Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9521
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Europäischen Union mit Afrika solidarisch und
gerecht gestalten“ (Tagesordnungspunkt 14)
strumentalisierung und Vereinnahmung, sei es rechts-
oder linksextremistischer Natur. Wie wir alle zur Genüge
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlage 2
Erklärung
der Abgeordneten Britta Haßelmann im Namen
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Ab-
stimmung über die Beschlussempfehlung und
den Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem An-
trag der Fraktion Die Linke „Beziehungen der
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Bär, Dorothee CDU/CSU 20.01.2011
Barthle, Norbert CDU/CSU 20.01.2011
Bülow, Marco SPD 20.01.2011
Burchardt, Ulla SPD 20.01.2011
Connemann, Gitta CDU/CSU 20.01.2011
Fischbach, Ingrid CDU/CSU 20.01.2011
Friedhoff, Paul K. FDP 20.01.2011
Funk, Alexander CDU/CSU 20.01.2011
Hoppe, Thilo BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
20.01.2011
Kruse, Rüdiger CDU/CSU 20.01.2011
Dr. Lehmer, Max CDU/CSU 20.01.2011
Meinhardt, Patrick FDP 20.01.2011
Nord, Thomas DIE LINKE 20.01.2011
Remmers, Ingrid DIE LINKE 20.01.2011
Scholz, Olaf SPD 20.01.2011
Dr. Steffel, Frank CDU/CSU 20.01.2011
Dr. Strengmann-Kuhn,
Wolfgang
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
20.01.2011
Tressel, Markus BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
20.01.2011
Zimmermann, Sabine DIE LINKE 20.01.2011
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Ich erkläre im Namen der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen, dass unser Votum „Ja“ lautet.
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts: 12. Sportbericht der Bundesregierung
(Tagesordnungspunkt 11)
Klaus Riegert (CDU/CSU): Mit Blick auf das Jahr
2011 und den 12. Sportbericht der Bundesregierung
freue ich mich sehr, auf die beachtlichen Erfolge der
Sportpolitik und des organisierten Sports zurückzubli-
cken und zugleich auch auf künftige Vorhaben und Er-
eignisse vorauszuschauen und aufmerksam zu machen.
Der 12. Sportbericht der Bundesregierung dokumentiert
hierbei über den Zeitraum von 2006 bis 2009 auf mehr
als 130 Seiten sehr umfangreich die sportpolitischen In-
halte und Maßnahmen der Bundesregierung in Koopera-
tion mit dem organisierten Sport. Neben der Retrospek-
tive werden hierbei erstmals – im Kapitel „Gegenwärtige
Planungen und Perspektiven“ – auch zukünftige Vorha-
ben und Projekte benannt. Der Entschließungsantrag der
Koalitionsfraktion mit dem Titel „Den Sport in seiner
Gesamtheit fördern: Chancen einer vernetzten Sportpoli-
tik“ bezieht sich in 16 thematischen Punkten bzw. Ab-
schnitten insbesondere auf diese im Sportbericht be-
schriebenen, künftigen Vorhaben.
Wer immer noch glaubt, dass es beim Sport einzig
und allein um Bewegung oder Körperertüchtigung geht
– oder in den Worten von Sepp Herberger, „das Runde
ins Eckige“ zu befördern –, der irrt gewaltig. Der Sport
in Deutschland ist zentraler Bestandteil des sozialen Zu-
sammenlebens und spielt mittlerweile in beinah fast al-
len gesellschaftlichen Bereichen eine wichtige Rolle.
Und: Der Sport stellt sich im Rahmen seiner Möglich-
keiten verantwortungsvoll eben auch fundamentalen He-
rausforderungen unserer Zeit – sei es im Blick auf die
Bildung und soziale Teilhabe, den demografischen Wan-
del, im Blick auf die Integration und Inklusion, die Um-
welt und Nachhaltigkeit oder gar den Frieden und die
Völkerverständigung. Der Sport verbindet Menschen
und trägt das Potenzial der gesellschaftlichen Verände-
rung, Dynamik und Erneuerung in sich. Aber auch nega-
tiven Begleiterscheinungen und Gefahren des Sports,
wie zum Beispiel Doping, Gewalt, Homophobie, sexuel-
ler Missbrauch oder auch politischer Extremismus, wird
durch eine verantwortungsvolle Sportpolitik Rechnung
getragen und zusammen mit dem organisierten Sport
entschlossen begegnet.
Lassen Sie mich kurz den letzten Punkt noch einmal
betonen, weil dieser mit der Kommunismusdebatte ge-
rade auch wieder aktuell diskutiert wird. Die Politik und
auch der Sport wehren sich zusammen gegen jegliche In-
9522 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
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wissen, wurde der Sport im Nationalsozialismus wie
auch im Kommunismus missbraucht und gegen jegliches
Verständnis von Fair Play, gegenseitiger Anerkennung,
Freiheit und Gleichheit ins Gegenteil verkehrt. Politi-
scher Extremismus hat im Sport keinen Platz.
Die Sportpolitik des Bundes unterstützt den Sport bei
seinen vielfältigen Aufgaben seit Jahren auf hohem und
solidem finanziellem Niveau. Unter der Prämisse eines
strikten Kurses der Haushaltskonsolidierung des Bundes
– und zudem in Zeiten von Finanzkrisen – konnten dabei
die Belastungen für den Sport in vertretbaren Grenzen
gehalten werden. Zudem ist das Verhältnis zwischen
Politik und dem Deutschen Olympischen Sportbund,
DOSB, von Vertrauen und konstruktiver Zusammenar-
beit gekennzeichnet.
