemacht haben


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was hat das denn mit Zuwanderung zu tun? So ein Unsinn!)


und Lohndumping Vorschub geleistet haben, vor allen
Dingen durch Leiharbeit?

(Beifall bei der LINKEN – Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach! Sie spielen doch den einen gegen den anderen aus!)


Sie tun so, als würden ausländische Fachkräfte jetzt
das Problem beheben können, das Sie geschaffen haben.
Sie sagen: Deutschland braucht Fachkräfte. Wir als
Linke sagen: Deutschland hat Fachkräfte.


(Beifall der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE] – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber scheinbar nicht in Ihrer Fraktion!)


Das Problem ist aber, Fachkräfte drehen Deutschland
zunehmend den Rücken zu. Sie verlassen Deutschland.
Wir haben gestern hier mit Herrn Bundesinnenminister
de Maizière den Migrationsbericht 2009 beraten. Die
bittere Erkenntnis aus diesem Migrationsbericht ist, dass
Deutschland ein Auswanderungsland ist. Von den Deut-
schen, die aus Deutschland wegziehen und im Ausland
erwerbstätig sind, hat etwa die Hälfte einen Hochschul-
abschluss,


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir können doch nicht wieder eine Mauer hochziehen!)


über 40 Prozent von ihnen besitzen einen mittleren Bil-
dungsabschluss. Mehr als ein Drittel sind Wissenschaft-
lerinnen und Wissenschaftler, knapp 20 Prozent Techni-
ker und 17 Prozent Führungskräfte.


(Zuruf von der FDP: Weil wir so hohe Steuern haben!)


Mehr als die Hälfte der Deutschen, die im Jahr 2009 ins
Ausland gezogen sind, war zwischen 25 und 50 Jahre alt,
etwa ein Fünftel war jünger als 18 Jahre.

Es ist doch auch kein Wunder, dass diese Menschen
gehen. Deutschland ist inzwischen ein Niedriglohnland
geworden. Eine Ausbildung schützt längst nicht mehr
davor, im Niedriglohnsektor zu landen. Laut Institut Ar-
beit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen
ist der Anteil der Betroffenen mit abgeschlossener Be-
rufsausbildung zwischen 1995 und 2008 von 63,4 Pro-
zent auf 71,9 Prozent gestiegen. Werden Erwerbstätige
mit Hochschulabschluss dazugerechnet, sind vier von fünf
„Niedriglöhnern“ so gut qualifiziert, um in Deutschland
als Fachkraft oder auch als hochqualifiziert zu gelten.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb soll jetzt keiner mehr einwandern dürfen, oder was? Das ist eine komische Logik!)


Sie wandern aus, weil sie keine gut bezahlte Arbeit fin-
den. Auch vielen Ostdeutschen ist es in den letzten
20 Jahren so ergangen. Und ein Ende ist mit Ihrer Politik
einfach nicht in Sicht.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist Ihre Lösung?)


Für die Fachkräfte mit Migrationshintergrund, Herr
Kilic, ist ein Land einfach unattraktiv, in dem nicht erst





Sevim Daðdelen


(A) (C)



(D)(B)


Sevim Dağdelen
die Sarrazin-Debatte rassistische Spuren hinterlassen
hat. In einem so ausländerfeindlichen gesellschaftlichen
Klima wie in Deutschland möchten viele Fachkräfte mit
Migrationshintergrund einfach nicht leben.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben sie Ihnen das erzählt? Stand das im Focus?)


– Ja, Herr Winkler, das erzählen mir viele. Und was ist
Ihr Problem damit?


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb darf keiner mehr einwandern, oder?)


Das erzählen mir nicht nur viele, sondern es ist auch in
Studien mehrfach belegt worden, dass viele Menschen
auswandern, weil sie die Diskriminierungen in diesem
Land einfach satthaben.


(Beifall bei der LINKEN)


Das könnten Sie auch einmal bestätigen; denn Sie wis-
sen sehr genau, dass das so ist.

Sie sagen, Deutschland brauche Fachkräfte, und Sie
führen das auf die demografische Entwicklung zurück.
Das ist moderne Kaffeesatzleserei. Wir werden uns je-
denfalls nicht daran beteiligen, Prognosen über einen
Zeitraum von knapp einem halben Jahrhundert abzuge-
ben. Das ist einfach unseriös, und dies wird Ihnen jede
Expertin oder jeder Experte bestätigen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich möchte vor allen Dingen noch einmal daran erin-
nern, dass Demografie auch immer wieder als Mehr-
zweckwaffe genutzt wird. Ich möchte daran erinnern,
dass Anfang der 90er-Jahre viele Medien, aber auch
viele Politikerinnen und Politiker die Demografie be-
müht haben, um das Recht auf Asyl in Deutschland fak-
tisch abzuschaffen. Damals hieß es: „Das Boot ist voll!“
Heute heißt es: „Raum ohne Volk“, wie der Spiegel
schon im Jahr 2000 in reichlich geschmackloser Art ti-
telte. Ich finde: Demografie ist kein Problem, das man
überhaupt nicht beeinflussen kann.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Linke will uns abschotten!)


Wenn es ein demografisches Problem gibt, liegt das da-
ran, dass wir keine gute Familienpolitik, dass wir keine
gute Arbeitsmarktpolitik und keine gute Bildungspolitik
haben. Das alles ist veränderbar.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn Sie von Demografie sprechen, dann müssen Sie
auch zur Kenntnis nehmen, dass vor 100 Jahren auf ei-
nen über 65-Jährigen noch zwölf Erwerbstätige kamen,
vor 50 Jahren waren es noch sieben, vor 20 Jahren waren
es vier. Ein Problem war das nicht; denn ein Problem mit
der Demografie besteht nur bei sinkender Produktivität.
Die Produktivität in Deutschland ist jedoch steigend und
bildet so die Basis für die sozialen Sicherungssysteme in
Deutschland, die nicht abgeschafft oder zerstört gehören
wegen des Mythos des demografischen Wandels.

(Beifall bei der LINKEN)


Sie haben den Braindrain angesprochen. Ich kann nur
dazu ermuntern, sich auch einmal die Entwicklungslän-
der anzuschauen, die ganz klar und deutlich sagen, sie
wollen keine Fachkräfte, die sie in ihren Ländern unter
ganz schwierigen Bedingungen ausbilden und für ihr
Land und ihre Zukunft nutzen wollen, in die Industrie-
staaten schicken, damit sie dort dazu benutzt werden
können, die Länder des Südens noch mehr auszubeuten
und von den Industriestaaten ausgeplündert zu werden.
Das ist keine Entwicklungspolitik, an der sich die Linke
beteiligen kann.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708406300

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.


Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708406400

Ja, ich komme zum Schluss. – Sie haben ein Problem

mit Fachkräften in Deutschland? Ich fordere, endlich
eine gesetzliche Ausbildungsplatzumlage zu beschließen
– das hatte Rot-Grün vor Jahren einmal versprochen,
aber nie eingeführt –,


(Rüdiger Veit [SPD]: Doch, wir haben es gemacht! Das ist im Bundesrat gescheitert! – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist im Bundesrat gescheitert! Machen Sie keine Geschichtsklitterung!)


damit jeder Jugendliche einen Ausbildungsplatz findet.
Beschließen Sie ferner einen gesetzlichen Mindestlohn
von 10 Euro; denn wir wollen nicht, dass Solidarität,
Gleichheit – –


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708406500

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.


Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708406600

Ja, das ist mein letzter Satz, Herr Präsident.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708406700

Bitte kommen Sie zum Ende.


Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708406800

Wir wollen nicht, dass Solidarität, Gleichheit, Ge-

rechtigkeit und Humanität hier im Säurebad der Konkur-
renz verschwinden.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708406900

Das Wort hat nun der Parlamentarische Staatssekretär

Ole Schröder.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Glückwunsch!)







(A) (C)



(D)(B)

D
Dr. Ole Schröder (CDU):
Rede ID: ID1708407000


Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es wird niemand die Notwendigkeit bestreiten,
dass wir uns um das Thema Fachkräfte kümmern müs-
sen. Die Bundesregierung kümmert sich um dieses
Thema. Das haben wir in der Vergangenheit gemacht,
und das tun wir auch in der Zukunft.

Wir kümmern uns auch um die Qualifizierung. Noch
nie wurde so viel Geld für Bildung ausgegeben wie zu
Zeiten dieser Regierung. Wir sind offen für Hochqualifi-
zierte, aber die Gewinnung von Fachkräften ist nicht al-
leine Aufgabe des Staates, nicht alleine Aufgabe der Re-
gierung und auch nicht alleine Aufgabe des Parlaments.
Sondern in einer sozialen Marktwirtschaft ist es natür-
lich auch Aufgabe der Unternehmen, sich um Qualifizie-
rung zu kümmern


(Beifall bei der CDU/CSU)


und sich um die Qualifizierten auf dem inländischen und
dem europäischen Arbeitsmarkt zu bemühen, aber natür-
lich auch offen zu sein für Fachkräfte auf dem weltwei-
ten Arbeitsmarkt.

Wenn man die Diskussionen der letzten Wochen ver-
folgt hat, dann hat man manchmal den Eindruck gehabt,
dass es alleine Aufgabe des Staates ist, den Unterneh-
men die Fachkräfte sozusagen frei zuzuführen. Das ist in
einer sozialen Marktwirtschaft mit Sicherheit nicht der
Fall, sondern es ist Aufgabe des Staates und der Unter-
nehmen, einen attraktiven Standort zu schaffen.

Attraktivität schafft man natürlich auch mit anständi-
gen Gehältern, die Fachkräften gezahlt werden müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Rüdiger Veit [SPD]: Mindestlohn!)


Attraktivität schafft man daneben natürlich auch da-
durch, dass auch in den Unternehmen darauf geachtet
wird, dass Beruf und Familie miteinander vereinbar sind,
dass eine Willkommenskultur für Fachkräfte von außen
geschaffen wird, dass Beschäftigungsmöglichkeiten für
den Ehepartner, der mitkommt, geschaffen werden und
dass auch die Belange des Kindes mitberücksichtigt wer-
den.

Einige behaupten nun, durch das Zuwanderungsrecht
werden die Unternehmen daran gehindert, Fachkräfte
nach Deutschland zu holen. Das ist doch nicht der Grund
dafür, weshalb zu wenige Fachkräfte nach Deutschland
kommen.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Immerhin haben Sie zugegeben, dass es zu wenige sind!)


Das hängt doch vom Gehalt ab, das gezahlt wird, und
davon, ob eine Willkommenskultur in den Unternehmen
vorhanden ist. Auch Sprachbarrieren spielen sicherlich
eine wichtige Rolle.

In einem Punkt enthält unser Zuwanderungsrecht al-
lerdings eine notwendige Filterfunktion. Wir wollen
nicht, dass ausländische Arbeitnehmer zu Dumpinglöh-
nen und damit auf Kosten von inländischen Arbeitneh-
mern nach Deutschland geholt werden,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


wenn diese Arbeitsplätze auch durch Inländer oder Euro-
päer besetzt werden können. Zu dieser Filterfunktion in
unserem Zuwanderungsrecht bekennen wir uns aus-
drücklich.

Natürlich haben die Unternehmen ein Interesse daran,
aus einem möglichst großen Pool bzw. Angebot an Ar-
beitskräften auf dem Arbeitsmarkt auszuwählen. Selbst-
verständlich ist das das Interesse der Unternehmen. Wir
holen Zuwanderer aber nur dann ins Land, wenn auch
wirklich eine Nachfrage besteht.


(Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Gemäß unserem Zuwanderungsrecht ist die Zuwan-
derung von ausländischen Arbeitskräften schon heute
zulässig, wenn Fachkräftemangel herrscht und die Zu-
wanderung eben nicht zu mehr Arbeitslosigkeit führt.

In welchem Maße unser Zuwanderungsrecht schon
jetzt offen ist, ist offensichtlich vielen nicht bekannt.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist uns nicht bekannt!)


Es wird auch viel vernebelt. Ich gebe zu, unser Auslän-
derrecht ist nicht immer leicht verständlich. Aber wenn
man die Regelungen genau liest, dann wird deutlich,
dass Zuwanderung möglich ist.

Es wird beispielsweise immer wieder behauptet, dass
die Einstellung ausländischer Hochqualifizierter mit ei-
nem Jahresgehalt unter 66 000 Euro nicht möglich ist.
Das ist schlichtweg Unsinn. Es gibt keine feste Gehalts-
grenze. In bestimmten Fallgruppen, zum Beispiel bei
Führungskräften, kann sogar auf die sogenannte Vor-
rangprüfung verzichtet werden. Das heißt, es kann kom-
plett auf die Prüfung verzichtet werden, ob eine Stelle
nicht auch von einem Inländer oder einem Unionsbürger
besetzt werden kann.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie davon Gebrauch gemacht?)


Die Gehaltsgrenze von 66 000 Euro ist nur für die
Frage maßgeblich, ob von Anfang an ein unbefristetes
Aufenthaltsrecht erteilt wird. Mit dieser Regelung, dass
mit einem Jahresgehalt ab 66 000 Euro ab dem ersten
Tag ein unbefristetes Aufenthaltsrecht gewährt wird, ste-
hen wir in Europa an der Spitze, was Offenheit angeht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Hochqualifizierte Wissenschaftler können sogar un-
abhängig von jeglicher Gehaltsgrenze nach Deutschland
kommen und haben vom ersten Tag an den Anspruch auf
ein unbefristetes Aufenthaltsrecht.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum kommen so wenige?)


Das deutsche Recht ist besser als sein Ruf. Auch
Fachkräfte mit einem Jahresgehalt unter 66 000 Euro
können kommen, wenn die Vorrangprüfung positiv be-
schieden wird. Sie erhalten dann aber zunächst eine auf





Parl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder


(A) (C)



(D)(B)

maximal drei Jahre befristete Aufenthaltserlaubnis. Das
ist weltweit ähnlich geregelt. Denn wenn jemand nach
kurzer Zeit arbeitslos wird und sich nicht integriert, dann
müssen wir die Möglichkeit haben, die Aufenthalts-
erlaubnis nicht zu verlängern.

Wenn von dem Punktesystem die Rede ist, wird oft so
getan, als wäre unser Zuwanderungsrecht mit einem
Punktesystem modern und ohne dieses System total ver-
staubt. Das ist Ideologie. Es ist schlichtweg falsch.


(Rüdiger Veit [SPD]: Das hat keiner gesagt!)


Wir müssen uns die Frage stellen, ob wir mit einem
Punktesystem eine bessere Steuerung erreichen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708407100

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Kilic?

D
Dr. Ole Schröder (CDU):
Rede ID: ID1708407200


Bitte schön.


Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708407300

Sehr geehrter Herr Schröder, Sie gehen in Ihrer Rede

davon aus, dass kein Zuwanderungsbedarf an Fachkräf-
ten existiert und mit den vorhandenen gesetzlichen Re-
gelungen alles unter Dach und Fach ist. Als Regierungs-
mitglied müssten Sie wissen, dass die CDU vor ein paar
Tagen in ihrer Mainzer Erklärung festgestellt hat, dass
die CDU die Zuwanderung von Fachkräften steuern
möchte. Das klingt so, als ob Handlungsbedarf besteht.
Wo sehen Sie auf diesem Gebiet Handlungsbedarf, oder
glauben Sie, dass alles von geltendem Recht gedeckt ist?

D
Dr. Ole Schröder (CDU):
Rede ID: ID1708407400


Selbstverständlich sind wir offen für Fachkräfte aus
aller Welt,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


die zu uns kommen, um zu arbeiten, wenn dies nicht zu-
lasten derjenigen geht, die hier einen Arbeitsplatz haben.
Wir wollen keine Zuwanderung aus Drittstaaten außer-
halb Europas, wenn dies zu höherer Arbeitslosigkeit
führt.


(Beifall bei der CDU/CSU – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wollen wir auch nicht!)


Die Frage ist, woran es liegt, dass wir für Fachkräfte
offensichtlich nicht so attraktiv sind, wie wir uns das
vorstellen. Sie meinen, das löst sich dadurch, dass wir
unser Zuwanderungsrecht ändern. Das Zuwanderungs-
recht ist aber nicht unser Problem. Die Probleme liegen
ganz woanders. Sie hängen mit einer Willkommenskul-
tur zusammen. Sie hängen auch damit zusammen, dass
wir ganz andere Sprachbarrieren haben als der anglo-
amerikanische Raum. Diese Probleme müssen wir in
Angriff nehmen, nicht das Zuwanderungsrecht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Ich meine, dass wir mit der Feinjustierung im beste-
henden System besser in der Lage sind, die Zuwande-
rung zu steuern. Wir können damit viel besser arbeits-
marktorientiert steuern und präziser auf die Nachfrage
der Unternehmen reagieren. Wenn jemand eine offene
Stelle hat, die er nicht mit einem Inländer oder einem
Unionsbürger besetzen kann, dann ist es nach geltendem
Recht möglich, jemanden von außen zu holen und einzu-
stellen.

Wir müssen aber sicherstellen, dass wir keine Fach-
kräfte nach Deutschland holen, die hier nicht gebraucht
werden. Ein Punktesystem schafft am Ende mehr Bürokra-
tie. Sie müssen Behörden aufbauen, die Auswahlkriterien
schaffen und Auswahlverfahren in den Herkunftsländern
organisieren. Unser jetziges System ist bürokratieärmer.
Lassen Sie uns keine große Migrationsbürokratie auf-
bauen! Das macht keinen Sinn.

Stattdessen sollten wir unser jetziges System voran-
bringen. Wir sollten prüfen, ob die Vorrangprüfung im
Rahmen des jetzigen Systems beschleunigt werden
kann, zum Beispiel durch eine Genehmigungsfiktion.
Wenn ein Unternehmen meint, eine Stelle nicht besetzen
zu können und sich an die Bundesagentur wendet und
nach drei, vier Wochen keinen Bescheid bekommt, wird
eine Genehmigung fingiert, und es kann jemand von au-
ßerhalb der EU kommen. Wir müssen auch prüfen, ob
wir in einigen Branchen auf die Vorrangprüfung verzich-
ten können. Wenn die Vorrangprüfung bloße Förmelei
ist, weil der Fachkräftemangel so offensichtlich ist, dann
ist diese Prüfung nicht notwendig. Das ist jedoch schon
auf der Grundlage des geltenden Rechts möglich. Dafür
brauchen wir überhaupt keine Rechtsänderung.

Wir sollten auch einen Blick auf das Fachkräftepo-
tenzial in Europa werfen, insbesondere auf das in den in
letzter Zeit beigetretenen Staaten. Ab Mai haben alle
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in ganz Europa,
zum Beispiel aus Polen, Ungarn, Slowenien und Tsche-
chien – außer aus Bulgarien und Rumänien –, die Mög-
lichkeit, nach Deutschland zu kommen, um hier zu ar-
beiten. Lassen Sie uns doch erst einmal abwarten, was
dann passiert,


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn bei den letzten Beitritten passiert?)


welche Migrationsströme dann entstehen und wie diese
auf den deutschen Arbeitsmarkt wirken, bevor wir sol-
che Experimente durchführen, die Sie von uns verlan-
gen!

Lassen Sie uns auch das Arbeitsmarktpotenzial der al-
ten Mitgliedstaaten nutzen! In Spanien spricht man be-
reits von einer verlorenen Generation. Ich lese in der
FAZ, dass dort die Arbeitslosigkeit bei den unter 25-Jäh-
rigen bei rund 40 Prozent liegt. Warum holen wir denn
diese arbeitslosen Jugendlichen nicht nach Deutschland
und bilden Sie aus? Das ist doch viel naheliegender, als
auf anderen Kontinenten Anwerberstellen zu organisie-
ren und ein Punktesystem einzuführen. Lassen Sie uns
doch nach Europa schauen!





Parl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder


(A) (C)



(D)(B)


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sind Ihre Vorschläge? Wie machen Sie das denn?)


Warum kümmern wir uns nicht um die arbeitslosen Ju-
gendlichen in Spanien?


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dagegen hat niemand etwas!)


Warum bilden wir sie hier nicht aus, zumal wir mit Ju-
gendlichen, die aus unserem Kulturkreis kommen, we-
sentlich weniger Integrationsprobleme haben, als mit
solchen aus anderen Kulturkreisen?


(Beifall bei der CDU/CSU – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Das ist echt völkisch!)


Lassen Sie uns diese Chance nutzen! Lassen Sie uns
den Menschen, die hier leben, eine Chance geben! Las-
sen Sie uns dafür sorgen, dass wir attraktiv für Fach-
kräfte sind! Ein neues Zuwanderungsrecht, insbesondere
ein Punktesystem, brauchen wir hierfür nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708407500

Das Wort hat nun Daniela Kolbe für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Daniela Kolbe (SPD):
Rede ID: ID1708407600

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! In

der Tat ist der Fachkräftemangel, insbesondere im Zu-
sammenhang mit Zuwanderung, eines der zentralen The-
men im Hinblick auf die Zukunftsfähigkeit unseres Lan-
des. Ich möchte gerne die Frage des Kollegen Veit
aufgreifen. Ist es denn wirklich klug, gerade dieser Re-
gierung den Auftrag zu erteilen, ein Konzept für ein
Punktesystem vorzulegen? Ich kann mich gar nicht recht
entscheiden, welches der schlimmere Worst Case wäre:
wenn sich die CSU durchsetzt und wir dann überhaupt
keine Zuwanderung mehr haben oder wenn sich die FDP
durchsetzt, die sich in ihrer Politik einseitig an den Inte-
ressen der Unternehmen orientiert. Notwendig ist, ein
gesamtgesellschaftlich ausgewogenes Konzept vorzule-
gen, das sowohl die Interessen der Unternehmen und der
Wirtschaft in Deutschland als auch die Interessen der
Menschen, die hier leben – ob mit oder ohne Migrations-
hintergrund –, berücksichtigt.

Die Bundesregierung ist nicht nur beim Thema Zu-
wanderung zerstritten, sondern auch komplett blank,
wenn es darum geht, das Potenzial, das wir hier im Land
haben, zu heben und hier für mehr Fachkräfte zu sorgen.
Alles, was ich bisher zu diesem Thema gehört habe, wa-
ren Sonntagsreden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn Sie über Bildung reden, dann sind das Sonntagsre-
den. Sie versuchen weiterhin, Ihre Ideologie durchzuset-
zen, konkrete Konzeptionsvorschläge haben Sie nicht.
Herr Bosbach – ich weiß nicht, ob er noch da ist – hat
darüber gesprochen, dass man mehr für die Arbeitsver-
mittlung tun muss. Ich merke, dass ich bei diesem
Thema richtig sauer werde. War es nicht die schwarz-
gelbe Regierung, die die Mittel für aktive Arbeitsmarkt-
politik massiv zusammengestrichen hat? Oder ist mir et-
was entgangen?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Ist Ihnen aufgefallen, dass wir nicht mehr wie bei Ihnen 5 Millionen, sondern 3 Millionen Arbeitslose haben? – Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Was nicht sein kann, darf nicht sein!)


Lassen Sie mich zu einer Gruppe von Personen kom-
men, die in den Reden bisher noch nicht vorgekommen
ist, nämlich die Menschen, die eingewandert sind, schon
länger hier leben und ein nicht zu unterschätzendes
Fachkräftepotenzial darstellen.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Der GrünenAntrag lautet auf Zuwanderung!)


Wir erinnern uns: Die Ankündigungsministerin Frau
Dr. Schavan hat uns versprochen, dass es ein Gesetz zur
Anerkennung im Ausland abgeschlossener Berufsausbil-
dungen oder akademischer Abschlüsse geben soll.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da warten wir schon lange drauf!)


Das ist jetzt über ein Jahr her. Wir warten und warten
und bekommen Ankündigungen über Ankündigungen.
Das ist schlecht für die Unternehmen, und ich hoffe, es
ist Ihnen auch ein bisschen unangenehm, dass das so
lange dauert. Versetzen Sie sich einmal in die Lage der
Betroffenen. Überlegen Sie, wie frustrierend das für die
300 000 bis 500 000 Menschen ist, die in unserem Land
leben, ohne dass ihre bisherigen Leistungen in irgend-
einer Weise anerkannt werden. Das ist eine Katastrophe.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Selbst wenn dieses Gesetz irgendwann verabschiedet
wird – ich weiß nicht, ob es überhaupt irgendwann ver-
abschiedet wird –: Frau Schavan hat deutlich gemacht,
dass es eine Einschränkung geben wird, es wird nämlich
kein Recht auf Anschlussqualifizierung geben. Was dann
passiert, ist ziemlich klar: So wird zum Beispiel Lehre-
rinnen und Lehrern aus der ehemaligen Sowjetunion teil-
weise nur das Abitur anerkannt, obwohl sie ein Lehr-
amtsstudium absolviert haben. Zum Teil wird ihnen
gesagt: Studieren Sie ein Fach noch einmal komplett
nach; denn die meisten haben nur ein Fach studiert. Was
passiert, wenn wir das so handhaben? Es wird vielen an-
deren Personengruppen auch so gehen, dass sie nur eine
Teilanerkennung bekommen und dann im Regen stehen
gelassen werden. Liebe Bundesregierung, entweder ist
der Fachkräftemangel gar nicht so groß, oder Sie müssen
an dieser Stelle kräftig nachregeln.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)






Daniela Kolbe (Leipzig)



(A) (C)



(D)(B)

Ein zweites Beispiel sind die ausländischen Studie-
renden, die ihr Studium in Deutschland absolviert haben.
Gestern haben wir uns alle miteinander über den
Migrationsbericht gefreut, der besagt, dass wir fast
250 000 Bildungsausländer im Land haben. Das sind
eine Viertelmillion Menschen, die hier studieren. Das ist
ein großes Kompliment und widerspricht der These, dass
niemand Interesse daran hat, in unserem Land zu studie-
ren.

Die Absolventinnen und Absolventen, die in Deutsch-
land ihr Studium absolvieren, sind Topleute, das sind
diejenigen, die wir unbedingt begeistern wollen, hierzu-
bleiben und Arbeit aufzunehmen. Das hat schon Rot-
Grün erkannt. Im Jahr 2005 haben wir im Zuwande-
rungsgesetz gemeinsam vereinbart, dass die Absolven-
tinnen und Absolventen ein Jahr Zeit bekommen sollen,
um einen Arbeitsplatz zu finden. Selbst in der Großen
Koalition konnte sich die SPD noch durchsetzen. Olaf
Scholz hat durchgeboxt, dass für die Absolventinnen
und Absolventen die Vorrangprüfung nicht mehr gilt und
dass sie auch wieder einreisen können, wenn sie später
hier einen Arbeitsplatz finden. Das sind große Chancen,
die den meisten kaum bekannt sind. Das spiegelt sich in
den Zahlen wider. Nur wenige versuchen, überhaupt ei-
nen Arbeitsplatz zu finden, noch weniger schaffen es.

Was tut die Regierung? Immerhin diskutiert sie das
Thema. Es ist gut, dass die Bundesregierung in die rich-
tige Richtung diskutiert.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie schlagen sich gegenseitig die Köpfe ein!)


Das Problembewusstsein ist vorhanden, aber ich habe so
meine Zweifel, ob etwas dabei herauskommt. Der Minis-
ter hat schon wieder etwas ausgeschlossen. Er sagt, dass
die betroffenen Personen definitiv nicht länger als ein
Jahr Zeit bekommen sollen, um Arbeit zu finden. Ich
persönlich halte das für einen Fehler. Denn wenn wir be-
trachten, wie lange die Absolventinnen und Absolventen
in Deutschland brauchen, um einen Arbeitsplatz zu fin-
den, dann stellen wir fest, dass nach einem Jahr nur
50 Prozent der Absolventinnen und Absolventen eine re-
guläre Beschäftigung gefunden haben. Sie wissen alle,
dass es Menschen aus Drittstaaten auf dem deutschen
Arbeitsmarkt aus Gründen, auf die ich jetzt nicht einge-
hen möchte, bedeutend schwerer haben.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das hat Ihr Parteikollege verursacht!)


Liebe Bundesregierung, insofern besteht auch hier
Handlungsbedarf. Ihre Ankündigungen sind bisher nur
vage. Außerdem gehen Sie mit Ihren Ankündigungen
nicht weit genug.

Es ist also viel zu tun, um das Problem des Fachkräf-
temangels und des Hebens des Potenzials im eigenen
Land anzugehen. Was ich dazu bisher gehört habe, hat
überhaupt nichts mit dem Titel „Fachkräftestrategie“ zu
tun.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1708407700

Das Wort hat nun Johannes Vogel für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP)



Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1708407800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Analysiert man die Lage, dann muss man doch klar sa-
gen: Es gibt heute einen Wettbewerb um die klügsten
Köpfe der Welt. Leider müssen wir hinzufügen:
Deutschland partizipiert hieran nicht gut genug. Wir sind
nicht gut genug aufgestellt.

Das sieht man an der Zahl der Hochqualifizierten, die
derzeit über die Einkommensgrenze springen. Im ver-
gangenen Jahr waren es gerade einmal 169 Personen.
Das kann uns doch nicht zufriedenstellen.

Das sieht man außerdem am Anteil der Hochqualifi-
zierten an den Zugewanderten insgesamt. Dieser Anteil
liegt bei uns bei 22 Prozent. In den USA sind es 43 Pro-
zent. In Kanada sind es sogar 59 Prozent. Unsere Mitbe-
werber sind also doppelt so gut wie wir.

Das sieht man auch am Saldo. Seit dem Jahr 2000
verließen unser Land pro Jahr im Schnitt 16 000 Hoch-
qualifizierte mehr, als gekommen sind. Der Auftrag ist
also klar: Wir brauchen mehr qualifizierte Zuwanderer,
liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das gilt aber nicht nur aufgrund der heutigen Situa-
tion, sondern insbesondere aufgrund der Situation, die
sich infolge des demografischen Wandels in der Zukunft
zeigen wird. Bis 2030 werden uns 6 Millionen Erwerbs-
personen – vor allem Fachkräfte – in Deutschland feh-
len. Das ist so, als ob Hessen plötzlich einfach weg wäre.
Das kann Deutschland nicht verkraften. Deshalb ist der
Auftrag klar: Wir brauchen mehr qualifizierte Zuwande-
rer.


(Zuruf von der FDP)


– Dass Hessen einfach weg wäre, das macht natürlich
besonders den hessischen Kollegen Sorgen. Das muss
uns aber auch insgesamt Sorgen machen.

Liebe Kollegin Kolbe, das ist keine Sache, die nur die
Unternehmen etwas angehen sollte. Das ist übrigens
auch kein Gegensatz zur Qualifikation der leider arbeits-
losen Menschen, die wir heute in diesem Land haben.
Nicht Entweder-oder, sondern Sowohl-als-auch muss die
Devise sein; denn jeder Hochqualifizierte, der kommt,
schafft doch in Deutschland weitere Arbeitsplätze.

Liebe Kollegin Kolbe, dem Facharbeiter am Band bei
BMW ist es vollkommen egal, ob der leitende Ingenieur
ursprünglich aus Südamerika kommt oder in Deutsch-
land geboren wurde. Wenn der Ingenieur jedoch fehlt
und die Ingenieurstelle nicht besetzt werden kann, sind
auch die Arbeitsplätze am Band gefährdet. Deshalb geht
es hier nicht um ein Entweder-oder, sondern um ein So-





Johannes Vogel (Lüdenscheid)



(A) (C)



(D)(B)

wohl-als-auch. Es geht um Qualifikation im Inland und
um mehr qualifizierte Zuwanderer aus dem Ausland.


(Beifall bei der FDP – Iris Gleicke [SPD]: 29 000 arbeitslose Ingenieure! Vielleicht qualifizieren Sie die!)


Wir brauchen dafür ein einfacheres und transparente-
res System, weil wir die Entwicklung anhand der Quali-
fikation der Zuwanderer und anhand der Bedürfnisse auf
dem Arbeitsmarkt steuern müssen und vor allem weil
das deutsche Kontensystem zu kompliziert ist.

Wenn sich ein junger Vietnamese beispielsweise da-
für interessiert, in ein anderes Land zu gehen, dann ist es
unrealistisch, dass er nach Deutschland kommt, wenn es
auf der einen Seite ein System wie in Kanada gibt, wo er
innerhalb von fünf Minuten auf der Homepage der Bot-
schaft ermitteln kann, ob er zuwandern darf oder nicht,
und wenn es auf der anderen Seite ein System gibt, wie
wir es heute in Deutschland haben, bei dem er erst den
Stellenteil einer deutschen Tageszeitung wälzen muss
und dann noch möglicherweise anwaltliche Beratung
braucht, um herauszufinden, wie er hierherkommen
kann. Das kann nicht so bleiben, liebe Kolleginnen und
Kollegen. Deshalb brauchen wir ein einfacheres System.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Mir persönlich ist es ganz egal, wie das System heißt.
Mich überzeugt ein Punktesystem, weil die Erfahrungen
damit beispielsweise in Kanada so gut sind.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Meine Rede!)


Deshalb halte ich das für einen guten Vorschlag. Mich
überzeugt auch, dass zum Beispiel die Arbeitsplatzfrage
dabei ganz smart in ein System integriert wird. Welches
System dies ist, ist aber nicht entscheidend. Entschei-
dend ist vielmehr, dass es funktioniert, dass es steuert
und dass es einfach ist.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
jetzt kommen wir zu den Unterschieden. Wir brauchen
nämlich nicht nur ein gutes Zuwanderungssystem. Son-
dern wir brauchen – und darüber schweigen Sie sich lei-
der völlig aus – das Bewusstsein, dass wir aktiv um die
Fachkräfte in der Welt werben müssen. Natürlich geht es
um die deutsche Wirtschaft. Es geht aber auch um die
Politik. Wir müssen deutlich machen, dass wir diese
Menschen zu uns holen wollen. Daran hapert es bisher.
Dazu sagen Sie in dem Antrag leider überhaupt nichts.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das halten wir für so selbstverständlich, dass wir nichts hineingeschrieben haben!)


Darüber hinaus – dabei hat das Innenministerium
vollkommen recht – brauchen wir eine Willkommens-
kultur. Wir brauchen eine Kultur, die deutlich macht,
dass wir wollen, dass die Menschen hier auch anerkannt
werden. Schauen wir uns doch einmal die Situation der
Fachkräfte an, die heute schon in Deutschland sind. Uns
berichtet nicht nur beispielsweise das Bundesamt für Mi-
gration und Flüchtlinge, dass es immer wieder Probleme
mit deutschen Ämtern gibt. Die Betroffenen stehen vor
der Situation, dass etwa ihre Qualifikation hier nicht an-
erkannt wird. Dazu kann ich nur sagen: Wir brauchen ein
Ausländerrecht, das den Menschen deutlich macht, dass
sie hier willkommen sind.

Eine Bekannte von mir ist eine junge Philippinin, die
an einer amerikanischen Topuniversität gut ausgebildet
wurde. Sie hat mir gegenüber nicht gerade den Eindruck
vermittelt, dass sie von den deutschen Ausländerämtern
besonders hofiert worden sei. Dabei ist es eindeutig eine
junge Person, die unsere Gesellschaft bereichern könnte.

Außerdem müssen bei uns mehr Abschlüsse aner-
kannt werden. Da kann ich die Kritik der Opposition
nicht verstehen; schließlich ist es doch diese Bundesre-
gierung, die sich vorgenommen hat, dieses Thema jetzt
anzugehen.


(Beifall bei der FDP – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Vogel, auch die Weichen richtig gestellt?)


Ganz klar ist: Wir brauchen drei Ws. Wir müssen ers-
tens den Wettbewerb aufnehmen; durch ein kluges Sys-
tem müssen die klügsten Köpfe ausgewählt werden. Wir
müssen zweitens Werbung für unser Land machen, und
wir müssen drittens eine Willkommenskultur schaffen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, For-
mulierungshilfen von der Opposition, insbesondere von
Ihnen, brauchen wir dafür nicht. Dieses Thema hat die
Regierung sich längst vorgenommen; es ist bei der Ko-
alition in guten Händen. Schwarz-Gelb schafft es am
ehesten, die Zuwanderungssteuerung, die Werbung und
die Willkommenskultur zusammenzubringen, eher als
Sie jedenfalls. Das zeigt sich an den Zahlen. Schaut man
sich einmal die Zahlen von 2009 an, stellt man fest, dass,
wie ich eben schon gesagt habe, leider mehr hochqualifi-
zierte Menschen aus- als zugewandert sind. Trotzdem
sind viele gekommen.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die sind alle wegen Guido Westerwelle eingewandert, oder was? Das glauben aber nur Sie!)


Interessant ist, sich anzuschauen, in welche Bundes-
länder die Einwanderer im Jahre 2009 gegangen sind.
Für mich nicht überraschend standen an der Spitze der
Rangliste natürlich drei damals glücklicherweise
schwarz-gelb regierte Länder: Nordrhein-Westfalen,
Bayern und Baden-Württemberg. Das zeigt: Hochquali-
fiziertenzuwanderung und Fachkräftemangelbekämp-
fung sind bei Schwarz-Gelb in besseren Händen als bei
Ihnen. Deshalb werden wir Ihrem Antrag nicht zustim-
men.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das zeigt, dass vor allem die FDP Zuwanderung braucht!)







(A) (C)



(D)(B)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708407900

Nächste Rednerin ist die Kollegin Jutta Krellmann für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Jutta Krellmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708408000

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Ich wiederhole, was meine Kollegin Sevim Dağdelen
gesagt hat: Es gibt keinen Fachkräftemangel in Deutsch-
land. Diese Aussage kommt nicht von mir – ich führe
nämlich keine Untersuchungen durch –, sondern sie be-
ruht auf einer Untersuchung des Deutschen Instituts für
Wirtschaftsforschung.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben Sie im Focus gelesen!)


– Wollen wir hinterher noch einmal reden? Rufen Sie
jetzt nicht dazwischen, bitte.


(Beifall bei der LINKEN – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zitieren Sie jetzt die gleiche Studie noch einmal?)


Worum geht es, wenn führende Unternehmen über
unbesetzte Ingenieurstellen klagen und sogenannte Ex-
perten schon eine Verlängerung der Arbeitszeit auf
50 Stunden in der Woche heraufbeschwören? Ich sage:
Fachkräfte sind da; aber der Wirtschaft sind sie zu teuer.
Persönlich habe ich mich die ganze Zeit über eine Dis-
kussion über Fachkräftemangel gefreut, weil die Fach-
kräfte endlich einmal selbstbewusste Forderungen stel-
len konnten, zum Beispiel in Tarifrunden. Das geht nun
nicht, weil die Wirtschaft jetzt im Grunde schaut, wie
man dem Fachkräftemangel über Zuwanderung aus dem
Ausland begegnen kann; sie hat die Diskussion darüber
ganz einfach wieder entdeckt. Den Fachkräften aus dem
Ausland kann man weniger Gehalt als den heimischen
Beschäftigten zahlen, und darum drängen die Arbeitge-
berverbände auf eine schnelle Lösung, die diesen Men-
schen einen leichten Zugang zum Arbeitsmarkt ermög-
licht. Das wird der Wirtschaft gerecht, aber nicht den
Menschen, weder denjenigen, die hier leben, noch denje-
nigen, die zu uns kommen.

Die Grünen fallen genau auf diesen Trick und diese
Überlegung herein. Die Debatte um Fachkräftemangel
ist nicht neu, die zweifelhaften Lösungen auch nicht.
Waren es vor gut zehn Jahren die IT-Spezialisten, sind es
heute Ingenieure und Techniker, und das auch nur in ei-
nigen Branchen. Wir erinnern uns an Rüttgers peinliche
Debatte um „Kinder statt Inder“. Die Greencard war ein
Reinfall. Anstatt über gesteuerte Fachkräftezuwande-
rung mit Karten und Punkten zu sinnieren, müssen wir
doch erst einmal über das eigentliche Thema reden, und
das ist im Grunde die verkorkste Arbeitsmarktpolitik.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir haben 1,5 Millionen Menschen zwischen 20 und
29 Jahren ohne abgeschlossene Berufsausbildung und
rund 4,1 Millionen Menschen ohne Arbeit. Dazu kom-
men viele verdeckte Erwerbslose; sie sind nicht mitge-
rechnet.
Jahrelang hat sich die herrschende Politik um die
junge Generation nicht gekümmert. Betriebliche Ausbil-
dungsplätze wurden abgebaut, und stattdessen wurden
sinnlose Warteschleifen und Schmalspurausbildungen
eingerichtet. Nicht einmal ein Viertel der Betriebe bildet
aus. Die drei Viertel, die nicht ausbilden, schreien jetzt
am lautesten nach Facharbeitern.

Die Unterzeichnung des Ausbildungspakts ist keine
drei Monate her. Dort hätten Arbeitgeberverbände ein-
fach die Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze ver-
einbaren können. Das haben sie nicht getan. Es galt, lie-
ber stillzuhalten und zu warten, ob es billige Fachkräfte
aus dem Ausland gibt.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht ja nicht um billig!)


Dazu muss man ja keine eigenen Investitionen tätigen.
Gerade für die 1,5 Millionen jungen Menschen, die sich
qualifizieren wollen, ist das wie ein Schlag ins Gesicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Bei der Qualifizierung der Beschäftigten sieht es auch
nicht besser aus. Dort haben viele Arbeitgeber in den
letzten Jahren einfach geschlafen und zu wenig in die
Weiterbildung investiert. Auch diese Betriebe rufen jetzt
nach qualifizierten Facharbeitern. Als Gewerkschafterin
sage ich den Betrieben: Übernehmen Sie endlich die
Verantwortung und bilden Sie Ihre Beschäftigten weiter
bzw. bilden Sie junge Menschen aus.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Solange darf keiner einwandern!)


– Mit Ihnen rede ich auch hinterher noch mal gerne. –


(Beifall bei der LINKEN)


Das ist das beste Mittel gegen Fachkräftemangel.

Ich kenne einen jungen Industrieelektroniker, der sich
zum Techniker weiterqualifiziert hat. Aber sein Betrieb
hat ihn nicht entsprechend seiner höheren Qualifikation
beschäftigt. Der hat lieber Mitarbeiter von außen geholt.
Dieser junge Kollege hat sich dann entschieden: Ich
gehe nach Norwegen und suche mir da einen Arbeits-
platz. Er hat dort eine Perspektive gefunden.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja rechtswidrig!)


Das kann ich absolut nachvollziehen. Ich sehe auch, dass
das kein Einzelfall ist. Ich persönlich kenne noch meh-
rere Kollegen, die hochqualifiziert sind und heute über-
legen, ins Ausland zu gehen, um ihre Qualifikation, die
auch eine Halbwertzeit hat, entsprechend einzusetzen.

Deutschland ist mittlerweile – das ist auch schon ge-
sagt worden – kein Einwanderungsland, sondern ein
Auswanderungsland. Da bilden sich Menschen ohne
staatliche oder betriebliche Hilfe weiter, und sie werden
trotzdem ignoriert. Ich kann es den jungen Leuten nicht
verdenken, wenn sie in Richtung Auswanderung denken.
Wenn wir Facharbeiter haben wollen, müssen wir den
Facharbeitern auch eine Chance geben.


(Beifall bei der LINKEN)






Jutta Krellmann


(A) (C)



(D)(B)

Daneben gibt es noch Millionen von erwerbslosen
Menschen, die auf eine Chance warten, auch ausgebildet
zu werden. Gleichzeitig aber winkt die Bundesregierung
ihr Sparpaket mit massiven Einsparungen bei den ar-
beitsmarktpolitischen Instrumenten durch.

Die Erwerbssituation in Deutschland befindet sich in
einer Schieflage. Ich gebe allen recht, die so darüber re-
den. Schuld daran ist eine verfehlte Arbeitsmarktpolitik,
die eher bereit ist, aus fähigen Beschäftigten Leiharbeit-
nehmer zu machen, als sie anständig zu bezahlen. Ihre
Arbeitsmarktpolitik macht Druck auf die Arbeitnehmer
und versucht, sie gegeneinander auszuspielen. Anstatt
junge und ältere Beschäftigte einzustellen, Frauen mit
Kindern zu unterstützen, Menschen mit Behinderung
eine Chance zu geben und nicht zuletzt den hier leben-
den Migranten endlich ihre im Ausland erworbenen Ab-
schlüsse anzuerkennen, werden nun wieder einmal inter-
nationale Fachkräfte gesucht.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht um qualifizierte Zuwanderung und ordentliches Gehalt!)


Hauptsache, sie sind schneller und billiger als hier zu be-
kommen. Die Linke spielt da nicht mit. Die Menschen
dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Wir
brauchen keine Bewertung der Menschen nach Nützlich-
keit.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir fordern freie Zugänge für alle Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer und den gleichen Lohn für gleiche
Arbeit – egal ob sie zu uns kommen oder schon bei uns
sind. Deshalb brauchen wir einen flächendeckenden ge-
setzlichen Mindestlohn sowie gleichen Lohn für gleiche
Arbeit.


(Beifall bei der LINKEN)


Vor allem brauchen wir eine Arbeitsmarktpolitik, die
den Menschen und nicht die Maximalprofite in den Mit-
telpunkt stellt.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708408100

Das Wort hat jetzt die Kollegin Brigitte Pothmer für

die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708408200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich zi-

tiere zunächst:

Der wachsende Fachkräftemangel ist in dieser Le-
gislaturperiode das Megathema. „Er droht mittel-
fristig die gesunde wirtschaftliche Entwicklung
abzuwürgen und zum Treiber für neue Arbeitslosig-
keit zu werden.“

Jetzt frage ich Sie mal: Von wem stammt wohl dieses Zi-
tat?

(Max Straubinger [CDU/CSU]: Von Brigitte Pothmer!)


– Das ist nicht von mir – Sie können jetzt nicht sagen:
Pothmer übertreibt mal wieder –, sondern das stammt
von Ihrer eigenen Arbeitsministerin Frau von der Leyen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich finde, Frau von der Leyen hat recht. Sie werden ihr
doch jetzt den Applaus nicht verweigern.

Obwohl die Erkenntnis in dieser Regierung ganz of-
fenbar da ist – mindestens in Teilen der Regierung –,
führt die Koalition hier eine richtige Geisterdebatte. Die
Union verweigert jede Einsicht in die gesellschaftlichen
Realitäten, und die FDP verleugnet sich.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Nein, nein!)


Sie teilen hier voll und ganz das Konzept, das wir Ihnen
vorstellen, und gleichzeitig sagen Sie: Wir werden dem
nicht zustimmen. Ja, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der FDP, dann müssen Sie sich nicht wundern, dass
der gelbe Balken bei den Wahlumfragen sozusagen im
Nichts verschwindet.

Dabei ist eines doch wirklich längst klar: Es geht
nicht um ein Entweder-oder; es geht um ein Sowohl-als-
auch.


(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Das stimmt! Aha! Sie haben gut zugehört, Frau Kollegin!)


Es geht auch um die Förderung Einheimischer. Sie dür-
fen nicht gegen Zuwanderer ausgespielt werden. Aber
was für eine Politik betreibt diese Bundesregierung? Sie
von der Bundesregierung betreiben nicht nur eine Politik
des Entweder-oder; Sie betreiben eine Politik des Weder-
noch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Daniela Kolbe [Leipzig] [SPD])


Sie sperren sich gegen eine notwendige und sinnvolle
Zuwanderung, und Sie tun nichts, aber auch gar nichts,
um Arbeitslosen tatsächlich die Chance zu geben, auf
die neu entstehenden Arbeitsplätze zu kommen.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Falsche Debatte!)


Herr Bosbach sagte gerade, das sei jetzt die wichtigste
Aufgabe. Aber gleichzeitig kürzen Sie den Eingliede-
rungstitel für Langzeitarbeitslose um 25 Prozent im Ver-
gleich zum Vorjahr.


(Johannes Vogel [Lüdenscheid] [FDP]: Weil viel eben nicht immer viel wirkt! – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist scheinheilig!)


Wie soll denn dann die Eingliederung gelingen? Genau
in dem Moment, in dem das erste Mal die Arbeitsplätze
da sind, für die wir die Leute qualifizieren könnten, strei-
chen Sie diesen Titel zusammen, berauben die Menschen





Brigitte Pothmer


(A) (C)



(D)(B)

der Chancen und berauben die Wirtschaft der Chance,
weiter zu wachsen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Aber auch die Potenziale der hier lebenden Menschen
mit Migrationshintergrund heben Sie nicht. Es gibt im-
mer noch den Pizzaausfahrenden Ingenieur, und es gibt
immer noch die Ärztin, die als Putzfrau arbeitet. Dazu

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1708408300
Wir
kümmern uns. – Ja, Sie kümmern sich. In dieser Regie-
rung sind fünf Ministerien damit beschäftigt, sich die-
sem Thema zuzuwenden. Das bekommt dem Thema
ausdrücklich gar nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie streiten sich wie die Kesselflicker, und in der Sache
bewegt sich nichts.

Ich will Ihnen einmal Folgendes sagen: Der Fachkräf-
temangel fängt in dieser Bundesregierung an.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Sie waren schon mal richtig inhaltlich!)


Ein Gesetzentwurf zur Anerkennung ausländischer Ab-
schlüsse, Herr Schröder, wurde uns schon für das Jahr
2010 angekündigt.


(Albert Rupprecht [Weiden] [CDU/CSU]: Sie hatten sieben Jahre Zeit!)


Jetzt ist 2011, und es liegt immer noch kein Gesetzent-
wurf vor.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was zu erwarten war!)


Sie kümmern sich, aber es passiert nichts. Hören Sie auf,
sich zu kümmern! Tun Sie endlich etwas!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich noch einen Punkt nennen. Das
Wachstum der Zukunft könnte weiblich sein. Wenn wir
die Potenziale nutzen würden, die in den hochqualifi-
zierten Frauen stecken, dann wäre es möglich, dass
2,4 Millionen Frauen mehr auf dem Arbeitsmarkt tätig
werden. Sie könnten einen Beitrag leisten, auch zur Pro-
duktivität und zum wirtschaftlichen Wachstum. Wenn
wir, wie skandinavische Länder auch, die Vereinbarkeit
von Familie und Beruf tatsächlich vorantreiben würden,
hätten wir da ein immenses Potenzial. Aber um das zu
erreichen, müssten wir natürlich auch die Kommunen
besser ausstatten. Sie rasieren die Kommunen und for-
dern gleichzeitig mehr Kinderbetreuungseinrichtungen.
Das funktioniert nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Auch das Potenzial Älterer wird in Deutschland bei
weitem nicht genutzt. Es reicht aber nicht aus, einfach
die Rente mit 67 zu beschließen. Sie brauchen auch ein
Konzept, das es ermöglicht, die Älteren tatsächlich län-
ger im Erwerbsleben zu halten. Auch da ist eine große
Leerstelle.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Wenn wir nichts unternehmen, dann laufen wir sehenden
Auges auf das zu, was Frau von der Leyen immer ein
Horrorszenario genannt hat: auf einen exorbitanten
Fachkräftemangel bei gleichzeitig hoher Arbeitslosig-
keit. Das ist das zentrale Versagen Ihrer Politik.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708408400

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans-Peter Uhl

für die Fraktion der CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hans-Peter Uhl (CSU):
Rede ID: ID1708408500

Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und

Kollegen! Unbestritten ist, dass wir zwei Probleme ha-
ben. Wir haben zum Ersten ein demografisches Problem.
Die Gesellschaft wird – glücklicherweise – immer älter,
und die arbeitende Bevölkerung wird leider Gottes im-
mer weniger. Das heißt, die Versorgung der Alten ist ge-
fährdet. Zum Zweiten haben wir einen Fachkräfteman-
gel, der – auch das ist erwiesen – zunimmt und nicht
abnimmt. In der Beschreibung dieser beiden Probleme
sind wir uns einig.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bis auf die Linke!)


Bei der Lösung dieser Probleme gehen die Wege al-
lerdings weit auseinander. In der Debatte war von den
Linken ein ganz einseitiger und wirtschaftsfeindlicher
Ansatz zu spüren. Um es auf den Punkt zu bringen: Die
Linken sind für eine Abschottung, sie wollen zum
Schutz der Arbeitslosen niemanden hineinlassen. Außer-
dem fordern sie eine Erhöhung der Löhne.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Wir sind für Mindeststandards für alle Menschen!)


Auf der anderen Seite gibt es zu wirtschaftsfreundliche
Töne. Es wird so getan, als könne der Staat diese Pro-
bleme alleine lösen, indem er für Zuwanderung sorgt,
und die Wirtschaft müsse dann nur hochqualifizierte Ar-
beitnehmer einstellen.

Herr Veit, Sie als erfahrener Ausländerrechtler und
Gutmensch sind natürlich der alten Meinung: „Macht
hoch die Tür, die Tor macht weit! Lasst möglichst viele
Menschen herein! Die Qualifizierung überprüfen wir
später.“


(Rüdiger Veit [SPD]: Ein paar mehr, als wir haben!)


Die Probleme sind aber sehr vielschichtig. Herr Kilic,
Sie sind ein Paradebeispiel für einen hochqualifizierten
Menschen, der sein Land verlassen hat und jetzt bei uns
ist.


(Rüdiger Veit [SPD]: Das gilt für Bayern manchmal auch!)






Dr. Hans-Peter Uhl


(A) (C)



(D)(B)

Sie kommen aus einem Land, das durchaus Hochqualifi-
zierte Ihres Schlages brauchen könnte.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist das jetzt eine Aufforderung zu gehen oder was?)


Wir haben in Deutschland – das ist das Problem –
3 Millionen Arbeitslose. Wir haben in der EU – wir müs-
sen uns vorrangig um die dort lebenden Menschen küm-
mern – 20 Millionen Arbeitslose. Deshalb kann man
nicht einfach die Grenzen öffnen. Man muss sich sehr
kluge Gedanken machen, was die probaten Mittel der
Steuerung sind. Darüber sollten wir ruhig streiten.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das ist richtig!)


Wenn die Deutschen oder die EU-Bürger, die hier le-
ben, Vorrang haben sollen, dann müssen wir sehr sorg-
fältig auswählen, wer in unser Land herein darf und wer
nicht. Wenn wir das nicht tun, gefährden wir den sozia-
len Frieden. Der Herr Staatssekretär Schröder hat zu
Recht darauf aufmerksam gemacht, dass es nicht allein
Aufgabe des Staates, sondern auch Aufgabe der Wirt-
schaft ist, dafür zu sorgen, dass wir in diesem Bereich zu
Lösungen kommen. Sie von Rot-Grün hätten auch da-
rauf kommen können, dass das nicht alleinige Aufgabe
des Staates ist.

Wir haben – das ist auch von Ihnen, Frau Pothmer,
schon angesprochen worden – ein großes Potenzial an
Arbeitslosen, an älteren Menschen, an Frauen und jun-
gen Menschen, die nicht gut qualifiziert und ausgebildet
sind, um das wir uns erst einmal kümmern müssen, be-
vor wir die Grenzen öffnen.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie müssen dafür auch Mittel zur Verfügung stellen!)


An dieser Stelle haben Sie uns viele Vorwürfe gemacht.
Aber diese Vorwürfe richten sich auch gegen Ihre Partei,
die Grünen, weil Sie in den sieben Jahren Ihrer Regie-
rung auf diesem Gebiet nicht viel bewirkt haben.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben die Mittel erhöht!)


Das Problem zu erkennen, ist das eine, und das Problem
zu lösen, ist das andere. Mir fallen aus den sieben Jahren
keine Beispiele dafür ein, dass Sie erfolgreich an Lö-
sungsvorschlägen gearbeitet hätten.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die vergangenen sieben Jahre haben Sie doch regiert!)


Ich möchte auf keinen Fall einer Abschottungspolitik
das Wort reden. Wir in Deutschland schotten uns nicht
ab. Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache.


(Beifall bei der CDU/CSU – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Sie waren gestern nicht hier, als es um den Migrationsbericht ging!)


Einfältige Menschen behaupten allen Ernstes, man
müsse 66 000 Euro verdienen, um nach Deutschland he-
reinzukommen. Das ist – mit Verlaub – dummes Zeug.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Viele Menschen – im letzten Jahr waren es übrigens
25 000 – sind nach Deutschland gekommen, obwohl sie
weniger als 66 000 Euro verdienen. Wir haben eine sehr
kluge Differenzierung: Herausragende Wissenschaftler
sollen kommen. Lehrkräfte an Hochschulen sollen kom-
men, egal was sie verdienen. Führungskräfte mit hohem
Einkommen sollen kommen. Es gibt eine weitere Perso-
nengruppe, über deren Qualifikation wir nicht viel wis-
sen, die aber sehr viel verdient, nämlich mehr als 66 000
Euro. Wenn die Wirtschaft für Arbeitskräfte aus dieser
Gruppe so viel Geld ausgeben will, dann müssen sie
nützlich und wichtig für den Betrieb und damit auch
nützlich und hilfreich für uns sein. Dann sollen sie kom-
men, egal welche Qualifikation sie haben.

Dieser Sonderfall von Menschen mit einem Verdienst
von über 66 000 Euro, den wir mit einer Niederlassungs-
erlaubnis belohnen – dem höchsten Status, den man be-
kommen kann –, wird hier zur Norm erklärt. Es wird er-
zählt, dass man 66 000 Euro verdienen müsste und nur
dann kommen dürfte. Das – noch einmal – ist dummes
Zeug.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat das denn gesagt?)


Lassen Sie mich einige Worte zur Vorrangprüfung sa-
gen. Diejenigen, die weniger verdienen, die qualifiziert
sind und bei denen ein Arbeitgeber sagt: „Ich habe einen
Arbeitsplatz für ihn, bitte lasst ihn rein!“, unterliegen ei-
ner Vorrangprüfung. Ich kann nur von München berich-
ten, wo ich mich mehrfach erkundigt habe. Die Arbeits-
verwaltung da sagt: „Unsere Vorrangprüfungen dauern
maximal vier Wochen, und unsere Vorrangprüfung endet
zu über 90 Prozent positiv für den Arbeitgeber und für
den Drittstaatler.“

Es mag in Deutschland andere Fälle geben. Dann ist
es Aufgabe der Arbeitsverwaltung, da Abhilfe zu schaf-
fen, aber nicht für uns als Gesetzgeber, Paragrafen zu än-
dern. Die Vorrangprüfung ist ein richtiges, wichtiges und
gutes Instrument.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein bürokratisches Monstrum!)


Wenn es dann nötig sein sollte, irgendwelchen Arbeits-
agenturen dazu zu verhelfen, dass sie etwas schneller ar-
beiten, dann kann man mit uns darüber reden, ob man
eine Zustimmungsfiktion einführt. Wenn alle Unterlagen
vom Betrieb bei der Arbeitsagentur angekommen sind,
tickt die Uhr. Wer zwei, drei oder vier Wochen lang
keine Antwort gibt, dem unterstellen wir die Zustim-
mung – eine Zustimmungsfiktion. Das kann man alles
machen. Das ist gar kein Problem.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Machen wir das!)


– Machen wir das. Ebenso machen wir einige andere
Dinge, die uns wichtig sind. Wir wollen kein Lohndum-
ping. Wir wollen nicht massenhaft Drittstaatler reinho-
len, damit der Lohn gedrückt werden kann.





Dr. Hans-Peter Uhl


(A) (C)



(D)(B)


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Dann führen Sie den Mindestlohn ein!)


Es ist nicht Aufgabe einer Christlich Demokratischen
und einer Christlich Sozialen Union, hier für sozialen
Unfrieden zu sorgen. Mit uns geht so etwas nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf der Abg. Sevim Dağdelen [DIE LINKE])


Warum ist das Punktesystem, von dem die Grünen so
verliebt berichten,


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und die FDP auch!)


kein gutes System? – Letztlich ist das Punktesystem ein
klassisch sozialistischer Zuteilungsansatz.


(Lachen bei der SPD und der LINKEN)


– Ja, natürlich. Das heißt, der Staat stellt fest, wofür man
Punkte bekommt und ab wie vielen Punkten man ins
Land darf. Das ist eigentlich ein klassisch sozialistischer
Denkansatz – Zuteilung!

Nein, wir knüpfen am konkreten Arbeitsplatz in der
Wirtschaft an. Wenn eine Firma einen Arbeitsplatz an-
bieten kann, dann schaut der Staat, ob es dafür einen
deutschen oder einen EU-Bürger gibt. Und wenn es kei-
nen gibt, dann kommt der Drittstaatler rein. Das ist indi-
viduell, konkret und arbeitsplatzbezogen. Der Kollege
Bosbach hat es hervorragend dargestellt. Reden Sie ein-
mal mit dem Zuwanderungsminister in Kanada.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Ist der Sozialist?)


Ich habe es getan und ihn gefragt: Was ist mit dem, der
die Punkte erfüllt hat, jetzt da ist und keinen Arbeitsplatz
hat? Das ist ja nicht arbeitsplatzbezogen, sondern kana-
dabezogen. Wer hilft dem? Der schläft unter der Brücke.
Der Staat hilft dem nicht. Machen Sie so etwas einmal in
Deutschland. Wer hier ist, bekommt alle Wohltaten die-
ses Staates. Darauf sind wir stolz. Wollen Sie so ein Sys-
tem nach Deutschland transferieren? Wir wollen es je-
denfalls nicht.

Wir wollen auch nicht die soziale Kälte der Länder,
die das so machen: Wer keinen Arbeitsplatz hat, schläft
unter der Brücke. Das ist nicht unsere Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Lassen Sie mich noch einen Punkt ansprechen, auf
den wir sehr großen Wert legen. Ab dem 1. Mai dürfen
sehr viel mehr Menschen aus Osteuropa zu uns kommen
und bei uns arbeiten. Wir haben dann 200 Millionen Er-
werbsfähige in Europa – 200 Millionen mit der genann-
ten Zahl von 20 Millionen Arbeitslosen. Es ist unsere
Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die 20 Millionen Arbeits-
losen weniger werden. Es wurde schon auf Spanien und
andere Länder hingewiesen.

Lassen Sie mich zusammenfassen:

Erstens. Das hier lebende Potenzial an Arbeitskräften
besser nutzen – Junge, Alte, Frauen.
Zweitens. Abwanderung Hochqualifizierter ins Aus-
land stoppen.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie?)


Hochqualifizierte aus dem Ausland anwerben, Studenten
anwerben, Studenten, die hier ausgebildet worden sind,
in die Arbeitsverhältnisse bringen, und schließlich im
Ausland für qualifizierte Arbeitnehmer werben. Das ist
die Aufgabe Deutschlands. Den Rest muss die Wirt-
schaft erledigen. Das ist der Punkt, um den es uns geht.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708408600

Das Wort hat nun der Kollege Manfred Nink für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Manfred Nink (SPD):
Rede ID: ID1708408700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren!
Deutschland diskutiert den Fachkräftemangel. Wir dis-
kutieren heute das Thema Einwanderung von Fachkräf-
ten. Dabei ist bei den meisten Vorrednern unschwer zu
erkennen, dass Innenpolitiker hier die Federführung ha-
ben und in erster Linie Verfahren bezüglich der Zuwan-
derung im Blick haben. Ich möchte meine Ausführungen
deswegen mehr auf die arbeitsmarkt- und berufsbil-
dungspolitischen Aspekte und mögliche Lösungsansätze
lenken.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, im Zuge des
wirtschaftlichen Aufschwungs und anderer Faktoren wie
der demografischen Entwicklung wird von verschiede-
nen Seiten ein Mangel an Fachkräften beklagt. Eine
Auswertung der Deutschen Industrie- und Handelskam-
mer aus dem Jahr 2010 kommt zu dem Ergebnis, dass
derzeit 20 Prozent der Unternehmen generell und jedes
zweite Unternehmen zum Teil Probleme mit der Beset-
zung offener Stellen haben. Dabei wird darüber hinweg-
gesehen – einige haben es schon erwähnt –, dass nach
wie vor 3 Millionen Bürgerinnen und Bürger arbeitslos
sind, davon ein Drittel länger als ein Jahr. Andere Veröf-
fentlichungen besagen, dass 2009 bei den Ingenieurberu-
fen circa 34 000 offenen Stellen rund 25 000 arbeitslose
Ingenieure gegenüberstanden. Der Verband Deutscher
Ingenieure nennt hierzu noch mehrere Tausend Absol-
venten mit Technikerausbildung. Fachkräftemangel?

Die genannte Berufsgruppe zählt zu den Fachkräften.
Also liegen möglicherweise doch andere Gründe vor.
Wir sollten uns deswegen hüten, den pauschalen Alarm-
rufen einiger Verbände nach mehr Potenzialeinwande-
rung leichtfertig zu folgen. Neutrale Untersuchungen des
Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, aber auch
des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
kommen ebenfalls zu einem differenzierteren Urteil. Sie
stellen fest, dass von einem allgemeinen Fachkräfteman-
gel aktuell nicht gesprochen werden könne; vielmehr
unterschieden sich Engpässe nach einzelnen Berufsgruppen
und Regionen sowie nach kurz-, mittel- und langfristi-
gem Bedarf.





Manfred Nink


(A) (C)



(D)(B)

Während in Zukunft mehr Fachkräfte im mittleren
Segment und Hochqualifizierte nachgefragt werden,
nimmt der Bedarf an Geringqualifizierten ab. Die demo-
grafische Entwicklung wird sich ebenfalls langfristig auf
den Arbeitsmarkt auswirken; auch das ist schon genannt
worden. Eine verantwortungsbewusste Politik zur De-
ckung des aktuellen und zukünftigen Fachkräftebedarfs
muss deshalb in der Tat differenziert und vorausschau-
end sein.

Da oft eine mangelnde Ausbildung durch die Unter-
nehmen beklagt wird, ist der Fachkräftebedarf in Zu-
kunft in erster Linie durch bessere Berufsausbildung zu
decken. Dieser Schritt hat für die SPD Vorrang vor der
weiteren Öffnung des Arbeitsmarkts für Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmern aus anderen Ländern.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Zwei Gründe sprechen dagegen. Erster Grund – auch
das wurde schon genannt –: Deutschland hat einen der
offensten Arbeitsmärkte für Akademiker weltweit. Seit
2009 können Hochqualifizierte weitgehend ohne Be-
schränkungen in Deutschland arbeiten. Es wird lediglich
überprüft, ob es geeignete Bewerber aus dem Binnen-
raum der EU gibt und ob die Arbeitskräfte einen für die-
sen Arbeitsplatz bei uns üblichen Verdienst erhalten
werden. Diese Möglichkeit wird in dem vorliegenden
Antrag wenig berücksichtigt.

Auch scheint mir der vorliegende Antrag ein weiterer
Versuch zu sein, frühere Anträge doch noch umsetzen zu
wollen; denn wenn man einen weiteren im thematischen
Zusammenhang zu sehenden Antrag von Bündnis 90/
Die Grünen, die Bundestagsdrucksache 17/3039, „Ent-
wurf eines … Gesetzes zur Änderung des Aufenthaltsge-
setzes“, betrachtet, wird das Ansinnen der Antragsteller
vielleicht deutlicher. Auch in der Begründung zum da-
maligen Antrag ging es im Wesentlichen um die Be-
kämpfung des Fachkräftemangels. Mit dem damaligen
Antrag wollte man seitens des Antragstellers die festge-
legte Höhe des Gehalts für Hochqualifizierte von derzeit
66 000 Euro auf 40 000 Euro reduzieren, was damals im
Übrigen von der FDP abgelehnt wurde und heute als An-
kündigung hier dargestellt worden ist.

Jetzt müsste man den Begriff Hochqualifizierte viel-
leicht einmal genauer definieren. Wir jedenfalls verste-
hen darunter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit
besonderen fachlichen Kenntnissen, Spezialisten oder
Personen, die leitende Führungsaufgaben übernehmen
können. Wir haben als Bundestagsfraktion den damali-
gen Antrag unter anderem deswegen nicht mitgetragen,
weil uns die Höhe der geforderten Gehaltssenkung will-
kürlich erschien und nur ein Aspekt der Gesamtthematik
betrachtet wurde. Auch barg der Antrag die Gefahr des
Lohndumpings und widersprach unserer Forderung nach
gutem Lohn für gute Arbeit. Nach der Rede des Kolle-
gen Wolff von der FDP sollten sich die Grünen vielleicht
einmal überlegen, ob wir mit unserer damaligen Be-
fürchtung nicht doch recht hatten.

Ein weiterer Grund – auch darauf wurde schon hinge-
wiesen –: Dem vorliegenden Antrag fehlt völlig der Hin-
weis auf den erleichterten Zuzug von Fachkräften aus
dem Ausland, der bereits ab dem 1. Mai dieses Jahres
mit Arbeitnehmerfreizügigkeit für fast alle Mitgliedstaa-
ten der EU die Möglichkeiten für die Gewinnung auslän-
discher Fachkräfte deutlich zunehmen lässt. Diese Ar-
beitnehmerfreizügigkeit bietet allen Angehörigen der
Europäischen Union neue Chancen. Sie bietet auch den
hiesigen Unternehmen die Chance, zusätzliche Fach-
kräfte zu gewinnen.

Wie kann man hier helfen? Wir alle wissen: Gerade
bei kleinen und mittelständischen Unternehmen mangelt
es aufgrund fehlender personeller und finanzieller
Ressourcen oft an einer mittel- und langfristigen Perso-
nalplanung. Diesen Unternehmen müssen wir mit Ser-
vicestellen, Beratungsangeboten und Unterstützungsleis-
tungen helfen, eine langfristige Personalentwicklung zu
betreiben. Eine qualifizierte Beratung für kleine und
mittlere Unternehmen muss flächendeckend sicherge-
stellt werden, damit der zukünftige Bedarf an Fachkräf-
ten richtig eingeschätzt und frühzeitig darauf reagiert
werden kann. Damit würde der Zugriff auf den deut-
schen Arbeitsmarkt erheblich erleichtert. Solche Mög-
lichkeiten gilt es zuerst zu nutzen. Wir brauchen kein
neues System für die Einwanderung von Fachkräften.
Vielmehr geht es zunächst darum, vorhandene Ressour-
cen zu nutzen.

Wie können diese Voraussetzungen zukünftig ge-
schaffen werden? Die vorhandenen Potenziale müssen
genutzt, die Erwerbsbeteiligung muss erhöht werden.
Mit der Nutzung der Potenziale der Menschen, die be-
reits in Deutschland leben, wird Vollbeschäftigung tat-
sächlich möglich. Die Möglichkeit eines beruflichen
Aufstiegs muss den Vorrang vor der Einwanderung von
Fachkräften haben. Dafür sind Verbesserungen notwen-
dig. Hier ist die Berufsbildung zu nennen; denn der
Mangel an geeigneten Arbeitskräften mit klassischer Be-
rufsausbildung beruht zum großen Teil darauf, dass nicht
genug ausgebildet wird. Hier stehen einige Forderungen
im Raum – Sie kennen sie sicherlich –; ich kann sie aus
Zeitgründen jetzt nicht wiederholen.

Das heißt also: Die Stärken der Erwerbstätigen müs-
sen erkannt und ausgebaut werden. Wer bereits einen
qualifizierten Berufsabschluss hat, muss die Möglichkeit
zu Aufstiegsfortbildungen oder zum Hochschulzugang
bekommen. Die Bedingungen für ältere Fachkräfte müs-
sen verbessert werden; flexible Arbeitszeiten und spezi-
fische Weiterbildungsangebote sind notwendig. Weitere
Voraussetzungen sind attraktive Arbeitsplätze und Ord-
nung auf dem Arbeitsmarkt.

Ein sich verstärkender Mangel an Fachkräften vor al-
len Dingen im Bereich Pflege und Erziehung beruht auf
vergleichsweise unattraktiven Arbeitsbedingungen, auf
Arbeitsplätzen ohne Zukunftsperspektive. Diese Ar-
beitsplätze müssen attraktiver werden. Man erreicht das
nicht mit Druck auf das Lohnniveau und mit einer Ver-
schlechterung der Arbeitsbedingungen. Viele Unterneh-
men haben dies erkannt; sie stehen hier in der Verant-
wortung. Intelligente Arbeitszeitmodelle, vor allem für
Familien und ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer, sowie eine bessere Weiterbildungs- und Qualifizie-
rungsberatung durch die Unternehmen selbst, damit die





Manfred Nink


(A) (C)



(D)(B)

Arbeitnehmer mit den beruflichen Anforderungen
Schritt halten können, sind für viele Unternehmen kein
Fremdwort.

Sicherlich brauchen wir auf bestimmten Berufsfel-
dern abgestimmte Fachkräfteoffensiven. Ich denke hier
beispielsweise an die MINT-Berufe. Wie eingangs er-
wähnt, sehen wir, die SPD-Bundestagsfraktion, aktuell
grundsätzlich keinen Handlungsbedarf, neue Einwande-
rungsregelungen zu schaffen. Lassen Sie uns zunächst
Erfahrungen mit der neu geschaffenen Arbeitsnehmer-
freizügigkeit ab dem 1. Mai sammeln.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das habe ich bei Herrn Veit vorhin anders verstanden! – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das entspricht aber nicht eurer Beschlusslage, was Sie da erzählen!)


Tatsache ist: Eine starke Wirtschaft braucht gut aus-
gebildete Menschen. Es ist die vorrangige Aufgabe im
Land, die Voraussetzungen für eine gute Ausbildung zu
schaffen, damit der zukünftige Bedarf an Fachkräften
gedeckt werden kann. Es gibt ein großes Potenzial in un-
serem Land; geben wir ihm eine Chance.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708408800

Für die FDP-Fraktion spricht nun der Kollege

Dr. Martin Lindner.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Martin Lindner (FDP):
Rede ID: ID1708408900

Frau Präsidentin! Verehrte Damen! Meine Herren!

Ich möchte als Erstes dafür werben, hier kein künstliches
Gegeneinander zwischen der Qualifizierung einheimi-
scher Arbeitskräfte auf der einen Seite und der benötig-
ten Zuwanderung ausländischer Fachkräfte auf der ande-
ren Seite zu schaffen; das bringt nichts. Wir brauchen
beides; wir werden ohne beides nicht auskommen. Da
können wir uns im Bundestag noch so viel Mühe geben
und persönliche Beiträge leisten: Ohne die Zuwanderung
qualifizierter Fachkräfte wird es nicht gehen.

Wenn wir eine seriöse Bestandsaufnahme vornehmen,
dann stellen wir fest, dass wir bisher Zuwanderer hatten,
die nicht in der Weise qualifiziert waren, wie wir uns das
vorstellen und wünschen. Die Menschen mit Migrations-
hintergrund bilden einen weit überproportionalen Anteil
der Gruppe der Erwerbslosen; sie bilden einen überpro-
portional großen Anteil der Gruppe der Empfänger von
Sozialleistungen. Darüber müssen wir uns nicht wun-
dern. Schauen Sie sich das Ausländerrecht an: Es ist ein
völliges Durcheinander von humanitärer Zuwanderung
auf der einen Seite und Zuwanderung von Menschen, die
hier ihr Glück machen wollen, auf der anderen Seite.
Das müssen wir dringend sortieren.

Wir haben ein System, das falsche Anreize schafft.
Wenn wir bedenken, dass eine Familie mit drei Kindern
hier eine Sozialleistung von etwas über 2 000 Euro pro
Monat bekommt – das ist der Betrag, den eine solche Fa-
milie in Ostanatolien für schwere körperliche Arbeit pro
Jahr bekommt –, dann können wir uns vorstellen, welche
Anreize wir setzen. Auf der anderen Seite machen wir es
Menschen, die gut ausgebildet und qualifiziert sind,
überproportional schwer, nach Deutschland zuzuwan-
dern.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Es gibt hohe bürokratische Hürden. Wir behandeln Fach-
kräfte, Manager und andere in Ausländerbehörden teil-
weise so, als seien sie Bittsteller. Dies muss endlich in
Deutschland sortiert werden.

Auf der einen Seite haben wir die Einwanderung aus
humanitären Gründen.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch sortiert!)


Auf der anderen Seite muss für diejenigen, die aus wirt-
schaftlichen Gründen zuwandern, eine klare Geschäfts-
grundlage geschaffen werden. Die heißt: Komm hierher,
mach dein Glück; aber Sozialunterstützung gibt es erst
einmal keine. Komm hierher, wir machen es dir einfach,
bring auch deine Familie mit. – Klar muss aber sein,
dass Zuwanderung in Arbeit stattfindet, dass Steuerzah-
ler nach Deutschland kommen, aber nicht Steuergeld-
empfänger. Das muss die klare Direktive unserer Zu-
wanderungspolitik sein: keine Zuwanderung in Hartz IV.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war unser Vorschlag!)


Dafür müssen wir Fachkräften die Zuwanderung er-
leichtern. Es geht doch schon in den Schulen los. Wir
müssen für deutsche Schulen im Ausland werben. Dort
gibt es oft Sprachbarrieren, dort müssen die Grundlagen
für qualifizierte Zuwanderung gelegt werden. Wir müs-
sen uns überlegen, ob wir an den großen deutschen
Universitäten die ingenieurwissenschaftlichen und wirt-
schaftswissenschaftlichen Fächer auch in Englisch an-
bieten. Es gibt gerade von potenziellen Zuwanderern aus
dem asiatischen Raum aus sprachlichen Gründen eine
Zurückhaltung, die wir überwinden müssen.

Dann können wir die Zuwanderung über ein System
regeln. Sie können das Punktesystem nennen oder nicht;
das spielt gar keine Rolle. Die Kriterien für die Zuwan-
derung und die Erlangung der deutschen Staatsbürger-
schaft müssen aber sein: Ausbildung, Fachausbildung,
Sprachkenntnisse und auch – das finde ich – in Deutsch-
land gezahlte Steuern. Das müssen die Grundlagen für
Zuwanderung sein. Wenn wir diese Grundlagen haben,
kommen wir dahin, dass wir attraktiv für die Richtigen
sind.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Viele Leute ertrinken auf dem Weg nach Deutschland im Mittelmeer!)


Dann vermeiden wir, dass wir zwar hohe Zuwanderung
haben, aber uns qualifizierte Menschen mit und ohne
Migrationshintergrund – das ist in den letzten Jahren ge-
schehen – wieder den Rücken kehren und diejenigen zu-





Dr. Martin Lindner (Berlin)



(A) (C)



(D)(B)

rückbleiben, die in den Argen stehen. Letzteres kann
nicht sinnvoll sein.

Deswegen meine Bitte auch an die Koalitionspartner:
Wir müssen versuchen, eine Systematik zu finden und
das Zuwanderungsrecht neu zu sortieren. Der Kollege
Bosbach hat recht, wenn er sagt, dass man nicht einfach
ein Punktesystem aufpfropfen kann, ohne diese Syste-
matik geschaffen zu haben. Deshalb können wir dem
Antrag der Grünen nicht zustimmen. Er hat den richtigen
Ansatz und geht in die richtige Richtung; aber Sie lösen
die anderen Probleme nicht und beseitigen die Unsyste-
matik im deutschen Ausländerrecht nicht. Sie fangen
schon wieder an – Kollege Wolff hat es thematisiert –,
Ihre eigenen Vorstellungen aufzuweichen und Ausnah-
men zu schaffen. Das ist das Problem des bisherigen
Ausländerrechts. An sich führt der Zugriff auf die sozia-
len Sicherungssysteme zur Ausweisung. Durch die gan-
zen Ausnahmen, die auch Sie wieder schaffen wollen,
kreieren Sie ein wunderbares Beschäftigungsprogramm
für Rechtsanwälte,


(Widerspruch beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


aber Sie werden nie eine klare Regelung erreichen, die
die Zuwanderung auf den Arbeitsmarkt garantiert und
die in die Sozialsysteme verhindert.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kann man so nicht zuspitzen, finde ich!)


Das aber muss unsere Zielrichtung sein. Dazu brauchen
wir neue Ideen und eine ganz neue Stoßrichtung. Diese
Regelung muss auch dazu dienen, dass Deutschland
seine wirtschaftliche Prosperität erhalten kann.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708409000

Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Swen Schulz

das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Swen Schulz (SPD):
Rede ID: ID1708409100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn wir
über Fachkräfte und über Zuwanderung reden, dann
müssen wir mindestens genauso intensiv darüber spre-
chen, wie wir die Menschen, die bereits hier leben, bes-
ser fördern und ihre Potenziale besser nutzen können.


(Dr. Hans-Peter Friedrich [Hof] [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Diesen Gedanken enthält der Antrag der Grünen. So hat
auch die SPD immer agiert. Es geht um eine Balance
zwischen Zuwanderung und Investition in Bildung. So
haben wir unter der Regierung Schröder zum Beispiel
das Zuwanderungsgesetz gemacht und gleichzeitig
Ganztagsschulen gefördert. In der Großen Koalition hat
unser damaliger Arbeitsminister, Olaf Scholz, den Zu-
zug von Fachkräften erleichtert und gleichzeitig die
Qualifizierung von Jugendlichen und Arbeitsuchenden
verbessert.

Dieses Prinzip der Ausgewogenheit von Zuwande-
rung und Bildung gilt in der jetzigen Regierungskoali-
tion von CDU/CSU und FDP leider nicht mehr.


(Beifall bei der SPD)


Ganz im Gegenteil: Der Kollege Lindner – ich sehe ihn
leider nicht; er scheint den Saal schon wieder verlassen
zu haben – und andere vor ihm haben gesagt, wir
brauchten beides, Zuwanderung und Bildung. Doch das,
was diese Koalition praktiziert, ist ein entschiedenes We-
der-noch. Sie streiten über die Zuwanderung, bekommen
aber nichts auf die Reihe, und Sie kümmern sich nicht
um das Potenzial der Menschen, die hier leben.


(Beifall der Abg. Daniela Kolbe [Leipzig] [SPD])


Das will ich an einigen Beispielen zeigen. Wer den
Fachkräftemangel beklagt, der muss sich intensiv um die
Bildung, die Ausbildung und die Qualifizierung der Ju-
gendlichen in Deutschland kümmern. Die Situation ist
schlimm: Jährlich verlassen etwa 65 000 Jugendliche die
Schulen ohne Abschluss. 1,5 Millionen Jugendliche sind
ohne Berufsausbildung. In diesem Bereich muss viel
mehr investiert werden. Der damalige Arbeitsminister
Olaf Scholz hat das Recht auf Nachholen eines Schulab-
schlusses verankert. Wir wollen Menschen eine zweite
Chance geben. Wir wollen ein entsprechendes Förder-
programm. Unser Ziel ist: Keiner darf ohne Abschluss
bleiben; keiner darf ohne Ausbildung bleiben. Da müs-
sen wir hin.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Doch, sehr geehrter Herr Staatssekretär Schröder, die
Koalition streicht die Mittel für die Förderung im Ar-
beitsbereich zusammen. Bis 2014 sollen dort sage und
schreibe 16 Milliarden Euro eingespart werden.


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Und zweieinhalb Millionen Arbeitslose weniger! Das ist das Ziel!)


Die Förderung soll dem Belieben der Agentur überlassen
werden. Demnach soll nur noch nach Kassenlage finan-
ziert werden. Meine sehr verehrten Damen und Herren
von der Regierungskoalition, es passt nicht zusammen,
dass Sie die Mittel für Qualifizierung in Deutschland zu-
sammenstreichen, aber den Fachkräftemangel beklagen.
Das merken die Bürgerinnen und Bürger, und wir wer-
den sie auch immer wieder darauf hinweisen.


(Beifall bei der SPD)


Schauen wir uns die Schulen an. Wir als SPD haben
ein Ganztagsschulprogramm auf den Weg gebracht. Was
machen Sie? Sie lehnen unsere Initiativen rundweg ab.
Ein aktuelles Beispiel ist die Diskussion über Bildungs-
teilhabe. Wir wollen erreichen, dass an allen Schulen So-
zialarbeiter eingesetzt werden. Das wäre ein erster
Schritt zu einer besseren Unterstützung und Förderung
von Schülerinnen und Schülern.





Swen Schulz (Spandau)



(A) (C)



(D)(B)


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das müssen die Länder tun! Das ist Länderhoheit!)


Was macht die zuständige Ministerin von der Leyen? Sie
zögert, sie ziert sich, sie taktiert und sucht Ausflüchte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, investieren Sie doch
einmal in diesem Bereich. Das wäre ein Beitrag. Das
wäre etwas anderes als die Ministeuersenkung, die Sie
gestern beschlossen haben. Das wäre etwas, wodurch
wir wirklich vorankämen.


(Beifall bei der SPD – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Erzählen Sie doch einmal etwas von den Berliner Verhältnissen!)


Wer über den Fachkräftemangel redet, der muss sich
auch einmal die vorschulische Bildung und Betreuung
anschauen. Sie ist für Eltern, vor allem für Alleinerzie-
hende, von großer Bedeutung, damit sie überhaupt arbei-
ten können.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ich fürchte, er glaubt wirklich, was er da erzählt!)


Natürlich werden im vorschulischen Bereich Grundla-
gen für die Bildung und damit für die Fachkräfte von
morgen gelegt. Wir von der SPD haben eine engagierte
Politik für eine bessere und eine weiter gefasste vorschu-
lische Bildung und Betreuung gemacht.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Nur keine Bezahlung!)


Diese Koalition hingegen macht nichts.

Seitdem die SPD aus der Regierungsverantwortung
– leider – raus ist, passiert auf diesem Gebiet überhaupt
nichts mehr. Die Arbeit ist eingestellt worden, mit einer
Ausnahme – ein Punkt ist insbesondere der CDU/CSU
wichtig –, dem Betreuungsgeld. Das muss man sich ein-
mal auf der Zunge zergehen lassen: In einer Zeit, in der
wir über Bildungsprobleme und Fachkräftemangel re-
den, wollen Sie Eltern Geld dafür geben, eine Prämie da-
für auszahlen, dass sie


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Kinder erziehen! Das ist gut angelegtes Geld!)


ihre Kinder nicht in eine Bildungseinrichtung schicken.
Das ist Wahnsinn.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Dann ist da noch die Sache mit der Anerkennung der
Abschlüsse; dieses Thema spielte auch in dieser Debatte
teilweise eine Rolle. In Deutschland leben bereits Zuge-
wanderte, die qualifiziert sind, deren Qualifikation aber
nicht anerkannt wird. Es gibt in Deutschland 300 000 bis
500 000 Fachkräfte, die nicht adäquat eingesetzt werden.
Die SPD hatte mit ihrem Arbeitsminister Olaf Scholz be-
reits einen Vorschlag für ein Anerkennungsgesetz vorge-
legt. Damals wollte die CDU/CSU davon überhaupt
nichts wissen. Jetzt steht es sogar in der Koalitionsver-
einbarung. Wunderbar! Es stellt sich die Frage: Was ist
eigentlich passiert?

Ich habe ein paar Unterlagen mitgebracht. Am

Dr. Maria Böhmer (CDU):
Rede ID: ID1708409200

Das Bundeskabinett hat grünes Licht für eine ge-
setzliche Regelung gegeben.

Wunderbar! In einem Zeitungsinterview sagte sie: Das
Problem brennt uns wirklich auf den Nägeln. Daher wol-
len und müssen wir 2010 zu Ergebnissen im Gesetzge-
bungsverfahren kommen. – Dann ist erst einmal gar
nichts passiert, sodass ich bei der Bundesregierung nach-
gefragt habe. Auf meine Frage hat mir Staatssekretär
Rachel, der auch anwesend ist, am 7. Juli 2010 geant-
wortet:

Nach derzeitigem Planungsstand soll ein … Refe-
rentenentwurf im auslaufenden Sommer 2010 vor-
gelegt werden.

Am 7. Oktober 2010 – man könnte sagen: das ist auslau-
fender Sommer – hat Staatsministerin Böhmer im Deut-
schen Bundestag gesagt: Wir brauchen dieses Gesetz
schnell. Es soll bis Dezember vorliegen.


(Iris Gleicke [SPD]: Ja! Sie hat aber nicht gesagt, in welchem Jahrzehnt!)


Bis heute liegt gar nichts vor, weder ein Referenten-
entwurf noch ein Gesetzentwurf noch ein Gesetz.


(Daniela Kolbe [Leipzig] [SPD]: Peinlich!)


Gestern haben wir hier im Deutschen Bundestag Innen-
minister de Maizière gefragt: Wann kommt der Gesetz-
entwurf? Er wusste es nicht. Er konnte uns keine Ant-
wort geben. Was sind Sie für eine Chaostruppe?


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wenn Sie nur halb so viel Energie in die Lösung dieses
Problems investieren würden wie in Ihren Streit um Zu-
wanderung, dann kämen wir tatsächlich weiter.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708409300

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Joachim Pfeiffer

für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Joachim Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1708409400

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Zunächst kann man, wie ich glaube, in der Tat
feststellen, dass wir uns hier im Haus in der Analyse
weitestgehend einig sind. Die Analyse lässt sich auch
mit Adam Riese nicht betrügen. Die demografische Ent-
wicklung ist, wie sie ist. All die Kinder, die in 15 oder
16 Jahren keinen Ausbildungsplatz suchen werden, sind
schon heute nicht geboren. Deshalb haben wir – das sa-
gen uns die Zahlen – bis 2050 einen drastischen Rück-
gang des Erwerbspotenzials, insbesondere was die Zahl
der Erwerbstätigen anbelangt, zu verzeichnen. Dabei
geht es um eine Größenordnung von 5 bis 8 Millionen.





Dr. Joachim Pfeiffer


(A) (C)



(D)(B)

Dies kann in Tateinheit mit dem Fachkräftemangel
– darauf ist von verschiedenen Rednern schon eingegan-
gen worden –, wie mir Professor Brücker vom IAB die-
ser Tage in einem Gespräch gesagt hat, zu ähnlichen
Limitierungen der Volkswirtschaft führen wie in der
Wirtschafts- und Finanzkrise.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Richtig!)


Das bedeutet, dass man dieses Thema nicht nebenher be-
handeln kann und es kein Wohlfühlthema ist, sondern
dass es für das zukünftige Wohl und Wehe der deutschen
Volkswirtschaft und dieses Landes von entscheidender
Bedeutung ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich glaube, es ist notwendig und richtig, dass wir uns
in der gebotenen Tiefe und mit der gebotenen Sorgfalt
mit diesem Thema auseinandersetzen. Es ist schade,
wenn suggeriert wird, wir brauchten nur dem Antrag der
Grünen zur Einführung eines Punktesystems zuzustim-
men oder an einer anderen Stellschraube zu drehen, und
dann werde alles gut. Das ist mit Sicherheit nicht der
Fall.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wäre aber auf jeden Fall besser, als nichts zu tun!)


Wir brauchen eine umfassende Antwort, eine Gesamt-
strategie zur Bewältigung der Herausforderungen.

Ich differenziere einmal zwischen dem Pflichtpro-
gramm und der Kür. Was zum Pflichtprogramm gehört,
ist eindeutig – dazu sind wir gegenüber den Bürgerinnen
und Bürgern verpflichtet –: Erst einmal müssen wir das
Erwerbspotenzial in Deutschland optimal ausnutzen und
erschließen. Hier sind wir bisher nicht ganz untätig ge-
wesen. Es sind richtige Wege eingeschlagen worden, die
es konsequent weiter zu beschreiten gilt.

Als ersten Schritt nenne ich die Erhöhung der Er-
werbsbeteiligung insbesondere der Älteren. Mit den
Maßnahmen, die in den vergangenen Jahren ergriffen
wurden und die in die richtige Richtung zielten, ist er-
reicht worden, dass die Erwerbsbeteiligung der Älteren,
der 55- bis 64-Jährigen, in den letzten acht Jahren um
fast 20 Prozentpunkte gestiegen ist, von rund 38 Prozent
auf 58 Prozent. Dies müssen wir konsequent fortführen.
Wir dürfen die Rente mit 67 oder andere Maßnahmen
nicht rückgängig machen. Das Gegenteil ist notwendig:
Wir müssen das Erwerbspotenzial der Älteren für uns er-
schließen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wenn sie gesund, leistungswillig und -fähig sind, dann
müssen wir das nutzen. Es gibt dazu eine Berechnung,
die besagt, dass wir es allein mit dieser Maßnahme,
wenn wir sie konsequent genug umsetzen, schaffen, den
Rückgang des Erwerbspotenzials aufgrund der demogra-
fischen Entwicklung bis 2025 – nicht bis 2050 – auszu-
gleichen. Das heißt, damit könnten wir das Erwerbsvolu-
men, das für die Volkswirtschaft erschlossen werden
kann, stabilisieren. Insofern müssen wir diesen Weg wei-
ter gehen.
Es ist schon angesprochen worden – ich glaube, auch
da gibt es Einigkeit –, dass die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf weiter verbessert werden muss. Da sind die
Weichen richtig gestellt. Wir können es uns nicht mehr
leisten, insbesondere gut ausgebildete Frauen aus dem
Arbeitsprozess auszuschließen, sie zu verlieren und den
Kontakt zu ihnen in der Erziehungsphase nicht mehr zu
haben.

Wir müssen auch auf dem Ausbildungsmarkt den Ge-
zeitenwechsel konsequent vorantreiben. Das haben wir
mit der veränderten Schwerpunktsetzung im Ausbil-
dungspakt getan, den wir im letzten Jahr beschlossen ha-
ben. Bisher war es so, dass es für Hunderttausende Aus-
bildungswillige darum ging, Ausbildungsplätze zu
finden. Zukünftig wird es andersherum sein. Da wird
man hinter ihnen her rennen, weil wir weniger Ausbil-
dungswillige und -fähige haben, als Ausbildungsplätze
in der deutschen Wirtschaft zur Erhaltung des Fachkräf-
tepotenzials notwendig sind.

Deshalb müssen wir sehr schnell die Problemfälle an-
gehen. Das sind diejenigen, bei denen wir noch nicht so
erfolgreich sind, die Mühseligen und Beladenen ohne
Abschluss, ohne Schulabschluss und ohne Berufsab-
schluss, häufig mit Migrationshintergrund. Wir müssen
sie bereits an den Schulen abholen und für uns erschlie-
ßen. Da muss deutlich mehr gemacht werden. Das gehört
zu den Pflichtaufgaben, die wir auf jeden Fall erledigen
müssen. Aber wir werden natürlich nicht jeden ohne
Schulabschluss und ohne Berufsabschluss zum Luft- und
Raumfahrtingenieur weiterbilden können. Deshalb brau-
chen wir mit Sicherheit weitere Instrumente.

Bei den Erläuterungen des Parlamentarischen Staats-
sekretärs Schröder hat der Kollege Kilic gefragt: Warum
kommen denn so wenige Wissenschaftler zu uns, wenn
sie schon heute kommen könnten? Das liegt nicht nur an
den gesetzlichen Rahmenbedingungen. Das liegt auch an
der Sprache, weil manche lieber ins englischsprachige
Ausland gehen. Es liegt auch an den Verdiensten, weil
die, die gut sind, in Deutschland nicht so viel verdienen.
Vielleicht liegt es aber auch an der mangelnden Will-
kommenskultur in Deutschland, an fehlenden internatio-
nalen Schulen und sonstigen Rahmenbedingungen. Es
gibt nicht nur einen Grund; die Gründe sind vielfältig.
Vielleicht liegt es auch daran, wie wir mit Technik um-
gehen. Glauben Sie, dass die Besten im Bereich Gen-
technologie nach Deutschland kommen, wenn wir das
Punktesystem einführen? Das glaube ich nicht. Sie wol-
len das ja auch gar nicht. Die Besten in der Kerntechnik
haben wir schon verloren – da waren wir einmal Welt-
spitze –; sie werden nicht mehr nach Deutschland zu-
rückkommen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann bauen Sie doch ein paar neue Kernkraftwerke! Dann kommen sie!)


Die Gründe sind insofern vielschichtig. Wir müssen uns
genau anschauen, was wir machen.





Dr. Joachim Pfeiffer


(A) (C)



(D)(B)

Mit Blick auf die Uhr muss ich leider schon zum
Ende meiner Rede kommen. Ich glaube, dass wir sowohl
das Pflichtprogramm als auch die Kür absolvieren müs-
sen. Wir müssen uns sehr genau anschauen, welche
Fachpotenziale wir brauchen. Ich glaube, wir sollten die
Verknüpfung mit Arbeit nicht lösen – Kollege Uhl hat
das vorhin ausgeführt –; denn sonst haben wir vielleicht
nur eine Zuwanderung in die Sozialsysteme. Sie können
sicher sein: Diese Koalition ist auch in dieser Frage
handlungsfähig und wird eine Lösung erarbeiten, die die
Herausforderungen für die Menschen und die Chancen
für die Wirtschaft entsprechend optimiert. Wir müssen
die Probleme, über deren Lösung wir uns einig sind, im
Rahmen einer Gesamtstrategie lösen


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wann denn? In welchem Jahr? Dieses Jahr noch oder vielleicht nächstes Jahr?)


und die Wachstumshemmnisse in Deutschland, wie wir
es heute Morgen beim Jahreswirtschaftsbericht bespro-
chen haben, weiter abbauen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708409500

Nächster Redner ist der Kollege Albert Rupprecht für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Albert Rupprecht (CSU):
Rede ID: ID1708409600

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen! Sehr geehrte

Herren! Die Debatte um das Punktesystem ist in der Tat
sehr symbolträchtig. Ich finde, es ist eine übersteigerte
und verengte Debatte, die für Zeitungsüberschriften gut
ist, uns aber aufgrund der Breite und Vielschichtigkeit
des Themas Fachkräftemangel leider Gottes nicht wirk-
lich weiterhilft.

Noch einmal zur Prioritätensetzung – es ist mehrfach
gesagt worden, dass das für die Unionsfraktion die
Grundlage ist –: An erster Stelle steht, das nationale
Potenzial auszuschöpfen. Hier gibt es noch viel zu tun
und viel Potenzial zu heben.


(Rüdiger Veit [SPD]: Da sind wir uns einig! Also macht es doch endlich!)


Zum Zweiten geht es darum, die Abwanderung unserer
gut ausgebildeten Deutschen zu stoppen. Erst an dritter
Stelle kommt die Zuwanderung der besten Köpfe aus
dem Ausland. Hier sind in der Tat punktuelle Verbesse-
rungen im Ausländerrecht notwendig, aber es braucht
keinen grundsätzlichen, radikalen Systemwechsel.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Zum ersten Punkt, zur Ausschöpfung des nationalen
Potenzials. Ausbildung, Qualifizierung und Bildung un-
serer Bevölkerung haben die höchste Priorität. Herr Kol-
lege Schulz, mit Verlaub gesagt: Das, was Sie hier er-
zählt haben, gehörte schlichtweg in eine Märchenstunde.
Gemessen an 2005, als wir von Rot-Grün die Verantwor-
tung übernommen haben, steigern wir den Bildungs-
haushalt auf Bundesebene um sage und schreibe 74 Pro-
zent. Das ist unsere Prioritätensetzung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Rot-Grün hat geredet, und wir handeln.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)


Herr Schulz, allein den Etat für die Studienfinanzierung,
von der Sie ständig reden, haben wir gegenüber dem
Endzeitpunkt von Rot-Grün bis heute um 53 Prozent ge-
steigert, und obwohl es nicht unsere originäre Aufgabe
ist, unterstützen wir die Hochschulpolitik der Länder mit
sage und schreibe 6 Milliarden Euro. Das ist unsere Prio-
ritätensetzung in der Bildung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Erfolge lassen sich sehen: Mit 46 Prozent eines Jahr-
ganges, die an eine Hochschule gegangen sind, haben
wir die höchste Quote erreicht, die es je gab. Das ist eine
dramatische positive Steigerung und bedeutet mehr
Know-how und mehr Qualifizierung für unsere jungen
Menschen.

PISA hat gezeigt, dass Deutschland durch viele An-
strengungen beim Lesen, beim Rechnen und bei den Na-
turwissenschaften Schritt für Schritt wieder an die
Weltspitze zurückkehrt.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weltspitze?)


Es wurde im Übrigen auch bestätigt, dass die Ergebnisse
der Bildungspolitik in den Ländern Bayern, Baden-
Württemberg und Sachsen meilenweit besser sind als in
den SPD-Ländern. Wir können gerne über Bildungspoli-
tik auf Bundesebene reden; hier tun wir vieles. Es ist
aber auch notwendig, die Diskussion darüber zu führen,
was in den einzelnen Ländern getan wird und welche
Modelle wirklich erfolgreich sind. Es ist eindeutig, dass
die unionsgeführte Bildungspolitik wesentlich erfolgrei-
cher ist.