Auf der Grundlage der Autonomie des Sports und des
Subsidiaritätsprinzips wird die Sportförderung mit den
angesprochenen, vielfältigen Themen nunmehr einem
ganzheitlichen Sportverständnis stärker gerecht. Hierbei
wird der Sport mit seinen unterschiedlichen Funktionen
und Potenzialen nicht mehr isoliert oder gar reduktionis-
tisch allein nach ministerieller Zuständigkeit betrachtet,
sondern in seiner Gesamtheit bereichsübergreifend und
in Zusammenhang mit den jeweilig gesellschaftlichen
Wechselwirkungen gesehen und entsprechend gefördert.
Auch der Sport als Ganzes ist mehr als die Summe sei-
ner Teile. Den Sport in seiner Gesamtheit zu fördern be-
deutet demnach – entgegen einem monokausalen Ver-
ständnis – zukünftige Chancen einer interdependenten
und vernetzten Sportpolitik stärker zu ergreifen.
Der Grundsatz, über den eigenen Tellerrand und die
zum Teil spezifische Zuständigkeit hinauszuschauen,
nach Verbindungslinien und Anknüpfungspunkten zu su-
chen sowie sprichwörtlich das große Ganze dabei nicht
aus den Augen zu verlieren, ist gleichzeitig auch Ar-
beitsauftrag. Oder in anderen Worten: Durch interminis-
terielle Kooperationen, durch inhaltliche und institutio-
nelle Verflechtungen, durch Verknüpfungen zwischen
verschiedenen Organisationen und politischen Ebenen
bzw. Feldern wird ein Mehrwert für den Sport in unserer
Gesellschaft geschaffen. Diesen Mehrwert gilt es vor
dem Hintergrund eines ganzheitlichen Sportverständnis-
ses und einer vernetzten Sportpolitik zu ergreifen.
Doch um welche inhaltlichen Projekte, Vorhaben und
sportpolitischen Maßnahmen geht es hierbei? Und wie
werden diese entsprechend des vorher dargestellten
ganzheitlichen Sportverständnisses realisiert? Auch
wenn in Verbindung zum Entschließungsantrag der Ko-
alitionsfraktion nicht auf alle 16 Punkte bzw. Abschnitte
und schon gar nicht auf alle Verbindungslinien in ihrer
Vollständigkeit und Komplexität eingegangen werden
kann, möchte ich Ihnen drei Beispiele nennen sowie auf
weitere Topthemen verkürzt eingehen:
So steht beispielsweise die Förderung Dualer Karrie-
ren von Spitzenathleten – mit der Vereinbarkeit von
Beruf/Ausbildung oder Studium mit dem Spitzensport –
neben anderen wichtigen Themen im Fokus sportpoliti-
scher Bemühungen. Dies schließt aber unlängst auch die
Förderung dualer Karrieren von Spitzensportlern mit Be-
hinderungen ein. So konnten in Kooperation zwischen
einer Vielzahl von Ministerien und Bundesbehörden so-
wie in enger Abstimmung mit dem Bundesministerium
des Innern einzelfallbezogene Lösungen und bedarfsge-
rechte Angebote für behinderte Sportlerinnen und Sport-
ler geschaffen werden. Ebenso ist auch die stärkere Ein-
bindung des Bundesinstituts für Sportwissenschaft in die
deutsche Forschungslandschaft mit interdisziplinären
Förderschwerpunkten und Nutzung verschiedener, sich
daraus ergebender Synergieeffekte ein durch und durch
positives Beispiel in diesem Zusammenhang.
Dass Sportpolitik als Querschnittsaufgabe unter-
schiedlicher Politikfelder und -ebenen und als Koopera-
tion zwischen Bund, Ländern sowie entsprechenden Or-
ganisationen verstanden und auch umgesetzt werden
kann, zeigt sich nicht zuletzt am Beispiel von Jugend
trainiert für Olympia, dem Schulsport oder dem Nationa-
len Aktionsplan „IN FORM – Deutschlands Initiative für
gesunde Ernährung und mehr Bewegung“. Hierbei wer-
den Ziele der Bildung, Werteerziehung und der Gesund-
heitsprävention miteinander verbunden und in intermi-
nisteriellen Arbeitsgruppen unter Einbeziehung der
Länder und Kommunen weiterentwickelt.
Auch zeigt im Besonderen unsere Unterstützung der
Bewerbung Münchens zusammen mit Garmisch-Parten-
kirchen und der Kunsteisbahn Königssee um die Austra-
gung der Olympischen und Paralympischen Winter-
spiele 2018, dass wir uns für Nachhaltigkeit, Umwelt-
und Klimaschutz im Sport einsetzen. Dabei zeichnet sich
im internationalen Vergleich die Bewerbung München
2018 vorbildlich durch das umfassende, und rund
100 Millionen Euro schwere Umweltkonzept im Bewer-
bungsetat aus. Dies wird anerkennend im Ausland sogar
als wegweisend bezeichnet, übertrifft bisherige Stan-
dards von Olympischen Spielen und setzt neue Maßstäbe
in Sachen Nachhaltigkeit. Selbst versierte Sportpolitiker
von Bündnis 90/Die Grünen würdigen die Bewerbung
als „durch und durch ökologisches Konzept“. Dies än-
dert sich auch nicht durch die Tatsache, dass die Mehr-
heit der Grünen die Meinung ihrer Experten ignoriert
und nach dem Motto „Destruktion statt Partizipation“
kurz vor Mitternacht und innerhalb einer Viertelstunde
Beratung sich mit dem Parteitagsbeschluss gegen das
Großprojekt stellt. Fernab besseren Wissens um die Fak-
ten und somit jedweder Vernunft und jedweden Verant-
wortungsgefühls ging es hier wohl eher um eine grund-
sätzliche Verdrossenheit gegenüber der Moderne. Der
Rückzug von Claudia Roth aus dem Kuratorium der Be-
werbung zeigt nicht zuletzt den fehlenden Willen der
Grünen, die Bewerbung München 2018 unter ökologi-
schen Gesichtspunkten konstruktiv zu begleiten. Gleich-
wohl des nicht nachzuvollziehenden Rückzuges der Grü-
nen bestehen für das Projekt München 2018 weiterhin
sehr gute Chancen. Auf dem weiteren Weg und Goldkurs
zu München 2018 können die Bewerber, Athleten und
begeisterten Wintersportzuschauer in Deutschland auch
weiterhin auf die kraftvolle Unterstützung durch die
CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag bauen.