(Beifall bei der CDU/CSU – René Röspel [SPD]: Sie haben PISA nie gelesen! Geben Sie es zu, Herr Rupprecht!)


Es geht an allererster Stelle um eine gute Politik, um
die Stärken und die Fähigkeiten der Menschen in
Deutschland zur Geltung zu bringen. Sie haben die Zahl
erwähnt: 2,7 Millionen Deutsche sind ohne Schulab-
schluss. Das ist der eigentliche Skandal. Ich sage aber
auch: Das SPD-geführte Bundesland Brandenburg hat
eine doppelt so hohe Schulabbrecherquote wie beispiels-
weise die Länder Baden-Württemberg und Bayern.


(Jens Ackermann [FDP]: Hört! Hört!)


Das ist der Unterschied. An den Ergebnissen zeigt sich
letztendlich, welche Konzepte vernünftig sind, welche
zu Erfolgen führen und welche nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)






Albert Rupprecht (Weiden)



(A) (C)



(D)

Wir geben uns damit aber nicht zufrieden. Wir stem-
men uns mit aller Kraft gegen die Tatsache, dass bis zu
20 Prozent unserer Kinder durchs Raster fallen. Deswe-
gen werden wir die Länder durch Bildungsketten – dafür
haben wir in diesem Jahr 100 Millionen Euro im Haus-
halt eingestellt – und viele andere Maßnahmen bei ihrer
originären Aufgabe unterstützen. Wir geben hier vonsei-
ten des Bundes erheblich Gas.

Wir sorgen dafür, dass die Berufsabschlüsse der in
Deutschland lebenden Ausländer anerkannt werden.


(Daniela Kolbe [Leipzig] [SPD]: Wann?)


Man kann gerne darüber reden, ob Dezember, Januar,
Februar oder März der richtige Zeitpunkt dafür ist; aber
das ist nicht die entscheidende Debatte. Entscheidend ist,
dass wir darüber in dieser Legislaturperiode beschließen.
Das ist ein hochkomplexes Thema und muss mit hoher
Qualität umgesetzt werden.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In welchem Jahr denn?)


– Mit Verlaub gesagt: Sie hatten elf Jahre Zeit und haben
nichts gemacht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir werden es machen. Ob das im Februar oder im März
geschieht, ist nicht entscheidend. Es geht darum, hier für
eine hohe Qualität zu sorgen.

Zum Zweiten. Wir müssen die Abwanderung unserer
heimischen Leistungsträger stoppen. Es ist widersinnig,
wenn unsere teuer ausgebildeten Ärzte in die Schweiz
oder nach England gehen, weil wir sie aus dem Land
vertreiben, und wir dann über ein Punktesystem Ärzte
aus Russland und Afrika, die dort dringend gebraucht
werden, nach Deutschland holen. Das ist absurd und wi-
dersprüchlich.

Deswegen ist es in der Tat richtig – darüber muss
auch debattiert werden –: Wir brauchen Konditionen,
Arbeitsbedingungen, Löhne sowie Abgaben- und Steuer-
strukturen, mit denen Deutschland auch in Zukunft für
die Leistungsträger attraktiv ist. Daran mangelt es zur-
zeit. Das ist in der Tat ein Riesenproblem. Daran müssen
wir arbeiten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zum Dritten. Wir brauchen auch Leistungsträger aus
dem Ausland und ein Stück mehr Willkommenskultur.
Das ist richtig. Es gibt einen weltweiten Wettbewerb um
die besten Köpfe. Das haben wir im Forschungsbereich
seit 2005, als Annette Schavan Ministerin wurde, präzise
und konkret angepackt, und wir haben bereits Erfolge er-
zielt. Über den DAAD, die Alexander-von-Humboldt-
Stiftung und andere Einrichtungen holen wir Schritt für
Schritt top ausgebildete, hochqualifizierte Wissenschaft-
ler nach Deutschland. Wir sind in diesem Bereich wieder
wettbewerbsfähig. Das kostet Geld und erfordert Mühe
und Anstrengung, aber es ist erfolgreich.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber noch nicht ausreichend!)

– Das ist richtig. Aber all das, was ich gerade aufgeführt
habe, ist im Grundsatz schon mit dem bestehenden Aus-
länderrecht ohne Probleme möglich.

Trotzdem müssen wir – auch das ist richtig – das Aus-
länderrecht punktuell nachbessern. Wir müssen es bei-
spielsweise in folgendem Punkt nachbessern: Wenn nur
6 000 von 260 000 ausländischen Studenten in Deutsch-
land nach ihrem Abschluss hierbleiben, dann ist das
ohne Zweifel ein schlechtes Ergebnis. Das Ausländer-
recht weist in der Tat in diesem Punkt Barrieren auf, die
zu diesem schlechten Ergebnis beitragen. Deswegen ha-
ben wir in der Unionsfraktion vereinbart, dass wir in die-
sem Punkt nachjustieren und das Ausländerrecht punk-
tuell ändern wollen, weil wir die jungen Menschen, die
in Deutschland ausgebildet wurden oder studiert haben
und die deutsche Sprache beherrschen, im Land behalten
wollen.

Wir brauchen punktuelle Änderungen des Ausländer-
rechts. Das ist richtig. Wir brauchen aber keinen grund-
sätzlichen Systemwechsel. Es geht in allererster Linie
darum, die Kräfte zu mobilisieren, die wir im Land ha-
ben. Da ist in der Tat ein Riesenpotenzial gegeben.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708409700

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Max

Straubinger für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1708409800

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Der Antrag der Grünen, der unter dem Deckmantel vor-
gelegt wurde, dem Fachkräftemangel in Deutschland
entgegenzuwirken, ist meines Erachtens nur ein ver-
deckter Versuch, die Einwanderung nach Deutschland
insgesamt zu verstärken.


(Lachen bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Hört die FDP das? – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber sehr schlecht verdeckt, muss ich sagen!)


Das ist der Hintergrund. Es geht nicht um den Fach-
kräftemangel – um den haben sich die Grünen in der Re-
gel nie großartig gekümmert –, sondern darum, ihren ei-
genen parteipolitischen Vorstellungen etwas Nachdruck
zu verleihen.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das würde Ihnen nie einfallen!)


Unter diesem Gesichtspunkt werte ich auch diesen An-
trag.

Auch wenn die prognostizierten Zahlen richtig sind
und die Bevölkerungszahl in Deutschland abnehmen
wird, ist es für uns, glaube ich, entscheidend, dass die
demografischen Probleme im Inland gelöst werden müs-

(B)






Max Straubinger


(A) (C)



(D)(B)

sen. Sie können nicht mit vermehrter und vor allen Din-
gen zügelloser Zuwanderung bewältigt werden. Ich bin
überzeugt: Dadurch werden nur mehr Probleme in unse-
rem Land entstehen, aber keine Probleme gelöst werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ein weiterer Punkt ist die Sorge um unseren Indus-
triestandort und die Frage, ob wir den Fachkräftebedarf
der Wirtschaft decken können, die sicherlich eine wei-
tere Erleichterung der Zuzugsmöglichkeiten fordert.
Trotzdem möchte ich voranstellen: Wir haben 3 Millio-
nen Arbeitslose. Das sind zwar 2 Millionen weniger als
zur rot-grünen Regierungszeit, aber das lässt uns nicht
auf diesen Erfolgen ausruhen. Wir wollen zuerst die bei
uns arbeitslos gemeldeten Menschen in Brot und Er-
werbsarbeit bringen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es ist bedeutsam, dass diesem Vorrang gegeben wird,
bevor Zuwanderung erfolgt und Zuwanderer in Konkur-
renz zu den in unserem Land arbeitslos gemeldeten qua-
lifizierten Menschen treten.

Für mich ist auch folgende Frage entscheidend: Wie
viele Menschen brauchen wir? Wie viele Fachkräfte be-
nötigen wir? Der Kollege Bosbach hat bereits darauf
hingewiesen, dass es einmal die Prognose gab, wonach
wir 200 000 IT-Kräfte brauchen. Diese Zahl wurde dann
auf 100 000 IT-Kräfte reduziert. Die damalige Bundes-
regierung hat 20 000 Greencards ausgestellt. Glatte
10 000 wurden tatsächlich in Anspruch genommen. Das
zeigt sehr deutlich: Die Ansprüche, die die Wirtschaft
stellt, und die Realitäten klaffen weit auseinander.

Es ist sehr eindrucksvoll, wenn es heute in Prognosen
heißt, 35 000 Ingenieurstellen könnten nicht besetzt wer-
den, weil es nicht genügend Fachkräfte gebe. Das Deut-
sche Institut für Wirtschaftsforschung, das von der Pro-
grammatik her den Unionsparteien nicht unbedingt
nahesteht, hat eine bemerkenswerte Statistik veröffent-
licht. Wenn man sich die „normalen“ Vergleichszahlen,
die dort niedergelegt sind, zu Gemüte führt, stellt man
Folgendes fest: Im Oktober 2010 waren 5 250 Maschi-
nen- und Fahrzeugbauingenieure arbeitslos gemeldet.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie alt sind sie?)


– Das Alter darf doch nicht als Kriterium angeführt wer-
den, wenn Stellen zu besetzen sind. Sie haben ja Ansprü-
che! Das ist ja noch schöner.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Zahl der tatsächlich als offen gemeldeten Stellen
lag in diesem Bereich bei 3 366. Im Oktober 2010 waren
des Weiteren 3 490 Elektroingenieure arbeitslos gemel-
det. Die Zahl der tatsächlich als offen gemeldeten Stellen
lag bei 2 159. 6 317 Architekten und Bauingenieure wa-
ren im Oktober 2010 arbeitslos gemeldet. Dem standen
1 734 offene Stellen gegenüber. 2 657 Chemiker und
Chemieingenieure waren arbeitslos gemeldet. Dem stan-
den 288 offene Stellen gegenüber.

(Iris Gleicke [SPD]: Und Sie streichen die aktive Arbeitsmarktpolitik, statt diese Leute zu qualifizieren!)


1 683 Physiker, Physikingenieure und Mathematiker wa-
ren im Oktober 2010 arbeitslos gemeldet. Dem standen
262 offene Stellen gegenüber. Das ist die Realität. Wenn
die Unternehmen sagen: „Wir melden nicht alle offenen
Stellen“, dann kann ich nur sagen, dass sie alle offenen
Stellen melden sollten, um damit den tatsächlichen Ar-
beitskräftebedarf zu untermauern.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Hinzu kommt eine verfehlte Bildungspolitik. Sie alle
von der linken Seite streben immer die Akademisierung
der verschiedensten Berufe an und qualifizieren einige
Bundesländer, insbesondere Bayern, mit dem Hinweis
ab, dass diese die geringsten Abiturientenquoten aufzu-
weisen hätten. Aber aus der oben genannten Statistik
geht auch hervor, dass im Oktober 2010 zum Beispiel
12 280 arbeitslosen Elektromonteuren und -installateu-
ren 17 054 offene Stellen gegenüberstanden. Das zeigt
sehr deutlich: Nur berufliche Bildung und akademische
Bildung zusammen können die Probleme auf dem Ar-
beitsmarkt lösen. Dazu sind wir aufgefordert und nicht
dazu, mehr Zuzugsregelungen zu schaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Zum geltenden Recht. Ich darf aus der FAZ zitieren,
in der es unter der schönen Überschrift „Der offenste Ar-
beitsmarkt für Akademiker“ heißt:

Deutschland hat den offensten Arbeitsmarkt für
akademisch qualifizierte Arbeitskräfte. Seit dem
Beginn des Jahres 2009 können Hochqualifizierte
weitgehend ohne große Beschränkungen freie Ar-
beitsplätze besetzen.

Weiter heißt es:

Auch wer außerhalb der EU ein Hochschulstudium
absolviert hat, darf in Deutschland arbeiten.

Zum Schluss noch eine Überschrift:

Die Beitragsbemessungsgrenze als Einkommens-
grenze ist plausibel.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708409900

Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Redezeit.


Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1708410000

Wer hat dies niedergeschrieben? Was glauben Sie?


(Zuruf von der CDU/CSU: Olaf Scholz!)


Das war der ehemalige Bundesarbeitsminister Olaf
Scholz. Die SPD muss erst noch in ihren eigenen Reihen
darüber philosophieren, was sie in dieser Frage über-
haupt will, weil dies konträr zu den Aussagen des Kolle-
gen Veit und nachfolgender Redner steht. Deshalb ist die
Bewältigung des Fachkräftemangels bei CDU, CSU und
FDP bestens aufgehoben.

Ich bedanke mich bei der Präsidentin.





Max Straubinger


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708410100

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf der
Drucksache 17/3862 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein-
verstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.

Ich darf darauf hinweisen, dass wir jetzt einige Ab-
stimmungen haben.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 sowie Zusatz-
punkt 5 a und b auf:

26 Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Fünfzehnten Geset-
zes zur Änderung des Arzneimittelgesetzes

– Drucksache 17/4231 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für Gesundheit

ZP 5 a) Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Das ungarische Mediengesetz – Europäische
Grundwerte und Grundrechte verteidigen

– Drucksache 17/4429 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Kultur und Medien

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Daniela
Wagner, Ingrid Hönlinger, Volker Beck (Köln),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Bestellerprinzip in die Mietwohnungsvermitt-
lung integrieren

– Drucksache 17/4202 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

Es geht dabei um Überweisungen im vereinfachten
Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. – Auch damit sind Sie, wie ich sehe, einver-
standen. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 b auf:

– Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen
vom 29. März 2010 zwischen der Bundes-
republik Deutschland und St. Vincent und
die Grenadinen über die Unterstützung in
Steuer- und Steuerstrafsachen durch Infor-
mationsaustausch

– Drucksache 17/3959 –

– Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen
vom 7. Juni 2010 zwischen der Bundesrepu-
blik Deutschland und St. Lucia über den In-
formationsaustausch in Steuersachen

– Drucksache 17/3961 –

– Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zu dem Protokoll vom
17. Juni 2010 zur Änderung des Abkom-
mens vom 8. März 2001 zwischen der Bun-
desrepublik Deutschland und Malta zur
Vermeidung der Doppelbesteuerung auf
dem Gebiet der Steuern vom Einkommen
und vom Vermögen

– Drucksache 17/3962 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanz-
ausschusses (7. Ausschuss)


– Drucksache 17/4280 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Kolbe
Lothar Binding (Heidelberg)


Dabei geht es um die Beschlussfassung zu einer Vor-
lage, zu der keine Aussprache vorgesehen ist.

Zweite Beratung

und Schlussabstimmung über den von der Bundesregie-
rung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen
vom 29. März 2010 mit St. Vincent und die Grenadinen
über die Unterstützung in Steuer- und Steuerstrafsachen
durch Informationsaustausch. Der Finanzausschuss
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/4280, den Gesetzentwurf der
Bundesregierung auf Drucksache 17/3959 anzunehmen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, sich zu erheben. – Wer ist dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Gesetzentwurf ist damit angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-
Fraktion bei Enthaltung der Kolleginnen und Kollegen
aus der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Frak-
tion Die Linke.

Zweite Beratung

und Schlussabstimmung über den von der Bundesregie-
rung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Abkommen
vom 7. Juni 2010 mit St. Lucia über den Informations-
austausch in Steuersachen. Der Finanzausschuss emp-
fiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/4280, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 17/3961 anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
sich zu erheben. – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? –
Der Gesetzentwurf ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Ent-





Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

haltung der Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und Die
Linke.

Zweite Beratung

und Schlussabstimmung über den von der Bundesregie-
rung eingebrachten Gesetzentwurf zu dem Protokoll
vom 17. Juni 2010 zur Änderung des Abkommens vom
8. März 2001 mit Malta zur Vermeidung der Doppelbe-
steuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen
und vom Vermögen. Der Finanzausschuss empfiehlt un-
ter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/4280, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/3962 anzunehmen. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu
erheben. – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist angenommen mit den Stimmen der Ko-
alitionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion
Die Linke bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 2 auf:

Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD

Standpunkt und Konsequenzen der Bundesre-
gierung zum ungarischen Mediengesetz

Ich eröffne die Aussprache.

Als erstem Redner erteile ich das Wort dem Kollegen
Michael Roth für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Michael Roth (SPD):
Rede ID: ID1708410200

Liebe Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen

und Kollegen! Seit vielen Jahren bin ich Berichterstatter
meiner Fraktion für Ungarn. Seit vielen Jahren bin ich
stellvertretender Vorsitzender der Deutsch-Ungarischen
Parlamentariergruppe. Vor diesem Hintergrund können
Sie sich vielleicht vorstellen, dass mir die heutige Aus-
einandersetzung alles andere als leichtfällt. Es bleibt das
große ungarische Verdienst. Wenn wir den Mut zur Frei-
heit mit einem Land Mittelosteuropas verbinden, dann
zuerst und vor allem mit Ungarn.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ungarn hat sich zu einem Zeitpunkt für Demokratie,
Freiheit und Rechtsstaatlichkeit eingesetzt, als andere
noch verängstigt zu Hause geblieben sind. Wir, unser
Land, unsere Bürgerinnen und Bürger, haben den Unga-
rinnen und Ungarn viel zu verdanken.

Wir erwarten sicherlich auch von der ungarischen
Ratspräsidentschaft Erfolg und Professionalität. Unsere
besten Wünsche, auch die meiner Fraktion, begleiten die
Verantwortlichen, die für Ungarn und mit Ungarn dafür
arbeiten, dass Europa besser gelingt und dass wir die
Probleme, nicht nur die Finanzkrise, gemeinsam bewäl-
tigen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wichtiger als der
Euro und wichtiger als der Binnenmarkt sind aber unsere
Grund- und Freiheitsrechte. Das ist unser wertvollstes
Gut.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist das Rückgrat der europäischen Identität. Das ist
nicht irgendeine Frage unter ganz vielen sachpolitischen
Fragen, sondern das ist der Kern der europäischen Zu-
sammenarbeit. Es ist für uns als Europäerinnen und Eu-
ropäer auch eine Frage der Selbstachtung und eine Frage
der Glaubwürdigkeit im Umgang mit totalitären Staaten,
mit Diktaturen auf dieser Welt. Wie ernst nehmen wir
die Freiheitsrechte? Wie ernst nehmen wir die individu-
ellen Menschenrechte? Nur dann, wenn wir sie selbst zu
100 Prozent ernst nehmen und wenn wir über jeden
Zweifel und über jede Relativierung erhaben sind, kön-
nen wir selbstbewusst und kämpferisch allen diktatori-
schen und autoritären Systemen dieser Welt offensiv ent-
gegentreten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Umso unverständlicher – das sage ich sehr deutlich –
ist das lange Schweigen des Kommissionspräsidenten,
ist das lange Schweigen und Relativieren des Ratspräsi-
denten Van Rompuy, aber auch das Schweigen und Rela-
tivieren der Bundesregierung.

Es ist gestern im Europaausschuss schon einmal da-
rüber gesprochen worden; ich will das hier für meine
Fraktion noch einmal deutlich machen: Wir haben es auf
diese Aktuelle Stunde überhaupt nicht angelegt. Wir ha-
ben Ihnen eine vereinbarte Debatte zum schnellstmögli-
chen Zeitpunkt angeboten. Wir haben Ihnen angeboten,
über einen interfraktionell zu erarbeitenden gemeinsa-
men Entschließungsantrag zu reden und zu verhandeln.
Sie haben diese beiden Angebote ausgeschlagen. Des-
wegen haben wir es als Sozialdemokratinnen und Sozial-
demokraten im Bundestag als unsere Pflicht angesehen,
jetzt diese Diskussion zu führen. Wir wollen keine juris-
tische Diskussion, sondern wir wollen eine politische
Bewertung vornehmen, wie sie im Übrigen anderswo
auch vorgenommen wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das dänische Parlament beispielsweise hat einen
Antrag gestellt, der darauf abzielt, dass sich auch die
COSAC, die Konferenz der Europaausschüsse der Mit-
gliedstaaten, kritisch mit der Frage des ungarischen
Mediengesetzes auseinandersetzt. Wir stehen dabei nicht
alleine. Es ist unsere Pflicht als nationales Parlament,
klar und deutlich unsere Stimme zu erheben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Dass das keine parteipolitische Diskussion ist, liebe
Kolleginnen und Kollegen, haben wir doch spätestens
nach der Lektüre des lesenswerten Beitrags des Vorsit-
zenden des Europaausschusses, Gunther Krichbaum,
festgestellt.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)






Michael Roth (Heringen)



(A) (C)



(D)(B)

Was Gunther Krichbaum in einem Interview gesagt hat,
findet unsere uneingeschränkte Zustimmung. Damit ist
der Vorwurf seitens der ungarischen Regierung, aber
auch aus der Mitte dieses Parlaments, wir würden hier
unsere parteipolitischen Spielchen treiben, völlig uner-
heblich.

Ich frage einmal: Was wäre, wenn eine sozialdemo-
kratische oder eine linke Regierung in Europa so etwas
getan hätte? Sie wären auf den Bäumen, Sie wären auf
dem Mount Everest, wenn wir eine solche Situation hät-
ten.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie können sich darauf verlassen, wir wären gemein-
sam mit Ihnen auf den Bäumen, egal welche Regierung
mit welcher parteipolitischen Färbung die Medienrechte
bzw. die Freiheitsrechte in Zweifel zieht.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angele-
genheiten gilt ausdrücklich nicht in der Europäischen
Union. Im Gegenteil: Es gibt die Pflicht zur Einmi-
schung. Das hat der ungarische Ministerpräsident Orban
offensichtlich auch verstanden; denn er hat angekündigt
– wir werden ihn sicherlich an seinen Taten messen –,
dass nach Überprüfung der Kommission dieses Gesetz
überarbeitet wird, wenn kritische Punkte festgestellt
werden.

Damit ist es keine innerstaatliche Angelegenheit, es ist
eine europapolitische Angelegenheit, und deswegen ge-
hört es auch hierher.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir kritisieren überhaupt nicht das ungarische Volk.
Wir kritisieren die Entscheidung der ungarischen Regie-
rung. Wir kritisieren die Entscheidung der über eine
Zweidrittelmehrheit verfügenden Regierungsfraktionen
im ungarischen Parlament. Wir respektieren und wir ver-
neigen uns vor den Demonstrantinnen und Demonstran-
ten in Budapest und in Ungarn, den Intellektuellen, den
Journalisten, den Kulturschaffenden, die in diesem de-
mokratischen Rechtsstaat Ungarn ihre Meinung zu die-
sem Gesetz kritisch geäußert haben. Darauf sind wir ge-
meinsam stolz.

Aber wir müssen auch selbstkritisch anfügen – das
sage ich zumindest für mich; für Sie von Union und FDP
kann ich das vielleicht nicht sagen –: Möglicherweise
haben wir in der EU zu oft in den vergangenen Jahren
geschwiegen oder uns desinteressiert gezeigt. Die Quali-
tät des Rechtsstaates, die Qualität der Demokratie be-
messen sich vor allem am Umgang mit den Minderhei-
ten, und wir haben bereits zu oft geschwiegen –


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708410300

Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.

Michael Roth (SPD):
Rede ID: ID1708410400

– bei der Diskriminierung von Roma, bei der Diskri-

minierung von Homosexuellen. Wir haben zu oft ge-
schwiegen beim grassierenden Antisemitismus. Wir ha-
ben geschwiegen zu den Hasskampagnen gegen den
Islam. Wir führen keine Kampagne gegen Ungarn. Wir
führen eine Kampagne für die Grundrechte.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708410500

Herr Kollege, haben Sie meine Einlassung gehört?


Michael Roth (SPD):
Rede ID: ID1708410600

Ich habe sie gehört, und deswegen mein letzter Satz:

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Europäische Union
zerbricht nicht an einem schwachen Euro; die Europäi-
sche Union zerbricht am Unernst im Umgang mit den
Grund- und Freiheitsrechten, die täglich neu erkämpft
und erstritten werden müssen, in Ungarn, in Italien, in
den Niederlanden und auch in Deutschland.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708410700

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Johann David

Wadephul für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeord neten der FDP)



Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1708410800

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Lieber Herr Kollege Roth, nicht nur die letzten
Sätze waren, weil sie über die Redezeit etwas hinausgin-
gen, überflüssig. Wir sind der Auffassung, dass diese
Debatte im Deutschen Bundestag und insbesondere Ihr
Antrag zum jetzigen Zeitpunkt unangemessen und vor-
eilig sind und dass diese Debatte dem deutsch-ungari-
schen Verhältnis deswegen nur schadet.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum sagen Sie dann was in der Debatte?)


– Herr Sarrazin, ich werde es gleich begründen.
Es bestreitet doch niemand, dass die Meinungsäuße-

rungsfreiheit zu den Grundwerten und Grundrechten auf
der Welt gehört, zum europäischen Wertekanon, spätes-
tens seit der Französischen Revolution. Dieser Werteka-
non gilt selbstverständlich auch in der Europäischen
Union.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Aber nicht nur in Sonntagsreden, lieber Freund!)


– Dass jetzt die Linkspartei anfängt, uns zu belehren,
was Grundfreiheiten angeht, das erstaunt mich gerade in
dieser Stunde sehr, Herr Kollege.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das sollte Sie nicht erstaunen!)


Es waren die Ungarn, die überhaupt dafür gesorgt ha-
ben, dass ganz Deutschland frei wurde





Dr. Johann Wadephul


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Dann hören Sie, was die Leute sagen, die für die Freiheit gekämpft haben und heute eingekerkert sind!)


und dass der Teil, den ein Teil Ihrer Vorgänger in Ihrer
Partei geknechtet hat, seine Meinung überhaupt sagen
konnte. Insofern sollten Sie zu dieser ganzen Debatte
heute schweigen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ausgangspunkt muss für uns sein, dass wir den Frei-
heitswillen des ungarischen Volkes würdigen und wis-
sen, dass dieses Volk in freier Selbstbestimmung eine
Regierung gewählt hat, die eine große Mehrheit bekom-
men hat.


(Andrej Hunko [DIE LINKE]: Aber was für eine Regierung!)


Ungarn ist 1956 für Freiheit eingestanden. Ungarn hat
1989 die deutsche Wiedervereinigung, die Freiheit aller
Deutschen wesentlich ermöglicht. Im Geiste und im Be-
wusstsein dieser Entwicklungen und dieser Leistungen
des ungarischen Volkes sollten wir Deutschen uns be-
nehmen und uns vielleicht an der einen oder anderen
Stelle auch mit Belehrungen, wie ich sie gerade eben
vom Kollegen Roth gehört habe, zurückhalten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das war doch keine Belehrung!)


Pressefreiheit ist nirgendwo grenzenlos, auch in
Deutschland nicht. Sie findet ihre Grenze in der Verlet-
zung der Rechte anderer.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Was heißt denn das jetzt?)


Deswegen haben wir Pressegesetze. In Nordrhein-West-
falen gibt es ein neues Pressegesetz, das an Schärfe
kaum zu überbieten ist. Das hören Sie zwar ungern, aber
es ist so.


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer richtet denn darüber?)


Es ist Sache des nationalen Gesetzgebers, zu prüfen,
was er tut, um Rechte zu gewährleisten. Herr Roth, Sie
haben darauf hingewiesen: Es gab schwerste Menschen-
rechtsverletzungen, auch durch die Medien, in Ungarn.
Wie dort – ich sage es einmal auf diese Art und Weise –
Kinderschutz nicht gewährleistet wurde, wie dort die
Leugnung des Holocausts nicht verboten war, das hat ein
Einschreiten notwendig gemacht. An dieser Stelle soll-
ten wir uns gar nicht als Besserwisser aufstellen.


(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Man sollte dem Kollegen Krichbaum nicht in den Rücken fallen! – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Wissen Sie, was der Herr Krichbaum dazu sagt?)


Nun ist die entscheidende Frage: Wie gehen wir mit
der Überprüfung dieses Gesetzes um? Dazu gibt es ein
Verfahren – wir leben in einer Rechtsunion, in der Euro-
päischen Union –: Die Europäische Kommission prüft
jetzt diese Gesetze. Herr Kollege Roth, Sie selber haben
politisch ein wenig schizophren argumentiert.

Sie haben selber gesagt: Wenn es denn Verstöße gibt,
dann muss man handeln. In der Tat, wenn es Verstöße
gibt, wird die Europäische Kommission diese auch
öffentlich machen. Ich begrüße, dass Ungarn auch durch
den Premierminister gesagt hat, dass man dann korrigie-
ren wird. Man kann nur nicht zu Vorfestlegungen und
Vorurteilen kommen. Sie legen aber schon jetzt einen
Antrag vor, in den Sie hineinschreiben, Sie kennten
diese Verstöße, relativiert durch das Wort „zahlreich“.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Das Gesetz ist doch bekannt! – Weitere Zurufe von der SPD)


Schon heute stellen Sie zahlreiche Verstöße fest. Das ist
aus unserer Sicht falsch, meine sehr verehrten Damen
und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich möchte noch etwas klarstellen: Der Kollege
Stübgen hat dazu gestern in der Europaausschusssitzung
etwas gesagt. Ich finde es etwas traurig, dass Sie das hier
nicht wiederholen, sondern den falschen Vortrag von
gestern noch einmal bringen. Wir haben gesagt: Wir sind
zu diesem Punkt in dem Moment zu einer vereinbarten
Debatte bereit, wo der Bericht der Kommissarin Kroes
vorliegt, wenn wir also Ergebnisse haben und wissen,
worüber wir reden. Deswegen verweise ich Sie an dieser
Stelle – das fällt mir ja nicht leicht – einmal an den Kol-
legen Martin Schulz, „den großen Sozialdemokraten aus
Deutschland“, der auf europäischer Ebene auch mit gro-
ßen Ankündigungen gestartet ist und dann insbesondere
den Antrag der Grünen im Europäischen Parlament mit
den Worten zurückgewiesen hat: Man braucht erst ein-
mal sattelfeste juristische Argumente, bevor man zu Ur-
teilen kommt. Meine sehr verehrten Damen und Herren,
das hätten Sie an dieser Stelle auch einmal beachten sol-
len.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deswegen muss ich sagen: Es ist vollkommen legitim
und auch in Ordnung, dass man unter Freunden in der
Europäischen Union auch kritische Punkte anspricht.


(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde!)


Es gibt ja keine Form der Distanzierung seitens der
CDU/CSU-Fraktion zu dem, was der Ausschussvorsit-
zende gesagt hat.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Was Sie jetzt tun, ist eine Distanzierung!)


Er hat sich dazu geäußert und gesagt, in dieser Stunde
sei es richtig gewesen, es dabei zu belassen, die Prüfun-
gen der EU-Kommission abzuwarten und danach im
Deutschen Bundestag gegebenenfalls darüber zu disku-
tieren und auch Anträge einzubringen. Dieser Schuss
ging zu schnell los, und deswegen lehnen wir ihn ab.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708410900

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Dieter Dehm für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Jörg-Diether Dehm-Desoi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708411000

Frau Präsidentin! Es gibt in Ungarn eine nur von den

rechten Machthabern besetzte Zensurbehörde, die gegen
kritische Journalisten Strafen bis zu 720 000 Euro ver-
hängen darf. Ich sage Ihnen: Wenn da nicht die Alarm-
glocken läuten! Wehret den Anfängen!


(Beifall bei der LINKEN)


Wir als linke Partei wissen, was es bedeutet, wenn die
Medien des Großkapitals, wie die Bild-Zeitung und der
Spiegel, unsere Lösungsvorschläge gegen die Finanz-
krise rücksichtslos unterdrücken und uns nur erwähnen,
wenn sie uns verleumden können.

Die Linken in Italien spüren es, wenn Berlusconi die
Meinungsvielfalt abwürgt: als staatlicher Machthaber
die öffentlichen Medien und als kapitalistischer Medien-
mafioso bei den Privaten. Aber Ungarns Rechte wollen
noch mehr: Sie wollen die totale Macht! Hauptleidtra-
gende sind kritische Journalisten und Gewerkschafter,
aber auch Wertkonservative und Priester, die die Berg-
predigt ernst nehmen, und mutige mittelständische Ver-
leger. Dies geschieht nicht in irgendeiner Bananenrepu-
blik, sondern im wirtschaftlich entwickelten Ungarn mit
dieser großen humanistischen und künstlerischen Tradi-
tion. Das ist der Skandal.


(Beifall bei der LINKEN)


Und weil in Ungarn vor allem Linke betroffen sind,
bin ich besonders den konservativen Kollegen dankbar,
die wie Gunther Krichbaum – jetzt zitiere ich ihn mal,
und das hat er nach reiflicher Überlegung gesagt – das
ungarische Mediengesetz in der Frankfurter Rundschau
„inakzeptabel“ nennen, weil damit Regimekritiker mit
– ich zitiere – „vagen und willkürlichen Begriffen wie
‚ausgewogener politischer Berichterstattung‘“ verfolgt
werden können.

Ein Wort zur SPD: Ich finde es hilfreich, dass Ihre So-
zialdemokratische Internationale den tunesischen Dikta-
tor Ben Ali und seine Staatspartei RCD ausgeschlossen
hat – wenn auch erst am Montag, was ein bisschen so ist,
als wäre jemand am 7. Mai 1945 entschlossen dem anti-
faschistischen Widerstand beigetreten. Bitte, setzen Sie
sich etwas früher dafür ein, dass im tunesischen Nach-
barland Ägypten jetzt die politischen Gefangenen – vor
allen Dingen die vielen Tausend Linken – freigelassen
werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Das würde auch mancher Lektion in Sachen Menschen-
rechte von Herrn Gabriel und Herrn Steinmeier an un-
sere Adresse etwas mehr Nachdruck verleihen.

Frau Merkel, nehmen Sie Ihren Parteifreund Viktor
Orban härter in die Pflicht, wenn sein Regime linke In-
tellektuelle bis ins Ausland verfolgt! Solcher Antikom-
munismus – das hat uns Thomas Mann gelehrt – ist die
größte Grundtorheit unserer Epoche, und dabei bleibt es.


(Beifall bei der LINKEN)


Wie lange wollen Sie noch wegschauen, wenn die
rechte Regierung de facto die Grenzen der ungarischen
Nachbarländer infrage stellt und im Ratsgebäude in
Brüssel jetzt auch noch symbolisch einen Teppich auf-
hängt, der Großungarn in den Grenzen von 1848 zeigt?


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Von 1848?)


– Von 1848!

Weil Sie diejenigen erwähnt haben, die in Ungarn
mutig die Grenze aufgemacht haben: Einer davon war
György Konrad, einstiger Präsident der Berliner Akade-
mie der Künste und Träger des Friedenspreises des
Deutschen Buchhandels. Er sagt jetzt, auch nach reichli-
cher Prüfung: Die 1989 erkämpfte Pressefreiheit wurde
rückgängig gemacht. Gibt Ihnen denn das nicht zu den-
ken?


(Beifall bei der LINKEN)


Der populäre Rundfunkmoderator Attila Mong, der
wegen seiner Kritik an dem Mediengesetz schon suspen-
diert wurde – das ist bereits geschehen –, wie übrigens
die Journalisten Ivan Andrassew und Sandor Jaszberenyi,
sagt:

Der Grund, warum die deutschen Medienkonzerne
zu allem schweigen, ist, weil sie „bekommen ha-
ben, was sie wollten, wirtschaftlich betrachtet. Was
Product Placement, Werbung und die Digitalisie-
rung der Medienlandschaft angeht, haben die
Machthaber alle Wünsche der privaten Fernsehsen-
der erfüllt.“

Meine Damen und Herren, auch Kommerz kann Freiheit
töten.


(Beifall bei der LINKEN)


Ob es gegen die Macht von Verlagskonzernen geht
oder gegen Zensurbehörden und omnipotente Parteien-
wirtschaft, ob es um linke Künstler in Ungarn geht oder
um den chinesischen Nobelpreisträger Liu Xiaobo: De-
mokratische Gewaltenteilung, unabhängige Rechtspre-
chung und Meinungsvielfalt bedürfen noch viel mehr der
Verankerung auf allen Seiten parlamentarischer Sitzord-
nungen in der EU, und darüber und darunter hinaus.

Die Kommunistin Rosa Luxemburg hat das so ausge-
drückt, dass sie damit hier an diesem Mikrofon schon
von Vertretern fast aller Parteien zitiert wurde: Freiheit
ist immer auch die Freiheit der Andersdenkenden.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: So ist es!)


Ich übersetze das einmal: Meinungsvielfalt beginnt dort,
wo es einem selbst wehtut. Es muss dann auch Ihnen
wehtun, Meinungsvielfalt einzuräumen.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Kritik am ungarischen Zensurgesetz und an dikta-
torischen Maßnahmen in Italien und anderswo, also die





Dr. Diether Dehm


(A) (C)



(D)(B)

Vision eines reinen Ideenstreits um die besten Lösungen
gegen diese Krise, ohne Angst und Terror –


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708411100

Herr Kollege, achten Sie bitte auf die Redezeit.


Dr. Jörg-Diether Dehm-Desoi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708411200

– ich bin beim letzten Satz –,


(Zuruf von der FDP: Ja, Sie sind am Ende!)


ist ein so zartes Gewächs, dass ich fürchte: Wir können
es nur parteiübergreifend pflegen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708411300

Für die FDP-Fraktion hat das Wort der Kollege

Dr. Stefan Ruppert.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Stefan Ruppert (FDP):
Rede ID: ID1708411400

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Ich freue mich zunächst einmal darüber, dass
der stellvertretende Botschafter Ungarns hier ist und
diese Debatte verfolgt,


(Beifall bei der CDU/CSU)


also sehr aufmerksam registriert, was wir hier diskutie-
ren. Ich fürchte, er hat beim letzten Beitrag einen sehr
schlechten Eindruck gewonnen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ach, wie schlimm! Ist das schlimm!)


Das tut mir ausgesprochen leid.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Entschuldigen Sie sich doch!)


An erster Stelle sollte man betonen, dass Ungarn zu un-
seren befreundeten Nationen gehört und Kern der Euro-
päischen Gemeinschaft ist. Eine solche Beschimpfung,
wie Sie sie hier eben geäußert haben, hat dieses Land
nicht verdient.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Sie sind liberal? Das sind Liberale? Das sind Brachiale!)


Insofern: Achten Sie bitte auf die Tonlage, wenn Sie
hier Kritik äußern! Ich finde, das ist im ersten Redebei-
trag, also von Herrn Roth, deutlich besser gelungen als
jetzt bei Ihnen, Herr Dehm.

Ich gehöre sicherlich nicht zu den Scharfmachern,
sondern eher zu den nachdenklichen Politikern in meiner
Fraktion.


(Lachen bei der SPD)


Scharfmacher gibt es bei uns sowieso nicht.

(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Gibt es auch Unnachdenkliche in Ihrer Partei? Wer sind denn die nicht Nachdenklichen in Ihrer Partei, die weniger Nachdenklichen?)


– Herr Dehm, ich haue auf niemanden drauf, nur weil er
Mitglied der Linken ist. Aber wenn Sie mit Ihrer überall
dokumentierten Vergangenheit


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ja! 77 zum Staatsfeind der DDR gestempelt!)


und als jemand, der mit der Stasi konkret zusammenge-
arbeitet hat, über die Frage reden, wie man mit Anders-
denkenden umgeht, dann sollten Sie sich sehr genau
überlegen, welche Tonlage Sie wählen.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Genau die angemessene! Da können Sie sicher sein!)


Auch das gehört zu Ihrer Glaubwürdigkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zuruf von der FDP: Das ist die Tonlage der Heuchelei!)


Mir persönlich fehlt der missionarische Drang, den Sie
anscheinend haben. Wenn ich eine Vergangenheit hätte
wie Sie, könnte ich niemals mit diesem moralischen Im-
petus argumentieren, wie Sie das vorhin getan haben.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Als von der Stasi gestempelter Staatsfeind ab 77?)


Nachdem wir uns lange genug mit Ihnen, Herr Dehm,
in dieser Debatte aufgehalten haben,


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


möchte ich zur Sache zurückkommen.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das haben Sie doch gemacht!)


Natürlich kann keinerlei Zweifel daran bestehen, dass
wir die Grundrechte in Europa ganz ernst nehmen müs-
sen. Sie sind Teil unserer Identität. Immer dann, wenn
wir das Gefühl haben, dass die Grundrechte in einzelnen
Mitgliedstaaten – es wurden neben Ungarn auch andere
Staaten genannt – nicht ernst genommen werden, oder
wenn es Tendenzen gibt, sie zu relativieren, müssen wir
dem mit aller Entschiedenheit entgegentreten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Tun Sie das mal!)


Mir als Jurist ist manche Klausel in diesem Gesetz zu
schwammig. Es gibt Klauseln, die man nach meiner
Meinung viel zu weit dehnen kann. Ich habe auch Pro-
bleme mit der formalen Art, wie dieses Gesetz zustande
gekommen ist.


(Beifall des Abg. Michael Roth [Heringen] [SPD])


Ich finde, man muss diesen Punkt sachlich und in aller
Freundschaft zu Ungarn ansprechen. Wir können näm-
lich in Europa nicht akzeptieren, dass es einen Bereich
gibt, in dem die Grundrechte ernster genommen werden
als in einem anderen.





Dr. Stefan Ruppert


(A) (C)



(D)(B)

Ich möchte am Ende noch darauf hinweisen, dass
mich diese Entwicklung – nicht nur die Entwicklung in
Ungarn – etwas mit Sorge erfüllt. Wenn man sich die Be-
richte der OSZE anschaut, dann kann man sagen, dass
auch andere Länder in Europa die Pressefreiheit nicht so
ernst nehmen, wie wir das eigentlich erwarten können.
Wenn man sich die Rangliste in puncto Pressefreiheit an-
schaut, dann stellt man besorgniserregende Tendenzen
fest.

Ich warte mit Neugier und Interesse, aber auch mit
Hoffnung auf den Bericht, den die Europäische Kom-
mission dazu erstellen wird. Auf der Grundlage konkre-
ter Ergebnisse und Berichte und im Hinblick auf die
Frage, was juristisch zu beanstanden ist, sollten wir – das
hat Herr Wadephul schon angekündigt – über dieses
Thema in aller Ruhe und Sachlichkeit reden. Wegen un-
serer Freundschaft mit den Ungarn dürfen wir dies nicht
im Ton missionarischer Belehrung tun. Aber in der Sa-
che müssen wir glasklar argumentieren und dürfen kei-
nen Millimeter von unserer Grundrechtsüberzeugung ab-
weichen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wenn wir das tun, werden wir die ungarischen
Freunde


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das hat gestern wunderbar funktioniert!)


– Sie vielleicht nicht, aber wir – an unserer Seite behal-
ten. Wir werden gleichwohl die Grundrechte in Europa
stärken und dafür sorgen, dass sie weiterhin durchgesetzt
werden. Ich glaube, es kommt sehr auf die Tonlage an.
Es kommt auf die Sachlichkeit und nicht auf den Affekt
an, den Sie hier gezeigt haben. Ich wünsche mir daher,
dass die weitere Debatte etwas sachlicher als Ihre Rede
verläuft.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708411500

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Frithjof Schmidt

für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ungarn blickt in der Tat auf eine stolze Geschichte des
Widerstandes gegen Unterdrückung zurück. Es ist hier
schon an den ungarischen Volksaufstand von 1956 erin-
nert worden. Wir wissen alle: Ohne die ungarische
Grenzöffnung wäre die deutsche Wiedervereinigung
nicht so schnell gekommen. Europa und gerade wir
Deutsche verdanken Ungarn viel. Das muss hier mit al-
ler Klarheit gesagt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Deshalb ist es eigentlich ein Grund zur Freude, dass
Ungarn jetzt die Präsidentschaft des Europäischen Rates
hat. Und dann das: Es gibt in Ungarn ein neues Medien-
gesetz, das eine Gefahr für die Pressefreiheit darstellt.
Natürlich gehört dieses Thema hierher. Was, wenn nicht
das?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ein Gesetz, das ganz offensichtlich in wichtigen
Punkten gegen Wort und Geist der europäischen Grund-
rechtecharta verstößt, das können Sie doch politisch be-
werten. Verstecken Sie sich da nicht hinter juristischen
Prüfverfahren, so langsam sind Sie doch sonst auch
nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich will nur drei Punkte aus diesem Gesetz nennen, die
es in sich haben, und das wissen Sie auch.

Erstens werden die Medien in Ungarn verpflichtet,
„ausgewogen“ zu berichten, was immer „ausgewogen“
genau heißen mag. Darüber entscheidet nicht etwa ein
Gericht, sondern ein Medienrat, der auch sehr hohe
Geldstrafen verhängen kann. Der ungarische Schriftstel-
ler György Dalos, Träger des Leipziger Buchpreises, hat
sehr deutlich davor gewarnt, was das heißen könnte
– das sollten Sie zur Kenntnis nehmen –, nämlich zum
Beispiel den Ruin kleinerer Zeitungen und natürlich da-
durch auch eine Abstrafung von Kritik. Das ist ein unga-
rischer Demokrat; der weiß durchaus, worüber er in sei-
nem eigenen Land redet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Zweitens wurde der Medienrat ausschließlich mit
Persönlichkeiten besetzt, die der Regierung nahestehen.
Eine Vertretung der Zivilgesellschaft oder der Opposi-
tion ist also für die nächsten neun Jahre nicht gegeben.
Das könnte also – einmal ganz vorsichtig formuliert –
darauf hinauslaufen, dass die Regierungsmehrheit die
Medien überwacht, ob sie auch ausgewogen im Sinne
dieser Mehrheit berichten. Sonst gibt es halt Sanktionen.

Drittens kann dieses neue Mediengesetz nur mit
Zweitdrittelmehrheit verändert werden. Demokratische
Korrekturen sind also nur äußerst schwer erreichbar. Das
können Sie nun wirklich nicht gut finden oder ignorie-
ren, dass das gegen den Geist der europäischen Grund-
rechtecharta verstößt. Um so etwas festzuschreiben,
wurde extra die Verfassung geändert.

Das alles ist ein Affront gegen die demokratische Ge-
sellschaft Ungarns, die wir sehr schätzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es ist auch ein Affront gegen die Europäische Union;
denn ein Land, das so gegen den Geist der Grund-
rechtecharta verstößt, kann die Europäische Union inter-
national nicht glaubwürdig repräsentieren.





Dr. Frithjof Schmidt


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es ist doch klar: Eine solche Ratspräsidentschaft er-
schüttert die Glaubwürdigkeit Europas, wenn es darum
geht, undemokratische Zustände in anderen Teilen der
Welt zu kritisieren. Gerade deshalb sollten wir alle die
Proteste dort in Ungarn mit besonderem Engagement un-
terstützten. Das kann niemand als antiungarisch bezeich-
nen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, da
irritiert es schon, wenn Ihr Fraktionsvorsitzender im Eu-
ropaparlament, Herr Daul, sich über die „politisch moti-
vierten Vorwürfe gegen die ungarische Regierung“ mo-
kiert. Ich verstehe ja sein politisches Problem, dass Herr
Orban auch zur Europäischen Volkspartei gehört. Aber
bei der Verteidigung der Pressefreiheit darf es eine sol-
che politische Rücksichtnahme nicht geben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich sage Ihnen das ganz direkt, denn Sie können hier
mit der Europäischen Volkspartei und durch die Europäi-
sche Volkspartei helfen. Nehmen Sie Einfluss auf Herrn
Orban! Fordern Sie doch wenigstens, dass er das Gesetz
sofort und so lange aussetzt, wie die Europäische Union
es prüft. Das wäre doch einmal eine Forderung, wenn
Sie sich schon hinter dem Prüfprozess verstecken. Wa-
rum tun Sie das eigentlich nicht?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Wir müssen uns gemeinsam dafür starkmachen, dass
die ungarische Regierung dieses Gesetz zurücknimmt
und sich darüber hinaus in Wort und Tat an die europäi-
schen Grundwerte hält. Falls Ungarn die beanstandeten
Passagen nicht zurücknimmt, muss nach unserer Über-
zeugung ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet
werden.

Europa ist für viele Menschen überall auf der Welt
durchaus ein Vorbild, was Demokratie und Freiheit an-
geht. Aber nur, wenn wir selbst uns gegen Einschrän-
kungen von demokratischen Rechten in der Europäi-
schen Union zur Wehr setzen, erhalten wir uns diese
demokratische Ausstrahlung. Das ist die Aufgabe, die
wir auch hier und heute haben. Deshalb haben wir ge-
meinsam mit der SPD-Fraktion zusätzlich diese Woche
den Antrag in den Bundestag eingebracht.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708411600

Das Wort hat nun der Kollege Karl Holmeier für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Karl Holmeier (CSU):
Rede ID: ID1708411700

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Zu Beginn dieses Jahres hat Ungarn die Ratspräsident-
schaft in der Europäischen Union übernommen. Das ist
eigentlich ein bedeutendes Ereignis für die EU. Bedauer-
licherweise wird es aber in der europäischen Öffentlich-
keit und leider auch in Deutschland von einem ganz
anderen Thema überschattet, dem ungarischen Medien-
gesetz.

Bei der Debatte um dieses Gesetz redet so ziemlich
jeder mit, und jeder meint plötzlich, ein Fachmann im
Medienrecht zu sein. Das Urteil steht dabei für viele
– vor allem für das linke Lager – bereits von Anfang an
fest. Das ungarische Mediengesetz verstößt gegen EU-
Recht, es verstößt gegen völkerrechtliche Verträge und
bedroht die Medienfreiheit. Ich möchte zu diesem
Thema keine langen Ausführungen machen und hier we-
der als Anwalt Ungarns auftreten noch den Eindruck er-
wecken, mir sei die Freiheit der Medien egal. Ich will Ih-
nen aber gerne drei Punkte zum Nachdenken ans Herz
legen:

Erstens. Eigentlich sollten wir in diesem Rahmen
wichtige Themen für unser Land, für Deutschland, dis-
kutieren. Stattdessen reden wir über ein ungarisches Ge-
setz,


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das ist ja nicht zu fassen!)


zu dem es noch dazu nicht einmal eine vollständige
Übersetzung gibt. Es entspricht meines Erachtens nicht
gerade gutem parlamentarischen Stil, im Deutschen
Bundestag über ungarische Gesetze zu debattieren.


(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Dafür muss sich ja jeder FDP-Kollege schämen!)


Ungarn ist ein souveräner Staat genau wie Deutsch-
land.


(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Sie wollten mal eine Europapartei gründen!)


Genauso, wie wir nicht wollen, dass Ungarn sich in un-
sere Gesetzgebung einmischt, sollten wir den Ungarn
auch nicht in ihre Gesetzgebung hineinreden.


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wollen Sie die Weißwurstdebatte nicht absetzen?)


Zumindest sollten wir eine endgültige Prüfung durch die
zuständigen Gremien abwarten.

Zweitens. Ungarn ist im Gegensatz zu vielen anderen
Ländern tatsächlich eine lupenreine Demokratie. Ich zi-
tiere einen deutschen Journalisten, der in Ungarn eine
deutschsprachige Zeitung herausgibt:

Orbán ist kein Antidemokrat. Und Ungarn ist nicht
Nordkorea, …

Wir können doch einem demokratischen Land wie Un-
garn nicht vor Abschluss einer eingehenden juristischen
Prüfung unterstellen, rechtswidrige Gesetze zu schreiben





Karl Holmeier


(A) (C)



(D)(B)

und Grundrechte wie die Freiheit der Medien zu verlet-
zen.

Der SPD-Europaabgeordnete Martin Schulz hat selbst
gesagt, Sorgfalt gehe vor Schnelligkeit. Wenn das so ist,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, warum
sind Sie denn so vorschnell dabei, zu erklären, das Ge-
setz sei rechtswidrig, obwohl es gerade erst geprüft
wird? Hier findet eine Vorverurteilung statt, die einem
souveränen Staat gegenüber überaus unangemessen ist.
Sie ist jedoch gegenüber einem Staat, der mit Deutsch-
land freundschaftlich verbunden und zugleich ein Part-
ner in der Europäischen Union ist, ein offener Schlag ins
Gesicht. So geht man mit Freunden nicht um.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der LINKEN: Wer hat denn das geschrieben?)


Dies führt mich zu meinem letzten Punkt: Bei aller
möglicherweise berechtigten Kritik sollte man nie ver-
gessen, dass der Ton die Musik macht.


(Zuruf von der SPD: Sie haben ja ganz schrille Töne!)


Der Ton gegenüber den Ungarn ist in dieser Debatte in-
akzeptabel. Hier wird eine Kampagne gegen Ungarn ge-
fahren, die nicht nur die eingangs erwähnte Ratspräsi-
dentschaft überschattet,


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Pressefreiheit à la Bayernkurier!)


sondern im Rahmen derer Ungarn sogar die Fähigkeit
zur Übernahme der Ratspräsidentschaft abgesprochen
wird. Das ist das eigentlich Skandalöse.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Nehmen Sie mal einen anderen Redenschreiber als den vom Bayernkurier!)


Hier wird eine bürgerlich-konservative Regierung an
den Pranger gestellt.


(Lebhafter Widerspruch bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Hier wird Schaden an freundschaftlichen Beziehungen
angerichtet.

Hier werden die ungarischen Bürger, die in der Mehr-
heit die Kritik an dem Gesetz nicht teilen,


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Da kenne ich noch andere Länder, wo die Kritik auch nicht geteilt wird!)


provoziert und gegen Bürger anderer EU-Staaten, auch
Deutschlands, aufgebracht. Dies gilt übrigens auch für
ungarische Journalisten. Die Journalisten in Ungarn sind
es letztlich, die von dem Gesetz betroffen sind.


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Bürger nicht, oder was?)


Sie fühlen sich jedoch anders als viele vermeintliche
Retter der Medienfreiheit nicht durch das neue Medien-
gesetz eingeschränkt. Sie halten den Aufschrei gegen
das Gesetz für überzogene Hysterie. Die viel zitierte
Selbstzensur wird in Ungarn jedenfalls nicht befürchtet.
Diese Kampagne ist unverantwortlich, und damit be-
fassen wir uns in einer Aktuellen Stunde. Die Ratspräsi-
dentschaft und die Schwerpunkte, die Ungarn setzen
möchte, wären ein würdiger Anlass für eine Debatte ge-
wesen;


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das ist eine schöne Volkskammerrede vor 1989!)


ein in der Prüfung befindliches nationales Gesetz Un-
garns ist es aus meiner Sicht nicht.

Abschließend wünsche ich der ungarischen Regie-
rung viel Erfolg bei ihrer Ratspräsidentschaft.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ich liebe euch alle!)


Ungarn hat sich viel vorgenommen und steht vor großen
Herausforderungen.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ich liebe euch alle!)


Es möchte Europa stärken und stabiler machen, es
möchte Europa bürgernäher machen,


(Zuruf von der LINKEN: Auch freier?)


und es möchte dabei als ehrlicher Makler auftreten.
Meine Unterstützung hat die ungarische Regierung hier-
bei.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Peinlich, peinlich, peinlich! Vorwärts immer, rückwärts nimmer!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708411800

Nächster Redner ist der Kollege Martin Dörmann für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Martin Dörmann (SPD):
Rede ID: ID1708411900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ja, ausgerechnet Ungarn! Ungarn, dem Deutschland und
die anderen europäischen Länder so viel zu verdanken
haben, Ungarn, das 1989 zu jenen Ländern gehörte, die
einen entscheidenden Anteil an der Überwindung des Ei-
sernen Vorhangs hatten, Ungarn, das wir alle als ein
Symbol für den Kampf um Meinungsfreiheit und andere
Freiheitsrechte verstehen. Europa – da sind wir uns,
denke ich, alle einig – sähe ohne das entschiedene Han-
deln der Ungarn im Jahre 1989 anders aus.

Ich freue ich mich, dass heute der stellvertretende
Botschafter Ungarns unter uns ist. Wir begrüßen es sehr,
dass Ungarn die Ratspräsidentschaft hat, weil es uns die
Chance gibt, gemeinsam mit den Ungarn auch über diese
Themen zu diskutieren. Denn so wie wir den Ungarn für
ihren damaligen Mut dankbar sind, so können die Un-
garn heute von uns umgekehrt erwarten, dass wir uns zur
Bedrohung der Meinungsfreiheit in ihrem Land deutlich
zu Wort melden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)






Martin Dörmann


(A) (C)



(D)(B)

Warum hat Ungarn einen Antrag auf Beitritt zur Euro-
päischen Union gestellt? Weil die Menschen in die Euro-
päische Union aufgenommen werden wollten, damit
auch in die europäische Werteordnung. Heute sind sie
angekommen. Jetzt steht auf dem Prüfstand, ob wir das
ernst nehmen, ob wir uns als diejenigen verstehen, die
die Rechte, die das ungarische Volk an dieser Stelle hat,
auf europäischer Ebene durchsetzen. Darum geht es
heute.


(Beifall bei der SPD)


Es ist nicht das ungarische Volk, das dieses Gesetz be-
schlossen hat; es ist in einer Nacht-und-Nebel-Aktion
von der konservativen Regierung Orban mit ihrer Zwei-
drittelmehrheit, die sie nun einmal im Parlament hat,
durchgedrückt worden, wie ich meine, ohne Rücksicht
auf Verluste.

Ich will eine ungarische Stimme zitieren. Der ungari-
sche Autor György Konrad beschreibt die Folgen dieses
Mediengesetzes wie folgt:

Wir sprechen von einem Mediengesetz, doch im
Wesentlichen geht es um die Erstickung der Presse-
und kulturellen Freiheit. Gestohlen wird uns das,
was das Ziel und die Errungenschaft der öffentli-
chen und illegalen demokratischen Bewegung so-
wie das Wunder von 1989 war. …

Die Rede ist von einer neuartigen Diktatur. Ihre
Neuartigkeit besteht darin, dass sie versucht, inner-
halb der Europäischen Union zu existieren und zu
wirken.

Lassen wir nicht zu, dass die Werte Europas auf diese
Weise ausgehöhlt werden. Schweigen wir nicht, wenn
die Berlusconis und Orbans in Europa selbst bestimmen
wollen, ob Kritik an ihnen erlaubt ist oder eben nicht.
Eine staatliche Kontrolle der Medien, so wie es das un-
garische Mediengesetz vorsieht, steht im Widerspruch
zur Charta der Grundrechte der EU, zur Europäischen
Menschenrechtskonvention und zu den Grundrechtstra-
ditionen der Mitgliedstaaten. Angriffe auf die Presse-
und Medienfreiheit und auf das Prinzip der Gewaltentei-
lung sind Angriffe auf den Wesenskern der Europäi-
schen Union. Alle demokratisch gesinnten Kräfte sind
aufgerufen, sich derartigen Entwicklungen entschieden
entgegenzustellen. Deshalb ist das weitgehende Schwei-
gen der Bundesregierung in der Tat kaum nachvollzieh-
bar.

Herr Dr. Hoyer, ich schätze Sie als Kölner Kollege
und – Sie wissen das – als einen sehr bedächtig und an-
gemessen redenden Menschen. Ich habe Sie beobachtet;
ich interpretiere das. Ich glaube, es kann Ihnen bei den
Wortbeiträgen, die heute sowohl aus Reihen der FDP-
Fraktion als auch der Unionsfraktion gekommen sind,
nicht wohl gewesen sein.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Ich finde es schon skandalös, wenn hier, wie schon
gestern im Europäischen Parlament, ein Vergleich zwi-
schen dem nordrhein-westfälischen Mediengesetz und
dem ungarischen Mediengesetz gezogen wird. Gegen ei-
nen Verstoß gegen Datenschutzbestimmungen vorzuge-
hen, ist doch etwas anderes, als in einem Gesetz die
Pflicht zur ausgewogenen Berichterstattung zu konsta-
tieren, wie es in Ungarn geschieht, zumal ein einseitig
regierungsnah besetztes staatliches Gremium – der Kol-
lege Dr. Schmidt hat zu Recht darauf hingewiesen – de-
finieren, kontrollieren und sanktionieren kann, unter kla-
rer Missachtung der Gewaltenteilung. Dabei gehört doch
die Möglichkeit, in der Berichterstattung eine Tendenz
zum Ausdruck zu bringen, zum Wesen der Meinungs-
freiheit. Deshalb sage ich auch: Es ist bedauerlich, dass
sich die deutschen Medien, die sehr stark in Ungarn ver-
treten sind, bisher sehr zurückhaltend geäußert haben.
Ich hoffe nicht, dass das ein erstes Zeichen dafür ist, dass
dieses Gesetz wirkt; denn wir alle wissen: Gerade Me-
diengesetze wirken nicht erst dann, wenn der erste Jour-
nalist eine Strafe zahlen muss oder wenn die erste Zei-
tung geschlossen wird. Ein solches Mediengesetz wirkt
bereits dann, wenn alle die Gefahr sehen und wenn die
Schere im Kopf da ist. Genau das ist das Ziel dieses Ge-
setzes.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb müssen wir uns hier und heute äußern. Es reicht
nicht, wenn die FDP sagt, wir müssten sachlich debattie-
ren. Sie haben hier nicht sachlich debattiert, weil Sie am
Kern des Problems vorbeigegangen sind.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Lassen Sie mich zusammenfassen: Die SPD-Fraktion
fordert von der ungarischen Regierung und dem ungari-
schen Parlament nicht nur die inzwischen halbwegs
zugesagte Überprüfung, sondern tatsächlich die Aufhe-
bung, zumindest aber die Aussetzung des undemokrati-
schen und europarechtswidrigen Mediengesetzes.


(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Sind Sie der Souverän?)


Wir erwarten von der Bundesregierung, von der EU-
Kommission und auch vom EU-Parlament, dass diese
sich mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln für
dieses Ziel einsetzen.


(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Das ist eine Anmaßung! So etwas Undemokratisches!)


Dafür haben wir sie geschaffen.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708412000

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.


Martin Dörmann (SPD):
Rede ID: ID1708412100

Das wäre im Interesse eines freien und demokrati-

schen Ungarn und im Interesse eines zukunftsfähigen
Europas. Darum geht es hier.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(D)(B)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708412200

Für die Bundesregierung hat nun Herr Staatsminister

Dr. Werner Hoyer das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


D
Dr. Werner Hoyer (FDP):
Rede ID: ID1708412300


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sie alle waren wahrscheinlich noch mit dem Aufhängen
der Weihnachtskugeln befasst, als ich in den Tagen vor
Heiligabend in deutlicher Form zu den Sorgen über das
ungarische Mediengesetz Stellung genommen und damit
in Budapest zweifellos nicht nur Freude ausgelöst habe.
Aber ich war der Auffassung, dass es erforderlich ist,
frühzeitig darauf hinzuweisen, wenn man Bedenken hat.
Man muss kein endgültiges Urteil abgeben, aber man
muss Fragen stellen, und die müssen vom Adressaten
befriedigend beantwortet werden. Wenn sie nicht befrie-
digend beantwortet werden, muss man gegebenenfalls
etwas ändern. Das ist deutlich geworden.

Ich möchte mich bei all denen bedanken – Sie einge-
schlossen –, die das Thema, über das wir heute diskutie-
ren, in einen größeren Rahmen stellen. Der große Rah-
men ist durch das geprägt, was wir an den Ungarn
bewundern und was wir ihnen zu verdanken haben. Ich
spreche von dem unbändigen Freiheitswillen, der in Un-
garn als dem ersten Land zum Ausdruck gekommen ist,
als es zu einem großen Aufstand kam. Er ist auch
dadurch zum Ausdruck gekommen, dass die Ungarn
Deutschen den Weg über Österreich in die Freiheit er-
möglicht haben. Das war eine großartige Leistung. Wir
haben in den 90er-Jahren immer gesagt: Wir werden
euch das nie vergessen. – Nach einiger Zeit haben mir
ungarische Freunde gesagt: Wir können es nicht mehr
hören. Ihr müsst einmal konkret werden. Ihr dürft nicht
immer nur Worte machen. – Jetzt ist der Zeitpunkt ge-
kommen, dass wir die Ungarn, die jetzt erfreulicher-
weise in unserer Wertegemeinschaft der aufgeklärten,
rechtsstaatlichen europäischen Demokratien angekom-
men sind, darauf hinweisen, dass wir wegen einer mögli-
chen Fehlentwicklung Sorge haben. Wir sollten das aber
bitte in einem Umgangston tun, der diesem besonderen
Verhältnis Deutschlands zu Ungarn angemessen ist.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir haben – auch das ist bereits gesagt worden – ein
Interesse an einer starken und erfolgreichen ungarischen
Ratspräsidentschaft, zumal in einer für die Europäische
Union herausfordernden Zeit. Bei den im letzten Jahr ge-
stellten Weichen ist jetzt Entschlossenheit das Gebot der
Stunde, Entschlossenheit bei der Umsetzung der Be-
schlüsse des Europäischen Rates, zum Beispiel um un-
sere Währung sturmfest zu machen, Entschlossenheit,
um den zum Teil sehr schmerzlichen Weg der Konsoli-
dierung, auch der Haushaltskonsolidierung, fortzuset-
zen, und Entschlossenheit, neue Wege bei der Vertiefung
und bei dem Zusammenwachsen Europas zu gehen. Da-
her ist die Ratspräsidentschaft wichtig.
Eine Ratspräsidentschaft ist aber kein Orden, den man
sich ans Revers heftet, sondern Ratspräsidentschaft
heißt: gründliche Vorbereitung und sehr viel Arbeit. Wir
wünschen unseren ungarischen Freunden viel Erfolg bei
dieser kräftezehrenden Aufgabe, und wir werden sie
nach Kräften unterstützen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die Durchführung der Ratspräsidentschaft bringt eine
besondere Verantwortung mit sich. Trotz des Inkrafttre-
tens des Vertrages von Lissabon ist das jeweilige Mit-
gliedsland, das die Ratspräsidentschaft wahrnimmt, die
Stimme Europas. Ungarn spricht in diesem ersten Halb-
jahr für die ganze Europäische Union, für uns alle. Es ist
daher leicht nachvollziehbar, dass sich der Fokus in die-
ser Zeit auf die Ratspräsidentschaft richtet. Niemand
kann ein Interesse daran haben, dass sich auf die exzel-
lent vorbereitete Ratspräsidentschaft ein Schatten legt,
der die bisherigen Bemühungen überlagert.

Europa – das ist Einheit in Vielfalt: Vielfalt im Sinne
eines toleranten Miteinanders, das pluralistische Strö-
mungen zulässt und die Rechte der Minderheiten ganz
besonders schützt. Dies war das Leitmotiv der Antritts-
rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel im Europäi-
schen Parlament zu Beginn der deutschen Ratspräsident-
schaft 2007. Es sollte uns auch heute noch leiten.

Vereint sind wir in Europa auch als Gemeinschaft der
Werte, auf die wir alle verpflichtet sind: Freiheit, Men-
schenrechte, Rechtsstaatlichkeit. Das sind die Säulen.
Sie wurden vor langer Zeit erkämpft und tragen Europa.
Eines ist klar: Die Freiheit der Presse ist ein fundamenta-
ler Wert in diesem Kontext.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Nicht für Pressefreiheit einzustehen, hieße, dieses Fun-
dament zu gefährden. Wir würden an Glaubwürdigkeit
verlieren, auch und gerade im Gespräch mit Staaten, die
wir von diesen Werten zu überzeugen versuchen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau, Herr Kollege!)


Wenn Bedenken aufkommen, dass die Freiheit der
Presse in einem Mitgliedsland der Europäischen Union
irgendeiner inhaltlichen Kontrolle unterworfen sein
könnte – sei es auch nur in Form einer antizipierten
Selbstzensur, gewissermaßen einer Schere im Kopf –,
dann ist das für die Union als Ganzes Grund zur Besorg-
nis, ganz besonders, wenn dieses Land die Ratspräsi-
dentschaft innehat. Dieser Anspruch, den wir hier erhe-
ben, richtet sich an ein bereits in Kraft getretenes und
damit in seinem Anwendungsbereich allgemeingültiges
Gesetz und nicht erst an mögliche Formen der konkreten
Anwendung. Es zeugt übrigens von einem merkwürdi-
gen rechtsstaatlichen Verständnis, wenn man das anders
sieht. Die Bundesregierung hat sich von daher klar posi-
tioniert. Wir haben unserer Erwartung Ausdruck verlie-
hen, dass die Stellen im Mediengesetz geändert werden,
die mit fundamentalen Werten in Konflikt stehen.

Ich halte auch nichts davon, dass wir zulassen, dass
das ungarische Gesetz mit Gesetzen verglichen wird, die





Staatsminister Dr. Werner Hoyer


(A) (C)



(D)(B)

im Bundestag oder in unseren Landesparlamenten verab-
schiedet wurden. Damit tun wir uns selbst unrecht.


(Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe mir heute die Mühe gemacht, das nordrhein-
westfälische Mediengesetz noch einmal genau zu lesen.
Es ist zwischen 1966 und 2008 von 27 auf sympathische
17 Paragrafen reduziert worden. Das ungarische Me-
diengesetz ist dagegen im Original ein richtiger Wälzer.
Kein Wunder, dass noch nicht jeder die Übersetzungen
gelesen hat. Im nordrhein-westfälischen Mediengesetz
kann ich wirklich nichts Angreifbares bezüglich des
Sachverhaltes finden, über den wir hier sprechen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir müssen ehrlich mit uns selbst sein. Ich finde es nicht
angemessen, den Kolleginnen und Kollegen aus Nord-
rhein-Westfalen, gleich welcher Fraktion, solche Vor-
würfe zu machen.

Ich möchte deutlich machen, dass durchaus einzelne
Elemente des ungarischen Mediengesetzes in verschie-
denen Gesetzen der Europäischen Union vorhanden sein
können und dort möglicherweise sogar Sinn machen.
Datenschutzvorschriften zum Beispiel nehme ich außer-
ordentlich ernst. Diese wurden auch beim nordrhein-
westfälischen Gesetz inkriminiert; das kann ich über-
haupt nicht verstehen. Erst die Kumulation von Einzel-
vorschriften zu einem Gesamtwerk kann Bedenken aus-
lösen oder Probleme verschärfen.

Ich möchte einige unserer Zweifel konkret benennen.
Dazu gehören die umfassenden Kompetenzen des neu
geschaffenen Medienrates zur Kontrolle von Inhalten
der Berichterstattung, die einseitige personelle Beset-
zung dieses Gremiums für einen Zeitraum von immerhin
neun Jahren,


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Höchstens!)


die im Gesetz verankerte Pflicht zur Offenlegung von
Quellen – das ist ein im Hinblick auf die Freiheit von
Journalisten ganz elementarer Satz –, die inhaltlichen
Vorgaben durch zahlreiche unbestimmte Rechtsbegriffe,
verknüpft mit weitreichenden Sanktionsmöglichkeiten,
und der den öffentlich-rechtlichen Sendern obliegende
Zwang zur Übernahme der Nachrichten einer einzigen
staatlichen Nachrichtenagentur.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur noch gegen links!)


Unser Rat an unsere guten ungarischen Freunde ist,
die bestehenden Zweifel in enger Zusammenarbeit mit
der Kommission und der OSZE auszuräumen. Die
OSZE hat gestern durch ihre Medienbeauftragte eine
erste, weitgehend mit unseren vorsichtigen Analysen
übereinstimmende Bewertung abgegeben. Ich finde, dies
ist nicht nur vor dem Hintergrund der im Befreiungspro-
zess von Mittel- und Osteuropa begründeten historischen
Kompetenz der OSZE von besonderer Bedeutung. Wir
sind nicht nur den Grundsätzen der Europäischen Union,
sondern auch denen der OSZE verpflichtet.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Kommission wird in den nächsten Tagen zu den
Punkten, an denen sie Nachbesserungsbedarf vermutet,
Fragen stellen. Ehrlicherweise muss man mit Offenheit
an diese Prüfung herangehen; denn wir bewegen uns auf
dem Gebiet einer sehr schwierigen Rechtsmaterie. Es ist
weiß Gott viel zu früh, endgültige Festlegungen zu tref-
fen. Aber die richtigen Fragen müssen von der Kommis-
sion gestellt werden.

Wir sind zuversichtlich, dass es hier zu substanziellen
Verbesserungen kommen kann. Gleichzeitig sehen wir
natürlich das Problem des maßgeblichen Prüfungsmaß-
stabes. Eine solche Einschränkung der Pressefreiheit
wäre eben nicht nur eine Verletzung sekundärrechtlicher
Vorschriften. Eine solche Einschränkung würde den
Kern unserer Grundwerte und Grundrechte berühren. Sie
muss daher auch unter diesem Gesichtspunkt, das heißt
primärrechtlich, behandelt werden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Auch hier ist die Kommission als Hüterin der Verträge
gefordert. Übrigens ist und war die Beachtung dieser
Grundwerte auch Voraussetzung für einen Beitritt zur
Europäischen Union.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Genau! – Weiterer Zuruf von der SPD: So ist es!)


Meine Damen und Herren, Sie sehen: Die Bundes-
regierung hat die Dimension und das Gewicht dieser
Problematik erkannt, zumal die innenpolitische Ent-
wicklung in Ungarn nicht nur von diesem Gesetzge-
bungsvorhaben geprägt ist. Als große und überzeugte
Freunde Ungarns stehen wir jederzeit zur Unterstützung
bereit. Wir bitten unsere Freunde in Ungarn, das nicht
als Angriff auf Ungarn misszuverstehen. Das ist eine
ganz konkrete Hilfe unter Partnern und Freunden in der
Europäischen Union, bei der es darum geht, Fehlent-
wicklungen zu vermeiden und Schaden von Ungarn und
der Europäischen Union abzuwenden.

Jetzt ist die Kommission am Zuge. Ich habe Vertrauen
darauf, dass die Kommission ihrer Pflicht zur sorgfälti-
gen Analyse vollumfänglich nachkommt. Und: Ich be-
grüße die von Außenminister Martonyi geäußerte Bereit-
schaft, auf den Rat guter Freunde einzugehen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Martin Dörmann [SPD]: Da müssen aber einige Kollegen der Koalition ihre Reden umschreiben!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708412400

Der Kollege Frank Hofmann hat das Wort für die

SPD-Fraktion.






(A) (C)



(D)(B)


Frank Hofmann (SPD):
Rede ID: ID1708412500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrter Herr Staatsmi-
nister Hoyer, ich möchte Ihnen ganz persönlich recht
herzlich für diese Rede und die Offenheit danken,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


mit der Sie die Verbundenheit zum ungarischen Volk,
aber auch die möglichen Kritikpunkte deutlich angespro-
chen haben. Ich frage mich, wie es sein kann, dass Herr
Holmeier zu einer völlig anderen Einschätzung kommt;


(Dr. Eva Högl [SPD]: Oh ja! Das fragen wir uns alle!)


auch er gehört doch, wie ich glaube, dieser Regierungs-
koalition an.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe festgestellt, dass die FDP nach dieser Rede re-
gungslos dasaß.

An dieser Stelle möchte ich auch Herrn Wadephul an-
sprechen. Sie haben dieses Thema aus meiner Sicht be-
handelt, als gehe es um so etwas wie einen Verwaltungs-
akt, den man erst einmal abwarten sollte. Ich hoffe, dass
Sie, nachdem Sie die Rede des Staatsministers gehört
haben, zu einer anderen Einschätzung kommen werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es geht nämlich um den Kern der europäischen Grund-
rechte. Diese Formulierung hat der Staatsminister ge-
braucht, und ich greife sie gerne auf.


(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Aber die Verletzung ist doch noch nicht erwiesen! Sie wird doch gerade erst geprüft!)


– Es ist eine politische Aufgabe, sich über dieses Thema
zu unterhalten. Dazu sind wir hier. Wir sind kein Verwal-
tungsgericht, sondern wir müssen Politik machen.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte einige weitere Punkte ansprechen. Ich war
zusammen mit Axel Schäfer am 5. Januar dieses Jahres
in Budapest. Dort haben wir uns mit zwei Chefredakteu-
ren zweier Zeitungen und mit dem stellvertretenden
Staatssekretär Pröhle unterhalten. Ich möchte Ihnen von
meinen Eindrücken aus diesen Gesprächen berichten.

Die Partei Fidesz erhielt bei den Wahlen einen Anteil
von etwa 52 Prozent der abgegebenen Stimmen und ver-
fügt durch Direktmandate über eine Zweidrittelmehrheit.
Wir hören immer nur von einer Zweidrittelmehrheit der
Partei. Sie stellt inzwischen aber nicht nur die Regierung
und beherrscht das Parlament, sondern sie besetzte auch
sämtliche Verfassungsorgane und nahezu alle Einrich-
tungen des öffentlichen Lebens. Im Moment gibt es noch
eine Ausnahme, nämlich die Zentralbank. In der Minis-
terialbürokratie wurden bereits sämtliche Leitungsposten
bis zur Ebene der Referatsleiter neu besetzt. Die bisheri-
gen Amtsinhaber wurden entlassen. Ohne Angabe von
Gründen kann das Personal in der öffentlichen Verwal-
tung mit einer Frist von zwei Monaten entlassen werden.
Wenn wir bei uns von Beamten reden, wissen wir, was
das bedeutet.

Trotz Neubesetzung durch zwei Fidesz-treue Richter
wies das Verfassungsgericht eine rückwirkende 98-pro-
zentige Sondersteuer auf Abfindungen im öffentlichen
Sektor einstimmig zurück. Was machen Herr Orban und
seine Regierung? Sie brachten das Gesetz mit kleinen
Änderungen erneut ein und entzogen gleichzeitig dem
Verfassungsgericht de facto die Normenkontrollbefugnis
für den Fiskalbereich. Vor diesem Hintergrund kann ich
nur davor warnen, darauf zu vertrauen, dass es im Me-
dienbereich schon nicht so schlimm kommen werde, wie
die Kritiker befürchten.

Das Mediengesetz und die Medienverfassung sind
aus meiner Sicht ein weiterer Schritt, um allein die Partei
in den Vordergrund zu stellen. Es wurde schon erwähnt,
dass nun für neun Jahre eine Fidesz-Repräsentantin den
Vorsitz im neu geschaffenen Medienrat führt. Dabei geht
es nicht um die Kontrolle des Wettbewerbs, sondern um
die Medieninhalte. Durch regierungstreues Personal
wird das Ganze dann kontrolliert und sanktioniert, ge-
sellschaftliche Gruppierungen sind nicht vertreten, das
sprachen Sie ja schon an. Es geht um die erklärten Ziele,
nationale Werte zu vermitteln und die kulturelle Identität
der Ungarn zu stärken. Es sind die unbestimmten
Rechtsbegriffe, deren Auslegung von der Medienbe-
hörde und deren Medienpolizei vorgenommen wird, die
die Presse- und Medienfreiheit beeinträchtigen.

In einem Gespräch im Deutschlandradio gestern
Morgen berichtete Hans-Gert Pöttering, dass Orban in
der Fraktion der Christdemokraten eingestanden habe,
dass er das Mediengesetz schon früher hätte einbringen
müssen, aber mit Rücksichtnahme auf die Opposition
dies erst im Dezember erfolgt sei. Das stimmt nicht mit
dem überein, was wir in Ungarn erfahren haben. Dieses
Gesetz wurde nicht durch Orban eingebracht, auch nicht
durch die Regierung, sondern durch einen einzelnen Ab-
geordneten. Üblich ist dieses Verfahren der Einbringung
durch einen einzelnen Abgeordneten, wenn es um kleine
Änderungen einzelner Paragrafen in einem Gesetzes-
werk geht, das nur von regionaler Bedeutung ist. Liebe
Kolleginnen und Kollegen, wer von uns wäre in der
Lage, so ein Gesetz wie dieses Mediengesetz zu schrei-
ben und einzubringen? Es sind im Original 120 Seiten,
und die Übersetzung umfasst fast 200 Seiten.

Charme hat diese Einbringung durch einen einzelnen
Abgeordneten aus der Sicht der Regierung und von
Orban deshalb, weil es so verkürzte Fristen gibt, und
nicht deshalb, weil man der Opposition entgegenkom-
men wollte, wie Orban gestern suggeriert hat. Über das
Mediengesetz fand praktisch keine öffentliche Diskus-
sion statt. Die Diskussion im Parlament wurde auf ein
Minimum beschränkt. Von 220 Änderungsanträgen wur-





Frank Hofmann (Volkach)



(A) (C)



(D)(B)

den nur 22 zur Abstimmung gestellt. Zwischen der Ein-
bringung des Entwurfs und der Verabschiedung ist nur
ein knapper Monat vergangen.

Am 3. oder 4. Januar 2011 legte die Regierung eine
erste englische Übersetzung vor. Dummerweise fehlten
entscheidende Passagen, in denen es gerade um ein-
schneidende Sanktionsmöglichkeiten ging. Deshalb be-
stand Barroso nun darauf, eine Übersetzung in der EU-
Kommission anfertigen zu lassen. Meine Damen und
Herren, Vertrauen sieht anders aus.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708412600

Herr Kollege, Sie kommen bitte zum Ende?


Frank Hofmann (SPD):
Rede ID: ID1708412700

Ja. – Liebe Kolleginnen und Kollegen, die ungarische

Medienverfassung atmet nicht den Geist der europäi-
schen Verfassung und von Demokratie und Rechtsstaat-
lichkeit. Die Spitzen der EU haben versäumt, frühzeitig
auf die Probleme hinzuweisen. Die Zurückhaltung war
keine vornehme Zurückhaltung, sondern aus meiner
Sicht eine politische Dummheit.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708412800

Herr Kollege!


Frank Hofmann (SPD):
Rede ID: ID1708412900

Dafür, dass es zu dieser Konfrontation im Europäi-

schen Parlament gekommen ist, tragen die konservativen
Regierungschefs, auch Bundeskanzlerin Merkel, Verant-
wortung. Das Ganze war alles andere als eine Glanzleis-
tung. Wer meint, man könne so etwas aussitzen, muss
nachsitzen.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708413000

Der Kollege Johannes Selle hat nun das Wort für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Johannes Selle (CDU):
Rede ID: ID1708413100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir diskutieren hier im Zuge der ersten Aufregung ein
ungarisches Mediengesetz. Es gilt seit dem 1. Janu-
ar 2011. Die englische Fassung gibt es erst seit 14 Tagen.
Sie ist 225 Seiten lang.

Das neue Gesetz löst ein altes Gesetz von 1996 ab,
das unter der alten sozialistischen Regierung entstanden
war. Mit dem Gesetz war es nicht möglich, die Jugend
vor rassistischer Hetze und pornografischem Unrat zu
schützen. Es war auch nicht möglich, die Holocaust-
leugnung zu verbieten.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ach, das wird jetzt erst möglich? – Gegenruf des Abg. Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Genau das ist der Fall!)


Wiederholte Verletzungen von Menschenrechten und
Menschenwürde ausreichend zu ahnden, war ebenfalls
nicht möglich.

Die privaten Sender – im Wesentlichen RTL – haben
in Ungarn einen Marktanteil von 45 Prozent, die öffent-
lich-rechtlichen Sender einen von 10 Prozent.

Ein strengeres Mediengesetz wurde von Fidesz, der
Partei des Ministerpräsidenten, vor der Wahl angekün-
digt. Fidesz errang die Mehrheit der Parlamentssitze und
setzte das Wahlversprechen um.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Wunderbar! Super!)


Eine führende ungarische Zeitung hat das Verfas-
sungsgericht angerufen, um das Mediengesetz zu über-
prüfen. Von großen Teilen der ungarischen Medienwirt-
schaft wird es aber völlig unaufgeregt behandelt.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Natürlich! Das ist doch klar!)


Zum weiteren gesellschaftlichen Umfeld gehört, dass
das Land in den letzten vier Jahren unter sozialistischer
Ägide am Rand der Insolvenz entlangschrammte.


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wegen der Sozialdemokratie wahrscheinlich!)


Es gehört auch zum gesellschaftlichen Umfeld, dass
Ungarn begeistertes Mitglied der EU ist und seit Beginn
des Jahres 2011 die Ratspräsidentschaft innehat.

Es ist eine Tugend, Mediengesetze sensibel zu be-
trachten und kritisch zu hinterfragen.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Aha!)


Die Freiheit der Medien ist für uns wesentlich für die Si-
cherung der politischen Freiheit und der Demokratie.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das merkt man! Viel wichtiger ist der Kampf gegen uns!)


Der gesellschaftliche Fortschritt unseres demokratischen
Gemeinwesens ist ohne die Freiheit der Meinungsäuße-
rung und ohne Freiheit bei der Veröffentlichung der Mei-
nung nicht denkbar. Wir haben in Deutschland einschlä-
gige Erfahrungen damit gemacht, und wir wollen nicht
mehr in dunkle Zeiten zurückfallen.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Nein!)


Deshalb ist es verständlich, dass wir hellhörig sind,


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Dafür sind Sie jetzt eine Leuchtfigur!)


ganz besonders wenn es um die eigene Familie geht,
nämlich um die Staaten der EU.





Johannes Selle


(A) (C)



(D)(B)

Die Freiheit des öffentlichen Beitrages, die unerläss-
lich für den politischen Dialog und das politische Ringen
um den richtigen Weg, zur Aufklärung von Hintergrün-
den und Verstrickungen und von vorteilhaften und nach-
teiligen Wirkungen ist, wird auch kommerziell genutzt,
und zwar mit vielen beklagenswerten Nebenerscheinun-
gen. Terror, Rassismus, Gewaltverherrlichung, Neonazi-
Ideologie, Pornografie und Entwürdigung von Frauen
und Minderheiten gehören dazu.


(Zurufe von der LINKEN)


Durch solche Themen kann ein demokratisches Gemein-
wesen Schaden nehmen und ausgehöhlt werden.

Wir sind in Deutschland noch nicht am Ende mit der
Diskussion über das Löschen und Sperren von Internet-
seiten. Wir haben in Europa einen guten Grund, weiter
über die Freiheit der Medien zu diskutieren, solange es
für besonders mutig gehalten wird, wenn die Bundes-
kanzlerin anlässlich der Verleihung eines Medienprei-
ses die Laudatio auf den dänischen Karikaturisten
Westergaard hält. Es ist eine Tugend, die Freiheit der
Medien zu beobachten, aber es ist keine Tugend, in
heftigste Kritik zu verfallen, ohne den vollständigen
Gesetzestext überhaupt gelesen haben zu können.


(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: So ist es! – Zuruf von der LINKEN: Haben Sie ihn denn gelesen?)


Nach dem, was ich zum Beispiel über den so viel ge-
scholtenen Medienrat im ungarischen Gesetz gefunden
habe – das habe ich im Original gelesen –, ist er von der
Regierung unabhängig, vom Parlament mit zwei Dritteln
zu wählen und dem Parlament jährlich rechenschafts-
pflichtig.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


– Hören Sie doch einmal genau zu. Sie haben gerade die
Dominanz und die unausgewogene Berichterstattung an-
gegriffen. – Außerdem wird er nur auf Anforderungen
von Bürgern tätig, die geltend machen, dass ihre politi-
schen Argumente nicht dargestellt wurden. Ich kann es
mir nur schwer vorstellen, dass ich es gut fände, wenn
radikale Gruppen in Deutschland die Darstellung ihrer
Argumente erzwingen könnten. Schließlich können Ent-
scheidungen des Medienrates gerichtlich überprüft wer-
den, und zwar mit aufschiebender Wirkung.

Aufgrund einiger Stellen, die ich in dem Gesetz ge-
funden habe, könnten wir aus diesem Gesetz sogar noch
etwas lernen:


(Burkhard Lischka [SPD]: Jetzt wird es aber ganz peinlich! – Weitere Zurufe von der SPD und der LINKEN)


In Art. 27 wird Parteien und politischen Bewegungen
verboten, einen Mediendienst oder ein Programm zu fi-
nanzieren.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Berlusconi!)

Das sollten wir auf Italien und auch auf Deutschland an-
wenden.

Gemäß Art. 28 ist es verboten, dass audiovisuelle
Nachrichtensendungen und politische Informationssen-
dungen Sponsoring annehmen.

Art. 38 verpflichtet audiovisuelle Mediendienstleis-
ter mit signifikantem Einfluss, zu Hauptsendezeiten
wichtige Nachrichten zu senden. Hier drängt sich die Er-
innerung an den Appell unseres Bundestagspräsidenten
auf, den er mehrfach an das ZDF gerichtet hat.

Ein solch komplexes Gesetz, das auch Begriffe ent-
hält, die einer Interpretation unterliegen, lässt sich nicht
sofort umfassend beurteilen. Die EU-Kommission ist
mit ihrem Apparat bis jetzt noch nicht zu einer Einschät-
zung gekommen, und es bedarf auch Beispiele der An-
wendung in der Praxis und der dazugehörigen Recht-
sprechung, um eine ernste und berechtigte Kritik an
Ungarn zu richten.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Herr Hoyer, was haben Sie für Koalitionspartner?)


Möglicherweise gibt es Nachbesserungsbedarf hin-
sichtlich des Quellenschutzes und des Umgangs mit aus-
ländischen Medienanbietern. Der ungarische Staatspräsi-
dent Schmitt, der das Gesetz unterzeichnet hat,


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Hören Sie doch einmal hin!)


äußerte in diesem Zusammenhang, dass sein Land alles,
was es tue, an den gemeinsamen europäischen Standards
messe.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708413200

Herr Selle, kommen Sie bitte zum Ende.


Johannes Selle (CDU):
Rede ID: ID1708413300

Ja, gleich. – Der ungarische Ministerpräsident bestä-

tigte mehrfach wie gerade erst gestern wieder, dass er
nach der juristischen Analyse zu Änderungen bereit ist.
Dies in aller Gelassenheit abzuwarten, ist das Gebot der
Stunde.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: In aller Gelassenheit?)


Eine Beeinträchtigung der EU-Ratspräsidentschaft durch
Vorurteile wollen wir jedenfalls nicht gelten lassen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708413400

Herr Selle!


Johannes Selle (CDU):
Rede ID: ID1708413500

Unser Vertrauen gilt der ungarischen Demokratie und

seinen Repräsentanten.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Natürlich! Wir können viel von diesem Mediengesetz und von Berlusconi lernen!)


Dem sollten sich die Fraktionen anschließen und die
Freundschaft mit Ungarn festigen.





Johannes Selle


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Was ist denn jetzt mit Beifall der FDP?)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708413600

Der Kollege Axel Schäfer hat jetzt das Wort für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Axel Schäfer (SPD):
Rede ID: ID1708413700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Nach dem Beitrag meines Vorredners kann ich zunächst
einmal nur feststellen: Er hat all das, was der Kollege
Hoyer zum ungarischen Mediengesetz ausgeführt hat
und was ich Wort für Wort unterstreiche, entweder nicht
gehört, oder er ist völlig anderer Meinung.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Was dann die Freundschaft anbelangt, so hat einmal
ein wichtiger bayerischer Ministerpräsident gesagt: Es
geht immer auch um die Tapferkeit vor dem Freund. –
Genau darum geht es: dass man auch unter Freunden in
kritischen Fragen offen und solidarisch miteinander re-
det, statt kritikwürdige Punkte unter den Teppich zu keh-
ren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Johann Wadephul [CDU/ CSU]: Miteinander, nicht übereinander!)


Dass wir diese Debatte führen, hat auch damit zu tun,
dass fast alle Journalistinnen und Journalisten in
Deutschland, viele aus der Kultur, aber auch aus anderen
Bereichen, seit dem 23. Dezember dieses ungarische Ge-
setz kritisieren, und das auch in vielen europäischen
Ländern. Aus Sicht meiner Fraktion ist es unsere Pflicht,
das auch in unserem Parlament zum Thema zu machen.
Genau das machen wir heute.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich war mit dem Kollegen Hofmann in Budapest. Wir
haben mit Regierungsvertretern, Abgeordneten und Me-
dienvertretern gesprochen. Er hat bereits alles gesagt.
Ich brauche das nicht zu wiederholen. Insofern spare ich
wieder etwas seiner ein bisschen überzogenen Redezeit
ein.

Es ist aber wichtig, dass wir das Gesetz auch im Kon-
text sehen. Die Regierung wird von 43 Prozent der
Wahlberechtigten getragen. Sie hat 53 Prozent der Stim-
men und 68 Prozent der Mandate, beansprucht aber
100 Prozent der Macht. Das geht in keinem europäi-
schen Land. Das geht nirgendwo.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der CDU/CSU: Völliger Quatsch!)


Was die Kolleginnen und Kollegen von der CSU an-
geht, die das in besonderer Weise verteidigen, kann ich
nur sagen: Glück gehabt, Deutschland! Auch nachdem
die CSU in Bayern mal eine Zweidrittelmehrheit hatte,
funktioniert die Demokratie.


(Zuruf von der SPD: Überwiegend!)


– Überwiegend, okay. – Wir sind in Sorge, dass ange-
sichts der Maßnahmen dieser Mehrheit die Demokratie
in Ungarn auf Dauer nicht mehr funktioniert. Die Demo-
kratie bemisst sich nämlich nicht nur an der Möglichkeit,
als Regierung etwas gestalten zu können, sondern auch
an der Möglichkeit, als Opposition und Minderheit Mei-
nungen zu vertreten.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


All das ist wirklich besorgniserregend. Auch wir
mussten ja unsere eigene demokratische Tradition erst
lernen und entwickeln. Selbstverständlich gibt es auch
bei uns zu Recht bei Regierungswechseln Veränderun-
gen im Personalbereich. Aber wir können immer noch
auf die Loyalität und Gesetzestreue derjenigen bauen,
die bei uns in der öffentlichen Verwaltung und den Re-
gierungsapparaten tätig sind.


(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Heißt das, dass es anderswo nicht möglich ist?)


Aber Gesetze zu machen, aufgrund derer man selbst die
weniger wichtigen Referenten oder Referentinnen mit
einer zweimonatigen Kündigungsfrist ohne Angabe von
Gründen einfach auswechseln kann, hat nichts mit einer
demokratischen Kultur zu tun, die von Vielfalt lebt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/ CSU]: Sagen Sie einmal etwas zu den USA! Mittwochmorgen nach der Wahl!)


Es ist auch ein bisschen besorgniserregend, dass in ei-
nem Parlament – wir kritisieren schließlich kein Land,
sondern eine politische Partei – in sieben Monaten
120 Gesetze teilweise nach dem Verfahren verabschiedet
wurden, das der Kollege Hofmann beschrieben hat. Es
gab acht Verfassungsänderungen, darunter eine, nach der
das Verfassungsgericht seiner Aufgabe nicht mehr nach-
kommen darf. Nämlich: Gesetze auf ihre Verfassungs-
konformität zu prüfen und gegebenenfalls Parlament und
Regierung zu erklären, dass sie einen Gesetzentwurf
vorgelegt oder verabschiedet haben, der nicht verfas-
sungsgemäß ist. Das haben die Parlamentsmehrheit und
die Regierung in Ungarn so gemacht. Auch dazu müssen
wir etwas sagen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir befinden uns in Europa – das ist wichtig – in ei-
ner demokratischen Gemeinschaft. Wir diskutieren hier
als Europäerinnen und Europäer. Es war richtig, dass
wir, als die Sozialdemokraten in der Slowakei mit einer
populistischen Partei koaliert haben,


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber euphemistisch umschrieben!)






Axel Schäfer (Bochum)



(A) (C)



(D)(B)

nicht gesagt haben: „Wartet ab“, sondern diesen Sozial-
demokraten das Stimmrecht in der sozialdemokratischen
Familie entzogen haben, weil wir Sorgen haben. Es ist
gut, dass wir nun das in Ungarn verabschiedete Medien-
gesetz zumindest kritisieren, weil wir Sorgen haben.


(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Wie haben Sie sich denn gegenüber Österreich verhalten?)


Das drücken wir heute aus. Deshalb ist diese Debatte so
gut und so wichtig.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708413800

Der Kollege Burkhardt Müller-Sönksen hat jetzt das

Wort für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Kollege, was gilt denn jetzt? Herr Holmeier oder Herr Hoyer?)



Burkhardt Müller-Sönksen (FDP):
Rede ID: ID1708413900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Für uns Liberale ist die Freiheit der Medien nicht ver-
handelbar; das sollte hier vorweg gesagt sein.


(Beifall bei der FDP)


Lieber Herr Dr. Dehm, ich bin beschämt, dass Sie
versuchen, dieses ernste und wichtige Thema in Europa
auf Kommunismusschelte oder Kommunismushatz zu
reduzieren. Das hat dieses Thema nicht verdient.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Wenn Intellektuelle im Ausland verfolgt werden!)


Dass Sie versuchen, dieses Wort des Jahres – für mich
jedenfalls ist es ein Unwort – zum Diskussionsgegen-
stand zu machen, ist unanständig. Belasten Sie diese
Diskussion nicht mit diesem Wort!


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Nein, das ist die Realität! Informieren Sie sich mal! – Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Das sagen die Täter!)


Ich danke Staatsminister Hoyer für seinen Beitrag,
den ich für sehr ausgewogen halte. Ich verstehe ihn so,
dass er damit im Interesse Deutschlands und Europas,
aber auch – ohne bevormundend sein zu wollen – im In-
teresse Ungarns einen Rat unter Freunden geben wollte.
Das ist genau das, was wir tun und den Ungarn in großer
Dankbarkeit zurückgeben können. Genauso positiv
nehme ich auf, dass der ungarische Ministerpräsident
Viktor Orban angekündigt hat, man sei bereit, das um-
strittene Mediengesetz zu ändern, falls dies aus juristi-
schen oder politischen Gründen notwendig sein sollte.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das hat er gestern gerade nicht gesagt!)

Angesichts der immer schärfer werdenden Kritik sollte
er dieser Ankündigung auch Taten folgen lassen.

Die ungarische Opposition, Journalisten jeglicher
politischen Couleur, Künstler und Internetaktivisten de-
monstrieren gegen das umfangreiche Gesetzeswerk.
Obwohl es umfangreich ist, sprechen wir bereits heute
darüber. Lassen Sie uns zu einem späteren Zeitpunkt
nach gründlicher Analyse hierauf zurückkommen! Das
EU-Parlament und auch wir im Bundestag sorgen uns
fraktionsübergreifend um die Meinungsvielfalt und die
Meinungsfreiheit in Ungarn. Die ungarische Regierung
darf den erfolgreichen Weg hin zu einer tragfähigen
demokratischen Struktur nicht verlassen, indem sie die
Unabhängigkeit der Medien zur Disposition stellt.


(Beifall bei der FDP)


Für mich als Liberalen sind die Freiheit der Presse
und die Unabhängigkeit aller Medien unverzichtbare
Voraussetzung demokratischer Meinungsbildung. Die
FDP versteht sich in langer Tradition als Hüter der Me-
dienfreiheit. Wir sind alarmiert und setzen uns seit Wo-
chen auf EU-Ebene und, wie Staatsminister Hoyer so-
eben anschaulich beschrieb, über die deutsche Außen-
politik vehement für Änderungen am ungarischen Me-
diengesetz ein.

Die EU-Kommission prüft derzeit die Vereinbarkeit
des Mediengesetzes mit den EU-Verträgen. Dieser Prü-
fung sollten wir keinesfalls vorgreifen. Aber es geht
nicht nur um eine juristische, sondern auch um eine poli-
tische Überprüfung. Wir sollten immer der politischen
und nicht der juristischen Bewertung den Vorrang geben.
Wir sollten eben nicht allein auf die Kommission
schauen,


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: So ist es!)


sondern aufzeigen, wo das ungarische Mediengesetz de-
mokratische Werte verletzt, und entsprechende Änderun-
gen einfordern.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Aha!)


Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in
Europa, OSZE, weist auf die Verletzung ihrer Kriterien
zur Medienvielfalt hin. Staatsminister Hoyer hat eben
schon ausgeführt, dass es dort Ansatzpunkte der Kritik
gibt.

Lassen Sie mich konkrete Beispiele nennen. Nunmehr
gibt es in Ungarn eine nationale Medien- und Kommuni-
kationsbehörde. Diese Zentralbehörde bündelt alle Re-
gulierungs- und Aufsichtsaufgaben unter einem Dach.
Die Leitung dieser mächtigen Behörde wird auf neun
Jahre direkt vom Ministerpräsidenten ernannt. Erste
Amtsinhaberin ist – für mich wenig überraschend – eine
langjährige Medienpolitikerin der Regierungspartei. Ne-
ben der Leitung der Medienbehörde obliegt ihr ebenfalls
die Leitung des Medienrates, der für die Programmkont-
rolle der Medien zuständig ist. Wenn Regulierung und
Inhaltskontrolle in den Händen einer einzelnen Person
liegen, die ihr Amt auch noch vom politischen Mehr-
heitsführer erhält, ist es um die Meinungsvielfalt sehr
schlecht bestellt.


(Beifall im ganzen Hause)






Burkhardt Müller-Sönksen


(A) (C)



(D)(B)

Die ungarische Regierung verteidigt sich mit dem
Hinweis auf vergleichbare Strukturen in anderen euro-
päischen Ländern. Zwar kritisiere ich als medienpoliti-
scher Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion die Staats-
nähe einiger deutscher Medien immer wieder scharf. Wir
streiten in Deutschland aber darüber, wie die Selbstkon-
trolle der Medien noch staatsferner organisiert werden
kann. Bereits jetzt werden die Aufsichtsgremien plura-
listisch durch die gesellschaftlich relevanten Gruppen
gebildet. Insofern verbietet sich glücklicherweise ein
Vergleich Ungarns mit Deutschland, nicht nur mit Nord-
rhein-Westfalen.

Dies gilt auch für Vergleiche im Hinblick auf journa-
listischen Quellenschutz. Im Gegensatz zur ungarischen
Regierung haben wir diesen Schutz erst kürzlich erhöht.
Wir vertrauen darauf, dass der investigative Journalis-
mus einen unverzichtbaren Beitrag zur demokratischen
Kontrolle unseres Staates liefert. In Ungarn hingegen
dürfen seit dem 1. Januar 2011 Informationen über die
Identität der Quelle geheimer Daten nicht mehr vertrau-
lich gehalten werden, sofern es sich um widerrechtlich
qualifizierte Daten handelt oder nationale Interessen da-
von berührt sind.

Ich komme zum Schluss. Liebe Kolleginnen und Kol-
legen, wir alle haben uns schon einmal über eine – nen-
nen wir es einmal so – unausgewogene Berichterstattung
in den Medien geärgert. Diese müssen wir aber aushal-
ten. Die Medien leisten einen unverzichtbaren Beitrag
zum demokratischen Meinungsaustausch. Wer die Frei-
heit der Medien beschneidet, der schadet der Demokra-
tie.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708414000

Jürgen Hardt hat das Wort für die CDU/CSU-Frak-

tion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Jürgen Hardt (CDU):
Rede ID: ID1708414100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Was Herr Dehm hier heute vorgetragen hat, hat mich von
allen Beiträgen am meisten erschüttert.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das war auch dafür geeignet!)


Denn er hat sich hier als der Hüter und Wächter der
Menschenrechte weltweit profiliert.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Nein, das habe ich nicht! So viel Lob habe ich nicht verdient!)


Vor zehn Tagen habe ich in der Zeitung gelesen, dass
anlässlich einer Demonstration von sieben Personen bei
einer großen Veranstaltung der Linken hier in Berlin
diese sieben Kritiker weggeprügelt wurden, darunter
auch unsere frühere Kollegin Vera Lengsfeld. So geht
die Linke mit Menschen, die in Deutschland demokrati-
sche Rechte für sich in Anspruch nehmen, um. Deswe-
gen finde ich Ihren Beitrag nicht besonders glaubwürdig.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das war keine Veranstaltung der Linken! Nehmen Sie das zur Kenntnis!)


– Ich muss mich korrigieren. Das war eine Veranstaltung
der Linken-nahen Rosa-Luxemburg-Stiftung.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Nein, das war es auch nicht!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708414200

Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Dehm zulassen?


Jürgen Hardt (CDU):
Rede ID: ID1708414300

Bitte schön.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708414400

Bitte schön, Herr Dehm.


(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: In der Aktuellen Stunde gibt es keine Zwischenfragen!)



Dr. Jörg-Diether Dehm-Desoi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708414500

Ich bin froh, dass meine Zwischenfrage zugelassen

wird. – Herr Hardt, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu neh-
men, dass es weder eine Veranstaltung der Partei Die
Linke noch der Rosa-Luxemburg-Stiftung, sondern der
unabhängigen linken Zeitung Junge Welt war?


(Beifall bei der LINKEN – Burkhardt MüllerSönksen [FDP]: Das ist doch völlig egal!)



Jürgen Hardt (CDU):
Rede ID: ID1708414600

Herr Dehm, Gegenfrage: Sind Sie bereit, sich von der

Gewalt gegen die Demonstranten bei dieser Veranstal-
tung zu distanzieren?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Sehr gute Nachfrage! – Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Ich habe wie jeder – – Ich weiß nicht, ob ich jetzt – –)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708414700

Nein, das können Sie nicht. Das dürfen Sie nicht.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Dann ist die Antwort: ja! – Gegenruf des Abg. Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Lesen Sie mal die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages! – Gegenruf des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Er hat mich doch gefragt!)



Jürgen Hardt (CDU):
Rede ID: ID1708414800

Ich möchte an die Adresse der Linken einfach Fol-

gendes sagen: Die mit dem Zaun durch Europa waren
die Kommunisten, und die mit der Zange waren die Un-
garn. Deswegen lassen wir auf die Ungarn nichts kom-





Jürgen Hardt


(A) (C)



(D)(B)

men. Ich habe keinen Zweifel daran, dass die Ungarn ein
Volk sind, das mit seinen demokratischen Grundrechten
gut umgehen kann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich komme zum Thema zurück. Angesichts der lan-
gen Geschichte, die Deutschland und Ungarn gemein-
sam haben, und der Tatsache, dass die Ungarn gegen-
wärtig die enorme Verantwortung haben, Europa in
dieser schwierigen Zeit zu führen, sollten wir in dieser
Phase sehr sorgfältig mit Vorurteilen im Hinblick auf be-
stimmte demokratische Entwicklungen in Mitgliedstaa-
ten der Europäischen Union umgehen. Es ist geradezu
ein Beispiel für das Funktionieren der Europäischen
Union, dass bei einem Projekt wie der Mediengesetzge-
bung in Ungarn, das nicht nur bei mir, sondern, wie ich
denke, bei allen hier im Hause Bauchgrummeln auslöst,


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Bei allen leider nicht!)


der Ministerpräsident von Ungarn in einem kurzen Ge-
spräch mit dem Kommissionspräsidenten zu folgendem
Ergebnis kommt: Die Kommission prüft das, und wir
setzen uns anschließend damit auseinander und werden
auf der Grundlage einer freundschaftlichen, sachlichen
und juristischen Bewertung die Dinge beurteilen.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das stimmt nicht! Das war gestern nicht so!)


Ich finde, das ist eine ausgezeichnete Vorgehensweise.

Der Deutsche Bundestag ist nicht der Aufsichtsrat des
ungarischen Parlaments.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich bin auch nicht als Abgeordneter des Deutschen Bun-
destages gewählt worden, um mir die 200-seitige engli-
sche Übersetzung eines ungarischen Mediengesetzes
durchzulesen.


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das hat Ihr Kollege uns geraten!)


Ich finde es wunderbar, dass man solche Dinge in der
Europäischen Union mittlerweile auf diese friedliche
Weise regelt.

Ich glaube, mit ein bisschen weniger Schaum vor dem
Mund bei diesem Thema könnten wir zu guten, konkre-
ten, freundschaftlichen Ratschlägen an die Ungarn kom-
men, die vielleicht sogar ihre Unterstützung und Zustim-
mung finden könnten.

Wir haben zum Beispiel in Deutschland gute Erfah-
rungen mit den Mechanismen von freiwilligen Selbst-
bindungen der Presse, von Ehrenkodexen, von Presse-
kodexen gemacht, in denen steht, was sauberer und
ordentlicher Journalismus ist. Da gibt es das Recht der
Gegendarstellung; man fühlt sich zur Wahrheit ver-
pflichtet und verzichtet auf die Anwendung unlauterer
Methoden. Vielleicht ist das ein Weg, den die ungarische
Politik gehen könnte, wenn es darum geht, dieses Gesetz
ein Stück weit zu ergänzen und sicherzustellen, dass es
tatsächlich nicht gegen die Medien eingesetzt werden
kann.
Ich erwarte von den Entscheidungen der nächsten
Tage, genauer gesagt von der Vorlage des Berichts der
Kommissarin Kroes, wesentliche Aufschlüsse darüber,
an welchen Punkten wir uns näher mit dem Gesetz be-
fassen müssen. Das werden wir sicherlich in aller Aus-
führlichkeit tun, ohne dass wir hier eine polemische Ver-
anstaltung durchführen, wie wir es vor einigen Jahren im
Fall Österreichs getan haben,


(Dr. Diether Dehm [DIE LINKE]: Das waren ja Liberale in Österreich!)


und zwar ohne dass es den Österreichern oder uns oder
der europäischen Idee in irgendeiner Weise genutzt
hätte.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708414900

Damit schließe ich die Aussprache.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 e auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Be-
kämpfung der Zwangsheirat und zum besse-
ren Schutz der Opfer von Zwangsheirat sowie
zur Änderung weiterer aufenthalts- und asyl-
rechtlicher Vorschriften

– Drucksache 17/4401 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Rüdiger Veit, Daniela Kolbe (Leipzig), Gabriele
Fograscher, weiteren Abgeordneten und der Frak-
tion der SPD eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes für ein erweitertes Rückkehrrecht im
Aufenthaltsgesetz

– Drucksache 17/4197 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Memet
Kilic, Volker Beck (Köln), Ekin Deligöz, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Opfer von Zwangsverheiratungen wirksam
schützen durch bundesgesetzliche Reformen
und eine Bund-Länder-Initiative

– Drucksache 17/2491 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Josef
Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Memet
Kilic, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Residenzpflicht abschaffen – Für weitestge-
hende Freizügigkeit von Asylbewerbern und
Geduldeten

– Drucksache 17/3065 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Sevim Dağdelen, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE

Menschenrecht auf Freizügigkeit ungeteilt
verwirklichen

– Drucksache 17/2325 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

Zwischen den Fraktionen ist verabredet worden, eine
Stunde zu debattieren. – Dazu sehe und höre ich keinen
Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Das Wort hat der Parlamentarische Staatssekretär
Dr. Ole Schröder.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


D
Dr. Ole Schröder (CDU):
Rede ID: ID1708415000


Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Der Gesetzentwurf, über den wir heute beraten,
dient der Präzisierung unserer Rechtsordnung, um noch
vorhandene Defizite bei der Integration zu beheben.

Immer noch sind zu viele Menschen, die schon lange
bei uns leben, nicht ausreichend integriert. Integration ist
die Voraussetzung für tragbare Lebensperspektiven. Eine
Integration der Migrantinnen und Migranten ist aber
auch Voraussetzung für Akzeptanz in der Bevölkerung
in Bezug auf Zuwanderung in unser Land.

Es ist nicht zu akzeptieren, wenn durch mangelnde In-
tegration, insbesondere durch mangelnde Deutschkennt-
nisse, Menschen mit Migrationshintergrund nicht am
gesellschaftlichen Leben teilhaben können, wenn Men-
schen mit Migrationshintergrund keinen Zugang zum
Arbeitsmarkt haben und dadurch abhängig von Sozial-
leistungen sind.

Die Bundesregierung und die Koalition reagieren auf
diese Mängel mit dem Prinzip des Forderns und För-
derns. Auf der einen Seite machen wir den Integrations-
und Leistungswilligen Angebote, um ihnen die Integra-
tion bei uns zu erleichtern. Wir verbessern den Schutz
der Menschen in unserem Land, die schutzbedürftig
sind. Auf der anderen Seite sanktionieren wir diejenigen,
die nicht bereit sind, sich bei uns zu integrieren, die un-
sere Werteordnung ablehnen.

Integrationsverweigerer müssen damit rechnen, dass
sie Sanktionen spüren. Diejenigen, die unsere ausge-
streckte Hand ausschlagen, müssen mit Sanktionen rech-
nen. Das wird an unserem Gesetzentwurf deutlich. Wir
verbessern die Regeln zur Bekämpfung von Zwangshei-
rat. Wir führen ein eigenständiges Rückkehrrecht für
Verschleppte ein, wenn sie in Deutschland integriert
waren. Opfer von Zwangsheirat sollen drei Jahre die
Möglichkeit haben, die Aufhebung der Zwangsehe zu
beantragen. Außerdem schaffen wir einen eigenen
Straftatbestand Zwangsheirat. Das ist ein deutliches Si-
gnal, dass Zwangsheirat in unserem Land auch nicht
durch kulturelle Differenz entschuldbar ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Rüdiger Veit [SPD] – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir doch geregelt!)


Zwangsheirat ist strafbares Unrecht, das mit unserer
Werteordnung nicht vereinbar ist. Es ist richtig, dass wir
hier einen eigenen Straftatbestand schaffen,


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sieht die Caritas aber anders!)


um auch der Appellfunktion des Strafrechts Ausdruck zu
verleihen. Es ist eben ein Unterschied,


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Eindeutig!)


ob es sich um einen Teil eines anderen Straftatbestandes
handelt oder ob künftig jedes Mädchen sagen kann: Es
gibt hier den Straftatbestand der Zwangsheirat; das ist
Unrecht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Aydan Özoğuz [SPD]: Warum? Was ist dann der Unterschied?)


Zur Politik des Förderns gehört, dass wir die räumli-
chen Beschränkungen für Asylbewerber und Geduldete
zur Ermöglichung der Aufnahme einer Beschäftigung,
einer Ausbildung oder eines Studiums weiter lockern.
Zur Politik des Forderns gehört die neue Regelung zur
Bekämpfung von Scheinehen. Der Nachzug von Ehegat-
ten ist einer der häufigsten Zuwanderungsgründe. Wir
haben in unserem Land in erheblichem Umfang Schein-
ehen, durch die ein Aufenthaltstitel erschlichen wird.
Die Dunkelziffer ist erheblich.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie viele?)


Die Mindestbestandszeit der Ehe, die erforderlich ist, um
einen eigenständigen Aufenthaltstitel zu begründen,
werden wir daher auf drei Jahre verlängern. Dadurch
wird der Anreiz, eine Scheinehe einzugehen, verringert.
Auch die Möglichkeit der Aufdeckung von Scheinehen
wird erheblich gesteigert.






(A) (C)



(D)(B)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708415100

Herr Schröder, möchten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Kilic zulassen?

D
Dr. Ole Schröder (CDU):
Rede ID: ID1708415200


Bitte.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708415300

Bitte schön.


Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708415400

Herr Schröder, Sie haben uns mit einem wunderbaren

Satz beglückt: Die Dunkelziffer ist erheblich. Wie hoch
soll diese Dunkelziffer sein? Wenn es dunkel ist, ist es
dunkel. Wie haben Sie bemerkt, dass sie so hoch ist?


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Ihre Gedanken sind manchmal ein bisschen dunkel!)


Wie haben Sie das erkannt? Welche Datenlage hatten
Sie, um feststellen zu können, dass diese Dunkelziffer
hoch ist?

D
Dr. Ole Schröder (CDU):
Rede ID: ID1708415500


Das ergibt sich allein aus dem Delikt. Wenn sich zwei
Personen einig sind, eine Scheinehe einzugehen, um ei-
nen Aufenthaltstitel zu erschleichen, ist der Fall anders
als bei Delikten, bei denen es einen Täter und einen Ge-
schädigten gibt; in letzterem Fall hat der Geschädigte ei-
nen großen Anreiz, sich an die Polizei zu wenden. Bei
Straftatbeständen, bei denen zwei Personen zusammen-
arbeiten, um eine Straftat zu begehen, und keine Persön-
lichkeit da ist, der unmittelbar ein Schaden entstanden
ist, ist die Dunkelziffer extrem hoch.


(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja wohl märchenhaft! – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wissen Sie, was Sie da sagen?)


Das gleiche Phänomen tritt beispielsweise auch bei
Rauschgiftdelikten auf; auch da gibt es keinen unmittel-
bar Geschädigten. Insofern ist es eine kriminalistische
Selbstverständlichkeit, dass die Dunkelziffer bei solchen
Straftaten hoch ist.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708415600

Herr Kollege, auch Herr Montag würde Ihnen gerne

noch eine Zwischenfrage stellen.

D
Dr. Ole Schröder (CDU):
Rede ID: ID1708415700


Ich möchte jetzt gerne fortfahren.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann könnten Sie uns das aber doch erklären, Herr Schröder!)


– Bitte, Herr Montag. Wenn Sie noch einen weiteren As-
pekt haben, gerne.

Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708415800

Herr Montag, bitte schön.


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708415900

Ich danke Ihnen sehr, dass Sie die Zwischenfrage

doch zulassen. – Sie haben auf die Frage meines Kolle-
gen Kilic geantwortet, dass dieses Delikt – zwei Perso-
nen vereinbaren eine Scheinehe – strukturell im Dunkeln
ist, solange nicht einer von beiden etwas offenlegt. Das
ist selbstverständlich; das bestreiten wir nicht. Wenn so
etwas geschieht, dann geschieht es im Dunkeln. Aber Sie
sagen, dass es oft geschieht, dass es eine hohe Dunkel-
ziffer gibt. Wir haben Sie nicht gefragt, aus welchen
Gründen Sie der Meinung sind, dass das eine Tat ist, die
sich im Dunkeln abspielt, sondern wir haben Sie gefragt:
Wie kommen Sie eigentlich dazu, zu sagen, dass dies so
oft passiert? Könnten Sie das beantworten?


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


D
Dr. Ole Schröder (CDU):
Rede ID: ID1708416000


Dass die Dunkelziffer hoch ist, sieht man daran, dass
allein die Zahl der aufgeklärten Straftaten erheblich ist.
Es sind über 1 000 im Jahr. Daraus lässt sich die
Schlussfolgerung ziehen, dass natürlich auch die Dun-
kelziffer entsprechend hoch ist.


(Lachen der Abg. Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich denke, das ist eine Selbstverständlichkeit, lieber Herr
Kollege Montag.

Ich möchte aber deutlich machen, dass auch an beson-
dere Härten gedacht ist. Wenn keine Scheinehe besteht,
wird natürlich eine Ausnahme von dem Erfordernis der
Mindestbestandszeit gemacht, zum Beispiel bei körperli-
cher und psychischer Gewalt. Das war auch bisher schon
der Fall.

Unsere Rechtsordnung enthält die Verpflichtung zur
Integration. In den Integrationskursen werden daher
Sprachkenntnisse, das Alltagswissen sowie Kenntnisse
unserer Rechtsordnung, Kultur und Geschichte vermit-
telt. Deshalb ist der Besuch solcher Integrationskurse
auch so wichtig. Die Kontrolle des Besuchs dieser Inte-
grationskurse wird durch den Gesetzentwurf verbessert.
Die Feststellung der Ausländerbehörden, ob ein Auslän-
der seiner Pflicht nachkommt, wird verpflichtend. Wich-
tig ist, dass der Nichtbesuch der Integrationskurse Sank-
tionen nach sich zieht, bis hin zur Ablehnung der
Verlängerung des Aufenthaltstitels.

Ich möchte gerne noch auf den Vorschlag eingehen,
der im Bundesrat verabschiedet wurde, nämlich dass ein
eigenständiges Aufenthaltsrecht für Jugendliche ge-
schaffen werden soll, die schon lange in Deutschland le-
ben und hier die Schule besucht haben, einen Schulab-
schluss gemacht haben und dadurch gut integriert sind.
Diese Jugendlichen sollten eine Perspektive haben.
Auch das entspricht wieder unserem Prinzip des För-
derns und Forderns. Diese Jugendlichen sind gut
integriert. Sie haben eine Perspektive in Deutschland.





Parl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder


(A) (C)



(D)(B)

Deshalb unterstützen wir auch den Vorschlag des Bun-
desrates, diesen Jugendlichen einen eigenständigen Auf-
enthaltstitel zu geben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708416100

Der Kollege Rüdiger Veit hat jetzt das Wort für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1708416200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir sprechen heute über eine Reihe von Gesetzgebungs-
vorschlägen aus den Reihen von SPD, Bündnis 90/Die
Grünen und Linkspartei, aber auch über einen Vorschlag
der Bundesregierung, der das Ganze sozusagen thema-
tisch zusammenbindet. Ich will versuchen, so abgewo-
gen, wie mir das möglich ist, dazu Stellung zu nehmen.

Zunächst einmal, Herr Kollege Dr. Schröder: Wenn
Sie in diesem Gesetzentwurf der Bundesregierung Dinge
geregelt haben wollten oder wollen, die entweder eine
Verbesserung der Integration bedeuten oder aber zusätz-
liche Sanktionen schaffen, dann hätte ich etwas überle-
sen. Das würde mir leidtun; dem könnte ich möglicher-
weise nur sehr bedingt, nämlich was die Verbesserung
der Integrationskurse angeht, zustimmen.

Ich habe das bisher so verstanden, dass es sich dabei
im Wesentlichen um den Hinweis an die Verwaltungsbe-
hörden – vor allen Dingen die Ausländerbehörden – han-
delt, dass sie das Gesetz anzuwenden haben; denn dass
die Frage der Integration bei der Verlängerung oder Er-
teilung von Aufenthaltserlaubnissen eine Rolle spielt,
steht bereits drin. Soweit es hier um eine neue Rechts-
grundlage für den Datenaustausch zwischen den Betei-
ligten geht oder gehen soll, habe ich nichts dagegen. Al-
lerdings ist der Nutzen nur schwer zu erkennen; denn im
Grunde genommen spricht auch jetzt nichts dagegen,
dass sich die Betroffenen über Daten austauschen. Spä-
testens wenn ein Integrationskurs abgerechnet werden
muss, ist klar, wer wo teilgenommen hat und wer nicht.
Aber gut, es ist Ihre Sache, wenn Sie das noch einmal
ausdrücklich ins Gesetz hineinschreiben wollen. Es
schadet nichts, es nützt aber auch nichts.

Zweitens. In Bezug auf die Frage des Rückkehrrechts
werden Sie mir nicht verübeln, dass ich dafür eintrete,
den SPD-Gesetzentwurf, der sich nämlich genau auf die-
sen Punkt beschränkt, zu präferieren und letztendlich
auch zu verabschieden. Ich bin zunächst einmal froh,
dass Sie die Frage des Rückkehrrechts überhaupt aufge-
griffen haben. Ich erinnere mich noch an die Zeit, als wir
in der Großen Koalition darum gerungen haben. Da ist
uns immer gesagt worden: Das machen wir als Union
nur mit einem Gegengeschäft, nämlich gegen die Verlän-
gerung der Mindestbestandszeit der Ehe bei der Erlan-
gung eines eigenständigen Aufenthaltsrechts.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: So kommt es ja jetzt!)

– So kommt es. Ich habe seinerzeit immer die Meinung
vertreten – die Auffassung hat sich nicht geändert, Herr
Kollege Grindel –: Das ist eigentlich ein ziemlich unsitt-
liches Verlangen. Das erinnert mich ein bisschen an
Koalitionsverhandlungen mit den Grünen auf kommuna-
ler Ebene: Genehmigung der Umgehungsstraße gegen
Förderung des Frauenhauses oder so etwas Ähnliches. –
Beides hat miteinander überhaupt nichts zu tun!

Wenn Sie gegen Zwangsheirat sind, dann müssen Sie
konsequenterweise in erster Linie den Opfern helfen und
dafür sorgen, dass sie sich aus dieser Zwangslage be-
freien können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Dazu gehört nun einmal zwingend das Rückkehrrecht.

Dabei nehmen Sie im Gesetzentwurf Einschränkun-
gen vor, die ich nicht nachvollziehen kann. Warum muss
eine Person, die schon hier gelebt hat und einen Aufent-
haltstitel hatte, dann aber Opfer von Zwangsheirat
wurde, erst noch einmal nachweisen, dass sie eine posi-
tive Integrationsprognose hat? Ich dachte, es gehe da-
rum, den Opfern zu helfen, ohne zusätzliche Hürden auf-
zubauen. Insofern würde ich sagen: Sie sind da zwar auf
dem richtigen Weg, aber ein bisschen zu kurz gesprun-
gen. Ähnliches gilt übrigens auch bei dem Punkt, dass
das nur innerhalb von fünf bzw. zehn Jahren möglich
sein soll.

Ich komme zum nächsten Punkt: Strafbarkeit. Rot-
Grün hat bereits im Februar 2005 den § 240 Abs. 4 des
Strafgesetzbuchs geändert und Zwangsheirat dort aus-
drücklich unter Strafe gestellt. Sie wollen das jetzt unter
einer neuen Überschrift zusammenfassen. Ich sage Ihnen
dazu einmal meine höchstpersönliche Auffassung und
die einiger, aber bei weitem nicht aller Rechtspolitiker:
Notwendig ist das nicht, aber es schadet auch nichts. Un-
ter generalpräventiven Gesichtspunkten wird möglicher-
weise gedacht: Jemand, der diese Überschrift im Straf-
gesetzbuch und auch im Inhaltsverzeichnis liest, lässt
sich eher davon abhalten, eine Zwangsheirat zu arrangie-
ren oder eine solche als Beteiligter und Täter zugleich
einzugehen. – Das ist ein frommer Wunsch. Dass das
letztendlich eine entsprechende Wirkung hat, kann man
bezweifeln, aber, wie gesagt, man kann eigentlich auch
nichts dagegen haben.

Dann komme ich zu einem weiteren Punkt, der Resi-
denzpflicht. Da gehen die Anträge von Bündnis 90/
Die Grünen und von der Linkspartei ganz offensichtlich
weiter als der Regierungsentwurf. Auch hierzu meine
persönliche Auffassung. Ich glaube, auch als ehemaliger
Kommunalpolitiker: Man kommt nicht umhin, gerade
im Zuge einer gerechten Verteilung auf die Gebietskör-
perschaften, zu sagen: Eine Wohnortzuweisung – eine
Wohnortzuweisung! –, verbunden mit der Regelung, wo
und durch wen Unterstützung geleistet wird, ist in Ord-
nung. Die wollen wir auch gar nicht abschaffen; sonst
gibt es Verwerfungen, auch und gerade zwischen man-
chen Flächenländern und Stadtstaaten. Aber ich persön-
lich habe eigentlich nie den Nutzen der Regelung gese-
hen, nach der jemand, der beispielsweise in Potsdam





Rüdiger Veit


(A) (C)



(D)(B)

oder etwas südlich davon wohnt und einmal ins nördli-
che Brandenburg will und zu dem Zweck mit öffentli-
chen Verkehrsmitteln sinnvollerweise das Berliner Stadt-
gebiet durchquert, im Prinzip schon einen Verstoß gegen
seine Residenzpflicht begeht. Von daher könnte ich mir
vorstellen, dass die Residenzpflicht, also die Anordnung:
„Du darfst dich nur in einem bestimmten Bezirk, einer
Stadt, einer Gemeinde, einem Landkreis aufhalten“, er-
satzlos abgeschafft werden kann.


(Beifall der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])


Wohlgemerkt: Korrespondieren muss das mit einer kla-
ren Wohnsitzzuweisung, damit die Frage der Kostenträ-
gerschaft eindeutig ist.

Von daher enthält dieser Gesetzentwurf der Bundes-
regierung Licht und Schatten. Er geht in manchen Punk-
ten – ich nannte schon die Residenzpflicht und das
Rückkehrrecht – nicht weit genug. Zur Datenübermitt-
lung hatte ich schon etwas gesagt. Ich fasse zusammen:
Das ist im Prinzip nicht schädlich, geht auch heute schon
so; dazu bräuchte man das Gesetz eigentlich nicht zu än-
dern.

Noch einmal zu der unseligen Verknüpfung von Wie-
derkehrrecht und Ehebestandszeit: Das ist eigentlich
eine unsittliche Verknüpfung, ein unsittliches Ansinnen.
Dazu wird meine Kollegin Aydan Özoğuz anschließend
noch eingehend sprechen, sodass ich mir jede weitere
Ausführung hierzu versage und Sie herzlich bitte, viel-
leicht den einen oder anderen Punkt aus den Gesetzent-
würfen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und Linkspar-
tei in die Beratung aufzunehmen. Sie könnten auf dem
richtigen Wege noch ein wenig gute Begleitung, Hin-
weise und Mitwirkung gebrauchen. Wir jedenfalls wären
dazu gern bereit.

Danke sehr.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708416300

Hartfrid Wolff hat das Wort für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!

Zwangsheirat ist kein Kavaliersdelikt.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Wer hat das behauptet?)


Oft hat sie schreckliche Folgen für die Betroffenen. Die
Gleichberechtigung der Frau ist einer der wesentlichen
Bestandteile unserer Rechts- und Werteordnung, deren
Vermittlung auch eine der entscheidenden Integrations-
aufgaben ist. Integration funktioniert nur bei Respekt vor
dieser Werteordnung.

In großfamiliären Strukturen mit altertümlichen Bräu-
chen bestehen zusätzliche Zwangslagen für junge Men-
schen. Falsche Traditionen oder intolerante kulturelle
Konventionen verhindern eine unabhängige Lebensge-
staltung – vielfach lebenslänglich. Zwangsheiraten sind
dabei kein Einzelphänomen – auch nicht in Deutschland.
Erfahrungen zum Beispiel aus Berlin, aber auch aus Flä-
chenländern wie Baden-Württemberg oder Bayern zei-
gen, dass es leider viel zu viele junge Frauen gibt, die in
einer Zwangsehe leben müssen. Der besondere psychi-
sche Druck, der auf Mädchen und jungen Frauen in der
Zwickmühle zwischen familiärer Solidarität und eigener
Selbstbestimmung lastet, ist hier sehr groß.

Auch wenn die Zwangsheirat bereits jetzt im Rahmen
der Nötigung strafbar ist, ist den betroffenen Familien
meist nicht bewusst, dass elterliche oder geschwisterli-
che Vorschrift des Ehepartners in der deutschen Rechts-
ordnung nicht toleriert wird. Den Eltern und Familienan-
gehörigen muss ausdrücklich die kriminelle Dimension
solchen Tuns klar sein. Die selbstbestimmte Lebensge-
staltung, die Freiheit, einen Ehepartner selbst aussuchen
zu können, braucht den besonderen Schutz eines eigenen
Straftatbestandes.

Aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion ist allerdings
die Verbesserung des Opferschutzes besonders wichtig.
Wir werden eben nicht nur die Täter bestrafen, sondern
auch den Opfern wieder eine Perspektivchance geben.
Es muss ein eigenständiges Wiederkehr- bzw. Rückkehr-
recht für ausländische Opfer von Zwangsverheiratungen
geben. Gerade die Verschleppung in ein fremdes Land
verschärft diese Zwangslage noch.

Die bisherige Regelung, wonach der Aufenthaltstitel
auch für verschleppte junge Frauen nach sechs Monaten
automatisch erlischt, ermöglicht es, diese Zwangslage
noch stärker auszunutzen und Frauen jede Fluchtper-
spektive zu nehmen. Nachdem über das Rückkehrrecht
nun schon sehr lange diskutiert wird und es weder Rot-
Grün noch Rot-Schwarz gelungen ist, diese Probleme
anzupacken, ist es der christlich-liberalen Koalition nun
zu verdanken, dieses wichtige Opferschutzrecht für die
Betroffenen geschaffen zu haben.


(Rüdiger Veit [SPD]: Wir gönnen euch einen Teilerfolg!)


Jetzt erhalten Opfer von Zwangsheirat und Verschlep-
pung wieder eine Chance, sich zu befreien. Dem dient
auch die Verlängerung der Antragsfrist für die Aufhe-
bung der Ehe.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Der Gesetzentwurf ist ein Signal für eine Abkehr von
ideologischer Zuwanderungs- und Integrationspolitik.
Die Koalition aus FDP und CDU/CSU geht ohne Scheu-
klappen die bestehenden Defizite der Integrationspolitik
an, um die Chancen der Zuwanderung für unser Land
besser zu nutzen. Dazu gehört auch, die Grundwerte un-
serer Rechtsordnung gegenüber Praktiken aus Her-
kunftsländern durchzusetzen, die mit dem deutschen
Recht nicht vereinbar sind.

Im Zuge dieser Verbesserungen haben wir der Verlän-
gerung der Ehemindestbestandszeit auf drei Jahre zur
Erlangung eines eigenständigen Aufenthaltstitels zuge-





Hartfrid Wolff (Rems-Murr)



(A) (C)



(D)(B)

stimmt. Das ist auf Kritik bei Opferverbänden, Kirchen
und Nichtregierungsorganisationen gestoßen.


(Rüdiger Veit [SPD]: Zu Recht!)


Wir nehmen diese Besorgnis sehr ernst und werden auch
in Zukunft auf die Wirkung dieser Regelung genau ach-
ten. Leider hat die im Jahre 2000 von Rot-Grün durchge-
setzte Absenkung der Ehemindestbestandszeit von vier
auf zwei Jahre die Möglichkeit für Scheinehen erweitert.
Dem will die Koalition entgegensteuern.


(Rüdiger Veit [SPD]: Ich denke, da ist alles dunkel!)


Opfern häuslicher Gewalt, die es leider in viel zu gro-
ßer Zahl gibt und die in der Regel als Argument gegen
die Anhebung der Ehemindestbestandszeit angeführt
werden, kann durch die Härtefallregelung nach wie vor
geholfen werden. Wir mahnen an, dass die Ausländerbe-
hörden zu einer großzügigen Handhabung gerade im
Sinne der Opfer von Zwangsheirat kommen.

Wir lockern die Residenzpflicht für Geduldete und
Asylbewerber, um ihnen die Aufnahme einer Beschäfti-
gung, Ausbildung oder eines Studiums bzw. den Schul-
besuch zu erleichtern. Damit steigern wir die Chancen
von jungen Migranten, auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu
fassen und sich in unsere Gesellschaft zu integrieren.

Die Koalition wird durch Fördern und Fordern die
Chancen der Zuwanderung für unser Land besser er-
schließen. Ziel bleibt, den Zusammenhalt unserer durch
Zuwanderer bereicherten Gesellschaft zu stärken.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708416400

Sevim Dağdelen spricht jetzt für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708416500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Um ei-

nes vorwegzunehmen: Ihnen, sehr geehrte Damen und
Herren von der Bundesregierung und von den Regie-
rungsfraktionen, geht es nicht um die betroffenen
Frauen, wie es hier immer wieder gesagt wurde. Nein,
Sie haben kein Herz für zwangsverheiratete Personen.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Was soll das denn?)


Sie wollen auch nicht ernsthaft etwas gegen Zwangsver-
heiratungen tun.

Es nimmt Ihnen auch niemand ab, dass Sie plötzlich
für die Rechte von Frauen kämpfen, wo doch gerade Sie
seit Jahren alles an Gleichstellungspolitik verhindert ha-
ben und immer noch verhindern. Deshalb protestierten
heute vor dem Reichstag zahlreiche Frauenrechtsorgani-
sationen und andere Vereine aufgrund des Aufrufs von
Terre des Femmes gegen Ihren frauenfeindlichen Ge-
setzentwurf. Die Linke ist auf der Seite dieser Frauen-
rechtsorganisationen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ihnen geht es nur um eines: Sie wollen die Notlagen
von Frauen dafür nutzen, um Ihre hässliche Abschot-
tungspolitik zu kaschieren; denn Sie wollen immer noch
Familienzusammenführungen in Deutschland verhin-
dern.

Bereits im August 2007 wurde das Argument der Be-
kämpfung von Zwangsverheiratungen angeführt, um den
Ehegattennachzug einzuschränken. Da führte die Große
Koalition aus CDU/CSU und SPD den Zwang ein, die
deutsche Sprache bereits im Ausland zu erlernen.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Sehr erfolgreiche Maßnahme!)


Das vorgegebene Motiv war die Bekämpfung von
Zwangsverheiratungen, und das war scheinheilig. Denn
durch diese Maßnahme wurde bis heute kein einziger
Fall von Zwangsverheiratung verhindert. Es fehlt jegli-
cher Beweis seitens der Bundesregierung, dass diese
Maßnahme irgendeine Zwangsverheiratung verhindert
hätte.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Fragen Sie mal im Goethe-Institut in Istanbul nach, bevor Sie solchen Unsinn erzählen! Sie müssen sich mal vor Ort informieren!)


Was hier als Opferschutz getarnt war, Herr Grindel,
zielte ganz einfach auf die Verhinderung von Einwande-
rung. Und Ihr Ziel haben Sie auch erreicht: Vor der
Verschärfung des Ehegattennachzugs konnten noch
40 000 Menschen von ihrem Grundrecht auf Ehe- und
Familienzusammenführung Gebrauch machen.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Es gibt kein Grundrecht auf Zwangsehe, Frau Dağdelen! Das hätten Sie vielleicht gerne!)


2009 waren es nur noch 33 000. Das ist ein Rückgang
um 16 Prozent.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Der kann man fast nicht mehr zuhören!)


Wir sagen: Das ist keine familienfreundliche Politik,
nein, das ist eine familienfeindliche Politik der Bundes-
regierung.

Die Bundesregierung zeigt erneut, dass es ihr weiter-
hin nicht um die betroffenen Frauen geht. Denn was
schlägt sie vor? Sie schlägt vor, die Ehebestandszeit von
zwei auf drei Jahre zu erhöhen. Damit werden Frauen,
die in gewalttätigen Beziehungen oder Gewaltverhältnis-
sen leben, aus Angst vor dem Verlust des Aufenthalts-
titels oder vor einer Abschiebung gezwungen, ein Jahr
länger in dieser Gewaltsituation auszuharren. Ich ver-
stehe einfach Ihre Logik nicht. Sie begründen Ihre Ge-
setzesmaßnahme damit,


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Lesen Sie mal das Gesetz!)






Sevim Daðdelen


(A) (C)



(D)(B)


Sevim Dağdelen
dass Sie behaupten, die Anzahl der Scheineheverdachts-
fälle sei höher als im Jahr 2000. Auch das stimmt nicht.
Das ist glatt gelogen. Auf meine Anfrage an die Bundes-
regierung vom 25. November 2010 konnte sie nicht
leugnen, dass die Zahl der Tatverdächtigen bei Schein-
ehen im Jahr 2009 mit 1 698 Personen nicht einmal ein
Drittel so hoch war wie im Jahr 2000 mit 5 269 Fällen,
also in dem Jahr, in dem die Ehebestandszeit von vier
auf zwei Jahre reduziert wurde. Jetzt wollen Sie die Zeit
verlängern, obwohl die Zahl der Verdachtsfälle wesent-
lich weniger geworden ist. Wo ist eigentlich die Logik
bei Ihnen? Es gibt gar keine Logik. Sie nehmen in Kauf,
dass die Frauen länger in Gewaltsituationen bleiben.
Deshalb finde ich das nicht nur unlogisch, sondern un-
menschlich. Es ist skandalös, was Sie hier vorhaben.

Sie verstoßen nicht nur gegen jedweden Grundsatz
von Humanität, Sie verstoßen auch gegen europäisches
Recht. Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs
vom 9. Dezember 2010 verstößt die Erhöhung der Ehe-
bestandszeit gegen Europarecht. Das europäische Asso-
ziationsrecht sieht seit Ende 1980 ein sogenanntes
Verschlechterungsverbot, zum Beispiel für türkische Ar-
beitnehmer, vor. Danach darf die Erteilung von Aufent-
haltserlaubnissen nicht erschwert werden. Das heißt, seit
1980 gewährte Erleichterungen dürfen nicht mehr zu-
rückgenommen werden. Genau das tun Sie aber hier mit
Ihrem Gesetzentwurf. Deshalb muss er sofort gestoppt
werden, wenn schon nicht aus Rücksicht auf die Frauen,
dann aus europarechtlichen Gründen, sagt die Linke.

Deshalb fordert die Linke auch flächendeckende
niedrigschwellige Beratungsangebote und Notfallunter-
bringungen, die von Zwangsverheiratung bedrohten
Frauen oder zwangsverheirateten Frauen helfen würden.
Außerdem fordern wir verfahrensrechtliche Veränderun-
gen zur Gewährleistung der Sicherheit und Anonymität
der Opfer in den Gerichtsverfahren. Das sagen sehr viele
Menschen, die in den Opferberatungsstellen oder An-
waltsvereinen arbeiten und seit Jahren mit dem betroffe-
nen Personenkreis zu tun haben.

Wir fordern ein wirksames Rückkehrrecht für
zwangsverheiratete oder verschleppte Personen. Diese
Menschen müssen vor allen Dingen ein uneingeschränk-
tes Recht auf Wiederkehr haben, das ihnen unabhängig
vom Nachweis eigenen Erwerbseinkommens zustehen
muss.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir fordern auch, dass in Fällen einer Verschleppung der
Aufenthaltstitel grundsätzlich nicht erlischt.

Ferner fordern wir die Bundesregierung auf, auf die
geplante Verlängerung der Mindestehebestandszeit zu
verzichten. Statt einer Verlängerung ist es endlich an der
Zeit, in einer großen Industrienation wie Deutschland
ein dem 21. Jahrhundert gemäßes eigenständiges Auf-
enthaltsrecht von Ehegatten zu schaffen.

Ich komme zum letzten Punkt. Gestern war ich zu ei-
ner Podiumsveranstaltung zum Thema Asylbewerber-
leistungsgesetz bei der Katholischen Akademie eingela-
den. Die Bundesregierung hat ja selbst zugegeben, dass
das Asylbewerberleistungsgesetz im Lichte des Bundes-
verfassungsgerichtsurteils zu Hartz IV vom Februar letz-
ten Jahres eigentlich verfassungswidrig ist und den An-
forderungen des Gerichts nicht entspricht. Dort wurde
auch das Problem der Residenzpflicht angesprochen.
Deshalb halte ich das, was Sie vorgelegt haben, für et-
was Halbherziges, für ein Teilstück. Ich fordere Sie auf,
endlich auch allen Menschen mit Migrationshintergrund
die Bewegungsfreiheit in Deutschland zu ermöglichen.
Die Mobilität ist nicht nur für die Erbringung von
Dienstleistungen und den Warenverkehr zu gewährleis-
ten, sondern auch die Menschen müssen ein Recht ha-
ben, sich in Deutschland frei bewegen zu können.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708416600

Memet Kilic hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die

Grünen.


Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708416700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Zwangsverheiratungen sind schwerwiegende
Menschenrechtsverletzungen. Sie verletzen die Würde
der Betroffenen, ihre persönliche Freiheit und selbstbe-
stimmte Lebensführung sowie den Grundsatz der
Gleichberechtigung von Frauen und Männern. Sie sind
in Deutschland zu Recht unter Strafe gestellt und geäch-
tet.

Es ist schäbig, was die Bundesregierung uns heute zur
Bekämpfung von Zwangsheirat vorlegt. Sie ist offenbar
nicht gewillt, für adäquaten Schutz für die Betroffenen
zu sorgen. Als Alternative haben wir ein eigenes Kon-
zept vorgelegt, damit Betroffene den Schutz und die Un-
terstützung erhalten, die sie wirklich brauchen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Schwarz-Gelb betreibt mit dem Gesetzentwurf puren
Etikettenschwindel: Im Jahr 2005 hat Rot-Grün die
Zwangsverheiratung ausdrücklich als einen besonders
schweren Fall der Nötigung im Strafgesetzbuch veran-
kert. Nun will die Koalition den Opferschutz angeblich
dadurch erhöhen, dass Zwangsverheiratung in einem ei-
genständigen Paragrafen unter Strafe gestellt wird. Diese
Umbenennung ist reine Symbolpolitik und wird wohl
kaum einen Täter mehr abschrecken, meine Damen und
Herren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708416800

Herr Kilic, lassen Sie eine Zwischenfrage des Abge-

ordneten Wolff zu?


Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708416900

Sehr gerne.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708417000

Bitte schön.






(A) (C)



(D)(B)

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Herr Kollege Kilic, Sie sagten gerade, es sei Etiket-

tenschwindel, weil die Strafbarkeit, da das ein besonders
schwerer Fall der Nötigung ist, vorher schon gegeben
sei. Stimmen Sie mir zu, dass auch eine Handlung wie
das Zuparken eines anderen Fahrzeugs als Nötigung
strafbar ist, und ist das wirklich aus Ihrer Sicht mit einer
Zwangsverheiratung vergleichbar?


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ein besonders schwerer Fall!)



Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708417100

Herr Kollege Wolff, ich schätze Sie sehr; aber ich

kann diese Frage nur als unqualifiziert zurückweisen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Zwischen einer Zwangsehe und dem Zuparken eines Au-
tos besteht ein Unterschied.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Beides ist Nötigung!)


Deshalb haben wir die Zwangsheirat als einen besonders
schweren Fall von Nötigung verankert und ein Strafmaß
von bis zu fünf Jahren vorgesehen. Damit haben wir
deutlich gemacht, dass es kein Kavaliersdelikt ist. Sie
ändern an diesem Strafmaß von fünf Jahren gar nichts,
sondern schaffen nur ein neues Etikett. Das nenne ich
deshalb Etikettenschwindel. – Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die zweite Neuregelung betrifft die Verlängerung des
Rechts auf Wiederkehr für Personen, die gegen ihren
Willen in das Ausland verschleppt und verheiratet wur-
den. Die Bundesregierung macht die vorgesehene Rück-
kehrmöglichkeit aber von einer positiven Integrations-
prognose abhängig. Will die Bundesregierung den
Menschenrechtsschutz tatsächlich vom Portemonnaie
oder Bildungsniveau der Betroffenen abhängig machen?
Da sieht man, wie ernst es der Koalition mit diesem
Thema wirklich ist. Das ist schäbig.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Es ist geradezu erbärmlich, dass Schwarz-Gelb die
Mindestbestandszeit einer Ehe für ein eigenständiges
Aufenthaltsrecht ausländischer Ehegatten von zwei auf
drei Jahre verlängern will. Schauen wir einmal in den
Gesetzentwurf. Dort heißt es im Hinblick auf diese Re-
gelung, sie sei erforderlich, da Wahrnehmungen aus der
ausländerbehördlichen Praxis auf eine Erhöhung der
Scheineheverdachtsfälle hindeuteten. Was soll diese
schwachsinnige Begründung? Es gibt überhaupt keine
gesicherten Daten, die für die Notwendigkeit und Effek-
tivität dieser drastischen Maßnahme sprechen. Die Bun-
desregierung setzt haltlose Verdächtigungen in die Welt
und glaubt hinterher auch noch selber daran. Das hat bei
ihr System; das ist schäbig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Die Bundesregierung wurde wegen dieser Neurege-
lung nicht nur von Terre des Femmes, von der Caritas,
vom Verband binationaler Familien und Partnerschaften
sowie vom Deutschen Anwaltsverein heftig kritisiert,
sondern auch vom Bundesrat düpiert: Sogar der Bundes-
rat bezweifelt in seinem Beschluss vom 17. Dezember
2010, „ob die Anhebung der Mindestbestandszeit einer
Ehe … mit der Zielsetzung des Gesetzentwurfs in Ein-
klang steht, zum besseren Schutz der Opfer von Zwangs-
heirat beizutragen“.

Der Beschluss des Bundesrates für eine Bleiberechts-
regelung bei gut integrierten Jugendlichen ist für viele
bislang nur Geduldete ein Schritt in die richtige Rich-
tung. Die Regelung bezieht sich aber nur auf Jugendli-
che, die „erfolgreich … eine Schule besucht“ haben.
Was machen wir mit den Kindern, die aus unterschiedli-
chen Gründen keinen Erfolg in der Schule gehabt haben?
Werden wir diese Kinder für das Schicksal ihrer Eltern
verantwortlich machen? Die Regelung ist nur ein halber
Schritt; das muss korrigiert werden. Eine stichtagsunab-
hängige Regelung ist das einzig richtige Instrument, um
humanitären Härtefällen vorzubeugen.

Wir fordern die Koalition auf, bei der Umsetzung des
Bundesratsbeschlusses weitere humanitäre Härten zu
vermeiden, etwa im Hinblick auf alte und kranke Men-
schen, die auf dem Arbeitsmarkt keine Chancen haben.

Im Hinblick auf europarechtliche Vorgaben ist eine
grundsätzliche Überprüfung der nur in Deutschland
praktizierten Residenzpflicht dringend geboten.

Der Gesetzentwurf der Bundesregierung ist skanda-
lös; er ist ein Armutszeugnis für die Regierung. Wir er-
warten, dass die Bundesregierung die allseitige Kritik
ernst nimmt und die sinnvollen Vorschläge unseres An-
trags übernimmt.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708417200

Der Kollege Reinhard Grindel hat jetzt das Wort für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Reinhard Grindel (CDU):
Rede ID: ID1708417300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es ist das gute Recht der Opposition, zu kritisieren, was
die Regierung und die sie tragenden Fraktionen vor-
schlagen. Herr Kollege Veit und Herr Kollege Kilic, auf
eines will ich aber schon hinweisen: Sowohl beim
Thema der Residenzpflicht für Asylbewerber als auch
beim Thema des Rückkehrrechts für Zwangsverheiratete
und Zwangsverschleppte haben Sie zu Zeiten der rot-
grünen Bundesregierung nichts, aber auch gar nichts zu-
stande gebracht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir handeln jetzt. Diesen Unterschied wird man doch
betonen dürfen.





Reinhard Grindel


(A) (C)



(D)(B)

Herr Kollege Veit, zur Frage des Rückkehrrechts. Wir
haben jetzt eine Regelung vorgesehen, mit der wir auf
das entscheidende Problem der Zwangsverschleppten
eingehen: Wir lassen hier die Pflicht zur Lebensunter-
haltssicherung fallen. Um das klar auf den Punkt zu brin-
gen – Sie sind langjähriger Experte –: Das heißt, wir
nehmen aus humanitären Gründen in diesem Fall sogar
die Gefahr einer Rückwanderung in die Sozialsysteme
hin. Es kann sein, dass die Frauen, die zurückkehren, in
die Sozialsysteme wandern. Das ist etwas, das wir
grundsätzlich nicht wollen. Es muss doch einsichtig sein,
dass wir sagen: Wenn wir schon dieses Risiko eingehen,
dann muss es eine differenzierte Lösung geben. Natür-
lich haben wir eine besondere soziale Verantwortung ge-
genüber denjenigen, die schon sehr lange in Deutschland
gewesen sind. Es macht doch einen Unterschied, ob je-
mand schon sechs oder acht Jahre in Deutschland gelebt
hat, ob er hier zur Schule gegangen ist oder ob er nur we-
nige Monate hier war und dann zwangsverschleppt wor-
den ist, also keinen näheren Bezug zum Land hat. Inso-
fern geht es bei der Integrationsprognose darum, dass
wir auch sichergehen können, dass es tatsächlich eine
Verwurzelung hier in Deutschland gibt und dass diese
Frauen daher ein Anrecht darauf haben – und der Staat
korrespondierend eine soziale Verantwortung hat –, dass
ihnen eine Perspektive für ein Leben in Deutschland ge-
geben wird. Dass hier differenziert werden muss und
dass das für diejenigen gilt, die besonders lange in
Deutschland gewesen sind, das kann eigentlich nicht
streitig sein. Das ist eine richtige und von uns klar so an-
gestrebte Regelung in der Differenzierung der verschie-
denen Fälle von Frauen, mit denen wir es hier zu tun ha-
ben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Es ist auch nicht in Ordnung, dass Sie hier die Vor-
schriften über die Integrationskurse schlechtreden.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708417400

Herr Grindel, der Kollege Veit würde Ihnen gern eine

Frage stellen.


Reinhard Grindel (CDU):
Rede ID: ID1708417500

Ja.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708417600

Bitte.


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1708417700

Herr Kollege Grindel, wir sind ja offenbar in der Be-

wertung unterschiedlicher Auffassung. Ich würde diesen
Unterschied nicht machen bei Opfern von Zwangsheirat,
die entweder zum Zwecke der Eingehung der Ehe oder
aber aus dem Grund, um eine Zwangsheirat aufrechtzu-
erhalten, ins Ausland verschleppt worden sind und die
vorher rechtmäßig in Deutschland gelebt haben. Warum
soll ich da noch einmal differenzieren und sagen: „Ich
verlange von den Betroffenen auch noch eine besonders
gute Integrationsprognose, damit ihnen die Wohltat zu-
teilwerden kann, eventuell in das Sozialsystem einzu-
wandern“? Diese Differenzierung innerhalb der Gruppe
von zwangsverheirateten Opfern kann ich nicht nach-
vollziehen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Reinhard Grindel (CDU):
Rede ID: ID1708417800

Lieber Herr Kollege Veit, das ist nun bemerkenswert,

dass Rot-Grün hier klatscht. So war nämlich die Rechts-
lage. Unter Rot-Grün war die Rechtslage, dass nur die
zwangsverschleppte, zwangsverheiratete Frau zurück-
kehren darf, die in der Lage ist, ihren Unterhalt selber zu
bestreiten. Daran sind 95 Prozent aller Fälle gescheitert.
Das ist die Rechtsgrundlage zu Ihrer Zeit gewesen. Wir,
die christlich-liberale Koalition, obwohl wir eigentlich
den Grundsatz verfolgen, eine Zuwanderung in Sozial-
systeme nicht zulassen zu wollen, sagen: Aus humanitä-
ren Gründen lassen wir es zu. Aber wir differenzieren
dann auch. Wenn ich nach acht oder nach zehn Jahren
noch eine solche Rückkehr nach Deutschland zulasse,
dann muss eine positive Integrationsprognose vorliegen,
es muss ein Anknüpfungspunkt gegeben sein, sodass ich
sagen kann: Der Betreffende, auch wenn er schon so
lange aus Deutschland weg war, wird in der Lage sein,
sich wieder in Deutschland zu integrieren und irgend-
wann auch ohne soziale Transferleistungen zu leben.
Deswegen knüpfen wir daran an, dass zum Beispiel der
Schulbesuch erfolgreich war. Das ist integrationspoli-
tisch, sozialpolitisch und auch hinsichtlich der Akzep-
tanz bei der deutschen Bevölkerung für das, was wir hier
tun, von zentraler Bedeutung. Ich halte es für richtig,
dass wir hier differenzieren. Es macht einen Unter-
schied, ob sich jemand schon zehn Jahre in Deutschland
aufgehalten hat oder nur ein paar Monate. Das muss ein-
sichtig sein, lieber Herr Kollege Veit.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wie gesagt, wir verbessern die Qualität der Integra-
tionskurse. Jetzt müssen die Ausländerbehörden nämlich
nachhaltig prüfen,


(Rüdiger Veit [SPD]: Das können die doch jetzt schon!)


ob der Kurs tatsächlich besucht worden ist. Das fällt vie-
len Ausländerbehörden sonst erst bei der Beantragung
der Niederlassungserlaubnis auf. Wir wollen, dass sie
nach einem Jahr, also dann, wenn die Zuwanderer ge-
rade erst in Deutschland sind, wenn sie noch besonders
integrationsbereit sind, schnell nachprüfen, ob der Ver-
pflichtung, den Kurs zu besuchen, auch tatsächlich nach-
gekommen worden ist. Der Datenaustausch zwischen
den Kursträgern, den Ausländerbehörden und dem
BAMF wird dazu führen, dass Kurse zum Beispiel
schneller anfangen können. Das ist eindeutig eine quali-
tative Verbesserung.


(Rüdiger Veit [SPD]: Das geht heute schon!)


– Nein, das gibt es heute noch nicht.


(Rüdiger Veit [SPD]: Das geht heute schon! Ob es das gibt, ist eine andere Frage!)






Reinhard Grindel


(A) (C)



(D)(B)

Jetzt zum Thema Dunkelziffer. Sie müssten sich ein-
mal, Herr Kilic, mit denjenigen in den Visastellen in An-
kara, in Istanbul auseinandersetzen,


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich tue das!)


die täglich dieses Geschäft machen. Die werden Ihnen
sagen: Bei 30 Prozent der Fälle müssen Sie davon ausge-
hen, dass es eine Scheinehe ist. Das Problem ist nur: Sie
können es denen nicht nachweisen, weil die Ausländer-
behörden – das sind insbesondere die in Nordrhein-
Westfalen; da kann ich sogar die Städte benennen, mit
denen es die größten Probleme der Zusammenarbeit gibt –
aus Gründen der begrenzten personellen Kapazitäten zu-
nehmend nicht bereit sind, gleichzeitige Befragungen
des einen Ehegatten in der Visastelle und des anderen
Ehegatten in Deutschland durchzuführen.

Zu den Zahlen, die Frau Dağdelen hier genannt hat.
Es ist ja geradezu absurd, zu sagen: Das Problem ist klei-
ner geworden, weil die Zahl der Tatverdächtigen kleiner
ist.


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Die Bundesregierung sagt das!)


Im Jahr 2000 galt eine Ehebestandszeit von vier Jahren.
Damals hatten die Ausländerbehörden vier Jahre Zeit,
um das Vorliegen einer Scheinehe aufzudecken. Dass
man in vier Jahren mehr Fälle aufdeckt, als wenn man
dazu nur zwei Jahre Zeit hat, ist doch wohl einsichtig.
Ihre Argumentation ist völlig absurd. Ihrer Logik zu-
folge gäbe es, wenn die Ausländerbehörden überhaupt
nicht mehr prüfen würden, null Verdachtsfälle. Dann
gäbe es das Problem gar nicht mehr. Das ist Ihre Logik,
liebe Kollegin Dağdelen. Das ist völlig absurd. Das Ge-
genteil ist richtig: Mit der Verlängerung der Ehebe-
standszeit erreichen wir, dass die Ausländerbehörden
eine größere Chance haben, illegale Zuwanderung, auf
die die Migranten kein Recht haben, aufzudecken. Diese
Möglichkeit wollen wir unseren Behörden eröffnen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708417900

Herr Grindel, auch der Kollege Kilic möchte eine

Zwischenfrage stellen. Möchten Sie diese zulassen?


Reinhard Grindel (CDU):
Rede ID: ID1708418000

Ja.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708418100

Bitte.


Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708418200

Herr Kollege Grindel, stimmen Sie mir zu, dass es ei-

nen Europaratsbeschluss von 1996 gibt, welcher zur Be-
kämpfung von Scheinehen vorschreibt, dass Eheleute
oder Verlobte zeitgleich angehört werden – einer im Aus-
land und der andere hier, bei der Ausländerbehörde –,
weil man bei fast allen Ehen unterstellt, dass es sich um
eine Scheinehe handelt und die Prüfungen in dieser Ge-
fühlslage stattfinden?
Habe ich das richtig verstanden, dass Sie von der Ge-
fühlslage der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bot-
schaften ausgehen? Welche Daten liegen Ihnen vor? Das
ist die Frage. Rechtsstaatliches Handeln muss bei so
wichtigen Themen, bei denen es um das Glück der Men-
schen, um das Leben der Menschen und Familienzusam-
menführung geht, auf gesicherten Daten basieren und
darf nicht nur auf Verdächtigungen und Vermutungen
beruhen.


Reinhard Grindel (CDU):
Rede ID: ID1708418300

Herr Kilic, ich finde, ich habe das klar gesagt. Ich

habe gesagt, dass die Mitarbeiter der Visastellen in
vielen Fällen Ausländerbehörden gebeten haben, zum
Beispiel die Ausländerbehörden in Duisburg, Gelsenkir-
chen, Köln und Bochum, eine solche zeitgleiche Einver-
nahme durchzuführen. Die Ausländerbehörden sehen
sich aus personellen Gründen dazu nicht in der Lage.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das findet immer statt!)


Diese getrennte Einvernahme findet nicht statt. Das ist
das Problem. Das habe ich hier angesprochen.

Jetzt will ich Ihnen noch etwas sagen: Der Kollege
Veit und ich waren bereits vor mehreren Jahren auf einer
Tagung des Bundesinnenministeriums im Bundesverwal-
tungsamt. Damals hat – Herr Kollege Veit, es wäre nett,
wenn Sie das durch Kopfnicken bestätigen würden – die
damalige Leiterin der Ausländerbehörde in München ge-
schildert – ich weiß nicht, ob sie heute noch im Amt ist;
das Phänomen wird einem auch von anderen Ausländer-
behörden bestätigt –, dass es eine Vielzahl von Fällen
gibt, in denen Ehefrauen oder Ehemänner – in aller Re-
gel sind es Ehefrauen – nach zwei Jahren und wenigen
Monaten die Scheidung beantragen und ihren Ehemann,
mit dem sie in erster Ehe in der Türkei verheiratet waren,
wieder heiraten und diesen dann, weil sie ein eigenstän-
diges Aufenthaltsrecht haben, nach Deutschland nachho-
len. Die Kinder, die in der Zwischenzeit geboren worden
sind, werden vom ersten Ehemann als eigene Kinder an-
erkannt. Wenn ich sage, dass man in diesem Zusammen-
hang von einer Dunkelziffer und dem Verdacht reden
darf, dass es sich dabei um Scheinehen handelt, obwohl
es mir nicht möglich ist, das vollkommen nachzuweisen,
dann halte ich das für eine zulässige politische Bewer-
tung, Kollege Kilic.


(Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei solchen Fällen wird das Aufenthaltsrecht aberkannt! Eine strafrechtliche Verfolgung gibt es auch in solchen Fällen! – Rüdiger Veit [SPD]: Das ist nach drei Jahren aber auch nicht anders! Das halten sie dann auch noch aus!)


– Das ist wohl wahr. Das ist ein wunderbarer Zwischen-
ruf. Deswegen waren wir für eine vierjährige Ehebe-
standszeit und damit für die Wiedereinführung der alten
gesetzlichen Regelung. Sie haben dazu die Ausführun-
gen des Kollegen Wolff gehört. Wir haben uns in der
Koalition schiedlich-friedlich auf eine dreijährige Ehe-
bestandszeit verständigt.





Reinhard Grindel


(A) (C)



(D)(B)

Frau Dağdelen, ich will noch einen Punkt erwähnen,
der, wie die Kollegin Jelpke immer so gerne sagt, zy-
nisch war. Sie haben hier gesagt, dass all das, was wir
beim Thema Zwangsehe vorhaben, nicht in Ordnung ist.
Es sei zum Beispiel falsch, bei einem Ehegattennachzug
Deutschkenntnisse zu fordern. Sie sagten, dass man nie-
derschwellige Beratungsangebote und Notfallmaßnah-
men braucht. Das wäre die Lösung. Liebe Kolleginnen
und Kollegen, wie bitte soll eine von Zwangsehe betrof-
fene Frau niederschwellige Beratungsangebote anneh-
men? Wie soll sie denn Hilfe holen und Notfallmaßnah-
men annehmen, wenn sie noch nicht einmal über
einfache deutsche Sprachkenntnisse verfügt? Das ist
doch das Problem, mit dem wir es in der Vergangenheit
immer wieder zu tun hatten.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer sagt denn, dass wir nur auf Deutsch beraten dürfen?)


Diese Beratungsangebote laufen doch völlig ins Leere,
wenn nicht zumindest einfache Sprachkenntnisse ver-
mittelt worden sind. Insofern geht die Bemerkung, die
Sie hier gemacht haben, völlig ins Leere und hilft den
Frauen überhaupt nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Letzte Bemerkung, Frau Präsidentin. Ich begrüße
sehr, dass Sie, Herr Staatssekretär Schröder, erwähnt ha-
ben, dass wir uns um ein gesetzliches Bleiberecht für in-
tegrierte Kinder und Jugendliche bemühen wollen. Wir
als CDU/CSU-Fraktion sind dafür. Wir haben keine Ta-
lente zu verschenken. Wir brauchen jeden, gerade denje-
nigen, der seine Integrationsbereitschaft dadurch bewie-
sen hat, dass er schulischen Erfolg hat, dass er eine
Berufsausbildung macht –


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Schreiben Sie das doch ins Anerkennungsgesetz!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708418400

Herr Kollege.


Reinhard Grindel (CDU):
Rede ID: ID1708418500

– und dass er sich um eine gute berufliche Perspektive

bemüht.

Es ist auch ein Anreiz für die Eltern – Frau Präsiden-
tin, ich komme zum Schluss –, dafür zu sorgen, dass die
Kinder in die Schule gehen und eine Ausbildung ma-
chen. Insofern sage ich für unsere Fraktion, Kollege
Schröder: Wir sind dabei. Die CDU/CSU-Bundestags-
fraktion ist für ein gesetzliches Bleiberecht –


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708418600

Herr Kollege!


Reinhard Grindel (CDU):
Rede ID: ID1708418700

– ohne jede Stichtagsregelung für gut integrierte Ju-

gendliche.

Herzlichen Dank fürs Zuhören.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Rüdiger Veit [SPD]: Jetzt nicke ich gerne! – Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Und was ist mit den Talenten, die nicht anerkannt werden? Ein Anerkennungsgesetz müsste geschaffen werden!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708418800

Die Kollegin Aydan Özoğuz hat jetzt für die SPD-

Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Aydan Özoğuz (SPD):
Rede ID: ID1708418900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich

wünsche mir erst einmal ein bisschen mehr Ruhe und
eine Versachlichung der Diskussion. Es geht immerhin
um ein ernstes Thema.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Was soll das denn heißen? Sie machen hier Krawall und stören, und dann reden Sie von sachlicher Atmosphäre?)


– Nein. Sie sind derjenige, der Krawall macht und das
komischerweise noch nicht einmal merkt; das ist das Ei-
genartige.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Vielleicht direkt am Anfang zwei Worte zu Ihnen. Die
Ansichten von Visastellen zur Basis der Integrations-
und Zuwanderungsarbeit in unserem Land zu machen,
halte ich für abenteuerlich.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Gleichzeitig möchte ich sagen, dass man schlechte Er-
fahrungen, die es auch gibt, die aber nicht der Mehrheit
anzurechnen sind, nicht zur Grundlage der parlamentari-
schen Arbeit machen kann.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Reinhard Grindel [CDU/CSU]: „Mehrheit“ habe ich ja auch nicht gesagt!)


– Warum haben Sie das dann so breit ausgeführt?


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Weil das viele Fälle sind!)


Ich möchte es einmal andersherum versuchen. Wir
sind jahrzehntelange Blockadepolitik von Ihnen ge-
wohnt. Jetzt sehen wir, dass Sie durchaus kleine Schritte
machen. Das ist wichtig und gut. Es gibt zwar auch an-
dere Entwicklungen, auf die ich noch eingehen werde.
Aber erst einmal möchte ich festhalten, dass es auch eine
gute Nachricht gibt: Sie haben endlich eingesehen, dass
es ein eigenständiges Rückkehrrecht für Opfer einer
Zwangsheirat geben muss. Wir als SPD-Fraktion haben
jahrelang darauf hingewiesen. Unser Gesetzentwurf zielt
in diese Richtung. Möglicherweise bewegt sich bei Ih-
nen an dieser Stelle etwas. Das wird man bei den Bera-
tungen im Ausschuss sehen.





Aydan Özoðuz


(A) (C)



(D)(B)


Aydan Özoğuz
Ich möchte auch daran erinnern, dass Zwangsverhei-
ratungen auf Bestreben der SPD-Fraktion seit 2005
– eben kam zum Ausdruck, dass das strittig ist – als be-
sonders schwerer Fall der Nötigung – es geht also nicht
nur ums Zuparken, Herr Wolff –


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Ob Anklage wegen Nötigung oder Anklage wegen Zwangsheirat ist schon ein Unterschied!)


in § 240 Strafgesetzbuch aufgenommen wurde.

Jetzt wollen Sie dafür in § 237 Strafgesetzbuch einen
eigenen Straftatbestand einführen. Sie wundern sich,
dass dies den Eindruck erweckt, als würden Sie ein
Stück weit Symbolpolitik machen. Das Eigenartige ist
doch: Das Strafmaß ändert sich nicht. Es ändert sich ei-
gentlich nichts, außer dass diese Regelung nicht mehr in
§ 240, sondern in § 237 Strafgesetzbuch steht, an einer
eigens dafür geschaffenen Stelle. Dass Leute, die sich
Gedanken über eine Zwangsheirat machen, dadurch so-
fort massenweise davon abgehalten werden, kann man,
wie ich glaube, durchaus bezweifeln. Es stellt sich also
die Frage, worauf Sie eigentlich abzielen, wenn Sie da-
für einen eigenen Paragrafen schaffen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Praxis zeigt, dass der Opferschutz bei einer
Zwangsheirat nach der bisherigen Rechtslage noch nicht
vollständig gewährleistet ist. Wir haben mit unserem Ge-
setzentwurf versucht, diese Lücke zu schließen, gerade
im Hinblick auf ungelöste Konstellationen. Dies gilt
zum Beispiel für den etwas komplizierten Fall, dass eine
Person aus Deutschland ohne deutschen Pass im Aus-
land zur Eingehung einer Ehe oder zur Fortsetzung einer
bereits bestehenden Ehe genötigt wird. In diesem Fall
müsste man sich nach Ihren Vorstellungen mit einem
Katalog von Kriterien befassen. Da mein Kollege
Rüdiger Veit schon auf die Nachteile Ihres Gesetzent-
wurfes hingewiesen hat, nutze ich meine Redezeit, um
auf einige andere Aspekte einzugehen. Ich glaube näm-
lich, dass unser Gesetzentwurf sehr viel umfassender
und besser ist.

Wir begrüßen – das sage ich Ihnen gerne –, dass Sie
über den Umweg des Bundesrates und den Beschluss der
Innenministerkonferenz im Aufenthaltsgesetz einen ei-
genen Aufenthaltstitel für gut integrierte Jugendliche
einführen wollen. Herr Grindel, das war nicht immer so;
auch das muss man einmal deutlich sagen. Bisher hat Sie
zum Beispiel nicht sonderlich interessiert, ob die Ju-
gendlichen gut integriert sind. Wir hatten ja gerade in
Hamburg einen sehr pressewirksamen Fall. In der Regel
ist es jedoch so, dass diese Fälle nicht in der Presse ste-
hen und keine Aufmerksamkeit erfahren. Es ist absurd,
dass junge Menschen, die bei uns groß werden, fast ihr
ganzes Leben bei uns verbringen, sehr häufig deutsch
sprechen und unser ganzes System kennen, plötzlich ab-
geschoben werden. Diese absurde Situation bestand jah-
relang. Da waren Sie nicht gerade die Vorreiter dafür,
das zu ändern.

Ich sage deshalb hier ganz bewusst: Es ist gut, dass
sich offensichtlich auch bei Ihnen ein Stück weit etwas
ändert. Wir werden sehen, ob das auch tatsächlich so ge-
schehen wird.


(Rüdiger Veit [SPD]: Wir freuen uns über die reuigen Sünder! – Gegenruf des Abg. Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Da schließen Sie den SPD-Innenminister mit ein! – Gegenruf des Abg. Rüdiger Veit [SPD]: Stimmt!)


Schade finde ich – hier komme ich zu einem ganz
wichtigen Punkt, der hier schon genannt worden ist, den
ich aber ganz ausdrücklich noch einmal nennen möchte –,
dass Sie die Themenkomplexe Schutz vor Zwangsheirat
und Scheinehe verknüpfen. Diese Konstellation richtet
sich wieder ein Stück weit gegen die angeheirateten Ehe-
partner, insbesondere dadurch, dass Sie die Ehebestands-
zeit für ein eigenständiges Aufenthaltsrecht von zwei auf
drei Jahre hochsetzen. Ich finde, man muss auch deutlich
sagen, dass Sie damit sowohl symbolisch als auch ganz
praktisch einen Generalverdacht gegen alle aus dem
Ausland angeheirateten Ehepartner richten. Es ist über-
haupt nicht in Ordnung, dass Sie ein solches Signal aus-
senden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)


Es heißt in Ihrem Gesetzentwurf dazu reichlich
schwammig, dass die Wahrnehmung aus der ausländer-
behördlichen Praxis darauf hindeuten würde, dass eine
Mindestbestandszeit von drei Jahren den Anreiz zur Ein-
gehung einer Scheinehe vermindern würde. Belastbare
Zahlen dazu können Sie uns nicht nennen. Das haben
wir jetzt mehrfach mitbekommen. Das BMI hat das auf
Anfrage der Frankfurter Rundschau auch noch einmal
bestätigt. Und Innenminister de Maizière sagte in einer
Befragung genau an dieser Stelle am 27. Oktober 2010
– ich zitiere –:

Insofern finde ich drei Jahre besser als zwei, und
drei Jahre sind ein Kompromiss zwischen zwei und
vier Jahren.

Das nächste Mal können wir dann auch würfeln. Ich
finde, absurder geht es überhaupt nicht mehr.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zum Zweck des Paragrafen, Zwangsehen zu verhin-
dern – Sie vertreten das ja auch sehr deutlich, und das
wird auch von all den Organisationen unterstützt –, muss
man sagen: Sie sagen zwar, Sie wollten den Opfern hel-
fen, Sie wollten denen helfen, die in einer Zwangsehe
leben, sagen ihnen aber gleichzeitig: Ihr müsst in dieser
Ehe jetzt nicht zwei, sondern drei Jahre verharren.


(Der Abgeordnete Reinhard Grindel [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage.)






Aydan Özoðuz


(A) (C)



(D)(B)


Aydan Özoğuz
– Warten Sie noch einen Augenblick mit Ihrer Frage,
denn ich komme ganz sicher jetzt auf das, was Sie ge-
rade fragen wollen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708419000

Aber wollen Sie die Frage trotzdem zulassen?


Aydan Özoğuz (SPD):
Rede ID: ID1708419100

Nein, ich würde das gern erst ausführen. Er kann dann

ja immer noch fragen.

Es gibt die Ausnahmen, auf die Sie gerade in Ihrer
Frage sicherlich hinweisen wollten. Dazu sagen die
Frauenorganisationen und alle anderen Organisationen
ganz deutlich, dass die Frauen davon häufig nicht profi-
tieren können, weil ihnen nicht geglaubt wird, weil sie
die Nachweise, die verlangt werden, wie Fotos oder ir-
gendwelche Zeugen, nicht beibringen können. Dies wird
nicht von uns, sondern von denen, die mit diesen Frauen
sprechen, gesagt. Deswegen greifen diese Möglichkeiten
häufig gar nicht. Man muss also feststellen, dass Sie mit
dieser Erhöhung der Mindestbestandszeit der Ehe genau
denen dieses eine zusätzliche Jahr aufbürden, die sich in
einer ganz furchtbaren Lage befinden. Es bringt also ei-
gentlich überhaupt nichts.

Leider muss ich gleich schon zum Ende kommen.
Deshalb möchte ich hier gern nur noch einen letzten Satz
zu den Integrationskursen sagen. Der Begriff Integra-
tionsverweigerer, der eben auch noch einmal vom Parla-
mentarischen Staatssekretär genannt wurde, ist bei der
Wahl zum Unwort des Jahres auf dem zweiten Platz ge-
landet. Das finde ich übrigens sehr angemessen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Die Juroren sagten, das Wort unterstelle, dass Migranten
in größerem Umfang selbst ihre Integration verweiger-
ten, dass für diese Behauptung aber die notwendige Da-
tenbasis fehle; dass die Bundesregierung selbst zu wenig
für die Integration tue, werde dabei ausgeblendet. – Sehr
richtig, kann ich da nur sagen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Reinhard Grindel [CDU/ CSU]: Kein Mut für eine Zwischenfrage!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708419200

Der Kollege Serkan Tören hat jetzt das Wort für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Serkan Tören (FDP):
Rede ID: ID1708419300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung
wird unter anderem in dem Antrag der Grünen als – ich
zitiere – „ein weiterer Fall schwarz-gelber Symbolpoli-
tik“ bezeichnet. Vorsichtig gesprochen ist das angesichts
der darin enthaltenen Vorschläge kühn und selbstgefäl-
lig.
Wir machen hier unmissverständlich klar: Menschen
zu einer Heirat zu zwingen oder gegen ihren Willen ins
Ausland zu verfrachten, ist weder mit unseren Werten
noch mit unserem Recht vereinbar. Das ist schlichtweg
kriminell.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir belassen es auch nicht bei Mahnungen und Gesten.
Damit haben Sie sich während Ihrer Regierungsverant-
wortung begnügt, liebe Kolleginnen und Kollegen der
SPD und der Grünen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein Quatsch! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es ist längst strafbar!)


So etwas nennt man Symbolpolitik.


(Rüdiger Veit [SPD]: Wir haben es ins Strafgesetzbuch hineingeschrieben!)


Wir betreiben eine Politik der Tat und stärken zudem den
Opferschutz, indem wir den Betroffenen endlich ein ei-
genständiges Rückkehrrecht einräumen.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Reinhard Grindel [CDU/CSU])


Auch hier zeigt sich unser pragmatischer Ansatz;
denn aktuell scheitert eine Rückkehr der Betroffenen
nach Deutschland oft an der Anforderung der eigenstän-
digen Lebensunterhaltssicherung. Diese Hürde ist für
viele Frauen und Männer unüberwindbar. Wir haben da-
her auf diese Anforderung verzichtet. Das ist keine Sym-
bolpolitik, das ist ein echter Fortschritt für die Opfer.

Natürlich wird die Zwangsheirat durch diese Rege-
lungen nicht gänzlich verhindert werden können. Dieser
Illusion geben wir uns auch nicht hin. Wir setzen damit
aber ein Zeichen und eröffnen dem Rechtsstaat und den
Betroffenen neue Möglichkeiten, gegen diesen gewalt-
samen Akt vorzugehen.

Es gab auch Kritik – das ist hier ja schon mehrmals
angesprochen worden – an der Verlängerung der Ehebe-
standszeit von zwei auf drei Jahren. Unser Ziel ist es,
Scheinehen deutlich zu erschweren. Es ist nicht unser
Ziel, eine Not- und Gewaltsituation in einer Ehe zu ver-
längern.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum sind dann alle Frauenverbände dagegen?)


Wir wissen um die schlimmen Fälle, in denen aus
Angst vor einer Abschiebung untragbare Zustände in ei-
ner Ehe hingenommen werden. Genau dafür gibt es die
Härtefallregelung, durch die es dem Ehepartner möglich
ist, ein eigenständiges Aufenthaltsrecht vor Ablauf der
drei Jahre zu erlangen.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Eben!)


Dieser Notausgang ist richtig und notwendig.


(Beifall bei der FDP)






Serkan Tören


(A) (C)



(D)(B)

Das bedeutet aber gleichzeitig auch: Die Möglichkeit
muss effektiv und vernünftig genutzt werden.

Frau Özoğuz, es stimmt eben nicht, dass es aufgrund
der Beweisanforderungen immense Schwierigkeiten gibt,
sondern man kann durch einen substantiierten Vortrag
vor den Verwaltungsgerichten


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: So ist es!)


durchaus nachweisen, dass die Härtefallregelung greift.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Memet Kilic [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Diese Härte muss eine besondere Härte sein! Das zu beweisen ist unmöglich! Das ist nicht praxisnah!)


Das sage ich insbesondere auch mit Blick auf die Arbeit
der Ausländerbehörden und der Beratungsstellen.

Meine Damen und Herren, ich freue mich auch über
die Fortschritte beim Thema Residenzpflicht. Auch hier
hat Rot-Grün in eigener Verantwortung nie etwas schaf-
fen können.


(Rüdiger Veit [SPD]: Wegen der Länderbeteiligung!)


Die aktuelle Praxis hat sich aus liberaler Sicht nicht be-
währt. Es wurden hier unnötige Strafverfahren eingelei-
tet, viele Ausländer kriminalisiert und die Verwaltungen
unverhältnismäßig belastet. Auch aus volkswirtschaft-
lichen Gründen ist eine restriktive räumliche Beschrän-
kung unklug.

Wieso sollten Asylbewerber nicht eigenständig für ih-
ren Lebensunterhalt aufkommen? Warum sollte der
Steuerzahler hier belastet werden? Warum sollte man
den Betroffenen ein Stück Würde, Auskommen und
Ausbildung versagen? Warum sollte man ihnen diese
Wege zur gesellschaftlichen Teilhabe versperren? Ich
sehe hier keine Gründe dafür. Deswegen haben wir diese
Änderungen vorgenommen, zu der Sie sieben Jahre lang
während der Regierungsverantwortung von Rot-Grün
nicht bereit waren.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Rüdiger Veit [SPD]: Viel zu halbherzig!)


Ich hätte mir sicherlich noch mehr vorstellen können,
vielleicht auch eine gänzliche Abschaffung der Resi-
denzpflicht.


(Rüdiger Veit [SPD]: Genau!)


Dennoch gehen wir mit dem Gesetzentwurf weit über
den Koalitionsvertrag hinaus. Wir schaffen nämlich
nicht nur eine hinreichende Mobilität hinsichtlich einer
Arbeitsaufnahme, sondern wir stellen auch die Mobilität
zum Zwecke eines Schulbesuchs oder einer Ausbildung
sicher. Hier haben wir in dieser christlich-liberalen Ko-
alition eine sehr vernünftige Lösung gefunden.

Der vorliegende Gesetzentwurf steht für eine mo-
derne Integrationspolitik jenseits ideologischer Scheu-
klappen. Darauf bauen wir auf.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708419400

Monika Lazar hat das Wort für Bündnis 90/Die Grü-

nen.


Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708419500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Mein Kollege Memet Kilic hat sich ja schon ausführlich
mit der Kritik am Gesetzentwurf der Bundesregierung
auseinandergesetzt. Selbstverständlich sind wir uns in
diesem Hause einig, dass Zwangsverheiratungen be-
kämpft werden müssen, weil sie in eklatantem Wider-
spruch zu den Werten sowohl unseres Grundgesetzes als
auch der Menschenrechte stehen.

Bündnis 90/Die Grünen waren es, die 2003 als erste
Fraktion überhaupt mit einer Anhörung auf diese Proble-
matik aufmerksam gemacht haben. Rot-Grün hat dann
2005 die Zwangsverheiratung ausdrücklich als beson-
ders schweren Fall der Nötigung im Strafrecht verankert.
Man kann das nicht oft genug sagen. Von daher ist es
nicht viel, was hier an Neuerungen vorgelegt wird.

Eigenständige Aufenthaltsrechte und Rückkehrrechte
sind effektive Maßnahmen, um Migrantinnen wirksam
zu helfen, die von Zwangsverheiratungen betroffen sind.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Das hätte Rot-Grün ja auch machen können!)


Das geht auch aus den verschiedenen Stellungnahmen
der Verbände hervor. Sie teilen auch unsere Ansicht,
dass der schwarz-gelbe Gesetzentwurf inhaltlich viel zu
dünn ist.

Wir Grünen schlagen in unserem Antrag nicht weni-
ger als neun Gesetzesänderungen vor. Denn Migrantin-
nen brauchen rechtlich einwandfreie und unbürokrati-
sche Möglichkeiten, um im Fall einer Zwangsver-
heiratung aus einem Drittstaat wieder einzureisen und in
Deutschland ein sicheres Aufenthaltsrecht zu bekom-
men. Diesen zweiten Teil haben die Kolleginnen und
Kollegen von Union und FDP leider vergessen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In unserem Antrag „Opfer von Zwangsverheiratun-
gen wirksam schützen durch bundesgesetzliche Refor-
men und eine Bund-Länder-Initiative“ schlagen wir we-
sentlich mehr vor, als der Gesetzentwurf vorsieht. Wir
legen einen vollständigen Aktionsplan vor, der mit den
Betroffenenverbänden intensiv diskutiert wurde und von
ihnen ausdrücklich gewünscht wird. Unter anderem
wollen wir eine dauerhafte Bund-Länder-Arbeitsgruppe
„Zwangsverheiratungen“ initiieren. Denn Frauen, die
sich einer Zwangsverheiratung entziehen wollen, muss
schnell, kompetent und effektiv geholfen werden. Wir
brauchen endlich verbindliche Absprachen zwischen
Bund, Ländern und NGOs, klare Zuständigkeitsregelun-
gen und Hilfsangebote.

Gut gemeint ist nicht gut gemacht, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der Regierung. Ich rate Ihnen drin-
gend, Ihren ersten Entwurf zu überarbeiten. Anregungen





Monika Lazar


(A) (C)



(D)(B)

können Sie gerne unserem Antrag entnehmen. Wir sind
gespannt auf die Beratungen.

So weit erst einmal vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708419600

Ute Granold hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Ute Granold (CDU):
Rede ID: ID1708419700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich möchte aus der Sicht der Rechts- und Menschen-
rechtspolitik einiges zu dem heutigen Thema sagen. Es
geht mir um einen ganzheitlichen Ansatz, und dabei
möchte ich mich hier im Wesentlichen auf den Straftat-
bestand der Zwangsheirat und die zivilrechtlichen Fol-
gen der Aufhebung einer Ehe beschränken.

Es ist richtig, dass die Zwangsheirat heute unter
Strafe steht. Nach § 240 Abs. 4 Strafgesetzbuch ist sie
ein besonders schwerer Fall der Nötigung. Ein besonders
schwerer Fall der Nötigung liegt auch dann vor, wenn
ein Amtsträger seine Befugnisse überschreitet. Ich glaube
nicht, dass das mit der Zwangsheirat, einer schweren
Menschenrechtsverletzung, vergleichbar ist.


(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Sehr richtig! – Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Strafmaß ändert sich! – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was sollen die Vergleiche? Es geht um das Strafmaß!)


Deshalb halte ich es für ein richtiges Signal an diejeni-
gen, die an Zwangsverheiratung denken, dass dies in un-
serer Rechtsordnung und unserem Staat nicht geduldet
wird. Insofern ist es richtig, dass wir einen eigenständi-
gen Straftatbestand mit der Überschrift „Zwangsheirat“
vorsehen. Ich meine, das ist ein richtiger und guter Weg.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn das Strafmaß wenigstens erhöht würde! Das ist Kosmetik pur! – Aydan Özoğuz [SPD]: Eine Überschrift allein genügt nicht!)


Das ist aber nur ein Punkt. Denn einem Opfer von
Zwangsverheiratung ist alleine mit der Bestrafung des
Täters in der Regel nicht geholfen. Es soll eine Abschre-
ckung sein, diesen Weg zu gehen. Wenn es zu einer
Zwangsheirat kommt, ist zu hoffen, dass das Opfer zu-
mindest in geringem Maße die deutsche Sprache kennt
und integriert ist. Denn nur dann ist es in der Lage, die
Hilfsangebote, die es gibt – das Familienministerium hat
eine Onlineberatung eingerichtet; es gibt Handreichun-
gen für die Organisationen und Ämter, die damit befasst
sind, und es wurde eine neue Studie in Auftrag gegeben,
um das Phänomen näher zu beleuchten –, zu nutzen.
Ich kenne aus meiner Tätigkeit als Anwältin – ich
praktiziere seit 30 Jahren – selbst Opfer von Zwangsver-
heiratungen. Ich hatte aber jüngst auch den Fall einer
Scheinehe, auf den ich kurz eingehen will. Es ging um
eine junge Frau, die für 7 000 Euro einen Türken gehei-
ratet hat. Sie hatten nur pro forma einen gemeinsamen
Wohnsitz, den sie aber nie gemeinsam genutzt haben.
Sie haben sich erst bei der Hochzeit auf dem Standesamt
kennengelernt, und das war es schon. Ich habe dann die
Scheidung begleitet. Dass es eine Scheinehe gegen Geld
war, wurde mir erst später von der Frau gesagt. Sie sagte,
mit zwei Wohnsitzen sei es schwierig gewesen, die
Scheinehe schon über zwei Jahre aufrechtzuerhalten,
weil von anderen – zum Beispiel Nachbarn – Fragen
kommen, wo denn der Mann sei, und Ähnliches.

Ich sehe die vorgesehene Verlängerung der Mindest-
ehebestandszeit auf drei Jahre als eine richtige Lösung
an, um die Eingehung der Scheinehe gegen Geld zur Er-
langung eines Aufenthaltstitels zu erschweren. Das ist
mitten in Deutschland Tatsache; es ist ein Fall aus mei-
ner Praxis.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Diese Ehen werden dann später relativ leicht geschieden.

Nehmen wir die Zwangsheirat. Ich komme aus
Mainz. Eine Frau, die in meine Kanzlei kam, sagte, sie
habe es nach zwölf Jahren endlich geschafft, aus der
Zwangsehe herauszukommen. Zuerst war sie in ihrer
Wohnung isoliert gewesen. Der erste Schritt war, dass
ihre Kinder in die Kita oder Schule gekommen sind und
sie erstmals die Möglichkeit hatte, Kontakte nach außen
zu knüpfen und ein bisschen die deutsche Sprache zu ler-
nen. Diese Frau hat es dann – wohlgemerkt: nach zwölf
Jahren – mithilfe des Frauenhauses bzw. der damaligen
Interventionsstelle geschafft, aus dieser Ehe herauszu-
kommen und für sich eine Lösung zu finden. Es ist für
solche Frauen, die aus einem ganz anderen Kulturkreis
kommen, sehr schwierig, sich gegen die eigene Familie
und gegen die des Mannes zu stellen und ganz isoliert zu
sein.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ändert jetzt das Gesetz?)


Diese Frauen – ganz nebenbei, es sind auch Männer von
Zwangsverheiratung betroffen – brauchen jedenfalls
eine Chance. Erst nach einer langen Zeit der Prüfung
sind sie bereit, diesen steinigen Weg aus der Ehe zu ge-
hen. Dann muss eine Begleitung da sein. Dabei geht es
unter anderem um folgende Fragen – ich spreche aus der
Praxis –: Bin ich – da ich keinen Beruf ausüben kann –
in der Lage, den Unterhalt sicherzustellen? Wie sieht es
mit meinen Ansprüchen im Alter aus?

Wir wollen uns daher in den folgenden Beratungen
– auch im mitberatenden Rechtsausschuss – mit der
Frage befassen, wie die Rechtslage aussieht, wenn die
Ehe aufgelöst wird.

Wir wollen die Antragsfrist zur Aufhebung der Ehe
verlängern, damit die betroffenen Frauen nach Beendi-
gung der Zwangslage, wenn sie zum Beispiel die eheli-
che Wohnung verlassen haben, prüfen können, ob sie





Ute Granold


(A) (C)



(D)(B)

den Weg der Aufhebung der Ehe oder den der Scheidung
gehen wollen und welche Möglichkeiten bestehen, Un-
terstützung vom gewalttätigen Ehemann zu bekommen.
Unser Zivilrecht muss begleitend die Möglichkeit eröff-
nen, Unterhaltsansprüche zu realisieren, und sicherstel-
len, dass das Erbrecht des anderen ausgeschlossen ist.
Wenn es um Ehen geht, bei denen beide Partner aus dem
Ausland kommen und alleine ausländisches Recht – zum
Beispiel das türkische, das marokkanische oder das alge-
rische – Anwendung findet, muss geprüft werden, wel-
che Möglichkeiten die betroffenen Menschen haben, die
in Deutschland leben, hier ihre Rechte durchsetzen,
wenn das Heimatrecht keine rechtliche Grundlage dafür
bietet, etwa Ansprüche betreffend den Unterhalt und den
Versorgungsausgleich geltend zu machen. Wir müssen
den Menschen, denen das Leid einer Zwangsehe wider-
fährt – das sind in der Regel Frauen –, eine Absicherung
geben, wenn sie einen Weg aus der Zwangsverheiratung
finden.

Zur Härtefallregelung. Eine besondere Härte rechtfer-
tigt ein eigenständiges Aufenthaltsrecht in Deutschland
auch bei einer Aufenthaltsdauer unterhalb der Grenze
von drei Jahren.


(Aydan Özoğuz [SPD]: Wenn man es nachweisen kann!)


Ich empfehle, die Verwaltungsvorschriften zum Gesetz
zu lesen. Dort steht – das hat der Kollege Tören eben
ausgeführt –: Eine besondere Härte stellt zum Beispiel
die Zwangsehe dar. Genau so ist es. Man muss substan-
tiiert vortragen, wie die Umstände der Zwangsheirat aus-
sahen. Wir können diesen Weg – ich hatte einen solchen
Fall schon – ohne Weiteres gehen. Das eine oder andere
können wir während der Beratungen noch vertiefen. Wir
sollten ohne jede Polemik versuchen, den Menschen, die
sich in einer Zwangsehe befinden – das ist eine schwer-
wiegende Menschenrechtsverletzung; das ist nichts an-
deres als Sklaverei –, zu helfen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708419800

Frau Kollegin.


Ute Granold (CDU):
Rede ID: ID1708419900

Ich bin gleich fertig. – Wir sollten nicht polemisch

werden und nicht Schritte zurück gehen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708420000

Stephan Mayer hat das Wort für die CDU/CSU-Frak-

tion.


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1708420100

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-

ginnen! Sehr geehrte Kollegen! Die christlich-liberale
Koalition legt Ihnen heute einen guten, einen gelunge-
nen Gesetzentwurf vor. Er stellt eine ausgewogene Mi-
schung entsprechend dem Grundsatz „Fördern und for-
dern“ im Bereich der Integration dar. Er umfasst
wichtige Änderungen des Strafgesetzbuches, des Auf-
enthaltsgesetzes sowie des Asylverfahrensgesetzes. Ich
möchte gleich zu Beginn auf die aktuelle wissenschaftli-
che Untersuchung des Bundesfamilienministeriums zum
Thema Zwangsverheiratung in Deutschland hinweisen.
Diese Studie belegt eindrucksvoll, dass und in welcher
Form Zwangsverheiratung in Deutschland vorkommt.

Ich muss ehrlich gestehen, meine werten Kolleginnen
und Kollegen von den Grünen, da Sie die Dunkelziffer
in Zweifel ziehen und behaupten, man könne nicht
genau sagen, wie hoch die Zahl der Zwangsehen tatsäch-
lich sei: Ich halte es für reichlich zynisch und sarkas-
tisch, dass Sie die Lösung dieses Problems so unter-
minieren.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Überhaupt nicht!)


Ausgerechnet Sie, die Sie sich immer den Mantel der
Humanität, der Empathie und des Gutmenschentums
umlegen, gehen mit diesem Thema nicht mit der gebote-
nen Seriosität und Fairness um. Dass Zwangsverheira-
tung in Deutschland vorkommt und ein Problem dar-
stellt, ist doch unbestreitbar.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das bestreiten wir nicht! Unsinn!)


Es gibt zahlreiche Fälle, die beweisen, welch schlimmes
und katastrophales Unrecht insbesondere Frauen in
Deutschland widerfährt und wie menschenunwürdig die
Umstände sind.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da sind wir uns doch einig!)


Nicht nur in Berlin, sondern auch in der bayerischen
Idylle haben Zwangsverheiratungen teilweise zu Ehren-
morden und anderen Verbrechen geführt. Deswegen
möchte ich Sie bitten, hier mit diesen gravierenden Pro-
blemen nicht so sarkastisch und lapidar umzugehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Man muss diesem Thema mit Sicherheit in zweierlei
Hinsicht begegnen. Wenn wir präventiv vorgehen wol-
len, ist es notwendig, dass die Integration gelingt. Denn
eines ist klar: Das Phänomen der Zwangsverheiratung
kommt vor allem in patriarchalischen Familienstruktu-
ren vor.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die gibt es auch in Bayern!)


Deswegen ist es das beste Mittel zur Prävention, um
Zwangsheiraten zu verhindern, Frauenrechte zu stärken
und den Frauen ein entsprechendes Selbstbewusstsein zu
geben. Unabdingbare Voraussetzung dafür ist es, dass
Frauen über ordentliche und ausreichende Deutsch-
kenntnisse verfügen.


(Aydan Özoğuz [SPD]: Es gibt auch selbstbewusste Frauen, die kein Deutsch können!)


Nur eine Frau, die sich in Deutschland selbstbewusst be-
haupten kann, weil sie die deutsche Sprache spricht, ist
gegen Zwangsverheiratung gefeit.





Stephan Mayer (Altötting)



(A) (C)



(D)(B)

Es ist schön, zu sehen, dass wir im Rahmen des Mo-
dellprojekts zur anonymen Onlineberatung in den ver-
gangenen drei Jahren – von Juni 2007 bis Juni 2010 –
sehr gute Erfahrungen gemacht haben. Diesen Weg soll-
ten wir weiter beschreiten.

Ein weiterer Fortschritt ist, dass ein eigenständiges
Rückkehrrecht bis zu einer maximalen Dauer von zehn
Jahren geschaffen wurde. Ich möchte betonen, dass wir
als christlich-liberale Koalition unserer christlich-sozia-
len Verantwortung gerecht werden, indem wir nicht auf
den Geldbeutel schauen und nicht darauf blicken, ob die
betreffende Person in der Lage ist, selbst für ihren Le-
bensunterhalt zu sorgen. Dass wir das Angebot unter-
breiten, nach Deutschland zurückzukommen und ein
eigenständiges Aufenthaltsrecht in Deutschland zu er-
werben, auch wenn man sieben oder acht Jahre nicht hier
gelebt hat, ist meines Erachtens ein großer Schritt in die
Zukunft.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ein weiterer Fortschritt ist, dass wir den eigenen
Straftatbestand der Zwangsheirat schaffen, und zwar den
§ 237 StGB. Ich muss auch sagen: Mich befremdet Ihre
Reaktion nach dem Motto: Warum schafft ihr einen eige-
nen Straftatbestand? Zwangsverheiratung ist doch nach
§ 240 Abs. 4, dem Nötigungsparagrafen, bereits unter
Strafe gestellt. – Ich möchte diesen Fall einmal mit den
Straftatbeständen Totschlag und Mord vergleichen.
Mord könnte man theoretisch auch als einen besonders
schweren Fall des Totschlags deklarieren und in diesen
Straftatbestand einbeziehen. Ich glaube, wir sind uns
hier im Raum alle einig, dass es gut ist, dass dem beson-
deren Unwert, der in einem Mord zum Ausdruck kommt,
durch einen eigenen Straftatbestand Rechnung getragen
wird.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Vergleich hinkt!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708420200

Herr Kollege, die Kollegin Monika Lazar und der

Kollege Jerzy Montag möchten eine Zwischenfrage stel-
len.


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1708420300

Sehr gerne. Selbstverständlich. Bitte schön.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708420400

Wir ziehen das zusammen, und dann antworten Sie

auf beide Fragen. Frau Lazar, bitte schön.


Monika Lazar (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708420500

Sehr geehrter Herr Kollege, würden Sie bitte die Stel-

lungnahme vom Caritasverband zur Kenntnis nehmen,
wenn Sie schon die Stellungnahmen von Terre des Fem-
mes oder vom Verein Frauenhauskoordinierung nicht so
christlich-sozial bzw. christlich-demokratisch nah emp-
finden?

Die Caritas schreibt in ihrer Bewertung des eigenstän-
digen Straftatbestandes: Dieser hat vor allem symboli-
sche Funktion. Er führt nicht zu einer unmittelbaren
Besserstellung der Opfer. Die Erfahrung unserer Mitar-
beiterinnen aus der Beratungstätigkeit zeigt, dass die
Opfer ihre Familien zumeist nicht anzeigen. Der Caritas-
verband hält insbesondere praktische Maßnahmen für
notwendig: eine möglichst flächendeckende und niedrig-
schwellige Erreichbarkeit professioneller Beratung und
den Ausbau von Notfallunterbringungsmöglichkeiten
etc.

Ich bitte Sie, dies zur Kenntnis zu nehmen und uns
nicht immer irgendetwas zu unterstellen.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das ist doch kein Widerspruch!)


– Sie tun so, als ob das selbstverständlich wäre.


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Ich sage doch nicht, dass es selbstverständlich ist!)


Ich möchte, dass der Kollege das zur Kenntnis nimmt,
weil der eigenständige Straftatbestand einfach nichts än-
dert. Bitte nehmen Sie die Stellungnahme der Caritas zur
Kenntnis.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708420600

Herr Kollege Montag.


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708420700

Herr Kollege Mayer, ich finde, Sie haben mit Ihrem

mit Emphase vorgetragenen Beispiel von Mord und Tot-
schlag einen richtigen Tiefpunkt juristischer Dogmatik
erreicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich würde Sie gern fragen, ob es in Ihren Augen einen
Unterschied darstellt, ob man darüber debattiert, zwei
seit vielen Jahrzehnten getrennt voneinander vorhandene
Straftatbestände wie Totschlag und Mord mit verschie-
denen Strafrahmen in einem Paragrafen zusammenzufü-
gen – niemandem in diesem Haus außer Ihnen ist dies
bisher eingefallen –, oder ob man einen Straftatbestand
auseinanderzieht und den Strafrahmen dabei völlig
gleich lässt?