Nochmals: Die Austragung von internationalen
Sportgroßveranstaltungen des Behinderten- und Nicht-
behindertensports gehen weit über das singulare Sport-
event und Ereignis hinaus. Auch bei der Bewerbung
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Münchens um die Winterspiele 2018 gilt es ebenso, die
mit dem Sportevent verbundenen Chancen übergreifend
für zum Beispiel die Sportentwicklung, die olympische
Erziehung, die ökologische Vereinbarkeit und Nachhal-
tigkeit, die Integration bzw. Inklusion, für die Optimie-
rung einer leistungsfähigen Verkehrsinfrastruktur oder
einen friedlichen Internationalismus zu ergreifen.
Neben nationalen und internationalen Dimensionen
des Sports und vermeintlichen Superlativen bleibt der
Sport letztlich das, was die Menschen und Bürger in un-
serem Land daraus machen. In Deutschland engagieren
sich 23 Millionen, circa 36 Prozent, der Bürgerinnen und
Bürger freiwillig und unentgeltlich in Sportvereinen, So-
zialverbänden oder anderen Organisationen und leisten
dabei einen unschätzbaren Beitrag für und in unserer Zi-
vilgesellschaft. Dabei profitieren vom bürgerschaftli-
chen Engagement im Sport das soziale Umfeld wie auch
die Freiwilligen selbst. Die CDU/CSU-Bundestagsfrak-
tion hat sich dabei für den Ausbau und die Förderung
des Ehrenamtes stark gemacht und wird sich auch wei-
terhin kraftvoll dafür einsetzen. In Verbindung zur Na-
tionalen Engagementstrategie der Bundesregierung oder
zum Europäischen Jahr der Freiwilligentätigkeit 2011 in
der EU setzen wir uns mit dem Entschließungsantrag
ebenso dafür ein, das Ehrenamt im Sport weiter zu stär-
ken. Im Zuge der Reform der Bundeswehr und des Zivil-
dienstes gilt es, mögliche Perspektiven für das Freiwil-
lige Soziale und Ökologische Jahr im Sport aufzuzeigen.
Auch der neue Bundesfreiwilligendienst – offen für alle
Generationen – ist eine große Chance für die Stärkung
des bürgerschaftlichen Engagements im Sport. Mit viel
Eigeninitiative und Kreativität leben die Bürgerinnen
und Bürger eine solidaritätsstiftende und demokratische
Kultur. Allen ehrenamtlich Engagierten möchte ich an
dieser Stelle für ihr soziales Engagement, für das sie sich
im Alltag mit viel Herzblut und großer Leidenschaft ein-
setzen, herzlich und nachdrücklich danken.
Wie bereits angedeutet ließe sich noch viel länger und
ausführlicher über den 12. Sportbericht der Bundesregie-
rung und die 16 thematischen Punkten des Entschlie-
ßungsantrages der Koalitionsfraktion berichten. Der An-
trag reicht in der inhaltlichen Auseinandersetzung und
sportpolitischen Agenda von Themen, wie zum Beispiel
„der Sport als Schlüssel sozialer Inklusion und gesell-
schaftlichen Teilhabe“, über „Förderung des bürger-
schaftlichen Engagements im und durch Sport“ bis hin
zu beispielsweise „neueren Entwicklungen im Antido-
pingkampf“. An dieser Stelle kann ich nur auf unseren
Antrag verweisen und um Unterstützung bitten.
Ich möchte aber auch abschließend nicht missen, ein
paar Worte zu den mehr als knappen und recht ideen-
schwachen Beiträgen der Opposition insgesamt Stellung
zu verlieren. Der im 12. Sportbericht der Bundesregie-
rung genannten sportpolitischen Agenda mit den beacht-
lichen Erfolgen der Vergangenheit und einem zielgerich-
teten und innovativen Maßnahmenpacket für die
Zukunft scheint die Opposition – quantitativ wie auch
qualitativ – nicht mehr viel hinzufügen zu können. Ob-
gleich sie interessante und zum Teil aktuelle Einzelthe-
men anspricht, beziehen sich diese leider nur selten auf
den Sportbericht und auf künftige Vorhaben. Diese Rat-
und Perspektivlosigkeit zeigt sich auch in jenen Vor-
schlägen der Opposition, die einzig formalstrukturelle
Aspekte der Gliederung des Sportberichtes betreffen
oder sich auf vom BMI bereits angekündigte Ergänzun-
gen im 13. Sportbericht beziehen.
Ich blicke zusammen mit meinen engagierten, vom
Sport begeisterten Kollegen mehr als optimistisch in die
Zukunft und auf das Sportjahr 2011. Die mit Spannung
und Vorfreude erwartete FIFA-Frauenfußball-WM im ei-
genen Land, die Entscheidung um die Austragung der
Olympischen und Paralympischen Winterspiele 2018,
weitere bedeutende nationale und internationale Sport-
wettkämpfe bis hin zu den Aktivitäten in jedem einzel-
nen Sportverein veranlassen mich, nochmals zu wieder-
holen: Der Sport ist in der Gesamtheit mehr als die
Summe seiner Teile. Lassen Sie uns gemeinsam – für
den Sport in unserer Gesellschaft – im Sinne einer ver-
netzten Sportpolitik diese Chancen weiter stärker nut-
zen.