Nachdem der Kollege von der FDP mit dem etwas ab-
seitigen Beispiel des Zuparkens im Straßenverkehr argu-
mentiert hat und nachdem die Kollegin Granold völlig
zu Recht einen anderen besonders schweren Fall der Nö-
tigung gemäß § 240 – das Verhalten eines Amtsträgers –
als Vergleich herangezogen hat, möchte ich Sie gerne
fragen, warum eigentlich die Tatsache, dass die Nöti-
gung zu einem Schwangerschaftsabbruch ebenfalls in
§ 240 Abs. 4 und somit nicht als selbstständiger Straftat-
bestand geregelt ist, Ihre Fraktion nicht längst dazu be-
wogen hat, zu fordern, die Nötigung zu einem Schwan-
gerschaftsabbruch zu einem neuen Straftatbestand zu
machen. Das entspräche der Logik, mit der Sie uns hier
anbieten, die Zwangsverheiratung aus § 240 herauszuho-
len, um sie dann zu einem eigenständigen Straftatbe-
stand zu erklären.






(A) (C)



(D)(B)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708420800

Jetzt muss ich Frau Lazar bitten, sich wieder zu erhe-

ben, damit sie eine Antwort bekommen kann.


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1708420900

Von mir aus könnten Sie gerne sitzen bleiben.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708421000

Wir legen schließlich Wert auf die Würde, gerade hier

vorne.


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1708421100

Ich möchte Sie nicht nötigen, stehen zu müssen. Vie-

len herzlichen Dank für die beiden Fragen.

Liebe Frau Kollegin Lazar, ich nehme natürlich gerne
die Stellungnahme der Caritas sowie auch die Stellung-
nahmen anderer Organisationen zur Kenntnis. Ich
möchte nur ganz offen sagen, dass ich am Ende in der
Abwägung zu einem anderen Ergebnis komme. Ich bin
der Auffassung, dass die Schaffung eines eigenen
Straftatbestandes Zwangsheirat – § 237 – keine reine
Symbolpolitik ist.


(Aydan Özoğuz [SPD]: Natürlich!)


Meines Erachtens wird mit der Schaffung eines eigen-
ständigen Straftatbestandes auch der besondere Unwert-
gehalt dieser Tat zum Ausdruck gebracht.

Ich habe deshalb den Vergleich zu Mord und Tot-
schlag gezogen, weil ich klarmachen möchte, dass das
Ergebnis leider Gottes das Gleiche ist: Es kommt ein
Mensch ums Leben. Wir sind uns aber doch alle, inklu-
sive meiner Person, vollkommen einig, dass es widersin-
nig wäre, den Straftatbestand des Mordes unter den
Straftatbestand des Totschlags zu subsumieren.

Ebenso bin ich der Meinung, dass dem Gesetzgeber
zugestanden werden muss, zu sagen: Diese schreckli-
chen Straftaten, dieses schreckliche Unrecht, das insbe-
sondere Frauen im Zusammenhang mit einer Zwangs-
verheiratung angetan wird, verdient die Schaffung eines
eigenen Straftatbestandes. Meine werten Kolleginnen
und Kollegen – an dieser Stelle darf ich auch den Kolle-
gen Montag ansprechen –, das ist doch überhaupt kein
Grund, einander hier so echauffiert zu begegnen. Wir
schaffen einen eigenen Straftatbestand. Wir gliedern ei-
nen Absatz aus dem Nötigungsparagrafen aus und schaf-
fen einen eigenen neuen Straftatbestand. Das ist mehr als
Symbolpolitik. Damit wird der besondere Unrechts-
charakter der Taten zum Ausdruck gebracht und sonst
nichts.

Zum Abschluss darf ich noch eines ansprechen, was
mir aufgefallen ist. Der Antrag der Linksfraktion impli-
ziert teilweise eine Diktion, die für mich mehr als be-
fremdlich ist. Ich halte es sogar für unerträglich und für
widerwärtig, meine Kolleginnen und Kollegen von der
Linksfraktion, wenn Sie in Ihrem Antrag Deutschland
mit dem Apartheidsystem in Südafrika vergleichen. Um
es in aller Deutlichkeit zu sagen: Das ist wirklich boden-
los.
Genauso unerträglich finde ich es, dass Sie der Polizei
in Deutschland pauschal rassistische Vorbehalte gegen-
über Ausländern unterstellen, insbesondere mit Blick auf
die Kontrolle ihrer Legitimationspapiere. Dies kommt
ausgerechnet von einer Fraktion, die, wie wir gerade in
diesen Tagen wieder haben erleben können, intensive
Verknüpfungen zu einem früheren Unrechtsregime in
Teilen Deutschlands hat, in der tatsächlich noch Mitar-
beiter beschäftigt sind, die ehemalige Stasi-Informanten
waren.

Hierzu empfehle ich die Dokumentation über den
Kollegen Gysi mit dem Titel „Die Akte Gysi“, die am
kommenden Donnerstag in der ARD ausgestrahlt wird.
Dass gerade aus den Reihen dieser Fraktion Deutschland
der Vorwurf gemacht wird, wir würden ein System un-
terhalten, das vergleichbar mit dem Apartheidsystem in
Südafrika sei, das schrecklich war, das menschenunwür-
dig war, das halte ich für unerträglich. Ich kann Sie hier
nur auffordern, sich insoweit von der Diktion in Ihrem
Antrag zu verabschieden.

Ansonsten handelt es sich um einen guten Gesetzent-
wurf, der heute von der Bundesregierung vorgelegt wird.
Seine Verabschiedung wird mit Sicherheit dazu führen,
dass wir einen weiteren Schritt in Richtung Willkom-
menskultur in Deutschland gehen.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708421200

Es folgt jetzt eine Kurzintervention des Kollegen

Josef Winkler.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege Mayer,
Sie haben uns als Fraktion vorgeworfen, wir verhielten
uns zynisch und sarkastisch, wenn wir uns mit der Frage
beschäftigen, was es zu bedeuten hat, dass Staatssekretär
Dr. Schröder sagt, bei Zwangsverheiratungen gebe es
eine besonders hohe Dunkelziffer. Ich finde, man darf
doch wohl einmal nachfragen, was es damit auf sich hat,
wenn die Bundesregierung sagt, hier sei eine Änderung
im Strafgesetzbuch notwendig, weil eine besonders hohe
Dunkelziffer vorhanden ist – anscheinend im Unter-
schied zu normalen Dunkelziffern –, und ob es für diese
Aussage eine Datengrundlage gibt. Da diese Grundlage
offensichtlich nicht da war, ist die Begründung für die
Änderung des Strafgesetzbuches denkbar dünn.

Ich will Ihnen einmal sagen, was ich zynisch finde
– das ist normalerweise nicht meine Wortwahl; aber Sie
haben sie in die heutige Debatte eingeführt –: dass Sie
sagen, Sie veränderten qualitativ etwas für die von
Zwangsheirat betroffenen Frauen und Männer; meistens
sind es ja Frauen. Denn es ändert sich ja nichts. Durch
die Einfügung eines eigenen Paragrafen in das Strafge-
setzbuch wird nicht einmal die Strafnorm erhöht. Wenn
es Ihnen um die Androhung einer höheren Strafe ginge,
dann hätten Sie einen Straftatbestand wählen können,
der mit mehr Jahren Haft als Höchststrafe versehen wird,





Josef Philip Winkler


(A) (C)



(D)(B)

als es bisher der Fall war. Haben Sie das gemacht? Nein!
Es ist zynisch und sarkastisch, so zu tun, als würde die
Aufnahme eines Paragrafen in das Inhaltsverzeichnis des
Strafgesetzbuches für die Frauen, die von Zwangsverhei-
ratung betroffen sind, einen qualitativen Vorteil bedeu-
ten.

Was einen Vorteil bedeuten würde – eine Antwort
bleiben Sie schuldig –, sind nämlich massive aufent-
haltsrechtliche Verbesserungen. All die Forderungen der
Frauenverbände berücksichtigen Sie nicht. Sie sagen:
Wir tun etwas für die Frauen. Wo ist denn die Qualitäts-
offensive der Bundesregierung für die Frauenhäuser in
dieser Republik?


(Sevim Dağdelen [DIE LINKE]: Wo ist die denn?)


Wo stehen denn die Millionen im Haushalt, um das Ver-
brechen der Zwangsheirat endlich besser zu bekämpfen?
Wo sind die Millionen für bessere niedrigschwellige An-
gebote? Wo werden die damit einhergehenden Forderun-
gen erfüllt? Nichts von alledem machen Sie. Sie betrei-
ben reine Symbolpolitik. Das ist zynisch und sarkastisch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708421300

Herr Kollege Mayer, zur Erwiderung. Bitte.


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1708421400

Sehr geehrter Herr Kollege Winkler, ich habe Ihnen

den Vorwurf des Zynismus und des Sarkasmus gemacht
– ich rücke davon auch nicht ab –, weil ich es für voll-
kommen neben der Sache liegend halte, darauf zu insis-
tieren, dass jetzt endlich gesagt wird, wie hoch die Dun-
kelziffer an Zwangsverheiratungen in Deutschland ist.
Wie wollen Sie denn reagieren? Es gibt offenkundig
– die Zahlen liegen auf dem Tisch – 1 000 Tatverdäch-
tige, gegen die schon offiziell ermittelt wurde. Jetzt sagt
Herr Staatssekretär Schröder – das ist auch meine Mei-
nung –, man könne annehmen, die Dunkelziffer sei weit-
aus höher.


(Aydan Özoğuz [SPD]: Nein!)


Sehen Sie gesetzgeberischen Handlungsbedarf dann
nicht mehr gegeben, wenn die Dunkelziffer 1 000 Fälle
unterschreitet oder 2 000 Fälle unterschreitet? Es ist
doch zynisch – ich bleibe ganz bewusst bei dieser Wort-
wahl –, sich jetzt an der Frage festzuklammern, wie hoch
die Dunkelziffer tatsächlich ist.

Dass die Problematik der Zwangsverheiratung in
Deutschland evident und offenkundig ist, ist unbestreit-
bar; die Fälle liegen doch auf dem Tisch. Ich würde Ih-
ren Vorwurf uns gegenüber zwar nicht verstehen, aber
vielleicht erklären können, wenn die Schaffung eines ei-
genen Straftatbestandes – § 237 StGB – die einzige Ant-
wort wäre, die wir auf die mit dem Problem der Zwangs-
verheiratung verbundenen Fragen gäben. Ich habe auch
in meinen Ausführungen deutlich gemacht: Man muss
natürlich im Rahmen eines Maßnahmenpaketes gegen
die Zwangsverheiratung vorgehen, sowohl präventiv,
durch eine Stärkung der Frauenrechte, durch verbesserte
Integrationsangebote, vor allem durch ein verstärktes
Angebot an Deutschkursen, die man den jungen Frauen
angedeihen lässt, als auch repressiv, zum Beispiel im
Wege des Strafrechts, durch die Schaffung eines eigenen
Straftatbestandes, aber auch – ich möchte noch einmal
Ihrem Einwand entgegnen – durch die Schaffung eines
selbstständigen Rückkehrrechts mit einer Geltungsdauer
von bis zu zehn Jahren für Frauen, die zwangsverheiratet
oder verschleppt wurden.

Ich glaube, wenn man sich das Maßnahmenpaket der
Bundesregierung bzw. der christlich-liberalen Koalition
ansieht, stellt man fest, dass das wirklich Hand und Fuß
hat. Das kann sich sehen lassen. Dass man daneben na-
türlich auch noch mehr für Frauenhäuser tun kann, ist
vollkommen richtig. Aber, lieber Herr Kollege Winkler,
dafür ist nicht der Bund zuständig, dafür sind die Länder
zuständig. Jeder muss vor seiner Haustür kehren. Ich
glaube, der Bund hat seine Hausaufgaben mit dem Ge-
setzentwurf, der heute in der ersten Lesung beraten wird,
ordentlich gemacht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708421500

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksache 17/4401, 17/4197, 17/2491, 17/3065
und 17/2325 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan-
den? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Burkhard Lischka, Lars Klingbeil, Christine
Lambrecht, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD

Zugangserschwerungsgesetz aufheben – Ver-
fassungswidrigen Zustand beenden

– Drucksache 17/4427 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Kultur und Medien

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Burkhard Lischka von der SPD das
Wort.


(Beifall bei der SPD)



Burkhard Lischka (SPD):
Rede ID: ID1708421600

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt

ganz sicher kaum Straftaten, die abscheulicher sind als





Burkhard Lischka


(A) (C)



(D)(B)

der sexuelle Missbrauch von Kindern. Wir müssen alles,
aber auch wirklich alles tun, um solche Straftaten bzw.
die Täter zu verfolgen, und wir müssen alles tun, damit
solche Bilder, und zwar für immer, aus dem Netz ver-
bannt werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Mit Scheinlösungen aber sollten wir uns nicht zufrie-
den geben. Deshalb sage ich deutlich: Internetsperren
sind hier nicht der richtige Weg. Sie verbannen nicht ein
einziges Bild aus dem Netz, sie verstecken es bestenfalls
nur. Darüber hinaus sind sie wenig effektiv, ungenau und
leicht zu umgehen. Sie schaffen eine Infrastruktur, die
grundsätzliche Bedenken hervorruft und verfassungs-
rechtlich höchst problematisch ist. Das ist eine Erkennt-
nis, die sich zunehmend durchgesetzt hat und uns in vie-
len Anhörungen in letzter Zeit von den Experten immer
und immer wieder bestätigt worden ist.

Wir brauchen eine komplexe Strategie gegen Verbre-
chen an Kindern. Wir brauchen keine Stoppschilder, die
Aktion suggerieren, das Leid aber nur ein bisschen bes-
ser verstecken. Da, wo vor allem kinderpornografische
Bilder gehandelt werden – zum Beispiel an Tauschbör-
sen –, bringen Internetsperren überhaupt nichts. Was wir
brauchen, ist deshalb ein effektiver Einsatz der Strafver-
folgungsbehörden und ein effektives Löschen der Bilder,
die Kinder zum zweiten Mal zum Opfer machen.


(Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der LINKEN)


Eines geht aber nicht, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen: Ein von diesem Parlament in einem geordneten par-
lamentarischen Verfahren verabschiedetes Gesetz, das
Zugangserschwerungsgesetz, kann und darf doch nicht
durch die Verwaltung eines Ministeriums einfach par
ordre de mufti ausgesetzt werden.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind doch keine Bananenrepublik!)


Das Parlament selbst, wir müssen doch das Gesetz auf-
heben. Alles andere ist ein glatter Verfassungsbruch.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es gibt Jahrestage, die wirklich kein Grund zum Fei-
ern sind, sie sind vielmehr ein Grund, verschämt zum
Boden zu schauen. Einen solchen Jahrestag bescheren
uns jetzt Bundesregierung und Regierungsfraktionen,
nämlich am 17. Februar. Dann ist es ganz genau ein Jahr
her, dass der Bundesinnenminister das Bundeskriminal-
amt angewiesen hat, ein von diesem Parlament verab-
schiedetes Gesetz nicht anzuwenden. Das ist ein Unding,
ein Verfassungsbruch. Es dreht jedem Parlamentarier
– einschließlich des Bundestagspräsidenten, der sich
hierzu deutlich geäußert hat – den Magen um.


(Beifall bei der SPD)


Da wird ein Gesetz nicht angewendet, nur weil
Schwarz und Gelb wie so oft nicht auf einen gemeinsa-
men Nenner kommen. Das wird dann eben mal auf Kos-
ten der Verfassung ausgesessen. Das ist unwürdig.
Meine Damen und Herren von den Regierungsfraktio-
nen, beenden Sie diesen Zustand, und zwar schnellst-
möglich. Machen Sie Nägel mit Köpfen. Heben Sie das
Zugangserschwerungsgesetz auf und lassen Sie uns dann
gemeinsam Kinderpornografie im Internet bekämpfen.

Es ist doch weiß Gott alles andere als stringent, auf
der einen Seite am Zugangserschwerungsgesetz festzu-
halten, auf der anderen Seite das Gesetz im Erlasswege
auszusetzen, um sich dann auf europäischer Ebene
– vollkommen zu Recht – wiederum gegen Internetsper-
ren einzusetzen. Es würde doch die deutsche Verhand-
lungsposition in Europa, nämlich „Löschen statt sper-
ren“, ganz maßgeblich unterstützen, wenn Sie dieses
Hickhack endlich beenden würden. Handeln Sie endlich
und versuchen Sie nicht, das Thema weiter auszusitzen,
meine Damen und Herren!


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Schaffen Sie Wege, dass das Löschen von Kinderpor-
nografie schneller und effektiver durchgesetzt werden
kann: durch engmaschigere Kontrollen, durch internatio-
nale Vereinbarungen, durch eine gute Zusammenarbeit
zwischen den Beschwerdestellen der Polizei und den
Strafverfolgungsbehörden. Mir will jedenfalls nicht in
den Kopf, warum Banken anscheinend erreichen kön-
nen, dass Betrugsseiten innerhalb kürzester Zeit vom
Netz genommen werden, uns aber das Gleiche bei sol-
chem Schmutz, bei Bildern gepeinigter Kinder, angeb-
lich nicht gelingen kann.


(Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Da müssen Sie die Unternehmen fragen!)


Dabei wissen doch alle: Die Server, auf denen solche
Bilder sind, befinden sich nicht in erster Linie in irgend-
welchen Bananenrepubliken, sondern in den USA und in
Westeuropa. Da muss ein schnelles Löschen möglich
sein.


(Beifall bei der SPD)


Es ist auch nicht nachvollziehbar, dass die Zahlen, mit
denen Bundeskriminalamt, Verbände, einschlägige Be-
schwerdestellen operieren, nach wie vor so extrem un-
terschiedlich sind und dass noch immer eine Vereinba-
rung fehlt, wer wem kinderpornografische Seiten meldet
und wie schnell und stringent auf eine Löschung ge-
drängt wird. Wir brauchen endlich einheitliche Richtli-
nien. Wir brauchen eine Harmonisierung. Die Bemühun-
gen, dies alles zu erreichen, dauern schon viel zu lange,
und sie haben noch nicht zu irgendeinem Ergebnis ge-
führt.

Deshalb, meine Damen und Herren von den Regie-
rungsfraktionen, Herr Ahrendt, Frau Bundesjustizminis-
terin: Beim Kampf gegen Kinderpornografie haben Sie
uns wirklich an Ihrer Seite, bei dem Possenspiel, das Sie
im Augenblick aufführen, ganz sicher nicht.

Recht herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708421700

Das Wort hat der Kollege Ansgar Heveling von der

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ansgar Heveling (CDU):
Rede ID: ID1708421800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Bis vor etwa fünf Jahren habe ich noch gedacht, wir
bekommen das Internet in den Griff. Wir müssen
nur einen großen Verfolgungsdruck aufbauen, und
dann sind wir raus. Aber heute weiß ich, das wer-
den wir nicht hinbekommen. Den Kampf haben wir
schon verloren.

Das, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, ist die
resignative Einschätzung eines Oberstaatsanwalts, der
sich viele Jahre intensiv mit der Bekämpfung von Kin-
derpornografie in Kommunikationsnetzen befasst hat.
Sie ist nachzulesen in einem sehr lesenswerten Artikel,
der im vergangenen Jahr in der Zeitschrift Emma er-
schienen ist.

Der Oberstaatsanwalt hat den Kampf tatsächlich auf-
gegeben. Er ist heute für allgemeine Kriminalität zustän-
dig.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Sie geben nicht auf!)


Und wir? Haben wir den Kampf auch schon verloren
oder gar aufgegeben?


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht in Korschenbroich!)


Ich hoffe, nein.

Lassen Sie mich dennoch mit etwas Unerhörtem be-
ginnen, dem Eingeständnis von Hilflosigkeit. Ich weiß,
das gehört sich in der Politik nicht. Schwäche und deren
Eingeständnis haben hier normalerweise nicht viel zu su-
chen. Ich gestehe das aber trotzdem an der Stelle ein. Ich
fühle mich bei der Frage nach der richtigen Strategie für
die Bekämpfung von Kinderpornografie in Kommunika-
tionsnetzen oftmals hilf- und machtlos. Ich fühle mich
auch bei der heutigen Debatte nicht wohl. Vielleicht geht
es Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von hier bis da
in diesem Hause, genauso wie mir, vor allem angesichts
der doch manchmal bestehenden Aussichtslosigkeit unse-
res Tuns. Gleichgültig, welche Strategie wir verfolgen –
machen wir uns bewusst: Während wir hier debattieren,
machen andere mit ihrem ekelhaften und schändlichem
Tun annähernd ungehindert weiter, werden Kinder miss-
braucht, wird die Darstellung des Missbrauchs ins Inter-
net gestellt oder werden solche Darstellungen ausge-
tauscht. Während wir darüber debattieren, ob die
Nichtanwendung einer gesetzlichen Alternative verfas-
sungswidrig sei oder nicht, werden alle diese Straftaten
weiterhin begangen.

Ich glaube, wir sollten darüber reden, wie wir Kin-
derpornografie in Kommunikationsnetzen gemeinsam
entschieden bekämpfen können. Natürlich könnten die
Oppositionsparteien es mit der heutigen Debatte vor al-
lem auf eines anlegen: zu zeigen, dass die Regierungs-
fraktionen unterschiedliche Vorstellungen haben und die
Sache noch nicht abschließend geklärt ist. Ja, Sie haben
recht. So ist das. Wir haben da divergierende Vorstellun-
gen, die schwer überein zu bringen sind. Und? Bringt es
uns in der Sache weiter, wenn nun der Finger in diese
vermeintliche Wunde gelegt wird? Ich glaube, nein. Das
gilt zugegebenermaßen genauso für den Hinweis darauf,
dass wir in der Koalition daran arbeiten, dieses Problem
zu lösen.

Natürlich könnte ich auch parieren, indem ich die
Schwächen der SPD bei diesem Thema deutlich mache,
die sich auch bei diesem Antrag naturgemäß zeigen.
Denn das Gesetz, dessen Aufhebung Sie jetzt begehren,
ist von Ihnen selbst mit eingebracht und beschlossen
worden. Sie sind damals für das eingetreten, wogegen
Sie nun sind.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Wir sehen ein, dass es falsch war!)


Ich kann dazu aus einem Beitrag der SPD-Fraktion in
einer Debatte von 2009 zitieren.

Die Bekämpfung der Kinderpornografie durch Zu-
gangssperren im Internet braucht eine klare gesetz-
liche Grundlage. Ich bin froh, dass sich die SPD mit
ihrer Forderung durchgesetzt hat. Nur eine gesetzli-
che Regelung schafft Rechtssicherheit und genügt
verfassungsrechtlichen Anforderungen.

In einer anderen Debatte über das Zugangserschwe-
rungsgesetz sagte der Kollege Dörmann:

Die Politik ist in der Pflicht, beiden Themen ge-
recht zu werden: dem Kampf gegen die Verbreitung
kinderpornografischer Inhalte im Internet und dem
Einsatz für ein freies Internet. … Ich finde, mit die-
sem Gesetzentwurf ist uns das gelungen.

Weil sich die damalige CDU/FDP-Regierung in
Nordrhein-Westfalen nach Auffassung der SPD nicht
ausreichend für Sperren ausgesprochen hat, hatte die
SPD-Fraktion im Landtag von Nordrhein-Westfalen un-
ter Führung von Frau Kraft, heute Ministerpräsidentin,
seinerzeit sogar beantragt – das können Sie in der Land-
tagsdrucksache 14/7830 nachlesen –, die Landesregie-
rung von CDU und FDP aufzufordern,

die Initiative des Bundeskriminalamtes zu unter-
stützen, eine gesetzliche Verpflichtung für Provider
zu schaffen, Internet-Webseiten mit kinderporno-
grafischen Inhalten zu sperren.

Nur zu sperren: Von löschen findet sich in diesem An-
trag kein Wort.


(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Aha! Das ist ja interessant!)


Selbstverständlich ist es jedem zugestanden, nach ei-
niger Zeit seine Meinung zu ändern. Mit dem heutigen
Antrag suggerieren Sie, dass dies auf der Grundlage
neuer Erkenntnisse geschehen sei; denn Sie behaupten,
zwischenzeitlich habe sich die Erkenntnis durchgesetzt,
dass Internetsperren wenig effektiv, ungenau und tech-
nisch ohne größeren Aufwand zu umgehen seien. Lassen
Sie uns ehrlich sein. Das „zwischenzeitlich“ ist doch





Ansgar Heveling


(A) (C)



(D)(B)

nichts anderes als Autosuggestion. Tatsache ist doch,
dass es keine wirklich grundlegend neuen Erkenntnisse
gibt. Schon im Jahr 2009, während der Diskussion um
den Erlass des Gesetzes zur Bekämpfung von Kin-
derpornografie in Kommunikationsnetzen, wurden be-
reits genau diese Punkte in den Anhörungen ins Feld ge-
führt.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Und jetzt? Steht es unentschieden, weil Sie Ihre Mei-
nung geändert haben und wir unterschiedlicher Auffas-
sung sind? Letztlich kann man sich nicht des Eindrucks
erwehren, als würden wir uns alle seit 2009 wunderbar
im Kreis drehen. Ich nehme mich und uns dabei nicht
aus. Nur: Diejenigen, denen wir ans Fell wollen, können
sich derweil die Hände reiben.

Nutzen wir deshalb die heutige Debatte um das Ge-
setz zur Bekämpfung von Kinderpornografie doch auch
für ein paar grundsätzliche Überlegungen. Denn im Stel-
lungskampf um politische Symbolbegriffe und ange-
sichts der Neigung, gegenseitig mit dem Finger aufei-
nander zu zeigen, mag nach zwei Jahren hitziger Debatte
die Notwendigkeit dafür ein wenig aus dem Blick gera-
ten zu sein.

Erstens. Wir alle wollen Instrumente, mit denen ef-
fektiv gegen Kinderpornografie in Kommunikationsnet-
zen vorgegangen werden kann. Da sind wir uns alle ei-
nig. Das zieht sich seit der ersten Lesung des
Gesetzentwurfs durch die gesamte Diskussion.

Zweitens. Stichwort: Zusammenarbeit und Selbstre-
gulierung. Hierauf zielt eine Forderung des SPD-An-
trags ab. Fraglos ist das erst einmal hilfreich, und jede
solcher Maßnahmen ist zu begrüßen. Aber es bleibt die
Frage: Ist das ausreichend?

Ich zitiere an dieser Stelle beispielhaft den Kollegen
Wieland bei der zweiten Lesung des Gesetzentwurfs im
Juni 2009:

Das Internet ist kein rechtsfreier Raum, es darf aber
auch nicht zum bürgerrechtsfreien Raum verkom-
men.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist gut?)


– Herr Kollege Wieland, völlig d’accord. Ich war damals
noch nicht dabei, deswegen geht mir das jetzt auch leicht
über die Lippen. Aber ich bin völlig d’accord.

Aber das bedeutet doch auch genau das: Freiwillige
Vereinbarungen reichen dann ja nicht aus. Wir brauchen
eine gesetzliche Regelung mit klar definierten Eingriffs-
befugnissen, rechtsstaatlichen Kontrollmechanismen
und Rechtsschutzmöglichkeiten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Mit einem bloßen Aufhebungsgesetz wäre also an dieser
Stelle rein gar nichts gewonnen.

Drittens. Stichpunkte wie „Löschen statt Sperren“,
„Löschen vor Sperren“ und „Löschen und Sperren“ und,
und, und. Wir können uns die Argumente zu der Wirk-
samkeit jetzt gegenseitig um die Ohren hauen. Ich
glaube, wir haben da alle kein Erkenntnisproblem. Es
mag auf den ersten Blick auch hilflos erscheinen, nach
wie vor dafür einzutreten, sich die Möglichkeit des Sper-
rens als Ultima Ratio offenzuhalten. Das kann aber rasch
abgelöst werden, dann nämlich, wenn wirklich wirksame
Alternativstrategien erkennbar werden. Das ist – aus
meiner Sicht jedenfalls – valide noch nicht der Fall.

Heinrich Wefing hat dazu in einem ZEIT-Artikel im
Jahr 2009 schon bei der damaligen Diskussion beden-
kenswert formuliert:

Nun könnte man die lärmende Ablehnung jeder
staatlichen Regulierung und Rechtsdurchsetzung
vielleicht sogar als romantische Utopie belächeln,
wenn die Ideologen der Freiheit gelegentlich ein-
mal selbst einen Gedanken darauf verwenden wür-
den, wie sich der Missbrauch des Mediums eindäm-
men ließe.

Dem ist nicht mehr viel hinzuzufügen. Gottlob besteht
weder die analoge noch die digitale Welt nur aus Ideolo-
gen. Von daher ist nicht von der Hand zu weisen – das ist
vielleicht der Erfolg der nach wie vor intensiven Debatte
in dieser Wahlperiode –, dass sich gegenüber dem Jahr
2009 doch auch schon einiges verbessert hat. Aber es
bleibt dabei: Nach wie vor sind keine wirklich wirksa-
men anderen Strategien erkennbar. Solange das so ist,
sollte man jedenfalls nicht gänzlich auf die Möglichkeit
des Sperrens verzichten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Der Antrag der SPD hilft nicht. Er hilft nicht in der
Sache, und er bringt keine neuen Erkenntnisse. Deshalb
lehnen wir ihn ab.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708421900

Das Wort hat die Kollegin Halina Wawzyniak von der

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Halina Wawzyniak (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708422000

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Ich freue mich, dass sich die SPD-Fraktion endgül-
tig für die Aufhebung des Zugangserschwerungsgesetzes
einsetzt. Sie hat aus ihren Fehlern gelernt.


(Beifall bei der LINKEN)


In der Großen Koalition 2009 stimmte sie noch wider
besseres Wissen für die Einführung von Internetsperren.
Angesichts der überwältigenden Argumente gegen die
Netzsperren ist es heute aber eigentlich nicht mehr mög-
lich, klaren Verstandes für dieses Gesetz einzutreten.
Der Verband der deutschen Internetwirtschaft eco hat
am Dienstag erneut belegt, dass mit einem schnellen
und effektiven Vorgehen kinderpornografische Inhalte
zügig – auch international – aus dem Netz gelöscht wer-
den können. Dazu braucht man keine Netzsperren. Was





Halina Wawzyniak


(A) (C)



(D)(B)

man aber nicht braucht, braucht man nicht. Lassen Sie
das Gesetz einfach!


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Um nicht alle Argumente zu wiederholen, nur ein
paar Stichworte: Das Verstecken strafrechtlich relevanter
Inhalte hinter technisch leicht zu umgehenden Stopp-
schildern bringt gar nichts. Schon das Betreiben von
Sperrlisten ist kontraproduktiv. Die Erfahrungen in an-
deren Ländern zeigen, dass diese Listen nie dauerhaft
geheim bleiben. Einmal öffentlich geworden, können sie
geradezu als Wegweiser zu diesen strafrechtlich relevan-
ten Inhalten dienen.

Stoppschilder werden so zu Hinweisschildern. Sie
warnen die Betreiber dieser Seiten davor, dass ihnen die
Strafverfolgungsbehörden auf der Spur sind. Außerdem
bringen die geplanten Netzsperren auch die Gefahr mit
sich, dass es ein Overblocking gibt. Es wird also mögli-
cherweise der Zugang zu allen Inhalten eines Servers ge-
sperrt – damit auch zu unbedenklichen.

Die Einführung von Netzsperren bringt erhebliche
Kollateralschäden für die Freiheit des Internets mit sich.
Nicht mit uns!


(Beifall bei der LINKEN)


Das ständige Werben der innenpolitischen Hardliner der
CDU/CSU für Netzsperren macht eines deutlich:


(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Verantwortung!)


Es geht längst nicht mehr um die notwendige Bekämp-
fung von Kinderpornografie, sondern um die Errichtung
einer universalen Sperrinfrastruktur. Schon heute wer-
den immer wieder Stimmen laut, die den Einsatz von
Netzsperren unter anderem auch bei Urheberrechtsver-
letzungen fordern. Die Linke stellt sich solchen Ent-
wicklungen entgegen. Eine Zensur des Internets wird es
mit uns nicht geben.


(Beifall bei der LINKEN)


Die geplante Einführung von Internetsperren ist aber
nicht die einzige Bedrohung für das freie Internet. Paral-
lel dazu wird auch die Debatte über das Ende der Netz-
neutralität geführt.

Wenn es nach den Vorstellungen der Netzbetreiber
geht, sollen der Zugang zum Internet und die Nutzung
verschiedener Dienste zukünftig vom Geldbeutel der
Nutzer abhängen. Die Netzbetreiber möchten selbst ent-
scheiden, welche Inhalte sie zu welchen Preisen und
welchen Geschwindigkeiten durch ihre Netze leiten. Die
Koalition geht hier unkritisch mit der Lobby der Netzbe-
treiber Hand in Hand. Wir müssen stattdessen aufhören,
das Internet als Bedrohung wahrzunehmen, der nur mit
Gesetzen und Regulierungen begegnet werden kann. Wir
müssen die emanzipatorischen Potenziale des Internets
erkennen und nutzen. Wir müssen Strukturen für freie
Kommunikation und für freies Verbreiten von Informa-
tionen sowie die Möglichkeit zur Demokratisierung der
Gesellschaft gegen alle Angriffe verteidigen.


(Beifall bei der LINKEN)


Reden wir über uns, das Parlament.


(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Über das Thema!)


Was können wir tun? Wir könnten die demokratischen
Potenziale des Internets noch besser nutzen. Die Online-
petition ist bereits ein Schritt in die richtige Richtung.


(Christian Ahrendt [FDP]: Was hat das denn mit Kinderpornografie zu tun? Falsches Thema!)


Wir brauchen aber mehr. Gerade in Zeiten sinkender
Wahlbeteiligung und steigender Politikverdrossenheit
sollten wir das Internet nutzen, um mehr Bürgerbeteili-
gung zu ermöglichen. Wir könnten beispielsweise die in-
teressierte Öffentlichkeit bereits in der Entstehungs- und
Beratungsphase von Gesetzen beteiligen. Lassen Sie uns
hier mutig vorangehen. – Meine Damen und Herren von
der FDP, ich kann ja verstehen, dass sie mir vorschreiben
wollen, was ich sage. Es wird Ihnen nur nicht gelingen,
dass ich mich daran halte.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir sollten das Internet nicht ausschließlich als einen
Wirtschaftsraum, sondern als einen globalen Kulturraum
begreifen. Das Einhegen und Abschotten sowie die Er-
richtung eines weitgehend regulierten „deutschen“ oder
„europäischen“ Internets lehnt die Linke ab. Auf der
EU-Ebene wird zurzeit intensiv über Internetsperren dis-
kutiert. Ich fordere die Bundesregierung auf, sich auch in
Europa gegen verpflichtende Netzsperren der Mitglied-
staaten einzusetzen.


(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Haben wir doch schon abgelehnt!)


Dafür brauchen wir jede denkbare Unterstützung, auch
und gerade aus dem außerparlamentarischen Bereich.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich freue mich daher über die Kampagne von European
Digital Rights zum Stoppen der europäischen Netzsper-
renpläne. Auf netzpolitik.org wurde am Dienstag auf
diese Kampagne hingewiesen, und ich empfehle diese
Lektüre vor allen Dingen den Kolleginnen und Kollegen
der Koalition.

Die Linke fordert ein Umdenken und Umsteuern der
deutschen Netzpolitik weg von Regulierung und Bevor-
mundung und hin zu einem dauerhaft geschützten offe-
nen und freiheitlichen Internet. Aus diesem Grunde prü-
fen wir wohlwollend eine Zustimmung zum Antrag der
SPD-Fraktion.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708422100

Das Wort hat der Kollege Jimmy Schulz von der

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)







(A) (C)



(D)(B)


Jimmy Schulz (FDP):
Rede ID: ID1708422200

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Sie von der SPD legen hier erneut
einen Antrag vor, um ein Gesetz abzuschaffen, das Sie
selbst vor gerade einmal 18 Monaten hier eingebracht
und beschlossen haben. Sie tun dies, weil Sie glauben, es
habe sich mittlerweile die Erkenntnis durchgesetzt, dass
dieses Gesetz den gesetzten Zielen nicht gerecht wird
oder, wie wir glauben, nicht gerecht werden kann. Sie
sagen jetzt das, was wir schon immer gesagt haben: Lö-
schen und nicht Sperren funktioniert bei der Bekämp-
fung von Kinderpornografie. Aber besser spät als nie; es
kommt mir vor, als hätten Sie mit einiger Reaktionszeit
von der Standspur auf die rechte Spur, den rechten Weg,
gewechselt.


(Beifall bei der FDP)


Wir haben gute neue Belege dafür erhalten – das ha-
ben wir gerade gehört –, dass Löschen statt Sperren
funktioniert. Der Verband der deutschen Internetbranche
eco hatte im Jahr 2010 eine Erfolgsquote von 99,4 Pro-
zent beim Löschen dieser Dateien. Auch die internatio-
nale Zusammenarbeit konnte deutlich verbessert wer-
den: Bilder können jetzt auch im Ausland sehr schnell
gelöscht werden. Von 208 Webseiten konnten 204 inner-
halb von kürzester Zeit gelöscht werden, davon 84 Pro-
zent innerhalb einer Woche und 91 Prozent binnen zwei
Wochen. Genau deswegen haben wir im Koalitionsver-
trag eine Jahresfrist festgelegt. Wir wollen das Löschen
dieser Webseiten ein Jahr lang anwenden und dann eva-
luieren, genau das werden wir auch tun.

Wir können doch ein Gesetz nicht einfach vor Ab-
schluss der Überprüfung aufheben und damit den Ergeb-
nissen vorweggreifen.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das Jahr ist doch nun um!)


Zudem wird das im Koalitionsvertrag vereinbarte
Verfahren erst seit Oktober 2010 angewendet; denn erst
seit diesem Zeitpunkt leitet jugendschutz.net, eine der
Meldestellen, die vom Bundeskriminalamt erhaltenen
Hinweise an die jeweiligen internationalen Partner wei-
ter. Die Evaluierung muss auch im Lichte dessen be-
trachtet werden.


(Beifall bei der FDP)


Sie fordern in Ihrem Antrag die schnellstmögliche
Unterzeichnung des Harmonisierungspapiers, also des
Papiers, in dem die Prozesse der Zusammenarbeit der
Meldestellen und der internationalen Partner geregelt
werden. Aber genau das steht gerade an; das Papier be-
findet sich doch schon längst in der Fertigstellung und
wird demnächst unterzeichnet. Ihre Panikmache ist also
vollkommen unbegründet.


(Burkhard Lischka [SPD]: Na ja! Wir warten schon sehr lange!)


Zu guter Letzt muss ich auf Folgendes zu sprechen
kommen. Ich kann Ihren Antrag aus gutem Grund nicht
wirklich ernst nehmen, war es doch gerade einer Ihrer
Kollegen, der kaum zwei Tage nach der Verabschiedung
des Gesetzes gefordert hat, die Internetsperren nicht nur,
wie vorher angekündigt, gegen kinderpornografische
Webseiten anzuwenden, sondern auch gegen digitale
Falschparker. Gewundert hat mich diese Forderung al-
lerdings nicht; denn damals fuhren Sie noch auf der
Standspur, und dort stören Falschparker natürlich nur.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708422300

Das Wort hat der Kollege Dr. Konstantin von Notz

vom Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Eines vorweg: Diese Debatte verläuft bisher et-
was schief. Während der Kollege Heveling hier eine
eher nachdenkliche bis moderate Rede hält, sieht es in
der Öffentlichkeit ganz anders aus. Man erkennt Flügel-
bewegungen: Der Kollege Siegfried Kauder und unser
Bundestagspräsident Lammert haben angekündigt, dass
ihnen sozusagen gerade heute aufgefallen ist, dass die
Aussetzung eines vom Bundestag erlassenen Gesetzes
per Ministererlass verfassungsrechtlich irgendwie pro-
blematisch sein könnte.


(Burkhard Lischka [SPD]: Das ist sogar so! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat Herr Kauder ein Jahr lang geprüft und kam jetzt zu dem Ergebnis!)


Dabei handelt es sich aber leider nicht um eine Umkehr
der Union bei den Bürgerrechten; denn der fragliche Er-
lass kommt aus dem CDU-geführten Innenministerium.
Sie wussten doch von Anfang an, dass es so nicht geht:
Die Verfassungswidrigkeit dieses Vorgehens war völlig
offensichtlich; es stand dem Erlass geradezu neongelb
auf der Stirn geschrieben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Aydan Özoğuz [SPD])


Das ist jetzt reine Taktik: Sie wollen Ihren Koalitions-
partner, die FDP, erneut vor das Brett schnallen, Herr
Kauder, und die Sperren durchdrücken. Das ist die trau-
rige Wahrheit Ihrer im Gewand der Rechtsstaatlichkeit
daherkommenden Argumentation.

Zur Geschichte unserer Diskussion hier im Hohen
Haus. Nachdem wir einen fraktionsübergreifenden Kon-
sens gefunden hatten – wir erinnern uns, dass selbst der
Kollege Uhl zu Beginn der Legislaturperiode hier in ei-
ner Sitzung reuig davon sprach, man habe beim ur-
sprünglichen Sperrgesetz „ein bisschen mit der Stange
im Nebel gestochert“ –,


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Unvergessen!)


rudern Sie, werte Kolleginnen und Kollegen der Union,
seit Monaten kräftig zurück und fordern Stoppschilder,
anstatt an der notwendigen Verbesserung der Löschvor-
gänge zu arbeiten. Dabei hat der Bundestag keinen Auf-
wand und keine Kosten gescheut, um Sachverstand zu-





Dr. Konstantin von Notz


(A) (C)



(D)(B)

rate zu ziehen. Dieser hat sich mehrheitlich klar gegen
Netzsperren positioniert. Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen der Union, man würde sich doch sehr wünschen,
dass Sie die Anhörungen dazu nutzen, um die dort ge-
wonnenen Einsichten in die Arbeit als Gesetzgeber ein-
fließen zu lassen. Herr Heveling, Sie haben in Ihrer
nachdenklichen Rede valide Alternativstrategien gefor-
dert. Diese sind in der Anhörung genannt worden. Sie
lassen aber die Einsichten, die dort gewonnen wurden,
nicht in Ihre Argumentation einfließen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Lars Klingbeil [SPD])


Es gab Anhörungen im Unterausschuss Neue Medien,
im Rechtsausschuss und, nicht zu vergessen, anlässlich
der Onlinepetition gegen Netzsperren. Wir haben von
der ganz überwiegenden Mehrheit der geladenen Fach-
leute eindeutig ins Protokoll diktiert bekommen, dass
erstens Sperren grundsätzlich der falsche Weg, ja sogar
kontraproduktiv sind, wenn man effektiv gegen Miss-
brauchsdarstellungen im Netz vorgehen will, zweitens
das Gesetz als solches schwerwiegende verfassungs-
rechtliche Fragen aufwirft, drittens der von der Bundes-
regierung verfolgte Weg des Aussetzens eines ordnungs-
gemäß im Bundestag verabschiedeten Gesetzes par ordre
du mufti mit unserer Verfassung unvereinbar ist und wir
viertens endlich eine mehrdimensionale Strategie brau-
chen, die selbstverständlich das Löschen, nicht aber das
Sperren umfasst.

Bereits am Anfang der Legislaturperiode haben
meine Fraktion und ich Sie aufgefordert, eine solche
Strategie vorzulegen. Geschehen ist seitdem nichts. Da-
bei wissen Sie doch genau, was es braucht, Herr
Heveling: Es braucht valide Optionen. Es braucht inter-
nationale Abkommen zur effektiven Bekämpfung des
Kindesmissbrauchs und der Entfernung seiner Darstel-
lungen im Internet.


(Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Ja, darauf warten wir!)


Es braucht verbesserte technische und personelle Aus-
stattungen der Strafverfolgungsbehörden und eine Ver-
besserung der Zusammenarbeit der Strafverfolgungsbe-
hörden mit den Internetbeschwerdestellen, Stichwort
Harmonisierungspapier. Hier, bei diesen effektiven,
drängenden, allgemein anerkannten Handlungsoptionen
haben Sie nichts gemacht. Das ist ein Armutszeugnis,
meine Damen und Herren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Auf einen Aspekt des hier vorliegenden zustimmungs-
würdigen Antrags der SPD möchte ich ausdrücklich ein-
gehen. Dort heißt es, dass hinsichtlich der betreffenden
europäischen Richtlinie Handlungsbedarf bestünde. Das
ist einerseits richtig – genau aus diesem Grund haben wir
als Oppositionsfraktionen entsprechende Anträge ins
Verfahren eingebracht –; andererseits scheint es seit
Dienstag so zu sein, als bestünde die Möglichkeit, dass
dieser Handlungsbedarf so bald nicht mehr besteht.
Denn im Beschlussentwurf des Innenausschusses des
Europäischen Parlaments zur entsprechenden Richtlinie
ist die konservative Berichterstatterin von einer generell
die Mitgliedstaaten verpflichtenden Linie abgerückt,
weil sie keine Mehrheit mehr für die verpflichtende Re-
gelung sieht.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha!)


Bei den heute bekannt gewordenen Änderungsanträgen
zum Bericht des Europäischen Parlaments wird deutlich,
dass sich alle Fraktionen – alle Fraktionen – gegen ver-
pflichtende Sperren aussprechen, selbst die Konservati-
ven. Nur die deutschen Konservativen im Europäischen
Parlament beharren isoliert und uneinsichtig weiterhin
auf einer Verpflichtung.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Kontrafaktisch“ heißt das bei Asterix!)


Mit dieser Position stehen Sie in Brüssel genauso wie
hier im Parlament alleine da.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das liegt an der Erkenntnis aus allen Beratungen, dass
die Sperren nicht der falsche Weg zur Bekämpfung des
Missbrauchs von Kindern und seiner Darstellung im In-
ternet, sondern gar kein Weg sind, um effektiv etwas
zum Schutz der Kinder zu unternehmen.

Ich komme zum Schluss. Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen der FDP, haben den Koalitionsvertrag schlecht
ausgehandelt. Das wurde schon häufiger gesagt; aber das
beweist sich eben immer wieder. Sie werden von der
Union seit Monaten getrieben. Ihre Wahlkampfverspre-
chungen im Bereich der Bürgerrechte waren wohl für die
Verhandelnden – unter ihnen die Freiheitsstatue der Re-
publik, Guido Westerwelle – nicht ganz so wichtig. Die
Agenda des Koalitionsausschusses heute Abend, Frau
Justizministerin, liest sich wie Ihr ganz persönliches
Sündenregister des Versagens im Koalitionsvertrag: Vor-
ratsdatenspeicherung, Netzsperren, ELENA. Man hat
begründete Sorge, was da heute Abend und in den kom-
menden Wochen ausgedealt werden soll. Ich hoffe das
Gegenteil; aber es steht zu befürchten, dass die Men-
schen in diesem Land auch im Bereich der Bürgerrechte
unter Schwarz-Gelb nicht mehr, sondern weniger Netto
vom Brutto haben werden.

Herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Jimmy Schulz [FDP]: Wie unter RotGrün!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708422400

Das Wort hat der Kollege Stephan Mayer von der

CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1708422500

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen! Sehr ge-

ehrte Kollegen! Der Antrag der SPD, den wir heute bera-
ten, spricht Bände über den Zustand der SPD.


(Widerspruch bei der SPD)


Wenn die Grünen die Dagegen-Partei sind


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir wussten, warum wir dagegen sind!)


und die Linkspartei mittlerweile die K-Partei ist, dann ist
die SPD die Heute-so-und-morgen-anders-Partei. Vor
gerade einmal eineinhalb Jahren hat die SPD-Bundes-
tagsfraktion in diesem Haus dem Zugangserschwerungs-
gesetz fast geschlossen zugestimmt – bei nur drei Ge-
genstimmen und drei Enthaltungen. Heute fordern Sie
nachdrücklich und lautstark die Aufhebung desselben
Gesetzes.


(Burkhard Lischka [SPD]: Wenden Sie es denn an? Sagen Sie doch mal was zum Erlass!)


Ich gestehe zu, dass Sperren allein kein Königsweg
sind.


(Aydan Özoğuz [SPD]: Warum haben Sie sie dann gewollt?)


Die Debatte heute zeigt wieder – sie wird Gott sei Dank
auch sehr ernsthaft geführt –, dass wir alle um den richti-
gen Weg zur Bekämpfung dieser schrecklichen Inhalte
im Internet und vor allem der Verbrechen, die diesen Bil-
dern vorangehen, ringen. Gerade weil es in diesem
Hause einen Konsens darüber geben sollte, dass wir alles
tun, um diese widerwärtigen, diese abscheulichen Ver-
brechen zu verhindern und die Verbreitung ihrer Darstel-
lung zu vermeiden, sollten wir doch auch von diesem
Geist getragen die Debatte führen.

Die christlich-liberale Koalition hat deshalb beschlos-
sen, es ein Jahr lang mit dem Löschen zu probieren.
Dann wollen wir evaluieren, und danach wollen wir wei-
terschauen. Lassen Sie uns dieses eine Jahr doch erst
einmal abwarten. Die Vorabergebnisse zeigen ganz deut-
lich: Das Löschen funktioniert im Inland. Fast alle Sei-
ten mit kinderpornografischen Darstellungen, die auf
Servern im Inland platziert werden, können durch einen
Auftrag zum Löschen eliminiert werden. Anders verhält
sich das leider bei Servern, die im Ausland stehen, und
zwar unabhängig davon, ob in der westlichen Welt, in
den USA, Kanada oder den Niederlanden, oder in Russ-
land.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: eco sagt etwas anderes!)


Die Vorabergebnisse der Untersuchung der ersten Mo-
nate zeigen ganz klar, dass nach einer Woche noch
44 Prozent der Seiten aufrufbar sind.


(Burkhard Lischka [SPD]: Dann haben Sie falsche Zahlen! – Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: 84 Prozent sind gelöscht!)


Von über 1 500 Seiten, die von den Ermittlungsbehörden
ausfindig gemacht wurden, waren nach einer Woche lei-
der Gottes immer noch über 600 Seiten im Netz einseh-
bar.


(Burkhard Lischka [SPD]: 84 Prozent gelöscht!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,
ich bitte Sie, einmal mit dem Präsidenten des BKA, mit
Herrn Ziercke, zu sprechen, der bekanntermaßen weder
ein Mitglied der FDP noch ein Mitglied der CDU oder
der CSU ist. Er bittet händeringend darum, dieses Zu-
gangserschwerungsgesetz mit allen Komponenten, also
sowohl dem Löschen als auch dem Sperren, anzuwen-
den. Das sagt ein Fachmann. Ich finde, darauf sollte man
hören. Ich bitte Sie, auch zur Kenntnis zu nehmen, dass
nach Schätzungen von UNICEF jeden Tag ungefähr
200 neue Bilder mit diesen widerwärtigen Inhalten in
das Netz gestellt werden.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Löschen!)


Ich habe schon eingestanden, dass wir mit dem Sper-
ren allein nicht zum Erfolg kommen werden. Die bishe-
rigen Erfahrungen zeigen aber, dass wir auch mit dem
Löschen allein nicht zu einem befriedigenden Ergebnis
kommen werden. Deswegen muss doch die Conclusio
sein, auf beide Mittel zurückzugreifen. Dabei muss man
natürlich nach einem Subsidiaritätsprinzip vorgehen. Ich
sage ganz offen: Mir ist es lieber, wenn diese Inhalte
komplett aus dem Netz gelöscht werden. Wenn das Lö-
schen allein aber nicht zu einem annähernd hundertpro-
zentigen Erfolg führt – das ist erwiesen; das ist evident;
die Zahlen liegen teilweise schon vor –, dann muss man
doch redundant auf das Mittel des Sperrens zurückgrei-
fen können. Daran wollen wir festhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir sind der Auffassung, dass man diesen widerwärti-
gen kinderpornografischen Inhalten im Netz durch Ein-
satz aller effektiven und technisch verfügbaren Möglich-
keiten begegnen muss. Daneben müssen natürlich auch
die Kooperationen mit bzw. die Beziehungen zu auslän-
dischen Sicherheits- und Ermittlungsbehörden intensi-
viert werden. Wir unterstützen das Bundeskriminalamt
ganz ausdrücklich bei seinen dahin gehenden Bemühun-
gen. Es wird schon sehr eng mit den ausländischen Si-
cherheitsbehörden kooperiert.

Natürlich müssen wir auch ein Auge darauf werfen,
dass die Sicherheits- und Ermittlungsbehörden sowohl in
personeller als auch in technischer Hinsicht ausreichend
gut ausgestattet sind. An dieser Stelle dürfen wir uns
aber keinem Trugschluss hingeben. Momentan sind acht
oder zehn Mitarbeiter beim BKA mit diesem Thema be-
traut. Diese Arbeit ist für die einzelnen Mitarbeiter mit
Sicherheit auch psychisch anstrengend. Aber auch, wenn
man die Zahl der Mitarbeiter dieser Abteilung verdop-
peln oder verdreifachen würde, würde man die Inhalte
im Netz allein dadurch nicht tilgen, insbesondere nicht,
wenn sie auf ausländischen Servern liegen.

Ich glaube, wir brauchen einen ganzheitlichen An-
satz. Wir sind noch Suchende. Ich hoffe, dass wir alle
von dem Geist getragen sind, alles Mögliche unterneh-
men zu wollen, um diesem schrecklichen Verbrechen zu





Stephan Mayer (Altötting)



(A) (C)



(D)

begegnen, und dass wir weiterhin darüber debattieren
werden. Der Antrag der SPD-Fraktion ist daher aus mei-
ner Sicht zu diesem Zeitpunkt falsch. Ich finde das Vor-
haben, dieses Gesetz abzuschaffen, auch nicht unterstüt-
zenswert.


(Burkhard Lischka [SPD]: Was machen Sie mit dem Erlass?)


Wir werden das eine Jahr abwarten. Dann wird evaluiert,
und dann werden wir nach vorne schauen.

Ich finde, man sollte sich in der Debatte ohne Schaum
vor dem Mund begegnen. Was mich, ehrlich gesagt, et-
was befremdet, ist – das sage ich zum Abschluss –, dass,
obwohl wir alle dasselbe Ziel haben, nämlich diese
schrecklichen Inhalte aus dem Netz zu tilgen, teilweise
unheimlich ideologisch aufeinander losgegangen wird.
Die einen sind für Sperren, die anderen für das Löschen.


(Burkhard Lischka [SPD]: Und Sie machen einen Verfassungsbruch!)


Man ist in unterschiedlichen ideologischen Lagern. Wir
sollten uns auf den Sinn konzentrieren und alles tun, da-
mit diese schrecklichen und widerwärtigen Fotos von ei-
ner Straftat aus dem Internet gelöscht werden.

In diesem Sinne: Herzlichen Dank für die Aufmerk-
samkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708422600

Das Wort hat der Kollege Lars Klingbeil von der

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Lars Klingbeil (SPD):
Rede ID: ID1708422700

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die Regierungsfraktionen haben in ihrem
Koalitionsvertrag vereinbart, das Zugangserschwerungs-
gesetz zunächst für ein Jahr nicht anzuwenden. Das Bun-
deskriminalamt wurde durch einen Erlass zur faktischen
Nichtanwendung des Gesetzes angewiesen. Die Fraktion
der SPD hat im Februar 2010, also vor beinahe einem
Jahr, den Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung des Ge-
setzes zur Bekämpfung der Kinderpornografie in Kom-
munikationsnetzen in den Deutschen Bundestag einge-
bracht. In diesem Gesetzentwurf haben wir gefordert,
dieses Gesetz zurückzunehmen.

Es ist bereits erwähnt worden – ich will das in aller
Klarheit sagen –: Indem die SPD-Fraktion diesen Ge-
setzentwurf eingebracht hat, hat sie eingeräumt, dass es
ein Fehler war, dem Zugangserschwerungsgesetz in der
Großen Koalition zuzustimmen.


(Beifall der Abg. Dr. Eva Högl [SPD])


Wir haben zugehört, wir haben diskutiert, wir haben ge-
lernt, und am Ende haben wir eine klare Linie gezogen.
Sie können mir glauben: Das war für die SPD nicht im-
mer einfach. Aber ich sage in aller Klarheit: Politik muss
den Mut haben, Fehler ohne Wenn und Aber einzugeste-
hen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Herr Heveling, Ihnen will ich sagen: Ihre Rede fing
bemerkenswert an. Es hätte eine große Rede werden
können, wenn auch Sie diesen Fehler eingestanden hät-
ten, wenn Sie gesagt hätten, dass auch CDU und CSU
hier einen Fehler gemacht haben.

Bereits in der Begründung unseres Gesetzentwurfes
haben wir Sozialdemokraten darauf hingewiesen, dass
im Hinblick auf den Erlass des Ministeriums ein verfas-
sungswidriger Zustand besteht. Damals hat dies offen-
sichtlich kaum jemanden interessiert. Aber wenn nun so-
gar Bundestagspräsident Lammert die Regierung dazu
auffordert – ich zitiere –, „einen offensichtlich verfas-
sungsrechtlich fragwürdigen Zustand schnellstmöglich
zu beenden“, dann zeigt das doch, wie dringend es ist,
dass wir heute über das Zugangserschwerungsgesetz und
den Erlass diskutieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es ist durchaus denkbar, dass sich noch nicht in allen
Fraktionen die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass Inter-
netsperren wenig effektiv, ungenau und technisch ohne
größeren Aufwand zu umgehen sind. Diese Einschät-
zung wurde allerdings im Rahmen einer öffentlichen
Anhörung im federführenden Rechtsausschuss und in ei-
ner Anhörung im Unterausschuss Neue Medien nach-
drücklich bestätigt. Wer die mittlerweile gereiften Er-
kenntnisse also pragmatisch, unideologisch und objektiv
bewertet und sich mit ihnen auseinandersetzt, der kann
zu keinem anderen Schluss kommen, als dass Netzsper-
ren keine wirkliche Hilfe im ernsthaften Kampf gegen
Kinderpornografie sind.


(Beifall der Abg. Aydan Özoğuz [SPD])


Wir als Sozialdemokraten plädieren für einen nach-
haltigen Kampf gegen die Darstellung von Kindesmiss-
brauch im Internet. Wir sagen: Löschen und effiziente
Strafverfolgung müssen unsere Leitlinien sein. Wir brau-
chen keine Symbolpolitik durch Netzsperren. Wir müs-
sen die Inhalte an der Quelle abschalten. Gleichzeitig
müssen wir dafür sorgen, dass Beweise für die Strafver-
folgung sichergestellt werden.

Erst in diesen Tagen hat der Verband der deutschen
Internetwirtschaft, eco, die neuesten Zahlen bezüglich
der Löschung von Internetseiten vorgelegt. Diese Zahlen
belegen eindrucksvoll, dass „Löschen statt Sperren“ er-
folgreich ist. Über 99 Prozent der bei deutschen Provi-
dern gemeldeten Seiten wurden innerhalb einer Woche
gelöscht.


(Jimmy Schulz [FDP]: Das ist ja unstrittig!)


Die Masse davon wurde in der Regel innerhalb einiger
Stunden bzw. spätestens innerhalb eines Werktages ge-
löscht. Auch bei der Bekämpfung von Inhalten im Aus-
land wurde im Vergleich zu 2009 ein deutlicher Erfolg
erzielt. Der Ausbau der Kooperation zwischen Be-
schwerdestellen, Internetserviceprovidern und Strafver-
folgungsbehörden hat zu einer deutlich verbesserten Re-

(B)






Lars Klingbeil


(A) (C)



(D)(B)

aktionszeit geführt. Innerhalb einer Woche waren über
84 Prozent der gemeldeten Seiten abgeschaltet, nach
zwei Wochen waren es über 91 Prozent.

Gerade in den USA und in Russland, also in den Län-
dern, in denen die meisten kinderpornografischen In-
halte entdeckt wurden, entwickelt sich die Löschge-
schwindigkeit überaus erfreulich. In den USA waren
87 Prozent der gemeldeten Inhalte binnen einer Woche
offline, in Russland sogar 98 Prozent. Die Provider ma-
chen auch deutlich, dass sie das Prinzip „Löschen statt
Sperren“ durch internationale Kooperationen, beispiels-
weise im Rahmen des Netzwerkes Inhope, ernsthaft ver-
folgen und auch weiter ausbauen wollen. Die Faktenlage
ist also eindeutig: Netzsperren sind für den Kampf gegen
Kinderpornografie nicht geeignet. Das Löschen funktio-
niert, wenn man es richtig macht.

Es bleibt zu fragen, was die Regierung eigentlich tut.
Es wird immer beschwichtigend gesagt: Wir evaluieren
und warten ein Jahr ab. – Auch der Kollege Mayer hat
gerade gesagt: Lassen Sie uns doch ein Jahr abwarten. –
Aber wenn ich dann die Äußerungen von Herrn
Lammert lese – auch Herr Kauder hat sich dahin gehend
geäußert –, der darauf verweist, dass dieser Zustand
möglicherweise verfassungswidrig sei, dann glaube ich,
dass es doch genau richtig ist, dass wir hier heute da-
rüber diskutieren.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
insbesondere liebe Kolleginnen und Kollegen von der
FDP, es ist doch nicht so, dass bei Ihnen ein Erkenntnis-
defizit besteht. Nach knapp einem Jahr muss man schon
sagen, dass es auch kein Handlungsdefizit mehr sein
kann; denn Sie wissen eigentlich, was zu tun ist. Ich be-
fürchte, die FDP wird langsam ein Glaubwürdigkeits-
problem bekommen. Wer sich in der Opposition laut ge-
gen Netzsperren ausspricht, dann aber in der Regierung
taktiert und abwartet, der muss sich schon fragen lassen:
Was ist eigentlich aus den guten Ansätzen geworden?


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708422800

Herr Kollege Klingbeil, erlauben Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Wunderlich von den Linken?


Lars Klingbeil (SPD):
Rede ID: ID1708422900

Ja, gerne.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708423000

Herr Wunderlich, bitte.


Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708423100

Schönen Dank. – Herr Kollege Klingbeil, ich habe

eine Frage an Sie. Sie sagten, das Gesetz sei per Ministe-
rialerlass ausgesetzt worden, die Koalition warte ab und
wolle evaluieren. Das heißt, das Gesetz wird – wenn ich
das richtig verstehe – nicht angewendet;


(Jimmy Schulz [FDP]: Doch!)


gleichwohl soll es evaluiert werden. Ihnen dürften die
verfassungsrechtlichen Bedenken, die seinerzeit vom
jetzigen Staatssekretär Stadler und auch von der jetzigen
Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger gegenüber
diesem Gesetz geäußert worden sind, bekannt sein,
ebenso wie dem Rest der FDP-Fraktion. Gehe ich recht
in dieser Annahme?


Lars Klingbeil (SPD):
Rede ID: ID1708423200

In dieser Annahme gehen Sie recht. Umso dringender

ist es, dass heute unser Antrag behandelt und nicht noch
weiter abgewartet wird. Wir befinden uns in einem Zu-
stand, der schnellstens geklärt werden muss. Sie haben
darauf hingewiesen; es gibt bereits entsprechende Äuße-
rungen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
zum Schluss kommen. In einem Argumentationspapier,
das vier junge FDP-Abgeordnete – lassen Sie mich an-
merken, dass ich diese vier jungen, dynamischen Kolle-
gen alle sehr schätze – in dieser Legislaturperiode vorge-
stellt haben, heißt es:

Die FDP-Fraktion der 16. Wahlperiode hat im Juni
2009 geschlossen gegen das Zugangserschwerungs-
gesetz gestimmt. Dies hat uns in der Internet Com-
munity, bei Fachleuten und insbesondere auch bei
zahlreichen Jung- und Erstwählern viel Sympathie
und Respekt verschafft.

Liebe FDP, das waren noch Zeiten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Was ist nur aus dieser klaren Linie geworden?

Ich wünsche viel Glück bei den Verhandlungen und
sage auch: Linke, Grüne und SPD laden ein, an dieser
Stelle Spur zu halten. Ich hoffe, die FDP wird nicht zum
netzpolitischen Geisterfahrer.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie des Abg. Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708423300

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

der Kollege Christian Ahrendt von der FDP-Fraktion das
Wort.


(Beifall bei der FDP)



Christian Ahrendt (FDP):
Rede ID: ID1708423400

Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und

Kollegen! Lieber Herr Kollege Klingbeil, Spurhalten ist
immer gut, wenn es eine klare Spur gibt. Wenn es aber
einen solchen Zickzackkurs, einen solchen Wendekurs in
einer Geschwindigkeit gibt, wie ihn die SPD an den Tag
legt, dann ist das Spurhalten wirklich schwierig. Insofern
haben Sie sich vielleicht gerade bei diesem Gesetz ein
Stück weit den Begriff des Wendehalses verdient.


(Burkhard Lischka [SPD]: Ein bisschen billig!)


Was mich an dieser Debatte aber viel mehr stört, ist
ein ganz anderer Punkt. Hören Sie zu! Eigentlich sind
die Auffassungen bekannt. Die einen möchten weiterhin
sperren, die anderen möchten das Sperrgesetz aufheben.
Man beklagt, dass die Regelung, die gefunden worden





Christian Ahrendt


(A) (C)



(D)(B)

ist, um das Gesetz derzeit nicht anzuwenden, nicht ver-
fassungskonform sei. Man kann die Debatte auch weiter
führen; aber sie geht an einem ganz zentralen Punkt vor-
bei, über den wir uns wirklich Gedanken machen sollten.

Wenn Sie bei der Telekom nachfragen, wie viele Ur-
heberrechtsverletzungen in einem bestimmten Zeitraum
im letzten Jahr verfolgt worden sind, bekommen Sie als
Antwort eine sehr spannende Zahl. Im Zeitraum von Ja-
nuar bis September letzten Jahres sind 2,6 Millionen IP-
Adressen bei der Telekom abgefragt worden, um Urhe-
berrechtsverletzungen zu verfolgen. Im selben Zeitraum
– das ist das Ergebnis einer Kleinen Anfrage der Frak-
tion Die Linke – sind 1 407 Internetseiten, die dem Bun-
deskriminalamt bekannt geworden sind, durch die ent-
sprechenden Stellen gelöscht worden. Das ist doch ein
spannendes Verhältnis: Fast 2,7 Millionen Urheber-
rechtsverletzungen, aber nur 1 407 Internetseiten kin-
derpornografischen Inhalts, die vom Netz genommen
worden sind.

Nun gibt es zwei Möglichkeiten. Die erste Möglich-
keit ist: Das Problem ist nicht so groß, wie wir glauben.
Dafür steht ein Argument, das wir immer anführen, näm-
lich dass die kinderpornografischen Inhalte in Netzwer-
ken außerhalb des World Wide Web ausgetauscht wer-
den und dass das, was wir mit den Sperren zu greifen
versuchen, ganz woanders stattfindet, dass sich die Kri-
minalität an einer ganz anderen Stelle aufgebaut hat.


(Beifall bei der FDP)


Die zweite Möglichkeit ist, dass wir das ganz andere
Problem haben, gar nicht alle Fälle aufklären zu können,
wenn es im World Wide Web wesentlich mehr Internet-
seiten mit kinderpornografischem Inhalt gibt. Auch dann
haben wir nicht das Problem, zu entscheiden, ob wir die
Seiten sperren oder löschen, sondern dann haben wir das
Problem, dass wir gar nicht genug Beamtinnen und Be-
amte haben, um das durchführen zu können. Um das
Problem zu lösen, müssen die Seiten nämlich aufgespürt,
identifiziert und gelöscht werden.

Nachdem Sie hier einen Gesetzentwurf eingebracht
haben, wollen Sie ihn nun durch einen Initiativantrag in
irgendeiner Form befördern. Liebe Kollegen von der
SPD, wenn Sie sich mit dem Thema wirklich auseinan-
dersetzen wollen und es diese zahlenmäßige Differenz
gibt, wäre es wichtig gewesen, einmal vorzuschlagen,
wie das Problem eigentlich gelöst werden soll. Darum
geht es. Kinderpornografie im Internet bekämpft man
nicht, indem wir uns hier über das Löschen oder das
Sperren unterhalten, sondern indem wir die Vollzugsde-
fizite beseitigen, um diese grausamen Seiten aus dem
Netz zu nehmen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Ahrendt, Sie regieren! Seit einem Jahr regieren Sie! Los geht’s!)


Das ist der eigentliche Punkt, mit dem wir uns auseinan-
dersetzen müssen.
Wir befinden uns in der entsprechenden Diskussion
mit unserem Koalitionspartner. Deswegen werden die
Ergebnisse, zu denen wir in diesen Beratungen kommen,
wesentlich erfolgversprechender sein als das, was Sie
von der Opposition hier vortragen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP – Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Da sind wir aber sehr gespannt!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708423500

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 17/4427 zur federführenden Beratung an
den Rechtsausschuss und zur Mitberatung an den Innen-
ausschuss, an den Ausschuss für Wirtschaft und Techno-
logie, an den Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend sowie an den Ausschuss für Kultur und Me-
dien zu überweisen. Gibt es dazu anderweitige Vor-
schläge? – Das ist nicht der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.

Ich rufe jetzt Zusatzpunkt 6 auf:

Vereinbarte Debatte

Weißrussland – Repressionen beenden, Men-
schenrechtsverletzungen sanktionieren, Zivil-
gesellschaft stärken

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache wiederum eine Dreiviertelstunde vorgese-
hen. – Gibt es Widerspruch dazu? Das ist nicht der Fall.

Dann eröffne ich die Aussprache und erteile als ers-
tem Redner dem Kollegen Michael Link von der FDP-
Fraktion das Wort.


(Beifall bei der FDP)



Michael Link (FDP):
Rede ID: ID1708423600

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Alle

Fraktionen des Bundestages haben sich gemeinsam zu
dieser vereinbarten Debatte zusammengefunden – ich
danke insbesondere Marieluise Beck für die ursprüng-
lich von ihr ausgegangene Initiative –, um geschlossen
ihr Entsetzen über die brutale Gewalt des belarussischen
Regimes gegen seine eigene Bevölkerung auszudrücken.

Wir sind schockiert über das Verhalten Lukaschenkos.
Noch Anfang November hatte er dem besuchenden Bun-
desaußenminister Westerwelle und seinem polnischen
Kollegen Radek Sikorski vollmundig versprochen:
Diese Wahlen werden frei; Sie können selber nachzäh-
len. Er hat sein Versprechen auf zynische Art und Weise
gebrochen. Dieses Versprechen war nichts wert. Die Bil-
der der exzessiven Polizeigewalt gegen friedliche De-
monstranten verursachten einen Schock, der nachwirkt.
Es kam zu blanker Unterdrückung, purer Willkür und ei-
nem Wüten der Sicherheitsdienste auf einem auf euro-
päischem Boden lange nicht mehr gesehenen Niveau.

Es fällt schwer, zu glauben, dass so etwas gerade ein-
mal eineinhalb Flugstunden von Berlin entfernt stattfin-





Michael Link (Heilbronn)



(A) (C)



(D)(B)

det, in fast gleicher Entfernung wie Paris. Die gemessene
Entfernung nach Belarus, nach Minsk mag klein sein;
die gefühlte Entfernung entspricht zurzeit dem Durch-
messer eines Kontinents. Lassen Sie uns gemeinsam da-
ran arbeiten, dass es nicht zu einer Eiszeit kommt, die
letzten Endes noch stärker auf dem Rücken der belarus-
sischen Bürger, der Zivilgesellschaft, ausgetragen wird.

Die OSZE hat in einer Klarheit, wie es in der Ge-
schichte der OSZE selten der Fall war, erklärt, dass die
Wahlen weder frei noch fair waren, sondern dass ele-
mentare Grundsätze transparenter und demokratischer
Wahlen verletzt worden sind. Zehntausende Bürger de-
monstrierten am Wahlabend und in den Tagen danach
für ein Ende des Autoritarismus und eine Annäherung an
demokratische Strukturen. Sie wurden brutal niederge-
knüppelt. Es gab Hunderte Festnahmen, Razzien, KGB-
Gewalt, Verrat, Unterdrückung jeglicher Kritik im Keim,
systematische Verfolgung, einen kalten Wind der Unter-
drückung, Geruch eines Regimes aus spätstalinistischer
Zeit.

Sieben der neun Präsidentschaftskandidaten der Op-
position wurden verhaftet, einige wie Andrej Sannikow
zum Teil schwer verletzt und bewusstlos geschlagen. Ei-
nige befinden sich immer noch im Krankenhaus bzw. in
Kontakt mit den Anwälten. Wir sollten alles tun, um ih-
nen Rechtshilfe zu leisten, soweit es unter diesen Um-
ständen möglich ist.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn ich von den Präsidentschaftskandidaten rede,
dann will ich die mutigen Journalisten und Vertreter der
Zivilgesellschaft ausdrücklich hinzufügen. Allen voran
möchte ich stellvertretend Irina Chalip nennen. Ich
glaube, wir als Deutscher Bundestag müssen all jenen,
die dort mutig auf die Straße gegangen sind, unseren
Respekt und unsere Solidarität ausdrücken und daran ar-
beiten, ihnen konkret zu helfen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Kolleginnen und Kollegen, letztes Jahr erweckte die
Entwicklung in Belarus den Eindruck, es gäbe eine Art
Tauwetter. Ich glaube, wir alle sind uns darin einig. Viele
traditionelle Besucher des Minsk-Forums sind anwe-
send. Ich selber konnte leider im letzten November nicht
teilnehmen. Ich habe das nach dem, was geschehen ist,
umso mehr bedauert, weil man den Eindruck hat, dass es
sicherlich wichtig gewesen wäre, mit jeder menschli-
chen Begegnung die dortigen Vertreter und Freunde zu
unterstützen. Wir alle haben gehofft, dass es eine Art
Tauwetter gibt.

Es gab immerhin real die Möglichkeit, im belarussi-
schen Fernsehen Wahlspots zu senden. Es gab auch eine
Live-Debatte. Das alles waren immerhin kleine Fort-
schritte. Doch alles in allem war es eine Fehleinschät-
zung. Lukaschenko hat niemals auch nur im Traum da-
ran gedacht, die Macht aus den Händen zu geben.
Dennoch war es, glaube ich, den Versuch wert, den Weg
zu gehen, alles auszutesten, was ging.

Bei diesen tastenden Versuchen hat es sich allerdings
erneut als Fehler herausgestellt, naiv heranzugehen. Ich
glaube, einige von uns – ich schließe mich davon nicht
aus – haben auch immer wieder einmal gedacht, dass wir
schon mehr erreicht haben, als es tatsächlich der Fall
war. Lukaschenko wollte testen, was er von Europa be-
kommt. Als er aber immer wieder – erfreulich klare –
Signale bekommen hat wie beim Westerwelle/Sikorski-
Besuch und beim Besuch vieler anderer Außenminister
und die vielen Signale aus den Parteien, die hier vertre-
ten sind, und aus den vielen Gesprächen, die er mit Ver-
tretern aus Brüssel in Belarus geführt hat, dass er ohne
echte Fortschritte bei Menschenrechten nicht so einfach
durchkommt, hat er sich doch wieder dort Hilfe geholt,
wo er in der Vergangenheit leider schon sehr oft Unter-
stützung bekommen hat, um sein Regime weiter zu ver-
längern, in Russland.

Dieser Versuch, sich tatsächlich zu öffnen und nicht
mehr so stark auf russische Hilfe angewiesen zu sein, ist
misslungen. Er hat leider von russischer Seite wieder
sehr viel mehr Hilfe bekommen, als wir es vermutet hat-
ten.

Trotzdem sollten wir uns gemeinsam mit allen, auch
in Moskau, die bereit sind, daran zu arbeiten, darum be-
mühen, neue Wege zur Öffnung in Belarus zu finden.
Denn ich glaube, es ist klar, dass er mit seinem Regime
mittlerweile für alle Nachbarn ein Problem darstellt. Wir
können deshalb keine einseitigen Schuldzuweisungen
machen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Was können wir tun? Wir haben nicht sehr viele He-
bel, aber einige sind sehr effizient. Wir müssen aber bei
allen Methoden und Entscheidungen prüfen, ob sie nicht
die Falschen treffen würden.

Zunächst die politischen Hebel. Wir haben die OSZE.
Kollegin Zapf wird nach mir reden. Liebe Frau Zapf, Sie
haben sich wie kaum jemand sonst in diesem Hause
– Marieluise Beck habe ich schon genannt; Roland
Pofalla hat sich mit seinen Einsätzen im Bereich Minsk
sehr verdient gemacht – mit dem Bereich Belarus be-
schäftigt. Sie leiten die Arbeitsgruppe Belarus in der
OSZE-PV. Damit haben wir einen Hebel. Lassen Sie uns
darüber nachdenken, ob wir nicht auf der anstehenden
OSZE-PV eine Generaldebatte zum Thema Belarus füh-
ren und ob wir als Deutscher Bundestag einen Antrag
zum Thema Belarus einbringen sollten. Das wäre eine
schöne Gelegenheit, die in Kürze bevorsteht, nämlich
am 24./25. Februar. Lassen Sie uns gemeinsam daran ar-
beiten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir sollten auch über Wege nachdenken, wie wir den
Dialog mit der Zivilgesellschaft möglichst weitgehend
an den offiziellen Stellen vorbei führen können, um die
Richtigen zu ermutigen. Wir sollten so oft wie möglich
auch selbst hinfahren und unsere Hilfe nicht denjenigen





Michael Link (Heilbronn)



(A) (C)



(D)(B)

in der Regierung zukommen lassen, die sie den wirklich
Bedürftigen und Betroffenen vorenthalten.

Bei den konkreten Maßnahmen über das Politische
hinaus sollten wir darüber nachdenken, inwiefern wir im
Bereich des Internationalen Währungsfonds tätig wer-
den. Nach dem, was geschehen ist, geht es nicht an, dass
Lukaschenko weiter IWF-Kredite erhält, als ob nichts
geschehen sei. Darüber müssen wir verstärkt nachden-
ken. Dieser Hebel würde an der richtigen Stelle anset-
zen, um Verhaltensänderungen zu bewirken. Aber er er-
fordert die Entschlossenheit sehr vieler Mitspieler.
Daran müssen wir klug, aber sehr entschlossen arbeiten.

Wir müssen uns bei allen anderen Maßnahmen, die
anstehen, aber auch an die eigene Nase packen, zum Bei-
spiel bei der Östlichen Partnerschaft. Wir müssen klare
Worte finden. Wenn Ungarn tatsächlich wie geplant den
Gipfel zur Östlichen Partnerschaft in Budapest abhält,
dann müssen wir mit Belarus, wenn nötig vor oder hinter
den Türen, in einer klaren Sprache sprechen. Das müs-
sen wir aber auch – das sage ich uns allen – bei anderen
schwierigen Partnern der Östlichen Partnerschaft wie der
Ukraine tun, wo die Entwicklungen nicht erfreulich sind;
das sage ich ausdrücklich für meine Partei. Die uns na-
hestehende Stiftung ist – das geht vielen hier im Hause
so – über die Situation in der Ukraine extrem besorgt.
Das müssen wir rechtzeitig ansprechen. Das Gleiche gilt
für die drei Länder des Südkaukasus, und das gilt auch
für Fälle wie Usbekistan. Präsident Karimow ist auf Ein-
ladung von Herrn Barroso gerade in Brüssel. Auch dort
müssen wir deutliche Worte sprechen. Wir dürfen weder
naiv noch mit Schaum vor dem Mund an die Dinge he-
rangehen, sondern wir müssen die Dinge mit Augenmaß
und dennoch sehr deutlich ansprechen.

Letzte Bemerkung. Der nächste konkrete Schritt für
uns sollte sein, im Zusammenhang mit dem gemeinsa-
men Antrag, den wir, CDU/CSU, SPD, FDP und Grüne,
erarbeiten wollen, über dieses Thema zu sprechen.
Lukaschenko mag es vielleicht gelungen sein, sein Volk
für den Moment einzuschließen. Aber wir dürfen und
werden nicht wegsehen. Lassen Sie uns gemeinsam da-
ran arbeiten, dass Belarus den Weg zurück in die euro-
päische Wertegemeinschaft findet, in der es von 1990 bis
1994 schon einmal war, bevor Lukaschenko an die
Macht kam und das Land de facto aus dem Europarat
ausgeschlossen werden musste. Das sind wir insbeson-
dere den tapferen Demonstranten in Minsk schuldig.

Vielen Dank.


(Beifall im ganzen Hause)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708423700

Das Wort hat die Kollegin Uta Zapf von der SPD-

Fraktion.


Uta Zapf (SPD):
Rede ID: ID1708423800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am

Dienstag, den 18. Januar, erschien in der FAZ ein Artikel
mit der Überschrift „Nichts hat funktioniert“. Der Unter-
titel war: „Europa und der Umgang mit Weißrussland –
eine Geschichte der Ratlosigkeit“. Seit dem 19./20. De-
zember ist es auch eine Geschichte der Fassungslosig-
keit, der Trauer, der Wut und des tiefen Erschreckens
über die Brutalität, mit der Lukaschenko nach der ge-
fälschten Wahl protestierende Bürger niederknüppeln
ließ und seine Gegenkandidaten und ihre Kampagnen-
helfer wegen Anstiftung zum Aufruhr anklagen lässt.

Seit diesem Tag hören und lesen wir täglich von Re-
pression und Verfolgung, Durchsuchungen und Ankla-
gen, Einschüchterungen, Racheakten an Oppositionel-
len, sogar vom Verschwinden von Familienangehörigen.
Studenten werden von den Universitäten verwiesen.
Menschen verlieren ihren Arbeitsplatz und sind Bedro-
hungen ausgesetzt, und das jeden Tag. Wenn Sie auf die
Internetseite von Belapan gehen, dann lesen Sie von vie-
len solchen Fällen. Das geschieht systematisch und
reicht bis in die tiefste Provinz. Dies ist in der Tat ein
„Schlag ins Gesicht der Annäherungspolitik“, wie es je-
mand aus dem Auswärtigen Amt genannt hat.

Die OSZE und die EU müssen natürlich reagieren.
Kollege Link, das, was Sie im Hinblick auf die OSZE
vorgeschlagen haben, würde ich gerne machen. Aber es
gibt rigide Regeln, die festlegen, was auf der Winterta-
gung zu passieren hat. Dort gibt es überhaupt keine Re-
solutionen oder Ähnliches. Kollege Wellmann, wir wer-
den das natürlich in der Generaldebatte und in den
Komitees an erster Stelle erwähnen. Da geht es darum,
was wir auf der Jahressitzung im Sommer machen. Dann
wäre es möglich, eine Resolution einzubringen. Kollege
Wellmann, wir müssen uns auch darüber verständigen,
wie wir mit der Arbeit der Working Group on Belarus im
Rahmen des OSZE umgehen sollen. Business as usual
geht nicht.

Mich hat – das empfinde ich als eine regelrechte Un-
verschämtheit – am 21. Dezember der neue Vorsitzende
der belarussischen OSZE-Delegation angeschrieben:
Wir wollen doch zusammenarbeiten. Wir wollen das Se-
minar, das Sie vorgeschlagen haben und das bisher im-
mer verschoben wurde, jetzt machen. – Das geschah am
21. Dezember 2010, nachdem die Knüppelei am 19. und
20. Dezember 2010 losgegangen war. Das ist etwas, was
mir sehr nahegeht.


(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Die Botschaft hat Champagner an uns verschickt!)


– Das ist wahr. Und Pralinen. – Noch am 3. Dezember
2010 – Herr Link, Sie erwähnten den Besuch des Außen-
ministers – hat Lukaschenko mit seinem eigenen Füllfe-
derhalter seine Unterschrift unter das Astana-Dokument
gesetzt und somit die OSZE-Prinzipien Demokratie,
Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Meinungs- und
Versammlungsfreiheit sowie freie und faire Wahlen un-
terschrieben. Aber diese Werte sind durch die Polizei in
den Dreck geknüppelt worden.

Es ist richtig, dass wir deshalb ratlos sein dürfen. Wir
wissen aber auch, dass das, was wir gemacht haben,
nicht funktioniert hat. Gerade Deutschland hat viel ge-
macht. Ich erinnere an die Extraprogramme, die wir
noch bis letztes Jahr mit finanziellen Mitteln von bis zu
5 Millionen Euro versehen haben, um unterschiedlichste





Uta Zapf


(A) (C)



(D)(B)

Gruppen in Belarus zu unterstützen. Dies geschah auch
in dem Bewusstsein, dass wir mit einem solchen
menschlichen Verhalten für Demokratie, für Freiheit und
für Menschenrechte werben. Ich habe aber schon öfter
gesagt: Die Sticks and Carrots haben nichts geholfen.
Wir haben keine Sticks mehr, und die Karotten wollen
sie nicht nehmen. Deshalb sind wir ratlos.

Dennoch müssen wir den Dialog aufrechterhalten; ich
unterstreiche das, was Sie gesagt haben, Herr Kollege
Link. Natürlich müssen wir alles unternehmen, damit
wir den Kolleginnen und Kollegen in Belarus, die in der
Opposition zurzeit unterdrückt werden wie noch nie,
Unterstützung geben. Die Hoffnung auf Verbesserungen
sind zerstoben. Ich denke trotzdem, dass der Schock
nicht dazu führen wird, dass wir in Schockstarre verhar-
ren. Es wird zu einem gemeinsamen Antrag kommen.

Wir werden genau überlegen, welche Forderungen
wir aufstellen sollen und müssen. Dazu gehört als Erstes
die Freilassung der Gefangenen, das Fallenlassen der
Anschuldigungen, der Rechtsbeistand, der Zugang zu
den Verhafteten und die medizinische Versorgung der
Hungerstreikenden und der Verletzten. Ich denke, das
versteht sich von selbst. Zwei der Kandidaten sind ver-
letzt worden: Nekljajew und Sannikow. Lebedko hat sei-
nen Hungerstreik abgebrochen, Statkevich meines Er-
achtens noch nicht. Auch an dieser Stelle ist unsere volle
Solidarität ganz wichtig.

Wir wollen das Reiseverbot aufleben lassen und auf
diejenigen, die an der Knüppelei teilgenommen haben,
ausweiten. Wir wehren uns auch nicht dagegen, die Aus-
landskonten zu sperren. Wir wollen die Schuldigen sank-
tionieren, aber nicht das Volk. Deshalb fordern wir auf
der anderen Seite Visa-Erleichterungen für all diejeni-
gen, die an diesen Maßnahmen nicht beteiligt waren.
Wir wollen die Studenten unterstützen, die unsere Unter-
stützung brauchen. Wir müssen für diese Studenten auf
alle Fälle mehr Stipendien als bisher bereitstellen. Wir
wollen neue Wege finden, die Zivilgesellschaft zu schüt-
zen.

Ich möchte auf einige Möglichkeiten hinweisen. Wir
wollen Menschenrechtler, Journalisten und Rechtsan-
wälte unterstützen, die die schwierige Arbeit in den Or-
ganisationen, die ich aus ganzem Herzen bewundere,
leisten. Sie leisten eine hervorragende Arbeit. Außerdem
müssen wir die vorhandenen Finanzinstrumente nutzen.
Es gibt ein Finanzinstrument, das zur Unterstützung sol-
cher Gruppen angewandt werden kann, ohne dass wir
deshalb mit der Administration und der Regierung einen
Vertrag abschließen müssen. Das ist das European In-
strument for Democracy and Human Rights, also für De-
mokratie und Menschenrechte. Das müssen wir nutzen,
aber bitte nicht so bürokratisch, wie sonst die Finanz-
instrumente gehandhabt werden. Wenn die Leute zwei
Jahre lang auf Geld warten müssen, dann ist das Ganze
natürlich sinnlos.

Wir müssen auch versuchen, die Familien zu unter-
stützen, die jetzt ihrer Existenzgrundlage beraubt sind,
weil die Oppositionellen im Gefängnis sitzen. Diese
werden möglicherweise 15 Jahre lang weggesperrt, oder
es kommt möglicherweise sogar noch schlimmer, wenn
es um eine Anklage wegen Hochverrats geht. Deshalb
müssen wir schauen, wie wir dort agieren können.

Das Europäische Parlament – das habe ich auch in
dem Entwurf gesehen, in dem alle schon ein bisschen
etwas hineingeschrieben haben – fordert eine unabhän-
gige internationale Untersuchungskommission unter
Leitung der OSZE. Ich denke, gerade die OSZE bietet
durch den Moskauer Mechanismus die Möglichkeit, eine
solche Untersuchungskommission zu installieren, die für
solche Fälle gedacht ist. Herr Staatsminister Hoyer, des-
halb fordern wir, dass die Bundesregierung innerhalb der
OSZE darauf hinwirkt, dass dieser Moskauer Mechanis-
mus in Kraft gesetzt werden kann. Ich hoffe, dass das
auch klappt.

Herr Link, Sie haben gesagt: Wir wollen mit Russland
zusammen etwas erreichen. – Ehrlich gesagt habe ich
daran so meine Zweifel. Inwieweit ist denn auch Russ-
land daran beteiligt, dass Wahlbetrug honoriert worden
ist? Wieso sagt Russland und wieso sagen einige Abge-
ordnete wie Sjuganow, der sich auch dort aufgehalten
hat, das sei eine innere Angelegenheit? Diese Argumen-
tation unter diesen Brüdern kennen wir doch. Deshalb
bin ich nicht sicher, dass Russland, das von dem profi-
tiert, was an Annäherung von Belarus in die Arme Russ-
lands geschehen ist, sich jetzt auf die Menschenrechts-
seite schlagen wird. Es gibt zwar in Russland
Menschenrechtler, die sich auch gemeldet haben. Ich
glaube aber nicht, dass Medwedew, Putin oder andere
dies tun.

Lassen Sie mich als Letztes noch einmal diese etwas
groteske Geschichte aufgreifen, dass Polen und Deutsch-
land diejenigen sind, die offensichtlich die Kalaschnikows
wieder unter dem Bett hervorgeholt haben und die diese
Umstürze versucht haben zu provozieren. Das ist bereits
dreimal wiederholt worden. Allmählich wird es schon
ein bisschen merkwürdig. Wenn man etwas drei Mal
wiederholt, dann meint man es offensichtlich ernst. Ich
denke, dagegen müssen wir angehen.

Sjuganow hat gesagt, Lukaschenko habe richtig ge-
handelt, weil er sich rechtzeitig gegen die Tendenzen der
Aufständischen gewehrt habe. Sonst wäre nämlich das-
selbe passiert wie in Jugoslawien, wie in Georgien oder
wie in Moldova, dass dann nämlich der Sturz der Regie-
rung geklappt hätte.

Ich denke, genau das ist die Paranoia, die dort
herrscht. Deshalb wird es umso notwendiger sein, dass
wir eine sehr gradlinige Stellungnahme entwickeln und
trotzdem die Hand an der richtigen Stelle ausstrecken
und mehr tun, liebe Freunde, als wir bisher getan haben,
was Stipendien und was Visa betrifft. Darum bitte ich
sehr.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN – Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Die ausgestreckte Hand für die Bevölkerung!)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708423900

Das Wort hat der Kollege Karl-Georg Wellmann von

der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Karl-Georg Wellmann (CDU):
Rede ID: ID1708424000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben

in Minsk im Dezember eklatante Menschenrechtsverlet-
zungen gesehen. Das, was wir an polizeilicher Gewalt
und Brutalität gesehen haben, hat alles, was wir bisher
dort wahrgenommen haben, in den Schatten gestellt.

Wir verlangen – ich glaube, in der großen Mehrheit
dieses Hauses – gemeinsam mit der zivilisierten Staaten-
gemeinschaft erstens die sofortige Freilassung der politi-
schen Gefangenen und zweitens deren Zugang zu medi-
zinischer Versorgung und zu anwaltlicher Betreuung.
Der OSZE-Gipfel in Astana ist keine zwei Monate her.
Lukaschenko hat persönlich teilgenommen. Ich darf Ih-
nen einmal vorlesen, was in der Resolution steht, die er
unterschrieben hat:

Wir unterstreichen, dass nur ein echter politischer
Dialog in Belarus den Weg zu freien und demokra-
tischen Wahlen ebnen kann, die ihrerseits die
Grundlage für die Entwicklung einer echten Demo-
kratie sind.

Das hat er unterschrieben. Einen Dreck schert er sich da-
rum und lässt die Demonstranten niederknüppeln.

Wegen dieser Verhaltensweise, weil er 14 Tage vor
den Wahlen diese OSZE-Resolution unterschrieben hat,
hat er im Augenblick jegliches Vertrauen zerstört. Kei-
ner will mit ihm im Moment reden. Das System in Weiß-
russland ist unvereinbar mit den Anforderungen der
modernen Welt. Ohne Flexibilität, ohne freien Informa-
tionsfluss, ohne Beteiligung der Bürger an den Entschei-
dungen fehlen diesem Land und diesem System die ent-
scheidenden Voraussetzungen für eine Entwicklung.

Viele von uns, auch die Bundesregierung, auch die
Europäische Union haben in den letzten Jahren den Ver-
such unternommen, Weißrussland in die europäische
Normalität zu begleiten. Auch viele, die hier sitzen, ha-
ben sich daran beteiligt. Es bleibt richtig, dass noch im
November der Chef des Kanzleramts, Roland Pofalla,
und der Außenminister, Guido Westerwelle, dort waren
und mit ihm geredet haben. Sie sind von Lukaschenko
desavouiert worden. Aber es ist richtig, dass dieser Ver-
such unternommen wurde. Es wird auch künftig – da hat
Herr Link recht – Gesprächskanäle geben müssen.

Die EU-Außenminister werden in drei Tagen Sanktio-
nen gegen Weißrussland beschließen. Das ist richtig und
wird, glaube ich, von einer breiten Mehrheit in diesem
Hause unterstützt. Aber mit diesen Sanktionen dürfen
wir nicht – das will ich ganz deutlich sagen – die Bevöl-
kerung und vor allem nicht die junge Generation bestra-
fen. Wir dürfen sie nicht aussperren. In Diskussionen in
Minsk wurde uns immer wieder mitgeteilt: Wenn wir de-
nen sagen: „Ihr seid hier eingesperrt“, dann entgegnet
man: Nein, ihr sperrt uns aus.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Vergessen wir bitte nicht, dass die demokratischen
Parteien in diesem Haus von alters her für Freizügigkeit
eingetreten sind, nicht nur für die Menschen in der DDR,
vor dem Mauerfall auch für die Menschen in Polen, in
den baltischen Ländern, in Russland, in Weißrussland, in
der ganzen früheren Sowjetunion. Dies dürfen wir nicht
vergessen. Die Europäische Union gehört zum freien
Teil Europas. Sie ist die Hoffnung für viele, die außer-
halb leben; wir merken das immer wieder, wenn wir au-
ßerhalb der Europäischen Union reisen. Wir müssen uns
öffnen für die Verzweifelten in Weißrussland, für die, die
jetzt ihren Studienplatz verloren haben und die verfolgt
werden, eingesperrt werden oder zum Militär einge-
zogen werden, weil sie ihre politische Meinung gesagt
haben.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir sollten alle darauf dringen, das Visaregime zu er-
leichtern. Wir sollten leichten Zugang, zu uns zu kom-
men, insbesondere für die junge Generation schaffen, für
Studenten, für Schüler, für Wissenschaftler.


(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Jawohl!)


Außerdem sollten wir dafür sorgen, dass wir hinreichend
Studienplätze und auch Stipendien schaffen, damit diese
Leute hier ein Auskommen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Man bedenke neben dem humanitären Aspekt auch,
dass es sich in aller Regel in Weißrussland um hervorra-
gend qualifizierte Personen handelt, gerade in den tech-
nisch-naturwissenschaftlichen Bereichen. In der Welt
von heute habe ich folgende Überschrift entdeckt:
„Brüderle: Fachkräfte verzweifelt gesucht“. Das ist für
diejenigen, die wir noch überzeugen müssen, ebenfalls
ein Aspekt: dass gute Leute kommen.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei der eigenen Fraktion anfangen, auch bei dieser Frage!)


– Herr Altsenator Wieland, es gibt immer noch einige
bei uns – ich weiß das –, die befürchten –


(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Recht hat er!)


– nun hören Sie doch erst einmal zu –, dass Europa von
Wellen von Schwerstkriminellen und Prostituierten
überschwemmt wird, wenn wir eine Visa-Erleichterung
vornehmen.


(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer suggeriert das denn? Ich erinnere nur an die Visaaffäre!)






Karl-Georg Wellmann


(A) (C)



(D)(B)

Ich darf hier einmal sagen: Diese Kriminellen kommen
sowieso zu uns; sie finden ohnehin Wege zu uns, wie
auch immer.


(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hätte man gerne mal vor ein paar Jahren gehört!)


– Frau Müller, wir haben doch Konsens. Wir müssen uns
an dieser Stelle doch nicht streiten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber wir haben auch unsere Erfahrungen gemacht!)


Ich spreche doch ganz in Ihrem Sinne. Keine Reflexe! –
Die Frage der Kriminalitätsbekämpfung – wie halten wir
Kriminelle draußen? – darf uns nicht davon abhalten,
diejenigen hereinzulassen, die wir hier haben wollen.

Lieber Herr Staatsminister Hoyer, fühlen Sie sich
doch bitte durch die Stimmung in diesem Plenum ermu-
tigt. Helfen Sie dem Kabinett über die Hürde, was Visa-
erleichterungen angeht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir als Parlamentarier auch!)


Lassen Sie uns die Tür etwas weiter aufmachen. Das ist
gut für uns und gut für die Menschen in Osteuropa.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708424100

Das Wort hat der Kollege Stefan Liebich von der

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN – Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Jetzt sind wir gespannt!)



Stefan Liebich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708424200

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren!

Herr Link, Frau Zapf, Herr Wellmann, wir sind uns in
den allermeisten Fragen einig. Herr Wellmann hat ge-
rade über Konsens und Reflexe gesprochen. Weil wir
uns in den allermeisten Fragen einig sind, gehe ich da-
von aus, dass wir jetzt auch umgehend in die Gespräche
einbezogen werden. Wir würden uns gerne daran beteili-
gen. Sie werden doch bei einem so ernsten Thema hier
nicht mit den Albernheiten der Vergangenheit weiterma-
chen wollen. Ich denke, es ist wichtig, dass es ein ge-
meinsames Signal des Hauses gibt. Wir möchten an die-
sem Signal gerne mitwirken.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf des Abg. Karl-Georg Wellmann [CDU/CSU])


Die Ereignisse nach den Präsidentschaftswahlen in
Belarus werfen ein bezeichnendes Licht auf Präsident
Lukaschenko. Es gibt ein Klima der Angst in Minsk und
im Land. Es gibt ein gewaltsames Vorgehen gegen De-
monstranten. Unmittelbar nach der Wahl erfolgte die
Verhaftung mehrerer Präsidentschaftskandidaten. Es gab
eine Verhaftungswelle, die über 700 Menschen betraf.
Das ist nicht zu akzeptieren. Damit nicht genug: Studen-
ten und Dozenten, die protestieren, fliegen von der Uni.
Das Büro der OSZE musste schließen, obwohl Belarus
Mitglied der OSZE ist.

Frau Zapf, ich kann Ihnen nur recht geben: Der Vor-
wurf von Lukaschenko, in Minsk seien polnische und
deutsche Spezialeinheiten an einer Umsturzvorbereitung
beteiligt, ist an Absurdität einfach nicht zu überbieten.
Unsere Partnerpartei in der Europäischen Linkspartei,
die United Party of the Left in Belarus, ist, was das Vor-
gehen gegen die Opposition angeht, Betroffene. Unser
Parteivorsitzender Lothar Bisky hat mit deren Vertretern
gerade vor einigen Tagen über das repressive Vorgehen
der Regierung gegen die Demonstranten gesprochen.
Diese Partei fordert selbstverständlich harte Sanktionen
und bezweifelt die Wahlergebnisse. Ich sage das auch
deshalb, weil entgegen anderslautenden Gerüchten un-
sere Partei, Die Linke, mit den Leuten, die dort regieren,
nichts zu tun hat und auch nichts zu tun haben will.


(Beifall bei der LINKEN – Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut!)


Für uns ist klar: Eine freie Meinungsäußerung muss
möglich sein, Wahlen müssen frei und fair sein, und das
Ergebnis ist – und zwar sowohl vom Westen, wenn der
Wahlsieger Lukaschenko hieße, als auch von den bishe-
rigen Machthabern, wenn ein alternativer Kandidat ge-
winnen würde – zu akzeptieren.

Die Charta von Paris, die im Jahr 1990 – auch mit
Belarus – beschlossen wurde, hält fest:

… niemand darf: willkürlich festgenommen oder in
Haft gehalten werden, der Folter oder anderer grau-
samer, unmenschlicher oder erniedrigender Be-
handlung oder Strafe unterworfen werden; jeder hat
auch das Recht: seine Rechte zu kennen und auszu-
üben, an freien und gerechten Wahlen teilzuneh-
men, auf ein gerechtes und öffentliches Verfahren,
wenn er einer strafbaren Handlung beschuldigt
wird …

Diese Prinzipien der OSZE wurden von Belarus un-
terschrieben und gerade erneut von Lukaschenko bekräf-
tigt. Frau Zapf hat darauf hingewiesen. Wir dürfen natür-
lich nicht hinnehmen, dass diese Rechte mit Füßen
getreten werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Das Ganze ist besonders tragisch; denn – darauf
wurde hingewiesen – es gab ja klitzekleine Verbesserun-
gen. Es gab winzige demokratische Standards. Und jetzt
sind wir so weit zurückgeworfen worden. Nun gibt es
natürlich die Frage, wie Deutschland reagieren soll. Das
kann selbstverständlich nur im Verbund mit der Europäi-
schen Union geschehen. Hier ist eine gemeinsame, deut-
liche Sprache erforderlich. Auch sollte es keine doppel-
ten Standards geben.





Stefan Liebich


(A) (C)



(D)(B)

Meinen Vorrednern muss ich schon sagen – sie er-
wähnten kurz Astana; dabei muss ich verweilen –: Auch
in Astana wird regiert. Der Staatschef von Kasachstan,
Nursultan Nasarbajew, hat in den Häusern seines Parla-
ments nur Abgeordnete einer Partei, seiner eigenen Partei.
Die Wahlen, die dazu geführt haben, haben nicht den
Standards entsprochen, die die OSZE für Wahlen vorsieht.
Gibt es eine Einreisesperre gegen Herrn Nasarbajew? Im
Gegenteil: Kürzlich haben sich 56 Staats- und Regie-
rungschefs in Astana bei ihm die Klinke in die Hand ge-
geben, um den ungefähr überflüssigsten OSZE-Gipfel
durchzuführen, den es je gegeben hat. Auf weitere Bei-
spiele will ich nicht hinweisen, die kennen Sie ja alle sel-
ber.

Mir scheint es wichtig zu sein, dass wir in Belarus den
Dialog mit der Zivilgesellschaft weiter ermöglichen,
dass es eine zügige Visaliberalisierung gibt. Ja, ich bin
skeptisch bei Sanktionen. Da bin ich nicht der Einzige.
Diese Diskussion gibt es auch im Europäischen Parla-
ment und hier im Hause. Ich teile die Sorge von Herrn
Wellmann, dass diese Sanktionen die Falschen treffen.

Aber ganz klar ist: Die Linke tritt für demokratische
und Freiheitsrechte ein. Wir fordern die sofortige Frei-
lassung von politisch motiviert Inhaftierten. Das Büro
der OSZE in Minsk muss wieder eröffnet werden. Das
Land darf nicht isoliert werden; im Gegenteil: Der Dia-
log mit der Zivilgesellschaft muss verstärkt werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Lassen Sie mich mit der Charta von Paris schließen:

Wir bekräftigen,

jeder Einzelne hat ohne Unterschied das Recht auf:
Gedanken-, Gewissens- und Religions- oder Glau-
bensfreiheit, freie Meinungsäußerung, Vereinigung
und friedliche Versammlung …

Dem haben wir nichts hinzuzufügen.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708424300

Das Wort hat jetzt die Kollegin Marieluise Beck von

Bündnis 90/Die Grünen.

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es
besteht Fassungslosigkeit über die ungehemmte Gewalt
und Brutalität in Minsk. Das scheint uns alle zu überra-
schen. Das fällt aber auf uns zurück, nämlich auf unser
kurzes Gedächtnis. Dieser dicke Bericht, den ich mitge-
bracht habe, ist eine Untersuchung mit dem Titel
„Willkür im Lukaschenko-Staat“. Es geht um vier Men-
schen – ich möchte auch die Namen noch einmal nen-
nen, damit sie nicht vergessen werden: Juri Sacharenko,
Viktor Gontschar, Anatoli Krasowski und Dimitri
Sawatzki –, die in den Jahren 1999 und 2000 verschwun-
den sind, in Minsk, zu einer Zeit, als die OSZE vor Ort
war und mit vielen diplomatischen Gesprächen und Ini-
tiativen versuchte, das Regime zu begleiten und auch zu
verändern. Der Berichterstatter des Europarats, Christos
Pourgourides, hat in seinem Sonderbericht mit der Aus-
sage geendet, dass er starke Anhaltspunkte dafür fand,
dass die Personen offenbar auf Weisung und mit Billi-
gung von Verantwortlichen der Staatsführung in Belarus
verschwanden und möglicherweise getötet wurden.

Das ist nicht Chile, und das ist nicht Argentinien, son-
dern das ist Minsk 1999 und 2000. Das heißt, wir haben
genau gewusst oder wir konnten wissen, mit wem wir es
zu tun haben.

Nun kann man sagen: Gut, es ist legitim, dann, wenn
man mit einer Politik der Isolation nicht weiterkommt,
im Interesse der Menschen im Land eine andere Strate-
gie zu versuchen. – Da sind zu nennen die erneuten Ini-
tiativen der OSZE und die Politik der östlichen Partner-
schaft. Trotzdem haben wir uns 2006 geirrt, als wir
sagten: „Es gibt Fortschritte“, während Kasulin, einer
der beiden Präsidentschaftskandidaten, zu fünf Jahren
verurteilt worden ist.

Heute müssen wir uns darüber klar sein, dass wir uns
in einem Wettlauf mit der Zeit befinden. Herr Kasulin,
der in der vergangenen Woche hier in Berlin gewesen ist,
hat uns gesagt: Ein KGB-Gefängnis kann man kaum
physisch oder psychisch überleben. Das heißt, wir arbei-
ten gegen die Zeit. Die Menschen, zu denen niemand
Zugang hat – nicht das Internationale Rote Kreuz, keine
OSZE-Beobachter, keine medizinischen Betreuer, keine
Anwälte, keine Verwandten –, sind in großer Lebensge-
fahr. Das müssen wir hier noch einmal deutlich sagen.
Verantwortlich ist ein Diktator, der offensichtlich durch
nichts, aber auch gar nichts zu beeinflussen ist. Er kann
für uns kein Partner mehr sein.


(Beifall im ganzen Hause)


Es stellen sich auch Fragen an Russland. Während der
Wahlkampagne, die wir als politischen Frühling gesehen
haben und sehen wollten, gab es eine massive Medien-
kampagne gegen Lukaschenko, eine Schmutzkampagne.
Es wurden Kandidaten in Moskau empfangen und von
Moskauer Seite auch massiv unterstützt, unterstützt da-
bei, gegen den Präsidenten Lukaschenko anzutreten.
Zehn Tage vor der Wahl reist Lukaschenko nach Mos-
kau. Er unterschreibt 17 Verträge. Daraufhin erklärt
Putin, dieser Staatsmann, der vorher in übelster Weise
denunziert worden war, sei durchaus respektabel.

Ich frage, ob in Russland, einem Land, das Mitglied
des Europarats ist, sich eigentlich jemand für die Kandi-
daten verantwortlich fühlt, die von dort unterstützt wur-
den und jetzt in einer KGB-Haft sitzen, die an die Lub-
janka erinnert. Wir müssen die Regierenden und unsere
Partner in Russland das sehr deutlich fragen. Es ist nicht
so, dass ich da Illusionen hätte, aber wir dürfen sie nicht
aus der Verantwortung entlassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)






Marieluise Beck (Bremen)



(A) (C)



(D)(B)

Nun kurz zu dem, was wir tun können. Ich hätte mir
vorstellen können – und da hätte es nicht um Gesichts-
verlust gehen dürfen –, dass eine Außenministerin
Ashton oder die Außenminister Polens und Deutsch-
lands im Rahmen einer gemeinsamen Initiative in Minsk
vorstellig geworden wären und die sofortige Entlassung
der Häftlinge verlangt hätten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich teile die Einschätzung von Staatsminister Hoyer,
dass es um die Isolation des Regimes, aber nicht um die
der Menschen im Land geht. Darin sind wir uns alle ei-
nig.

Es gibt noch eines, was wir tun können, nämlich
wirklich Reisefreiheit herzustellen. Als Honecker die
Menschen eingesperrt hat, haben wir uns nicht mit Visa-
erleichterungen und niedrigeren Gebühren für diesen
oder jenen zufriedengegeben. Ich verweise in diesem
Zusammenhang auch auf unsere gemeinsamen Anträge
aus diesem Haus von vor drei Jahren.

Es geht um die Herstellung von Reisefreiheit. Schaf-
fen wir dies nicht, helfen wir dem Diktator dabei, seine
Leute einzusperren. Das kann nicht die Botschaft sein,
die wir den Menschen geben. Wir wollen ihnen vielmehr
sagen: Für euch, für die Bevölkerung sind die Türen in
den freien Westen offen. Wir warten auf euch und wer-
den alles tun, damit ihr eines Tages wieder in Freiheit
mit uns verbunden seid.

Schönen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708424400

Jetzt hat der Kollege Philipp Mißfelder von der CDU/

CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1708424500

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Nach der engagierten Rede von Kollegin
Beck und auch nach den Initiativen, die sie und unser
Kanzleramtsminister Ronald Pofalla in den vergangenen
Wochen ergriffen haben, muss ich daran erinnern, dass
dies heute kein Schlusspunkt unserer Aktivitäten sein
kann. Wir sollten auch nicht einfach abwarten, was der
Europäische Rat – hoffentlich – in den nächsten Tagen
beschließen wird. Vielmehr muss es sich heute um einen
Beitrag handeln, der aufzeigt, was folgen muss.


(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Gefahr ist natürlich, dass das Kalkül von
Lukaschenko aufgeht, dass die prominenten Kritiker
sukzessive in Vergessenheit geraten, wenn sie einge-
sperrt sind. Deshalb ist jegliche Initiative von uns Parla-
mentariern und auch von der Regierung, die dann hof-
fentlich auf europäischer Ebene fortgesetzt wird,
hilfreich, um das Thema im Bewusstsein der Menschen
zu halten.

Ich bin auch dafür – Sie wissen, dass das an anderer
Stelle schwieriger ist; da spreche ich auch für die Außen-
politiker unserer Fraktion –, dass wir das Thema Visa-
regelung auf die Tagesordnung setzen und damit deut-
lich machen, dass das leuchtende Bild des Westens, das
von Freiheit und Meinungsfreiheit geprägt ist, auch für
diejenigen erfahrbar ist, die sich jetzt in dieser schwieri-
gen Situation befinden.


(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Diese Debatte gehen wir engagiert an und wollen ent-
sprechende Maßnahmen so schnell wie möglich auf den
Weg bringen.

Alles, was möglich ist, um die demokratische Opposi-
tion zu unterstützen, tun wir. Wir führen entsprechende
bilaterale Gespräche. Der frühere Präsidentschaftskandi-
dat Milinkewitsch war vergangene Woche bei Kanzler-
amtsminister Ronald Pofalla. Er hat uns eindringlich ge-
beten, unsere Aktivitäten fortzusetzen. Das wollen wir
auch tun.

Wir waren in den vergangenen Monaten sicherlich
nicht blauäugig, was Lukaschenko angeht. Angesichts
der Berichte aus Minsk und seiner Äußerungen hatte
man, obwohl man etwas anderes hoffte, den Verdacht im
Hinterkopf, dass sein Handeln nur Show ist. Am Ende
war es so. Er hat die Weltöffentlichkeit getäuscht. Insbe-
sondere in Astana – Kollege Wellmann, Sie haben es an-
gedeutet, Sie waren dabei – hat er versucht, die Welt-
öffentlichkeit hinters Licht zu führen. Deshalb müssen
sich die OSZE und diejenigen, die sich mit dieser Re-
gion verbunden fühlen – dazu gehört in erster Linie
Russland –, dazu verpflichten, mit uns gemeinsam jetzt
mehr Druck zu machen.

Sosehr ich es begrüße, dass es in der Europäischen
Union gelungen ist – anders als es noch vor einigen Jah-
ren der Fall war –, Sanktionen auf den Weg zu bringen
und beispielsweise den italienischen Ministerpräsidenten
davon zu überzeugen, dass es richtig ist, eine härtere
Gangart einzuschlagen, bin ich doch gleichzeitig der
Meinung, dass man unter bestimmten Bedingungen die
Sanktionen noch weiter verschärfen sollte. Zumindest
sollte man darüber diskutieren.

Ich glaube nicht, dass es der richtige Weg ist, die
Wirtschaftsbeziehungen so fortzusetzen, wie es momen-
tan der Fall ist.


(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich teile zwar die Sorge, dass Sanktionen eventuell zu ei-
ner Solidarisierung mit Lukaschenko führen könnten.
Andererseits sagen unsere Analysen über Weißrussland
aus, dass der Hebel von harten Wirtschaftssanktionen
unter Umständen helfen kann, dieser Regierung das
Rückgrat zu brechen. Denn in der Tat ist es doch so, dass
so viele in Weißrussland raffinierte Produkte in der west-
lichen Welt und auch in Russland gekauft werden, dass





Philipp Mißfelder


(A) (C)



(D)(B)

man ernsthaftere Wirtschaftssanktionen bis hin zu einem
gänzlichen Einfrieren jeglicher Wirtschaftsbeziehungen
diskutieren sollte, zumindest bis zur Erfüllung der Be-
dingung, dass die Präsidentschaftskandidaten freigelas-
sen werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Dauerhafte Sanktionen würden natürlich auch die Be-
völkerung treffen. Das will ich natürlich auch nicht, weil
sonst die Wohlstandsentwicklung des Landes gefährdet
werden könnte. Aber wir müssen eben – Marieluise
Beck hat es eindringlich gesagt – alle Register ziehen
und alle öffentlichen und diplomatischen Möglichkeiten
nutzen, um dort aktiv zu sein, weil die Zeit wegläuft.

Es gibt einen qualitativen Unterschied zum früheren
Vorgehen von Lukaschenko, denn er hat eine Zeit lang
versucht, unliebsame Gegner wegzusperren, die dann
aber auch wieder freigelassen wurden. Aber nach alle-
dem, was wir heute wissen, geht es heute nicht mehr um
einfaches Wegsperren, sondern darum, die Menschen
wirklich zu brechen und für immer von der politischen
Bildfläche verschwinden zu lassen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708424600

Herr Kollege Mißfelder, erlauben Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Liebich von den Linken?


Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1708424700

Ja bitte, natürlich.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708424800

Bitte.


Stefan Liebich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708424900

Herr Kollege Mißfelder, vielen Dank. Ich möchte auf

die Frage der Sanktionen zu sprechen kommen.


(Karl-Georg Wellmann [CDU/CSU]: Frage stellen!)


Ich kann nachvollziehen, dass es den Wunsch gibt, mit
möglichst harten Maßnahmen zu reagieren. Ihr Kollege
Wellmann hat die Sorge formuliert, wie auch Sie, dass es
unter Umständen dann auch diejenigen treffen könnte,
die es – auch aus Ihrer Sicht – nicht treffen soll. Was
sagen Sie zu dem Argument, dass, wenn wir harte Sank-
tionen beschließen, wir einfach nur einen Beitrag dazu
leisten, dass die Entscheidungen in Moskau getroffen
werden und immer weniger hier? Es ist ja jetzt schon so,
dass sich die Frage nach IWF-Krediten dadurch erledi-
gen könnte, dass sich Russland entscheidet, Belarus zu
helfen. Es klingt erst einmal gut, zu sagen, wir beschlie-
ßen harte Sanktionen. Aber praktisch führt es dazu, dass
wir in einem noch geringeren Maße Ansprechpartner
sind, als wir es ohnehin schon sind.


Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1708425000

Sie kennen ja meine grundsätzlich eher russland-

freundliche Haltung. Gerade deshalb, weil ich an vielen
Stellen mit russischen Politikern vertrauensvoll zusam-
menarbeite und zahlreiche Gespräche geführt habe, gehe
ich davon aus, dass es auch dieser russischen Regierung
nicht egal sein kann, was gerade vor ihrer Haustür pas-
siert. Selbst wenn man unterschiedliche Vorstellungen
davon haben mag, zu welchem Ergebnis man in Weiß-
russland kommen möchte, hat Lukaschenko aus meiner
Sicht – auch was die russischen Partner angeht – jegli-
chen Kredit verspielt. Wenn die Entscheidung in Moskau
liegt, müssen wir dafür sorgen, dass wir gemeinsam mit
Moskau den Druck erhöhen. Ich erwarte von dieser De-
batte heute, dass als Signal nach Moskau und an die rus-
sischen Vertreter in Deutschland geht, dass wir uns na-
türlich von unseren russischen Partnern erhoffen, dass
sie bei diesen Aktivitäten mitmachen, damit
Lukaschenko das Handwerk gelegt wird. Ich glaube,
dass an dieser Stelle Ihre Frage beantwortet ist.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708425100

Herr Kollege Mißfelder, auch die Kollegin Beck

möchte gerne eine Frage stellen. – Bitte schön.

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):

Ich muss jetzt zu dem Trick 17 greifen: Herr Kollege
Mißfelder, sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, dass
ich dem Kollegen Liebich sagen möchte, –


(Heiterkeit – Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das können Sie mir doch direkt sagen!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708425200

Aber nicht in dieser Debatte, weil diese Rundumdis-

kussionen nicht möglich sind.

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):

– dass wir bei der Konstruktion eines IWF-Kredites in
der Aufstellung einen Anteil von 270 Millionen Euro
eingestellt haben, der aus dem Haushalt der Europäi-
schen Union kommt, und dass dieses Geld dann in ein
Land fließt, in dem es kein Parlament gibt, und dass es in
die Hände einer Regierung fällt, über die es keine parla-
mentarische Kontrolle gibt, also mittelbar mit diesen
IWF-Geldern und mit dem EU-Budget der Polizeiappa-
rat und der Polizeiterror finanziert werden könnten, mit
dem die Menschen zusammengeknüppelt werden?


Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1708425300

Ja, ich bin gerne bereit, das auch dem Herrn Kollegen

Liebich zur Kenntnis zu geben.


(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Habe ich doch schon gehört!)


Er hat es jetzt aber nicht überhören können. Ich halte es
für einen wichtigen Hinweis, den Sie gerade gegeben ha-
ben, weil natürlich in der Tat die bisherige Strategie war,
dass er sich trotz Sanktionsmöglichkeiten so durchlavie-
ren konnte, weil er irgendwie doch noch einen Ausweg
gefunden hat. Solange sein Regime und die Finanzie-
rung dessen so hält, hat er das geschafft. Weißrussland





Philipp Mißfelder


(A) (C)



(D)(B)

ist ja kein per se armes Land. Er hat es geschafft, sich
dort geschickt an der Macht zu halten.

Ich möchte zum Abschluss vier Forderungen aufstel-
len, die uns wichtig sind.

Erstens. Kurzfristig muss unser Ziel sein, dass die
politischen Gefangenen freigelassen werden. Deshalb
setzen sich die Bundesregierung und auch der Deutsche
Bundestag mit Nachdruck dafür ein.

Zweitens fordere auch ich ein Einreiseverbot für Prä-
sident Lukaschenko und seine regimetreuen Freunde und
zugleich Visaerleichterungen für all diejenigen, die ge-
gen ihn arbeiten und damit die Demokratie stärken.

Drittens fordern wir die Bundesregierung auf, für die
Freilassung der politischen Gefangenen und für die wei-
tere Unterstützung oppositioneller Gruppen und rechts-
staatlicher Gruppierungen, zum Beispiel NGOs, in
Weißrussland selbst zu werben.

Viertens können wir die Probleme in Belarus nur
dann lösen, wenn wir tatsächlich – ich habe es gerade
schon angedeutet – die Visabeschränkung auch generell
neu definieren, weil nur Reisefreiheit, Austausch, lang-
jährige persönliche Kontakte und Erfahrungen dazu füh-
ren können, dass Vertrauen wächst und wir eine Anbin-
dung an die Europäische Union hinbekommen, um dem
letzten Diktator in Europa das Handwerk zu legen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708425400

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

jetzt der Kollege Jürgen Klimke von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Jürgen Klimke (CDU):
Rede ID: ID1708425500

Herr Präsident! Meine Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Im Dezember hatte ich zu-
sammen mit dem Kollegen Schirmbeck die Gelegenheit,
als offizieller Wahlbeobachter der OSZE in Minsk, in
der letzten Diktatur Europas, dabei zu sein und den Vor-
kommnissen bei der Wahl beizuwohnen. Dabei ist uns
vor Augen geführt worden, wie effektiv eine Diktatur
Einfluss auf eine Wahlentscheidung nehmen und dies
auch organisieren kann.


(Abg. Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Zu unserer Beobachtungsmission gehörte auch eine
kurze Diskussion mit dem Präsidenten Lukaschenko, in
der wir unsere Vorstellungen von einer funktionierenden
Demokratie deutlich machen konnten. Interessanter-
weise nahm Lukaschenko dies stillschweigend zur
Kenntnis. Er ging in seinem nachfolgendem Statement
nicht auf unsere Argumente ein. Im Gegenteil, er er-
zählte uns, wie man es von einem guten Diktator erwar-
ten kann, wie erfolgreich das Land unter seiner Führung
ist, welche Wege er in Zukunft einschlagen will und dass
er alternativlos sei.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708425600

Herr Kollege Klimke, die Frau Kollegin Beck würde

gerne eine Zwischenfrage stellen.


Jürgen Klimke (CDU):
Rede ID: ID1708425700

Gerne.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708425800

Bitte.

Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN):

Herr Kollege Klimke, ich halte diesen Punkt für nicht
ganz unwichtig und bitte Sie, mir bei der Aufklärung
dieses Besuchs im Wahllokal mit Lukaschenko Nach-
hilfe zu leisten. Sind Sie bereit, das zu tun?

Nach den Gerüchten und meinen Informationen hatte
der Kollege Schirmbeck ein Kuscheltier für das Söhn-
chen von Herrn Lukaschenko dabei und gab später ein
Interview, in dem er sagte, dass man hier sehen könne,
dass diese Wahlen nach den Vorgaben der OSZE ablau-
fen würden. Wir alle waren über diese Stellungnahme
ziemlich entsetzt. Sie stellen das jetzt vollkommen an-
ders dar. Ich glaube, es ist wichtig, dass dieses Parlament
weiß, was in diesem Wahllokal wirklich passiert ist.


Jürgen Klimke (CDU):
Rede ID: ID1708425900

Frau Kollegin, ich gebe meinen ganz persönlichen

Eindruck von vier Tagen wieder, in denen wir zunächst
von der OSZE in die Voruntersuchungen eingeführt wur-
den. Es ist sodann ein Eindruck vom Wahltag selbst, den
wir in zwölf Wahllokalen verbracht haben, und es ist
auch bei der Auszählung der Stimmen ein Eindruck ent-
standen. Das alles ist ein sehr ambivalenter Eindruck,
weil uns an diesen Tagen vorgeführt wurde, wie man et-
was organisieren kann und wie man versuchen kann,
vorzuführen, dass man demokratisch ist, ohne es tatsäch-
lich zu sein. Das ist, glaube ich, das Entscheidende.


(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sehr gut! – Uta Zapf [SPD]: Was war das mit dem Kuscheltier?)


Dieser Versuch ist misslungen; das kann ich eindeutig
sagen. Aber es ist immerhin ein Versuch, den man auch
zur Kenntnis nehmen muss.

Man muss auch die ernüchternden Gespräche zur
Kenntnis nehmen, die wir in Einzelterminen mit ver-
schiedenen Oppositionskandidaten hatten. Dabei ist die
Scheindemokratie auch wieder deutlich geworden. Die-
sen Kandidaten sind 30 Minuten im Fernsehen zur Ver-
fügung gestellt worden, in denen sie ihre politischen
Grundlagen darstellen konnten. Aber 90 Prozent der
politischen Fernsehsendungen wurden von Lukaschenko
bestimmt; das ist die andere Seite. Während von jedem
Kandidaten 100 000 Unterstützerunterschriften mühsam
herbeigebracht werden mussten, wurden die 1,1 Millio-
nen, die Lukaschenko bekommen hat, natürlich in den





Jürgen Klimke


(A) (C)



(D)(B)

öffentlichen Unternehmen und den Behörden unter Aus-
übung von Druck gesammelt. Die Menschen wurden ge-
nötigt, zu unterschreiben. Das ist doch das Entschei-
dende.

Frau Kollegin Beck, am Wahltag selbst sollte uns vor-
geführt werden, wie Wahlen frei und fair ablaufen kön-
nen. Wir hatten freien Zugang. Wir konnten mit Wählern
und Wahlhelfern sprechen und an der Auszählung teil-
nehmen. Aber das war eben nur eine Fassade. Wir konn-
ten auch hinter die Fassade schauen. Wir haben festge-
stellt, dass Wahlurnen nicht bewacht wurden. Uns kam
zu Ohren, dass Kandidaten mit Zwang eingeschüchtert
wurden, dass Wähler genötigt wurden, das Kreuz bei Lu-
kaschenko und nirgendwo anders zu machen.

Man hatte in der kurzen Zeit eine gute Chance, die
tatsächliche Situation zu analysieren. Das hat mir noch
einmal deutlich gemacht, wie wichtig die Aufgabe der
OSZE ist, Wahlbeobachtungen durchzuführen und ent-
sprechende Rückschlüsse zu ziehen. Wir haben nur ein
Sechstel eines Eisberges gesehen; er wurde uns schön
vorgeführt. Wir haben aber auch die anderen, die gefähr-
lichen, negativen fünf Sechstel unter Wasser erahnen
können. Das ist bei solch einem kurzen Besuch das Ent-
scheidende.

Ich unterstütze ausdrücklich das Außenministerium,
das auf Grundlage der Erkenntnisse die richtigen Ideen
für den mittelfristigen Umgang mit der Situation in Bela-
rus entwickelt hat. Für mich ist es wichtig, dass wir die
Isolierung der Verantwortlichen vorantreiben. Die Isolie-
rung der Bürger Weißrusslands ist aus meiner Sicht nicht
der richtige Weg. Die Menschen in Weißrussland sind
Bürger Europas. Aus diesem Grund ist es nicht richtig,
die Tür endgültig zuzuschlagen. Unser Plan muss sein
– es wurde hier gesagt –, die Opposition zu stärken, ihre
Schlagkraft einzufordern und vor allen Dingen sicherzu-
stellen, dass die neun Oppositionskandidaten vereinter
auftreten. Wir müssen Universitätspartnerschaften aufle-
gen, den Studenten und der Jugend des Landes neue
Chancen in Europa eröffnen, damit sie Europa besser
kennenlernen können. Zudem müssen wir das Regime
für die verhängten Strafen sanktionieren; das ist der rich-
tige Weg. Ich nenne das Stichwort Visa; auch so etwas
gehört aus meiner Sicht dazu.

Zugleich ist es mir wichtig, noch einmal zu sagen,
dass umfassende, langfristige Sanktionen aus meiner
Sicht nicht richtig sind, weil dadurch das diplomatische
Porzellan eher endgültig zerschlagen würde und wir kei-
nen Einfluss mehr nehmen könnten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Als Entwicklungspolitiker weiß ich, wie es ist, mit Staa-
ten umzugehen, die eine schlechte Regierungsführung
haben. Die grundlegende Erfahrung, die man sammeln
konnte, war: Mit Sanktionen kann man nur einen kurz-
fristigen Erfolg haben; mit einem Boykott kann man nur
kurzfristig etwas bewegen. Langfristig macht man damit
aber die Chancen der Menschen in dem Lande kaputt,
und genau das sollten wir in Weißrussland nicht tun.

Wir sollten also den Fuß in der Tür behalten. Wir ha-
ben die Möglichkeit, dies mit Initiativen des Bundesta-
ges, die hier besprochen worden sind, kurzfristig zu er-
reichen. Ich halte es für völlig richtig, eine Strategie, ein
Konzept zu entwickeln, das klar definierte Fortschritte
bei der Durchsetzung der Menschenrechte, der Demo-
kratisierung und der Einbindung in die westliche Sicher-
heitsarchitektur als prioritär ansieht. In gleichem Maße
geht es darum, ein Konzept zu entwickeln, das es
Deutschland und der EU erlaubt, langfristig aus unseren
östlichen Nachbarn befreundete strategische Partner zu
machen.

Danke sehr.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1708426000

Ich schließe die Aussprache.

Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 7 auf:

Vereinbarte Debatte

Arbeitsprogramm der Europäischen Kommis-
sion für das Jahr 2011

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist
das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Staatsminister im Auswärtigen Amt, Dr. Werner
Hoyer, das Wort.


(Beifall bei der FDP)


D
Dr. Werner Hoyer (FDP):
Rede ID: ID1708426100


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Vorschau auf die kommenden Monate gebietet natürlich
auch, kurz auf das vergangene Jahr zurückzublicken. In
diesen Wochen arbeiten wir intensiv daran, die Be-
schlüsse des Europäischen Rates vom Dezember umzu-
setzen und weitere Wege zu suchen, wie wir unsere
Wirtschaftspolitiken noch besser untereinander abstim-
men können.

Im letzten Jahr mussten wir immer wieder sehen, dass
wir in unruhiges Fahrwasser gerieten und reagieren
mussten. Ich sage ganz bewusst „reagieren“, weil dies ja
auch in einem Begründungszusammenhang mit dem
noch in der Hauptsache laufenden Verfahren in Karls-
ruhe steht, Stichwort Ultima Ratio.

Wir wissen nicht, was noch kommen mag, aber wir
wissen, was wir verhindern müssen und was wir verhin-
dern werden. Wir werden verhindern, dass die drei Säu-
len, die Europa in den vergangenen Jahrzehnten getragen
haben, ernsthaft beschädigt werden: Versöhnung, Wohl-
stand und schließlich die Überwindung der Teilung Eu-
ropas.

Wir dürfen uns nicht auf die Verteidigung dieser drei
Säulen beschränken, so schwer dies schon sein mag. Wir
müssen den Blick nach vorn richten, und das heißt zu-
nächst, wir müssen den Euro sturmfest machen,


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)






Staatsminister Dr. Werner Hoyer


(A) (C)



(D)(B)

auch um die zentrale Herausforderung, um die es in die-
ser Zeit geht, zu bestehen. Das ist die Selbstbehauptung
der Europäer in der Globalisierung.

Wir brauchen eine starke Wirtschafts- und Währungs-
union, in der Haushaltsdisziplin an erster Stelle steht.
Wir brauchen europaweit eine Politik, die auf die Steige-
rung der Wettbewerbsfähigkeit, auf neues Wachstum
und Beschäftigung ausgerichtet ist.

Der Maßstab für unsere Wettbewerbsfähigkeit und für
unsere Fähigkeit, im globalen Maßstab zu bestehen, ist
der globale Wettbewerb und nicht der Wettbewerb der
EU-Staaten untereinander. Hierfür müssen wir unsere
Hausaufgaben erledigen, und dazu gehört, dass wir dafür
sorgen, dass sich eine solche Krise nicht wiederholt.

Damit sie sich nicht wiederholt, müssen die Fehler im
System ausgemerzt werden. Die Stärkung des Stabili-
täts- und Wachstumspaktes und die Einrichtung eines
dauerhaften Krisenmechanismus sind zwei der grundle-
genden Aufgaben, die die Europäische Union in den
kommenden Monaten zu bewältigen hat.

Es ist erfreulich festzustellen, dass wir uns hier ge-
meinsam mit unseren Partnern auf die wesentlichen Eck-
punkte geeinigt haben. Ich sage ausdrücklich Beibehal-
tung des Bail-out-Verbots, Gläubigerhaftung und die
notwendige Vertragsänderung.

Deutschlands Stimme wird in Europa gehört. Unsere
Nachbarn schätzen unsere Meinung, und sehr häufig
– nicht immer verständlicherweise – teilen sie sie auch.
Deswegen werden wir uns bei vielen weiteren wichtigen
Vorhaben, die in 2011 zur Entscheidung anstehen,
ebenso engagiert und konstruktiv wie bisher einbringen
als überzeugte Europäer und in Verantwortung vor den
Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes, zum Beispiel
bei der weiteren Reform der Finanzmärkte, um Stabilität
und Vertrauen in die Märkte zurückzubringen. Hier sind
bereits wichtige Fortschritte erzielt worden. Wir sind bei
weitem noch nicht am Ziel.

Die Kommission hat nun das Ziel ausgegeben, das ge-
samte Reformpaket für den Finanzsektor bis Ende 2011
auf EU-Ebene zu verabschieden. Wir unterstützen dieses
ehrgeizige Vorhaben, und die Bundesregierung wird mit
ihrem Sachverstand, ihren Ideen zum Gelingen beitra-
gen; ich denke, der Deutsche Bundestag auch.

Dasselbe gilt für die kommenden Verhandlungen über
den mehrjährigen Finanzrahmen 2014 bis 2020, die uns
allerdings auch noch weit über 2011 hinaus beschäftigen
werden. Manche Nervosität bei dem Thema ist also et-
was voreilig, wie ich glaube, weil erste wesentliche Ent-
scheidungen und ein erstes Aufeinanderzugehen erst im
Jahr 2012 und – ich sage mal voraus – wahrscheinlich
auch eher in der zweiten Hälfte des Jahres 2012 zustande
kommen werden. Dabei reden wir ja dann über die
grundsätzliche Ausrichtung und die politische Prioritä-
tensetzung der Europäischen Union über den Zeitraum
von sieben Jahren und über Haushaltsmittel immerhin in
einer Größenordnung von zusammen nicht weniger als
1 000 Milliarden Euro.
Mit dem mehrjährigen Finanzrahmen entscheiden wir
darüber, wofür dieser Betrag ausgegeben wird, und da-
mit nicht zuletzt über die Zukunftsfähigkeit der Europäi-
schen Union insgesamt. Denn diese Entscheidungen
werden ja Einfluss darauf haben, in welchen Spitzen-
technologien und Wachstumsbranchen zukünftig in
Europa geforscht, gearbeitet und Geld verdient wird.

Wenn wir Zukunft gestalten wollen, ist es wichtig,
dass wir diese Möglichkeit der Beeinflussung dieser Fra-
gen über den Haushalt der Europäischen Union im Auge
haben. Im Kontext werden natürlich auch dann intensiv
Gespräche über die Neugestaltung der Gemeinsamen
Agrarpolitik und der Kohäsionspolitik zu führen sein;
beide zusammen machen immerhin drei Viertel des Ge-
samthaushalts der Europäischen Union aus. Deshalb er-
fordern sie unsere größte Aufmerksamkeit, und wir dür-
fen jetzt den Reformelan nicht verlieren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Der Europäischen Kommission kommt bei all diesen
Vorhaben eine Schlüsselrolle zu. Sie ist nicht nur die Hü-
terin der Verträge, sie muss auch Motor der Integration
sein. Deshalb ist die Veröffentlichung des Arbeitspro-
gramms der Kommission mit rund 200 Einzelvorhaben
weit mehr als ein verwaltungstechnischer Routinevor-
gang, der jährlich aufs Neue vollzogen wird. Das Ar-
beitsprogramm der Kommission gibt einen wichtigen
Ausblick. Mit manchem hat man gerechnet, manches
seit langem herbeigewünscht, anderes kommt dagegen
vielleicht etwas unerwartet und zeigt uns, wo Gesprächs-
und Klärungsbedarf gegenüber der Kommission besteht.

Insgesamt begrüßt die Bundesregierung die Inhalte
und die Ausrichtung des Arbeitsprogramms für 2011.
Die Schwerpunktsetzung ist richtig, weil sie entlang der
neuen Wachstums- und Beschäftigungsstrategie „Europa
2020“ aufgebaut ist und Impulse zur Überwindung der
Krise setzt. Wir werden uns die einzelnen Dossiers na-
türlich sehr genau anschauen und darüber mit dem Deut-
schen Bundestag diskutieren müssen. Sofern wir die
Verhältnismäßigkeit eines angekündigten Vorhabens in-
frage stellen oder Bedenken hinsichtlich der Einhaltung
des Subsidiaritätsprinzips haben, werden wir dies deut-
lich benennen und auch darüber hier im Deutschen Bun-
destag debattieren.

Uns geht es darum, dass der Gestaltungsspielraum na-
tionaler Politik und nationaler Parlamente nicht ohne
Not eingegrenzt wird, und zwar nicht, weil wir etwas ge-
gen Europa hätten, sondern gerade deswegen, weil wir
ein wirkungsvolles, funktionsfähiges Europa wollen, das
sich auf diejenigen Aufgaben konzentriert, bei denen na-
tionales Handeln allein an seine Grenzen stoßen würde,
aber durch gemeinsames, europäisches Handeln tatsäch-
lich ein Mehrwert für die Bürgerinnen und Bürger her-
beigeführt werden kann.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


In diesem Sinne blicken wir auf ein Jahr 2011, in dem
die entscheidenden Weichen dringend gestellt werden
müssen, in dem effektive Schritte zur Überwindung der
Finanzkrise und zur Stärkung der Wirtschafts- und Wäh-
rungsunion unternommen werden müssen, in dem um-





Staatsminister Dr. Werner Hoyer


(A) (C)



(D)(B)

wälzende Reformen in den öffentlichen Haushalten an-
stehen, in dem der Europäische Auswärtige Dienst in
vollem Umfang seine Arbeit aufnehmen und zu einem
angemessenen und kohärenteren Erscheinungsbild Euro-
pas in der Welt beitragen kann. Von diesem Jahr 2011
wird es später vielleicht einmal heißen, dass Europa in
diesem Jahr seine Fähigkeit demonstriert hat, Fehler zu
beheben und aus einer schwierigen Situation heraus zu
neuer Stärke zu finden; denn die Europäische Union ist
und bleibt der Garant für Frieden, Stabilität und Wohl-
stand auf unserem Kontinent. Die Europäische Union
wird deswegen auch weiterhin von der christlich-libera-
len Koalition in vollem Umfang unterstützt.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708426200

Das Wort hat der Kollege Michael Roth für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Michael Roth (SPD):
Rede ID: ID1708426300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Das Arbeitsprogramm der Kommission gibt uns Gele-
genheit, auch wenn es dafür jetzt schon ein bisschen spät
sein mag – wir hatten dieses Thema schon einmal im
Dezember auf der Tagesordnung –, das Jahr 2011 in den
Blick zu nehmen, über die Rolle der Kommission ge-
meinsam nachzudenken, aber sicherlich auch – ich
nehme den Ball von Staatsminister Hoyer gerne auf –
darüber zu sprechen, welche Rolle die Bundesregierung
wahrnimmt; denn die Bundesregierung ist für den Deut-
schen Bundestag der erste Ansprechpartner, wenn es um
die Gestaltung und die Kontrolle der Europapolitik geht.
Insofern möchte ich zu dem einen oder anderen Punkt
gerne Stellung nehmen.

Herr Hoyer, Ihre europapolitische Märchenstunde
eben hat mich schon ein wenig irritiert. Sie will so gar
nicht zu dem passen, was wir Bundestagsabgeordnete ei-
nerseits auf den Fluren in Brüssel hören und andererseits
als besorgte Anfragen fraktionsübergreifend wahrneh-
men, nämlich, dass die Europapolitik der Bundesregie-
rung in weiten Teilen ein Totalausfall ist.


(Beifall bei der SPD)


Sie ist wankelmütig. Sie ist ideenlos. Solidarische Füh-
rung in Europa sieht anders aus. Das greift über. Man
hört nicht nur vom Auswärtigen Amt als dem zentralen
Europaministerium wenig Konzeptionelles und Wegwei-
sendes. Auch die deutsch-französische Zusammenarbeit
– das ärgert mich wirklich –, von der in den vergangenen
Jahrzehnten viele wichtige Impulse ausgegangen sind,
funktioniert nicht mehr. Das zeigte sich spätestens auf
dem Gipfel in Deauville. Ihre Politik trägt eher zur Spal-
tung bei als dazu, dass zukunftsweisende und tragfähige
Kompromisse in der Europäischen Union, in der EU der
27, geschmiedet werden.

Damit, Herr Staatsminister, müssen Sie, Ihr Bundes-
minister und die Bundeskanzlerin sich schon einmal aus-
einandersetzen. Der Konflikt innerhalb der EVP-Fami-
lie, zwischen Ministerpräsident Juncker und der
Bundeskanzlerin, stellt dabei nur die Spitze des Eisbergs
dar.

Ich würde mit Ihnen auch gerne über die Rolle der
Kommission sprechen; denn auch da sehe ich einiges mit
Sorge. Ich bin mir sicher, Sie als überzeugter Europäer,
Herr Hoyer – das würde ich niemals in Abrede stellen –,
sehen das wahrscheinlich sogar ähnlich. Die Intergou-
vernementalisierung der Europäischen Union hat zuge-
nommen. Die EU-Politik wird immer exekutivlastiger.
Da stellt sich für uns schon die Frage, inwieweit die EU-
Kommission ihre Rolle als die zentrale Institution der
Gemeinschaftsinteressen und als Hüterin der Verträge
überhaupt noch wahrnehmen kann, wenn sie ständig und
in immer stärkerem Maße am Gängelband der nationalen
Regierungen geführt wird.


(Beifall des Abg. Axel Schäfer [Bochum] [SPD])


In der Regel sieht es heute so aus, dass auf den Gip-
feln etwas entschieden wird und die Kommission als
bloße Befehlsempfängerin fungiert und man dann
schauen muss, was aus den verschiedenen Vorschlägen
und Überlegungen der Staats- und Regierungschefs
wird. Ich sehe das insgesamt mit Sorge, weil wir trotz
des Vertrages von Lissabon überhaupt nicht in der Lage
sind – das haben jedenfalls die vergangenen Jahre ge-
zeigt –, hier die entsprechenden Kontrollen, die inner-
halb der vergemeinschafteten EU-Politik zentral vom
Europäischen Parlament wahrgenommen werden, zu
leisten.

Ich wünsche mir, dass wir die EU-Kommission nicht
schwächen, sondern stärken. Ich könnte es mir jetzt rela-
tiv einfach machen und sagen: Die EU-Kommission ist
eine eher konservativ-liberal besetzte Kommission; ge-
rade einmal 6 von 27 Kommissarinnen und Kommissa-
ren sind Sozialdemokraten. Das geht uns nichts an. – Al-
lerdings ist die EU-Kommission diejenige Institution,
die noch am ehesten in der Lage ist, das europäische Ge-
meinwohl in den Blick zu nehmen.

An dem, was die Kommission in diesem Bereich in
den vergangenen Monaten geboten hat, kann ich leider
kein gutes Haar lassen. Wie sehen denn die Vorschläge
der Kommission zur Bewältigung der Krise aus? Sie ent-
sprechen alle dem hinlänglich bekannten neoliberalen
Dreisatz: Sozialabbau gepaart mit Steuersenkungen und
Rückführung staatlicher Leistungen. Ich habe überhaupt
nichts dagegen, dass die Kommission zum Beispiel ein
Grünbuch zur Rente herausgibt. Aber wenn versteckt da-
rin steht, dass auf der nationalen Ebene Leistungsabbau
im Sozialbereich betrieben werden muss, um die natio-
nalen Haushalte auszugleichen, wird doch klar, wes
Geistes Kind die Politik der Europäischen Kommission
größtenteils ist. Das ist nicht unsere Politik, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD)


Austeritätspolitik hemmt das Wachstum. Wir brau-
chen aber in der Europäischen Union Wachstum, um so-
lidarische und nachhaltige Wege aus der Krise zu finden,





Michael Roth (Heringen)



(A) (C)



(D)(B)

auf die wir die Bürgerinnen und Bürger trotz ihrer wach-
senden Skepsis gegenüber der EU mitnehmen können.

Ich will auch ein paar positive Aspekte benennen. Wir
unterstützen ausdrücklich die Schwerpunktsetzung der
Kommission hinsichtlich Wachstumsbelebung und
Schaffung von Arbeitsplätzen. Diese wird zwar noch
nicht durch konkrete politische Projekte untermauert;
aber das ist der richtige Weg. Wenn es uns gelingt, die
entsprechenden Schwerpunkte mit der Strategie EU 2020
zu verknüpfen, kann daraus sicherlich etwas Gutes wer-
den.

Positiv finde ich auch – das fordern die Sozialdemo-
kratinnen und Sozialdemokraten im EP und hier im Bun-
destag schon seit Jahren – den konsequenten Kampf ge-
gen Steueroasen. Ich betrachte den Vorschlag der EU-
Kommission, eine gemeinsame konsolidierte Körper-
schaftsteuerbemessungsgrundlage einzuführen, als eine
Initiative, die in die richtige Richtung weist. Ich fordere
die Bundesregierung, das Kanzleramt, das Bundes-
finanzministerium und das Bundeswirtschaftsministe-
rium, auf, diese Politik und diese Vorschläge konsequent
zu unterstützen.


(Beifall bei der SPD)


Ich finde es sehr schade, dass es uns noch nicht gelun-
gen ist, die notwendige Verordnung für die zumindest
von uns als wichtig erachtete Europäische Bürgerinitia-
tive auf EU-Ebene zu implementieren; sie ist immer
noch nicht in Kraft getreten. Hier hätte ich mir von der
Bundesregierung ein etwas beherzteres Vorgehen ge-
wünscht.

Insgesamt kann die Europäische Union nur erfolg-
reich arbeiten, wenn sie eine starke Kommission hat, die
die Zeichen der Zeit erkennt. Aus unserer Sicht erfor-
dern sie ein solidarisches gemeinsames Handeln sowie
eine konsequent soziale und nachhaltige Ausrichtung der
Politik. Das vermissen wir sowohl bei der Bundesregie-
rung als auch bei der Kommission. Da muss dringend
nachgebessert werden. Das soll unser Signal in der heu-
tigen Debatte sein.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708426400

Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Thomas

Dörflinger das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Thomas Dörflinger (CDU):
Rede ID: ID1708426500

Danke schön, Frau Präsidentin. – Meine sehr verehr-

ten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen! Wenn ich mir vorausgegangene Debatten aus den
zurückliegenden Jahren über Arbeitsprogramme der Eu-
ropäischen Kommission ins Gedächtnis rufe, komme ich
nicht an der Feststellung vorbei, dass sich durch viele der
Debattenbeiträge der unterschiedlichen Fraktionen – frei-
lich mit unterschiedlicher Akzentuierung – als roter Fa-
den ein bisschen der Vorwurf zog, dass angesichts der
Fülle dessen, was da aufgeschrieben worden ist, viel-
leicht weniger mehr gewesen wäre und man sich viel-
leicht besser auf das konzentriert hätte, was politisch
prioritär und in einer bestimmten zeitlichen Spanne
machbar war, anstatt all das aufzuschreiben, was
schlussendlich wünschenswert war.

Das vorliegende Arbeitsprogramm der Europäischen
Kommission unterscheidet sich in diesem Punkt wohl-
tuend von seinen Vorgängern. Das ist selbstredend und
logischerweise auch der Tatsache geschuldet – Ironie des
Schicksals –, dass die Kommission – Herr Staatsminis-
ter, Sie haben darauf hingewiesen – beim Thema Bewäl-
tigung der Folgen der Finanz- und Bankenkrise einen
ganz besonderen Schwerpunkt setzt. Dadurch sind logi-
scherweise andere Themen in den Hintergrund geraten.
Das tut dem Programm insgesamt gut. Ich will an dieser
Stelle auf diesen Themenkreis, weil das schon dargestellt
wurde und der Kollege Silberhorn darauf auch noch zu
sprechen kommen wird, gar nicht detaillierter eingehen,
sondern ein paar Punkte nennen, zu denen ich mir den
einen oder anderen kritischen Unterton nicht verkneifen
kann.

Meine Damen und Herren, wer schon einmal in sei-
nem Wahlkreis das Vergnügen gehabt hat, ein mittelstän-
disches Unternehmen mit wenigen Beschäftigten bei
dem Vorhaben zu begleiten, einen Antrag nach dem For-
schungsrahmenprogramm der Europäischen Kommis-
sion zu stellen, der weiß, dass aus einem mehrseitigen
Antragsformular innerhalb weniger Monate ein Vorgang
wird, der mehrere Leitz-Ordner umfasst und das Unter-
nehmen zu der Erkenntnis bringt, dass die Beantragung
von Mitteln aus diesem Programm ohne Konsultation ei-
nes Unternehmens zur Beratung gar nicht zu leisten ist.
Deshalb ist Entbürokratisierung ein wichtiges Thema.

In dem Zusammenhang möchte ich ein kritisches
Wort zu dem Thema Vergabewesen sagen. Wenn ich mir
vorstelle, dass zukünftig durch die Verknüpfung der Ver-
gabe mit sachfremden Argumenten, die mit der eigentli-
chen Dienstleistung, um die es in einem Vergabeverfah-
ren geht, nur bedingt etwas zu tun haben, die Gefahr
besteht, dass das Vergabeverfahren selbst länger dauert
als die Auftragsabwicklung, stelle ich mir schon die
Frage, ob wir an dieser Stelle auf dem richtigen Weg
sind. Ich rate der Kommission, darüber noch einmal
nachzudenken.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Der Kollege Roth hat das Weißbuch Pensionen ange-
sprochen. Nun kommt es – da weiß ich als Baden-
Württemberger, wovon ich rede –


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nur weil Sie Baden-Württemberger sind, wissen Sie noch lange nicht, worüber sie reden!)


in einer global strukturierten Arbeitswelt nicht so selten
vor, dass jemand heute in Deutschland, morgen in Frank-
reich und übermorgen in Österreich arbeitet. Obwohl die
Schweiz nicht zur Europäischen Union gehört, nenne ich
auch sie in diesem Kontext; denn sie gehört sehr wohl zu
Europa. Nachdem also jemand im Laufe eines langen





Thomas Dörflinger


(A) (C)



(D)

Arbeitslebens in vier oder fünf unterschiedlichen Staaten
gearbeitet hat, stellt sich für ihn bei Eintritt in das Ren-
tenalter die Frage: Wie sieht es mit der Portabilität von
Rentenansprüchen aus? Das ist für den Rentenantragstel-
ler bzw. die -antragstellerin nicht selten ein ziemlicher
bürokratischer Aufwand. Deshalb ist der Ansatz richtig,
das Verfahren an dieser Stelle zu beschleunigen und im
Sinne der Bürgerinnen und Bürger zu entschlacken. Ich
wage aber, die These aufzustellen, dass wir das durch bi-
laterale Vereinbarungen zwischen den Staaten mindes-
tens genauso gut hinbekommen wie die Kommission,
die hier ja selbst einen Legislativbedarf sieht und diesen
dann möglicherweise noch durch Gründung einer eige-
nen Behörde zu untermauern versucht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Der deutsche Kommissar Günther Oettinger hat vor
einigen Wochen sehr plastisch die Summe von
1 Billion Euro als notwendige Finanzinvestitionen für
den gesamten Energiesektor in die Diskussion geworfen.
Herr Staatsminister Hoyer hat vorhin zu Recht das Fak-
tum betont, dass wir Europäer uns in einem globalen
Wettbewerb auf allen möglichen Sektoren befinden. Das
gilt nach meiner festen Überzeugung nicht nur, sondern
sogar in erster Linie auch für den Energiesektor. Wenn
wir die Technologie, die es uns ermöglicht, Energie
nachhaltig zu produzieren, nicht nur selbst nutzen, son-
dern auch zu einem Exportschlager machen wollen,
dann müssen wir notwendigerweise nicht nur in diese
Technologie, sondern insbesondere auch in die Netze in-
vestieren. Ich prognostiziere auch vor dem Hintergrund
der einen oder anderen Diskussion, die wir in Deutsch-
land dazu schon geführt haben: Das wird nicht konflikt-
frei abgehen. Da aber die Netze auch im Wettbewerb mit
anderen Regionen in der Welt einen zentralen Standort-
faktor für Europa darstellen, rate ich den Kolleginnen
und Kollegen im Deutschen Bundestag, diese Debatte
mit großer Ernsthaftigkeit zu führen und damit auch ge-
genüber der eigenen Bevölkerung zu dokumentieren,
dass wir mit diesem Faktum, dass das ein zentraler Wett-
bewerbsfaktor ist, politisch umzugehen wissen. Dazu
müssen wir die notwendigen Entscheidungen sachge-
recht treffen und anschließend auch umsetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Fazit: Ich habe zu Beginn gesagt, das Arbeitspro-
gramm unterscheidet sich hinsichtlich der Effektivität
und der Struktur wohltuend von seinen Vorgängern. Las-
sen Sie uns gemeinsam dieses Arbeitsprogramm in den
kommenden Monaten zusammen mit der Bundesregie-
rung und der Europäischen Kommission tatkräftig um-
setzen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708426600

Das Wort hat der Kollege Andrej Hunko für die Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)


Andrej Hunko (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708426700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin

hier heute Morgen ja vom Sitzungspräsidium ausge-
schlossen worden. Deshalb bin ich froh, dass ich jetzt
noch reden darf.


(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN – Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie würden sonst meine Krawatte bekommen!)


– Okay.

Wir sprechen ja über das Arbeitsprogramm der EU-
Kommission. Welche Frage stellen sich die Menschen,
wenn sie vom Arbeitsprogramm der EU-Kommission
für 2011 hören? Sie werden fragen, ob das Arbeitspro-
gramm dazu beiträgt, die drängendsten Probleme zu lö-
sen. Aber genau das tut es unserer Auffassung nach
nicht.

Der Kommission ist zwar bewusst, dass das Pro-
gramm „zu einem für die EU besonders kritischen Zeit-
punkt“ vorgelegt wird, aber ein wirkliches Umsteuern
im Bereich der Wirtschafts- und Währungspolitik ist
nicht festzustellen. Im Gegenteil: Die gescheiterte Lissa-
bon-Strategie aus dem Jahre 2000 wird jetzt in der EU-
2020-Strategie fortgesetzt. Das ist ja das Gerüst dieses
Arbeitsprogramms. Das bedeutet noch mehr Deregulie-
rung und noch mehr Privatisierung. Dieser Weg hat mit
in die Krise geführt und wird die Krise weiter verschär-
fen.

Dagegen beschwört die Kommission geradezu den
Aufschwung. Durch die unsozialen europaweiten Kür-
zungsprogramme wird die EU-Binnenkonjunktur aber
abgewürgt. Wenn bald noch weitere Länder aus der
Euro-Gruppe dazu gedrängt werden, Milliarden aus dem
sogenannten Euro-Rettungspaket abzurufen, werden sie
zu neuen Kürzungsprogrammen und Schocktherapien
verpflichtet. Dazu passt dann auch die Verschärfung des
dummen Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Das ist
schlicht inakzeptabel.


(Beifall bei der LINKEN – Michael Link [Heilbronn] [FDP]: „Dummen“? – Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie „dummen“ gesagt?)


All dies bedeutet: Die Menschen zahlen jeden Tag für
die Folgen der Wirtschafts- und Bankenkrise, und die
Profiteure werden nicht zur Kasse gebeten. Nicht nur die
Linke sagt: „Profiteure endlich zur Kasse!“, sondern das
sagt auch die Mehrheit der Bevölkerung.


(Beifall bei der LINKEN)


Deshalb gehen in vielen Ländern Europas immer wie-
der Hunderttausende auf die Straße – zuletzt in Irland
und in Portugal. Dabei zeigt sich immer deutlicher – ich
sage das hier sehr eindringlich –: Europa wird sozial
sein, oder es wird nicht sein. Ein soziales Europa wird es
nur mit einem echten Neustart der EU auf demokrati-
scher und sozialer Grundlage geben. Ohne eine Kom-
plettrevision und Veränderung der Grundlagenverträge
in die richtige Richtung – sie werden ja gerade in die fal-

(B)






Andrej Hunko


(A) (C)



(D)(B)

sche Richtung verändert – wird es leider so weitergehen
wie bisher.

Schauen wir uns aber das Programm an einigen Punk-
ten noch einmal konkret an:

Erstens. Die Kommission gewährt zusammen mit den
Mitgliedstaaten und dem IWF die sogenannten Hilfspa-
kete. „Hilfe“ klingt erst einmal solidarisch, aber diese
Pakete sind in erster Linie Bankenrettungspakete. Die
Mitgliedstaaten verdienen durch die Zinsen sogar noch
an der Hilfe für bedürftige Staaten. Darüber hinaus sind
diese Pakete aber vor allem Spardiktate auf Kosten der
Bevölkerung. Sie führen zu mehr Armut und zu mehr so-
zialer Ausgrenzung. Ironischerweise wurde 2010 ja zum
Europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgren-
zung proklamiert. In Wirklichkeit war es genau anders-
herum. Ich glaube, 2010 wird als Jahr für Armut und so-
ziale Ausgrenzung in die Geschichte eingehen.

Zweitens. Die Kommission arbeitet an der Umset-
zung der sogenannten Solidaritätsklausel, die in Art. 222
des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen
Union geregelt ist. Aber auch hier geht es nicht um Soli-
darität zwischen den Menschen. Es geht schlichtweg um
den Einsatz von Militär in anderen Mitgliedstaaten, und
zwar nicht nur bei Terroranschlägen oder Naturkatastro-
phen, sondern, wie es im Vertrag heißt, auch bei „einer
vom Menschen verursachten Katastrophe“. Was kann
das sein? Aufgrund dieser vagen Definitionen könnte
EU-Militär auch zur Aufstandsbekämpfung eingesetzt
werden, wenn sich die sozialen Konflikte in einem Mit-
gliedstaat weiter zuspitzen. In Griechenland und Spanien
zum Beispiel gab es in den letzten Monaten Situationen,
in denen Militär mit eingesetzt wurde. Die Linke lehnt
einen solchen Einsatz von Militär grundsätzlich ab, auch
dann, wenn er als Solidaritätsakt verkleidet wird.


(Beifall bei der LINKEN)


Drittens plant die Kommission eine „Mitteilung über
stärkere Solidarität innerhalb der EU“. Auch hier findet
sich wieder der Begriff Solidarität. Aber was verbirgt
sich dahinter? Es geht um die Solidarität zwischen den
Mitgliedstaaten bei der Bekämpfung von illegalisierten
Migrantinnen und Migranten. Aktuelles Beispiel: Grie-
chenland soll nicht mehr allein gegen die Flüchtlinge
kämpfen, sondern bekommt Unterstützung von der EU
mittels FRONTEX-Soforteinsatzteams. Besonders ange-
sichts der katastrophalen und menschenverachtenden
Zustände in den überfüllten Lagern ist das nur noch zy-
nisch zu nennen.


(Viola von Cramon-Taubadel [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist richtig!)


Wir fordern stattdessen die Solidarität mit Menschen in
Not, und zwar – in dem Fall ist der Begriff sinnvoll – be-
dingungslose Solidarität.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich komme zum Schluss. Fragen Sie die Menschen in
Europa, welches Arbeitsprogramm sie der Kommission
geben würden. Der Auftrag wäre ganz klar: Profiteure
zur Kasse bitten, Regulierung der Finanzmärkte und ein
soziales Europa. Die Menschen müssen in Europa wie-
der im Mittelpunkt der Politik stehen. Dafür stehen wir
ein.

Ich danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708426800

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der

Kollege Manuel Sarrazin das Wort.


Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708426900

Herr Hunko, eine ganz so große Rede mit Vorschlä-

gen zu einer Komplettrevision der Grundlagenverträge
wird mir heute nicht gelingen. Viele Punkte sind zu be-
sprechen. Ich möchte meine Redezeit aber vor allem un-
serer liebsten Freundin seit über einem Jahr widmen,
nämlich der Krise.

Herr Staatsminister Hoyer, Sie wissen, dass wir Sie
im Europaausschuss für Ihre Arbeit schätzen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Ich möchte aber daran anknüpfen, was Sie gesagt haben.
Sie haben gesagt, die Bundesregierung werde sich 2011
ebenso engagiert einbringen wie 2010, was die Bewälti-
gung der Krise angehe.

Nehmen wir als Beispiel die von Herrn Juncker vor-
geschlagenen Euro-Bonds. Herr Juncker steht deutschen
Interessen ja durchaus positiv gegenüber. In dem Vor-
schlag von Bruegel, Juncker und Tremonti ist so offen-
kundig auf Art. 3 und Art. 119 AEUV eingegangen wor-
den, dass Sie alle das eigentlich freudestrahlend als
Beitrag zur deutschen Stabilitätskultur hätten begrüßen
müssen. Was aber kommt von der Bundesregierung?
Dieser von deutschem Geist durchtränkte Vorschlag,
Euro-Bonds im Rahmen der jetzigen Verträge möglich
zu machen, wird als Angriff aus dem Süden abgetan. Da
habe ich verstanden, warum Herr Juncker beleidigt ist:
weil Sie zwar sehr engagiert, aber in dem Fall völlig am
Kern vorbei debattiert haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich denke, es ist uns allen klar, dass wir dort, wo die
Fazilität nicht funktioniert, nachbessern müssen. Es
macht keinen Sinn, eine Fazilität, die ein Problem mit
dem Triple A hat, was seinerzeit in der Diskussion noch
nicht absehbar war, nur deshalb unverändert beizubehal-
ten, weil man sich nicht bewegen will.

Ich habe Verständnis für die Bedenken, was Konditio-
nalität und Ultima Ratio angeht. Das muss in die Ver-
träge passen. Es müssen auch weiterhin Verstöße gegen
die No-bail-out-Klausel eingeschränkt werden. Ich er-
warte aber von der Bundesregierung Bewegung in dieser
Frage. Ich glaube, um eine solche Bewegung zu ermögli-
chen, ist es wichtig, dass sich die Koalition endlich auf
eine Position einigt, damit wir in dieser Debatte eine
Vorreiterrolle einnehmen können. Das wünsche ich mir
von Ihnen. Denn aus meiner Sicht verpassen Sie gerade
eine Chance.





Manuel Sarrazin


(A) (C)



(D)(B)

Theo Waigel hat wie andere Deutsche auch in den
Verhandlungen über den Euro die Grundentscheidung
durchgesetzt, das Wirtschaftsmodell der Europäischen
Union sozusagen nach dem deutschem Zielmaßstab der
Preisstabilität auszurichten. Dieses Ziel ist gerade im
Hinblick auf den Euro – ich verweise auf Art. 119
AEUV – so fest in den Verträgen verankert worden wie
kaum ein anderes Ziel. Natürlich ist die Entscheidung
bislang nicht handlungsmächtig gewesen. Diese Krise
mit ihren großen Schwierigkeiten, Herausforderungen
und Gefahren bietet aber sowohl Ihnen als auch uns die
Chance, diese Grundsatzentscheidung auf dem Papier zu
einer in der Realität zu machen. Deshalb verstehe ich die
zaudernde und zögernde Haltung nicht, die die Bundes-
regierung an den Tag legt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wirtschaftsregierung und Wirtschaftskoordinierung
sind ein großes Thema. Das europäische Semester hat
jetzt mit dem Bericht der Europäischen Kommission be-
gonnen. Wir wollen, dass sich daran auch der Deutsche
Bundestag engagiert beteiligt. Eine Wirtschaftsregierung
kann nur funktionieren, wenn man nicht nur über Instru-
mente redet, sondern sie auch mit Leben erfüllt. Im nun
begonnenen europäischen Semester kann der Deutsche
Bundestag den Beweis liefern, dass er sich dieser Sache
annimmt. Deswegen wollen wir am 9. Februar eine
möglichst hochrangige Unterrichtung durch die Bundes-
regierung über dieses Thema in den Ausschüssen haben.
Wir Grüne werden, wenn es um Fragen betreffend eine
Wirtschaftsregierung und den Euro-Rettungsschirm
geht, immer auf die parlamentarischen Rechte und die
parlamentarische Beteiligung achten,


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


und zwar auch an den Stellen, wo es uns selber wehtut,
wenn zum Beispiel zu viele Informationen oder unbe-
queme Wahrheiten kommen. Der Deutsche Bundestag
ist dafür da, dass die schwierigen Entscheidungen, die
anstehen, legitim getroffen werden, und zwar so, dass sie
von der Bevölkerung als legitim angesehen werden. Da-
nach werden wir uns weiterhin richten.

Herr Hoyer, Ihr Haus hat einen Minister, der in seiner
Eigenschaft als normalerweise beliebtester Politiker des
Landes besonders gut für etwas, das nicht so beliebt ist,
eindringlich werben kann. Es darf gerne auch pathetisch
werden. In dieser Debatte fragen wir uns: Ist der Außen-
minister nicht auch Europaminister? Ich habe Herrn
Brüderle vor einer seltsamen Europaflagge auf der
Treppe gesehen. Aber ich habe in der ganzen Krise kein
richtig mahnendes oder klares Wort des Außenministers
vernommen. Er ist nicht als wortgewaltiger Verfechter
der weiteren notwendigen proeuropäischen Schritte,
sondern eher als reiner Dementiminister aufgefallen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich komme zum Schluss. Wenn in dieser schwierigen
Zeit, in der so viel passiert, der Außenminister nicht be-
reit ist, die Gunst der Stunde zu nutzen, dann hoffe ich,
dass wenigstens der Deutsche Bundestag die Bundes-
regierung vor sich hertreibt und dafür sorgt, dass die
Gunst der Stunde nicht ungenutzt bleibt.


(Dr. Bijan Djir-Sarai [FDP]: Schauen Sie mal, wie viele Leute aus Ihrer Fraktion da sind! Das scheint nicht so interessant zu sein!)


– Sie sind da und hören uns zu. Das entschädigt mich für
alles.

Danke sehr.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Bijan Djir-Sarai [FDP]: Drei Leute!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708427000

Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege

Thomas Silberhorn.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Thomas Silberhorn (CSU):
Rede ID: ID1708427100

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Es ist völlig richtig, dass wir über das Ar-
beitsprogramm der Kommission für 2011 vor dem Hin-
tergrund der Wirtschafts- und Finanzkrise diskutieren.
Die Kommission legt deswegen völlig zu Recht einen
Schwerpunkt auf die Wachstumsbelebung und auf die
Schaffung von Arbeitsplätzen. Das steht am Beginn ih-
res Arbeitsprogramms für 2011. Wir müssen zu einem
stabilen Wachstum zurückkehren. Die Zahlen sind
durchaus erfreulich. Wir haben laut dem Herbstgutach-
ten der Kommission in der gesamten Europäischen
Union ein Wachstum von 1,7 Prozent in diesem Jahr und
2,0 Prozent im nächsten Jahr zu erwarten. Die deutschen
Zahlen sind weit besser. Das heißt, Deutschland ist die
Wachstumslokomotive der Europäischen Union. Wir
müssen von daher klare Impulse für Wachstum, die Be-
lebung der Wirtschaft und neue Arbeitsplätze setzen.
Damit finden wir den schnellsten Weg aus der Wirt-
schaftskrise heraus.

Wir sind wirtschaftlich gesund; aber die Euro-Krise
stellt natürlich eine erhebliche Gefährdung dar. Ich habe
überhaupt kein Verständnis dafür, wenn ständig an die
Solidarität appelliert wird, dabei aber unter Solidarität
verstanden wird, dass insbesondere wir Deutschen die
Schulden aller anderen in der Europäischen Union auf-
kaufen sollen. Die Geschäftsgrundlage – das steht in den
Verträgen – ist, dass es keine Transferunion gibt, dass je-
der Staat für seine Schulden einsteht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das ist doch Quatsch!)


– Selbstverständlich steht das so in den Verträgen. Des-
wegen muss die Solidarität in der Europäischen Union
darin bestehen, dass wir uns gemeinsam auf den Weg
machen, um in einer globalisierten Weltwirtschaft wie-
der wettbewerbsfähig zu werden. Wir müssen Anreize
dafür schaffen, dass die Mitgliedstaaten in der Euro-
Zone ihre strukturellen Reformen angehen. Daran hapert
es doch. In vielen Staaten der europäischen Wirt-





Thomas Silberhorn


(A) (C)



(D)(B)

schaftsunion gab es in den letzten Jahren keine struktu-
rellen Reformen in den sozialen Sicherungssystemen
und auf dem Arbeitsmarkt. Deshalb sind sie in die Ver-
schuldung abgeglitten.


(Andrej Hunko [DIE LINKE]: Also noch mehr Sozialabbau!)


Dort muss angesetzt werden, um in diesen Staaten eine
Ordnung zu schaffen, die stabiles Wachstum ermöglicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sind doch zwei Seiten einer Medaille!)


Ihr Vorschlag, wir sollten Euro-Bonds auflegen, ist
abenteuerlich. Haben Sie sich einmal ausgerechnet, was
das alles kostet?


(Viola von Cramon-Taubadel [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ja, haben wir!)


Wenn wir Schuldenagenturen schaffen, die alle Staatsan-
leihen in Europa aufkaufen, dann werden alle Schulden,
die irgendwo in Europa gemacht werden, vergemein-
schaftet. Somit würde eine gesamtschuldnerische Haf-
tung für alle Schulden in der Europäischen Union ge-
schaffen.


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben den Vorschlag offenkundig nicht kapiert!)


Das Ergebnis wäre nicht nur, dass Deutschland den
größten Teil dieser Schulden tragen muss, sondern auch,
dass wir die Europäische Union selbst verschulden wür-
den.


(Klaus Hagemann [SPD]: Auch die Schulden der Bayerischen Landesbank! – Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben den Vorschlag noch nicht einmal gelesen, Herr Silberhorn!)


Der Charme der Europäischen Union ist doch, dass sie
aufgrund ihrer sehr soliden Haushaltspolitik im Gegen-
satz zu fast allen Mitgliedstaaten der Euro-Zone keine
Schulden macht.

Deswegen sagen wir Nein zu Schuldenagenturen,
Nein zu Euro-Bonds, Nein zur Schuldenübernahme. Das
darf auch nicht durch die Hintertür geschehen. Deswe-
gen sage ich – adressiert an die Bundesregierung und na-
mentlich an das Bundesministerium der Finanzen –: Da-
für gibt es nach meiner Wahrnehmung in dieser
Regierungskoalition zu Recht keine Mehrheit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir müssen natürlich auch die wirtschaftspolitische
Koordinierung zwischen den Mitgliedstaaten in der
Euro-Zone verbessern. Das ist gar keine Frage.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708427200

Kollege Silberhorn, gestatten Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Sarrazin?

Thomas Silberhorn (CSU):
Rede ID: ID1708427300

Aber gerne. Bitte schön.


Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708427400

Herr Silberhorn, offenkundig ist es Ihnen noch nicht

bekannt; deswegen formuliere ich es so: Sind Sie bereit,
etwas von mir anzunehmen, zu lernen bzw. mir zu glau-
ben?


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Würden Sie mir glauben, dass die Vorschläge im Hin-
blick auf das Modell der Euro-Bonds, die Juncker und
Tremonti sowie Bruegel gemacht haben, nicht zu Ihrer
Umschreibung passen, sondern sowohl vereinbar sind
mit den bestehenden Vertragsmerkmalen als auch mit
der Funktionsweise des Art. 125 des EU-Vertrages sowie
der individuellen Bonitätsbewertung jedes einzelnen
Landes? Da es deutlich schwieriger ist, Red Bonds zu fi-
nanzieren, würde man sogar einen starken Anreiz für so-
lide Haushaltsführung setzen, und zwar einen stärkeren
Anreiz, als er bisher im Sanktionsmechanismus des Sta-
bilitäts- und Wachstumspaktes verankert ist.


Thomas Silberhorn (CSU):
Rede ID: ID1708427500

Nein, Herr Kollege Sarrazin, ich glaube Ihnen kein

Wort.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Na dann nicht! – Zuruf von der CDU/CSU: Ich liebe klare Antworten!)


– Ich bin noch nicht fertig mit meiner Antwort.


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war doch die Antwort! – Gegenruf von der CDU/CSU: Stehen bleiben!)


Bei allem Respekt – auch vor dem Ministerpräsidenten
Juncker und Herrn Tremonti –: Es ist naiv, anzunehmen,
man könne Schulden in 60 Prozent, für die man Euro-
Bonds auflegt, und 40 Prozent, die die Mitgliedstaaten
selber tragen, splitten. Die Reaktion der Finanzmärkte ist
doch offenkundig: Man würde testen, wie weit die Soli-
darität der Mitgliedstaaten der Eurozone geht. Man
würde die 60 Prozent ausschöpfen und dann fragen: Wie
sieht es jetzt mit den 40 Prozent aus? – Was geschieht,
wenn die 40 Prozent der Mitgliedstaaten, etwa Griechen-
lands oder anderer Staaten, nicht getragen werden kön-
nen? Ist die Europäische Union dann weiterhin solida-
risch – dann wäre Ihr Modell bereits gescheitert –, oder
ist sie nicht solidarisch? In diesem Fall würde man Um-
schuldungen vornehmen müssen. Dafür haben wir aber
noch kein Modell. Das funktioniert also hinten und
vorne nicht.

Ich sage Ihnen, was funktionieren würde: Man muss
genau das tun, was der Internationale Währungsfonds
mit seinen Experten seit Jahren betreibt. Man muss den
hochverschuldeten Staaten die Möglichkeit eröffnen,
umzustrukturieren und umzuschulden.





Thomas Silberhorn


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das machen sie ja jetzt!)


Meine Prognose ist: Je später wir das hinbekommen,
desto teurer wird es werden. Wir sind durch die Akteure
auf den Finanzmärkten einem permanenten Stresstest
ausgesetzt. Wir werden diesen Stresstest nicht dadurch
bestehen, dass wir immer frisches Geld in die Märkte
pumpen. Wir müssen uns vielmehr den strukturellen Re-
formen, die die Ursache für die Krise sind, widmen und
in den Mitgliedstaaten der Euro-Zone eine stabile Haus-
haltspolitik verfolgen.


(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Es gibt doch nicht die eine Krise! Wir haben allein drei Krisen!)


Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Wir müssen den Sta-
bilitäts- und Wachstumspakt schärfen. Wir müssen die
strukturellen Reformen auf dem Arbeitsmarkt und in den
sozialen Sicherungssystemen angehen.


(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Was heißt denn das?)


Wir müssen es am Ende auch ermöglichen, dass sich
hochverschuldete Staaten restrukturieren und umschul-
den, teilweise zulasten der privaten Gläubiger,


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie?)


die auf einen Teil ihrer Forderungen werden verzichten
müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Hinzu kommt, dass wir die wirtschaftspolitische Ko-
ordinierung und Überwachung in den Mitgliedstaaten
der Euro-Zone verbessern müssen. Dabei müssen wir
uns an den Wachstumstreibern in der Europäischen
Union orientieren. Wir können doch nicht die Starken
künstlich schwächer machen und glauben, dass wir dann
in der Europäischen Union insgesamt besser dastehen.

Ich weise darauf hin, dass wir bei der Feinsteuerung
nicht den Fehler machen dürfen, zu meinen, alles euro-
päisch regeln zu wollen. Das wird nicht gelingen. Wir
müssen die makroökonomische Überwachung besser ko-
ordinieren. Die mikroökonomischen Fragen aber müssen
in der Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten blei-
ben.

Frau Präsidentin, gestatten Sie mir, noch in einem
Satz darauf hinzuweisen, dass uns die Europäische
Kommission ein konkretes Angebot gemacht hat, den
Dialog mit den nationalen Parlamenten zu vertiefen. Die
Kommission hat uns zugesagt, jede Stellungnahme der
nationalen Parlamente ernsthaft zu prüfen. Das bedeutet,
die Kommission wird nicht nur Subsidiaritätsstellung-
nahmen prüfen, also Stellungnahmen, die einen Verstoß
gegen das Subsidiaritätsprinzip rügen, auch nicht nur
Stellungnahmen zu Rechtsetzungsvorschlägen, sondern
generell jede Stellungnahme.

Ich finde, das ist ein großartiges Angebot. Wir sollten
davon Gebrauch machen,

(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Ihr macht ja nichts!)


indem wir uns intensiv einmischen in die Rechtsetzungs-
vorhaben und in die weiteren Vorhaben der Europäi-
schen Union. Ich weise darauf hin, dass wir im letzten
Jahr deutlich mehr Stellungnahmen im Deutschen Bun-
destag verabschiedet haben, als das vor dem Inkrafttre-
ten des Lissabon-Vertrages vorher der Fall war. Insbe-
sondere der Rechtsausschuss, aber auch der
Europaausschuss sind dabei fleißig gewesen.


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Trotzdem lehnen Sie fälschlicherweise unsere Anträge immer ab!)


Herzlichen Dank an alle Kolleginnen und Kollegen, die
hieran mitgewirkt haben und Europapolitik durch Mitge-
staltung der Europäischen Union den Bürgern näherbrin-
gen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708427600

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Barchmann

das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Heinz-Joachim Barchmann (SPD):
Rede ID: ID1708427700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Das Arbeitsprogramm der Europäischen Kommis-
sion für das Jahr 2011 erscheint auf den ersten Blick am-
bitioniert. Mehr als 40 Initiativen werden vorgestellt, um
die Krisen der letzten Jahre zu bewältigen und einen
neuen Aufschwung zu unterstützen, damit neue Arbeits-
plätze entstehen.

Ein zentraler Bestandteil dieses Arbeitsprogramms ist
der Binnenmarkt. Damit komme ich jetzt ein bisschen
von den Finanzen weg. Es gibt schließlich noch mehr in
der Europäischen Union.


(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Sehr wahr!)


In fast allen Bereichen des Arbeitsprogramms wird
auf den Binnenmarkt Bezug genommen. Der ehemalige
Kommissar Professor Mario Monti hat in seinem Bericht
zum Neustart des Binnenmarktes wichtige Aspekte und
auch Probleme aufgezeigt. Monti stellte zum Beispiel
fest, dass der Binnenmarkt notwendiger sei als jemals
zuvor, aber bei den Menschen in Europa auch unbelieb-
ter als jemals zuvor.

Ich denke, beides ist richtig. Daraus darf man aller-
dings nicht den Schluss ziehen, nun alles den vier
Grundfreiheiten des Binnenmarktes zu unterwerfen, und
dann würde schon alles gut. Nein, gerade jetzt, nach
solch schweren Krisen – der Euro hat sich immer noch
nicht stabilisiert, und daran hat auch die Bundesregie-
rung ihren Anteil –, müssen wir erkennen, dass der
Markt ohne eine soziale Flankierung ein Irrweg ist.

Deshalb fordern wir als SPD seit Jahren, die soziale
Fortschrittsklausel in die europäischen Verträge aufzu-





Heinz-Joachim Barchmann


(A) (C)



(D)(B)

nehmen. Immer wieder wurde uns vonseiten der Regie-
rungskoalition vorgehalten, dass der Vertrag von Lissa-
bon nicht neu zu verhandeln sei und man keine Chance
habe, daran etwas zu ändern. Was wir aber im Dezember
in Brüssel erlebt haben, zeigt, dass durchaus noch Mög-
lichkeiten vorhanden waren. Dort wurde nämlich kurz-
fristig eine Änderung des Vertrages vom Europäischen
Rat beschlossen.

Verstehen Sie mich in dieser Beziehung bitte nicht
falsch, liebe Kolleginnen und Kollegen. Dieser Akt
europäischer Solidarität in finanzpolitischen Fragen war
wichtig und richtig. Deutschland hat schließlich auch ein
massives Interesse an der Stabilität der Gemeinschafts-
währung. Zu diesem Zeitpunkt hat die Bundesregierung
aber wieder einmal die Chance verpasst, endlich die so-
ziale Fortschrittsklausel in die Verträge hineinzuverhan-
deln.


(Beifall bei der SPD)


Das alleinige Starren auf die Euro-Krise und etwaige
Krisenmechanismen greift einfach zu kurz. Wir müssen
in der Tat die Europäische Union weiterentwickeln.
Dazu gehört neben der politischen Union und einer koor-
dinierten Wirtschafts- und Finanzpolitik ein verbindli-
cher sozialer Rahmen. Dieser muss in ganz Europa Min-
deststandards setzen und den Bürgerinnen und Bürgern
Europas Schutz und Sicherheit bieten. Genau das wäre
die soziale Fortschrittsklausel. Leider hat auch die Kom-
mission nicht den Mut bewiesen, diese Klausel im
Single Market Act vorzuschlagen, sondern sie hat sich
auf einen butterweichen Kompromiss verständigt. Hier
enttäuscht uns Sozialdemokraten die Kommission. Hier
hatten wir auch nach dem Bericht von Professor Monti
mehr erwartet.

Wirtschafts- und Sozialpolitik sind keine Gegensätze.
Deshalb darf es nicht sein, dass vor dem Europäischen
Gerichtshof wirtschaftliche Grundfreiheiten Vorrang vor
sozialen Rechten erhalten. Die soziale Fortschrittsklau-
sel ist ein Schritt, um die Bürgerinnen und Bürger Euro-
pas mit dem Binnenmarkt zu versöhnen. Das ist genauso
wichtig wie die Maßnahmen zur Stabilisierung des Eu-
ros. Nur wenn die Menschen der Europäischen Union ih-
ren Institutionen vertrauen und sich in ihr sicherfühlen,
können sie ihre kreativen Fähigkeiten entfalten. Ver-
trauen in die soziale Sicherheit ist für die soziale Markt-
wirtschaft ein wichtiges konstitutives Element. Dieses
notwendige Vertrauen wird gerade in den Ländern, die
unter der Euro-Krise am meisten zu leiden haben, mas-
siv beschädigt.

Woher kommen denn die Schwierigkeiten des Euros?

Zum einen haben einige Länder über ihre Verhältnisse
gelebt. Sie müssen jetzt sparen; aber sie dürfen sich na-
türlich nicht kaputtsparen, wie es in Griechenland und in
Irland, nicht zuletzt auf Druck der Bundesregierung, vor-
geführt wird.


(Andrej Hunko [DIE LINKE]: Sehr richtig!)


Hartes Sparen allein reicht nicht aus, um die Krise zu be-
wältigen, nein, sie verschärft sie nur noch. Das ist auch
für die deutsche Wirtschaft gefährlich; denn wenn un-
sere europäischen Nachbarn als unsere Kunden ausfal-
len, dann schlagen deren Sparbemühungen auch bei uns
negativ durch.

Zum anderen ist die gemeinsame europäische Wäh-
rung auch durch stark unterschiedliche Leistungsbilan-
zen der einzelnen Länder belastet. Wo einige Länder
hohe Defizite einfahren, erwirtschaftet Deutschland
enorme Überschüsse. Diese Ungleichheiten werden von
den Finanzmärkten erkannt und erbarmungslos ausge-
nutzt. Der Euro wird als unsicher bewertet.

Was macht die Bundeskanzlerin? Anstatt mit klaren
Maßnahmen für Ruhe in den Märkten zu sorgen, zaudert
und zögert sie weiter. Sie führt über die Presse Debatten
mit Kommissionspräsident Barroso über die Ausweitung
des Rettungsschirmes, der, so hört man zumindest, intern
schon zugestimmt wurde. So beruhigt man die Finanz-
märkte nicht, sondern so lädt man Spekulanten dazu ein,
gegen den Euro zu wetten.

Zur Bewältigung der Krise brauchen wir eine stärkere
wirtschaftspolitische Koordinierung der Europäischen
Union, sodass die Leistungsbilanzungleichgewichte in-
nerhalb des Euro-Raumes nicht so stark auftreten kön-
nen. Es geht nicht darum, Deutschlands Wettbewerbs-
fähigkeit zu schwächen, sondern darum, die Leistungs-
bilanzüberschüsse durch die Steigerung der Binnennach-
frage zu verringern. Wir brauchen eine schrittweise
Angleichung der Lebensverhältnisse in Europa: mit ho-
hem Beschäftigungsniveau, stetigem Wirtschaftswachs-
tum und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht. Auf die-
sem Weg kann die soziale Fortschrittsklausel intensiv
helfen.


(Beifall bei der SPD)


Es ist heute zu früh, um das Arbeitsprogramm der Eu-
ropäischen Kommission für dieses Jahr abschließend zu
beurteilen. Das kann man erst, wenn die konkreten Vor-
schläge auf dem Tisch liegen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708427800

Kollege Barchmann, achten Sie bitte auf das Signal.


Heinz-Joachim Barchmann (SPD):
Rede ID: ID1708427900

Ja. – Eines allerdings hat die Kommission der Bun-

desregierung voraus: Sie hat schon einmal ein Programm
für die Weiterentwicklung Europas. Die Bundesregie-
rung scheint nicht einmal eine genaue Vorstellung von
Europa zu haben. Das ist wirklich ein Problem für
Deutschland und Europa.

Danke.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Andrej Hunko [DIE LINKE])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708428000

Der Kollege Detlef Seif hat für die Unionsfraktion

das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)







(A) (C)



(D)(B)


Detlef Seif (CDU):
Rede ID: ID1708428100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Diese

Debatte hat eines gezeigt: dass der Schwerpunkt des Ar-
beitsprogramms der Kommission richtig gelegt ist. Wir
alle sind bewegt nach der schwersten Wirtschaftskrise,
der Finanzmarktkrise und den erheblichen Anstrengun-
gen im letzten Jahr, um die Stabilität des Euros sicherzu-
stellen. All dies sind Gründe dafür, dass das ganz oben
auf der Agenda der Kommission steht.

Die Kommission will – das ist ein Schlagwort – die
„wirtschaftspolitische Steuerung“ stärken. Ich denke,
dieser Begriff, der harmlos aussieht, zeigt den Wider-
spruch, der auch in diesem Hause herrscht. Wir haben
unterschiedliche politische Auffassungen. Die einen sind
der Meinung, man muss mehr regulieren und steuern;
der Staat soll sich möglichst bis ins Detail einmischen.
Die anderen sagen, die Kräfte werden durch den Markt
freigesetzt; sie sind zu bändigen und in gesunde Rah-
menbedingungen zu fassen. Deshalb muss das Motto
– das gilt auch für die Kommission – lauten: Sinnvolle
Rahmenbedingungen ja, aber kontraproduktive und bü-
rokratische Überregulierung nein.

Das war meine Feststellung zu dem Teil, der jetzt ei-
gentlich die gesamte Debatte ausgefüllt hat. Es gibt aber
noch ein paar weitere Punkte in dem Arbeitsprogramm
der Kommission. Die „Agenda für Bürgernähe: Freiheit,
Sicherheit und Recht“ soll fortgeschrieben werden. Hier
ist besonders die Unsicherheit für Unternehmen zu er-
wähnen, welches Recht bei Vertragsabschlüssen über-
haupt zur Geltung kommt. Das ist ganz wichtig; denn die
Unsicherheit führt nicht nur zu rechtlichen Schwierig-
keiten, sondern kann auch handfeste wirtschaftliche
Konsequenzen haben.

Ganz wichtig ist auch die Richtlinie über die Rechte
von Opfern von Straftaten. Erstmals soll in den EU-Staa-
ten insgesamt das Opfer der Straftaten im Fokus stehen.
Ihm sollen die notwendigen staatlichen Unterstützungs-
maßnahmen in allen EU-Ländern zuteilwerden.

Die Kommission legt ihren Fokus auch auf die Stär-
kung der Präsenz Europas auf der internationalen Bühne.
Ausdrücklich heißt es in dem Programm: Der Europäi-
sche Auswärtige Dienst, EAD, soll unterstützt werden. –
In diesem Jahr wird es darauf ankommen, ob die Kom-
mission die Kompetenzen der Hohen Vertreterin für Au-
ßen- und Sicherheitspolitik tatsächlich anerkennt oder ob
es hier zu erheblichen Reibungsverlusten innerhalb der
EU kommen wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Frage ist: Wird hier eventuell eine Doppeldiplomatie
eröffnet, die im Nachhinein belegen würde, dass es sich
bei dem Satz in diesem Programm lediglich um eine
leere Phrase handelte? Das bleibt abzuwarten.

Einige Umweltverbände haben den Kommissionsprä-
sidenten Barroso kritisiert und gesagt: Das Programm ist
wirtschaftslastig. Das soll im Ergebnis bedeuten: Ener-
giepolitik und Umweltpolitik spielen in diesem Pro-
gramm kaum eine Rolle. Aber der Teufel steckt im De-
tail. Das Arbeitsprogramm besteht nicht nur aus den
zwölf Seiten Text, sondern auch aus den 40 strategischen
Initiativen. Es gibt vier Initiativen, die im Bereich der
Umwelt- und Energiepolitik einschlägig sind: der Fahr-
plan für eine CO2-arme Wirtschaft bis 2050, der europäi-
sche Energieeffizienzplan bis 2020, der Fahrplan für
erneuerbare Energien bis 2050 und die Richtlinie zu
Energieeffizienz und Energieeinsparung.

Was mir aber völlig fehlt, ist wenigstens ein Satz zu
der Frage: Welche Reduktionsziele verfolgt die Kom-
mission? Gilt das Ziel der Reduktion um 20 Prozent bis
zum Jahr 2020 im Verhältnis zum Referenzjahr 1990
noch? Oder hat sich da irgendetwas getan? Wird immer
noch die Erhöhung des Reduktionsziels auf 30 Prozent
– unter der Bedingung, dass auch andere Volkswirtschaf-
ten mitziehen – angestrebt? Das Europäische Parlament
hat mit Blick auf Cancún durch eine Entschließung ein
Zeichen gesetzt, nämlich: bedingungslose Erhöhung auf
30 Prozent.

Ich teile ausdrücklich die Meinung des Bundesum-
weltministers Norbert Röttgen, dass sich die Europäi-
sche Union hier als Vorreiter positionieren sollte. Ein
„Weiter so“ hilft uns in der Klimapolitik nicht. Nachdem
die Kopenhagener Konferenz gescheitert und Cancún
„wenig mehr als nichts“ ist – so ein Originalzitat im
Handelsblatt –, wird es Zeit, dass hier deutliche Zeichen
– von Deutschland und auch von der Europäischen
Kommission ausgehend – gesetzt werden. Wir sollten
uns deshalb für das bedingungslose Reduktionsziel von
30 Prozent einsetzen.

Als Argument gegen diese Ansicht wird angeführt,
die Wettbewerbsfähigkeit Europas sei gefährdet.


(Andrej Hunko [DIE LINKE]: Das kommt doch immer!)


– Ja. – Meines Erachtens fehlt der Mut, und es fehlt die
Innovationsbereitschaft, hier auch mal einen Schritt nach
vorne zu gehen.


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Vor allen Dingen bei der CDU/CSUFraktion!)


Das sage ich als Abgeordneter.

Die europäische Automobilindustrie hat schon einmal
gezeigt, dass sie die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat.
Sie ist über eine gewisse Zeit in einen Tiefschlaf verfal-
len. Während andere Antriebs- und Hybridtechnik ent-
wickelt haben, die jetzt im Kommen ist – China will ein
Joint Venture mit Toyota eingehen –, müssen wir darauf
achten, dass wir noch den Anschluss finden.

Meine Damen und Herren, lernen wir daraus! Wer
heute nicht begreift, dass morgen nur die Volkswirt-
schaften und nur die Unternehmen wettbewerbsfähig
sind, die das berücksichtigen, ist nicht zukunftsfähig.
Wir müssen Ressourcen sparen, und wir müssen die Um-
welt schützen. Machen wir Europa zukunftsfähig und
helfen wir der EU-Kommission in diesem Punkt auf die
Sprünge!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Andrej Hunko [DIE LINKE]: War das jetzt eine Oppositionsrede? – Gegenruf des Abg. Detlef Seif Detlef Seif [CDU/CSU]: Dann bitte klatschen! – Beifall des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE])





(A) (C)


(D)(B)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708428200

Ich schließe die Aussprache.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Dagmar Enkelmann, Roland Claus, Diana
Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Fortsetzung der Braunkohlesanierung in den
Ländern Brandenburg, Sachsen, Sachsen-
Anhalt und Thüringen nach dem Jahr 2012

– Drucksache 17/3046 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Roland Claus für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Roland Claus (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708428300

Glück auf, liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Prä-

sidentin! Wir reden hier über ein gutes Stück deutscher
Einheit. Beim plötzlichen Ende der DDR waren da viele
Mondlandschaften: Braunkohletagebaue, die keiner
mehr wollte oder brauchte, geschundene Erde, schlechte
Luft und Hunderttausende Arbeitslose.

Wir erinnern: Nach dem Krieg war im Osten nichts
zur Energiegewinnung und zum Heizen – kein Öl, keine
Steinkohle –, gab es keinen Marshallplan, aber Repara-
tionszahlungen an die Sowjetunion. Blieb nur die Braun-
kohle im Bitterfelder, im Lausitzer und im Zeitzer Re-
vier, und damit entstanden die Folgen der Tagebaue.

Unser Antrag ist ein Vorschlag an das Parlament, die
Braunkohlesanierung fortzusetzen und dafür ein weite-
res Bund-Länder-Abkommen abzuschließen.


(Beifall bei der LINKEN)


Es geht um ein Abkommen des Bundes mit den Braun-
kohleländern Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt
und Thüringen. Um die Dimension einmal zu verdeutli-
chen: Seit 1992 wurden hier Flächen im Umfang von
über 120 000 Hektar saniert und bewirtschaftet. Da das
niemand von uns sinnlich erfühlen kann, will ich Ihnen
sagen: Das ist etwa die Fläche von Berlin und Potsdam
zusammengenommen.

In diesem Jahr wird in meinem Wahlkreis und den
beiden umliegenden Wahlkreisen im Süden Sachsen-An-
halts mit dem Geiseltalsee der größte künstliche Binnen-
see in Deutschland entstehen – natürlich verbunden mit
unendlich vielen Herausforderungen zur Gestaltung ei-
ner solchen Aufgabe, aber auch mit Erwartungen zur
künftigen wirtschaftlichen und touristischen Nutzung.

Dabei kann inzwischen an sehr viele gute Erfahrun-
gen der letzten fast 20 Jahre angeknüpft werden, die in
der LMBV, der Lausitzer und Mitteldeutschen Bergbau-
Verwaltungsgesellschaft, gesammelt wurden. Aber es
gibt auch eine Reihe neuer Herausforderungen. Wir erin-
nern an die tragischen Ereignisse bei der Böschungsrut-
schung bei Nachterstedt und die vielleicht weniger be-
kannten, aber doch komplizierten Vorgänge beim
Grundwasseranstieg in den Sanierungsgebieten.

Deshalb lautet die Forderung der Bergbausanierer,
mit denen wir im guten Kontakt sind: Lasst uns den
Finanzbedarf aktuell, also auch anhand der neu gewon-
nenen Erkenntnisse ermitteln und nicht nur eine
schlichte Fortschreibung vornehmen! Geologie, meine
Damen und Herren, hält sich nicht an Legislaturperio-
den.

Seit unserer Antragstellung im September 2010 ist
das Leben natürlich weitergegangen. Das haben auch wir
verstanden, weil wir im ständigen Kontakt mit den Sa-
nierern stehen. Es gab Verhandlungen zum Abkommen
im September und im Dezember des vergangenen Jah-
res. Just am nächsten Donnerstag, am 27. Januar, erwar-
ten wir die abschließenden Beratungen. Insofern macht
es ausdrücklich Sinn, mit der heutigen Überweisung in
die Ausschüsse und den Endverhandlungen zu dem Ab-
kommen eine Übereinkunft herzustellen. Unser Antrag
– das merken Sie – hat also bereits gewirkt. Ich will es
einmal sehr zurückhaltend formulieren: Wenn Herr Bun-
desminister Brüderle den Antrag zu begründen hätte,
hätte er zumindest gesagt: Der Antrag hat den Verhand-
lungen Flügel verliehen.

Wir fordern Sie auf: Geben Sie sich einen Ruck!
Stimmen Sie dem Antrag zu! Möglicherweise stört Sie
daran nur der Absender. Wenn es Ihnen nicht passt, dass
der Antrag von uns kommt, haben wir auch dafür einen
Lösungsvorschlag: Wir können in dem damit befassten
Ausschuss daraus sehr wohl einen interfraktionellen An-
trag machen. Stimmen Sie also unserem Antrag zu!
Stimmen Sie damit für ein weiteres gutes Stück deut-
scher Einheit!

Glück auf!


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708428400

Für die Unionsfraktion hat der Kollege Dr. Michael

Luther das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Michael Luther (CDU):
Rede ID: ID1708428500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die Linken haben einen Antrag zum Thema
Fortsetzung der Sanierung der Braunkohlealtstandorte
vorgelegt. Ich kann diesem Antrag auch etwas Gutes ab-
gewinnen; denn Sie stellen am Anfang fest, dass die Sa-
nierungen der letzten 20 Jahre eine Erfolgsgeschichte





Dr. Michael Luther


(A) (C)



(D)(B)

der deutschen Einheit darstellen. Sie loben damit die Re-
gierungen der letzten 20 Jahre.


(Roland Claus [DIE LINKE]: Und die fleißige Opposition gleich mit!)


Da die CDU/CSU an diesen Regierungen viele Jahre be-
teiligt war, halte ich das für erfreulich. Das sollten Sie
als Opposition öfter tun.

Die Braunkohlesanierung ist, wie gesagt, eine Er-
folgsgeschichte. Sie wurde 1992 unter einer schwarz-
gelben Bundesregierung begonnen. Alle weiteren Regie-
rungen haben sie fortgesetzt. Ich denke, wir werden sie
in dieser Legislaturperiode unter einer schwarz-gelben
Bundesregierung zu einem guten Ende bringen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Braunkohlesanierung hat den Steuerzahler viel
Geld gekostet, bis Ende 2012 rund 8,5 Milliarden Euro.
An dieser Stelle will ich einmal Danke sagen für die So-
lidarität, die hier gezeigt worden ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das Lob im Antrag ist in Ordnung. Allerdings ist der
nachfolgende Teil in Ihrem Antrag ziemlich überflüssig.
Warum ist das so? Auch ohne Ihren Antrag haben die
Verhandlungen längst begonnen. Daran kann man eine
gewisse Kontinuität erkennen. Schließlich handelt es
sich bei dem Abkommen, das jetzt geschlossen werden
soll, um das fünfte Abkommen seiner Art. Man kann am
zeitlichen Verlauf deutlich erkennen, dass man immer
rechtzeitig angefangen hat, darüber nachzudenken, was
der nächste Schritt ist, welche Maßnahmen fortgesetzt
werden müssen und welche neuen Aufgaben hinzukom-
men. Man hat sich dementsprechend über die notwendi-
gen Finanzierungen verständigt.

Aus diesem Grunde sage ich: Was im Antrag gefor-
dert wird, ist für mich nicht neu. Die Bundesregierung
verhandelt über das 5. Verwaltungsabkommen seit dem
letzten Sommer. Ich bin mir sicher, dass wir die Ver-
handlungen in diesem Jahr zu einem guten Ende führen
werden. Ihr Antrag ist nicht notwendig; denn es gibt
überhaupt keinen Grund, am Handlungswillen der Bun-
desregierung zu zweifeln. Ich denke, die letzten 20 Jahre
haben bewiesen, dass für uns die Sanierung immer ein
wichtiges Thema war.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Bis Ende 2012 werden rund 97 Prozent der bergmän-
nischen Sicherungsarbeiten abgeschlossen sein. In Zu-
kunft geht es maßgeblich um andere Themen wie die
Wiedernutzbarmachung und die Verwertung der sanier-
ten Flächen. Es geht aber auch um die Abwehr von Ge-
fahren, die sich für Häuser und Gebäude durch den Wie-
deranstieg des Grundwassers ergeben.

1990 wurde das ganze Ausmaß der notwendigen Sa-
nierungsaufgaben sichtbar. Im Ergebnis gab es bislang
– ich habe das schon gesagt – vier Verwaltungsabkom-
men über die Regelung zur Finanzierung der Beseiti-
gung der ökologischen Altlasten. Bund und Länder ha-
ben sich damals darauf geeinigt – das gilt auch heute
noch –, dass der Bund 75 Prozent und die Länder 25 Pro-
zent der Kosten tragen.