Martin Gerster (SPD): Die SPD-Fraktion würdigt
den 12. Sportbericht der Bundesregierung. Die Jahre
2006 bis 2009, um die es im Bericht im Wesentlichen
geht, sind gute Jahre für den Sport gewesen. Sie waren
geprägt von zahlreichen sportlichen Erfolgen und einer
soliden Finanzierung sowie Verbesserungen der Rah-
menbedingungen für den Sport, unter anderem durch das
Gesetzespaket „Hilfen für Helfer“. Wir als SPD-Fraktion
und der damalige Finanzminister Peer Steinbrück haben
das entscheidend vorangetrieben.
Es ist uns auch ein Anliegen, den zahlreichen für den
Sport engagierten Menschen für die gute, sachorientierte
Zusammenarbeit und ihren Einsatz zu danken. Der Sport
ist nach wie vor eine große Bürgerbewegung, die weit-
gehend von vielen Ehrenamtlichen getragen wird.
Für zahlreiche wichtige Bereiche der Gesellschaft
bringt der Sport enormen Benefit, beispielsweise bei der
Prävention und Rehabilitation, aber auch bei der Integra-
tion von Menschen unterschiedlicher Herkunft, unter-
schiedlicher gesellschaftlicher Milieus und Generatio-
nen. Insbesondere für Menschen mit Handicap entwickelt
der Sport eine unglaubliche Integrationskraft.
Mit großer Sorge sehe ich aber, dass Sport sowohl
beim Deutschen Olympischen Sportbund, bei der Regie-
rung, aber auch bei den Medien zusehends auf Olympia
und olympische Disziplinen und auf Medaillenspiegel
reduziert wird. Dem gilt es entgegenzuwirken.
Nichtolympische Sportarten sind olympische Sportar-
ten von morgen und verdienen daher mehr Beachtung,
als dies im Sportbericht der Bundesregierung der Fall ist.
Wir haben bei der Debatte im Sportausschuss beantragt,
der Arbeit, dem Engagement und den Erfolgen im
nichtolympischen Sport stärker Rechnung zu tragen. Bis
heute ist mir unklar, wieso dieses Anliegen von den Re-
gierungsfraktionen nicht unterstützt wird.
Für großen Ärger bei den Sportverbänden hat im letz-
ten Jahr die Tatsache gesorgt, dass die Zuwendungsbe-
scheide des Bundes für 2010 erst Ende August zugestellt
und die Fördermittel zum Teil erst im September über-
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wiesen worden sind. Das hat den einen oder anderen
Verband in finanziell schwierige Situationen gebracht;
teilweise mussten Verbände Kredite aufnehmen, um Ge-
hälter der Trainer oder Angestellten bzw. Wettkampfge-
bühren zahlen zu können. Ich bin der Meinung, das darf
sich nicht wiederholen. Hier muss die Bundesregierung
dafür sorgen, dass die Bescheide frühzeitig zugestellt
werden und die Fördermittel zu Jahresbeginn bereitste-
hen.
Zu kritisieren ist auch, dass die mit den einzelnen
Sportverbänden getroffenen Zielvereinbarungen wie Ge-
heimpapiere unter Verschluss gehalten werden. Allein
schon aus Transparenzgründen ist es unabdingbar, dass
der Steuerzahler erfährt, welcher Sportverband wofür
wie viel Fördermittel erhält.
Erstaunlich ist im Übrigen, welche früheren Forderun-
gen urplötzlich unter den Tisch gefallen sind und nicht im
Entschließungsantrag der Koalition stehen: Über Jahre
hat die FDP mehr Geld für Sportstätten gefordert. Kaum
an der Regierung – schon vergessen. Über Jahre hat die
FDP gefordert, dass der Sport ins Grundgesetz aufge-
nommen wird. Kaum an der Regierung – schon verges-
sen.
Schade, Chance verpasst!
Dagmar Freitag (SPD): Der 12. Sportbericht der
Bundesregierung lässt unseren Blick zurückgehen auf
den Zeitraum 2006 bis 2009; also eine Zeit, in der
Deutschland ohne ständiges Gezänk, sondern weitge-
hend geräuschlos und verlässlich von der Großen Koali-
tion regiert wurde.
Diese Verlässlichkeit findet sich konsequenterweise
auch im 12. Sportbericht wieder. Neben der Sicherstel-
lung einer stabilen Finanzierung des Spitzensports auf
hohem Niveau im Einzelplan 06 oder der Unterstützung
der Stiftung Deutsche Sporthilfe wurden beispielsweise
auch die Ansätze im Einzelplan 05 des Auswärtigen Am-
tes von 2 768 Millionen Euro in 2006 auf 5 272 Millionen
Euro hochgefahren: Ausdruck der großen Wertschätzung
des Sports auch auf dem Feld der Krisenprävention oder
beim Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen durch den
damaligen Außenminister Steinmeier. Über die Mittel-
kürzungen von Schwarz-Gelb in diesem und anderen Be-
reichen werden wir uns bei der Debatte zum 13. Sportbe-
richt dann ausführlicher unterhalten.
„Größter und unverzichtbarer Förderer des Sports ist
die Öffentliche Hand“, heißt es auf Seite 17 des Berichts –
richtig! Der Steuerzahler als Hauptsponsor; da sollte
man doch meinen, dass Parlament und Bundesregierung
als seine Vertreter auch Rechte gegenüber dem Zuwen-
dungsempfänger hätten. Gab es im 10. Sportbericht ne-
ben dem unstrittigen Verweis auf die Autonomie des
Sports noch den Hinweis, dass sich „für den Sport als
Bestandteil der Gesellschaft insbesondere da Konse-
quenzen ergeben, wo die Vergabe öffentlicher Mittel an
die Einhaltung gesetzlich normierter Rahmenbedingun-
gen geknüpft ist“, finden wir seit 2006 unter Punkt 5.1
nun folgende Kernformulierung: „Jede sportpolitische
Maßnahme muss in Anerkennung der Unabhängigkeit
und des Selbstverwaltungsrechts des Sports erfolgen, der
sich selbst organisiert und seine Angelegenheiten selber
regelt“; von denkbaren Konsequenzen ist hingegen keine
Rede mehr. Dass solch eine Formulierung just im Jahr
2006, kurz nach Gründung des DOSB, den Weg in den
Sportbericht der Bundesregierung fand, ist aber sicher
nur ein zeitlicher Zufall. Glücklicherweise muss man
sich diese Lesart der Bundesregierung nicht zu eigen
machen, schon mal gar nicht als Parlamentarier.
Bereits seit Jahren diskutieren wir über die Wege zu
einer erfolgversprechenden und effektiven Dopingbe-
kämpfung. Der Weg dahin ist steinig, und die bisherigen
Schritte können aus unserer Sicht nur Zwischenetappen
sein. Die Verschärfung der gesetzlichen Vorschriften im
Jahr 2007 war nur ein kleiner Schritt, ein großer Wurf
scheiterte an unserem Koalitionspartner und der massi-
ven Einflussnahme durch den organisierten Sport. Aller-
spätestens nach der Evaluation dieser Maßnahmen wer-
den wir die Diskussion über weitere Maßnahmen wieder
auf der Tagesordnung haben, da bin ich sicher.
Dieser Sportbericht sollte erstmalig auch einen Blick
in die sportpolitische Zukunft werfen. Hierzu gehört
auch die Entwicklung der Nationalen Anti Doping
Agentur – finanziell wie strukturell. Welche Maßnahmen
der Bundesregierung sind vorgesehen, um die NADA
bei wachsenden Aufgaben zu stärken? Wie sieht die
Bundesregierung den starken Einfluss des Sports auf die
NADA? Hierzu finde ich nichts im Bericht – aber diesen
und anderen Fragen im Kampf um einen sauberen Sport
dürfen wir uns nicht entziehen. Dass wir uns dieser Auf-
gabe stellen, kann ich für meine Fraktion versichern.
Joachim Günther (Plauen) (FDP): Die FDP-Frak-
tion im Deutschen Bundestag begrüßt, dass im 12. Sport-
bericht der Bundesregierung die Bedeutung des Sports in
all seinen Facetten dargelegt wird – vom Breitensport bis
zum Spitzensport. Der Bericht selbst stellt vorrangig die
Maßnahmen der Sportpolitik des Bundes dar, dokumen-
tiert aber auch, dass Bund, Länder und Kommunen als
Gesamtheit wirken müssen, um optimale Ergebnisse zu
erzielen. Waren frühere Berichte eher vergangenheitsbe-
zogen, so ist der 12. Sportbericht der Bundesregierung
nunmehr erstmalig auch mit konkreten Planungen und
Perspektiven versehen, wie das Niveau des Spitzen-
sports in Deutschland gehalten werden soll.
So ist die Unterstützung für die Olympiabewerbung
Münchens 2018 ein zukunftsweisender Schritt, um
Deutschland als Gastgeber großer Sportveranstaltungen
noch mehr zu etablieren. Die Begeisterung, die dabei
von Fans und Aktiven gleichermaßen getragen wird,
schweißt zusammen und lässt jede Integrationsdebatte
viel leichter erscheinen. Daher fordern wir die Bundesre-
gierung auf, die Olympiabewerbung Münchens 2018
auch weiterhin kraftvoll zu unterstützen sowie die sich
bietenden Chancen der Sportentwicklung, der olympi-
schen Erziehung, der ökologischen Vereinbarkeit und
Nachhaltigkeit, der Integration und der Völkerverständi-
gung zu nutzen. Die ablehnende Haltung der Grünen be-
kräftigt deren Haltung als Dagegen-Partei. Und dabei
zeichnet sich dieses Bewerbungskonzept sehr vorbild-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9525
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(D)(B)
lich dadurch aus, dass es mit seinem Umweltkonzept
auch klare Bekenntnisse zu diesen Fragen enthält. Aber
auch hier haben sich die Grünen wie bei Stuttgart 21 alle
vorherigen Überlegungen aus dem Kopf geschlagen und
rennen nur noch ihrer Wahlkampfstrategie hinterher.
Doch ist der Sport nicht nur wichtig für die Gesund-
heit, das Wohlbefinden und die Integration, sondern auch
für die Wirtschaft. Man schätzt, dass der Sport als Wirt-
schaftsfaktor einen Anteil von 1 bis 3 Prozent zum Brut-
toinlandsprodukt der EU-Mitgliedstaaten beiträgt. Daher
begrüßen wir auch das gemeinsame Vorgehen von BMI
und BMWi bei der Initiative „Sport und Wettbewerb“.
Eine Anpassung der europäischen Wettbewerbsregeln an
sportrelevante Sachverhalte ist dringend notwendig, um
Rechtssicherheit zu schaffen und die Finanzierung des
Breitensports, die zum Teil auch aus Einnahmen der Ver-
bände stammt, zu sichern.
Von unschätzbarem Wert ist auch das ehrenamtliche
Engagement für das Sportsystem in Deutschland. Bedau-
erlicherweise ist die Anzahl freiwillig Engagierter in
Sportvereinen rückläufig, dennoch entspricht deren Ar-
beitsleistung einer jährlichen Wertschöpfung von 6,6 Mil-
liarden Euro. Das ist beachtenswert! Diesen engagierten
Bürgern gebührt unsere Anerkennung und unser Dank.
Um erfolgreich Sport zu treiben und auch im interna-
tionalen Vergleich wettbewerbsfähig zu sein, müssen
ausreichende Trainingsmöglichkeiten vorhanden sein.