Aber mit dem Fortschreiten der bergbaulichen Siche-
rungsmaßnahmen wurden neue Aufgaben erkannt, ins-
besondere diejenigen, die sich aus den Gefahren des
Wiederanstiegs des Grundwassers ergeben. Wir brau-
chen hier einen ausgeglichenen Wasserhaushalt. Dafür
zu sorgen, ist eine entscheidende Aufgabe, die vor uns
liegt. Der schon erwähnte Böschungsrutsch in Nach-
terstedt im Sommer 2009, bei dem leider drei Todesop-
fer zu beklagen waren, aber auch Erdrutsche beispiels-
weise im Spreetal im letzten Jahr zeigen, dass es
notwendig ist, hier zu einer Normalisierung der wasser-
wirtschaftlichen Verhältnisse zu kommen. Hier haben
sich Bund und Länder verständigt, abweichend von der
Sanierungskostenaufteilung zu einer Kostenaufteilung
von 50 zu 50 für Bund bzw. die Länder zu gelangen.
Diese Einigung gilt; diese Einigung steht. Ich habe noch
niemanden gehört, der das anders will – bis jetzt zum
Antrag von den Linken. Ich weiß auch nicht, warum wir,
wenn diese Kostenaufteilung akzeptiert ist, in Zukunft
zu einer anderen Kostenaufteilung kommen sollen. Ich
sehe hier also keinen Grund, etwas zu verändern. Des-
halb halte ich den Antrag für einen reinen Schaufenster-
antrag, wo hinter der Scheibe lauter alte Hüte ausgestellt
werden.

Aber erlauben Sie mir an dieser Stelle noch ein Wort
dazu. Ich habe mir bei der Vorbereitung auf diese Rede
natürlich die Frage gestellt, warum wir um Himmels wil-
len sanieren und so viel Geld ausgeben müssen. Ich will
es mit einer anderen Sache verknüpfen. Die Linke hat
mit ihrer Kommunismusdebatte in den letzten Tagen
wieder einmal gezeigt, worum es hier in Wahrheit geht,
nämlich – die Vorsitzende hat es erklärt –: Sie wollen
den Kommunismus. Die Braunkohlesanierung ist ein ty-
pisch ostdeutsches Thema. Sie ist für mich eine direkte
und unmittelbare Folge der DDR-Misswirtschaft. Wer
hat diese verursacht? Das passierte unter der Führung
der Staatspartei SED, in deren Tradition sich die Linken
heute stellen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Raubbau an natürlichen Ressourcen, Umweltzerstö-
rung in riesigem Ausmaß, Nichtrekultivierung von zer-
störten Landschaften – das sind für mich Folgen des real
existierenden Sozialismus auf dem Weg zum Kommu-
nismus.


(Zuruf von der CDU/CSU: Genau!)


Ich habe immer fein aufgepasst, was im Neuen Deutsch-
land stand.

Der real existierende Sozialismus hat diejenigen
mundtot gemacht, die versucht haben, genau auf diese
Probleme hinzuweisen; die SED hat sie ins Gefängnis
gesteckt. Die Linken stellen sich in die Tradition dieser
Partei und wollen letztendlich das Gleiche.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Herr Dr. Luther, das war oberflach! Das war ober Dr. Michael Luther peinlich! Wenn ich das im Wahlkreis erzähle, dann glaubt mir das keiner!)





(A) (C)


(D)(B)


Ich muss sagen: Ich bin froh, dass wir im letzten Jahr
20 Jahre deutsche Einheit feiern konnten und dass ich
nicht im 60. Jahr der Diktatur des Kommunismus leben
muss.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der Braunkohleabbau, die Art und Weise, wie er betrie-
ben wurde, und die damit in Verbindung stehende Um-
weltzerstörung waren für mich als Ostdeutscher real er-
lebter Kommunismus, und diese Erfahrung will ich nicht
wiederholen müssen.


(Zurufe von der LINKEN)


Die Braunkohlesanierung unter marktwirtschaftlichen
Verhältnissen in der Bundesrepublik Deutschland ist
eine Erfolgsgeschichte. Das 5. Verwaltungsabkommen
wird diese Erfolgsgeschichte fortsetzen. Dafür brauchen
wir den Antrag der Linken nicht und erst recht keine Be-
lehrungen durch sie.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708428600

Für die SPD-Fraktion hat nun der Kollege Dr. Peter

Danckert das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Peter Danckert (SPD):
Rede ID: ID1708428700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Zunächst einmal möchte ich Ihnen gute Besserung wün-
schen. Das ist wirklich ein lang andauernder Prozess,
den Sie durchmachen müssen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708428800

Danke. Ich arbeite daran.


Dr. Peter Danckert (SPD):
Rede ID: ID1708428900

Ich weiß nicht, ob Sie sich bei der Kanzlerin ange-

steckt haben. Ich hoffe nicht.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708429000

Ich fürchte, es war eher umgekehrt, wenn ich das im

zeitlichen Ablauf betrachte.


Dr. Peter Danckert (SPD):
Rede ID: ID1708429100

Wir haben heute einen Antrag zur Braunkohlesanie-

rung vorliegen. Lieber Kollege Luther, ich finde es ei-
gentlich gar nicht schade, dass man auch im Rahmen der
Beratung eines solchen Antrags über dieses Thema re-
det. Wann sollten wir sonst darüber reden, wenn nicht
anhand eines Antrags? Wenn er von den Linken kommt,
finde ich das überhaupt nicht schädlich. Es ist – das ha-
ben Sie auch hervorgehoben – ein gesamtdeutsches Er-
folgsprojekt. Es handelt sich um ein Riesenareal, das
hier peu à peu saniert worden ist und saniert wird. Wir
haben inzwischen über 8 Milliarden Euro investiert, und
wir sind noch nicht am Ende. Wir haben vier sehr erfolg-
reiche Verwaltungsabkommen hinter uns. Ich finde, das
ist schon eine gute Leistung. Bei aller grundsätzlichen
Zuständigkeit des Bundes haben die Länder Branden-
burg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen mitge-
macht. Es war in den letzten Abkommen nicht immer
ganz einfach, einen gemeinsamen Nenner zu finden.
Aber ich finde, das ist eine Erfolgsgeschichte. Über die
kann man im Parlament auch reden.

Ich gebe zu, dass da nicht alles neu ist. Verehrter Kol-
lege Claus, auch ohne Ihren Antrag hätten sich der Bund
und die vier Länder damit beschäftigen müssen. Das ha-
ben sie übrigens zu dem Zeitpunkt, zu dem dieser Antrag
verfasst worden ist, schon längere Zeit getan. Außerdem
gibt es die Verpflichtung aus § 5 des 4. Verwaltungsab-
kommens, sich damit zu beschäftigen und rechtzeitig ein
neues Abkommen zu erarbeiten. Von daher ist der An-
trag nicht so fundamental, dass ohne ihn diese Dinge
nicht zur Sprache gekommen wären.

Hier ist eine ökologische Meisterleistung – sie ist
noch nicht abgeschlossen – vollbracht worden. Die
Braunkohlesanierung bringt tagtäglich auch neue Pro-
bleme mit sich; wir haben von den Vorfällen in den letz-
ten Monaten gehört. Aber hier muss auch – ich wende
mich an den Staatssekretär Steffen Kampeter als einfa-
chen Abgeordneten –


(Otto Fricke [FDP]: Das ist der nie!)


ein gewaltiger Kraftakt vollbracht werden. Im letzten
Verwaltungsabkommen für die Jahre von 2008 bis 2012
sind es etwa 1 Milliarde Euro. Wir Brandenburger profi-
tieren in einer Größenordnung von 480 Millionen davon,
allerdings sind es auch 180 Millionen aus Landesmitteln.
Es ist also ein gemeinsames Projekt.

Die LMBV hat einen Bericht über den Status quo er-
arbeitet, der genau sagt, wo wir uns im Hinblick auf die
bergrechtliche und wasserrechtliche Situation im Mo-
ment befinden, und daraus eine Plausibilitätsplanung ge-
macht, um das Sanierungsgeschehen weiter zu begleiten.
In dieser Etappe hat sich gezeigt, dass wir nicht nur sa-
nieren müssen, sondern auch sanierte Flächen nacharbei-
ten müssen, damit die Sicherheit für unsere Bürgerinnen
und Bürger an dieser Stelle gegeben ist. Wir haben ganz
erhebliche wasserrechtliche Probleme zu lösen – dabei
geht es um die Wasserqualität –, was ebenfalls eine
große ökologische Herausforderung ist. Auch dies
kommt den Menschen in der Region zugute.

Die Abwehr von Gefahren aus dem Grundwasserwie-
deranstieg muss fortgeführt werden. Diese Gefahren, die
sich aus einer Kombination von Altbergbau und Grund-
wasserwiederanstieg ergeben, sind natürlich in die Sa-
nierungsbemühungen einzubeziehen, um – ich habe es
eben schon gesagt – auch das Hab und Gut der Bürgerin-
nen und Bürger sowie Gewerbeflächen sicher zu schüt-
zen. Dies ist wirklich eine große Herausforderung.

In Ihrem Antrag beziffern Sie den Abarbeitungsstand
mit etwa 97 Prozent. Dies werden wir in der Beratung im
Haushaltsausschuss noch einmal zur Sprache bringen;
denn das ist nach dem, was ich aus dem Kreis der auf der
Arbeitsebene Tätigen höre, bei weitem noch nicht er-
reicht. Das heißt, es gibt hier auch zusätzliche finanzielle





Dr. Peter Danckert


(A) (C)



(D)(B)

Verpflichtungen für den Bund und die Länder. Ich hoffe,
Herr Staatssekretär, dass diese Aufgabe, die primär beim
Bund liegt, ernst genommen wird und sich darüber keine
größere Debatte ergibt, damit dieses riesige Projekt auch
zu Ende geführt werden kann.

Wir werden das Jahr 2011 abwarten müssen, um ei-
nen zwischen Bund und Ländern abgestimmten Entwurf
hinzubekommen. Dann wird sicherlich noch einmal hier
im Parlament darüber debattiert werden. Ich vermute,
dass in der zweiten Hälfte des nächsten Jahres eine Lö-
sung gefunden werden kann. Im Haushaltsausschuss und
in den mitberatenden Ausschüssen werden wir noch ge-
nügend Gelegenheit haben, diese Dinge im Detail zu er-
örtern und die historische Aufgabe hinreichend zu wür-
digen. Immerhin ist dies eines der ganz großen
gesamtdeutschen Projekte, das für viele andere Regio-
nen beispielhaft ist, die mit Braunkohlebergbau zu tun
haben. Ich freue mich auf die Debatte in den Ausschüs-
sen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708429200

Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Haustein das

Wort.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Heinz-Peter Haustein (FDP):
Rede ID: ID1708429300

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Die Braunkohle ist ein fossiler
Brennstoff; das ist bekannt.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Nein! Das ist Erwachsenenbildung!)


Ihr Wasseranteil beträgt 50 Prozent. In den festen Be-
standteilen sind ungefähr 70 Prozent Kohlenstoff und
3 Prozent Schwefel enthalten; der Rest ist Erde. Deshalb
hatte die Rohbraunkohle bei uns im Osten den Spitzna-
men „Heilerde“. Es ist öfter mal passiert, dass das Feuer
im Kessel ausgegangen ist, anstatt schön weiterzubren-
nen.

Stellt euch vor, es gab einen Staat, der praktisch über
eine einzige Energiequelle verfügte, nämlich die Braun-
kohle.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Wir sind doch nicht in der Grundschule!)


Es gab riesige Tagebaue, große Schaufelradbagger und
Eimerkettenbagger. Es gab kilometerlange Transport-
strecken, um die Rohbraunkohle zu den Kraftwerken zu
schaffen, wo sie verstromt wurde, oder um sie zu den
Verladebahnhöfen zu bringen, von wo aus die Braun-
kohle im Land zum Verfeuern verteilt wurde.


(Beifall des Abg. Frank Schäffler [FDP])


Besser war es, die Rohbraunkohle zu veredeln und sie zu
Briketts oder zum BHT-Koks, zum Braunkohlehochtem-
peraturkoks, zu verarbeiten.
Die Braunkohle bildete die Grundlage der Energie-
wirtschaft der DDR. Dies hatte zur Folge, dass auf einer
Fläche von 1 400 Quadratkilometern, ungefähr von hier
bis nach Dresden, auf einem 10 Kilometer breiten Strei-
fen Tagebaue angelegt wurden. Damit wurde Raubbau
an der Natur und am Menschen betrieben. Es wurde
rücksichtslos abgebaut; man hatte nur die Produktion
von bis zu 300 Millionen Tonnen pro Jahr im Blick. Das
war Fakt; so war es bis 1990: öde Landschaften, Unland,
Umweltverschmutzung hoch fünf.

Dann kam die Wende, und damit kamen glücklicher-
weise ein verehrter Herr Bundeskanzler Kohl und ein
Außenminister Genscher, die das Problem erkannt haben
und die Weichen richtig gestellt haben. Das war ent-
scheidend. In den ersten beiden Jahren wurden über
112 000 Menschen im Rahmen von ABM in den Braun-
kohletagebauen beschäftigt. Mit dem 1. Verwaltungsab-
kommen von 1993 wurde die Braunkohlesanierung gere-
gelt. Das ist wirklich eine Erfolgsgeschichte: 97 Prozent
der Flächen sind bereits bergmännisch saniert,
87 Prozent sind rekultiviert. Es tut gut, so etwas Schönes
sagen zu können.

Zum Antrag der Linken. Sie mahnen verschiedene
Punkte an, die sowieso schon überholt sind. Die Ver-
handlungen, deren Abschluss Sie fordern, laufen bereits
– mein verehrter Herr Kollege Michael Luther hat es ge-
sagt –;


(Katharina Landgraf [CDU/CSU]: Ja! Sieht gut aus!)


in der nächsten Woche, am 26. oder am 27. Januar,
kommt die Gruppe zusammen und wird die Weichen für
das 5. Verwaltungsabkommen richtig stellen.

Sie fordern, die Braunkohlesanierung „als öffentliche
Aufgabe zu betrachten.“ Sie wird zwar von einem Pri-
vatbetrieb durchgeführt, aber der Bund ist einziger Ge-
sellschafter des Unternehmens und hält 100 Prozent.
Also wird die Braunkohleförderung schon jetzt als eine
öffentliche Aufgabe durchgeführt.

Sie fordern, genug Geld zur Verfügung zu stellen. Das
ist selbstverständlich notwendig, um hier zu einem guten
Ende zu kommen. Wir sollten aber nur so viel Geld wie
nötig bereitstellen. Nur das, was sein muss, was wir un-
bedingt machen müssen, sollte gemacht werden, nicht so
viel wie möglich.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Eine weitere Forderung bezieht sich auf „Maßnahmen
zur Abwehr von Gefährdungen … im Zusammenhang
mit einem Wiederanstieg des Grundwassers“. Das ist na-
türlich so eine Sache. Sie wissen ja: Der Erzfeind des
Bergmanns ist das Wasser, egal ob in den Erzgruben
oder in den Tagebauen. Sie müssen es sich so vorstellen:
Ein Tagebau mit den verschiedenen Stufen ist manchmal
200 oder 300 Meter tief. Die Wasserhaltung hat natürlich
zu Verwerfungen geführt. Der Grundwasserspiegel
wurde kilometerweise abgesenkt. Zum Teil wurde auf
den Flächen neu gebaut. Durch das Fluten der Tagebaue
steigt jetzt der Grundwasserspiegel. Dadurch kommt es
zu Schäden an Häusern, Straßen und Brücken; es kommt





Heinz-Peter Haustein


(A) (C)



(D)(B)

auch zu Gefährdungen. Der Bergbau im Erzgebirge ist
gut 800 Jahre alt. Noch immer – auch heute noch – gibt
es Einstürze an Straßen und auf Feldern; noch heute ent-
stehen Bingen. Der Bergbau ist also sehr langfristig an-
gelegt.

Ich fasse zusammen: Das ist wirklich eine Erfolgsge-
schichte, die die christlich-liberale Koalition schon 1990
begonnen hat.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Mir gibt dieser Antrag, eben weil er von den Linken
kommt, Gelegenheit, den Leuten zu sagen: Auch das ist
eine Seite des Kommunismus – Raubbau an der Natur,
Missachtung der Schöpfung. Da spielt das überhaupt
keine Rolle. Umwelt- und Naturschutz: gleich null.
Auch das muss einmal gesagt werden.

Wenn Sie letzte Woche gesagt haben, Sie wollen den
Kommunismus wieder, dann kann ich nur entgegnen:
Ich habe es ja schon immer geahnt; denn Sie halten ja
am Kommunistischen Manifest als Grundlage Ihrer Poli-
tik fest. Meine Sache ist das nicht. Ich habe, ganz ehrlich
gesagt, vom Kommunismus die Schnauze voll.

SPD und Grünen in NRW möchte ich noch sagen:
Seid vorsichtig, von wem ihr euch tolerieren lasst, sonst
steckt es euch irgendwann auch noch an.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die FDP will doch die Grünen tolerieren! Eure eigenen Leute!)


Liebe Freunde, in diesem Sinne ein herzliches „Glück
auf!“ aus dem Erzgebirge.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708429400

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Kol-

lege Krischer das Wort.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708429500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ja, es fiele mir schon etwas ein zu dem letzten Debatten-
beitrag, aber ich glaube, das hätte weniger mit dem
Thema Braunkohlesanierung zu tun. Deshalb will ich
mich lieber mit diesem Thema auseinandersetzen.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Karneval steht vor der Tür!)


Man kann sich in der Tat fragen, warum dieser Antrag
jetzt hier eingebracht wird. Denn eigentlich war klar:
Die Haushaltsmittel waren schon in die mittelfristige Fi-
nanzplanung eingestellt. Soweit ich informiert bin, gab
es auch keinen großen Dissens darüber, dass das fortge-
setzt wird. Da kann man schon fragen: Warum bringt
man einen solchen Antrag ein? Aber ich will die Gele-
genheit nutzen, einfach Bilanz zu ziehen.

Hier ist sehr viel gelobt worden. In der Tat ist da eine
Menge geleistet worden. Das ist ein positives Beispiel,
ohne Zweifel. Aber es ist nicht alles gut gelaufen, und es
gibt eine ganze Reihe von Problemen. Das Unglück in
Nachterstedt ist nur das augenfälligste, das mit den
schlimmsten Folgen gewesen. Wir haben in den Sanie-
rungsgebieten eine ganze Reihe von Problemen. Erst im
Oktober dieses Jahres hat es im ehemaligen Tagebau
Spreetal einen schweren Grundbruch gegeben, bei dem
– man glaubt es nicht – 80 Schafe umgekommen sind.
Darüber kann man jetzt vielleicht lachen,


(Zuruf von der LINKEN: Nein, nein!)


aber man darf sich nicht vorstellen, was passiert wäre,
wenn an der Stelle Menschen gewesen wären. Das zeigt
eben, ganz so optimal läuft diese Sanierung nicht.


(Beifall der Abg. Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Es gibt eine Reihe von weiteren Fällen. Zum Beispiel hat
es in der Weihnachtszeit im ehemaligen Tagebau Lohsa
einen weiteren Grundbruch gegeben. Wir haben riesige
Probleme mit den Grundwasserständen. Wir haben Schwe-
fel im Wasser, es gibt Versauerungen. Wenn ich mir die
Stellungnahmen der Naturschutzverbände vor Augen führe,
dann sehe ich: Es gibt auch eine ganze Menge Kritik,


(Dr. Peter Danckert [SPD]: Was wäre denn die Alternative gewesen?)


dass da die Kriterien der Biodiversität, des Naturschut-
zes nicht immer vollständig berücksichtigt worden sind.
Auch das, denke ich, muss man in dieser Debatte sagen;
auch darauf muss man hinweisen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich finde auch, es ist zu wenig, nur über die Vergan-
genheit zu reden. Denn es gibt ja auch noch laufende
Braunkohletagebaue, im Osten und im Westen Deutsch-
lands.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Bei Aachen!)


Zu den Problemen, die damit verursacht werden, den
Altlasten und Ewigkeitskosten, die dort bestehen bzw.
noch entstehen werden, finde ich leider in diesem Antrag
nichts. Ich würde mir wünschen, dass wir uns auch damit
auseinandersetzen. Nur Geldforderungen für Folgen der
Vergangenheit zu stellen, das ist meines Erachtens zu
wenig.


(Otto Fricke [FDP]: Jetzt kommt der Kirchturm!)


Wir müssen darauf achten, dass wir hier nicht in ein paar
Jahren über die Folgeschäden und die Folgekosten der
Tagebaue, die heute laufen, diskutieren werden, dann
nämlich, wenn sich RWE und Vattenfall, die diese Tage-
baue heute betreiben, möglicherweise aus dem Staub ge-
macht haben und ihren Verpflichtungen nicht nachkom-
men. Dann haben wir die nächsten Altlasten. Dazu wären
jetzt eigentlich Forderungen zu stellen; dazu würde ich
mir auch mal einen Antrag wünschen.


(Otto Fricke [FDP]: Das hat die rot-grüne Regierung in NRW doch verhindert!)


– Die rot-grüne Regierung, das kann ich Ihnen sagen, hat
eine sehr gute Entscheidung getroffen, indem sie sich
nämlich dafür entschieden hat, dass es nach dem Auslau-





Oliver Krischer


(A) (C)



(D)(B)

fen der vorhandenen Tagebaue keine neuen mehr geben
wird, weil wir der Meinung sind, dass die Braunkohle-
verstromung nicht nur die klimaschädlichste Form der
Energieerzeugung ist, sondern auch die schädlichste in
Bezug auf die Landschaftszerstörung. Es werden Men-
schen vertrieben; sie verlieren ihre Heimat. Das alles ist
nicht zukunftsfähig. Das ist auch völlig klar. Vor dieser
Frage drücken Sie sich natürlich.

Sie akzeptieren – das muss man leider auch der rot-
roten Landesregierung in Brandenburg sagen –, dass der
Braunkohletagebau weitergeht und für die Zukunft Alt-
lasten produziert werden.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das ist nicht wahr! Sie sagen das wider besseres Wissen!)


Das sollte nicht unser Thema sein. Es sollte uns eine
Warnung sein, dass in der DDR derart viele Altlasten
produziert worden sind, dass wir bisher schon 9 Mil-
liarden Euro in die Sanierung stecken mussten. Sie selbst
sagen, dass das noch lange nicht das Ende ist, sondern
noch eine ganze Menge hinzukommen wird. Daraus
sollten wir lernen und auf die Braunkohle in Zukunft ins-
gesamt verzichten. Wir sollten den Betrieb dieser Tage-
baue in einem geordneten Verfahren auslaufen lassen
und die umweltverträgliche Alternative, die erneuerba-
ren Energien, nutzen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Sagen Sie mal was zu Moorburg!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708429600

Für die Unionsfraktion hat der Kollege Koeppen das

Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Jens Koeppen (CDU):
Rede ID: ID1708429700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich konnte beim Lesen des PDS-Antrags


(Zurufe von der LINKEN: Oh!)


nicht erkennen, was die genaue Zielrichtung dieses An-
trags ist.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Da haben Sie aber nicht gut gelesen!)


Herr Claus, auch durch Ihre Rede ist mir das nicht deut-
licher geworden. Die Kollegen vom Haushaltsausschuss
hingegen haben deutlich gemacht, dass es keinerlei par-
lamentarischer Korrekturen bedarf, weil das 5. Verwal-
tungsabkommen auf dem Weg ist. Außerdem brauchen
wir keine Hinweise von Ihnen in dieser Debatte.

Der Antrag ist aber trotzdem sehr gut, weil er mir Ge-
legenheit gibt, kurz die Gründe hervorzuheben, warum
ein Milliardenaufwand der Bundesbürger zur Braunkoh-
lesanierung notwendig geworden ist. Von Ihrer Seite wird
immer wieder versucht, zu unterstellen, dass die Lasten
der öffentlichen Hand mit der heutigen Nutzung verbun-
den sind. Das ist schlichtweg falsch. Heute haften die Un-
ternehmen für jeden Eingriff. Sie bilden Rückstellungen
für die erforderliche Renaturierung. Diese Renaturierung
wird von den Unternehmen, die dort tätig sind, selbst
finanziert. Das ist so. Sie brauchen gar keine anderen
Spuren zu legen.

Die PDS-Vorsitzende Lötzsch hat auf ihrer verzwei-
felten Suche nach dem Kommunismus vor kurzem ge-
sagt: Manchmal lohnt sich ein Blick in die Geschichte,
um etwas zu verstehen. – Dann machen wir das einmal,
um die Notwendigkeit von Verwaltungsabkommen zur
Regelung der Finanzierung der ökologischen Altlasten
zu erklären. Es handelt sich um fast 9 Milliarden Euro.
Eines ist ganz klar: Über diese Verwaltungsabkommen
wird ausschließlich die Bewältigung der Altlasten der
desaströsen Energie- und Umweltpolitik des SED-Re-
gimes finanziert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, Sie haben nicht nur einen
politischen Scherbenhaufen hinterlassen, sondern Sie
haben auch in den Bereichen Wirtschaft und Energie und
insbesondere im Bereich der Umwelt einen Scherben-
haufen hinterlassen. Und jetzt stellen Sie sich selbst als
Umweltengel dar, wettern gegen die Braunkohle, be-
schimpfen die Kraftwerke als Dreckschleudern und wür-
den sie lieber heute als morgen schließen und Tausende
Menschen, die dort arbeiten, auf die Straße schicken.
Davon wären insbesondere die Menschen in Ostdeutsch-
land betroffen.

Wäre ein Verständnis für nachhaltige Politik – ich
sage das in Anführungsstrichen – bei Ihnen und Ihren
Funktionären, die alle noch bei Ihnen hocken, in den
Jahren vor 1990 in irgendeiner Art und Weise vorhanden
gewesen, hätte es diese gewaltigen Umweltzerstörungen
niemals gegeben. Sie haben Raubbau betrieben. Sie ha-
ben die Umwelt geschändet. Sie haben Wälder vernich-
tet. Sie haben den Dreck in die Luft geschleudert und die
Menschen am Rande von riesigen Mondlandschaften
wohnen lassen. Es ist absolut unredlich, jetzt solche An-
träge zu schreiben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Heinz-Peter Haustein [FDP])


Die Menschen in den neuen Ländern haben in den
letzten beiden Jahrzehnten eine unglaubliche Leistung
vollbracht, auch mithilfe – das ist richtig – öffentlicher
Mittel und einer großen Solidarität. Herr Claus, das ver-
steckte SED-Vermögen hätte vielleicht auch geholfen,
diese Umweltsünden zu beseitigen,


(Roland Claus [DIE LINKE]: Ach ja! Das haben wir im Tagebau verbuddelt!)


aber das haben Sie über den Durst gerettet. Die Regio-
nen, die mit den SED-Hinterlassenschaften umzugehen
haben, können auch in Zukunft auf die gesamtdeutsche
Unterstützung vertrauen.


(Arnold Vaatz [CDU/CSU]: Richtig!)


Noch ein Wort zur Braunkohle – Herr Krischer, dies-
bezüglich bin ich überhaupt nicht bei Ihnen –: Dass in





Jens Koeppen


(A) (C)



(D)(B)

den Braunkohleregionen eine Akzeptanz für eine weitere
Braunkohlenutzung vorhanden ist, hängt im Wesentli-
chen damit zusammen, dass man die Abbaugebiete ver-
nünftig saniert und die Menschen nicht, wie zu DDR-
Zeiten, mit der Umweltzerstörung alleinlässt.

Wir finden, dass die Braunkohle auch heute eine
wichtige Funktion im Energiemix hat,


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


und zwar in Bezug auf Versorgungssicherheit, Wettbe-
werbsfähigkeit und Klimaschutz. Wenn man das alles
zugleich im Blick hat, wird man sehen – auch Sie wer-
den es sehen –, dass man in absehbarer Zeit nicht auf den
Energieträger Braunkohle verzichten kann.

Im Hinblick auf die Versorgungssicherheit hat die
subventionsfreie Verstromung der heimischen Braun-
kohle gerade in Ostdeutschland eine wichtige Funktion.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie subventionsfrei die ist, sieht man ja!)


Natürlich muss sie – da gebe ich Ihnen recht – klima-
schonender werden. Wir brauchen effiziente Kraftwerks-
technologien – dafür wird unser brillantes deutsches In-
genieurwesen, über das wir verfügen, schon sorgen –,
aber auch ein CCS-Gesetz, das wir in Kürze verabschie-
den werden.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Da sind wir aber gespannt!)


Hier sollten Sie sich einbringen.

Da Sie in Brandenburg leider in Regierungsverant-
wortung sind, sage ich Ihnen: Sie sollten sich nicht im-
mer wegducken und hier das eine, dort das andere sagen.
Sie dürfen nicht immer schreien: „Haltet den Dieb!“;
denn Sie sind die Räuber. Sie rufen nach dem Staat, den
Sie auf dem Weg zu Ihrem Kommunismus beseitigen
wollen. Ich finde das armselig und beschämend, meine
Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei der LINKEN – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Das wird auch nicht besser, wenn Sie das wiederholen!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708429800

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3046 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:

Beratung der Unterrichtung durch den Parlamen-
tarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung
Bericht des Parlamentarischen Beirats für
nachhaltige Entwicklung zum Indikatorenbe-
richt 2010 des Statistischen Bundesamtes

und

Erwartungen an den Fortschrittsbericht 2012
zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie der
Bundesregierung

– Drucksache 17/3788 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Marcus Weinberg für die Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Marcus Weinberg (CDU):
Rede ID: ID1708429900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das

passt ja ganz gut. Jetzt gehen wir von der alten Braun-
kohle zum Thema Nachhaltigkeit über. Mein Vorredner,
Herr Koeppen, hat den Bogen zu dem, was nachhaltige
Politik im Jahre 2011 bedeuten könnte, schon gespannt.

Ich habe einleitend eigentlich sagen wollen, dass die
Mitglieder des Parlamentarischen Beirats für nachhaltige
Entwicklung glücklich sind, den Indikatorenbericht 2010
schon am Donnerstag der ersten Sitzungswoche dieses
Jahres zu einer Topzeit vorstellen zu können.


(Heiterkeit)


Zumindest beim Donnerstag und bei der ersten Sitzungs-
woche ist es geblieben. Der Beginn der Debatte hat sich
allerdings etwas verzögert. Dass diese Debatte ursprüng-
lich so angelegt war, beweist aber, dass der Aspekt der
Nachhaltigkeit dem Deutschen Bundestag im Jahre 2011
noch wichtiger ist, als er ihm in der Vergangenheit be-
reits war. Schließlich haben wir schon im Jahre 2010
viele gute Debatten zu diesem Thema geführt und die
Arbeit des Bundestages damit, wie ich hoffe, befruchten
können.

Natürlich stellt sich die Frage: „Wie bewertet man in
sechs Minuten den Indikatorenbericht 2010?“, zumal in
dieser Debatte auch der Fortschrittsbericht, die Struktur
des Parlamentarischen Beirats und unsere Arbeit zum
Thema Nachhaltigkeit insgesamt eine Rolle spielen. Es ist
sehr ambitioniert, alle Indikatoren – es sind 21 plus x –
in 30 Minuten zu behandeln.

Lassen Sie mich versuchen, in ein, zwei Sätzen zu sa-
gen, was uns der Indikatorenbericht über die Entwick-
lung der Nachhaltigkeit in der Bundesrepublik verrät.
Ich glaube, man kann sagen, dass die Nachhaltigkeit auf
einem guten Weg ist. Man muss klar feststellen: Bei ein-
zelnen Indikatoren besteht noch Nachbesserungsbedarf
– im Indikatorenbericht sieht man in diesem Fall einen
bösen Blitz –, bei vielen Indikatoren haben wir bereits





Marcus Weinberg (Hamburg)



(A) (C)



(D)

gute Entwicklungen hinter uns – in diesem Fall ist im In-
dikatorenbericht eine Sonne zu sehen –, und bei einigen
Indikatoren ist die Situation noch problematisch.

An dieser Stelle vielen Dank an die Obleute. Wir ha-
ben es geschafft, diesen Bericht gemeinsam und mit nur
wenigen Sondervoten zu verabschieden und ihn dem
Bundestag vorzulegen.

Ich will nur zwei, drei Beispiele für Indikatoren, die,
wie ich glaube, signifikant Positives, aber auch Proble-
matisches aufzeigen, benennen. Wichtig ist, dass wir uns
zwei Ziele gesetzt haben. Zunächst werten wir die Indi-
katoren in den jeweiligen Fachbereichen aus. Dann über-
legen wir, wo wir unsere Anstrengungen verstärken und
nacharbeiten müssen, um die Nachhaltigkeit immer wie-
der ins Bewusstsein der Menschen zu rücken. Ich
glaube, insgesamt sind wir auf dem richtigen Weg.

Ein sehr positives Beispiel ist der Anteil der erneuer-
baren Energien am Energieverbrauch in Deutschland;
dieses Thema ist gerade schon ansatzweise erwähnt wor-
den. Ich will exemplarisch darauf hinweisen, dass sich
die Bundesregierung für das Jahr 2010 zum Ziel gesetzt
hat, einen Anteil von 4,2 Prozent zu erreichen. Der An-
teil der erneuerbaren Energien am Primärenergiever-
brauch betrug bereits im Jahre 2009 8,9 Prozent. Dieses
Ziel wurde also weit übertroffen.

Ein weiteres Beispiel ist die Stromerzeugung. Es wurde
das Ziel formuliert, der Anteil der erneuerbaren Energien
an der Stromerzeugung solle bis 2010 12,5 Prozent betra-
gen. Mittlerweile liegt ihr Anteil bei 16,1 Prozent. Dieser
Indikator sagt also: Hier liegt ein Erfolg vor. Da kann man
auch einmal sagen, dass sich gewisse Handlungen der
Politik in diesem Bereich nachhaltig auswirken. Ich
erinnere an gewisse Gesetzesvorhaben, das EEG oder
EE-Wärmegesetz. Darüber kann man en détail diskutie-
ren, aber sie haben eins bewirkt: Sie haben den Anteil der
erneuerbaren Energien am Primärenergieverbrauch deut-
lich nach oben steigen lassen. Das ist ein gutes Ergebnis,
eine gute Botschaft.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Man könnte jetzt jeden einzelnen Indikator durchar-
beiten, das mache ich aber nicht. Ich möchte nur noch
zwei oder drei herausarbeiten, die für meinen Bereich,
nämlich für die Bildung, gewisse Probleme mit sich
bringen. Da haben wir zum Beispiel die Schulabbrecher-
quote, die Quote der 18- bis 24-Jährigen, die keinen
Schulabschluss haben. Das ist eine für den Bildungsbe-
reich hochbrisante und hochwichtige Quote. 1990 hatten
wir sozusagen als Ausgangsbasis einmal 14,9 Prozent.
Jetzt liegt die Quote bei 11,8 Prozent. Richtig ist, dass
wir das Ziel von 9 Prozent nicht erreicht haben, richtig
ist aber auch, dass der Prozess als solcher positiv zu be-
werten ist. Wir müssen dennoch darüber diskutieren,
weil dieser Indikator zu spät ansetzt. Dieser Indikator
bewertet das Ergebnis der zuvor erfolgten frühkindli-
chen, vorschulischen und schulischen Bildung, wenn das
Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Diesen Indikator
kann man auch nicht alleine stehen lassen, man muss ihn
immer durch einzelne Bildungsberichte ergänzen. In der
letzten Sitzungswoche haben wir hier beispielsweise
über PISA diskutiert. Das alles zusammen muss dann ein
rundes Bild ergeben. Ich glaube aber auch, dass der Bil-
dungsbereich deutlich macht, welche Anstrengungen die
letzten Bundesregierungen gerade in diesem Bereich un-
ternommen haben.

Gut ist auch die Studienanfängerquote. Dabei muss
man jedoch darüber diskutieren, was eigentlich der Be-
griff Studienanfängerquote bedeutet. Die Studienanfän-
gerquote in Australien liegt bei 86 Prozent, die in Polen
übrigens bei 78 Prozent. Sie ist natürlich nicht allein si-
gnifikant und aussagefähig hinsichtlich der Frage, wie
sich der Bildungsbereich entwickelt hat. Wir haben ein-
mal das berühmte 40-Prozent-Ziel festgesetzt – man
muss Ziele definieren –, das bedeutet: 50 Prozent der
Schüler erreichen die Hochschulzugangsberechtigung,
40 Prozent gehen an die Hochschulen und 30 Prozent
sollen dann auch einen Abschluss machen. Mit 39,8 Pro-
zent haben wir ein sehr, sehr gutes Ergebnis, sozusagen
knapp vor der Zielmarke. Wenn man dann noch berück-
sichtigt, dass wir einen doppelten Abiturjahrgang hatten,
dass wir die geburtenstarken Jahrgänge hatten, muss
man diese Quote noch wesentlich positiver sehen. Sie ist
übrigens bei den Frauen mit 40,3 Prozent leicht höher als
bei den Männern. Auch das ist bemerkenswert.

Aber es sind in einigen Bereichen noch weitere An-
strengungen erforderlich, das macht dieser Bericht deut-
lich. Ich nenne als Beispiel die Energieproduktivität. Es
klingt gut, wenn man sagt: Wir liegen im Vergleich zum
Basisjahr 1990 bei über 140 Prozent, das Bruttoinlands-
produkt liegt bei 125,7 Prozent, die Energieproduktivität
bei 140 Prozent; die Entwicklung geht also in die rich-
tige Richtung. – Richtig.

Aber worin liegt der Mehrwert – in Anführungszei-
chen –, wenn wir energiesparende Lampen oder Fernse-
her produzieren, ich in meinem Haus aber das Dreifache
an Fernsehern und brennenden Lampen habe? Der Deut-
sche Bundestag – wenn man sich so umschaut – könnte
auch einmal überlegen, wie man möglicherweise hier
oder da bei der Einsparung ein Vorbild sein könnte.
Auch darüber wird zu sprechen sein. Dieser Indikator ist
also durchaus auch problematisch zu sehen, wenn es
nämlich nicht im Bewusstsein verankert ist, dass das
Beste in Bezug auf Lampen ist, wenn sie gar nicht erst
zum Brennen kommen.

Leider sind die sechs Minuten Redezeit tatsächlich so
schnell zu Ende, wie ich das fast befürchtet hatte. Ziel
wird es sein, das Bewusstsein zu erweitern und positive
Beispiele aufzunehmen. Ich glaube, zu diesem Indikato-
renbericht kann man sagen, dass er zeigt, dass wir auf
dem richtigen Weg sind. Jeder setzt seinen Schwerpunkt,
die einen bei der ökologischen Entwicklung, die anderen
bei der sozialen Entwicklung, wieder andere bei der öko-
nomischen Entwicklung. Insgesamt sind wir auf dem
richtigen Weg. Wenn wir jetzt das Bewusstsein – auch
durch solche Debatten und ausführliche Diskussionen
innerhalb des Beirates – weiter stärken, dann wird die
Nachhaltigkeit im Deutschen Bundestag auch nachhaltig
vertreten sein.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


(B)







(A) (C)



(D)(B)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708430000

Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin

Gottschalck das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Ulrike Gottschalck (SPD):
Rede ID: ID1708430100

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrte

Frau Präsidentin! Wie definieren wir Nachhaltigkeit?
Was erwarten wir vom Fortschritt? Der Begriff Nachhal-
tigkeit ist in aller Munde, wird zwischenzeitlich für mei-
nen Geschmack auch etwas zu inflationär benutzt, aber
auf dem Plenarplan steht er nicht ganz so oft. Deshalb
freue ich mich, dass der Punkt heute aufgerufen wird
– wenn auch spät – und wir dieses elementare Thema
Nachhaltigkeit behandeln.

Die Nachhaltigkeitsdebatte wird jenseits parteipoliti-
scher Grenzen seit längerem geführt. Wichtig ist aber
auch, dass die Politik ihre Kräfte bündelt, um zukunfts-
weisende und praxisgerechte Grundlagen für eine wirk-
lich nachhaltige und solidarische Gesellschaft der Zu-
kunft zu schaffen. Genau dies versuchen die Mitglieder
des Beirates. Es geht hier sozusagen um Grundlagen-
arbeit.

Wir versuchen im Beirat durchaus, über den Teller-
rand zu schauen und parteipolitisches Geplänkel außen
vor zu lassen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie der Abg. Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich will gerne zugeben: Das ist nicht immer ganz ein-
fach. Wir arbeiten im Parlamentarischen Beirat sozusa-
gen mit diplomatischen Samthandschuhen, weil wir
gerne in langen Linien denken wollen, eben auch über
Legislaturperioden hinaus; denn ich denke, das ist wich-
tig. Ich denke, es spiegelt sich auch in den meisten unse-
rer Stellungnahmen wider, dass wir alle – alle Partien –
sehr bemüht sind, einen Konsens herzustellen, um wirk-
lich etwas voranzubringen.


(Beifall im ganzen Hause)


Ich möchte drei Thesen aufzeigen, die uns besonders
wichtig sind:

Erstens ist das Leitbild einer nachhaltigen Entwick-
lung in der Gesellschaft zu verankern. Herr Weinberg hat
das eben auch angesprochen. Diesem Ziel sind wir alle
verpflichtet, insbesondere im Hinblick auf zukünftige
Generationen.

Zweitens. Die empirische Messung der Nachhaltig-
keit anhand der Indikatoren kann selbstverständlich nur
dann sinnvoll sein, wenn die Ergebnisse quasi als Aus-
schlag eines Seismografen oder Frühwarnsystems ange-
sehen werden und wir negativen Entwicklungen entge-
gentreten können.

Drittens. Die Erwartungen an den Fortschrittsbericht
2012 der Bundesregierung sind zu Recht hoch. Wir dür-
fen hier gemeinsam nicht lockerlassen; denn durch die
Ergebnisse in dem Indikatorenbericht 2010 wird doch
noch ein immenser Handlungsbedarf in einigen Berei-
chen aufgezeigt.

Auch wenn der Begriff Nachhaltigkeit aus der Forst-
wirtschaft kommt – es geht darum, den Wald nachhaltig
zu bewirtschaften –, hat er doch nicht nur etwas mit der
Umwelt zu tun, sondern er hat ökonomische, ökologi-
sche, soziale und gesellschaftliche Dimensionen. Die
Nachhaltigkeit wird uns im politischen Alltag zukünftig
noch weiter beschäftigen.

Seit einiger Zeit werden die Entwicklungen mit Indi-
katoren statistisch erfasst, gemessen und bewertet.
Damit erhält der Begriff Nachhaltigkeit auch eine empi-
rische Grundlage. An dieser Stelle möchte ich das Statis-
tische Bundesamt einmal ausdrücklich loben, das diesen
Bericht wirklich schön aufbereitet hat. Er ist übersicht-
lich und wirklich für jeden verständlich. Daher ein Lob
an dieser Stelle.


(Beifall im ganzen Hause)


Der Parlamentarische Beirat fordert die Bundesregie-
rung auf, Indikatoren, die sich in den letzten Jahren ein-
fach nicht bewährt haben, durchaus auch zu überarbeiten
und gegebenenfalls auszutauschen. Solche Änderungen
müssen eng zwischen dem Bund, den Ländern und den
Kommunen abgestimmt werden, damit es dann wirklich
eine gemeinsame Nachhaltigkeitsstrategie gibt.

An die Länder appelliere ich daher, das Thema Nach-
haltigkeit wirklich zur Chefsache zu machen und bei den
Staatskanzleien anzusiedeln; denn mit diesem populären
und nach außen getragenen Beispiel könnte man die
Nachhaltigkeit auch in den Ländern besser verankern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wie Herr Weinberg eben auch schon gesagt hat, kön-
nen wir hier keine 21 Indikatoren aufzeigen. Ich greife
drei ganz kurz heraus:

Der Klimaschutz nimmt in der öffentlichen Debatte
bereits einen wichtigen und präsenten Platz ein.
Deutschland hat sich ambitionierte Ziele gesetzt. Das Er-
reichen dieser Ziele müssen wir nun aber gemeinsam er-
kämpfen. Wir vom Beirat fordern deshalb ganz eindeu-
tig: Alle Programme zum Einsparen von CO2 müssen
weiterentwickelt werden. Gerade in diesem Bereich
hätte ein Versagen dramatische Konsequenzen für zu-
künftige Generationen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Bei den Staatsfinanzen müssen wir nachhaltiger den-
ken; denn die Zinsen und die Tilgung unserer Schulden-
last müssen künftig von immer weniger Steuerzahlerinnen
und Steuerzahlern geschultert werden. Wir empfehlen
dringend eine qualitative Ausgaben- und Einnahmeana-
lyse.

Ich muss ein bisschen Gas geben, damit meine Rede-
zeit reicht. – Bei dem Indikator Gleichberechtigung zwi-
schen den Geschlechtern muss ich allerdings deutliche
Worte finden. Denn ich finde die Gewitterstimmung bei
diesem Indikator besorgniserregend. Es dürfte unstreitig





Ulrike Gottschalck


(A) (C)



(D)(B)

sein, dass Männer und Frauen gleichen Lohn für gleiche
Arbeit am selben Ort und auch dieselben Aufstiegschan-
cen bekommen sollten.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Daher fordern wir die Bundesregierung auf, hier Ver-
bindlichkeiten zu schaffen, damit wir an dieser Stelle ge-
genwirken und bis 2015 konkrete Maßnahmen umsetzen
können.

Fortschritt ist Zukunft. Aber der Begriff Fortschritt
muss mit Leben gefüllt werden. Deshalb haben wir So-
zialdemokraten in der letzten Woche ein Fortschrittspro-
gramm diskutiert und unsere Vorstellungen formuliert,
wie wir uns Deutschland im Jahr 2020 vorstellen. Wir
wollen Fortschritt mit Gerechtigkeit. Das ist unser Ar-
beitsplan, und den werden wir umsetzen.

Genau das machen auch die Mitglieder des Beirats.
Hier schließe ich ausdrücklich alle Mitglieder ein. Wir
wollen Wege ebnen und gerechten Fortschritt forcieren.
Wir müssen vorausschauend denken und komplexen
Problemlagen begegnen. Wir müssen alle Beschlüsse
auch daraufhin prüfen, ob sie unsere Kinder und nach-
folgende Generationen entlasten oder sogar belasten.
Wir müssen Nachhaltigkeit und Fortschritt mit Leben
füllen und in konkretes Handeln umsetzen. Wir müssen
Nachhaltigkeit leben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708430200

Das Wort hat der Kollege Kauch für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1708430300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es sind

zwar nicht gerade viele Zuschauer auf den Rängen,


(Heiterkeit – Manfred Grund [CDU/CSU]: Es sind nicht einmal Journalisten da!)


aber dennoch ist es, glaube ich, wichtig, das Wort Nach-
haltigkeit etwas bürgernäher zu übersetzen. Es geht
nämlich letztendlich darum, dass wir von den Zinsen le-
ben müssen statt vom Kapital: weder vom Naturkapital
noch vom Finanzkapital oder dem Kapital, das in unse-
ren Infrastrukturen liegt. Es geht darum, dass künftige
Generationen faire und vergleichbare Lebenschancen
haben.

Mit der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie haben
Parlament und Bundesregierung 2002 Leitlinien aufge-
stellt, die über die Legislaturperioden hinweg ein roter
Faden für die Politikentwicklung sind. Deshalb ist es
wichtig, dass wir in diesem Haus zu einem möglichst
breiten Konsens kommen.
Die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie setzt Ziele; sie
misst aber auch Indikatoren. Damit schafft sie Transpa-
renz mit einem Managementsystem, wie es neben
Deutschland und Großbritannien nicht viele andere Län-
der in Europa haben. Gerade auch die Nachhaltigkeits-
strategie der Europäischen Union kann, was Transparenz
und Managementsystem angeht, von Deutschland noch
einiges lernen.

Ein Blick auf die Indikatoren zeigt, dass wir beim Kli-
maschutz und den erneuerbaren Energien sehr gut sind.
Wir gehören zu den wenigen Ländern, die die Kioto-
Ziele erreichen werden. Wir haben bei den erneuerbaren
Energien die Ziele in den letzten Jahren sogar noch über-
troffen. Das Erneuerbare-Energien-Gesetz hat sich als
effektives Instrument der Förderung erneuerbarer Ener-
gien bewährt. Deshalb steht auch meine Fraktion nach-
drücklich zum EEG.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben gleichzeitig die Situation, dass die Kosten
für den Ausbau der erneuerbaren Energien insbesondere
in den letzten Monaten aus dem Ruder gelaufen sind. Zu
einer Politik der Nachhaltigkeit gehört auch, dass man
die soziale und wirtschaftliche Dimension von Nachhal-
tigkeit nicht vergisst. Deshalb ist es richtig, dass wir
heute einen Vorschlag vorgelegt haben, um die Solarför-
derung an die veränderten Weltmarktbedingungen anzu-
passen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Im Indikatorenbericht ist die Bilanz in einem weiteren
Punkt positiv, und zwar im Bereich der Beschäftigung.
Wenn wir uns anschauen, wo wir jetzt stehen und wo wir
zum Beispiel 2002 standen, als die Nachhaltigkeitsstra-
tegie auf den Weg gebracht wurde, dann erkennen wir,
dass wir sukzessive – daran sind alle Regierungen seit
diesem Zeitpunkt beteiligt gewesen – Reformen auf dem
Arbeitsmarkt durchgeführt haben, die dazu geführt ha-
ben, dass wir zum einen die Krise besser als andere Län-
der durchgestanden haben und zum anderen den Auf-
schwung besser als andere Länder genutzt haben. Das ist
positiv für die Menschen hier im Land. Es ist auch posi-
tiv, dass wir uns im Bereich der Beschäftigung nicht nur
konjunkturell, sondern auch strukturell verbessert haben.
Wir sind vorne in Europa. Das ist ein Verdienst nicht nur
der Politik in den vergangenen Jahren, sondern auch der
aktuellen Politik.

Es gibt aber auch Bereiche, in denen sich Deutschland
verbessern muss. Ich möchte den Bereich der Artenviel-
falt herausgreifen. Wir haben es in den vergangenen
zehn Jahren nicht geschafft, unsere Ziele in diesem Be-
reich zu erreichen. Das betrifft übrigens nicht nur
Deutschland, sondern die ganze Welt. Die Konvention
über die biologische Vielfalt hat sich vergleichbare Ziele
auf UN-Ebene gesetzt und ist genauso dramatisch ge-
scheitert wie die deutsche Politik in diesem Bereich. Ge-
nauso wie in Nagoya auf internationaler Ebene müssen
wir auf nationaler Ebene ernsthaft darüber nachdenken,
wie wir die genetischen Ressourcen, die für die Men-





Michael Kauch


(A) (C)



(D)(B)

schen auch in Zukunft wertvoll sind, erhalten können.
Das ist ebenso eine Herausforderung wie die Staatsver-
schuldung. Wir haben zwar mit der Schuldenbremse und
der daraus folgenden Politik eine Abkehr von der hem-
mungslosen Verschuldung auf Bundesebene erreicht.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben es aber noch immer nicht geschafft, alle Bun-
desländer dazu zu bringen. Wenn Nordrhein-Westfalen
nun vom Landesverfassungsgerichtshof gezwungen wer-
den muss, die Kreditaufnahme einzustellen, dann ist das
kein Zeichen für Nachhaltigkeit im föderalen System.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Um die Altlasten der schwarz-gelben Landesregierung zu beseitigen!)


Zur Überarbeitung der Indikatoren. Es gibt insbeson-
dere einen Indikator, bei dem sich die Bundesregierung
fragen lassen muss, ob sie die Empfehlungen des Parla-
mentes in den letzten Jahren ignoriert hat. Wir möchten,
dass die Bundesregierung endlich wahrnimmt, dass der
Indikator für Kriminalität aus Sicht des Parlamentari-
schen Beirats für nachhaltige Entwicklung völlig unge-
eignet ist.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Man kann die Sicherheitslage der Menschen nicht nur an
der Zahl der Wohnungseinbrüche messen, wenn es ge-
rade die Gewaltdelikte sind, die den sozialen Zusam-
menhalt gefährden. Wir müssen die Indikatoren in die-
sem Bereich neu ausrichten.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Lassen Sie mich zum Schluss noch einen Punkt des
Fortschrittsberichts ansprechen, den die Bundesregie-
rung jetzt erarbeitet. Wir haben – das habe ich bei der
Staatsverschuldung kurz angerissen – ein großes Pro-
blem in der Nachhaltigkeitspolitik in Deutschland. Wir
verabschieden eine nationale Nachhaltigkeitsstrategie.
Aber in Wirklichkeit handelt es sich um eine Nachhal-
tigkeitsstrategie des Bundes. Wenn wir eine wirklich na-
tionale Nachhaltigkeitsstrategie erreichen wollen – das
ist gerade beim Thema Bildung von elementarer Bedeu-
tung –, dann müssen wir die Bundesländer dazu bringen,
gemeinsam mit uns vergleichbare Strategien zu erarbei-
ten. Das ist eine Herausforderung für die nächsten Jahre.
Auf Bundesebene sind wir sehr weit vorangekommen.
Auf Länderebene gibt es noch viel zu tun. Außerdem
fehlt bisher völlig eine Verlinkung zu dem, was der Bund
macht.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708430400

Die Kollegin Dorothee Menzner spricht nun für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)


Dorothee Menzner (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708430500

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Nachhaltigkeit scheint mir ein Modewort zu
sein. Wenn ich mir nur die Mails dieser Woche an-
schaue, dann stelle ich fest: Da ist von nachhaltig zertifi-
zierter Biomasse ebenso die Rede wie von nachhaltigen
Geldanlagen. In meinem Fachbereich, der Energie- und
Klimapolitik, ist die Forderung nach Nachhaltigkeit
schon lange in den Präambeln aller Dokumente veran-
kert, egal aus welchem politischen Lager sie stammen.
An sich könnte dies ein Grund zur Freude sein. Doch
manchmal scheint mir der Verweis auf Nachhaltigkeit
eher eine Art verkaufsförderndes Argument zu sein.
Nicht überall, wo Nachhaltigkeit draufsteht, ist auch
Nachhaltigkeit drin.


(Beifall bei der LINKEN)


Das gilt nicht zuletzt für die Politik der Bundesregie-
rung.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich möchte die Gelegenheit nutzen, auf einige grund-
legende Widersprüche aufmerksam zu machen, die mich
als Umweltpolitikerin bewegen. Der Parlamentarische
Beirat für nachhaltige Entwicklung, dessen Indikatoren-
bericht wir heute diskutieren, hat einen sehr unterstüt-
zenswerten Satz an den Anfang seines Berichts gestellt:

Damit eine Gesellschaft sich nachhaltig entwickeln
kann, muss dieses Leitbild in sämtliche Bereiche
des Lebens integriert werden. Es braucht eine Kul-
tur der Nachhaltigkeit, die helfen soll, die Kluft
zwischen Wissen und Handeln zu schließen.

Wie aber sieht es in unserer politischen Realität mit
dieser Kluft zwischen Wissen und Handeln aus?


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Die haben kein Wissen!)


Wir stehen am Ende des Zeitalters, in dem wir Energie
durch Verbrennen fossiler Stoffe gewonnen haben. Diese
Erkenntnis hat sich mittlerweile durchgesetzt und ist
nicht mehr zu verdrängen. Die Aufgabe der Politik muss
also darin bestehen, konsequent die notwendigen
Schritte – und zwar schnelle Schritte – in Richtung Ener-
giewende zu gehen. Das gebietet nicht nur der Klima-
schutz, sondern auch die Verantwortung gegenüber
nachfolgenden Generationen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie erinnern sich sicherlich an die Debatten, die wir
hier in diesem Haus zum Energiekonzept der Bundesre-
gierung geführt haben. Das Energiekonzept war diktiert
von Profitinteressen der großen Energiekonzerne und
dekoriert mit irreführenden Floskeln wie jene von der
Atomenergie als Brückentechnologie. Dieses Gesetz
bremst den Ausbau der erneuerbaren Energien, anstatt
ihn zu befördern. Wir erleben, dass es so weitergeht. Ge-
rade heute – der Kollege Kauch hat das angesprochen –
hat die Bundesregierung verkündet, dass sie die Mittel
zur Solarförderung im Rahmen eines „Europaanpas-





Dorothee Menzner


(A) (C)



(D)(B)

sungsgesetzes“ kürzen will. Das ist wieder ein Schritt,
der nicht in Richtung Nachhaltigkeit geht.

Mit der Novellierung des Erneuerbare-Energien-Ge-
setzes wird uns mit Gewissheit ein nächster Rollback-
Versuch beschert. In der Präambel wird garantiert wieder
stehen, alles geschehe zum Nutzen der Nachhaltigkeit.
Machen wir doch endlich Schluss mit dieser Augen-
wischerei. Wo Profitinteressen von Konzernen die Poli-
tik bestimmen, bleiben ökologische und soziale Notwen-
digkeiten zwangsläufig auf der Strecke.


(Beifall bei der LINKEN)


Die kleine Schicht der ökonomisch Herrschenden die-
ser Erde ist weder gewillt noch in der Lage, die Interes-
sen der gesamten Menschheit zu vertreten. Das zeigt
sich tagtäglich aufs Neue. Nachhaltigkeit in der gesell-
schaftlichen Entwicklung zu garantieren, heißt, die
„Teilhabe am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und
politischen Leben zu ermöglichen“. Das ist übrigens
kein Zitat von Karl Marx, sondern stammt aus dem Be-
richt, über den wir heute diskutieren.


(Beifall bei der LINKEN)


Mit anderen Worten: Demokratie und nicht Lobby-
ismus ist die Grundlage für nachhaltige Politik. Mein
Optimismus, dass das mit einer schwarz-gelben Bundes-
regierung in die Tat umzusetzen ist, ist allerdings nicht
besonders ausgeprägt.

Ich danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708430600

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun die

Kollegin Dr. Wilms das Wort.


Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708430700

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Wir widmen uns heute nach längerer Zeit wieder einmal
dem Thema nachhaltige Entwicklung. Das ist auch gut
so; denn das sollten wir nicht in Vergessenheit geraten
lassen. Nachhaltigkeit ist für uns Mitglieder im Parla-
mentarischen Beirat nun wirklich keine Floskel. Es geht
schließlich darum, wie wir mit den Ressourcen der Erde
so umgehen, dass wir jetzt und nachfolgende Generatio-
nen zukünftig gut leben können.


(Beifall im ganzen Hause)


Schon Anfang der 70er-Jahre, noch vor dem ersten
Ölschock, legte der Club of Rome unter der Federfüh-
rung von Dennis Meadows das berühmte Buch Die
Grenzen des Wachstums vor. Die Diskussion führte
schließlich zur Konferenz der Vereinten Nationen über
Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio. Um ihrer Ver-
pflichtung von Rio nachzukommen, hat die damalige
rot-grüne Bundesregierung im Jahre 2002 die nationale
Nachhaltigkeitsstrategie vorgelegt. Wir wollen heute
eine Zwischenbilanz ziehen.

Ich möchte einige jener Bereiche nennen, die mir da-
bei besonders wichtig erscheinen. Kolleginnen und Kol-
legen haben das mit einigen anderen Bereichen auch
schon gemacht. Ich habe vor allem solche Bereiche aus-
gesucht, bei denen es noch viel zu tun gibt.

Schauen wir erstens auf den Umgang mit begrenzten
Ressourcen. Der Indikatorenbericht 2010 zeigt: Wir sind
zwar etwas effizienter mit importierten Rohstoffen um-
gegangen. Wir haben aber auch erheblich mehr Fertig-
teile importiert. Denken Sie nur an die vielen Handys
und Computer, die wir alle paar Jahre durch neue erset-
zen.

Da wir als rohstoffarmer, aber auch hochentwickelter
Industriestaat auf Importe angewiesen sind, wird es Zeit,
über Alternativen nachzudenken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Diese Alternative muss lauten: sukzessive Verwendung
nachwachsender Rohstoffe sowie Kaskadennutzung und
Recycling von Erzeugnissen, die aus fossilen Rohstoffen
hergestellt sind. Das ist der Weg in die Zukunft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Daniela Ludwig [CDU/CSU])


Auch wenn das geltende Regelwerk den Export von
Elektroschrott verbietet, landet viel Müll im unterentwi-
ckelten Ausland. Dort sorgen dann Kinder unter mise-
rablen Bedingungen dafür, dass wertvolle Metalle wie-
der in den Kreislauf gelangen. Ist das der richtige Weg?
Wohl kaum. Wir müssen dabei umdenken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Von den jährlich verkauften circa 1,9 Millionen Ton-
nen Elektrogeräten werden lediglich 0,6 Millionen Ton-
nen – also ein Drittel – gesammelt. Da stimmt doch ir-
gendetwas nicht. Da müssen wir noch weiter vorgehen.

Schauen wir uns zweitens die Energieproduktivität
an. Diese hat Kollege Weinberg auch schon kurz ange-
sprochen. Wir müssen höllisch aufpassen, dass wir den
Reboundeffekt, den Kollege Weinberg angesprochen
hat, tunlichst vermeiden.

Die Industrie benötigt wachstumsbedingt mehr Ener-
gie, die durch Effizienzmaßnahmen nur teilweise kom-
pensiert werden kann. Ich glaube nicht, dass wir in die-
sem Zusammenhang mit freiwilligen Verpflichtungen
unsere Ziele erreichen können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der LINKEN)


Schauen wir drittens auf die Mobilität. Güterverkehr
und Personenverkehr nehmen weiter zu. Mobilität ist
wichtig und belastet uns zugleich mit verstopften Stra-
ßen, Lärm und Emissionen. Dabei gibt es wirklich gute
Alternativen: Stärkung der Schiene für den Fernverkehr,
kombiniert mit einem weitaus stärkeren Carsharing-Netz
vor Ort.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)






Dr. Valerie Wilms


(A) (C)



(D)(B)

Ich appelliere an dieser Stelle an die Bundesregie-
rung, dafür zu sorgen, dass das Verursacherprinzip suk-
zessive angewendet wird. Wer für Lärm, verstopfte Stra-
ßen und Umweltverschmutzung bezahlen muss, wird es
sich beim nächsten Mal überlegen, ob nicht ein anderer
Transportweg günstiger ist.

Gerne würde ich noch weitere Bereiche ansprechen,
zum Beispiel die zunehmende Flächenversiegelung,
aber auch die hohe Staatsverschuldung, die Kollegin
Gottschalck schon angesprochen hat.

Im Beirat betreiben wir gerne Arbeitsteilung. Das ha-
ben wir heute hier auch bei unseren Redebeiträgen ge-
zeigt. Wir sind uns bei wichtigen Dingen meist einig.
Kolleginnen und Kollegen, langfristige Politikziele kön-
nen nur über die Fraktionsgrenzen hinweg festgehalten
werden. Deshalb stehen wir im Parlamentarischen Beirat
für nachhaltige Entwicklung. Das haben wir auch bei
diesem Bericht wieder gezeigt.

Herzlichen Dank.


(Beifall im ganzen Hause)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708430800

Für die Unionsfraktion hat nun die Kollegin Daniela

Ludwig das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Daniela Raab (CSU):
Rede ID: ID1708430900

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Nach vielen inhaltlichen Aspekten hinsichtlich
der unterschiedlichen Indikatoren würde ich gern einen
Schritt zurück in Richtung Nachhaltigkeitsmanagement
gehen. Auch das beschäftigt uns immer wieder.

Wie bereits zum Fortschrittsbericht 2008 zur nationa-
len Nachhaltigkeitsstrategie und in der Unterrichtung
zum Peer-Review 2009 haben wir uns auch in unserer
Stellungnahme zum Indikatorenbericht 2010 dafür aus-
gesprochen, dass das Thema nachhaltige Entwicklung
und auch die nationale Nachhaltigkeitsstrategie beim
Zuschnitt der Referate im Bundeskanzleramt endlich sei-
nen Niederschlag finden muss. Unser langandauerndes
Drängen und Bohren wurde nun endlich erhört. Es ist ein
eigenständiges Referat „Nachhaltige Entwicklung“ im
Bundeskanzleramt geschaffen worden.

Ich gratuliere der Bundesregierung ausdrücklich zu
diesem weisen Entschluss. An dieser Stelle möchte ich
aber auch die Hoffnung zum Ausdruck bringen, dass
dieses Referat – gerne auch mit tatkräftiger Unterstüt-
zung des Beirats – nunmehr auch mit Leben gefüllt wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir können nur helfen, die Arbeit dieses Referates mit
Leben zu füllen, wenn es unseren Beirat weiterhin gibt,
wenn er zu einem dauerhaften Gremium wird.

Wir, der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Ent-
wicklung, haben völlig zu Recht – das sage ich ganz be-
wusst – eine herausgehobene Stellung im Vergleich zu
den vielen Ausschüssen in diesem Haus. Diese Stellung
ist deshalb herausgehoben – das ist mittlerweile mehr-
fach angesprochen worden –, weil wir uns bei allem
Hauen und Stechen, das wir uns zwischendurch auch
einmal leisten, immer wieder durch Überparteilichkeit
und gute Zusammenarbeit zwischen den Fraktionen aus-
zeichnen. Wir haben hervorragende Grundlagenarbeit
geleistet. Um das zu verstetigen, wäre es ein ausgespro-
chen sinnvolles und sehr bewusstes Signal, wenn unser
Beirat endlich fest verankert würde, möglichst in der Ge-
schäftsordnung des Bundestages oder darüber hinaus.
Ich denke, dieses Thema ist wichtig genug, um dieses Si-
gnal endlich zu geben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wie bereits angesprochen wurde, wird es wenig hel-
fen, wenn der Bund allein beim Thema Nachhaltigkeit
vorturnt. Gebraucht werden die Länder und vor allem
die Kommunen. Als ein Beispiel verweise ich auf das
Thema Flächenversiegelung/Flächenverbrauch. Es nutzt
relativ wenig, wenn der Bund immer wieder darauf auf-
merksam macht, man möge bitte berücksichtigen, dass
nicht allzu viel Fläche verbraucht wird. Wenn eine sol-
che Vorgabe letztlich durch die überehrgeizige Auswei-
sung von neuen Bau- und Gewerbegebieten vor Ort un-
terminiert wird, dann strampeln wir wie der Hamster im
Rad, arbeiten also, ohne dass es etwas bringt. Deswegen
sage ich: Die Verzahnung über alle Ebenen hinweg ist
unerlässlich dafür, dass sich eine nationale Nachhaltig-
keitsstrategie bis ganz nach unten auswirkt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Frau Kollegin Gottschalck, ich habe sehr gerne
geklatscht, als Sie gesagt haben, das Bundeskanzleramt
gäbe ein gutes Beispiel und die Regierungschefinnen
und -chefs der Länder könnten dem gern folgen. Ich
wünsche mir, dass auch auf Länderebene an prominenter
Stelle ein entsprechendes Referat eingerichtet wird, dass
es dann mit Leben gefüllt wird, dass sich auch unsere
Kollegen in den Landtagen mit dem Thema Nachhaltig-
keitsstrategie intensiv auseinandersetzen. Ich habe in
den letzten Tagen vom Kollegen Stefan Mappus gehört,
dass er im Rahmen einer Ministerpräsidentenkonferenz
das Thema Nachhaltigkeit aufgreifen möchte. Ich bin
optimistisch, dass er das auch tun wird. Aber auch hier
reicht es nicht, das einmal zu tun, sondern dieses Thema
muss kontinuierlich Tagesordnungspunkt sein, der eben-
falls immer wieder mit Leben gefüllt werden muss; denn
sonst ist „Nachhaltigkeit“ wirklich nur eine Floskel. Wir
sind die Letzten, die genau dies unterstützen wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zur Weiterentwicklung der Indikatoren ist einiges ge-
sagt worden. Herr Kauch, unser liebstes Beispiel ist in
der Tat der Wohnungseinbruchsdiebstahl. Weiter dane-
ben liegen kann man nicht, wenn man über das Sicher-
heitsgefühl von Bürgerinnen und Bürgern spricht. Natür-





Daniela Ludwig


(A) (C)



(D)(B)

lich sind wir dafür, dass wir auch im Rahmen der
Indikatoren eine gewisse Beständigkeit haben, um die
Bewertung immer wieder nachvollziehen zu können.
Aber Beständigkeit sollte nicht dazu führen, dass letzt-
lich die Zielschärfe der Strategie komplett getrübt wird.
Das heißt, wir erwarten von der Bundesregierung eine
eindeutige Überarbeitung der Indikatoren. Auch hierbei
sind wir mit unserem Fach- und Sachverstand gern be-
hilflich.


(Beifall des Abg. Michael Kauch [FDP])


Eine solche Überarbeitung wünsche ich mir. Der Fort-
schrittsbericht 2012 bietet die beste Gelegenheit dazu.
Vielleicht ist damit die Chance verbunden, das neue Re-
ferat im Kanzleramt entsprechend einzusetzen, lieber
Herr Bauernfeind; Sie sind ja anwesend.

Das Prinzip der nachhaltigen Entwicklung beeinflusst
alle Politikfelder. Technologischer, ökonomischer und
gesellschaftlicher Fortschritt müssen sich immer an die-
sem Prinzip messen lassen. Wir, der Parlamentarische
Beirat für nachhaltige Entwicklung, werden die Aktivi-
täten der Bundesregierung zur nationalen Nachhaltig-
keitsstrategie weiter durchaus kritisch begleiten, und wir
werden in unserem Wirkungskreis für eine stärkere Be-
rücksichtigung von Nachhaltigkeit in der gesamten poli-
tischen Praxis, also von ganz oben bis ganz unten, wer-
ben. Wir laden alle Kolleginnen und Kollegen in diesem
Hohen Hause gern dazu ein, dabei mitzumachen.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Ingrid Arndt-Brauer [SPD])



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708431000

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3788 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra
Crone, Angelika Graf (Rosenheim), Bärbel Bas,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Mehrgenerationenhäuser erhalten und weiter-
entwickeln – Prävention stärker fördern

– Drucksache 17/4031 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

Interfraktionell wurde vereinbart, darüber eine halbe
Stunde zu diskutieren. Ich sehe, dass Sie auch damit ein-
verstanden sind. Dann werden wir so verfahren. Ich er-
öffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die Kolle-
gin Petra Crone für die SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Petra Crone (SPD):
Rede ID: ID1708431100

Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!

Im Herbst 2006 hat die damalige Familienministerin,
Frau Ursula von der Leyen, mit Pauken und Trompeten
die ersten Mehrgenerationenhäuser eingeweiht. So kennt
man sie. Aber – „Chapeau!“ – es ist etwas Gutes daraus
geworden. Die meisten der nun existierenden 500 Mehr-
generationenhäuser haben sich zu wichtigen Treffpunk-
ten und Wirkungsstätten für Jung und Alt entwickelt,
und zwar genau nach den Bedürfnissen in den jeweiligen
Städten, Stadtteilen und Gemeinden. Aber dennoch – lei-
der, leider! – haben sie einen eklatanten Geburtsfehler.
Frau von der Leyen hat vor lauter Öffentlichkeitsarbeit
bei der Geburt der Häuser vergessen, sich um eine gute
Weiterfinanzierung zu kümmern.


(Beifall bei der SPD)


Es gab keine Vereinbarung – weder mit den Ländern
noch mit den Kommunen, noch mit den Trägern. Nun
stehen die Mehrgenerationenhäuser vor einem großen
Dilemma. Schon im Herbst laufen für 45 Häuser die Zu-
schüsse aus, für weitere 112 am Jahresende. Sie, Frau
Ministerin Schröder, sind heute Abend nicht da und las-
sen die Verantwortlichen für die Häuser im Regen ste-
hen.

Viele wissen nicht, wie es weitergehen soll. Die Häu-
ser drohen als Projektruinen zu enden. Darum haben
wir, die SPD-Fraktion, die Initiative ergriffen und diesen
Antrag für ein Folgeprojekt vorgelegt,


(Beifall bei der SPD)


das einen ganz wichtigen neuen Schwerpunkt als Grund-
lage für die Mehrgenerationenhäuser, die Prävention, be-
nennt; denn wir wollen die Häuser nicht nur erhalten,
sondern auch weiterentwickeln.

Prävention in der Gesundheit betrifft Ernährung und
Bewegung. Prävention in der Bildung betrifft lebenslan-
ges Lernen. Prävention in der Integration bedeutet das
soziale Miteinander. Alle bestehenden Häuser können
ihre selbstgewählte Ausrichtung beibehalten, und wei-
terhin sind alle Generationen angesprochen.

Ich habe mich gefreut, als die Ministerin ankündigte,
ein Anschlusskonzept vorzulegen. Aber wo bleibt es?
Sollen die Pressemitteilung und der mündliche Bericht
im Ausschuss alles gewesen sein? Auf jeden Fall war der
Inhalt sehr erschreckend. Ohne ausreichende Absprache
mit den Betroffenen soll den Mehrgenerationenhäusern
ein enges Korsett angelegt werden, das ihnen die Luft
zum Atmen nimmt. Alle sollen über einen Kamm ge-
schoren werden, egal ob sie in Berlin-Neukölln oder in
Olpe im Sauerland stehen. Gleichzeitig sprengt die An-
zahl der geforderten neuen Leistungen alle Ketten.

Da sollen die Pflegestützpunkte plötzlich in die Mehr-
generationenhäuser integriert werden. Ich frage: Was





Petra Crone


(A) (C)



(D)(B)

soll das? Warum soll da eine gut etablierte und wichtige
Infrastruktur zerschlagen werden?


(Katharina Landgraf [CDU/CSU]: Warten Sie mal, was wir sagen!)


Da sollen die Häuser Dienstleistungsdrehscheiben zur
Unterstützung und Beratung von Pflegebedürftigen, für
Demenzkranke und für die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf werden. Da sollen die Häuser Knotenpunkte
werden für bürgerschaftliches Engagement und – hört,
hört! – für die neuen Bundesfreiwilligendienste. Da sol-
len die Häuser Integrationsaufgaben leisten. Damit, liebe
Kollegen und Kolleginnen, habe ich nur einiges aufge-
zählt.

Ich frage die Ministerin: Wie, bitte, sollen diese Auf-
gaben mit den von Ihnen genannten 30 000 Euro Zu-
schuss bewältigt werden? Ich gebe dem Expertennetz-
werk recht, wenn es fordert, dass die 40 000 Euro
Zuschuss nur die unterste Grenze sein können. Wie soll
ein Mehr an Angeboten und Aufgaben – und damit auch
an Personal – mit weniger Geld machbar sein? Oder sol-
len die Kosten auf die Städte und Kommunen abgewälzt
werden? Wie viele von Ihnen sind heute noch in der
Lage, diese freiwillige Leistung zu erbringen? Sollen
sich nur noch reiche Städte und Gemeinden die Mehrge-
nerationenhäuser leisten können? Wie sollen die Modali-
täten für eine neue Bewerbung aussehen? Es gibt heute
keine detaillierte Beschreibung der neuen Förderung.
Die Träger fühlen sich alleingelassen und warten.

Wieso halten Sie die Information zurück, dass das
Ministerium einen geringeren Zuschuss, befristet auf
drei Jahre Laufzeit, für weniger Häuser vorsieht? Wieso
wird vorgegaukelt, es könne für die Mehrgenerationen-
häuser so weitergehen wie bisher?

Meine Herren und Damen, es wird Neubewerbungen
geben und auch neue Mitbewerber. Darum fordern wir
Sozialdemokraten die Bundesregierung auf: Legen Sie
ein Anschlusskonzept vor, das diesen Namen auch ver-
dient!


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Erarbeiten Sie gemeinsam mit den Betroffenen, mit Län-
dern, Kommunen und Trägern, ein Konzept, in dem die
Finanzierung klar geregelt ist! Übernehmen Sie unseren
Vorschlag und richten Sie es nach Angeboten der Ge-
sundheitsförderung und Prävention aus, damit sich die
Mehrgenerationenhäuser in ihrem jeweiligen Umfeld
passgenau weiterentwickeln können.

Liebe Kollegen und Kolleginnen, gerade im ländli-
chen Raum, gerade in sozialen Brennpunkten, gerade in
finanziell schwachen Kommunen müssen wir unbedingt
verhindern, dass Mehrgenerationenhäuser schließen.
Vielmehr müssen sie Vorbildfunktion für ein generatio-
nenübergreifendes Miteinander haben.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der SPD)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708431200

Das Wort hat nun die Kollegin Katharina Landgraf für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katharina Landgraf (CDU):
Rede ID: ID1708431300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Der Antrag der SPD ist in Teilen durchaus be-
grüßenswert. Glücklicherweise ist er jedoch schon über-
holt. Dank unseres Einsatzes in der christlich-liberalen
Koalition stand bereits Anfang Dezember letzten Jahres
fest, dass es ein Folgeprogramm für die Mehrgeneratio-
nenhäuser geben wird. Dieses ist auch nicht, wie von Ih-
nen behauptet, längst überfällig; denn der erste Teil Ihrer
Forderungen, ein Folgeprogramm, ist schon erfüllt. Die
öffentliche Ausschreibung beginnt in diesem Jahr. Das
Folgeprogramm startet dann Anfang 2012 für die Dauer
von drei Jahren. Das bedeutet auch, dass sich die Mehr-
heit der Mehrgenerationenhäuser ohne Leerlauf für das
neue Programm bewerben kann. Zusätzliche können
sich ebenso bewerben. Dies ist eine Anerkennung für die
Leistungen der engagierten und größtenteils ehrenamt-
lichen Mitarbeiter in den Häusern.

Das neue Programm wird vier inhaltliche Schwer-
punkte haben:

Erstens. Alter und Pflege. Hier wird es darum gehen,
gut funktionierende und aufeinander abgestimmte Netz-
werke und Kooperationen zu schaffen sowie auf regio-
nale Besonderheiten einzugehen. Gerade für Ältere und
Gebrechliche wäre zum Beispiel ein Begleitservice für
den Weg zum Arzt eine gute Sache.

Zweitens. Integration und Bildung. Im Fokus sind
unter anderem der Auf- und Ausbau der Betreuung so-
wie die Unterstützung von Kindern und Jugendlichen.
Außerdem soll das Potenzial von Migrantinnen und Mi-
granten beim bürgerschaftlichen Engagement verstärkt
und gezielt genutzt werden. Auch das gehört zu unserer
Willkommenskultur.

Drittens. Haushaltsnahe Dienstleistungen. Hier sol-
len die Mehrgenerationenhäuser vor allem Anlauf- und
Vermittlungsstelle sein. In Sachsen hat sich bereits jetzt
ein Verständnis der Mehrgenerationenhäuser als Vermitt-
ler und Anbieter unterstützender Leistungen wie Leih-
omas, Einkaufshelfer und Betreuer für Kinder und Äl-
tere entwickelt.


(Caren Marks [SPD]: Das sind doch alles nur nebulöse Ankündigungen! – Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Märchen! Das sind alles Märchen!)


Die vierte Säule ist das freiwillige Engagement. Da-
bei sollen die Mehrgenerationenhäuser als Knotenpunkte
des neuen Bundesfreiwilligendienstes und des bürger-
schaftlichen Engagements in den Kommunen etabliert
werden.

Damit haben wir die verpflichtenden Anforderungen
an die Mehrgenerationenhäuser von ursprünglich sieben
auf vier gekürzt. Damit sollen das Profil geschärft und
eine Überforderung der Häuser vermieden werden.





Katharina Landgraf


(A) (C)



(D)(B)

Der Vorschlag der SPD, einen neuen verpflichtenden
Schwerpunkt im Bereich der gesundheitlichen Präven-
tion zu setzen, wäre meiner Ansicht nach eine Überfor-
derung.


(Angelika Graf [Rosenheim] [SPD]: Jetzt auf einmal!)


Das heißt natürlich nicht, dass dieses Thema im Folge-
programm überhaupt nicht berücksichtigt wird. Das Ziel,
insbesondere älteren Menschen möglichst lange ein mo-
biles und selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, haben
die Akteure bereits jetzt im Blick. Hier können die
Mehrgenerationenhäuser tatsächlich einen qualifizierten
Beitrag leisten. Sie tun dies vielfach bereits heute. Das
gilt genauso für die Angebote im Bereich der Gesund-
heitsförderung und Prävention für Menschen jeden
Alters. Viele Mehrgenerationenhäuser sind hier – zum
Beispiel im Bereich Kindergesundheit – sehr aktiv. Ihre
Erkenntnisse und Erfahrungen geben die Häuser bereits
heute über die internen Vernetzungsstrukturen weiter.

Die SPD fordert weiterhin den Erfahrungsaustausch,
die Vernetzung zwischen den Mehrgenerationenhäusern
und Qualifizierungen der Akteure vor Ort. Diese Punkte
werden im Folgeprogramm der Regierung natürlich auch
Berücksichtigung finden. Die enge Beratung und Beglei-
tung der Mehrgenerationenhäuser hat sich bereits im lau-
fenden Programm bewährt. Die Aktiven in den Mehrge-
nerationenhäusern haben mir gesagt, dass sie sehr viel
von dem Voneinander-Lernen profitieren. Auch zukünf-
tig wird deren Qualifizierung einen hohen Stellenwert
haben.

Meine Damen und Herren der SPD-Fraktion, Ihr An-
trag ist, wie schon erwähnt, durchaus gut gelungen. Al-
lerdings ist er überfrachtet mit Ideen, die nicht für jedes
Mehrgenerationenhaus umsetzbar sind. Statt hochgesto-
chener Ziele wie zum Beispiel soziale Inklusion von ein-
kommensschwachen und benachteiligten Menschen ist
es viel wichtiger, genau hinzuschauen, was von den
Menschen vor Ort nachgefragt wird. Dabei ist vor allem
auf die regional unterschiedliche Prägung der schon jetzt
existierenden Mehrgenerationenhäuser zu achten.

Es sollte nicht zuallererst darauf geschaut werden
müssen, ob den neuen Schwerpunkten entsprochen wird.
Es wäre also noch zu klären, ob die Bewerber alle Pro-
grammschwerpunkte erfüllen müssen oder ob eigene
Schwerpunkte innerhalb der vorgegebenen möglich sind.
Ich werde mich dafür einsetzen. Beispielsweise sollte es
möglich sein, nur drei der genannten Schwerpunkte zu
erfüllen. Außerdem ist zu fragen, ob wirklich alle Ange-
bote der Mehrgenerationenhäuser direkt in dem jeweili-
gen Haus verortet sein müssen oder ob nicht eine Vernet-
zung mit Partnern außerhalb der eigenen vier Wände
wirkungsvoller ist.

Für die Praktiker in den Mehrgenerationenhäusern
wäre es zudem wünschenswert, die Art und Weise der
Abrechnung und Dokumentation effektiv und effizient
zu gestalten. Ein Verwaltungsaufwand wie im bisherigen
Programm bindet zu viel Kraft und Zeit.

Unerlässlich ist bei alldem die Unterstützung durch
die Kommunen. Dies ist der entscheidende Indikator da-
für, ob und wie die Mehrgenerationenhäuser im kommu-
nalen Angebot verankert sind. Ich hätte außerordentlich
große Bedenken, wenn der Bund eine verstärkte finan-
zielle Beteiligung der Kommunen fordern sollte. Da
werden wohl einige Mehrgenerationenhäuser auf der
Strecke bleiben. Viele Häuser werden bereits jetzt nach
Möglichkeit von den Kommunen unterstützt. Eine fest-
geschriebene finanzielle Beteiligung würde in manchen
Fällen sogar eine Kürzung an anderen Stellen bedeuten,
zum Beispiel bei Jugendklubs. Das kann nicht in unse-
rem Interesse sein.

Trotzdem ist es unser gemeinsames Ziel, dass die
Mehrgenerationenhäuser langfristig auch ohne Bundes-
förderung und ohne Schaffung von Modellprojekten
existieren können. Daher werden schon nächsten Diens-
tag, also am 25. Januar, erste Gespräche mit den Bundes-
ländern und Kommunen geführt, um gemeinsam eine
dauerhafte Eingliederung der Häuser in die lokale Infra-
struktur erreichen zu können. Die spürbare Wertschät-
zung der Mehrgenerationenhäuser in Familien, Gemein-
den und Regionen bestärkt uns darin.

Meine Damen und Herren von der SPD, Sie sehen:
Wir sind schon mitten in der praktischen Arbeit ange-
langt.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708431400

Das Wort hat nun die Kollegin Heidrun Dittrich für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Heidrun Dittrich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708431500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Der SPD geht es in ihrem Antrag um die
Anschlussfinanzierung der 500 Mehrgenerationenhäuser
in Deutschland; denn dieses Projekt läuft 2011 in der Tat
aus.

Was findet in einem Mehrgenerationenhaus statt? Äl-
tere Menschen betreuen im Tagestreffpunkt zeitweise
Kinder. Die Kinder unterhalten die Senioreninnen und
Senioren. Ehrenamtliche unterstützen die Begegnung
der Generationen. Die Fördermittel reichen leider nur für
eine halbtagsbeschäftigte Sozialpädagogin. Aber die
Menschen haben sich mit diesen Einrichtungen ange-
freundet. Diese Beziehungen einfach abzubrechen, die
Enttäuschung der Kinder und Senioren, wenn ihr Treff-
punkt wegfällt, bewusst einzuplanen, ist menschlich ge-
sehen ein Skandal.


(Beifall bei der LINKEN)


Aber das schert die Regierung wenig. Es war von An-
fang an auf fünf Jahre geplant – basta! Die Leute sollen
doch sehen, wo sie bleiben.


(Dr. Peter Tauber [CDU/CSU]: Schon wieder die gleiche Platte! Sie haben nur eine Platte!)


Die von der Familienministerin vorgelegte Anschluss-
förderung bedeutet nicht, dass die bisherigen Mehrgene-





Heidrun Dittrich


(A) (C)



(D)(B)

rationenhäuser erhalten bleiben. Nein, das neue Projekt
richtet sich auch an neue Nutzer. Es sollen Pflegestütz-
punkte aufgebaut werden, und die Jugendlichen, die kei-
nen Ausbildungs- oder Studienplatz erhalten, dürfen sich
darin im Rahmen des neuen Bundesfreiwilligendienstes
bewähren. Wieder wird mit einem neuen Konzept ein
neuer Personenkreis gewonnen, wieder werden Vertrau-
ensverhältnisse beendet. Wie kann eigentlich soziale Ar-
beit gelingen?

Ich will Ihnen ein Beispiel aus meiner Tätigkeit im
Jugendamt der Stadt Hannover schildern. Im Treffpunkt
Allerweg in Hannover waren einst zwei städtische So-
zialarbeiterinnen in Vollzeit beschäftigt und boten von
morgens bis abends Mietschuldnerberatung und Hilfe-
stellung bei Erziehungsfragen an und schufen Raum für
ein selbstverwaltetes Bürgercafé mit Kinderbetreuung.
40 Kinder wurden wöchentlich im Tagestreffpunkt be-
treut. Die Eltern entwarfen im Stadtteilcafé ihre Stadt-
teilzeitung. Türkische und spanische Migranten mit Kin-
dern trafen sich zum Spieleabend. Die Spiele waren die
Brücke, um sich generationen- und sprachübergreifend
zu unterhalten.

Als Mitte der 90er-Jahre die städtischen Sozialarbei-
ter eingespart wurden,


(Zuruf von der FDP: Und das zu Recht!)


sollte der Treffpunkt von Ehrenamtlichen weitergeführt
werden. Das aber scheiterte am Geldmangel. Die Kin-
derbetreuung fiel weg. Als die Kinder wegblieben, war
der Treffpunkt gestorben. Später machte der Stadtteil ne-
gative Schlagzeilen: 12-Jährige fielen durch fortgesetzte
Sachbeschädigung auf, und die Polizei war hilflos. Sol-
len diese verödeten Städte jetzt Programm der Bundesre-
gierung werden? Genau das macht die Regierung. Sie
kürzt zusätzlich noch die Mittel beim Programm „So-
ziale Stadt“ um zwei Drittel und schafft damit vor allem
Treffpunkte von Migranten ab.


(Sebastian Körber [FDP]: Falsch! Sachlich falsch!)


Soziale Arbeit ist nur dann erfolgreich, wenn dauerhaft
vertrauensvolle Beziehungen aufgebaut werden können,
und pädagogische Arbeit gibt es nicht zum Nulltarif.


(Beifall bei der LINKEN)


Verankern Sie die Mehrgenerationenhäuser dauerhaft.

Sozialer Zusammenhalt soll in einer Bürgergesell-
schaft organisiert werden. Das klingt gut, aber was steckt
dahinter? – Die nationale Engagement-Strategie und die
Abschaffung des Sozialstaates. Die Finanzierung der
Mehrgenerationenhäuser zeigt, wie es gehen soll. Ein
Drittel bezahlt die Stadtverwaltung, ein Drittel ein fi-
nanzkräftiges Unternehmen mit dem Schwerpunkt
Pflege. Wenn sich das eingefunden hat, zahlt das letzte
Drittel der Bund. Mit dieser Einsicht unterscheiden wir
uns in der Tat von allen anderen Parteien. Hierzu zitiere
ich den Sachverständigen Rupert Graf Strachwitz der
Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages:

Die Bürgergesellschaft ist nicht Zustands- oder Le-
bensumstandsbeschreibung, sondern die Vision ei-
ner Gesellschaftsverfassung als Gegenmodell zum
gegenwärtigen Versorgungs- und Verwaltungsstaat.

Im Klartext heißt das: die Abschaffung des Sozial-
staates ohne Wenn und Aber. Mit Ihrer Agenda 2010 ha-
ben Sie, meine Damen und Herren von den Grünen und
der SPD, begonnen, den Sozialstaat noch mehr auszu-
höhlen. Die jetzige Regierung aber versetzt ihm den To-
desstoß. Damit wird die Demokratie untergraben. Denn
die Unternehmen entscheiden nun über den Inhalt und
die Fortsetzung der sozialen Arbeit.


(Patrick Döring [FDP]: Wie kann man so viel Quatsch in so wenigen Minuten sagen?)


Aus unserer Sicht darf die öffentliche Daseinsvor-
sorge nicht privatisiert werden. Der Staat muss das Ge-
meinwohl organisieren. Die Regierung verzichtet auf die
Besteuerung der Millionäre, mutet den Menschen die so-
ziale Wüste zu und entlässt die Reichen in die Steuer-
oase.


(Zuruf der Abg. Katharina Landgraf [CDU/ CSU])


Sichern wir zum Beispiel mit der Millionärsteuer den
Sozialstaat.


(Beifall bei der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708431600

Die nächste Rednerin ist die Kollegin Nicole Bracht-

Bendt für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Nicole Bracht-Bendt (FDP):
Rede ID: ID1708431700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Mehrgenerationenhäuser sind sinnvolle Ein-
richtungen. Die FDP-Fraktion fand die Idee, die dahin-
tersteht, immer gut, nicht aber das Finanzierungsmodell
und schon gar nicht das Modell, das die SPD-Fraktion in
ihrem vorliegenden Antrag fordert. Mehrgenerationen-
häuser sollen nach Auslaufen des Pilotprojektes nach
dem Gießkannenprinzip weiter mit Steuergeldern des
Bundes am Leben erhalten werden. Da machen wir
Liberale nicht mit.

Vor sechs Jahren hat die damalige Familienministerin
von der Leyen das Modellprojekt der Mehrgenerationen-
häuser gestartet. Ich betone: Modellprojekt. Der Bund
wollte klammen Ländern und Kommunen auf die
Sprünge helfen, wichtige Vorhaben anzustoßen. Ziel war
es, Orte zu schaffen, in denen sich Männer und Frauen,
Kinder und Jugendliche generationenübergreifend tref-
fen. Schon damals war also klar, dass es sich um eine
Anschubfinanzierung für Projekte handelte, die wichtig
sind und die das Land und die die Stadt nicht alleine
schultern können. Jedes Land und jede Kommune
wusste also von Anfang an, dass nach fünf Jahren der
warme Regen aus Berlin aufhören wird.


(Beifall bei der FDP)







(A) (C)



(D)(B)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708431800

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Ziegler?


Nicole Bracht-Bendt (FDP):
Rede ID: ID1708431900

Nein, ich möchte bitte zum Ende kommen.

Fünf Jahre hatten die Städte und Gemeinden Zeit, sich
darauf einzustellen und nach Sponsoren oder Spendern
Ausschau zu halten, von denen es noch welche gibt. Ge-
nau aus diesem Grund hat die FDP-Bundestagfraktion
bisher auch daran festgehalten, dass es sich lediglich um
ein Pilotprojekt handelt.

Wir haben viel Kritik aus den Kommunen erfahren,
weil wir diese Unterstützung durch den Bund nicht als
Dauereinrichtung wollten. Es gab auch Kritik aus den
Ländern. Diese Reaktion fand ich besonders bemerkens-
wert, da es normalerweise doch gerade die Länder sind,
die laut aufschreien, wenn der Bund sich in ihre Angele-
genheiten mischt.


(Beifall bei der FDP)


Als Ministerin Schröder Ende letzten Jahres eine Neu-
ausschreibung der Mehrgenerationenhäuser ankündigte,
habe ich keine kritischen Töne aus den Bundesländern
gehört.

Im Übrigen sieht das Konzept der Bundesregierung
vor, dass bestehende Einrichtungen nicht automatisch ei-
nen Freibrief für weitere Bundesmittel erhalten. Nur
Einrichtungen, die ein überzeugendes und langfristig
tragfähiges Konzept haben und dabei sind, eigenständige
finanzielle Strukturen aufzubauen, sollen weiter geför-
dert werden, und zwar nicht nur bestehende, sondern
auch neue Häuser.

Ohne Zweifel sind in den zurückliegenden fünf Jah-
ren viele interessante Einrichtungen entstanden. Ich habe
Häuser mit tollen Angeboten für alte Menschen gesehen,
aber auch solche, in denen eine bessere Vereinbarkeit
von Familie und Beruf durch Kinderbetreuung, Hausauf-
gabenhilfe und Frühförderung erreicht werden sollte.
Über die Hälfte der Mehrgenerationenhäuser arbeitet zu-
dem in ländlichen Gebieten oder Kleinstädten, und das
ist gut.

Die Stadt Buchholz, in der ich wohne, ist ein typi-
sches Beispiel. Bewährt hat sich dort zum Beispiel der
Kindernotfalldienst; aber auch die Angebote für die Äl-
teren und Migranten werden gut angenommen. Wir ha-
ben zwar Hamburg mit seiner Infrastruktur direkt vor der
Tür. Aber ältere Menschen wissen oft nicht, wie sie dort
hinkommen sollten. Deshalb sind Infrastrukturangebote
für alte Menschen besonders in den Regionen wichtig.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion,
in Ihrem Antrag fordern Sie als Schwerpunkt der künfti-
gen Arbeit der Mehrgenerationenhäuser die Integration
von Migrantinnen und Migranten. Diesem wichtigen
Thema widmet sich auch das Folgeprogramm der Bun-
desregierung. Ihre weiteren Schwerpunktthemen Ge-
sundheitsförderung und vor allen Dingen Prävention
sind natürlich gut und wichtig. Deshalb arbeitet das Ge-
sundheitsministerium gerade an einer Präventionsstrate-
gie. Aber Themen wie Alter und Pflege, die im Konzept
von Familienministerin Schröder vorgesehen sind, sind
drängender. Wir brauchen mehr Unterstützungs- und Be-
ratungsangebote für ältere Menschen, vor allem für Pfle-
gebedürftige und Demenzkranke und deren Angehörige;
denn die Zahl der Betroffenen wird, wie wir alle wissen,
in jedem Jahr größer.

Unabhängig von künftigen Schwerpunkten sind für
uns Liberale Mehrgenerationenhäuser ein wertvolles
Modell, das sich in vielen Regionen bewährt hat. Den-
noch kann es nicht sein, dass der Bund auf Dauer das
Füllhorn mit Wohltaten ausschüttet. Wir sind ganz klar
der Auffassung, dass sich die Länder und Kommunen
bei neuen Modellprojekten stärker als bislang an der Fi-
nanzierung beteiligen müssen. Als Kommunalpolitikerin
im Buchholzer Stadtrat weiß ich, wie schwer es für
Kommunen ist, solche Einrichtungen zu finanzieren.
Dies erfordert eine ausführliche öffentliche Debatte da-
rüber, wie wichtig dem Ort eine solche Begegnungsstätte
ist und wie diese finanziert werden kann. Die Kommu-
nalpolitiker müssen hier Flagge zeigen. Wenn sie es wol-
len und kreativ sind, gibt es Lösungen. Sie hatten fünf
Jahre lang Zeit, finanzielle Strukturen zu entwickeln,
und viele von ihnen bekommen nun sogar noch mehr
Zeit, in der der Bund Zuschüsse bereitstellt.

Pilotprojekte sind, wie gesagt, keine Dauereinrich-
tung. Ziel muss es sein, dass der Bund aus der Finanzie-
rung herauskommt. Wir Liberale werden dem SPD-An-
trag nicht zustimmen. Uns ist wichtig, dass der warme
Regen aus Berlin nicht zum Dauerregen wird.

Danke schön.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708432000

Nun hat sich Frau Kollegin Ziegler zu einer Kurzin-

tervention gemeldet. – Bitte.


Dagmar Ziegler (SPD):
Rede ID: ID1708432100

Sehr geehrte Kollegin, es hat mich schon etwas ge-

wundert, dass Sie unterstellt haben, die Kommunen hät-
ten von vornherein gewusst, dass es sich hier nur um ein
Modellprojekt handelt und die Weiterfinanzierung ihnen
obliegen soll. Ich kann Ihnen als ehemalige Familienmi-
nisterin von Brandenburg eines sagen: Wir haben von
Anfang an kritisiert, dass Frau von der Leyen durch die
Lande gezogen ist und Mehrgenerationenhäuser als Mo-
dellprojekte etabliert hat, ohne dass die Länder in die
konzeptionelle Arbeit und bei der Frage, wo Mehrgene-
rationenhäuser angesiedelt werden sollten, einbezogen
worden sind. Wir haben Frau von der Leyen mit einem
einstimmigen Beschluss der Fachministerkonferenz,
also aller 16 Familienministerinnen und -minister, ein-
dringlich darum gebeten, von diesem Verfahren Abstand
zu nehmen und dafür zu sorgen, dass die Länder einbe-
zogen werden; denn auch die Länder leisten in diesem
Bereich konzeptionelle Arbeit. Die Mehrgenerationen-





Dagmar Ziegler


(A) (C)



(D)(B)

häuser sind aber völlig losgelöst von den Ministerien mit
den Kommunen vereinbart worden.

Ich habe mich geweigert, an der Eröffnung von Mehr-
generationenhäusern teilzunehmen,


(Thomas Rachel, Parl. Staatssekretär: Das war der Fehler! Das war eine Dummheit!)


weil genau das abzusehen war: Der Bund zieht sich nach
Ablauf des Zeitraums zurück; dann stehen die Vertreter
der Mehrgenerationenhäuser bei den Kommunen und
den Ländern vor der Tür und bitten um Weiterfinanzie-
rung der sehr sinnvollen Projekte, die dort durchgeführt
werden. Wir alle haben vorher gewusst, dass das Geld
weder auf der kommunalen Ebene noch auf der Länder-
ebene vorhanden sein wird. Insofern verstehe ich Ihren
Vorwurf überhaupt nicht, dass wir auf diesen Ebenen
fünf Jahre Zeit gehabt hätten, „finanzielle Strukturen zu
entwickeln“, um die Weiterfinanzierung vorzubereiten.
Diese Ebenen werden sich mit Ihnen damit auseinander-
setzen, und zwar parteiübergreifend; denn das war gelo-
gen.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708432200

Nun hat der Kollege Kai Gehring für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen das Wort.


Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708432300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Das Bundesfamilienministerium hat die Mehrgeneratio-
nenhäuser viel zu lange über eine mögliche Weiterförde-
rung im Unklaren gelassen; das ist einfach Fakt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Caren Marks [SPD] und Johanna Voß [DIE LINKE])


Daher begrüßen wir, dass wir uns heute hier im Parla-
ment mit diesem Thema und mit der Zukunft dieser Häu-
ser beschäftigen. Die schwarz-gelbe Koalition muss jetzt
endlich für Planungssicherheit, Klarheit und echte
Transparenz in der Frage sorgen, ob und wie es mit den
Mehrgenerationenhäusern weitergehen soll.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Offensichtlich fehlt aber bis heute ein wirklich sinn-
volles Übergangsmanagement, damit wir von einem
Modellprojekt zu einer nachhaltigen Etablierung erfolg-
reicher Mehrgenerationenhäuser kommen. Das Ministe-
rium hat zwar erste Eckpunkte per Pressemitteilung der
Öffentlichkeit bekannt gegeben; aber die darin genann-
ten Schwerpunkte sind schlichtweg willkürlich gewählt.

Die Mehrgenerationenhäuser dürfen nicht in Konkur-
renz zu bestehenden Strukturen vor Ort treten; das ist
uns ganz wichtig. Dieses Risiko könnte jedoch beim vor-
gesehenen Schwerpunkt „Alter und Pflege“ durchaus be-
stehen. Die Große Koalition hat in der vergangenen
Legislaturperiode die Pflegestützpunkte auf den Weg ge-
bracht. Die Pflegeversicherung leistet hierfür eine An-
schubfinanzierung in Höhe von 60 Millionen Euro. Es
wurde ein Rechtsanspruch auf die in Länderverantwor-
tung durchgeführte Pflegeberatung und vieles mehr ge-
schaffen. Da stellt sich doch die Frage, ob hier eine Dop-
pelstruktur geschaffen wird.


(Katharina Landgraf [CDU/CSU]: Nein, das sind Netzwerke!)


Diese Frage stellt sich auch beim Bereich „Freiwilli-
ges Engagement“. Dort, wo es vor Ort eine gut funktio-
nierende, tolle Ehrenamtsagentur gibt, braucht man viel-
leicht kein Mehrgenerationenhaus mit dem Schwerpunkt
„Freiwilliges Engagement“. Man muss sehr genau hin-
schauen, wie das auf bestehende Strukturen vor Ort
wirkt, damit Doppelstrukturen nicht vorprogrammiert
sind und die Zielgruppen, die Sie erreichen wollen, nicht
irritiert, sondern orientiert sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir müssen bei jedem neuen Modellprogramm von
vornherein darauf achten, dass keine Modellruinen ent-
stehen. Bei den Mehrgenerationenhäusern muss man
sehr deutlich sagen: Die große Mehrzahl der Häuser leis-
tet eine hervorragende Arbeit; einzelne Häuser können
aber nicht überzeugen. Wenn man Mehrgenerationen-
häuser zukunftsfähig gestalten will, dann muss man sich
fragen: Wie unterscheiden sich die Häuser von den
vorhandenen Strukturen, die es vor Ort gibt, in der Ju-
gendhilfe, in der Altenhilfe etc.? Welche sinnvollen Er-
gänzungen zur kommunalen Infrastruktur können sie ei-
gentlich leisten? Welchen dauerhaften Mehrwert gibt es
für die Menschen vor Ort? Die Koalition muss diese Fra-
gen noch beantworten. Wenn Sie ein Folgeprogramm
vorlegen, dann müssen Sie sich ein Vorbild an den guten,
erfolgreichen Mehrgenerationenhäusern nehmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aus Sicht der Grünen muss es das zentrale Ziel der
Häuser sein, dass ein Miteinander von Alt und Jung
stattfindet. Wo Mehrgenerationenhaus draufsteht, muss
Kontakt und Dialog zwischen den Generationen tatsäch-
lich drin sein und tagtäglich stattfinden; denn sonst wird
ja mit dieser Überschrift etwas vorgegaukelt. Viele glau-
ben immer noch, es findet ein Mehrgenerationenwohnen
statt. Aber es ist sozusagen eine Kontaktstelle, wo unter-
schiedliche Menschen zusammenkommen. Wenn dort
tatsächlich ein Mehrgenerationendialog stattfindet, dann
kann das auch ein Beitrag dazu sein, den demografi-
schen Wandel aktiv zu gestalten. Dieser generationen-
übergreifende Gedanke zwischen Alt und Jung, zwi-
schen Jugendlichen, Erwachsenen und älteren Menschen
muss in allen Mehrgenerationenhäusern viel stärker zum
Tragen kommen. Dann wird man dem Namen auch ge-
recht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Grundsätzlich kann man der Koalition sagen: vielleicht
ein bisschen weniger Leuchtturmprojekte und mehr
wirklich nachhaltige Strukturen. Eine gute Infrastruktur,
eine gute Förderung würden wir uns wünschen.





Kai Gehring


(A) (C)



(D)(B)

Wenn man sich in die Evaluation vertieft, dann wird
deutlich, dass die Mehrgenerationenhäuser vor allem
dann erfolgreich sind, wenn sie kommunal gut verankert
sind und wenn sie sich mit der Förderung und Unterstüt-
zung von Familien beschäftigen. Das ist etwas, worauf
man aufbauen sollte.

Aber zwei Fragen muss die Koalition noch beantwor-
ten; vielleicht kann Herr Geis dazu etwas sagen. Wenn
Sie jetzt schon festlegen, dass sich die Kommunen künf-
tig in einem viel stärkeren Maße an der Finanzierung
beteiligen sollen, wie wollen Sie dann eigentlich verhin-
dern, dass in armen, in finanzschwachen Kommunen
kein Mehrgenerationenhaus mehr gegründet, ge-
schweige denn finanziert werden kann? Wie wollen Sie
sicherstellen, dass alle Kommunen ein solches Mehrge-
nerationenhaus kofinanzieren können?

Sie betonen auch – das ist die zweite Frage –, dass es
ein neues nachbarschaftliches Miteinander und eine
Netzwerkarbeit im Sozialraum gibt. Das wird zu Recht
gelobt. Aber wenn Sie das Programm Soziale Stadt zu-
sammenstreichen, dann passt das nicht zusammen; denn
hier hat ein wirklich gutes Quartiersmanagement in
Stadtteilen mit besonderem Erneuerungsbedarf stattge-
funden.

Deshalb ein ganz klarer Appell an die Regierung:
Schaffen Sie endlich Transparenz über die Konzeption
und die Fördermodalitäten für ein Nachfolgeprogramm!
Zentral bleibt für uns die Frage der Nachhaltigkeit dieser
Häuser, damit wir auch diese Debatte nicht alle paar
Jahre führen müssen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708432400

Nun hat der Kollege Norbert Geis für die CDU/CSU-

Fraktion das Wort.


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1708432500

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ich gebe Herrn Gehring recht, dass die Mehrge-
nerationenhäuser dann in der Zukunft Bestand haben
werden, wenn sie einen wichtigen Beitrag für den Zu-
sammenhalt innerhalb der Gesellschaft leisten können.
Das tun sie im Augenblick; jedenfalls ist das auch heute
bei dieser Debatte zum Ausdruck gekommen.

Was heißt „Beitrag zum Zusammenhalt“? Das soziale
Klima in einer Gesellschaft wird dadurch bestimmt, dass
die Menschen aufeinander zu gehen. Es geht um die Zu-
wendung zum anderen, insbesondere zu den älteren
Menschen, die oft krank sind und oft auch verbittert da-
heim allein in ihren Wohnungen leben, ohne Kontakt zur
Außenwelt. Aber es geht auch um den Kontakt der aus-
ländischen Mitbürgerinnen und Mitbürger mit den deut-
schen. Es geht um Integration, eine der wichtigsten Auf-
gaben der Gesellschaft in der nächsten Zeit überhaupt.
Es geht aber auch um den Kontakt von Jung und Alt. Es
geht darum, dass die Menschen zueinanderfinden. Dann
herrscht ein Klima vor, in dem es sich zu leben lohnt.
Darum geht es den Mehrgenerationenhäusern.

Natürlich haben wir viele Institutionen, und es besteht
schon ein wenig die Frage, ob da nicht Doppelfunktio-
nen entstehen. Wir haben die Vereine, die dergleichen
leisten; wir haben auch andere Institutionen. Insbeson-
dere die Familie ist nach wie vor das stabilisierende Ele-
ment in einer Gesellschaft.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Aber wir erleben auch, wie die Familien mehr und mehr
ins Hintertreffen geraten. Viele Bindungen zerbrechen.
Viele Verbindungen werden als Ehe gar nicht mehr auf-
genommen. Das heißt schon, dass wir uns Gedanken
darüber machen müssen, wie wir darüber hinaus die
Chance haben, dass in der Gesellschaft genug Bindungs-
kräfte sind und die Menschen nicht nebeneinanderher le-
ben. Daher kann es, so meine ich, durchaus richtig sein,
solche Mehrgenerationenhäuser zu installieren. Sie sind
– das ist heute schon zur Genüge gesagt worden – An-
laufstellen, insbesondere für ältere Menschen. Sie kön-
nen dort das finden, was ihnen im Alltag fehlt, den Kon-
takt zu Mitmenschen, insbesondere zu jungen Leuten.
Hier können auch ausländische Mitbürgerinnen und Mit-
bürger, was in vielen Mehrgenerationenhäusern der Fall
ist, Kontakt zu Einheimischen aufnehmen. Hier können
Jung und Alt zusammenfinden. Diese Häuser bieten also
tatsächlich die Chance, innerhalb der Gesellschaft Bin-
dungskräfte zu entwickeln, die wir dringend brauchen.

Wir müssen uns deshalb Gedanken darüber machen,
wie und ob wir den Bestand dieser Häuser in Zukunft
garantieren wollen. Es ist richtig, dass die Bundesregie-
rung die Einrichtung dieser Häuser initiiert hat, und es
ist auch richtig – da gebe ich Ihnen recht –, dass dabei
versäumt worden ist, sich mit den Gemeinden und insbe-
sondere den Ländern in Verbindung zu setzen, um eine
finanzielle Grundlage für diese Häuser zu finden.


(Johanna Voß [DIE LINKE]: Sowieso fehlt den Gemeinden die finanzielle Grundlage!)


Deswegen müssen wir das jetzt in der Folgevereinba-
rung nachholen. Die Koalition will diese Häuser erhal-
ten, weil sie als gute Einrichtung erkannt worden sind.
Aber wir müssen eine vernünftige finanzielle Grundlage
finden. Deswegen kommt es jetzt darauf an, dass man
diesen Fehler, den man vor fünf Jahren gemacht hat,
nicht wiederholt.

Sicherlich haben wir den Trägern der Mehrgeneratio-
nenhäuser vor fünf Jahren gesagt, dass die Förderung in
fünf Jahren ausläuft. Aber man kann sich sehr leicht aus-
rechnen, dass man die Kontakte, die entstanden sind,
nachdem ein solches Haus eingerichtet worden ist, nicht
einfach beenden kann, weil die Finanzierung fehlt. Es
kommt entscheidend darauf an, dass Bund, Länder und
Gemeinden gemeinsam vorgehen. Ich teile die Auffas-
sung, dass man den Gemeinden nicht zu viel aufbürden
kann, Herr Gehring. Die Gemeinden haben wirklich die
größte Last zu tragen, wenn es um die soziale Absiche-
rung geht. Das kann auf Dauer so nicht weitergehen. Wir
müssen uns auch in anderer Hinsicht Gedanken darüber





Norbert Geis


(A) (C)



(D)(B)

machen, wie wir die Gemeinden stärker entlasten kön-
nen, oder wir müssen ihnen einen größeren Anteil am
Etat zukommen lassen.

Die Länder müssen ebenso wie der Bund begreifen,
dass die Mehrgenerationenhäuser eine hervorragende
Chance bieten, um innerhalb der Gesellschaft Bindungs-
kräfte entstehen zu lassen, die notwendig sind, damit die
Menschen nicht nebeneinanderher leben, sondern aufei-
nander zu gehen.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708432600

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist die Kollegin

Angelika Graf für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Angelika Graf (SPD):
Rede ID: ID1708432700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich habe in den letzten Jahren eine ganze Reihe von
Mehrgenerationenhäusern besucht und immer feststellen
können, wie unterschiedlich sie aufgestellt sind, immer
gerade richtig für den Ort, an dem sie entstanden sind.
Ich habe auch feststellen können, welch wichtige Rolle
sie inzwischen für die soziale Infrastruktur spielen. Sie
waren ein Impulsgeber für Jugend-, Familien- und
Altenhilfestrukturen vor Ort. Oft findet man dort Kin-
derbetreuungseinrichtungen, Hausaufgabenhilfen, Vorle-
sedienste, Integrationsangebote oder auch einen günsti-
gen Mittagstisch für sozial schwache Familien oder
Alleinstehende. Die Arbeit dort steht und fällt mit dem
bürgerschaftlichen Engagement. Anders wäre das bei der
schwachen Finanzierung, die schon jetzt gegeben ist, de-
finitiv nicht zu machen. Die Menschen gehen aufeinan-
der zu. Herr Geis, die Bindungskräfte werden durch
diese Häuser zweifellos größer.

Schon heute gibt es in vielen Mehrgenerationenhäu-
sern präventive Grundansätze. Diese wollen wir aus-
bauen. Darauf bauen wir in unserem Antrag. Wir wollen
die gesundheitliche Prävention zu einem neuen Schwer-
punkt der Mehrgenerationenhäuser machen. Wir wollen,
dass die Prävention nicht nur in die Hände der Ärzte ge-
legt wird, wie es der Gesundheitsminister vorhat – er führt
eine entsprechende Honorarabrechnungsziffer ein –,
sondern wir wollen eine Prävention im Sinne eines
Präventionsgesetzes, wie es bereits die rot-grüne Bun-
desregierung verfolgt hat. Aktiv sein, Vorsorge treffen,
Prävention ernst nehmen und nutzen, das sind, wie ich
denke, die Schlüsselbegriffe für ein gesundes Leben.
Insbesondere die Prävention im Alter können wir so stär-
ken.

Wir möchten durch die Verknüpfung der Mehrgenera-
tionenhäuser mit Prävention und Gesundheitsförderung
die Potenziale der Prävention vor Ort über niederschwel-
lige Angebote heben. Wir wollen eine gesundheitliche
Prävention, die im alltäglichen Leben greift, gerade für
Personen aus einem sozial schwachen Umfeld sowie für
Ältere, zum Beispiel durch vermehrte Ernährungs- und
Bewegungsberatung. Wir wollen mit unserem Antrag
dazu beitragen, die Mehrgenerationenhäuser in diesem
Aufgabenbereich zu stärken.

Wir freuen uns, dass Bundesfamilienministerin
Schröder nach langem Zögern nun ebenfalls Vorschläge
zur Weiterfinanzierung und zum Erhalt der Mehrgenera-
tionenhäuser gemacht hat. Was die Bundesfamilien-
ministerin zum Schwerpunkt der künftigen Mittelver-
gabe machen möchte, geht meines Erachtens allerdings
weit über die Möglichkeiten eines Mehrgenerationen-
hauses hinaus. Da soll ein Knotenpunkt für Bundesfrei-
willigendienste entstehen, da soll eine Ehrenamtsbörse
entstehen, und es geht um die Beratung und Betreuung
von Pflegebedürftigen und Demenzerkrankten. Das ist
noch lange nicht alles. Hier steht nicht „Entweder-oder“,
sondern „und, und, und“. Ich denke, die Mehrgeneratio-
nenhäuser werden überfordert. Die Beratung und Be-
treuung von Pflegebedürftigen und Demenzerkrankten
zum Beispiel braucht qualifiziertes Fachpersonal. Das
kann ein Mehrgenerationenhaus mit einem Zuschuss des
Bundes in Höhe von 40 000 Euro pro Jahr definitiv nicht
leisten, zumal die Bundesförderung nach dem Willen der
Familienministerin sogar sinken soll.

Mit den Pflegestützpunkten, die Sie im Rahmen der
Mehrgenerationenhäuser schaffen wollen, haben wir be-
reits in der letzten Legislaturperiode den Aufbau einer
Beratungsinfrastruktur in der Pflege gestartet.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708432800

Frau Kollegin, ich muss Sie auf die Redezeit auf-

merksam machen.


Angelika Graf (SPD):
Rede ID: ID1708432900

Ich komme gleich zum Schluss, Frau Präsidentin. –

Pflegestützpunkte und Mehrgenerationenhäuser sind
zwei sehr unterschiedliche Konzepte. Beide brauchen
wir, aber nicht miteinander verwurschtelt. Wir brauchen
keine Doppelstrukturen.

Ich rate Ihnen: Bringen Sie die Möglichkeiten, die wir
Ihnen mit diesem Antrag eröffnet haben, in die Beratun-
gen ein. Vielleicht kommen Sie ja doch noch zu dem
Schluss, dass unser Vorschlag der richtige ist.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und der Abg. Johanna Voß [DIE LINKE])



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708433000

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4031 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, damit
sind Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.

Wir kommen nun zu einer ganzen Reihe von Abstim-
mungen zu Tagesordnungspunkten, zu denen die Reden
zu Protokoll gegeben wurden. Sind Sie damit einverstan-
den, dass ich darauf verzichte, die Namen der Redner zu





Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

nennen? Das können Sie dann im Protokoll nachlesen. –
Ich sehe, das ist der Fall. Dann sparen wir uns einige Mi-
nuten.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Sportausschusses (5. Ausschuss) zu der
Unterrichtung durch die Bundesregierung

12. Sportbericht der Bundesregierung

– Drucksachen 17/2880, 17/3110 Nr. 5, 17/4420 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Riegert
Martin Gerster
Dr. Lutz Knopek
Katrin Kunert
Viola von Cramon-Taubadel

Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor.

Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.1)

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Sportaus-
schusses auf Drucksache 17/4420. Der Ausschuss emp-
fiehlt, in Kenntnis des 12. Sportberichts auf Drucksa-
che 17/2880 eine Entschließung anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dage-
gen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist
damit mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei
Enthaltung der Oppositionsfraktionen angenommen.

Nun kommen wir zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksa-
che 17/4448. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-
trag? – Wer ist dagegen? – Gibt es Enthaltungen? – Der
Entschließungsantrag ist damit abgelehnt. Dafür haben
die Oppositionsfraktionen gestimmt, dagegen die Koali-
tionsfraktionen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:

Beratung des Antrags der Fraktion der SPD

Nichtstaatliche militärische Sicherheitsunter-
nehmen registrieren und kontrollieren

– Drucksache 17/4198 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

Auch zu diesem Tagesordnungspunkt wurden die Re-
den zu Protokoll gegeben.2)

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/4198 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Wie ich sehe, sind

1) Anlage 3
2) Anlage 4
Sie damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über den
Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfah-
ren und strafrechtlichen Ermittlungsverfah-
ren

– Drucksache 17/3802 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss

Hierzu wurden die Reden zu Protokoll gegeben.3)

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/3802 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Wie ich
sehe, sind Sie auch damit einverstanden. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Jan van Aken,
Christine Buchholz, Dr. Dietmar Bartsch, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Beziehungen der Europäischen Union mit
Afrika solidarisch und gerecht gestalten

– Drucksachen 17/3672, 17/4466 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Hartwig Fischer (Göttingen)

Karin Roth (Esslingen)

Joachim Günther (Plauen)

Niema Movassat
Ute Koczy

Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.4)

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf der Drucksache
17/4466, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/3672 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Gibt es Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist damit
angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Fraktion
Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.5)

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Anpassung des deutschen Rechts an die
Verordnung (EG) Nr. 380/2008 des Rates vom
18. April 2008 zur Änderung der Verordnung

3) Anlage 5
4) Anlage 6
5) Anlage 2





Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)


(EG) Nr. 1030/2002 zur einheitlichen Gestal-

tung des Aufenthaltstitels für Drittstaatenan-
gehörige

– Drucksache 17/3354 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)


– Drucksache 17/4464 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Daniela Kolbe (Leipzig)

Hartfrid Wolff (Rems-Murr)

Jan Korte
Memet Kilic

Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.

Die Reden wurden zu Protokoll gegeben.


Reinhard Grindel (CDU):
Rede ID: ID1708433100

Wie ich bereits in der ersten Lesung dieses Gesetzes

betont habe, setzen wir mit dem elektronischen Aufent-
haltstitel eine EU-Verordnung um. Wenn jetzt etwa die
Grünen die Erfassung von Fingerabdrücken auf diesem
einheitlichen Dokument in Kartenform kritisieren, dann
geht das in doppelter Hinsicht ins Leere. Zum einen
müssen wir die Verordnung eins zu eins bis zum 21. Mai
2011 umsetzen und haben gar keinen Handlungsspiel-
raum, auf die Fingerabdrücke zu verzichten. Zum ande-
ren zeigt sich an dieser Verordnung, dass offenbar viele
Staaten in Europa die Bedenken der Opposition an der
Erfassung von Fingerabdrücken nicht teilen. Insoweit
sollte nicht die Regierungskoalition ihre Position über-
denken und einen Verstoß gegen EU-Recht riskieren,
sondern die Grünen sollten ihre Ablehnung der Erfas-
sung von Fingerabdrücken überdenken, weil sie damit in
Europa ziemlich allein dastehen.

Denn die EU-Staaten haben aus gutem Grund auf
dieses Instrument der Erfassung des Fingerabdrucks ge-
setzt. Der elektronische Aufenthaltstitel bietet dadurch
eine Menge Vorteile:

Die Identitätsfeststellung wird europaweit einheitlich
geregelt und schafft deutlich mehr Sicherheit, weil durch
die biometrischen Erkennungsmerkmale eine verlässli-
chere Verbindung zwischen dem Ausländer und seinem
tatsächlichen Aufenthaltstitel geschaffen wird.

Die für alle EU-Staaten einheitliche Aufenthaltskarte
erfüllt sehr hohe technische Anforderungen, die Fäl-
schungen ausschließen. So können wir besser illegale
Einwanderung verhindern und illegalen Aufenthalt in
Deutschland bekämpfen.

Für Ausländer hat der elektronische Aufenthaltstitel
gleichzeitig den Vorteil, dass er wie der deutsche Perso-
nalausweis als elektronische Identitätsfeststellung ge-
nutzt werden kann.

Nun haben die Länder Bedenken gegen die neue Auf-
enthaltskarte wegen möglicher hoher Kosten geäußert.
Das ist nicht ganz unberechtigt; denn für die Ausländer-
behörden entsteht ein gewisser Mehraufwand durch die
Abnahme der Fingerabdrücke, zusätzliche Datenerfas-
sungen, mindestens eine zusätzliche Vorsprache des
Antragstellers und sicher auch einen gewissen Bera-
tungsaufwand in Sachen Zusatzfunktionen der „elektro-
nischen Signatur“ und des „elektronischen Identitäts-
nachweises“. Die Koalitionsfraktionen haben in den
Ausschussberatungen deshalb entschieden, dass der ge-
setzliche Gebührenrahmen um 60 Euro anzuheben ist.
Wir liegen damit um 10 Euro höher, als das Bundes-
innenministerium ursprünglich vorgesehen hat, und tra-
gen den Bedenken des Bundesrates insoweit Rechnung.

Ich will an dieser Stelle aber auch mit allem Nach-
druck darauf verweisen, dass der neue Aufenthaltstitel
den Kommunen natürlich eine Menge Vorteile bringt,
die sich auch vor Ort finanziell auswirken werden.

Erst einmal werden die Karteien der Ausländerbe-
hörden um solche Personen bereinigt werden können,
die Deutschland verlassen haben, ohne den Behörden
davon Kenntnis zu geben. Das wird jetzt auffallen. Man
bekommt also einen besseren Überblick, wie viele Dritt-
staatsangehörige sich in der Kommune aufhalten und
welchen Aufenthaltsstatus sie haben.

Außerdem werden jetzt EU-weit Doppelanmeldungen
verhindert werden können und damit auch das doppelte
Abkassieren von Sozialleistungen. Wanderungsbewe-
gungen innerhalb der EU kann man durch die Aufent-
haltskarte leichter ermitteln. Diese Argumente haben
offenbar auch die SPD überzeugt, deren kommunalpoli-
tische Experten im Unterausschuss Kommunales unse-
rem Gesetzentwurf immerhin zugestimmt haben.

Eine zweite Änderung, die wir im Ausschuss vorge-
nommen haben, will ich hier nur kurz erwähnen. Die EU
hat mit der Schweiz ein Abkommen über Freizügigkeit.
Danach gilt zwischen Deutschland und der Schweiz in
Fragen des Aufenthaltsrechts das Prinzip der Gegensei-
tigkeit. Die Schweiz hat uns nun mitgeteilt, dass sie nicht
beabsichtigt, deutschen Staatsbürgern einen elektroni-
schen Aufenthaltstitel auszuhändigen. Deshalb haben
die Koalitionsfraktionen entschieden, dass Schweizern
der elektronische Aufenthaltstitel optional auf Antrag
ausgestellt wird. Sicherheitsprobleme sind damit er-
sichtlich nicht verbunden.

Einen dritten Änderungspunkt will ich auch nicht ver-
schweigen. Die in den elektronischen Aufenthaltstitel
eingebrachten Chips brauchen eine Zertifizierung. Die
Bundesdruckerei hat uns während des laufenden Gesetz-
gebungsverfahrens mitgeteilt, dass eine rechtzeitige Zer-
tifizierung nicht möglich ist. Etwaige Zwischenlösungen
wären mit einem unverhältnismäßigen Verwaltungsauf-
wand verbunden. Deshalb haben wir uns entschieden,
das Datum für das Inkrafttreten des Gesetzes auf den
1. September 2011 festzulegen. Ich sage ausdrücklich,
das ist nicht schön. Wir hätten uns hier eine rechtzeitige
Zertifizierung seitens der Bundesdruckerei gewünscht.
Aber die zeitliche Überschreitung ist gerade noch hin-
nehmbar, zumal auch andere EU-Länder noch nicht
startklar sind. Das gibt den kommunalen Ausländerbe-
hörden auch noch etwas mehr Vorbereitungszeit.

Reinhard Grindel


(A) (C)



(D)(B)

Der elektronische Aufenthaltstitel sorgt für mehr
Sicherheit und hilft im Kampf gegen den Missbrauch von
Sozialleistungen. Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion
stimmen dem Gesetzentwurf deshalb gerne zu.


Daniela Kolbe (SPD):
Rede ID: ID1708433200

Zum 1. Mai 2011 sollte nach bundesgesetzlicher

Umsetzung der europarechtlichen Vorgaben der elek-
tronische Aufenthaltstitel, eAT, im Scheckkartenformat
eingeführt werden. Die mit dem eAT verbundenen Zu-
satzfunktionen elektronischer Identitätsnachweis und
qualifizierte elektronische Signatur sind neue und für
die Ausländerbehörden untypische Aufgaben, Aufgaben,
die mehr Kosten produzieren und signifikant mehr Ver-
waltungsaufwand.

Nun sind auch fast zwei Monate vergangen, seit wir
den vorliegenden Gesetzentwurf in einer ersten Lesung
hier im Bundestag beraten und diskutiert haben. Man
könnte annehmen, damit wären zwei Monate Zeit für die
schwarz-gelbe Bundesregierung gewesen, in Bezug auf
den Gesetzentwurf Kritik, Anmerkungen oder Hinwei-
sen, sei es von anderen Fraktionen, von Experten oder
von den Ländern und Kommunen, nachzugehen, ernst zu
nehmen und auch Änderungen vorzunehmen.

Nur wieder einmal muss man hier und heute feststel-
len: Nichts, aber auch gar nichts Positives ist passiert.
Im Gegenteil.

Beginnen wir damit, dass das Gesetz urplötzlich und
aus heiterem Himmel erst zum 1. September 2011 – also
4 Monate später als geplant – in Kraft treten soll. Als
Grund wird laut Bundesregierung und Bundesdruckerei
angegeben, dass ein fristgerechter Abschluss der not-
wendigen Zertifizierung durch T-Systems und das beauf-
tragte Zertifizierungsinstitut nicht mehr möglich sei.
Das kommt jetzt aber sehr plötzlich. Planungssicherheit
für alle Beteiligten sieht anders aus. Ich kann nur hof-
fen, dass die entsprechende Software dann aber zum
1. September 2011, zum nächsten Einführungstermin,
funktioniert und nicht noch beim Start für Chaos in den
jeweiligen Ausländerbehörden sorgen wird.

Doch zurück zu den Inhalten. Laut dem zweiten vor-
liegenden Änderungsantrag von FDP und Union soll
der vorgegebene gesetzliche Gebührenrahmen in § 69
Abs. 3 Nr. 1 bis 3 des Aufenthaltsgesetzes um jeweils
60 Euro erhöht werden, also noch über die bisher schon
vorgesehene Steigerung im Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung hinausgehen. Zur Begründung heißt es kurz,
dass damit die hohen Verwaltungskosten bei den Auslän-
derbehörden kompensiert und obendrein für die Zukunft
noch mehr Spielraum für künftige Korrekturen geschaf-
fen werden sollen.

Wer muss also die Kosten des entstehenden Mehrauf-
wandes tragen? Einerseits sind das die Antragstellerin-
nen und Antragsteller eines Aufenthaltstitels. Aber vor
allen Dingen werden die Kommunen noch stärker als
bislang belastet. Denn was die schwarz-gelbe Bundesre-
gierung und auch die schwarze und die gelbe Fraktion
übersehen, ist die Tatsache, dass bereits heute über
Zu Protokoll
40 Prozent der Antragsteller von den Gebühren befreit
sind oder Ermäßigungen in Anspruch nehmen können.

Die dabei entstehenden Mehrkosten fallen dann auf
die Kommunen zurück. Tatsache ist, bereits heute ist die
Situation der kommunalen Haushalte äußerst kritisch
und die Bilanz negativ zwischen den Gebühreneinnah-
men einerseits und den Kosten für die Erteilung des Auf-
enthaltstitels andererseits. Denn nach der jetzt gültigen
Aufenthaltsverordnung können Ausländer unter be-
stimmten Bedingungen Gebührenermäßigung oder auch
eine Gebührenbefreiung erhalten, die wiederum von den
Kommunen kompensiert werden müssen.

Hier knüpft der von uns als SPD vorgelegte Ent-
schließungsantrag an.

Befreiungstatbestände müssen aus unserer Sicht auf
Personengruppen reduziert werden, bei denen eine Be-
freiung wirklich geboten ist. Dazu zählen für uns nicht
unbedingt die pauschale Befreiung von beispielsweise
Lebenspartnerinnen und -partner minderjährigen Kin-
dern Deutscher oder Eltern minderjähriger Deutscher.

Diese Besserstellung von Menschen lediglich auf-
grund eines engen Verwandtschaftsverhältnisses zu ei-
nem deutschen Staatsangehörigen geht zulasten der
Kommunen. Wir wollen, dass dieser Privilegierungstat-
bestand abgeschafft wird.

Den Kommunen entstehen durch den elektronischen
Aufenthaltstitel hohe Mehrkosten, vor allem durch die
stark erhöhten Verwaltungskosten, durch ein Mehr an
Aufgaben wie die Abnahme der Fingerabdrücke, die zu-
sätzliche Datenerfassung, mindestens eine zusätzliche
Vorsprache je Antragsteller, Informations- und Bera-
tungsaufwand zu den Zusatzfunktionen „elektronischer
Identitätsnachweis“ und „elektronische Signatur“. Eine
Stadt wie Leipzig rechnet mit circa sieben zusätzlichen
Verwaltungsstellen, und das bei einer Kommune mit ver-
hältnismäßig geringem Ausländeranteil.

Wir fordern die Bundesregierung nochmals eindring-
lich dazu auf, zu überprüfen, ob weitere Möglichkeiten
bestehen oder Maßnahmen ergriffen werden können, die
Kosten für Kommunen und Antragstellerinnen und An-
tragsteller zu senken. Ebenso ist es für uns noch immer
bedenklich, dass der Bund sich nicht in der Lage sieht,
die tatsächlichen Produktionskosten der Bundesdrucke-
rei transparent zu gestalten.

Auch wenn die SPD-Fraktion die grundsätzliche In-
tention einer einheitlichen Gestaltung von Aufenthaltsti-
teln im Chipkartenformat sehr begrüßt, so können wir
dem vorliegenden Gesetzentwurf, der die Lasten einsei-
tig den Kommunen aufbürdet, nicht zustimmen.

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, bis spätestens

21. Mai 2011 den elektronischen Aufenthaltstitel für
Drittstaatsangehörige einzuführen. Dieser Pflicht wird
durch den vorgelegten Gesetzentwurf entsprochen. An-
gesichts der Probleme bei der Zertifizierung mussten
wir den Zeitpunkt des Inkrafttretens für das Gesetz auf
den 1. September 2011 verschieben. Die Bundesdrucke-



gegebene Reden

Hartfrid Wolff (Rems-Murr)



(A) (C)



(D)(B)

rei hatte mitgeteilt, dass der Abschluss der Zertifizie-
rung nicht vor Ende Juli 2011 möglich ist. Es hätte kei-
nen Sinn gemacht, für einen derart kurzen Zeitraum
noch eine andere Lösung zu suchen.

Verbindlich ist von europäischer Seite vorgeschrie-
ben, entsprechende Karten mit einem Chip auszustatten.
Darauf werden neben Daten des Titelinhabers, wie bei-
spielsweise Name und Staatsangehörigkeit, auch ein
Lichtbild und zwei Fingerabdrücke gespeichert werden.
Vor einigen Wochen hat dies zu einem großen Aufschrei
bei der Opposition geführt – und das, obwohl das Vorha-
ben schon lange bekannt ist. Bereits vor zwei Jahren
wurde der entsprechende Beschluss auf europäischer
Ebene gefasst. Aber wie so oft hat die Opposition vorher
keinen Ansatzpunkt für Kritik gefunden. Die Grünen
versuchen in ihrem Entschließungsantrag, ein großes
Fass aufzumachen: keine Umsetzung mit Fingerabdrü-
cken, Neuverhandlung der Richtlinie, bis die Fingerab-
drücke herausverhandelt sind. Dieses Petitum zeigt nur
die Realitätsferne der Grünen und ihre grundsätzliche
Dagegen-Haltung.

Ich möchte nicht verhehlen, dass die FDP-Bundes-
tagsfraktion seit jeher der Speicherung biometrischer
Daten im Pass, im Personalausweis und an anderen
Stellen kritisch gegenübersteht. Dabei handelt es sich
um sehr sensible Daten. Allerdings steht jetzt die euro-
päische Vereinbarung; wir müssen sie nun umsetzen.
Dies tut der Gesetzentwurf. Die Kritik der Opposition ist
daher unangebracht. Von einer Stigmatisierung der Be-
troffenen, wie dies von der Opposition in der öffent-
lichen Diskussion dargestellt worden ist, kann nun wirk-
lich nicht die Rede sein. Auch werden sie nicht, wie
behauptet wurde, unter Generalverdacht gestellt. In der
Stellungnahme des Bundesrates wurden bedenkenswerte
Aspekte angesprochen: Die Herstellungskosten für die-
sen neuen elektronischen Aufenthaltstitel werden sich
erhöhen; der Arbeitsaufwand bei den Ausländerbehör-
den wird ansteigen. Insgesamt wird der Belastungsauf-
wand für die Kommunen steigen. Deshalb haben wir den
im Gesetzentwurf vorgesehenen Gebührenrahmen zur
Abdeckung der Kosten erhöht. Die Bedenken des Deut-
schen Städtetages sind dabei in unsere Überlegungen
einbezogen worden.

Ein weiteres Wort zu dem Entschließungsantrag der
Grünen: Diesen lehnen wir – wie bereits angedeutet –
selbstverständlich ab. Den Kommunen helfen wir kon-
kret durch die Anhebung der Gebühren. Den Vorschlag
der Grünen, die finanzielle Unterstützung von Bundes-
seite zu prüfen, verbirgt hinter einer vorgetäuschten
guten Absicht nur den Eingriff in die grundgesetzlich
geschützte Selbstständigkeit der Kommunen. Diesen leh-
nen wir ab. Wir bekennen uns zu dieser Selbstständig-
keit. Wir haben überdies dafür gesorgt, dass Schweizer
Staatsbürger nach Antrag fakultativ diesen elektroni-
schen Aufenthaltstitel erhalten können. Durch dieses
Gesetz wird europäisches Recht in nationales umgesetzt.


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708433300

Wir debattieren heute abschließend über die Einfüh-

rung eines elektronischen Aufenthaltstitels für Bürgerin-
Zu Protokoll
nen und Bürger, die aus Staaten außerhalb der EU kom-
men und in Deutschland einen befristeten oder
unbefristeten Aufenthaltstitel besitzen. Sie sollen in Zu-
kunft eine Karte mit maschinenlesbarem Chip erhalten,
der alle ihre persönlichen Daten, ein digitalisiertes Foto
und die Fingerabdrücke enthält. Die Koalition ist eine
Antwort auf die Frage schuldig geblieben, ob die Ein-
führung dieses elektronischen Aufenthaltstitels ange-
sichts des enormen technischen Aufwandes und der da-
mit verbundenen Kosten wirklich notwendig ist.

Ich will noch einmal auf die wesentlichen Bedenken
der Linksfraktion zur Einführung des elektronischen
Aufenthaltstitels eingehen.

Wie bei der Einführung des elektronischen Personal-
ausweises und des elektronischen Reisepasses mitsamt
der digitalisierten Erfassung von Bildern und Fingerab-
drücken bezweifeln wir die sicherheitspolitische Not-
wendigkeit des elektronischen Aufenthaltstitels. Weder
in der zugrunde liegenden EU-Verordnung noch im Ge-
setzentwurf der Bundesregierung wird substanziell dar-
gelegt, welche Sicherheitslücken bisher bestanden ha-
ben oder welchen quantitativen Umfang Fälschungen
und Verfälschungen von EU-Aufenthaltstiteln aufgewie-
sen haben. Man hat den Eindruck, es ist wie bei vielen
aktuellen sicherheitspolitischen Forderungen: Eine
reale Gefahr besteht nicht, aber ein von den Sicherheits-
behörden und zahlreichen profitierenden Unternehmen
entworfenes Szenario. Gehandelt wird nicht auf Basis
der realen Gefahrenlage, sondern aufgrund der entwor-
fenen Szenarien. Diese Politik lehnen wir ganz grund-
sätzlich ab.

Die Ablehnung resultiert auch aus den Risiken und
Gefahren der elektronischen Erfassung sensibler per-
sönlicher Daten. Wo Daten erfasst und verarbeitet wer-
den, besteht auch immer die Gefahr von Sicherheits-
lücken bei der Übermittlung und des Datendiebstahls.
Auch die Karten selbst sind für jeden auslesbar, der über
die entsprechenden technischen Mittel verfügt. Es wer-
den aber auch weitere Begehrlichkeiten bei den staat-
lichen Behörden selbst geweckt: Wenn doch ohnehin
Passbilder und Fingerabdrücke digital erfasst werden,
warum diese dann nicht speichern? Ich sage Ihnen, wir
werden eines Tages hier stehen und darüber debattieren,
welche dieser biometrischen Daten von den kommuna-
len Behörden oder sogar dem Ausländerzentralregister
dauerhaft gespeichert und den Sicherheitsbehörden zu-
gänglich gemacht werden sollen!

Schließlich lehnen wir den Gesetzentwurf auch we-
gen des diskriminierenden Charakters ab, alle Men-
schen, die nicht die Staatsangehörigkeit eines EU-Staa-
tes besitzen und zum Teil ja dauerhaft in Deutschland
leben, zur Abgabe ihrer Fingerabdrücke zu zwingen. Ich
will darauf hinweisen, dass davon ja nicht nur Erwach-
sene betroffen sind. Kinder ab dem sechsten Lebensjahr
sollen ihre Fotos und Fingerabdrücke ebenfalls digital
erfassen lassen. Es ist schlicht skandalös, hier eine er-
kennungsdienstliche Behandlung von Kindern durchfüh-
ren zu wollen. Das sicherheitspolitische Argument ist an
dieser Stelle nicht einfach zweifelhaft, sondern geradezu
absurd. Das Signal, das von diesem Vorgang an die Kin-



gegebene Reden

Ulla Jelpke


(A) (C)



(D)(B)

der und Jugendlichen ausgesandt wird, ist integrations-
politisch verheerend.

Auch die Kostenfrage muss ich hier noch einmal an-
sprechen: Hier sind vor allem die betroffenen Ausländer
die Leidtragenden, denn sie haben die immens hohen
Kosten dieser Ausweiskarte zu tragen. Statt bislang bis
zu 200 Euro zahlen sie für eine Niederlassungserlaubnis
bis zu 260 Euro, bei einer Aufenthaltserlaubnis werden
zukünftig 140 statt 80 Euro fällig. Schon allein die Pro-
duktionskosten liegen weit oberhalb der derzeitigen
Kosten: Bislang erhielten Ausländer einen Aufkleber in
ihren Pass, aus dem der Aufenthaltstitel hervorging.
Diese Aufkleber kosteten in der Produktion 78 Cent. Die
elektronische Karte kostet in der Produktion 30 Euro.
Hinzu kommt der deutlich gestiegene Aufwand bei den
Behörden: Sie müssen nun eine neue technische Infra-
struktur für die digitale Erfassung der Passfotos und der
Fingerabdrücke und die Weiterverarbeitung der Daten
bereithalten. Die tatsächlich entstehenden Kosten kön-
nen noch gar nicht exakt eingeschätzt werden.

Noch einmal kurz zusammengefasst: Die Einführung
des elektronischen Aufenthaltstitels ist sicherheitspoli-
tisch überflüssig. Sie ist eine Belastung der kommunalen
Verwaltung. Sie kommt die Kommunen und vor allem die
Betroffenen teuer zu stehen. Die Erfassung und Digitali-
sierung der persönlichen Daten, besonders der biome-
trischen Daten, schafft neue Sicherheitslücken und Be-
gehrlichkeiten der Sicherheitsbehörden. Die digitale
Erfassung ganzer Familien aufgrund ihres Aufenthalts-
status und ihrer Herkunft von außerhalb der EU ist dis-
kriminierend und integrationspolitisch verheerend. Die
Linke lehnt diesen Gesetzentwurf daher ab.


Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708433400

Es ist unbegreiflich, dass ausgerechnet die FDP, die

sich immer wieder als Bürgerrechtspartei rühmt, diesen
Gesetzentwurf mit zu verantworten hat. Mit diesem Ge-
setzentwurf werden ausländische Staatsangehörige samt
ihrer Kinder dazu verpflichtet, für den Erhalt einer Auf-
enthaltskarte – wie in einem Strafverfahren – ihre Fin-
gerabdrücke abzugeben. Hier wird das Selbstbestim-
mungsrecht mit Füßen getreten. Das lehnen wir Grüne
entschieden ab. Der Standard, der deutschen Staatsan-
gehörigen garantiert wird, muss allen hier lebenden
Menschen gewährt werden. Wir sind gegen einen Zwei-
klassendatenschutz und wollen nicht, dass sechsjährige
Kinder wie Straftäter erkennungsdienstlichen Maßnah-
men unterzogen werden.

Es ist ein Beweis für die fehlende politische Sensibili-
tät, dass die Bundesregierung der Europäischen Verord-
nung zur einheitlichen Gestaltung des Aufenthaltstitels
für Drittstaatsangehörige im Jahr 2008 zugestimmt hat,
obwohl ihr bekannt war, dass Fingerabdrücke für den
Personalausweis heftig in Deutschland diskutiert wur-
den. Aus guten Gründen fand der obligatorische Finger-
abdruck für den Personalausweis keine Mehrheit im
Bundestag. Die Bundesregierung scheint die Einwande-
rinnen und Einwanderer als Türöffner für solche Maß-
nahmen zu missbrauchen. Die Aufnahme von Fingerab-
drücken in die Aufenthaltskarte ist überflüssig. Es ist
Zu Protokoll
nicht bekannt, dass bisher in nennenswertem Umfang
Missbrauch und Fälschungen von Aufenthaltstiteln
stattgefunden haben.

Es verwundert nicht, dass die ersten technischen
Schwierigkeiten bei der elektronischen Aufenthaltskarte
schon aufgetreten sind, bevor die Aufenthaltskarte über-
haupt eingeführt wurde: Wegen diverser Probleme bei
der Zertifizierung der Chipkarte und der darin enthalte-
nen Software soll die Einführung der Aufenthaltskarte
um mehrere Monate verschoben werden. Das wird kein
Einzelfall bleiben. Die Verwendung der Aufenthaltskarte
als elektronischer Identitätsnachweis ist äußerst proble-
matisch. Das Bundesamt für Sicherheit in der Informa-
tionstechnik, BSI, empfiehlt den Ausweisinhaberinnen
und -inhabern, zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen zu
ergreifen. Seitens der Regierung hört man außer wenig
hilfreichen Empfehlungen, wie die Antivirensoftware
stets auf dem aktuellen Stand zu halten, nichts. Was kön-
nen Betroffene jedoch tun, wenn die Betreiber der Anti-
virensoftware nicht schnell genug Updates anbieten
oder die Anwenderinnen und Anwender mit der Software
nicht klarkommen? Außerdem kann eine Antivirensoft-
ware nicht vor allen Risiken schützen. Darauf hat die
Bundesregierung keine Antwort.

Schließlich bedeuten die mit der neuen Aufenthalts-
karte einhergehenden Kostensteigerungen für Betrof-
fene und Kommunen eine besondere Härte. Der Gesetz-
entwurf der Bundesregierung sieht für die neuen Aufent-
haltstitel eine Gebührenerhöhung von 60 Euro vor. Da-
mit verdoppelt sich die Gebühr für die Erteilung einer
Aufenthaltserlaubnis, während die Gebühr für die Ertei-
lung einer Niederlassungserlaubnis auf bis zu 260 Euro
erhöht wird. Die Kommunen gehen davon aus, dass der
durch die Einführung der Aufenthaltskarte verursachte
Mehraufwand nicht durch die im Gesetzentwurf der
Bundesregierung vorgesehene Gebührenerhöhung aus-
geglichen werden kann. Vielmehr werden die Kommu-
nen selber mit erheblichen Mehrkosten konfrontiert sein.
Die Bundesregierung muss prüfen, durch welche Maß-
nahmen sie die Antragstellenden und Kommunen finan-
ziell entlasten kann. Sie darf die durch ihre Entscheidun-
gen verursachten Zusatzkosten für die Erteilung eines
Aufenthaltstitels nicht auf Dritte abwälzen und sich aus
der Verantwortung stehlen.

Daher fordern wir die Bundesregierung mit unserem
Entschließungsantrag erstens auf, unverzüglich im Rah-
men der Europäischen Union darauf hinzuwirken, dass
die Verordnung zur einheitlichen Gestaltung des Aufent-
haltstitels für Drittstaatsangehörige dahin gehend geän-
dert wird, dass für die Erteilung des Aufenthaltstitels
Fingerabdrücke nicht erfasst werden, und bis dahin auf
die Erfassung von Fingerabdrücken zu verzichten.

Zweitens fordern wir die Bundesregierung auf, zu
prüfen, auf welche Weise der Bund die Ausstellung des
Aufenthaltstitels finanziell unterstützen kann, damit die
Antragstellenden und Kommunen durch die Einführung
des Aufenthaltstitels nicht über Gebühr belastet werden.

Es ist für einen Rechtsstaat äußerst bedenklich, wenn
bereits sechsjährige Kinder sich wie Straftäter erken-



gegebene Reden





Memet Kilic


(A) (C)



(D)(B)

nungsdienstlichen Maßnahmen unterziehen müssen.
Das können wir nicht akzeptieren.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708433500

Wir kommen damit zur Abstimmung.

Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/4464, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3354 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Wer ist dagegen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung angenommen mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen und der Fraktion Die Linke und bei Enthal-
tung der SPD-Fraktion.

Wir kommen zur

dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer ist dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzent-
wurf ist mit dem gleichen Stimmverhältnis wie bei der
zweiten Beratung angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
der Drucksache 17/4465. Wer stimmt für diesen Ent-
schließungsantrag? – Wer ist dagegen? – Wer enthält
sich? – Der Entschließungsantrag ist damit abgelehnt.
Dafür hat die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ge-
stimmt, dagegen haben die Koalitionsfraktionen und die
SPD-Fraktion gestimmt, enthalten hat sich die Fraktion
Die Linke.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 a und b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Krista
Sager, Kai Gehring, Priska Hinz (Herborn), wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Einen Pakt für den wissenschaftlichen Nach-
wuchs und zukunftsfähige Personalstruktu-
ren an den Hochschulen initiieren

– Drucksache 17/4203 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Petra
Sitte, Agnes Alpers, Nicole Gohlke, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE

Wissenschaft als Beruf attraktiv gestalten –
Prekarisierung des akademischen Mittelbaus
beenden

– Drucksache 17/4423 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Auch hierzu wurden die Reden zu Protokoll gege-
ben.1)

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/4203 und 17/4423 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –
Wie ich sehe, sind Sie damit einverstanden. Dann sind
die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:

Erste Beratung des von den Abgeordneten
Christine Lambrecht, Sonja Steffen, Dr. Peter
Danckert, weiteren Abgeordneten und der Frak-
tion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Änderung der Zivilprozessordnung

(§ 522 ZPO)


– Drucksache 17/4431 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss

Auch hierzu wurden die Reden zu Protokoll gege-
ben.


Dr. Jan-Marco Luczak (CDU):
Rede ID: ID1708433600

Lassen Sie mich mit einem klaren Bekenntnis anfan-

gen: Ich halte den aktuellen Rechtszustand tatsächlich
für unbefriedigend! Gerade gestern Abend konnte man
in der ARD-Dokumentation „Patient ohne Rechte“ am
vielen von Ihnen sicherlich bekannten Schicksal der
kleinen Deike nachvollziehen, dass die Anwendung des
Beschlussverfahrens nach § 522 Abs. 2 ZPO tatsächlich
manchmal zu Ergebnissen führt, die niemand von uns
will. Hier etwas zu ändern ist daher absolut richtig und
berechtigt. Das ist also einer der seltenen Fälle, in de-
nen ich der SPD inhaltlich zustimmen kann. Bevor Sie
sich aber zu früh freuen, meine Damen und Herren von
der SPD: Das gilt freilich allein für Ihr Grundanliegen,
aber keineswegs für die von Ihnen vorgeschlagene Lö-
sung!

In der Tat ist das schon ein bemerkenswerter Vor-
gang: Die SPD schlägt uns hier die ersatzlose Strei-
chung des § 522 Abs. 2 und 3 ZPO vor, die Streichung
einer Regelung, die im Rahmen der ZPO-Reform 2001
geschaffen wurde. Sie schlägt also die Streichung einer
Regelung vor, die in Verantwortung der damaligen rot-
grünen Bundesregierung unter Gerhard Schröder ins
Werk gesetzt wurde. Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
legen von der SPD, Sie waren es selbst, die § 522 ZPO in
seiner heutigen Form eingeführt haben! Es ist schon er-
staunlich, mit welcher Geschwindigkeit Sie sich heute
von vormals für richtig erachteten Positionen verab-
schieden. Wenn ich an die Hartz-IV-Gesetzgebung oder
an die Rente mit 67 denke, scheint das neuerdings ein
Muster bei Ihnen zu sein. Das kann man alles machen –
nur, mit konsistenter und glaubwürdiger Politik hat das
dann nichts mehr zu tun!

Wir von der Union haben die Neuregelung des § 522
ZPO im Übrigen damals kritisiert, weil wir durch die
ZPO-Reform mehr Bürgernähe und nicht weniger

1) Anlage 7

Dr. Jan-Marco Luczak


(A) (C)



(D)(B)

Rechtsschutz erreichen wollten. Nun könnte man natür-
lich meinen, zehn Jahre sind eine lange Zeit, in zehn
Jahren kann viel passieren, da kann man dazulernen und
als falsch erkannte Entscheidungen revidieren. Nur trifft
das leider für die SPD-Kollegen so nicht zu; denn man
muss gar nicht zehn Jahre zu den Beratungen über die
rot-grüne ZPO-Reform zurückgehen; vielmehr ist es ist
noch keine zwei Jahre her, da hat Ihre Justizministerin
Zypries hier im Plenum bei der Debatte über einen
FDP-Antrag zur Einführung einer Rechtsbeschwerde
vehement die rot-grüne Regelung der Zurückweisung
durch Beschluss als – wörtlich – „ordentliche Reform“
mit einem „gutem Ergebnis“ verteidigt, die „voll akzep-
tiert“ werde. Welche bahnbrechenden Rechtserkennt-
nisse Sie nun allerdings in den letzten zwei Jahren ge-
wonnen haben, die nicht schon bei der Debatte 2009
vorlagen, ist mir nicht ersichtlich.

Was auch immer der Grund sei – nun wollen Sie je-
denfalls eine Rolle rückwärts machen: zurück auf den
Anfang, ohne den bisher zurückgelegten Weg zu be-
trachten. Die Politik im Allgemeinen und die Rechts-
politik im Speziellen sind aber meistens zu komplex, um
sie in richtig oder falsch einzuteilen oder sie schwarz
oder weiß zu malen. Genau das machen sie aber jetzt,
wenn sie nicht genau hinsehen, wo es bei der Regelung
des § 522 Abs. 2 ZPO Defizite gibt und wo Erfolge durch
die ZPO-Reform erreicht worden sind.

Lassen Sie mich mit den Defiziten beginnen. Ich habe
anfangs ja bereits ausgeführt, dass ich den aktuellen
Rechtszustand für unbefriedigend halte und dass ich
hier gesetzgeberischen Handlungsbedarf sehe. Seit der
rot-grünen ZPO-Änderung muss das Berufungsgericht
gemäß § 522 Abs. 2 ZPO eine Berufung durch Beschluss
zurückweisen, wenn es davon überzeugt ist, dass die Be-
rufung keine Aussicht auf Erfolg hat, die Rechtssache
keine grundsätzliche Bedeutung hat und die Fortbildung
des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Recht-
sprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts
nicht erfordert. Eine mündliche Verhandlung findet in
diesen Fällen nicht statt. Der Beschluss ist zudem unan-
fechtbar. Obwohl der § 522 Abs. 2 ZPO die kumulativen
Voraussetzungen des Zurückweisungsbeschlusses ab-
schließend und ohne Eröffnung eines gerichtlichen Er-
messens definiert, bestehen in der Praxis erhebliche re-
gionale Unterschiede in seiner Anwendung. Nach der
Zivilgerichtsstatistik bewegen sich die Quoten der Erle-
digung durch Zurückweisungsbeschluss auf der Ebene
der Landgerichte im Jahr 2009 zwischen 6,4 Prozent im
OLG-Bezirk Karlsruhe und 23,8 Prozent im OLG-Bezirk
Braunschweig und auf der Ebene der Oberlandesge-
richte zwischen 9,1 Prozent beim OLG Hamm und
27,1 Prozent beim OLG Rostock.

Wir brauchen uns jetzt nicht über Zahlen oder da-
rüber zu streiten, welche Umstände man bei der Evalu-
ierung der unterschiedlichen Quoten berücksichtigen
muss, etwa inwieweit auch einbezogen werden muss,
wenn nach einem Hinweisbeschluss im Verfahren nach
§ 522 ZPO die Berufung zurückgenommen wird. Unter
dem Strich bleibt eine regional deutlich unterschiedliche
Handhabung. Das führt aber dazu, dass je nachdem, wo
gegen ein erstinstanzliches Urteil Berufung eingelegt
Zu Protokoll
wird, ein Rechtsschutzsuchender ganz unterschiedliche
Chancen hat: Einmal kann er mündlich über das erstin-
stanzliche Urteil verhandeln und ein dann gegen ihn er-
gehendes Urteil anfechten, das andere Mal gibt es keine
mündliche Verhandlung, und er erhält einen unanfecht-
baren Beschluss.

Diese Ungleichheit in der Rechtsanwendung ist ein
Problem. Sie ist ein Gerechtigkeitsproblem. Anders als
die SPD in ihrer Antragsbegründung zu insinuieren ver-
sucht, ist sie aber kein verfassungsrechtliches Problem.
Das Bundesverfassungsgericht hat vielmehr mehrfach
die Verfassungsgemäßheit des Beschlussverfahrens nach
§ 522 Abs. 2 ZPO bestätigt. Es hat allein – und darauf
nehmen Sie Bezug – beanstandet, dass eine den Zugang
zur Revision erschwerende Auslegung und Anwendung
des § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO mit dem Gebot effektiven
Rechtsschutzes unvereinbar sei, nämlich wenn sie sach-
lich nicht zu rechtfertigen ist, sich damit als objektiv
willkürlich erweist und dadurch den Zugang zur nächs-
ten Instanz unzumutbar einschränkt. Diese sich im kon-
kreten Fall möglicherweise stellende Frage hat mit der
Regelung als solcher aber nichts zu tun.

Dennoch – es bleibt das Gerechtigkeitsproblem.
Wenn auch nicht verfassungsrechtlich zwingend notwen-
dig, so ist dies doch ein rechtsstaatlich gebotener Auf-
trag an uns, zu handeln. Überdies halte ich in vielen Fäl-
len die Durchführung einer mündlichen Verhandlung
– auch wenn der Fall rechtlich eindeutig und von der
ersten Instanz richtig entschieden sein mag – für ange-
messen; denn eine mündliche Verhandlung dient nicht
allein der Rechtsfindung und des Erkenntnisgewinns.
Sie gibt auch einen besseren Rahmen für eine gütliche
Einigung auf dem Vergleichswege und ermöglicht zudem
ein Rechtsgespräch zwischen den Parteien, aber auch
zwischen dem Gericht und den Parteien. Hierüber kann
so manches Mal mehr Überzeugungskraft erzeugt wer-
den als durch schriftliche Ausführungen. Eine mündli-
che Verhandlung schafft Akzeptanz in die gerichtliche
Entscheidung und erfüllt auf diese Weise die Befrie-
dungsfunktion des gerichtlichen Verfahrens in hervorra-
gender Weise. Dies ist ein rechtsstaatlicher Wert an sich,
der durch das Beschlussverfahren des § 522 Abs. 2 ZPO
bislang ausgeschlossen wird.

Berücksichtigt man zudem, welche gravierenden Aus-
wirkungen die fehlsame oder sogar missbräuchliche An-
wendung des Verfahrens nach § 522 Abs. 2 ZPO im Ein-
zelfall haben kann – ich erinnere nochmals an das
Schicksal der kleinen Deike –, dann kann man nicht an-
ders, als festzustellen, dass die derzeitige Regelung an-
gepasst werden muss. Aber wo Schatten ist, da muss
auch irgendwo Licht sein. Deswegen gehört es zu einer
seriösen Diskussion dazu, zu fragen, welche positiven
Aspekte das Beschlussverfahren des § 522 Abs. 2 ZPO
seit 2001 bewirkt hat und welche Folgen dessen ersatz-
lose Streichung nach sich zöge. Und da gibt es durchaus
einige Dinge, die man nicht vernachlässigen sollte.

Die Reform der ZPO – da waren sich Union und SPD
in der 13. Legislaturperiode einig – war notwendig.
Menge und Länge der Verfahren sollten ein gesundes
Maß erreichen, um jedem Bürger den ihm zustehenden



gegebene Reden

Dr. Jan-Marco Luczak


(A) (C)



(D)(B)

Rechtsschutz zukommen zu lassen. Zuvor war es so, dass
auch solche Berufungen terminiert werden mussten, die
offensichtlich unbegründet waren und die keinerlei Aus-
sicht auf Erfolg hatten. Das ist nicht effizient und bindet
richterliche Arbeitskraft, die an anderer Stelle nicht
mehr zur Verfügung steht. Das verzögert nicht nur das
konkrete Verfahren, sondern mittelbar auch alle ande-
ren, für die dann keine oder weniger Zeit mehr ist. Guter,
effizienter Rechtsschutz setzt aber voraus, dass er in an-
gemessener Zeit gewährt wird.

Meine Damen und Herren von der SPD, Ihre eigene
Ministerin Zypries hat 2009 ausgeführt, dass es vor der
Möglichkeit einer Zurückweisung durch Beschluss kein
gutes – weil nur langsames – Recht gab. Im Kern ist das
richtig. Und die Daten zeigen uns ja auch, dass es durch
das Beschlussverfahren tatsächlich zu einer Verfahrens-
beschleunigung gekommen ist. Die wollen wir – im Inte-
resse aller Rechtssuchenden – nicht wieder völlig aufge-
geben. Man darf in der Diskussion auch nicht vergessen,
dass es die Interessen von zwei Parteien zu berücksichti-
gen gilt: das Interesse des weiteren Rechtsschutzsuchen-
den, des Berufungsklägers, aber auch das Interesse des
Berufungsbeklagten. Der in der ersten Instanz erfolgrei-
che Berufungsbeklagte hat verständlicherweise ein Inte-
resse daran, das erstrittene Urteil möglichst schnell um-,
nämlich durchsetzen zu können. Dafür benötigt er die
schnelle Rechtskraft des Urteils, die unmittelbar durch
einen Zurückweisungsbeschluss eintritt. Wenn man die-
sen – so wie die SPD das will – ersatzlos abschaffte,
steht zu befürchten, dass es vermehrt Anreize gibt, Beru-
fung nur deswegen einzulegen, um das Verfahren zu ver-
zögern, nämlich die Vollstreckung eines zu Recht titu-
lierten Anspruchs zu vereiteln. Für die in erster Instanz
erfolgreiche Partei ist es aber wichtig, möglichst schnell
Klarheit über die Endgültigkeit ihres Obsiegens, also
Rechtssicherheit zu haben. Das alles würden wir negie-
ren, wenn wir dem SPD-Antrag folgen würden. Die Ziele
der ZPO-Reform 2001 waren aber im Kern richtig und
haben sich auch – das zeigen die empirischen Daten und
Umfragen – weitgehend verwirklicht.

Deswegen verfolgt die christlich-liberale Koalition
einen anderen Weg. Wir erkennen, dass der gegenwär-
tige Zustand unbefriedigend ist. Und wir anerkennen,
dass mehr Rechtsschutz gewährleistet sein muss. Wir
haben daher einen Gesetzentwurf erarbeitet, der die
Schwächen des jetzigen §-522-Verfahrens beseitigt und
gleichzeitig die Vorteile der ZPO-Reform bewahrt. Un-
sere Lösung soll alle Prozessbeteiligten – Kläger und
Beklagte, Richter und Berufungsrichter sowie die Bun-
desländer als Träger der Landesjustiz – unter einen Hut
bringen. Mit unserem Gesetzentwurf werden wir den
zwingenden Charakter des § 522 Abs. 2 ZPO klarer for-
mulieren und für Zurückweisungsbeschlüsse mit einer
Beschwer über 20 000 Euro das Rechtsmittel der Nicht-
zulassungsbeschwerde einführen. Damit gewährleisten
wir, dass eine bundeseinheitliche Handhabung der Vo-
raussetzungen des Beschlussverfahrens nach § 522
Abs. 2 ZPO und darüber die rechtsstaatlich gebotene
Rechtsanwendungsgleichheit befördert wird. Zugleich
ermöglichen wir die Durchführung einer mündlichen
Verhandlung in den Fällen, wo dies angemessen ist und
Zu Protokoll
dem Rechtsfrieden und der Akzeptanz einer gerichtli-
chen Entscheidung dienlich ist. Dieser Gesetzentwurf
wird in der kommenden Woche im Bundeskabinett bera-
ten und kann dann von uns im Detail debattiert werden.

Zum Schluss bleibt also festzuhalten: Die SPD hat mit
ihrem Antrag den Finger in die Wunde gelegt; diese
Wunde hat sie allerdings selbst geschlagen. Wir ver-
schließen uns dem Anliegen nicht; es ist in der Tat be-
rechtigt. Allein der Lösungsvorschlag, den Sie uns hier
unterbreiten, negiert die positiven Effekte des Be-
schlussverfahrens nach § 522 Abs. 2 ZPO und schießt
daher über das Ziel hinaus. Wir als christlich-liberale
Koalition werden daher den skizzierten eigenen Gesetz-
entwurf einbringen, der ausgewogen ist und allen Inte-
ressen gerecht wird. Ihrem Antrag werden wir daher
nicht zustimmen.


Sonja Steffen (SPD):
Rede ID: ID1708433700

Wir debattieren heute in erster Lesung über den von

meiner Fraktion eingebrachten Gesetzentwurf zur Strei-
chung des § 522 Abs. 2 und Abs. 3 ZPO. Danach kann
das Berufungsgericht eine Berufung ohne mündliche
Verhandlung durch einstimmigen Beschluss zurückwei-
sen, wenn es davon überzeugt ist, dass die Berufung
keine Aussicht auf Erfolg hat. Der Beschluss ist unan-
fechtbar. Diese Vorschrift ist im Januar 2002 im Zuge
der ZPO-Reform in Kraft getreten. Hauptziele der Re-
form waren es, gütliche Lösungen zu fördern sowie stär-
kere Transparenz und Akzeptanz der Entscheidungen zu
schaffen. Diese Ziele wurden in weiten Teilen mit der
Reform erreicht – im § 522 Abs. 2 ZPO wurden sie ver-
fehlt.

Zunächst ist festzustellen, dass die Vorschrift beson-
ders anfällig für Verletzungen des verfassungsrechtli-
chen Anspruchs der Parteien auf rechtliches Gehör ist.
Der Rechtsuchende empfindet sich im Verfahren des
§ 522 Abs. 2 ZPO nicht als Rechtssubjekt, sondern fühlt
sich der Willkür und der alleinigen Entscheidungsbefug-
nis der Richter ausgeliefert. Entgegen der ursprüngli-
chen Absicht des Gesetzgebers führt die Vorschrift da-
rüber hinaus zu keiner spürbaren Entlastung der
Gerichte; denn wenn die Regelung ernst genommen
wird, bereitet eine aussagekräftige Hinweisverfügung
vor der Beschlussfassung, wie sie das Gesetz vorsieht,
den Richtern nicht weniger Arbeit als ein Votum für eine
mündliche Verhandlung. Auch der Zurückweisungsbe-
schluss ist ausführlich zu begründen, wobei es mit einer
bloßen Wiederholung der Hinweisverfügung nicht getan
ist. Wodurch also sollte eine Entlastung eintreten? Aber
selbst wenn § 522 Abs. 2 ZPO zu einer Beschleunigung
und Entlastung der Gerichte beitragen würde: Diese
darf niemals zulasten der Einzelfallgerechtigkeit und
der Transparenz der Rechtsprechung gehen.

§ 522 Abs. 2 ZPO wird nämlich in der Praxis völlig
unterschiedlich und teilweise widersprüchlich gehand-
habt. So werden etwa in Bremen nur 5,2 Prozent, in
Mecklenburg-Vorpommern hingegen 27,1 Prozent der
Berufungssachen nach § 522 Abs. 2 ZPO entschieden.
Im Ergebnis führt das zu Gerechtigkeitsdefiziten und
Justizverdrossenheit der betroffenen Kläger, nicht dage-



gegebene Reden

Sonja Steffen


(A) (C)



(D)(B)

gen zur Beschleunigung der Verfahren. Würde eine
mündliche Verhandlung durchgeführt, könnte die unter-
liegende Partei ihre Stellungnahme in öffentlicher Ver-
handlung vortragen und damit die Richter vielleicht zu
einer anderen Beurteilung bewegen. Die mündliche Ver-
handlung ist das Herzstück eines jeden Zivilprozesses.
Sie räumt oft Missverständnisse aus, schafft Rechtsfrie-
den und kann gegebenenfalls auch den Unterlegenen
überzeugen.

Der vom Justizministerium vorgelegte Referentenent-
wurf sieht in seiner aktuellen Fassung vor, dass gegen
den Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO eine Nichtzulas-
sungsbeschwerde eingeführt wird. Diese soll jedoch der
gleichen Grenze für die Beschwer unterliegen wie das
Berufungsurteil selbst, ist also nur statthaft, wenn die
Beschwer über 20 000 Euro liegt. Damit wird an dem
bisherigen Zustand jedoch wenig geändert; denn die
meisten Beschlüsse, zumindest im Zuständigkeitsbereich
der Landgerichte, werden auch nach Einführung der
Nichtzulassungsbeschwerde nicht anfechtbar sein.
Letztlich unterstützt das BMJ mit dem nun vorgelegten
Referentenentwurf einen nicht zielführenden Weg und
verbessert die Situation für den Rechtsuchenden nur un-
zulänglich. Die Abschaffung dieser Vorschrift ist der
sinnvollste Weg. Er beseitigt das Problem der zersplit-
ternden Rechtsanwendung der verschiedenen Spruch-
körper, behebt die gegenwärtig zu beklagenden Gerech-
tigkeitsdefizite und trägt damit zum Rechtsfrieden und
zur Transparenz bei.


Mechthild Dyckmans (FDP):
Rede ID: ID1708433800

Gegenstand dieses Tagesordnungspunktes ist ein Ge-

setzentwurf der SPD-Fraktion zur Änderung der Zivil-
prozessordnung. Offensichtlich war man sich in der SPD
sehr unsicher, ob man diesen Entwurf überhaupt ein-
bringen sollte; denn er erreichte uns, obwohl schon auf
der Plenartagesordnung für den heutigen Donnerstag
angekündigt, erst am Mittwochmorgen, also gestern.
Nun ist der Gesetzentwurf zugegebenermaßen sehr kurz.
Er enthält nur den einzigen inhaltlichen Satz: „In § 522
werden die Abs. 2 und 3 gestrichen.“

Wer die Diskussionen zur Änderung des § 522 ZPO in
der letzten Legislaturperiode verfolgt hat, wird sich aber
verwundert die Augen reiben. Im März 2009, genauer
gesagt am 5. März 2009, verteidigte die SPD noch im
Deutschen Bundestag mit der geballten Kraft ihrer Bun-
desjustizministerin Frau Zypries und ihres damaligen
Obmannes im Rechtsausschuss die bestehende Regelung
in § 522 ZPO und lehnte jedwede Änderung kategorisch
ab. Die FDP, die damals einen Änderungsentwurf einge-
bracht hatte, gehe von falschen Voraussetzungen aus.
Eine unterschiedliche Praxis der Berufungsgerichte in
den Ländern bei Berufungsentscheidungen ohne münd-
liche Verhandlung durch unanfechtbaren Beschluss sei
nicht in relevantem Ausmaß gegeben, so die damalige
Bundesjustizministerin. Jedenfalls habe sich das Rechts-
institut der Berufungszurückweisung durch Beschluss
bewährt und stelle auch keine Rechtsschutzverkürzung
dar.
Zu Protokoll
Das liest sich in der Begründung zu dem heute einge-
brachten Entwurf der SPD ganz anders. Nunmehr lassen
die unterschiedlichen Zurückweisungsquoten von
5,2 Prozent in Bremen und 27,1 Prozent in Mecklen-
burg-Vorpommern es auch für die SPD fraglich erschei-
nen, ob die in § 522 Abs. 2 und 3 ZPO statuierte Mög-
lichkeit des unanfechtbaren Zurückweisungsbeschlusses
noch rechtsstaatlichen Anforderungen entspricht.
Lehnte Frau Zypries es noch ausdrücklich ab, die Er-
folgsquote der Zulassungsrevision beim Bundesge-
richtshof zur Beurteilung der Frage heranzuziehen, ob
der BGH bei einer Überprüfung der Zurückweisungsbe-
schlüsse zu einer anderen Bewertung käme, ist diese Er-
folgsquote heute für die SPD-Fraktion ausdrücklich die
Begründung für den Gesetzentwurf.

Nun könnte man sich ja darüber freuen, wenn auch
die SPD-Fraktion zur besseren Einsicht kommt. Leider
schießt sie aber mit ihrem Streichungsantrag über das
Ziel hinaus. Der Vorschlag lässt nämlich völlig außer
Acht, dass die Vorschrift auch dazu dienen sollte, ra-
schen und effektiven Rechtsschutz zu gewähren. Das
Berufungsgericht sollte bei Vorliegen bestimmter Vo-
raussetzungen die Berufung durch Beschluss ohne
mündliche Verhandlung zurückweisen. Dies hat – so
auch die Landesjustizminister – zur Beschleunigung der
Verfahren und auch zur Entlastung der Gerichte geführt.
Diesen für alle Beteiligten positiven Effekt darf ein Än-
derungsvorschlag zu § 522 ZPO nicht vernachlässigen.
Es sollte daher eine Regelung gefunden werden, die ei-
nerseits der bisher unterschiedlichen Anwendungspra-
xis entgegenwirkt und andererseits die Entscheidung
nach § 522 Abs. 2 ZPO durch Beschluss hinsichtlich der
Rechtsfolgen einer Entscheidung durch Urteil gleich-
stellt. Genau einen solchen abgewogenen Gesetzentwurf
wird die Bundesjustizministerin in der nächsten Woche
dem Kabinett vorlegen. Wenn dieser anschließend das
Parlament erreicht hat, werden wir im Rechtsausschuss
ausreichend Gelegenheit haben, die Vor- und Nachteile
der unterschiedlichen Regelungen zu diskutieren.


Jens Petermann (Plos):
Rede ID: ID1708433900

Mit der Reform der Zivilprozessordnung hat Rot-

Grün im Jahre 2002 versucht, die Rechtsmittelmöglich-
keiten neu zu gestalten, um die Gerichte zu entlasten.
Hinsichtlich einer Änderung schossen sie jedoch weit
über das Ziel hinaus: die Einfügung der Abs. 2 und 3 in
§ 522 der Zivilprozessordung. Nach nunmehr über acht
Jahren der Erprobung müssen wir leider feststellen,
dass die Änderung des § 522 ZPO eher ein Fluch als ein
Segen für die Rechtsschutzsuchenden darstellt und auch
die gewünschte Entlastung der Gerichte verfehlt wurde.
Sie haben damit den Rechtsschutzsuchenden Steine statt
Brot gegeben. Deshalb ist der vorliegende Gesetzent-
wurf der SPD-Fraktion sehr zu begrüßen. Die Sozialde-
mokraten haben eingesehen, dass die damalige Reform
fehlerhaft war. Nun sollte die heutige Bundesregierung
der SPD und den Grünen die Möglichkeit geben, ihren
Fehler zu korrigieren. Ganz nebenbei wird damit ein
verfassungswidriger Zustand korrigiert. Art. 103 Abs. 1
GG sichert jedermann vor Gericht einen Anspruch auf
rechtliches Gehör zu. Wenn aber eine Berufung durch ei-



gegebene Reden

Jens Petermann


(A) (C)



(D)(B)

nen einfachen, unanfechtbaren Beschluss zurückgewie-
sen werden kann, so stellt dies meines Erachtens eine
Verletzung eines durch die Verfassung zugesicherten
Grundrechts dar.

Der Gesetzentwurf sieht nun eine vollständige Strei-
chung der beiden damals eingeführten Abs. 2 und 3 des
§ 522 ZPO vor und geht somit viel weiter, als der von der
Bundesregierung vorgelegte Referentenentwurf. Der Re-
ferentenentwurf versucht lediglich, kosmetisch zu ka-
schieren, und übernimmt so die früheren Fehler von Rot-
Grün! Er sieht neben den drei bestehenden noch eine
weitere Bedingung für die Zurückweisung der Berufung
vor. Und als kleine zusätzliche Verbesserung sollen dem
Betroffenen nun Rechtsmittel gegen den ablehnenden
Beschluss zugestanden werden. Das ist nicht genug und
damit inakzeptabel!

Durch den Entwurf der SPD soll diese überflüssige
Regelung beseitigt werden. Mit der Einführung des § 522
Abs. 2 ZPO wurde dem Berufungsgericht die Möglich-
keit eröffnet, die Berufung zurückzuweisen, wenn es zu
der Überzeugung gelangte, dass die Berufung keine Aus-
sicht auf Erfolg hat, die Rechtssache keine grundsätzli-
che Bedeutung aufweist und weder die Rechtsfortbildung
noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung
eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert. Die-
ser Beschluss ist bisher nach § 522 Abs. 3 ZPO unan-
fechtbar. Entschiede aber das Gericht in dem gleichen
Rechtsstreit durch Urteil, ist gegen die Zurückweisung
der Berufung eine Nichtzulassungsbeschwerde möglich.
Zu Recht wird eine solche Vorgehensweise von vielen Ju-
risten als „kurzer Prozess“ bezeichnet.

Gerade in Arzthaftungsfällen ist die Anwendung des
§ 522 ZPO in seiner heutigen Form im Hinblick auf die
finanzielle und gesundheitliche Belastung der Geschä-
digten eine wirkliche Zumutung. Da ist es nur verständ-
lich, wenn der Glaube der Bürgerinnen und Bürger an
die Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit in diesem
Lande verloren geht. Wenn man sich die Intention des
damaligen Gesetzgebers anschaut, kommt man zu dem
Schluss: Kosteneinsparung im Justizsektor führt zu un-
gerechten Entscheidungen und lässt das Vertrauen in die
Justiz und den Rechtsstaat schwinden. Dies dürfen wir
nicht länger zulassen. Die Linke stimmt darum dem vor-
liegenden SPD-Entwurf zu.


Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708434000

Heute diskutieren wir über den Gesetzentwurf der

SPD zur Änderung der Zivilprozessordnung – konkret
über die Änderung von § 522 ZPO, der einen Teil der
Rechtsmittel regelt. Dies beinhaltet eine äußerst wich-
tige Angelegenheit: den Zugang der Bürgerinnen und
Bürger zum Recht. Die Regelung des § 522 ZPO wurde
mit der Zivilprozessreform 2002 eingeführt. Es wurden
damals neben anderen Strukturänderungen die Rechts-
mittel neu gestaltet. Ziel der Neugestaltung war die Ent-
lastung der Gerichte. Zudem sollten die Rechtsmittelver-
fahren beschleunigt werden. Beides sind wichtige und
begrüßenswerte Ziele, die aber nicht um jeden Preis
durchgesetzt werden dürfen, vor allem dann nicht, wenn
Zu Protokoll
dadurch der Zugang zum Recht für die Bürgerinnen und
Bürger erschwert wird.

Um zu verstehen, inwiefern der Rechtsweg für Bürge-
rinnen und Bürger durch § 522 Abs. 2 ZPO verkürzt
wird, müssen wir uns diese Norm etwas genauer anse-
hen. Sie besagt, dass die Berufungsgerichte verpflichtet
sind, eine Berufung durch einstimmigen Beschluss zu-
rückzuweisen, wenn sie davon überzeugt sind, dass die
Berufung keine Aussicht auf Erfolg hat. Das bedeutet
konkret: In diesen Fällen findet keine mündliche Ver-
handlung statt. Gegen den im schriftlichen Verfahren ge-
fassten Beschluss besteht kein weiteres Rechtsmittel, der
zurückweisende Beschluss ist unanfechtbar. Damit ist
der Rechtsweg für die Berufungsklägerin bzw. den Beru-
fungskläger vor den ordentlichen Gerichten erschöpft.
Sie haben keine weitere Möglichkeit, in ihren Angele-
genheiten weiter gerichtlich vorzugehen!

Für die Rechtsuchenden stellt es einen großen Unter-
schied dar, ob ihre Berufung im schriftlichen Verfahren
zurückgewiesen wird oder ob eine mündliche Verhand-
lung stattfindet, in der sie sich äußern können. Ohne
mündliche Verhandlung in einem Gerichtssaal vor ei-
nem Richter kann bei den Bürgerinnen und Bürgern das
Gefühl entstehen, von der Justiz nicht wirklich gehört zu
werden und nur „eine Akte“ unter vielen zu sein. Ein
weiteres Problem ist die unterschiedliche Anwendung
der Vorschrift in der Praxis. Im Gesetz steht, dass durch
schriftlichen Beschluss über die Berufung entschieden
wird, wenn alle Voraussetzungen des § 522 Abs. 2 ZPO
nebeneinander vorliegen. Die Vorschrift hat also einen
zwingenden Charakter.

Daraus könnte man folgern: Alle Berufungsgerichte
wenden diese Vorschrift in der gleichen Art und Weise
an. Schauen wir uns aber die Statistiken an, müssen wir
feststellen, dass es große Differenzen in der praktischen
Handhabung bei den Oberlandesgerichten gibt. 2005
wurden am Oberlandesgericht Rostock 23,1 Prozent al-
ler erledigten Berufungssachen nach § 522 Abs. 2 ZPO
entschieden, am Oberlandesgericht Saarbrücken waren
es dagegen nur 4,3 Prozent. 2009 lagen die Prozentzah-
len beim Oberlandesgericht Hamm bei 8,3 Prozent, das
Oberlandesgericht Rostock erledigte im Vergleich dazu
ganze 27,1 Prozent der Verfahren nach § 522 Abs. 2
ZPO. Damit lag in beiden Fällen eine Diskrepanz von
18,8 Prozent vor. Das sind Missstände, die so nicht hin-
genommen werden dürfen. Die Bürgerinnen und Bürger
haben einen Anspruch auf gleichen Zugang zum Recht.
Das schließt auch die Rechtsmittelinstanzen mit ein. An-
gesichts der regional sehr unterschiedlichen Verfahrens-
weisen ist dieses jedoch nicht gewährleistet.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie
schlagen vor, § 522 Abs. 2 ZPO zu streichen. Das würde
das Problem der unterschiedlichen Handhabung durch
die Gerichte endgültig lösen; denn die Bürgerinnen und
Bürger hätten dann regelmäßig den Zugang zum Recht
über die mündliche Verhandlung. Jedoch gilt es auch zu
bedenken, dass die Gerichte dieses nicht ohne Weiteres
werden leisten können. Im Zuge der Einführung von
§ 522 Abs. 2 ZPO wurden Richterstellen abgebaut.
Wenn wir diese Vorschrift jetzt streichen, müssten wei-



gegebene Reden





Ingrid Hönlinger


(A) (C)



(D)(B)

tere Richterinnen und Richter eingestellt werden. Bevor
das geschieht, könnte mit einer längeren Prozessdauer
zu rechnen sein. Auch das liegt nicht im Interesse der
Bürgerinnen und Bürger. Es gilt also, noch einiges abzu-
wägen, bevor wir hier zu einer Neuregelung kommen.

Abschließend möchte ich noch einmal betonen: Die
Beschleunigung von Rechtsmittelverfahren sowie die
Entlastung der Justiz sind wichtige und begrüßenswerte
Ziele. Aber nicht um jeden Preis. Der gleiche Zugang
zum Recht und die Wahrung des Rechtsfriedens sind so
bedeutend, dass sie nicht immer hinter Einsparargumen-
ten zurücktreten können.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708434100

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/4431 an den Rechtsausschuss
vorgeschlagen. Gibt es andere Vorschläge? – Das ist
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan Korte, Matthias W. Birkwald, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Menschenwürdiges Existenzminimum für
alle – Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen

– Drucksache 17/4424 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

Hierzu wurden die Reden zu Protokoll gegeben.


Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1708434200

Der vorliegende Antrag der Fraktion Die Linke

knüpft an die zahlreichen Initiativen von Linken und
Grünen zur Abschaffung des Asylbewerberleistungsge-
setzes, AsylbLG, an. Bereits im Juni des vergangenen
Jahres haben wir über einen Gesetzentwurf der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen, der fast wortgleich schon im
November 2008 im Deutschen Bundestag debattiert
worden ist, beraten.

Meine Damen und Herren von der Fraktion Die
Linke, mit Ihrer Forderung nach Abschaffung des
AsylbLG stellen Sie die Grundkonzeption dieses Geset-
zes infrage und begründen dies mit „einem diskriminie-
renden Ausschluss von Asylsuchenden aus der Sozial-
hilfe und der Grundsicherung für Arbeitsuchende“. Für
eine solche Diskriminierung kann ich keine Anhalts-
punkte erkennen; denn unser Asylrecht in Deutschland,
das unser Grundgesetz im Übrigen als eine von wenigen
Verfassungen der Welt jedem politisch Verfolgten ge-
währt, verfolgt einen ganz anderen Zweck als unser So-
zialhilferecht. Kerngedanke des AsylbLG ist es, die Leis-
tungen für Asylbewerber gegenüber der Sozialhilfe zu
vereinfachen und auf die Bedürfnisse eines, in aller Re-
gel nur vorübergehenden, Aufenthaltes in der Bundesre-
publik Deutschland abzustellen. Wir sprechen hier von
Asylbewerbern, die einen Asylantrag gestellt haben und
sich bis zur Entscheidung über diesen Antrag bei uns
aufhalten dürfen.

Da gerade die Grünen immer wieder so tun, als ob sie
schon immer in der Opposition gewesen wären und nicht
sieben Jahre lang mit der SPD in Regierungsverantwor-
tung gestanden hätten, möchte ich noch einmal auf den
Ursprung dieses AsylbLG zu sprechen kommen. Erin-
nern wir uns: Anfang der 1990er-Jahre stieg die Zahl
der asylbegehrenden ausländischen Staatsangehörigen
stark an, von rund 438 000 Personen im Jahr 1992 bis
auf den Höchststand im Jahr 1996 mit 490 000 Perso-
nen. Für viele Migranten war der wirtschaftliche Wohl-
stand in Verbindung mit der günstigen geografischen
Lage und der verfassungsrechtlich verankerten Asylga-
rantie der Bundesrepublik Deutschland Hauptursache
ihres Kommens; die politische Verfolgung stand aus-
weislich der Anerkennungszahlen im Asylverfahren we-
niger im Vordergrund. Vor diesem Hintergrund verstän-
digten sich die Bundestagsfraktionen von CDU/CSU,
SPD und FDP am 6. Dezember 1992 in dem so-
genannten Asylkompromiss auf eine Neugestaltung des
Asylrechts. Unter anderem sollte dadurch der Anreiz für
nicht politisch Verfolgte reduziert werden, Asyl in
Deutschland zu suchen. Daher einigten sich die Frak-
tionen auch darauf, ein Gesetz zur Regelung des
Mindestunterhalts von Asylbegehrenden und anderen
ausländischen Staatsangehörigen ohne dauerhaftes Auf-
enthaltsrecht zu schaffen.

Wenn Sie nun behaupten, dass 17 Jahre nach Inkraft-
treten des AsylbLG festzustellen sei, dass dieses Gesetz
weder damals noch heute dazu geeignet war und ist, die
Asylsuchenden bzw. Geduldeten zu einer schnellen Aus-
reise aus Deutschland zu bewegen, dann haben Sie die
Zahlen nicht verfolgt. Das Statistische Bundesamt stellt
in seiner Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung vom
4. Mai 2009 fest, dass die Empfängerzahlen sowie die
Ausgaben für Hilfeleistungen nach dem AsylbLG seit
Mitte der 1990er-Jahre stark rückläufig sind. Waren es
Ende 1994 noch 446 500 Menschen, die Leistungen nach
dem AsylbLG erhielten, waren es zum 31. Dezember
2009 nur noch 121 235 Personen. Das ist der niedrigste
Stand seit Einführung des AsylbLG. Die Bruttoausgaben
nach dem AsylbLG sind von rund 2,8 Milliarden Euro im
Jahr 1994 auf rund 789 Millionen Euro im Jahr 2009 zu-
rückgegangen. Im Jahr 2008 erhielten 128 000 Personen
in 73 000 Haushalten Leistungen nach dem AsylbLG.

Zu den Auswirkungen des Bundesverfassungsge-
richtsurteils zu Hartz IV möchte ich Folgendes sagen:
Die Bundesregierung hat in ihrer Antwort auf die Große
Anfrage der Linken festgestellt, dass die Leistungssätze
im AsylbLG nicht den Anforderungen des Urteils des
Bundesverfassungsgerichtes vom 9. Februar 2010 ent-
sprechen. Deshalb prüft die Bundesregierung eine An-
passung der Leistungssätze und wird dabei auch den An-
passungsmechanismus im AsylbLG mit einbeziehen.
Darüber hinaus hat die Bundesregierung – wie es im
Koalitionsvertrag vereinbart worden ist – eine Evalua-
tion des Sachleistungsprinzips bereits eingeleitet. Die
CDU/CSU-Fraktion setzt sich dafür ein, das AsylbLG
sobald wie möglich anzupassen und so für eine verfas-

Dr. Johann Wadephul


(A) (C)



(D)(B)

sungsfeste Lösung zu sorgen. Nach Abschluss der Leis-
tungsreform des Sozialgesetzbuches II werden wir diese
Anpassungen gesetzlich regeln. Mit den Einzelheiten
werden wir uns bei einer Anhörung im Ausschuss für
Arbeit und Soziales Anfang Februar dieses Jahres befas-
sen.

Eine Abschaffung des AsylbLG lässt sich aus den Er-
wägungen des Bundesverfassungsgerichtes jedoch nicht
folgern. Vielmehr hat es das Bundesverfassungsgericht
in früheren Entscheidungen gerade dem Gesetzgeber
überlassen, ein eigenes Konzept zur Sicherung des Le-
bensbedarfes für Asylbewerber zu entwickeln. Dies räu-
men Sie, meine Damen und Herren von der Fraktion Die
Linke, in Ihrem Antrag auch ein. Der Ausschluss von
Asylsuchenden aus der Sozialhilfe und der Grundsiche-
rung für Arbeitsuchende hat besondere Gründe, die eine
andere Beurteilung der Situation rechtfertigen. Dies hat
auch das Bundesverwaltungsgericht so bestätigt. Der
Grund hierfür ist, dass es bei Asyl zunächst nicht um ei-
nen dauerhaften Aufenthalt, sondern um eine vorüberge-
hende Versorgung der Betroffenen bis zur Entscheidung
über ihren Asylantrag geht. Es kann nicht in erster Linie
darum gehen, diese Menschen hier bei uns aufzuneh-
men, ohne dabei die Ursachen für ihren Aufenthalt zu
bekämpfen. Vielmehr liegt die Ursache doch offensicht-
lich in den schlechten Verhältnissen vieler Länder, wo
Millionen Menschen vor Ort zurückbleiben und Not lei-
den müssen. Dieses Problem kann nicht allein auf natio-
naler Ebene, sondern nur mit internationaler Abstim-
mung gelöst werden. Hier spielt die Entwicklungspolitik
eine entscheidende Rolle.

Fazit: Das schwierige globale Problem steigender
Flüchtlingsströme werden wir nicht durch eine Abschaf-
fung des AsylbLG lösen. Eine ausreichende Versorgung
der Asylbewerber bei uns in Deutschland steht bei uns in
Deutschland außer Frage; dafür sorgt das AsylbLG.
Deshalb werden wir die Leistungssätze des AsylbLG
auch im Hinblick auf das Bundesverfassungsgerichtsur-
teil des vergangenen Jahres anpassen, sobald wir die
Leistungsreform im Sozialgesetzbuch II abgeschlossen
haben.


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1708434300

Bereits seit Inkrafttreten des Asylbewerberleistungs-

gesetzes, meine lieben Kolleginnen und Kollegen der
Linken, kritisieren Sie dieses – leider immer mit den
gleichen, nicht überzeugenden Argumenten. Damit ver-
schwenden Sie wertvolle Energie für konstruktive poli-
tische Arbeit.

Verabschiedet wurde das Gesetz 1992 von den Frak-
tionen CDU/CSU, SPD und FDP, da in jenem Jahr
95 Prozent der Asylsuchenden nicht politisch verfolgt
waren, sondern andere oder häufig wirtschaftliche
Gründe für ihren Aufenthaltswunsch in Deutschland
hatten. Dieser Zustand belastete unsere Sozialkassen so
erheblich, dass Regelungen zu einem Mindestbedarf von
Asylsuchenden nötig wurden. Wie die Entwicklungen der
letzten Jahre zeigten, wirkt das Gesetz diesem Asylmiss-
brauch erfolgreich entgegen und erfüllt auch seinen zen-
Zu Protokoll
tralen Zweck: Es gewährt politisch Verfolgten und un-
menschlich Behandelten die nötige Unterstützung.

Zudem gebe ich zu bedenken, dass wir mit Maßnah-
men gegen einen Missbrauch des Asylrechts, auf wel-
chen das Asylbewerberleistungsgesetz abzielt, den
tatsächlich politisch verfolgten und misshandelten Men-
schen in ihren menschenrechtlichen Bedürfnissen aner-
kennen, bekräftigen und unsere staatsrechtlichen Plich-
ten ernst nehmen.

Und, meine sehr geehrten Damen und Herren der
Linken, die Bundesregierung prüft derzeit genau, welche
Bedeutung die Entscheidung des Bundesverfassungsge-
richtes vom 9. Februar 2010 zu den Hartz-IV-Regelsät-
zen auf das Asylbewerbergesetz hat. Dabei handelt es
sich um komplexe Sach- und Rechtsfragen, deren Prü-
fung noch nicht abgeschlossen ist.

Keinesfalls kann, wie in Ihrem Antrag, von einem
„andauernden verfassungswidrigen Umgang mit
Schutzsuchenden“ gesprochen werden – dies möchte ich
deutlich zurückweisen. Diskussionen vor Abschluss des
Prüfergebnisses bringen uns leider keinen Schritt wei-
ter!

Doch lassen Sie mich auf einzelne Punkte eingehen.

Der Antrag der Linken beschreibt ein „Existenzmini-
mum zweiter Klasse“ und bemängelt, dass Asylsuchende
nicht die gleichen Sozialleistungen wie deutsche Staats-
bürger erhalten. Das Urteil des Bundesverfassungsge-
richts macht deutlich, dass der Gesetzgeber für die
Hilfeleistung gruppenbezogene Differenzierungen vor-
nehmen kann. Wir befassen uns mit einer Übergangs-
regelung für Asylsuchende, die nur solange Gültigkeit
behält, bis die Entscheidung über den Asylantrag gefal-
len ist – oder eben maximal vier Jahre. Es handelt sich
um keine Dauerregelung.

Sie sprechen in Ihrem Antrag von einer „systemati-
schen Desintegration“. Es ist auch sinnvoll, dass syste-
matische Integrationsmaßnahmen erst beginnen, wenn
dem Antrag auf Asyl stattgegeben wurde. Asylsuchende,
deren Anträge abgelehnt werden, müssen zu einer Aus-
reise aus Deutschland bewegt werden. Sie können nicht
umgehend sozial integriert und den inländischen Be-
dürftigen gleichgestellt werden.

Hier gebe ich auch zu bedenken, dass Leistungszah-
lungen, die sich aus inländischen Steuereinnahmen er-
geben, in einem angemessenen Verhältnis verteilt wer-
den müssen. Die Steuerzahler in unserem Land sind
bereits enorm belastet. Überdies würde eine Aufhebung
des Asylbewerberleistungsgesetzes den Druck auf un-
sere Sozialkassen nur noch weiter erhöhen.

Außerdem bemängelt ihr Antrag die Sachleistungs-
versorgung und kritisiert gleichzeitig, dass Preissteige-
rungen nicht berücksichtigt wurden. Durch die vor-
nehmliche Gewährung von Sachleistungen wird doch in
vollem Maße der Preisentwicklung Rechnung getragen:
Der Staat trägt in diesem Fall die Preissteigerungen
selbst, wenn beispielsweise Bekleidung oder Hausrat als
Sachleistung gewährt werden. Dies ist wohl eher bei den
Pauschalbeträgen, die das SGB XII und das SGB II vor-



gegebene Reden

Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)

sieht, der Fall. Ihr Vorwurf, dass die Preisentwicklungen
seit 1993 nicht mehr angepasst wurden, ist also zurück-
zuweisen.

Es ist eine wichtige staatliche und auch moralische
Pflicht, Menschen, die politisch verfolgt und misshan-
delt werden, zu unterstützen, aufzunehmen und so ihr
Leid zu mindern. Es ist wichtig, die Asylgesuche mög-
lichst zügig zu bearbeiten, um Menschen nicht unnötig
lange in einem ungewissen Zustand zu lassen.

In Deutschland besteht für Flüchtlinge in dieser
Übergangsphase eine gute Versorgung. Für weitere Ent-
wicklungsmaßnahmen müssen wir die Ergebnisse des
Vermittlungsausschusses abwarten. Der vorliegende
Antrag ist hierfür weder konstruktiv noch zielführend
und muss deshalb abgelehnt werden.


Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Rede ID: ID1708434400

Heute debattieren wir über das Asylbewerberleis-

tungsgesetz. Das ist gut so; denn das Thema brennt un-
ter den Nägeln. Leider werden unsere Reden, wie in der
letzten Debatte auch schon, wieder nur zu Protokoll ge-
geben. Die Grünen hatten bereits im Sommer ihren Ge-
setzentwurf eingebracht. Nun kommt die Fraktion Die
Linke mit ihrem Antrag. Das Ziel beider Initiativen ist,
das Asylbewerberleistungsgesetz aufzuheben bzw. abzu-
schaffen. Das wollen wir nicht. Wir werden uns mit ei-
nem Forderungskatalog einbringen, um die Lage der
Betroffenen zu verbessern. Die Expertenanhörung am
7. Februar steht ebenfalls noch bevor. Ich hoffe, dass es
wenigsten dann gelingen wird, dem Thema die Beach-
tung zu verschaffen, die es verdient.

Wenn wir über das Asylbewerberleistungsgesetz spre-
chen, dann reden wir auch über 120 000 Menschen, die
davon betroffen sind. Diese Menschen dürfen in
Deutschland nicht arbeiten, sie sind also auf Grund-
sicherung angewiesen. Sie müssen aber mit deutlich we-
niger auskommen als Sozialhilfe- oder Arbeitslosen-
geld-II-Bezieher, und das, obwohl sie zum großen Teil
bereits viele Jahre in Deutschland leben. Spätestens seit
Februar 2010 wissen wir, dass das verfassungswidrig
ist. Die Richter des Bundesverfassungsgerichts haben
ein klares Urteil zu den Regelsätzen im Sozialgesetz-
buch II und XII – also zum ALG II und der Sozialhilfe –
gesprochen. Und natürlich gilt dieses Grundsatzurteil
genauso auch für das Asylbewerberleistungsgesetz. Dies
habe ich bereits in meiner Rede zum Antrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen im Sommer deutlich ge-
macht.

Das Verfassungsgericht fordert, dass der Gesetzgeber
alle existenzsichernden Aufwendungen in einem trans-
parenten Verfahren ermittelt und diese Berechnungen
nachvollziehbar offenlegen muss. Außerdem müssen
sich die zu erbringenden Leistungen an den bestehenden
Lebensbedingungen orientieren und dementsprechend
beständig aktualisiert werden. Dies hat die Bundesre-
gierung inzwischen auch offiziell eingestanden – mehr
ist allerdings seitdem nicht geschehen. Wir fordern die
Bundesregierung und insbesondere die zuständige
Ministerin von der Leyen deshalb erneut auf, endlich ei-
nen Gesetzentwurf vorzulegen, der die derzeitige verfas-
Zu Protokoll
sungswidrige Leistungspraxis des Asylbewerberleis-
tungsgesetzes durch ein nachvollziehbares Verfahren zur
Bemessung der Leistungen beendet. Wir haben diese
Forderung bereits in unserem Antrag zur Neufestsetzung
der Regelsätze vom 2. März 2010 formuliert und in un-
serem Antrag zur transparenten Bemessung der Regel-
bedarfe vom 10. November 2010 erneuert. Ich frage die
Ministerin: Frau von der Leyen, wollen Sie so lange ab-
warten, bis Sie vom Bundesverfassungsgericht durch ein
explizites Urteil zum Asylbewerberleistungsgesetz mit
Frist zum Handeln aufgefordert werden? Sollen die
Bundesrichter zukünftig Ihre Antreiber sein? Nur zu Ih-
rer Information: Das Landessozialgericht Nordrhein-
Westfalen hat bereits ein Verfahren zum Asylbewerber-
leistungsgesetz an die Bundesverfassungsrichter über-
wiesen. Warten Sie also nicht länger, handeln Sie end-
lich!