Wir wollen die Erhaltung der Trainingsanlagen in unse-
ren Bundesstützpunkten und unserer Wettkampfpro-
gramme. Dies sollte territorial ausgewogen sein, sodass
eine möglichst große Anzahl an Regionen von der An-
siedlung profitiert. So haben wir zum Beispiel in Ober-
hof und Ruhpolding große Stadien, in denen unter ande-
rem die Biathlonwettbewerbe ausgetragen werden, die
mehrere Tausend Zuschauer anlocken. Den Sport zu den
Menschen zu bringen und neue internationale Wettbe-
werbe durchzuführen, das ist ein wichtiges Instrument
zur Gewinnung neuer Sportler. Dass das funktioniert,
zeigen Veranstaltungen wie der Parallelslalom in Mün-
chen und der Biathlon auf Schalke.
Doch hat der Sport auch seine Schattenseiten. Wir
müssen weiterhin unablässig Doping bekämpfen. Das ist
die Grundlage für die Chancengleichheit im Sport. Die
NADA hat dabei meiner Meinung nach eine weltweite
Vorreiterrolle eingenommen. Es fehlt jedoch nach wie
vor an einer besseren internationalen Abstimmung der
Dopingbekämpfung. Ohne diese Abstimmung und An-
gleichung wird auch die Chancengleichheit verschoben.
Das müssen wir ändern. Entwicklungsmöglichkeiten ha-
ben wir auch, wenn es um die duale Karriere unserer
Spitzensportler geht. Das funktioniert bei der Bundes-
polizei und beim Zoll zum Beispiel recht gut. Diesen
Weg müssen wir weiter ausbauen. Wir müssen uns Ge-
danken darüber machen, wie wir dies über Sponsoring,
eventuell auch mit Wirtschaftsunternehmen aufbauen
können.
Dass der Sport nunmehr auch im Lissabon-Vertrag in
seiner gesellschaftlichen Bedeutung gewürdigt wird, be-
grüßen wir ausdrücklich, jedoch ist die Beachtung und
Wahrung der Autonomie des Sports auch weiterhin uner-
lässlich, gerade in juristischer Hinsicht. Die Sportge-
richtsbarkeit ist auf jeden Fall zu erhalten, sonst gehören
übersichtliche und faire Wettkämpfe der Vergangenheit
an.
Die Entschließungsanträge der Opposition, die sich
auf rein formal-strukturelle Aspekte der Gliederung des
Sportberichts beschränken, haben aus meiner Sicht zum
Teil die Form einer Alibiveranstaltung. Korruptionsbe-
kämpfung wird durch andere Behörden durchgeführt.
Die von der SPD eingebrachten Änderungsanträge sind
ausführlich beraten worden bzw. finden sich in der Glie-
derung wieder. Aus diesen Gründen lehnen wir diese
Anträge ab.
Frank Tempel (DIE LINKE): Der vorliegende Sport-
bericht der Bundesregierung stellt fest – das möchte ich
ganz vorn anstellen –, dass unsere Republik sowohl im
Breitensport als auch im Spitzensport einiges aufzuwei-
sen hat. Das kann auch ruhig einmal gelobt werden. Von
einem Bericht der Bundesregierung erwarte ich aber
mehr als nur die einseitige Betrachtung positiver Bilan-
zen. Selbstzufriedenheit bedeutet Stillstand, und Still-
stand ist häufig der erste Schritt zurück. Ist denn wirk-
lich alles super und das war’s dann? Muss ein solcher
Bericht nicht noch viel stärker erkannte Probleme auf-
zeigen? Muss er nicht auch Aufgabenstellungen für die
Politik auflisten und die Differenzen zwischen Gewoll-
tem und Erreichtem untersuchen?
Die Fraktion Die Linke möchte bei aller Würdigung
des Erreichten die Gelegenheit nutzen, noch einmal ei-
nige Aufgaben für die Zukunft aufzuzählen. Im Bericht
wird auf die Entwicklung der Mitgliederzahlen in den
Vereinen eingegangen. Was fehlt, ist die Frage, inwie-
weit der Zugang zum Sport, zu den Sportvereinen, jedem
Bürger möglich ist. Wie sieht es denn für Bürger mit ge-
ringem Einkommen aus? Wie sieht es ganz besonders
für die Kinder und Jugendlichen in einkommensschwa-
chen Familien aus? Ist es nicht so, dass ihre Möglichkei-
ten nach wie vor stark eingeschränkt sind? In Ihrem Be-
richt spielt diese Frage überhaupt keine Rolle. Ich hoffe,
dass dies im aktuellen Vermittlungsausschuss zum
Harz-IV-Regelsatz und zum Bildungspaket eine Rolle
spielt! Bisher hat man davon allerdings nichts gehört.
Es geht aber nicht nur um die Zugangsmöglichkeiten
für Einkommensschwache. Wie sieht es mit den Mög-
lichkeiten für Menschen im ländlichen Raum oder für
Menschen mit Behinderungen aus? Sehen sie dort keine
Probleme? Ist da alles gut und fertig? Ich weiß ja, dass
fast alle von Ihnen auch aktiv in ihren Wahlkreisen un-
terwegs sind. Es wird Ihnen im Kontakt mit den Verei-
nen doch aufgefallen sein, dass die Baustellen noch rie-
sengroß sind. Die Zuständigkeit ist hier sehr schnell auf
die Ländern geschoben. Es wurde aber in den letzten
Jahren durchaus gezeigt, dass auch der Bund seinen An-
teil leisten kann, wenn die politische Bereitschaft dazu
vorhanden ist. Die größten Defizite liegen in den neuen
Bundesländern. Auf Seite 129 im Sportbericht finden sie
solche Zahlen: In Baden-Württemberg sind rund 35 Pro-
zent der Bevölkerung im Deutschen Olympischen Sport-
bund (DOSB) organisiert, in Thüringen rund 16 Prozent,
9526 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
(A) (C)
(D)(B)
ebenfalls rund 36 Prozent in Rheinland-Pfalz, in Sachsen
nur rund 13 Prozent. Im Bericht finden Sie Zahlen, aber
keine Erklärung dafür. Immerhin war es richtig und not-
wendig mit dem „Goldenen Plan Ost“ diese Defizite ab-
zubauen. Marode Sportstätten sollten hier saniert wer-
den. Der Gedanke war richtig, und es sind auch
Ergebnisse da. Laut Ihrem Bericht ist dieser Plan nun
2009 ausgelaufen. „Ersatzlos gestrichen“ ist da doch
wohl etwas präziser. Die Bezeichnung „ausgelaufen“
lässt den Eindruck entstehen, die Aufgabe sei erfüllt.
Das wollen Sie doch aber nicht ernsthaft behaupten?!
Alleine in meinem Landkreis kann ich Ihnen genü-
gend Beispielen von maroden Sportstätten nennen. In ei-
ner Stadt ist es die Kegelbahn, die wegen baulicher Män-
gel keine Spielzulassung erfährt, in einer anderen Stadt
ist es nicht möglich, für einen Fußballverein mit sechs
Kindermannschaften, einer Frauenmannschaft, zwei
Männermannschaften und einem Altherrenteam wenigs-
ten einen zusätzlichen Bolzplatz für das Training zu be-
kommen. Die Kommunen und Länder fühlen sich
finanziell zu einer Lösung nicht mehr in der Lage, und
im Bericht der Bundesregierung findet all dies keine Er-
wähnung.
Ich sage es nochmal: Es ist wirklich schon einiges er-
reicht worden, und es gibt viele Länder, die sich deut-
sche Möglichkeiten in der Sportentwicklung wünschen.
Wenn das aber so bleiben soll, muss aber auch von allen
Seiten etwas dafür getan werden. Investitionen in den
Breitensport, insbesondere in den Kinder- und Jugend-
sport, rentieren sich für die Gesellschaft mehrfach. Ich
rede von Gesundheitspolitik, von Sozialpolitik und ganz
sicher auch von Kriminalprävention. Ich rede von der
Wichtigkeit funktionierender Vereinsstrukturen mit al-
lem dazugehörigen Ehrenamtsengagement für das Zu-
sammenleben in unseren Städten und Gemeinden.
Ich fordere deswegen nochmals im Auftrag meiner
Fraktion: Der Goldene Plan muss wieder aufgenommen
werden und auf die strukturschwachen Regionen der al-
ten Bundesländer ausgeweitet werden! Die Arbeit der
Vereine gerade mit hohem Nachwuchsanteil muss unbe-
dingt durch einen öffentlichen Beschäftigungssektor ge-
fördert werden. Mit dieser personellen Unterstützung
könnte auch eine Begleitung der Programme gegen
Rechtsextremismus erreicht werden. Es ist gut, dass es
viele solcher Programme gibt – aber das Problem selbst
ist doch noch nicht behoben. Der Bericht erweckt den
falschen Eindruck, man habe alles im Griff, aber so weit
sind wir noch lange nicht.
Der Sportbericht der Bundesregierung muss in Zu-
kunft mehr leisten als nur Selbstlob. Wir wollen weiter-
kommen, weiterentwickeln – und dazu gehört eben auch
ein Bericht über die Probleme und Herausforderungen.
Das Ziel muss bleiben, jedem Bürger in diesem Land ei-
nen einfachen Zugang zum Sport zu ermöglichen. Ein
vollständiger Bericht muss zeigen, wie weit wir davon
noch entfernt sind.
Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Lassen Sie mich zunächst einige grundsätzliche Bemer-
kungen zum 12. Sportbericht der Bundesregierung ma-
chen. Aus meiner Sicht ist es gut, dass wir den Bericht
haben. In solcher Art und Ausführlichkeit gib es dies in
keinem anderen Politikfeld. Ich möchte deswegen ein di-
ckes Lob für die umfassende Recherchearbeit ausspre-
chen, die dem zugrunde liegt. Der Sportbericht der Bun-
desregierung hat mir und meinen Mitarbeitern über die
Jahre immer dabei geholfen, über die Situation im Sport
auf dem Laufenden zu sein und Bilanz zu ziehen. Er-
wähnen möchte ich, dass sich der Sportbericht über die
Jahre entwickelt und zum Positiven verändert hat. Er ist
mittlerweile sehr neutral und sachlich, was ich schätze.
Perfekt ist er aber noch immer nicht. In zukünftigen
Sportberichten der Bundesregierung sollten Probleme in
verschiedenen Bereichen deutlich thematisiert und mög-
liche Lösungsalternativen aufgezeigt werden. Wir Sport-
politiker haben dann zwischen dem einen oder dem an-
deren zu entscheiden.
Beispielhaft hierfür stehen die Probleme bei der Na-
tionalen Anti Doping Agentur (NADA), bei der es in
kurzer Zeit zu viele Geschäftsführerwechsel gab und die
Organisationsstruktur offensichtlich nicht optimal war.
Auch die unzulängliche Dopingprävention von der Bun-
desregierung über die NADA bis zu den Ländern und
Verbänden, nach wie vor ein Stiefkind, will ich an dieser
Stelle erwähnen. Willensbekundungen alleine reichen
nicht aus. Hier muss deutlich mehr kommen, und ich er-
warte Vorschläge der Regierung, wie es in den nächsten
Jahren weitergehen soll. Auch sollte aufgezeigt werden,
wie die Länder, der organisierte Sport und die Wirtschaft
besser einbezogen werden können.
Ein anderes Beispiel sind, die Vorgänge in der Sport-
medizin in Freiburg, die im Kapitel „Dopingbekämp-
fung“ beschrieben werden. Es wird erwähnt, dass keine
Bundesmittel berührt worden sind, und damit war
Schluss. Hier würde ich mir wünschen, dass dort auch
steht: Der Fall Freiburg hat gezeigt, dass es strukturelle
und diverse andere Probleme gab. Die Politik muss sich
nun darüber Gedanken machen, wie sie in Zukunft ver-
hindern kann, dass etwas Ähnliches nochmals geschieht
und wie oder welche Kontrollmechanismen eingebaut
werden müssen.