Nicht nur die Regelsätze selbst müssen neu berechnet
werden, auch deren fortlaufende Aktualisierung muss si-
chergestellt werden. Seit Einführung des Asylbewerber-
leistungsgesetz 1993 gab es keinerlei Erhöhung der Re-
gelsätze. Der Kaufkraftverlust betrug allein zwischen
1994 und 2009 etwa 25 Prozent. 2001 haben wir ge-
meinsam mit den Grünen versucht, die Leistungen für
Asylsuchende anzupassen. Die damalige Mehrheit im
Bundesrat von CDU, CSU und FDP lehnte unsere Ge-
setzesinitiative jedoch ab. Darüber hinaus sehe ich in
weiteren Bereichen des Asylbewerberleistungsgesetzes
Handlungsbedarf: Das Sachleistungsprinzip sollte ab-
geschafft und die Regelleistungen in voller Höhe ausge-
zahlt werden. Gutscheine für Kleidung und Lebensmittel
sind diskriminierend und menschenunwürdig! Auch das
Zusammenstellen von Essenspaketen ist kein würdiger
Umgang mit den Hilfebedürftigen. Es ist zudem äußerst
fragwürdig, ob durch das Sachleistungsprinzip, wie be-
hauptet, tatsächlich Kosten eingespart werden oder im
Gegenteil es nicht wegen des Verwaltungsaufwandes
teurer wird. Überdenken müssen wir auch den Zugang
zu medizinischen Leistungen. Auch hier liegt einiges im
Argen.

Ganz wichtig ist darüber hinaus, dass der Kreis der
Leistungsberechtigten überprüft wird. Er sollte wieder
auf den ursprünglich Personenkreis, für den das Asylbe-
werberleistungsgesetz 1993 geschaffen wurde, zurückge-
führt werden, nämlich auf Asylsuchende und Flüchtlinge,
die unser Land in absehbarer Zeit wieder verlassen wer-
den. Zurzeit fallen außerdem Geduldete unter das Asylbe-
werberleistungsgesetz. Auch deshalb haben wir bereits
Ende 2009 eine Gesetzesinitiative – Drucksache 17/207 –
ins parlamentarische Verfahren eingebracht, um die
Zahl der bislang Geduldeten zu reduzieren und damit
vielen eine Perspektive für die gesellschaftliche und
ökonomische Integration in Deutschland zu eröffnen.
Auch die Dauer des Leistungsbezuges sollte von den
derzeit 48 Monaten wieder abgesenkt werden. Denn bei
4 Jahren kann nicht mehr von einer vorübergehenden
Aufenthaltsdauer gesprochen werden. Außerdem beträgt
die durchschnittliche Dauer aller rechtskräftig abge-
schlossenen Asylverfahren lediglich 15 Monate.

Wir setzen uns für die grundsätzliche Abschaffung der
heutigen Residenzpflicht für Asylbewerber und für ge-



gegebene Reden

Gabriele Hiller-Ohm


(A) (C)



(D)(B)

duldete Ausländer ein. Sie müssen sich, wie alle anderen
Menschen auch, in unserem Land frei bewegen können.
Wir wollen stattdessen, dass Asylbewerber und Gedul-
dete einen festen zugewiesenen Wohnsitz haben, dann
aber keinen Mobilitätseinschränkungen mehr unterlie-
gen. Die Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften
sollte ebenfalls überdacht werden, da dies für die Betrof-
fenen meist belastend ist; denn oftmals befinden sich
diese außerhalb von Ortschaften, was zu Isolation führt
und Mobilitätskosten erhöht. Die Unterbringung in
Wohnungen kann zudem kostengünstiger sein. Da es je-
doch auch bereits heute möglich ist, die Betroffenen in
Wohnungen unterzubringen, sollten die Kommunen da-
von Gebrauch machen. Diese Themenkomplexe werden
Gegenstand unserer parlamentarischen Initiative sein.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die
Grünen und der Linken, Sie fordern eine komplette Auf-
hebung des Asylbewerberleistungsgesetzes. Dafür sehen
wir nach wie vor keine politischen Mehrheiten, weder
hier im Bundestag noch im Bundesrat. Sie fordern in Ih-
rem Antrag, dass Asylsuchende und deren Angehörige
Leistungen nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozial-
gesetzbuch erhalten sollen. Das würde bedeuten, dass
erwerbsfähige Asylsuchende sofort eine Förderung zur
Eingliederung in den Arbeitsmarkt erhalten. Bei unge-
klärtem Aufenthaltsstatus ist das aus unserer Sicht je-
doch kein geeigneter Weg. Ich bin sehr gespannt, was
uns die Bundesregierung vorlegen wird. Ich hoffe sehr,
dass wir die Diskriminierung von Menschen im Asylbe-
werberleistungsgesetz endlich überwinden. Dieses Ge-
setz ist kein Ruhmesblatt – das haben uns auch die Ver-
fassungsrichter ins Stammbuch geschrieben.


Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1708434500

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Fe-

bruar letzten Jahres hat auf die politische Arbeit der
letzten Monate große Auswirkungen gehabt. Und selbst
wenn wir das Vermittlungsverfahren zur Neuberechnung
der Regelbedarfe bald abgeschlossen haben werden,
wird das Urteil noch weitere Auswirkungen für unsere
Arbeit haben; denn viele der Kritikpunkte, die das Bun-
desverfassungsgericht an den rot-grünen Hartz-IV-Ge-
setzen hatte, betreffen wohl auch das Asylbewerberleis-
tungsgesetz. Daher werden wir jetzt, bevor uns ein
Gericht dazu konkreten Anlass geben wird, das Asylbe-
werberleistungsgesetz so ändern, dass es den Ansprü-
chen, die wir an gute Politik haben, gerecht wird. Wir
werden die Leistungen für Asylbewerber genauso trans-
parent und nachvollziehbar darlegen, wie wir das jetzt
für die Bezieher von Arbeitslosengeld II gemacht haben.

Der Gesetzgeber ist 1993 bei der Festsetzung der
Leistungssätze im AsylbLG von dem in den Verhandlun-
gen zum Asylkompromiss vereinbarten Ziel ausgegan-
gen, dass im ersten Jahr des Leistungsbezugs eine Ab-
senkung der Leistungen für Asylbewerber gegenüber
den Leistungen nach dem damaligen Bundessozialhilfe-
gesetz erfolgen sollte. Der Umfang der Leistungen nach
dem AsylbLG wurde als zumutbar und zur Ermögli-
chung eines Lebens, das durch die Sicherung eines Min-
destunterhalts dem Grundsatz der Menschenwürde ge-
recht werden soll, als ausreichend angesehen. Dass sich
Zu Protokoll
dies in der Zwischenzeit verändert haben dürfte, möchte
ich nicht infrage stellen, und genau deshalb werden wir
die Sache auch angehen. Es ist jedoch auch klar, dass
wir eine Neufestsetzung der Leistungssätze des Asylbe-
werberleistungsgesetzes erst dann vornehmen werden,
wenn die Neufestsetzung der Regelbedarfe nach dem
Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch durch das
Gesetz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Ände-
rung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch
abgeschlossen ist. Sie wird dann auf Grundlage der da-
raus gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse erfol-
gen.

Wenn die Linke nun aber fordert, das Asylbewerber-
leistungsgesetz ganz abzuschaffen, dann geht das ein-
deutig zu weit. Es gibt natürlich einen gerechtfertigten
Unterschied, auch in der Höhe, zwischen den Leistun-
gen für Asylbewerber und denen von Menschen in der
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Dass dies so ist,
werden wir im Rahmen der Neufestsetzung offen und
transparent darlegen. Die FDP-Bundestagsfraktion hat
sich in der Vergangenheit übrigens dafür stark gemacht,
dass die Hürden, die Asylbewerber haben, um selbst für
ihren Lebensunterhalt zu sorgen, weiter abgesenkt wer-
den. Dies ist, wie überall in der Sozialpolitik, der we-
sentlich bessere Ansatz: Hilfe zur Selbsthilfe statt reiner
Alimentierung. Ich kann Ihnen daher zusagen, dass wir
das Asylbewerberleistungsgesetz nach Abschluss der
Neuregelung der Leistungen des Sozialgesetzbuchs II di-
rekt neu regeln werden. Eine Abschaffung kommt für uns
jedoch nicht infrage.


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708434600

Die Linke hat dem Bundestag einen Antrag vorgelegt,

mit dem die Fraktion die Abschaffung des diskriminie-
renden Asylbewerberleistungsgesetzes fordert. Der An-
trag ist eine Reaktion auf das Urteil des Bundesverfas-
sungsgerichts zur Verfassungswidrigkeit der sogenannten
Hartz-IV-Sätze. Das Gericht hat in seinem aufsehenerre-
genden Urteil unterstrichen, dass das Grundrecht auf
Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzmini-
mums universale Gültigkeit besitzt. Damit gilt es auch
für Asylbewerber und andere Menschen mit einem unsi-
cheren Aufenthaltsstatus, die bislang unter das Asylbe-
werberleistungsgesetz fallen. Das Verfassungsgericht
hat außerdem die Anforderung aufgestellt, dass dieses
Existenzminimum auf Grundlage realitätsnaher, trans-
parenter und nachvollziehbarer Kriterien berechnet
werden muss.

Beides trifft auf das Asylbewerberleistungsgesetz
nicht zu. Weder wird ein menschenwürdiges Existenz-
minimum gewahrt, noch liegen den Leistungssätzen
nachvollziehbare Kriterien zugrunde. Sie sind schlicht
und ergreifend politisch festgelegt worden, ohne Rück-
sicht auf die realen Bedürfnisse der betroffenen Asylbe-
werber, geduldeten Ausländer und Flüchtlinge. Die pau-
schalierte Festlegung der Leistungssätze steht in klarem
Widerspruch zum genannten „Hartz-IV-Urteil“ des
Bundesverfassungsgerichts. Dies musste mittlerweile
auch die Bundesregierung in ihrer Antwort auf eine
Große Anfrage der Fraktion Die Linke einräumen.



gegebene Reden

Ulla Jelpke


(A) (C)



(D)(B)

Mit der Einführung des Asylbewerberleistungsgeset-
zes wurden die Sätze der sogenannten Grundleistungen
im Gesetz festgelegt und seitdem nicht der Preisentwick-
lung angepasst. Sie liegen damit mittlerweile über
30 Prozent unter den Hartz-IV-Sätzen. Die Bezugsdauer
der abgesenkten Sozialleistungen wurde von zunächst
einem Jahr schrittweise auf mittlerweile vier Jahre aus-
gedehnt. Der Bezug dieser sogenannten Grundleistun-
gen schließt gleichzeitig den Zugang zum Gesundheits-
system aus, medizinische Leistungen gibt es nur in
akuten Notfällen. Die Behandlung chronischer Krank-
heiten und psychischer Traumatisierungen ist damit
nicht möglich. Der Schulbesuch der Kinder ist er-
schwert, die Wohnsituation in maroden Sammelunter-
künften eine zusätzliche und andauernde Belastung. Das
geltende Sachleistungsprinzip verschärft den diskrimi-
nierenden Charakter noch zusätzlich. Dieses Prinzip
bedeutet, dass die Existenzsicherung in Form von
Essens- und Kleidungspaketen oder über Gutscheine ab-
gewickelt wird. Wenigstens die Mittel des täglichen Be-
darfs selbst einkaufen zu können, bedeutet, ein Minimum
an Selbstbestimmung und Würde zu bewahren. Selbst
diesen Rest von Würde und Anstand nimmt das Asylbe-
werberleistungsgesetz den Betroffenen.

Mit dem Asylbewerberleistungsgesetz wurde ein Exis-
tenzminimum zweiter Klasse eingeführt. Unverhohlen
wurde und wird von seinen Verteidigern ins Feld ge-
führt, es solle „missbräuchliche Asylantragstellung“
und „Einwanderung in die sozialen Sicherungssysteme“
verhindern. Abschreckung als Ziel eines Gesetzes, das
nach dem Grundgesetz eine menschenwürdige Existenz
sichern soll – dieser Widerspruch ist allzu offensichtlich.
Diese beiden Ziele sind absolut unvereinbar. Das Asyl-
bewerberleistungsgesetz ist die in Gesetzesform gegos-
sene Unterstellung, Flüchtlinge kämen nicht aus Angst
vor Verfolgung und Unterdrückung, sondern aus rein
ökonomischen Interessen. Von dort aus ist es nicht weit
bis zu rechtsextremen Parolen gegen vermeintliche
Schmarotzer und Parasiten, die schleunigst außer Lan-
des geschafft werden sollten.

Das Asylbewerberleistungsgesetz ist diskriminierend
und trägt zur Stigmatisierung von Asylbewerbern und
Flüchtlingen bei. Es ist Ausdruck einer fatalen Abschre-
ckungspolitik, die de facto den Schutzanspruch von
Flüchtlingen verneint. Und schließlich ist es gleich in
mehrfacher Hinsicht ein Verstoß gegen das Menschen-
würdegebot des Grundgesetzes. Es muss abgeschafft
werden.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708434700

Es ist gut und richtig, dass nun auch endlich die Linke

mit dem vorgelegten Antrag die Abschaffung des Asylbe-
werberleistungsgesetzes fordert. Es fragt sich nur, wa-
rum die Linke erst jetzt reagiert. Bündnis 90/Die Grünen
fordern schon seit Jahren die Abschaffung des Gesetzes.
Hierzu haben wir einen Gesetzentwurf in den Deutschen
Bundestag eingebracht – 17/1428 –, der Gegenstand der
Anhörung im federführenden Ausschuss für Arbeit und
Soziales am Montag, dem 7. Februar 2011, ist. Auch die
Bundesregierung ist inzwischen von der Verfassungs-
widrigkeit des Asylbewerberleistungsgesetzes überzeugt
Zu Protokoll
und kündigt Nachbesserungen an. Die Einschätzung der
Bundesregierung bestätigt unsere Kritik am Asylbewer-
berleistungsgesetz. Weniger Geld als im Regelsatz für
ALG-II-Beziehende ist mit der Menschenwürde nicht zu
vereinbaren. Einzig eine Neuberechnung der Leistungen
für Asylbewerberinnen und -bewerber greift aber zu
kurz.

Das Asylbewerberleistungsgesetz führt seit nun mehr
als 17 Jahren zu einem diskriminierenden Ausschluss
von Asylsuchenden und Geduldeten aus der Sozialhilfe
und der Grundsicherung für Arbeitssuchende. Für
Bündnis 90/Die Grünen gelten die Leitsätze des Urteils
des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 zu
den ALG-II-Regelsätzen nicht nur für Deutsche, sondern
für alle Menschen im Geltungsbereich des Grundgeset-
zes. Das menschenwürdige Existenzminimum ist zu ge-
währleisten und nach einem transparenten und nach-
vollziehbaren Verfahren zu ermitteln. Dass die Bundes-
regierung bei der Umsetzung des Urteils trickst, steht
auf einem anderen Blatt Papier und ist derzeit Gegen-
stand der Verhandlungen im Vermittlungsausschuss zwi-
schen Bundesrat und Bundestag.

Das Bundesverfassungsgericht sagt ganz klar, dass
das soziokulturelle Existenzminimum nicht „ins Blaue
hinein“ zu schätzen ist. Es dürfte doch hier allen ein-
leuchten, dass das selbstverständlich ein universaler
Anspruch ist, der nicht nur für das Zweite Buch Sozial-
gesetzbuch gilt. Dieser gilt für alle Menschen, und des-
halb brauchen wir kein Sondergesetz, das Menschen-
würde für Flüchtlinge separiert und im Ergebnis
Menschen mit ihrer Würde herabsetzt. Doch seit es das
Asylbewerberleistungsgesetz gibt, geschieht genau dies
mit vielen Menschen, ob asylsuchend, ob geduldet oder
bleibeberechtigt: Der Aufenthaltstitel unterscheidet
sich, nicht aber die Unterversorgung. Die Leistungen
des Asylbewerberleistungsgesetzes liegen um ein Drittel
unter den ohnehin schon zu niedrig bemessenen Sätzen
des SGB II. Und sie sind entgegen geltender Rechtslage
nach § 3 Abs. 3 Asylbewerberleistungsgesetz nie ange-
passt worden – nicht ein einziges Mal in mehr als
17 Jahren.

Ein weiterer wichtiger Punkt muss erwähnt werden:
Zum Gesundheitssystem in Deutschland haben Men-
schen, die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungs-
gesetz bekommen, keinen Zugang. Nur bei akuten Er-
krankungen und Schmerzzuständen gibt es Hilfe.
Konkret heißt das: keine Prävention, keine Untersu-
chungen. Es muss schon erst so schlimm sein, dass der
Krankenwagen vorfahren muss, bevor es Hilfe gibt.

Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Asylbewer-
berleistungsgesetzes wurden schon mehrmals in Gut-
achten aufgezeigt. Diese kommen zu dem Ergebnis, dass
das Asylbewerberleistungsgesetz gegen Art. 1 Grundge-
setz – Menschenwürde –, Art. 3 Grundgesetz – Diskrimi-
nierungsverbot – und Art. 20 Grundgesetz – Sozial-
staatsprinzip – verstoßen würde. Das Bundesverfas-
sungsgericht hat noch nicht über Eignung, Erforderlich-
keit und Verhältnismäßigkeit des Asylbewerberleis-
tungsgesetzes geurteilt. Wir als Gesetzgeber haben es in



gegebene Reden





Markus Kurth


(A) (C)



(D)(B)

der Hand, einer Entscheidung des Bundesverfassungs-
gerichts zuvorzukommen und das Gesetz abzuschaffen.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708434800

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/4424 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie ein-
verstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan
Kühn, Winfried Hermann, Dr. Anton Hofreiter,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Zukunftsfähige Alternativen zur Nordverlän-

(Magdeburg– Schwerin)


– Drucksache 17/4199 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

Auch hierzu wurden die Reden zu Protokoll gege-
ben.


Dietrich Monstadt (CDU):
Rede ID: ID1708434900

Was zeigt uns die heutige Debatte? Die Dagegen-

Partei hat wieder einmal zugeschlagen. Der heutige An-
trag steht in einer Reihe mit der Ablehnung des Bahn-
hofsneubaus in Stuttgart, der Entscheidung, die Olympi-
schen Spiele in München nicht zu unterstützen, und der
Entscheidung gegen den Ausbau des Flughafens in
Frankfurt am Main. Jetzt also auch die Ablehnung des
wichtigen Verkehrsprojekts für die Länder Sachsen-An-
halt und Mecklenburg-Vorpommern.

Vor fast genau einem Jahr, am 26. Januar 2010,
wurde die parteiübergreifende Bürgerinitiative für den
Bau der Bundesautobahn 14 „BAFA 14“ durch den
Ministerpräsidenten des Landes Mecklenburg-Vor-
pommern mit dem „Großen Preis der Wirtschaft“ des
Unternehmerverbandes Norddeutschland Mecklenburg-
Schwerin e. V. für ihr langjähriges ehrenamtliches
Engagement ausgezeichnet. Heute müssen wir uns mit
einem Antrag der Grünen beschäftigen, der rückwärts-
gerichtet ist und den jahrelangen Einsatz vieler Men-
schen in Mecklenburg-Vorpommern für den Bau der
A 14 konterkariert.

Die eingangs genannte Tatsache unterstreicht aus
meiner Sicht sehr deutlich, dass der Weiterbau der A 14
in der Region Westmecklenburg, insbesondere in mei-
nem Wahlkreis Schwerin-Ludwigslust, von breiten Teilen
der Bevölkerung getragen wird. Dies zeigen auch die
Reaktionen auf den Antrag, den wir heute im Parlament
diskutieren. Sowohl die Regierungsfraktionen von CDU
und SPD im Landtag, als auch die Oppositionsfraktio-
nen von FDP und Linke haben diesen Antrag aufs
Schärfste kritisiert. Der Landkreis Ludwigslust und füh-
rende Wirtschaftsverbände haben sich ebenfalls für den
zügigen Weiterbau der A 14 von Schwerin nach Magde-
burg ausgesprochen. Die Grundlagen dafür haben die
Grünen übrigens im Jahr 2004 mit ihrer Zustimmung
zur Aufnahme der A 14 in den vordringlichen Bedarf des
Bundesverkehrswegeplans selbst mit beschlossen. Es
stellt sich daher die Frage, warum die Grünen erst jetzt
nach Alternativen fragen!

Nach Angaben des Landesverkehrsministers kommen
die Vorbereitungen für den 155 Kilometer langen Auto-
bahnbau gut voran. Anfang dieses Jahres soll mit dem
Planfeststellungsverfahren für den Abschnitt vom Auto-
bahndreieck Schwerin bis Ludwigslust-Süd begonnen
werden. Bis zum Jahr 2020 soll das Gesamtprojekt fer-
tiggestellt sein.

Im Hinblick auf die Landtagswahl in Mecklenburg-
Vorpommern wollen sich die Grünen scheinbar auch in
unserem Bundesland als Dagegen-Partei etablieren. Die
aufgezeigten Reaktionen verdeutlichen jedoch, dass die
Argumente der Grünen auf keinen sehr fruchtbaren Bo-
den fallen. Von daher verwundert es nicht, dass die Grü-
nen bisher bei allen Landtagswahlen in Mecklenburg-
Vorpommern an der 5-Prozent-Hürde gescheitert sind.
Mit realitätsfernen Initiativen wie dem vorliegenden An-
trag tragen Sie dazu bei, dass Ihr Landesverband auch
nach dem 4. September 2011 nicht in dem neuen Land-
tag von Mecklenburg-Vorpommern vertreten sein wird.
Vor dem Hintergrund dieses Antrages ist das auch gut
so!

Die große Mehrheit der Mecklenburger und Vorpom-
mern hat kein Verständnis für die Position der Grünen,
die sich bereits ohne Erfolg gegen den Bau der Ostsee-
autobahn 20 eingesetzt hatten. Gerade das Beispiel der
A 20 verdeutlicht die Bedeutung solcher Projekte für ein
strukturschwaches Bundesland wie Mecklenburg-Vor-
pommern. Durch die Autobahn wird die Anbindung der
Ostseeküste an das Hinterland verbessert. Die Wirt-
schaft und der Tourismus, aber vor allem die Bürgerin-
nen und Bürger in meinem Bundesland haben davon
nachhaltig profitiert. Auch die Fertigstellung der A 14
wird für Mecklenburg-Vorpommern nachhaltig spürbare
Effekte in diese Richtung bringen.

Die CDU/CSU-Fraktion wird es deshalb nicht zulas-
sen, dass die Grünen mit ihrem Antrag die wirtschaftli-
che Zukunft Mecklenburg-Vorpommerns gefährden. Der
Lückenschluss auf der A 14 zwischen Schwerin und Wis-
mar vor gut einem Jahr hat bereits zu spürbaren Entlas-
tungen für die Bundesstraßen vom Lkw-Verkehr geführt.
Gerade auch im Interesse unserer Häfen in Rostock und
Wismar brauchen wir einen zügigen Weiterbau der A 14
vom Norden in den Süden. Der Geschäftsführer der Ha-
fenentwicklungsgesellschaft Rostock und der Chef des
Seehafens Wismar haben sich in der „Ostsee-Zeitung“
vom 23. Dezember 2010 ganz klar gegen den Antrag der
Grünen ausgesprochen und die A 14 für die Häfen
Mecklenburg-Vorpommerns als essenziell bezeichnet.
Der Weiterbau der Autobahn erhöht die Lebensqualität
für die Einheimischen und macht Mecklenburg-Vorpom-
mern für Urlauber und Investoren noch attraktiver. Mit
der A 14 wird es uns weiterhin gelingen, Unternehmer
für Investitionen in Mecklenburg-Vorpommern zu
gewinnen. Nur durch eine leistungsfähige Verkehrsin-
frastruktur ist ein Flächenland wie Mecklenburg-Vor-

Dietrich Monstadt


(A) (C)



(D)(B)

pommern in der Lage, wirksame Schritte gegen die
Abwanderung zu organisieren. Nur eine damit einherge-
hende wirtschaftliche Entwicklung kann die Abwande-
rung ganzer Jahrgänge junger und hochqualifizierter
Fachkräfte verhindern.

Der Lückenschluss der A 14 hat gleichzeitig eine
enorme bundesverkehrspolitische Bedeutung. Die neue
Nord-Süd-Achse wird nicht nur die Landeshauptstädte
von Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt mit-
einander verbinden, sondern auch zu einer spürbaren
Entlastung anderer Autobahnen führen. Verkehrsbehin-
derungen durch Zeitverzug und Staus und damit einher-
gehende volkswirtschaftliche Verluste können deutlich
reduziert werden. Eine solche Verbindung hilft damit
auch den Nachbarbundesländern. Im Namen der CDU/
CSU-Fraktion bitte ich Sie deshalb nicht nur im Inte-
resse des Landes Mecklenburg-Vorpommern darum, den
Antrag der Grünen abzulehnen!


Hans-Joachim Hacker (SPD):
Rede ID: ID1708435000

Um es gleich auf den Punkt zu bringen: Dieser An-

trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gehört in den
Papierkorb. Er ist sachlich unbegründet. Der Antrag
stellt unrealistische Alternativkonzepte vor, ist nicht
aktuell und wäre bei seiner Umsetzung ein schwerer
Schlag gegen die Wirtschaftsentwicklung in struktur-
schwachen Regionen. Mecklenburg-Vorpommern, Bran-
denburg und Sachsen-Anhalt brauchen dringend den
Lückenschluss zwischen der A 24 und der Landeshaupt-
stadt Magdeburg. Das Straßenbauprojekt A 14 ist Be-
standteil des Bundesverkehrswegeplanes 2003 und wird
im Investitionsrahmenplan 2006 ebenfalls als priori-
täres Bauvorhaben ausgewiesen. In den Bundesver-
kehrswegeplan werden bekanntermaßen nur Vorhaben
eingestellt, die einem komplexen Bewertungsverfahren
standhalten und bei denen ein volkswirtschaftlicher Nut-
zen nachgewiesen wird. Genau dies liegt bei der A 14
vor.

Ich stelle an Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
Bündnis 90/Die Grünen die Frage, welchen Wert Sie Ih-
ren parlamentarischen Anfragen und den betreffenden
Antworten der Bundesregierung beimessen. Bekannter-
maßen sieht es mit der Beantwortung von Anfragen der
Opposition durch die Regierung nicht gut aus, aber auf
Ihre Kleine Anfrage „Zur Kosten-Nutzen-Berechnung
der Verkehrsprojekte Bundesautobahn 14 und 39“ hat
die Bundesregierung am 1. Dezember 2009, Drucksache
17/98, ausnahmsweise etwas ausführlicher geantwortet.
In der Vorbemerkung stellt die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen fest, dass das Ministerium für Bau und Verkehr
des Landes Sachsen-Anhalt das Nutzen-Kosten-Verhält-
nis für die A 14 mit 4,6 ausgewiesen hat. Der vorlie-
gende Antrag geht fälschlicherweise davon aus, dass es
sich bei dem Infrastrukturprojekt A 14 um das „umstrit-
tenste Straßenverkehrsprojekt Ostdeutschlands“ han-
deln würde und die prognostizierte Verkehrsstärke von
16 000 Fahrzeugen pro Tag den Bedarf für eine milliar-
denschwere Investition nicht rechtfertigen würde. Als
Alternative wird der zweistreifige Querschnitt einer
Bundesstraße angeboten. Beide Annahmen gehen an der
Wirklichkeit vorbei und sind in ihrer Aussage offensicht-
Zu Protokoll
lich falsch. In den von dem geplanten Autobahnbau be-
troffenen Regionen Südwestmecklenburg, Prignitz und
Altmark gibt es eine hohe Zustimmung zu dem Investi-
tionsvorhaben. Bürgerinitiativen, Kommunal- und Lan-
despolitiker und nicht zuletzt die Wirtschaft stehen zu
diesem Projekt. Alle fordern eine Beschleunigung der
Planungsarbeiten, damit mit dem Bau begonnen werden
kann. Die Finanzierung für den ersten Bauabschnitt, er
beinhaltet eine Summe von 775 Millionen Euro, ist im
Investitionsrahmenplan festgeschrieben und nach den
ermittelten Kostensteigerungen zwischen dem Bund und
den Ländern 2009 nochmals bestätigt worden.

Die Feststellung im Antrag zur prognostizierten Ver-
kehrsstärke pro Tag – 16 000 Fahrzeuge – ist schlicht-
weg falsch. Schauen Sie in die bereits zitierte Antwort
der Bundesregierung vom 1. Dezember 2009. Unter Zif-
fer 10 werden werktägliche Verkehrsstärken für das Jahr
2015, basierend auf Berechnungen aus 2003, sowie für
das Jahr 2025 aus Nachberechnungen 2008 wie folgt
ausgewiesen: Bei der Prognose für 2015 werden 15 000
bis 30 000 Fahrzeuge/Tag angenommen und bei der
Prognose für 2025 sind es 22 000 bis 34 000 Fahrzeuge.
Der von Ihnen angegebenen Verkehrsstärke von 16 000
Fahrzeugen/Tag stehen also tatsächlich größere Ver-
kehrsstärken gegenüber. Sie sollten einfach in das rich-
tige Zahlenwerk schauen.

Natürlich ist es so, dass eine Infrastrukturmaßnah-
men für sich genommen nicht der alleinige Schlüssel für
die regionale Wirtschaftsentwicklung sind. Diese hängt
von mehreren Faktoren ab, von denen allerdings die ver-
kehrliche Anbindung eine nicht unbedeutende Rolle
spielt. Wenn die infrastrukturelle Erschließung nicht
stimmt, stimmen auch die Rahmenbedingungen für die
Wirtschaftsansiedlung nicht. Regionen mit einer guten
Infrastruktur – das ist ein immobiler Produktionsfaktor –
ziehen die mobilen Produktionsfaktoren Humankapital
und Realkapital – Investitionen – nach sich. Sie befinden
sich in dieser Frage auf dem gleichen Holzweg wie die
Fraktion Die Linke. Deren Berichterstatter Lutz
Heilmann erklärte am 25. Mai 2007 in seiner Bundes-
tagsrede zum Bericht des Parlamentarischen Beirats für
nachhaltige Entwicklung „Demografischer Wandel und
nachhaltige Infrastrukturplanung“ – Drucksache 16/4900 –
Folgendes – ich zitiere: „Es macht aber überhaupt kei-
nen Sinn, Milliarden auszugeben, um schrumpfende Re-
gionen an das Autobahnnetz anzuschließen, wenn auf
diesen Straßen am Ende keine Autos fahren. Es ist doch
Unsinn, in der vagen Hoffnung auf wirtschaftliche Ent-
wicklung Geld zum Fenster hinauszuwerfen. Ein Para-
debeispiel dafür ist die zusammenhängende Planung der
Autobahn A 14 und A 39 in Brandenburg und Nieder-
sachsen …“

Ganz abgesehen davon, dass es bei Herrn Heilmann
etwas mit der Geografie hapert und er nebenbei die Län-
der Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern bei
diesem Verkehrsprojekt verschwinden lässt, zeugen
seine demografischen Bewertungen von Hilflosigkeit
und fehlendem Konzept für die neuen Länder. Er hatte
sich damit abgefunden, dass die Regionen Westmecklen-
burg, Prignitz und Altmark wegen ihrer noch vorhande-
nen Strukturschwäche abgeschrieben sind. Die Position



gegebene Reden

Hans-Joachim Hacker


(A) (C)



(D)(B)

der Linken wird auch nicht dadurch glaubwürdiger, dass
sich ihr Bundestagskandidat Dr. Dietmar Bartsch im
Wahlkampf 2009 auf einmal für den Bau der A 14 aus-
sprach. Das ist Politik nach Stimmungslage und Tages-
form, die den Menschen in diesen Regionen nicht hilft.
Wir brauchen Beständigkeit, gerade in der Frage der In-
frastrukturentwicklung, weil damit Perspektiven für die
Zukunft verbunden sind und vor allem für junge Men-
schen Chancen für ein Bleiben in der Region eröffnet
werden.

Die A 14 ist das letzte große Infrastrukturprojekt in
den neuen Ländern. Damit wird eine Lücke im Auto-
bahnnetz geschlossen. Die Ostseehäfen Rostock, Wis-
mar und Lübeck erhalten eine optimale Hinterlandan-
bindung. Von diesen Häfen und aus den betroffenen
Regionen können Verkehre in den mitteldeutschen
Raum, nach Süddeutschland und zu unseren südöstli-
chen EU-Partnern besser fließen. Ich will hervorheben,
dass bei der Vorbereitung und Durchführung der Bau-
maßnahme A 14 die naturschutzfachlichen Erforder-
nisse umfassend berücksichtigt werden. Das hat nicht
zuletzt auch zu Kostensteigerungen geführt. Wir brau-
chen jetzt eine zügige Durchführung der laufenden Plan-
feststellungsverfahren und keine neue Diskussion zu Al-
ternativen mit zweistreifigen Bundesstraßen.

Die geforderten Ausbaumaßnahmen für den Schie-
nenverkehr sind sicherlich richtig, aber diese gegen die
A 14 auszuspielen, zeugt von Kurzsichtigkeit in der Ver-
kehrspolitik. Und im Übrigen: Die im Antrag geforderte
Schließung der Elektrifizierungslücke bei der Eisen-
bahnstrecke Bad Kleinen–Lübeck und die Verbesserung
der Bahnverbindung Schwerin-Lübeck sind Bestandteil
der vom Bundesverkehrsministerium im Herbst 2010
vorgelegten Überarbeitung des Bedarfsplanes Schiene.
Diese beiden Maßnahmen sind auch deswegen notwen-
dig, um im Zuge der Festen Fehmarnbelt-Querung – ge-
gen die die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gestimmt
hatte – eine optimale Eisenbahnverbindung zwischen
Kopenhagen und Berlin auch über Schwerin–Ludwigs-
lust zu schaffen.

Mein Appell zum Schluss an den Antragsteller: Sie
sollten den Antrag schleunigst zurückziehen. Sie wissen:
Ihr Antrag wird in diesem Hause keine Mehrheit finden.
Es bleibt dabei, die Regionen Südwestmecklenburg,
Prignitz und Altmark benötigen die A 14 – vor allem die
Menschen, die in diesen Regionen leben.


Jens Ackermann (FDP):
Rede ID: ID1708435100

Der Autoverkehr ist ein fester Bestandteil unseres

modernen Lebens. Soviel ist uns allen klar. Ohne Pkw,
Lkw und Busse liefe heutzutage vieles nicht mehr oder
wäre nur mit Mühen machbar. Erst das Auto ermöglicht
die Flexibilität und Mobilität oder die Schnelligkeit, die
heute erwartet werden. Es ist unsere Realität, dass viele
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf den eigenen
Wagen angewiesen sind, um in vertretbarer Zeit oder
überhaupt zur Arbeit zu kommen. Das, liebe Kollegin-
nen und Kollegen betrifft auch Sie. Wie Sie, wie wir,
brauchen im ganzen Land tagtäglich viele Familien ein
Auto, um ihre Kinder nachmittags zum Musikunterricht
Zu Protokoll
oder Sportverein zu bringen oder sie abends vom Sport
abzuholen. Doch auch für Handel und Gewerbe sind
schnelle Lieferungen direkt bis vor die Firmen- oder La-
dentür unabdingbar. Kurz gesagt: Eine gute Verkehrsan-
bindung ist Voraussetzung für die ökonomische Entwick-
lung jeder Gemeinde und jeder Stadt. Gerade im länd-
lichen Raum, wo die Bahnanbindungen schlecht oder
kaum vorhanden sind, brauchen wir über die Bedeutung
von Autos nicht zu diskutieren.

Deshalb ist es auch nicht von der Hand zu weisen,
dass Fernstraßen und Autobahnen elementar für Gesell-
schaft und Wirtschaft sind. Sie sind zweifellos immer
noch die Lebensadern der Moderne. Autobahnen brin-
gen Menschen zusammen, und hier werden wertvolle
Güter transportiert. Damit tragen sie sowohl zur wirt-
schaftlichen Standortsicherung wie zur Lebensqualität
der Bürgerinnen und Bürger bei. Zudem sind die Auto-
bahnen eine der wichtigsten Grundlagen für den Touris-
mus in unserem Land; denn sonst würden wohl weniger
Menschen durch unser schönes Land reisen können.
Fast 50 Prozent der Familien mit Kind fahren mit dem
Auto in den Urlaub und nur dahin, wo sie sich sicher
sein können, dass sie schnell und heil an ihr Ziel kom-
men.

Deshalb geht der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
auch an der Realität vorbei. Doch nicht nur das: Mit
diesem Antrag wollen die Grünen wieder einmal auf
Kosten der Bürger ihren Wahlkampf, diesmal in Sach-
sen-Anhalt, betreiben. Dabei machen sie mit der Forde-
rung nach einem Baustopp bei der A 14 ihrem Ruf als
„Dagegen-Partei“ alle Ehre. Von den Grünen werden
Realitäten verkannt, Chancen nicht gesehen und Bedürf-
nisse ignoriert. Mit dem Antrag werden Notwendigkei-
ten vom Tisch gewischt, Sinnvolles weggedrückt und
Wichtiges nicht angegangen. Das Ziel der Grünen ist
doch wohl uns allen klar: Hier wird nur danach ge-
schaut, wo es Pläne für Fortschritt geben könnte, wo
Chancen für Wachstum lägen, um dann eine einfache
und platte Antwort zu geben: einfach nur dagegen zu
sein.

Doch wir antworten darauf klar und entschieden: Wir
sind für die A 14! Denn wir setzen auf Erfolgsmöglich-
keiten und Vorteile, die dieses Verkehrsprojekt bringen
soll. Wir stellen uns der Diskussion. Der Antrag, den wir
hier diskutieren, geht eindeutig an den Erfordernissen
der Menschen vorbei: Die A 14 ist und bleibt eine der
wichtigsten Verkehrsadern in Sachsen-Anhalt. Sie hat
nur ein Problem: Sie ist unvollendet. Deshalb ist auch
eine Anbindung des mitteldeutschen Wirtschaftsraumes
an die Ostseehäfen längst überfällig. Die Menschen in
der strukturschwachen Region der Altmark warten seit
20 Jahren auf den Ausbau der A 14 und ihren Anschluss
an das Autobahnnetz der Bundesrepublik. Die Menschen
warten und hoffen und wissen dabei eines: Mobilität
verspricht Arbeit. Das beweisen nicht nur die Ansiede-
lungen in Barleben oder Osterweddingen.

Deshalb können wir das Ansinnen der Grünen nicht
verstehen. Würde doch der Lückenschluss zwischen
Schwerin und Magdeburg die lang ersehnten wichtigen
Impulse für die angrenzenden Regionen bringen. Ja, es



gegebene Reden

Jens Ackermann


(A) (C)



(D)(B)

wäre die langersehnte Grundlage und eine bedeutende
Voraussetzung für das weitere Wachstum im ganzen
Land. Wachstum, Fortschritt, Zukunftsfestigkeit sind na-
türlich nicht die Argumente der Grünen. Sie stellen sich
hin und bringen, wie so oft, wieder das Argument des
mangelnden Umweltschutzes an. Umweltschutz ist wich-
tig, und ich nehme diesen Punkt gerne und mit Freude
auf; denn in diesem Falle kann man ihn eben nicht als
Gegenargument ins Feld führen. Das Phantomargument
mangelnden Umweltschutzes kann sogar ganz leicht ent-
kräftet werden; denn: In Sachen Naturschutz wurden
bislang alle umweltrelevanten Aspekte berücksichtigt.
Geplant sind nämlich Wildbrücken, Unterbauten und so-
gar Überflugbrücken für Fledermäuse. Also: Verkehrs-
sicherheit nicht nur für die Menschen, sondern auch für
die Tiere, Wachstumschancen nicht nur für die Wirt-
schaft, sondern auch für die Umwelt. Das hat zwar letzt-
endlich auch die Kosten in die Höhe getrieben, aber wir
unterstützen Entwicklungsmöglichkeiten da, wo sie vie-
len nutzen – egal ob Mensch oder Tier.

Wenn die Grünen jetzt mit dem Antrag genau diese
wichtige Nord-Süd-Verbindung unvollendet lassen wol-
len, wenn sie auch hier reflexartig einfach Nein sagen,
anstatt zu prüfen und zu bewerten, wenn sie den Kopf
schütteln, anstatt die Augen zu öffnen, dann schwächen
sie den Norden Ostdeutschlands auf unabsehbare Zeit.
Doch das ist ihnen offensichtlich egal. Ebenso wie die
Tatsache, dass die A 14 bereits unter der rot-grünen
Bundesregierung im Bundesverkehrswegeplan fest ver-
ankert worden ist. Aber wir wollen jetzt nicht zurückbli-
cken, sondern nur eines: entschlossen nach vorne
schauen und unser Land voranbringen. Wir sind nicht
nachtragend, sondern wollen, dass Sie erkennen, was
Sie – damals zu Recht – Sinnvolles angestoßen haben.

Der Norden Ostdeutschlands liegt zu Unrecht seit
Jahren in einem verkehrspolitischen Dornröschen-
schlaf. Unterstützen Sie jetzt die Menschen vor Ort;
denn weitere Jahrzehnte des Stillstands verträgt die Re-
gion nicht. Deshalb lassen Sie uns gemeinsam die Re-
gion wachküssen. Geben wir zusammen mit dem not-
wendigen Verkehrsprojekt wichtige Impulse für die
Flexibilität und für die Wirtschaft. Wir haben in den Pla-
nungen für die Verlängerung der A 14 die Umwelt und
den Naturschutz nicht aus den Augen gelassen. Die
Menschen in dieser Region dürfen wir aber auch nicht
vergessen. Deshalb kann ich Ihnen ganz klar sagen:
Eine solche Verhinderungspolitik, wie sie in diesem An-
trag dokumentiert wird, ist mit den Liberalen nicht zu
machen! Der Lückenschluss der A 14 muss unverzüglich
angegangen werden. Wahlkampf darf nicht auf den
Schultern der Menschen ausgetragen werden.


Herbert Behrens (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708435200

Große Verkehrsinfrastrukturprojekte bringen mehr

Wirtschaftswachstum. Dieses Dogma, das von den Be-
fürwortern solcher Pläne immer wieder vorgetragen
wird, trägt nicht. Auch durch ständige Wiederholung
werden solche Sätze nicht wahrer. Im römischen Senat
beendete Cato seine Reden mit dem Satz: „Und im Übri-
gen muss Karthago vernichtet werden“, so heißt es. Wir
Zu Protokoll
wissen, dass das Beharren auf jenem Dogma später zum
Untergang Roms selbst beigetragen hat.

Der Antrag der Grünen fordert die Bundesregierung
auf, auf die Länder Sachsen-Anhalt, Brandenburg und
Mecklenburg-Vorpommern einzuwirken, damit diese die
Planungsverfahren einstellen. Dass die Landesregierun-
gen das nicht tun werden, weiß man heute schon. Alle
drei Landesregierungen wollen die Autobahn bauen.
Und sie stützen sich dabei auf breite parlamentarische
Mehrheiten. Ohne einen Aushandlungsprozess über
sinnvolle und notwendige Alternativen wäre diese Auf-
forderung anmaßend.

Aber nochmal zurück zum Projekt A 14: Aufschwung,
Arbeit und Wohlstand wurden auch bei der Ostseeauto-
bahn A 20 versprochen. Dieser Autobahnbau hat eine
ähnlich hohe ökologische Brisanz wie die A 14. Er be-
rührt 19 Flora-Fauna-Habitate und zerschneidet drei
EU-Vogelschutzgebiete. Bei der A 20 kann man heute
sagen, dass Aufschwung und Wohlstand für alle nicht
stattgefunden haben. Die erwartete wirtschaftliche Ent-
wicklung ist nicht eingetreten, dafür haben die dort le-
benden Menschen Lärm, Abgase und die Zerschneidung
der Region bekommen. Ich will ein weiteres Argument
anbringen, mit dem sich auch die Landesregierungen
auseinandersetzen müssen. Die A 14 ist immer als Be-
standteil der sogenannten Hosenträgervariante gesehen
worden, zu der auch die umkämpfte und umstrittene VW-
Autobahn A 39 in Niedersachsen und die B 190 neu ge-
hörten. In der gegenwärtigen Bewertung des A-14-Pro-
jekts tauchen die einst als so wichtig bezeichneten Pro-
jektteile nicht mehr auf. Der „Hosenträgerteil“ A 39 in
Niedersachsen ist umstritten. Lediglich die Industrie-
und Handelskammern kämpfen tapfer weiter.

Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker der
Linken haben lange für Alternativen zur A 14 gekämpft
und für den Ausbau der B 189 als einer „A 14 light“ ge-
worben. Diese Bundesstraße verläuft parallel zur A 14
und würde durch ihren Ausbau die Steigerung des Ver-
kehrs, die auf der A 14 zu erwarten ist, auffangen. Aller-
dings bedeutete diese Variante, dass auch die B 5, die
B 106 und die B 189 noch mehr Verkehr bewältigen
müssten. Für die Anwohner der Stadt Lauenburg hieße
das noch mehr des heute schon unerträglichen Lärms
und Drecks, den die Lkws in die Stadt tragen. Hier
müsste gründlich abgewogen werden, ob ein Autobahn-
neubau oder ein Bundestraßenausbau eine bessere Lö-
sung sein kann. Innerhalb dieser Abwägung wünschte
ich mir, dass praktikable Lösungen gefunden werden, die
jenseits von Dogma und Romantik den Anwohnerinnen
und Anwohnern helfen.

An dieser Stelle begrüßen wir die – wenn auch späte –
Einsicht der Grünen, über die Infrastruktur in diesem
Gebiet noch einmal nachzudenken. Ich möchte zumin-
dest daran erinnern, dass die Grünen selber 2004 be-
schlossen haben, dass die A 14 in den Vorrangigen Be-
darf aufgenommen wird. Sie distanzieren sich hiermit
also von ihrem Bundesverkehrswegeplan 2003, was ich
grundsätzlich begrüße. Konkret müssten bei diesem
Nachdenken dann nicht nur Vogelschutzgebiete, sondern



gegebene Reden

Herbert Behrens


(A) (C)



(D)(B)

vor allem auch die Belastungen der Menschen durch
Dreck, Lärm und Unfallgefahren berücksichtigt werden.

Der Antrag der Grünen geht davon aus, dass Mittel,
die beim Autobahnbau gestrichen werden, direkt in den
Ausbau des Schienennetzes gesteckt werden können. Da-
bei übersehen die Grünen aber, dass die Mittel für die
A 14 nicht zweckgebunden im Safe liegen, sondern erst
noch vom Bundestag bewilligt werden müssen. Auch die
Linksfraktion befürwortet den Ausbau der Schiene in der
Fläche. Wir setzen uns ein für eine deutliche Erhöhung
der Mittel für die Investitionen in den Neu- und Ausbau
von Schienenwegen auf 2,5 Milliarden Euro im Jahr. Die
Grünen hingegen wollen lediglich 1,8 Milliarden Euro
pro Jahr. Da sind sie ein Stück unglaubwürdig und vor
allem auch unsystematisch. Umgeschichtet wird zwi-
schen den Verkehrsträgern insgesamt, aber nicht von ei-
nem konkreten Straßenprojekt zu konkreten Schienen-
projekten.

Aus diesen Gründen können wir uns dem Antrag:
„Zukunftsfähige Alternativen zur Nordverlängerung der
Bundesautobahn 14 (Magdeburg–Schwerin) entwi-
ckeln“ mehrheitlich nicht anschließen. Wir werden uns
bei der Abstimmung über diesen Antrag mehrheitlich
enthalten.


Stephan Kühn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708435300

Der geplante Bau der Nordverlängerung der Auto-

bahn 14 von Magdeburg nach Schwerin ist ein beson-
ders absurdes Beispiel für die vorherrschende Verkehrs-
politik in unserem Land.

1,3 Milliarden Euro sollen für die Asphaltpiste durch
Altmark und Prignitz in den Sand gesetzt werden.

Wir sind der Meinung, mit dieser erklecklichen
Summe können wir mehr erreichen, als nur ein 155 Kilo-
meter langes Asphaltband durch die Landschaft zu zie-
hen. Wir können Sinnvolleres für die betroffenen Regio-
nen erreichen, und wir können vor allem Projekte mit
einem höheren verkehrlichen Nutzen realisieren.

Angesichts der knappen Investitionsmittel geht es
künftig darum, angemessene Lösungen zu finden. Auf der
Bundesstraße 189 von Magdeburg nach Stendal – die
derzeit den überregionalen Verkehr aufnimmt – haben
wir heute ein Verkehrsaufkommen von täglich rund
8 150 Fahrzeugen; der Lkw-Anteil liegt bei 10 Prozent.
Wie uns die Zahlen des Bundesamts für Straßenwesen
zeigen, stagniert das Verkehrsaufkommen seit 2005. In
der Prognose, die der A-14-Planung zugrunde liegt, ist
dagegen von 16 000 bis 30 000 Fahrzeugen die Rede,
und man fragt sich angesichts der aktuellen Zahlen, wo
dieses Aufkommen jemals herkommen soll. Aber schon
in den Unterlagen zum Raumordnungsverfahren heißt es
entlarvend: „Die Notwendigkeit der A 14 ist nicht durch
hohe Verkehrsmengen und überlastete Straßenab-
schnitte begründet.“

Genau das ist unser zentraler Kritikpunkt: Der Be-
darf für die Nordverlängerung der A 14 ist bis heute
nicht plausibel nachgewiesen worden. Das heutige und
künftig zu erwartende Verkehrsaufkommen in der Nord-
Süd-Relation Magdeburg–Schwerin rechtfertigt nun ein-
Zu Protokoll
mal keine Maximallösung in Form einer teuren Auto-
bahn, die zudem nicht durchfinanziert ist.

Stattdessen brauchen die Regionen schnell realisier-
bare und vor allem finanzierbare Lösungen. Dazu zählt
unserer Ansicht der angemessene Ausbau des Bundes-
straßennetzes – also der B 189, der B5 und der B 71. Mit
einem Drittel der Kosten des Autobahnbaus lässt sich
die Leistungsfähigkeit dieser Bundesstraßen signifikant
erhöhen. Für diese den örtlichen Gegebenheiten ange-
passten Verkehrsprojekte setzen sich mehrere Bürgerini-
tiativen ein.

Zudem können die für das Autobahnprojekt vorgese-
henen EFRE-Mittel für Bildung, Klimaschutz und die
Förderung klein- und mittelständischer Unternehmen
eingesetzt werden. Das stärkt die Regionen.

Was können wir zusätzlich mit dem eingesparten Geld
in den Regionen alles anschieben? Ganz oben auf der
Liste steht der Ausbau der „Amerikalinie“ Stendal–
Salzwedel–Uelzen, eine Eisenbahnstrecke, die dringend
zweigleisig ausgebaut werden muss. Die Verbindung ist
eine Teilstrecke des sogenannten Korridors Ost, der dem
wachsenden Seehafenhinterlandverkehr dienen soll. Ein
Projekt, das mit einem Nutzen-Kosten-Faktor von 17
aufwarten kann und zudem mit 140 Millionen Euro auch
finanziell überschaubar ist und dem verkehrspolitischen
Ziel dient, mehr Güterverkehr auf die Schiene zu brin-
gen.

Es bleibt also weiteres Geld übrig, mit dem endlich
die Elektrifizierung der Strecke von Lübeck nach Bad
Kleinen finanziert werden kann. Es ist ein verkehrspoli-
tisches Armutszeugnis, dass 20 Jahre nach Vollendung
der staatlichen Einheit immer noch solche Defizite zwi-
schen dem ost- und westdeutschen Eisenbahnnetz beste-
hen.

Jeder Euro für den sinnvollen Ausbau des Bahnnetzes
stärkt die Zukunftsfähigkeit unseres Verkehrssystems.
Wer weg will vom Öl, der muss den Verkehrsträger aus-
bauen, der heute schon weitgehend unabhängig vom
Erdöl ist – also die Bahn. Wer dagegen weiterhin äu-
ßerst zweifelhafte Autobahnprojekte vorantreibt, macht
genau das Gegenteil und verspielt so unsere Zukunft.


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1708435400

Der von den Autobahnen A 2, A 7, A 24 und A 10 um-

schlossene Raum ist straßenverkehrlich weit unter-
durchschnittlich erschlossen. Betroffen sind sowohl die
Anbindung an das Fernstraßennetz als auch die Qualität
des vorhandenen Straßennetzes innerhalb dieses Rau-
mes. Im Bundesvergleich stellt dieser Bereich einen
strukturschwachen ländlichen Raum mit sehr starken
Entwicklungsproblemen dar. Beispielhaft sind hier fol-
gende Strukturmerkmale zu nennen: eine extrem nied-
rige Bevölkerungsdichte, eine unzureichende technische
und soziale Infrastruktur, ein eingeschränktes Angebot
an öffentlichen Verkehrsmitteln, fehlende Arbeitsplätze
im sekundären und tertiären Sektor, ein geringes Niveau
an Investitionstätigkeit, anhaltende Binnenwanderungs-
verluste durch die Abwanderung der jungen Bevölke-
rung, geringe Geburtenzahlen, die mittel- und langfris-



gegebene Reden


Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1708435500



(A) (C)



(D)(B)

tig den Bestand der gesellschaftlich und wirtschaftlich
funktionsfähigen Siedlungsräume und Kulturlandschaf-
ten gefährden und eine periphere Lage im europäischen
Integrationsprozess mit fehlendem Anschluss an das
transeuropäische Straßennetz.

Die Vorhaben der sogenannten Hosenträger-Variante,
zu denen der Neubau der A 14 von Magdeburg über Wit-
tenberge nach Schwerin, der Neubau der A 39 von
Wolfsburg nach Lüneburg, die Schaffung einer leis-
tungsfähigen Verbindung zwischen der A 39 und der
A 14 im Zuge der B 190n und Weiterführung nach Osten
über Havelberg bis zu A 24 bei Neuruppin, die Schaf-
fung einer leistungsfähigen Verbindung von der A 14 bei
Wittenberge bis zur B 96 bei Neustrelitz im Zuge der
B 189/B 198, der Ausbau der B 188 von der A 14 bis
Wolfsburg und der Neubau der B 71n im Raum Haldens-
leben gehören, haben daher das Ziel, infrastrukturelle
Defizite in den direkt betroffenen Regionen zu beseiti-
gen. Es geht im Kern also auch darum, den dort leben-
den Menschen eine lebenswerte Perspektive zu eröffnen.

Vor diesem Hintergrund erscheint es mir geradezu zy-
nisch, wenn die Gegner dieses so wichtigen Infrastruk-
turvorhabens versuchen, die Umsetzung zu verzögern.
mit Klagen, mit der Verbreitung von Halbwahrheiten und
mit der Diskussion über Alternativen, von denen doch je-
der vernünftige Mensch weiß, dass sie keine sind.

Die Strategie, die sich dahinter verbirgt, ist klar: Hier
soll der Öffentlichkeit Sand in die Augen gestreut wer-
den, ein sinnvolles Vorhaben soll diskreditiert und die
Menschen sollen verunsichert werden. Ich sage: Das ist
unanständig!

Wer Minderheitsinteressen auf diese Weise durchset-
zen will, der vergeht sich nicht nur an den Bürgerinnen
und Bürgern in der Altmark, die zu Recht gleiche Chan-
cen für ihre Heimatregion einfordern. Wer so handelt, ist
an fairem Meinungsstreit nicht interessiert, der stellt de-
mokratische Grundprinzipien infrage. Das ist nicht ak-
zeptabel!

Die A 14 stellt ein Verbindungselement zwischen den
Oberzentren Schwerin, Magdeburg, Dessau, Halle/Leip-
zig, Zwickau, Chemnitz und Dresden und der damit ver-
bundenen Anbindung an die Metropolregionen Sachsen-
dreieck, Hamburg und Bremen-Bremerhaven-Oldenburg
dar. Weiterhin wird sie zukünftig zu den bereits vorhan-
denen Fernstraßen auf der Nord-Süd-Relation eine Al-
ternative für die Routenwahl darstellen und entlastet da-
mit die vorhandene Infrastruktur. Insbesondere die
regional bedeutsamen Seehäfen Lübeck, Rostock und
Wismar können von der verbesserten Anbindung des
Hafenhinterlands durch den notwendigen und direkten
Anschluss an das regionale Straßennetz und das überre-
gionale Fernstraßennetz profitieren.

Mit dem Neubau dieser Autobahn in einer Region, die
durch besondere Strukturschwäche und schlechte Er-
reichbarkeit geprägt ist, wird künftig die zwingend er-
forderliche Beteiligung an den Wachstumsprozessen der
Oberzentren und insbesondere der wirtschaftlich dyna-
misch wachsenden Metropolregionen Hamburg und
Sachsendreieck ermöglicht.
Zu Protokoll
Im Hinblick auf die im Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen genannten Prognoseverkehrszahlen ist festzu-
stellen, dass gemäß der Verkehrsprognose für die
BAB 14 für das Jahr 2025 Verkehrsbelastungen von
20 000 bis circa 39 000 Kraftfahrzeugen pro Werktag zu
erwarten sind, wobei die Verkehrsmenge von Norden
nach Süden zunimmt. Die Verkehrsbelastungen weisen
in allen Prognosen – übrigens trotz rückläufiger Bevöl-
kerungszahlen! – nach wie vor auf einen hohen Bedarf
hin. Bei den durchgeführten Berechnungen wurden die
jeweils zum Zeitpunkt der Bearbeitung verfügbaren An-
sätze und Prognosen über die Entwicklung der Sied-
lungs- und Wirtschaftsstruktur sowie der Mobilität und
über die jeweiligen Vorstellungen zum Ausbau der Ver-
kehrsinfrastruktur herangezogen. Alle Entwicklungsan-
sätze und -prognosen wurden im Rahmen der turnusmä-
ßig vorgesehenen Fortschreibungen im Rahmen der
Bundesverkehrswegeplanung weiterentwickelt und zu-
letzt mit der bundesweiten Verkehrsprognose für das
Zieljahr 2025 in Übereinstimmung gebracht.

Im Rahmen der Projektentwicklung für die BAB 14
wurden im Vorfeld der Bedarfsüberprüfung in der Bun-
desverkehrswegeplanung 2003 in der Verkehrsuntersu-
chung Nordost – VUNO, 1995/ 2002 – Netzalternativen
zur Verbesserung der Fernstraßenerreichbarkeit im
Großraum zwischen den Metropolräumen Berlin, Ham-
burg und Hannover untersucht. Derartige Konzeptalter-
nativen enthielten neue und auszubauende Autobahnen
und Bundesstraßen in unterschiedlicher Lage und Ver-
knüpfung. Sie wurden im Hinblick auf ihre verkehrlichen
Vor- und Nachteile ausführlich miteinander verglichen.
Umweltbelange wurden ebenfalls aufbereitet und in die
Abwägungsentscheidung einbezogen – in einem Maße
übrigens, wie es bislang noch nie der Fall gewesen ist.

Die BAB 14 Magdeburg–Wittenberge–Ludwigs-
lust–Schwerin wurde als das wirkungsvollste und vor-
dringlichste Projekt im Untersuchungsraum ermittelt.
Die hohe Wirksamkeit der BAB 14 resultiert aus der di-
rekten Nord-Süd-Führung des Trassenkorridors unter
Einbeziehung der zentralen Orte – Einwohnerschwer-
punkte – Stendal, Wittenberge und Ludwigslust.

Die Umweltrelevanz der Netzkonzeptionen wurde im
Rahmen einer Risikoeinschätzung ermittelt und berück-
sichtigt. Auf Basis der zum Zeitpunkt bekannten Natura-
2000-Kulisse wurde ermittelt, dass keine mit Natura-
2000-Belangen konfliktfreie Lösung vorliegt. Jede Netz-
alternative hätte insbesondere die Querung der beson-
ders sensiblen Elbeniederung erfordert. Die Ausrich-
tung des Trassenkorridors der A 14 auf die Stadtlage
Wittenberge wirkt hier eher positiv.

Auf der Grundlage der Ergebnisse der VUNO haben
sich im Juli 2002 der Bundesminister für Verkehr, Bau-
und Wohnungswesen sowie die Fachminister der Länder
Sachsen-Anhalt, Niedersachsen, Brandenburg und Meck-
lenburg-Vorpommern auf die „Hosenträger-Variante“
als weiter zu verfolgenden Lösungsvorschlag verständigt.
Die einzelnen Netzelemente wurden von den Ländern zur
Fortschreibung des Fünften Bedarfsplans für Bundes-
fernstraßen angemeldet und im Rahmen der BVWP 2003
überprüft und bewertet, als Projekte mit vordringlichem



gegebene Reden






Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1708435600



(A) (C)



(D)(B)

Bedarf in den Bedarfsplan für die Bundesfernstraßen
übernommen sowie durch das Fernstraßenausbauände-
rungsgesetz 2004 bestätigt. Dem gleichzeitig festge-
schriebenen besonderen naturschutzfachlichen Pla-
nungsauftrag wurde im Rahmen der laufenden
Planungen zu dem Projekt in allen beteiligten Bundes-
ländern selbstverständlich umfassend Rechnung getra-
gen. Die Planungen wurden kontinuierlich den aktuellen
naturschutzfachlichen Anforderungen, beispielsweise
aus dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes zur
A 143, Westumfahrung Halle, angepasst.

Der gegen das Projekt immer wieder ins Gespräch
gebrachte Ausbau der vorhandenen Bundesstraßen ist
im Rahmen einer Null-plus-Variante sehr umfangreich
untersucht worden. Dabei wurde festgestellt, dass eine
den bestehenden Bundesstraßen B 189, B 5 und B 106
folgende Bundesfernstraßenverbindung der Null-plus-
Lösung rund 17 Prozent länger ist als die Vorzugsva-
riante, die gewachsenen Verbindungs- und Anbindungs-
strukturen der vorhandenen Bundesstraßen weitgehend
neu entwickelt werden müssen und vorhandene Fahr-
bahnen der Bundesstraßen nur in Ausnahmefällen ge-
nutzt werden können, die neue Fernstraße nahezu voll-
ständig neu gebaut und zusätzlich das Sekundärnetz in
weiten Teilen ergänzt werden muss, der nach dem Be-
wertungsverfahren ermittelte gesamtwirtschaftliche
Nutzen der Null-plus-Lösung um rund 30 Prozent gerin-
ger ist als bei der Vorzugslösung BAB 14.

Allein schon diese Fakten zeigen, wie substanzlos die
ideologisch geprägte Scheindiskussion über angebliche
Alternativen zum A-14-Lückenschluss ist. Sie ist ge-
nauso falsch und unwahr wie der Hinweis auf die angeb-
lich nicht gesicherte Finanzierung. Eine Lüge wird eben
auch dann nicht zur Wahrheit, wenn man sie oft genug
wiederholt. Denn jeder weiß doch: Schon seit dem Früh-
jahr 2009 gibt es eine solide Finanzierungsvereinba-
rung zwischen dem Bund und den beteiligten Ländern.
Und die hat Bestand!

Auch die Ergebnisse der aktuell vom Bundesver-
kehrsministerium abgeschlossenen verkehrsträgerüber-
greifenden Überprüfung der Ansätze des Bedarfsplanes
ergeben keine Notwendigkeit, die A 14 infrage zu stellen.
Es wurden großräumig wirksame Fernstraßenverbin-
dungen wie die BAB 14 ebenso untersucht wie großräu-
mig wirksame Schienenverbindungen. Mit der Bedarfs-
feststellung für die BAB 14 wurde auf der Ebene der
BVWP auch eine generelle Systementscheidung für den
Verkehrsträger Straße getroffen. Dies ist gleichbedeu-
tend damit, dass alternative Verkehrsträger wie zum Bei-
spiel die Eisenbahn, Ziel und Zweck des Vorhabens nicht
in gleichem Maße erfüllen können. Diese Feststellung ist
im Fall der BAB 14 unter anderem aus folgenden Grün-
den plausibel und sachgerecht: Der Planungsraum der
BAB 14 verfügt über eine überdurchschnittliche Anbin-
dung an das Schienenfernverkehrsnetz. Stendal liegt an
der ICE-Fernverkehrsstrecke Berlin–Hannover und ist
Verkehrsknotenpunkt zwischen dem Fernverkehr und
dem regionalen Schienenverkehr. Eine Bahnverbindung
für den Fernverkehr zwischen Magdeburg und Schwerin
ist ebenfalls bereits vorhanden. Das prognostizierte Ver-
kehrsaufkommen auf der geplanten BAB 14 liegt demge-
genüber um mindestens das 10-Fache höher als die Ver-
kehrsnachfrage auf der vorhandenen Bahnstrecke
Magdeburg–Schwerin. Die Verkehrsnachfrage der
BAB 14 ist daher mit der Verkehrsnachfrage der Bahn-
strecke Magdeburg–Schwerin in der Größenordnung
nicht direkt vergleichbar. Für den Fall, dass die Nach-
frage im Personen- oder im Güterverkehr auf der Bahn-
strecke Magdeburg–Schwerin zunehmen sollte, sind
ausreichende Kapazitätsreserven vorhanden.

Abschließend möchte ich herauszustellen, dass ich
keine Zweifel habe, dass der A-14-Lückenschluss und
die Umsetzung der „Hosenträger-Variante“ für die wei-
tere Entwicklung einer in der Gesamtbetrachtung stark
benachteiligten Region von herausragender Bedeutung
ist. Entgegen der Position von Bündnis 90/Die Grünen
stehen nicht nur der Landtag von Sachsen-Anhalt mit
großer Mehrheit von CDU, SPD und FDP sondern auch
nahezu 90 Prozent der Bevölkerung in der Altmarkre-
gion hinter der Realisierung dieses wichtigen Verkehrs-
projekts.

Gestatten Sie mir eine abschließende Bemerkung. Ich
empfehle jedem, der sich ein objektives Bild über die
Notwendigkeit und die enorme Akzeptanz des A-14-Lü-
ckenschlusses machen will: Fahren Sie in die Altmark,
schauen Sie sich dort um und sprechen Sie mit den Men-
schen, die dort zu Hause sind. Dabei werden Sie eines
wahrscheinlich ziemlich schnell feststellen: Die Bürge-
rinnen und Bürger in dieser Region haben langsam kein
Verständnis mehr dafür, wenn selbsternannte „Berufs-
gutmenschen“, von denen viele nicht einmal in der Alt-
mark wohnen, ihnen ständig erklären wollen, was für sie
das Beste ist. Die Menschen sind alt und klug genug, um
selbst entscheiden zu können. Und ihr Votum ist eindeu-
tig: Sie wollen den A-14-Lückenschluss.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708435700

Es wird vorgeschlagen, dass die Vorlage auf

Drucksache 17/4199 an den Ausschuss für Verkehr, Bau
und Stadtentwicklung überwiesen wird. – Damit sind Sie
einverstanden. Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Bettina
Herlitzius, Dr. Harald Terpe, Britta Haßelmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Angebot von Spielhallen mit dem Baugesetz-
buch begrenzen

– Drucksache 17/4201 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit

Auch hierzu wurden die Reden zu Protokoll gege-
ben.

(A) (C)



(D)(B)


Peter Götz (CDU):
Rede ID: ID1708435800

Es ist unstrittig: In den letzten Jahren hat die Anzahl

von Spielhallen, die dem bauplanungsrechtlichen Be-
griff der Vergnügungsstätten zuzurechnen sind, zuge-
nommen. Mit ihrem Antrag wollen die Grünen deshalb
die Baunutzungsverordnung ändern. Es ist kein Geheim-
nis, dass der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und
FDP für das Bauplanungsrecht unter anderem vorsieht,
die BauNVO umfassend zu prüfen. Wie ferner bekannt
ist, laufen zurzeit im dafür zuständigen Bundesministe-
rium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung die Vorbe-
reitungen für die notwendigen Änderungen beim BauGB
und bei der BauNVO. Wir wollen sie nicht einzeln, son-
dern insgesamt in einem Gesetzgebungsverfahren bera-
ten. Es macht wenig Sinn, von der Tierhaltung im Au-
ßenbereich über Kindertageseinrichtungen bis zu den
Vergnügungsstätten jeden Einzelvorgang isoliert durchs
parlamentarische Verfahren zu schicken. Wir sollten bei
unserem Handeln auch an die denken, die in den Kom-
munen damit arbeiten müssen.

Deshalb begrüßt die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
den von Bundesminister Dr. Ramsauer eingeschlagenen
Weg, den notwendigen Änderungsbedarf sorgfältig zu
prüfen, um danach in sogenannten Feldversuchen die
Auswirkungen mit den Betroffenen – nämlich den Städ-
ten und Gemeinden – zu bewerten. Dieses Verfahren hat
sich bei allen Baugesetzbuchnovellen, die ich für die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion bearbeiten und begleiten
durfte, sehr bewährt. Und an Bewährtem sollte man
ohne Not nichts ändern. Durch dieses Vorgehen werden
die Kommunen sehr frühzeitig beteiligt. Das ist uns sehr
wichtig.

So hat das Deutsche Institut für Urbanistik, Difu, im
vergangenen Jahr eine Kommunalumfrage zum Novel-
lierungsbedarf bei der Baunutzungsverordnung ausge-
wertet und veröffentlicht, an der sich 158 Städte und
Gemeinden beteiligt haben. Als Ergebnis der Umfrage
kann festgestellt werden, dass das Instrumentarium der
geltenden BauNVO grundsätzlich zur Bewältigung der
anstehenden städtebaulichen Aufgaben ausreicht.
Gleichwohl sieht die kommunale Ebene in Detailfragen
einen Nachbesserungsbedarf. Wir wollen die kommuna-
len Erfahrungen und Auswirkungen nicht ignorieren,
sondern bei den Beratungen zu den notwendigen Geset-
zesänderungen berücksichtigen. So wurde in den vom
Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
lung gemeinsam mit dem Deutschen Institut für Urba-
nistik organisierten „Berliner Gesprächen“ zum Städte-
baurecht, an denen unter anderem Praktiker aus den
Kommunen beteiligt waren, auch die Fragen nach der
Zulässigkeit von Vergnügungsstätten diskutiert. Dort
wurde deutlich, dass bereits das geltende Bauplanungs-
recht den Kommunen erlaubt, die Ansiedlung von Spiel-
hallen, Kasinos und anderen sogenannten Vergnügungs-
stätten in den einzelnen Baugebieten differenziert zu
steuern. Hierbei ist zu beachten, dass die Steuerung im
Allgemeinen die Aufstellung eines Bebauungsplans
durch die Gemeinde erfordert. Nach dem vorliegenden
Bericht über die „Berliner Gespräche“ scheint es au-
ßerdem einen Trend zu geben, moderne Spielzentren mit
Zu Protokoll
mehreren kerngebietstypischen Spielhallen an Ausfall-
straßen in Gewerbegebieten anzusiedeln.

Unabhängig davon wird die im Antrag der Grünen
angesprochene Problematik der Spielsucht gesehen. Zu
Recht hat sich der Gesundheitsausschuss in dieser Wo-
che mit der Suchtprävention auseinandergesetzt und vor
allem die Fragen des Jugendschutzes erörtert. So sind
bei der Glücksspiel-VO Verbesserungen notwendig. Die
Frage, ob das Baurecht das geeignete Instrumentarium
bietet, diese Negativentwicklung zu verhindern, bedarf
einer sorgfältigen Prüfung. Wir haben bereits heute eine
Reihe von planungsrechtlichen Steuerungsmöglichkei-
ten für die Kommunen, die vor Ort angewandt werden
können.

Für CDU und CSU sind die kommunale Selbstver-
waltung und die kommunale Planungshoheit hohe Gü-
ter, die wir stärken müssen. Die Kommunen müssen in
die Lage versetzt werden, eigenverantwortlich zu ent-
scheiden, was für die Bewohner ihrer Stadt oder Ge-
meinde richtig oder falsch ist. Das ist in jedem Fall bes-
ser als Vorgaben aus Berlin oder Brüssel. Wir sollten
prüfen, wie wir im Gesetzgebungsverfahren zum BauGB
und der BauNVO die Steuerungsmöglichkeiten pla-
nungsrechtlich stärken können und wie durch klarstel-
lende Regelungen die Handhabung vor Ort einfacher
wird. Alle paar Wochen einzelne Bestimmungen der
BauNVO herauszufischen und zu ändern, ist kontrapro-
duktiv und verwirrt die Akteure, weil sie zu Recht davon
ausgehen, dass wir – wie in der Koalitionsvereinbarung
festgelegt – in dieser Legislaturperiode die BauNVO
insgesamt in die Hände nehmen.

Wir werden uns im federführenden Bundestagsaus-
schuss Verkehr, Bau und Stadtentwicklung in diesem
Jahr mit dem Bau- und Planungsrecht ausführlich befas-
sen. Dazu gehört neben Fragen zum Bauen im Außenbe-
reich, Klimaschutzfragen im Innenbereich oder im Zu-
sammenhang mit der Zulässigkeit bestimmter Vorhaben
auch die Frage der Genehmigung von Spielhallen. Des-
halb plädiere ich dafür, das Bau- und Planungsrecht im
Gesamtzusammenhang zu sehen und nicht jetzt durch
Aktionismus und Schauanträge in den Städten und Ge-
meinden Verwirrung zu erzeugen. Vor diesem Hinter-
grund lehnen CDU und CSU den Antrag der Grünen ab.


Daniela Raab (CSU):
Rede ID: ID1708435900

In etwa 8 000 Spielstätten sowie in rund 60 000 Gast-

stätten, Beherbergungsbetrieben und bei konzessionier-
ten Buchmachern sind nahezu 400 000 münzbetätigte
Unterhaltungsautomaten mit und ohne Geldgewinnmög-
lichkeit aufgestellt. Ich glaube, unter uns ist niemand,
dem sie nicht schon längst aufgefallen sind, die zuneh-
mende Zahl der Spielhallen, die in Städten, Gemeinden
und Dörfern fast wie Pilze aus dem Boden wachsen.
Über diese wollen wir heute sprechen.

Manchmal hat man den Eindruck, dass ganze Stra-
ßenzeilen in bestimmten Gegenden fast ausschließlich
aus solchen Spielhallen und Glückstempeln bestehen,
die zwar verdunkelte Fenster haben, sodass man nicht
hineinsehen kann, aber die dafür umso bunter mit
Leuchtreklame oder überdimensionierten Schriftzügen



gegebene Reden

Daniela Ludwig


(A) (C)



(D)(B)

auf sich aufmerksam machen. Nicht nur mir sind sie ein
Dorn im Auge; aber leider werden offenbar immer mehr
von ihnen eröffnet und immer häufiger Konzessionen für
Mehrfachspielhallen und Spiele-Center vergeben. Man
kann das Phänomen ein wenig mit Graffiti vergleichen,
das zunächst an einer Hauswand prangt und dann einen
Nachfolgeeffekt auslöst. Wenn dann schließlich eine
ganze Straßenzeile „zugesprayt“ ist, hat sich längst die
Attraktivität der Straße verändert, Mieter und Ge-
schäftsinhaber fühlen sich nicht mehr wohl, und letzt-
endlich sinkt der Wohnwert der ganzen Gegend, was
sich, wenn man nichts dagegen macht, sogar auf den
Mietspiegel auswirken kann. Ähnlich verhält es sich in
Gegenden mit zahlreichen Spielhallen.

Was kann man gegen diese Flut tun? Die Spielhallen
sind kein Gewerbe, das man sich als Nachbar oder Mie-
ter eines Hauses unbedingt wünschen würde. Es ist
leider richtig, dass Städte und Gemeinden nach der be-
stehenden Rechtslage immer wieder Spielhallen geneh-
migen müssen, wenn die bau- und gewerberechtlichen
Voraussetzungen dafür vorliegen. Spielhallen sind nach
der Baunutzungsverordnung, BauNVO, sogenannte Ver-
gnügungsstätten. Diese sind in Reinen und Allgemeinen
Wohngebieten unzulässig – §§ 3 und 4 BauNVO –, in Be-
sonderen Wohngebieten – § 4 a BauNVO –, Mischgebie-
ten – § 6 BauNVO – und Kerngebieten – § 7 BauNVO –
sind sie hingegen uneingeschränkt bzw. mit gewissen
Einschränkungen zulässig. Besonders im ungeplanten
Innenbereich haben die Gemeinden kaum die Möglich-
keit, die Ansiedlung einer Spielhalle zu unterbinden.
Dies kann bedauerlicherweise auch dann nicht verhin-
dert werden, wenn zum Beispiel die Nähe zu Schulen und
anderen Jugendeinrichtungen vorliegt, was ich für au-
ßerordentlich bedenklich halte.

Gerade in diesen Gegenden halten sich viele junge
oder suchtgefährdete Personen auf, die dann möglicher-
weise der Verlockung nicht widerstehen können, Geld zu
gewinnen oder sich im Spiel mit anderen zu messen.
Schnell kann man in eine Spirale der Abhängigkeit gera-
ten. Deshalb halte ich es grundsätzlich für richtig, den
Kommunen auch baurechtliche Instrumente für die Ge-
nehmigung oder Ablehnung von Spielhallen an die Hand
zu geben; denn nicht nur der schlechte Ruf eilt diesen
Vergnügungsstätten voraus, auch die Tatsachen, dass
Spielsucht in Deutschland ein echtes Problem darstellt,
spricht gegen sie.

Natürlich sind die Nutzer dieser Automatenspielhal-
len oft normale Menschen wie du und ich, die einfach
gerne einmal den Kick eines Automatenspiels erleben
möchten und die nicht gefährdet sind, spielsüchtig zu
werden. Dennoch: Das sogenannte pathologische Spie-
len ist ein eigenständiges psychiatrisches Krankheits-
bild, das in den letzten Jahren immer öfter dokumentiert
und behandelt wird. Insgesamt geht man von circa
100 000 krankhaften Spielern in Deutschland aus, was
unter anderem aus einer Erhebung durch die Bundes-
zentrale für gesundheitliche Aufklärung, BZgA, hervor-
geht.

Jedoch verhehle ich nicht, dass neben dem Gesetzge-
ber und Behörden auch die Automatenwirtschaft hier
Zu Protokoll
hohe Verantwortung trägt und diese durchaus auch ernst
nimmt. Die Branche zeigt den Willen und den Wunsch,
Verantwortung zu übernehmen, was sie schon seit eini-
gen Jahren erfolgreich durch Selbstbeschränkung als
Qualitätsmerkmal verfolgt. So kämpft zum Beispiel der
Verband der Automatenwirtschaft gegen die schwarzen
Schafe in der eigenen Branche und verlangt von seinen
Mitgliedern einen hohen Standard und Verantwortungs-
gefühl. Im Sinne des vorbeugenden Jugend-Medien-
schutzes wurde zum Beispiel von der deutschen Unter-
haltungsautomatenwirtschaft die Automaten-Selbst-
kontrolle, ASK, eingeführt. Intensive Mitarbeiterschu-
lungen und vielfältige Informationen sollen das Auge der
Mitarbeiter schulen und so dazu beitragen, exzessivem
Spielverhalten entgegenzuwirken.

Gesetzgeberisches Handeln ist dennoch notwendig.
Im Ministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
liegt die geplante Novelle des BauGB und der BauNVO
in den letzten Zügen. Die Beratungen sind fast abge-
schlossen, sodass wir im Bundestag diese dann bald in
Gänze beraten können. Deshalb plädiere ich heute da-
für, nicht Einzelpunkte dieser Novelle herauszugreifen,
so richtig sie auch sein mögen. Eine allumfängliche Än-
derung halte ich für sinnvoll, zumal das Ministerium si-
gnalisiert hat, auch Regelungen zu Spielhallen in die
Novelle aufgenommen zu haben. Meines Wissens ist eine
entsprechenden Regelung vorgesehen. Wir sind also auf
einem guten Weg.


Hans-Joachim Hacker (SPD):
Rede ID: ID1708436000

Spielhallen sind für viele Menschen in Deutschland

zur Spielhölle geworden, für diejenigen, die sich durch
die drastische Zunahme dieser Geschäfte in der Nach-
barschaft belästigt fühlen, aber auch für alle, die süchtig
geworden sind – süchtig nach dem Kick am Glücksspiel-
automaten. Der Traum vom großen Gewinn und dauernd
klingenden Münzen erfüllt sich aber nicht. Spielerinnen
und Spieler geraten in einen immer dramatischer wer-
denden Abwärtsstrudel. Spielhallen sind ein großes Är-
gernis in Deutschland. In vielen Kommunen wird da-
rüber geklagt, dass die Spielhallen wie Pilze aus dem
Boden schießen und kaum noch zu bändigen sind. Es ist
wie überall: Wo sich ein Markt ergibt, öffnet ein Ge-
schäft. Und das hat Auswirkungen – nicht nur auf dieje-
nigen, die in eine Spielhalle gehen, sondern auch auf
Nachbarn oder die Tourismuswirtschaft, die sehenswür-
dige Altstädte durch Spielhallen verschandelt sehen.

Um des Problems Herr werden zu können, bedarf es
eines umfassenden Konzeptes, das die verschiedenen
Betroffenen und Betroffenheiten erfasst und ganzheitlich
betrachtet. Dazu gehören zunächst noch stärkere Maß-
nahmen gegen die Spielsucht; denn die effektivste Maß-
nahme gegen Spielhallen ist dann gegeben, wenn es nie-
manden mehr gibt, der sich der Spielsucht in Spielhallen
hingibt. Dazu sind frühzeitige Präventionskampagnen,
auch und gerade in Schulen und Jugendeinrichtungen,
notwendig. Das Lotterie- und Sportwettenmonopol muss
erhalten bleiben. Wir wollen einen kleinen, einen regu-
lierten Markt, auf dem die Suchtbekämpfung ein stärke-
res Gewicht erhält.



gegebene Reden

Hans-Joachim Hacker


(A) (C)



(D)(B)

Inwiefern das Angebot von Spielhallen mithilfe des
Baugesetzbuches begrenzt werden kann, wie es die Grü-
nen in ihrem Antrag fordern, wird bereits seit geraumer
Zeit unter Fachleuten diskutiert. An dieser Stelle nur ein
Hinweis zur Begrifflichkeit: Der Antrag spricht in der
Überschrift von Begrenzungsregelungen im „Baugesetz-
buch“. Tatsächlich wird jedoch eine Änderung der
Baunutzungsverordnung gefordert. Experten verweisen
darauf, dass es schon jetzt Möglichkeiten gibt, wie die
Errichtung von „Vergnügungsstätten“ – und zu denen
zählen offiziell auch die Spielhallen – gesteuert werden
kann. So können alle Arten von Vergnügungsstätten mit-
hilfe der Festsetzung von Bebauungsplänen ausge-
schlossen werden. Die Kommunen können mit Auflagen
bei der Erteilung von Baugenehmigungen verhindern,
dass an bestimmten Orten Spielhallen entstehen. Die
Kommunen können sogar mithilfe der Baunutzungsver-
ordnung spezielle Vergnügungsstätten und dabei dann
ausdrücklich Spielhallen ausschließen oder beschrän-
ken. In der Praxis hilft das aktuell in vielen Kommunen
jedoch nicht; denn viele Städte und Gemeinden sind von
der Entwicklung der Spielhallen in den letzten Jahren
überrascht worden. Sie haben vorher keine Bebauungs-
pläne aufgestellt oder aber – auch das ist eine Möglich-
keit – eine Gemeindekonzeption zur Steuerung von Ver-
gnügungsstätten nicht erstellt. Mit diesen bestehenden
Spielhallen muss man nun umgehen. Auch deshalb ist es
wichtig, das Problem ganzheitlich zu betrachten und
nicht auf eine baurechtliche Frage zu reduzieren. Die
Frage der Suchtprävention stellt sich umso stärker in al-
len Städten und Gemeinden, in denen es bereits eine
große Anzahl Spielhallen gibt. Ich verweise hierbei ins-
besondere auf die Antwort der Bundesregierung auf eine
Kleine Anfrage der SPD-Bundestagsfraktion „Zukunft
des Glücksspielwesens sowie Prävention und Bekämp-
fung von Glücksspielsucht“, Drucksache 17/4358. Dort
werden Hinweise gegeben, mit welchen Projekten der
Spielsucht begegnet werden kann. Das reicht aber noch
nicht aus. In der Antwort wird auch deutlich, dass Stu-
dien ergeben haben, dass genauso von Spielautomaten
in Gaststätten Gefahren für Spielsucht ausgehen. Hier
sieht man, dass lediglich die Beschränkung der Bau-
möglichkeiten von Spielhallen nicht gleich die Spiel-
sucht bekämpft, wenn Spielsüchtige dann eben in die
nächste Gaststätte an den Automaten gehen oder aber
zu Hause im Internet ihrem „Hobby“ frönen.

Mit der Föderalismusreform 2006 ist die Kompetenz
für das Spielhallenrecht auf die Länder übergegangen.
Es ist zwar wichtig, auch hier im Bundestag dieses
Thema zu debattieren, jedoch ist der Grünenantrag nur
ein zahnloser Tiger. Der Vorschlag, Spielhallen in die
Gewerbegebiete zu verlagern, löst das Problem nicht,
und Appelle an die Länder sind bei dieser Thematik kein
zielführender Weg zur Lösung des Problems. Vielmehr
können und müssen die vorhandenen Möglichkeiten des
Bauplanungs- und Bauordnungsrechts schon jetzt aus-
geschöpft werden.

Ich hatte eingangs bereits auf die negative gesell-
schaftspolitische Dimension der Spielsucht hingewie-
sen. Diese Feststellung wird belegt durch das Ergebnis
einer Expertenanhörung im Gesundheitsausschuss des
Zu Protokoll
Bundestages zur Evaluierung der Novelle der Spielver-
ordnung, die am 18. Januar 2011 stattfand. Das
Ergebnis dieser Anhörung kann man in einem Satz zu-
sammenfassen: Die Spielverordnung des Bundes muss
verschärft werden, um die zunehmende Spielsucht im
Bereich der Geldspielautomaten wirksam einzudämmen.
An die schwarz-gelbe Bundesregierung und die Koali-
tionsregierung richte ich den Appell, die Kritik der Ex-
perten, die in der Anhörung deutlich wurde, ernst zu
nehmen. Wenn die Bundesregierung nicht mit wirksamen
Maßnahmen gegen die Spielsucht im Bereich der Geld-
spielautomaten vorgeht, muss ihr vorgehalten werden,
dass sie bewusst eine weitere Zunahme der Zahl der
Süchtigen und die daraus resultierenden sozialpoliti-
schen Folgen in Kauf nimmt. Auch in diesem Fall muss
sie sich entscheiden: zwischen einer Klientelpolitik für
die Automatenindustrie und einer der Gesellschaft in
Deutschland verpflichteten Politik der Eindämmung der
Spielsucht. Wir müssen gemeinsam mit den Ländern die
Gesamtproblematik erörtern und nach wirksamen We-
gen suchen, die die Handlungsmöglichkeiten des Staates
verbessern und den Menschen, die spielsüchtig sind
oder aber sich auf dem Weg dorthin befinden, Hilfe an-
bieten.


Petra Müller (FDP):
Rede ID: ID1708436100

Wer die Spielsucht bekämpfen will, tut dies nicht mit

dem Baugesetzbuch. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen beantragt, die Baunutzungsverordnung dahin
gehend zu ändern, dass Spielhallen zukünftig nur noch
in Ausnahmefällen außerhalb von Gewerbegebieten zu-
lässig sein sollen. Sie erhofft sich von dieser Maßnahme,
Spielhallen aus dem Innenstadtbereich – also aus Be-
sonderen Wohngebieten, Misch- oder Kerngebieten – zu
verbannen. Wer dies fordert, muss sich aber der negati-
ven Folgen bewusst sein: In Gewerbegebieten isoliert
und konzentriert, werden sich die von Ihnen selbst be-
schriebenen typischen Begleiterscheinungen bei ge-
werblichen Spielstätten verstärken, also die Beschaf-
fungskriminalität und soziale Isolation der pathologisch
betroffenen Spieler. Zudem steigt die Gefahr, dass sich
zusätzlich illegale Spielstätten etablieren. Gleichzeitig
wird in einigen Gewerbegebieten oder Ausfallstraßen, in
denen sich Spielbetriebe konzentrieren, bereits heute be-
klagt, dass Grundstückspreise und Mieten gebiets- und
gewerbsuntypisch steigen. Mit den Möglichkeiten eines
Spielbetriebs oder einer Geschäftskette können viele an-
dere Gewerbe- oder Handwerksbetriebe, die sich nicht
ohne Grund in preisniedrigen Außenbezirken angesie-
delt haben, oft nicht mithalten. Hier kommt es unter Um-
ständen zu nicht unerheblichen Wettbewerbsverzerrun-
gen.

Ein weiteres gravierendes Problem kommt hinzu: Au-
ßerhalb der Kernstädte wird sowohl die soziale Kon-
trolle als auch die Durchsetzung der gesetzlichen
Schutzbestimmungen erheblich erschwert. Jeder, der
sich mit Kriminalstatistiken oder Erfahrungen der ge-
werblichen Prostitution beschäftigt hat, muss um diese
Gefahren wissen, und jeder muss gewarnt sein. Dies zu
ignorieren, ist entweder fahrlässig oder Sie müssen sich
nach der Ernsthaftigkeit Ihres Anliegens fragen lassen.



gegebene Reden

Petra Müller (Aachen)



(A) (C)



(D)(B)

Nur um die große Welle zu machen, wohl wissend, dass
der Antrag fachlich kontraproduktiv wirkt, müssen wir
uns nicht zur grünen Selbstbespiegelung hier hinsetzen.
Für mich als liberale Politikerin noch erschreckender
jedoch ist die Selbstverständlichkeit, mit der Sie meinen,
in die Selbstverwaltungsrechte der Kommunen und in
die Gewerbefreiheit eingreifen zu können. Beides ist vom
Grundgesetz geschützt und Grundpfeiler unseres
Rechts- und Wirtschaftssystems.

Das gewerbsmäßige Aufstellen von Glücksspielauto-
maten ist nach § 12 Abs. 1 des Grundgesetzes als wirt-
schaftliche Betätigung geschützt. Den Kommunen er-
laubt das bereits jetzt geltende Bauplanungsrecht, diese
Freiheit einzuschränken, um damit die Ansiedlung von
Spielhallen, Kasinos und anderen Vergnügungsstätten in
einzelnen Baugebieten differenziert zu steuern und städ-
tebaulichen Fehlentwicklungen vorzubeugen. Bei feh-
lender Gebietsverträglichkeit kommt § 15 Abs. 1 Satz 1
BauNVO zum Tragen, bei Ausschlussfestsetzungen greift
§ 1 Abs. 5. Selbst der von Ihnen im Antrag beschriebene
„Trading-down-Effekt“ kann nach herrschender Recht-
sprechung dazu herangezogen werden, eine Genehmi-
gung für eine Vergnügungsstätte zu versagen. Nach
Meinung der FDP-Fraktion sind diese bestehenden In-
strumente völlig ausreichend. Die Baunutzungsverord-
nung lässt den Kommunen viel Spielraum und Kreativi-
tät für lokale Lösungen. Zuletzt würde ein generelles
Verbot der Ansiedlung außerhalb von Gewerbegebieten
die Städte und Gemeinden in ihrem gesetzlich geschütz-
ten Selbstverwaltungsrecht beschränken.

Ich fasse zusammen: Jede weitere bundesrechtliche
Einschränkung der Gewerbefreiheit und der kommuna-
len Selbstverwaltung ist in diesem Fall weder notwen-
dig, noch entspräche sie unserem freiheitlichen Rechts-
und Wirtschaftsgedanken. Einig sind wir uns im Hohen
Hause, dass Automatenspiele die gefährlichste Form
der Spielsucht darstellen. Einig sind wir uns auch, dass
die Politik den an der Spielsucht erkrankten Menschen
in unserem Land unterstützend zur Seite stehen muss –
nicht jedoch im Baugesetzbuch. Den Antrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen lehnt die FDP-Fraktion
deshalb ab.


Heidrun Bluhm (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1708436200

So sehr ich das Anliegen dieses Antrages – wenn das

denn das Anliegen ist –, die Spielsucht einzudämmen
und zurückzudrängen, unterstütze, so sehr zweifle ich
daran, dass das Baurecht dafür ein geeignetes Instru-
ment ist. Vielleicht kann über entsprechende Bestimmun-
gen in der Baunutzungsverordnung das Spielhallenprob-
lem aus den Innenstädten und Wohngebieten verdrängt
und so die Zugangsschwelle für Spielerinnen und Spie-
ler, die noch nicht süchtig sind, erhöht werden. Vielleicht
kann man damit einer Entwertung von Immobilien und
Stadtquartieren, die mit der Nachbarschaft solcher
Spielhallen gestraft sind, entgegenwirken. Das Problem
der Spielsucht, das der vorliegende Antrag zu seiner Be-
gründung benutzt, wird dadurch jedenfalls nicht gelöst.
Im Gegenteil: Dadurch, dass Spielhallen und Spieler
aus Innenstadtlagen in Gewerbegebiete abgedrängt
Zu Protokoll
werden, entzieht sich das Problem höchstens der tägli-
chen öffentlichen Wahrnehmung.

Anstelle kleinerer Spielhallen in den Innenstädten
entstehen dann eben große Glücksspielcenter auf der
grünen Wiese. Spielerinnen und Spieler – und übrigens
auch Spielhallenbetreiber – werden stigmatisiert und
möglicherweise an den Rand der Legalität gerückt. Mit
Verlaub: Das ist genauso wirksam wie die Bekämpfung
der Prostitution durch die Ausweisung von Rotlichtbe-
zirken!

Der Konflikt, mit dem wir es hier zu tun haben, liegt
doch ganz woanders: fast 10 Milliarden Euro Umsatz
der Spielhallen in Deutschland 2009; Umsätze, Ge-
winne und Arbeitsplätze in der Automatenindustrie, Um-
satzsteuer, Gewerbesteuer und Vergnügungssteuer für
die chronisch klammen Kommunen.

Was kann eine Änderung in der Bauordnung dagegen
ausrichten? Und was wollen die Antragsteller entgeg-
nen, wenn die privaten Spielhallenbetreiber auf den
Gleichheitsgrundsatz verweisen und dabei mit dem Fin-
ger auf die ländereigenen Kasinos und Lottoannahme-
stellen zeigen? Wenn wir die Novellierung des Baurechts
dazu nutzen wollen, auch soziale Probleme zu entschär-
fen, bin ich selbstredend dabei. Dann aber konsequent
und gründlich; denn andere Konfliktthemen sind ebenso
drängend wie das hier angesprochene, zum Beispiel die
Bestandsgarantie für Kindergärten und Schulen in
Wohngebieten ebenso wie die Zulässigkeit von Spiel-
und Bolzplätzen sowie anderen Begegnungs- und Erho-
lungsmöglichkeiten dort, wo die Menschen wohnen und
zusammen leben.

Trotz aller Einwände gegen den vorliegenden Antrag:
Wenn Sie mich davon überzeugen, dass die vorgeschla-
genen Änderungen der Baunutzungsverordnung dazu
beitragen, auch nur einen Menschen vor der Spielsucht
zu bewahren, will ich mich dem nicht verschließen.


Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1708436300

Gestern fand im Gesundheitsausschuss ein Experten-

gespräch zur Evaluierung der Spielverordnung statt.
Gegenstand der Anhörung war unter anderem eine ak-
tuelle Studie des Instituts für Therapieforschung Mün-
chen zu den Auswirkungen der Novelle im Jahr 2006.
Die Ergebnisse dieser Studie sind erschreckend: Fast
40 Prozent der in Spielhallen befragten Spieler zeigten
Symptome einer Abhängigkeit oder waren zumindest da-
bei, eine solche zu entwickeln. Rund 50 Prozent der be-
fragten Spieler gaben selbst zu, ihr Spielen nicht mehr
unter Kontrolle zu haben. Mehr als die Hälfte der Spie-
ler erklärten, dass sie sich wegen des Spielens finanziell
einschränken oder sogar zusätzliches Geld beschaffen
müssten.

Wir wissen seit langem, dass Geldspielgeräte in
Spielhallen diejenige Glücksspielform sind, die die
meisten Abhängigen hervorbringt. In einem aktuellen
Modellprojekt der Deutschen Hauptstelle für Suchtfra-
gen hatten rund 87 Prozent der Spieler, die in Bera-
tungsstellen kamen, ein Problem mit diesen Automaten.
Wir sind uns einig, dass ein generelles Verbot des



gegebene Reden





Dr. Harald Terpe


(A) (C)



(D)(B)


Glücksspiels oder solcher Spielhallen der falsche Weg
wäre. Es geht uns um die Reduzierung des Angebots,
denn aus der Suchtforschung ist bekannt, dass die Ver-
fügbarkeit einer Droge oder eines Suchtmittels einen
wesentlichen Einfluss auf die Zahl der Abhängigen hat.
Auch bei Geldspielgeräten wird diese wissenschaftliche
Erkenntnis durch Erfahrungen aus der Praxis bestätigt.
Genauso wie die Zahl der Spielhallen und Spielgeräte in
den letzten Jahren erheblich angestiegen ist, genauso
stieg auch die Zahl der therapiebedürftigen Spieler.

In der bereits erwähnten IFT-Studie geben über die
Hälfte der befragten Spieler an, dass sie Spielhallen den
staatlichen Spielbanken vorziehen, weil erstgenannte
besser erreichbar seien. Auch diese Studie belegt also,
dass die Verfügbarkeit ein wesentlicher Aspekt für die
Entscheidung ist, an Automaten zu spielen. Viele von uns
wissen aus der Wahlkreisarbeit: Deutschlandweit haben
Kommunen seit einigen Jahren mit einer inflationären
Vermehrung von Spielhallen zu kämpfen. Auch die Zahl
der dort aufgestellten Geldspielgeräte hat um 50 Pro-

Entwicklung bestimmter Stadtviertel. Spielhallen gehen
oft mit dem sogenannten Trading-down-Effekt einher,
das heißt, die Attraktivität einer Straße sinkt, Fachge-
schäfte werden durch Ramschläden ersetzt, Mieter zie-
hen weg. Die gesamten volkswirtschaftlichen Kosten,
die durch diese Begleitprobleme entstehen, dürften er-
heblich sein und den Nutzen weit übersteigen.

Wir haben diesen Antrag eingebracht, um die Bun-
desregierung in die Pflicht zu nehmen. Ihr steht mit der
Baunutzungsverordnung ein Instrument zur Verfügung,
mit dem sie den Kommunen helfen und die Versuchung
für abhängige oder zumindest gefährdete Menschen ab-
mildern kann. Wir fordern die Bundesregierung auf: Tun
Sie etwas gegen dieses Problem! Geben Sie den Kommu-
nen mehr Möglichkeiten, sich gegen diese Zunahme von
Spielhallen zu wehren! Begrenzen Sie die Zulassung von
Spielhallen auf Gewerbegebiete, sodass sie nicht mehr
dort, wo die Menschen leben, direkt und rund um die
Uhr verfügbar sind! Und setzen Sie sich bei den Ländern
dafür ein, dass keine Mehrfachkonzessionen mehr erteilt
zent zugenommen. Die Mittel, die die Kommunen dem
entgegensetzen können, sind begrenzt. Spielhallen dür-
fen nach der Baunutzungsverordnung nur in bestimmten
Wohngebieten untersagt werden. Die Bauleitplanung in
vielen Kommunen hat dieses Problem leider nicht von
Anfang an berücksichtigt. Nachträgliche Änderungen
sind aufwendig und langwierig. So sind die Kommunen
weiterhin verpflichtet, neue Spielhallen zu genehmigen,
wenn die bau- und gewerberechtlichen Voraussetzungen
dafür vorliegen. Zudem werden vermehrt sogenannte
Mehrfachkonzessionen beantragt, mit denen große
Spielhallenkomplexe betrieben werden können, die sich
mit Gastronomieangeboten und anderem den Anschein
einer harmlosen Familienunterhaltung geben.

Die Auswirkungen dieser Spielhallenflut sind nicht
nur für die Spieler, sondern auch für die Kommunen ein
erhebliches Problem. Neben einer steigenden Zahl
Spielsüchtiger mit allen bekannten Begleiterscheinun-
gen wie Verschuldung und Beschaffungskriminalität se-
hen wir vielerorts bereits heute negative Folgen für die
und Spielhallen nicht dort zugelassen werden können,
wo sich Kinder und Jugendliche aufhalten! Lassen Sie
die Kommunen nicht im Stich!


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1708436400

Es wird vorgeschlagen, die Vorlage auf Druck-

sache 17/4201 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse zu überweisen. – Auch damit sind Sie ein-
verstanden, wie ich sehe. Dann ist auch diese Überwei-
sung so beschlossen.

Schon sind wir am Ende unserer heutigen Tagesord-
nung. Ich danke Ihnen für das lange Ausharren.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 21. Januar 2011,
9 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen noch
einen schönen Abend.