Dann die Studie „Kiggs“ zur Fitness und Bewegung
von Kindern und Jugendlichen: Anfang 2001/2002 gab
es die Überlegung, diese zu unterstützen. Sie ist im
Sportbericht auch aufgearbeitet worden, und es wird da-
rauf hingewiesen, dass die Studie abgeschlossen worden
ist. Mich interessiert aber auch: Wo und wie geht es wei-
ter? Haben wir als Sportausschuss hierzu einen Hand-
lungsbedarf oder ein eigenständiges Interesse, müssen
wir das unterstützen oder überlassen wir das dem Ge-
sundheitsministerium? Ein eigenes Kapitel, in dem alle
vier Jahre über den Fitness- und Gesundheitszustand von
Kinder- und Jugendlichen berichtet wird, ist wünschens-
wert.
Insgesamt brauchen wir noch mehr Ehrlichkeit und
weniger Schönfärberei. Nur so kommen wir auf Dauer
weiter. Vieles ist zwar schon gut oder über die Jahre gut
geworden. Aber es gibt weiterhin viel zu tun.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9527
(A) (C)
(D)(B)
Eine Bemerkung noch zum Kapitel über Sport, Um-
welt und Natur. Dieser Bereich ist im Sportausschuss
eher nebensächlich, fällt im Sportbericht aber erfreuli-
cherweise relativ ausführlich aus und zeigt, dass im Be-
richtszeitraum viel passiert ist, was ich ausdrücklich gut-
heiße. Leider existiert der „Beirat für Umwelt und
Sport“ seit einem Jahr nur noch auf dem Papier. Die
Bundesregierung hat ihn seitdem nicht mehr einberufen.
Dies ist eines der vielen Versäumnisse dieser Regierung.
Ich würde gerne wissen, wie ernst man das wirklich
nimmt. Wann wird der „Beirat für Umwelt und Sport“
wieder ins Leben gerufen?
Der Sportbericht ist für uns gewissermaßen auch ein
Arbeitsbuch mit Aufträgen für die nächsten Jahre. Ich
sehe diesbezüglich klare Schwerpunkte weiterhin im
Anti-Doping-Kampf. Hier muss unter anderem eine bes-
sere Präventionsstrategie und -praxis erarbeitet werden.
Es genügt nicht die WADA-Kriterien formaljuristisch zu
erfüllen. Wir wollen den Geist eines sauberen, manipula-
tionsfreien Sports bis in den letzten Winkel der Sport-
welt getragen sehen.
Unter Manipulation fällt allerdings nicht nur Doping.
Eine bisher stark unterschätzte Gefahr ist der Wettbetrug
und die Korruption. Nach Expertenmeinungen haben wir
hier bisher nur die Spitze des Eisberges gesehen. Im Ver-
gleich zu anderen Bereichen der Gesellschaft, in denen
ähnlich viel Geld bewegt wird, muss man davon ausge-
hen, dass da noch viel Unentdecktes unter der Oberflä-
che lauert. Die besonderen Strukturen im Sport – häufig
mit alten Seilschaften und engen persönlichen Kontakten
der Beteiligten – lassen viel Raum für Fantasie. Immer
wieder kommen ja auch Fälle von Korruption und per-
sönlicher Bereicherung ans Tageslicht – in großem Aus-
maße bisher vornehmlich im internationalen Bereich. Es
wäre jedoch naiv, zu denken, dass wir in Deutschland
auf einer Insel der Glückseligen leben. Aus diesem
Grund fordern wir in unserem Antrag, in zukünftigen
Sportberichten ein eigenes Kapitel mit der Berichterstat-
tung darüber zu machen, was im Bereich der Verbände,
von Landesregierungen, Bundesregierung sowie auf in-
ternationaler Ebene getan wird, um Korruption und Ma-
nipulation zu bekämpfen. Weitere Initiativen in dieser
Hinsicht bereiten wir vor. Es wäre auch wünschenswert,
von der Bundesregierung Vorschläge in dieser Richtung
zu hören. Erfreulicherweise äußerte sich der Vertreter
des Bundesinnenministeriums im Sportausschuss äu-
ßerst wohlwollend zu unserem Antrag, sodass wir davon
ausgehen, dass unsere Anregung aufgenommen wird
und im nächsten Sportbericht ihren Niederschlag findet.
Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär beim
Bundesminister des Innern: „Wir wissen, dass Sport für
die Aktivierung und den Zusammenhalt einer modernen
Gesellschaft unverzichtbare Beiträge leistet und dass
Deutschland auf großartige Traditionen und Leistungen
im Sport verweisen kann, die es zu bewahren und zu ent-
wickeln gilt.“ Dies ist der erste Satz des Koalitionsver-
trages zum Thema Sport. Er könnte aber auch zugleich
das Motto des 12. Sportberichts der Bundesregierung
sein. Dieser gibt einen umfassenden Überblick über die
Sportpolitik in den Jahren 2006 bis 2009. Zudem richtet
er – aufgrund des Beschlusses des Deutschen Bundesta-
ges vom 5. Juni 2010 – erstmals den Blick nach vorn.
Der Sportbericht zeigt eindrucksvoll, dass die Sportpoli-
tik nicht nur eine Sache des Sportministeriums ist. Na-
hezu alle Ressorts leisten bedeutsame Beiträge.
Ich möchte mich heute auf einige Eckpunkte des
12. Sportberichts beschränken, da wir den Bericht im
Sportausschuss ausführlich beraten haben. Wir blicken
auf erfolgreiche Jahre der Sportförderpolitik zurück und
wollen dies in Zukunft so fortsetzen. Im Mittelpunkt
steht entsprechend der Zuständigkeit des Bundes die
Spitzensportförderung.
Die wichtigste Voraussetzung ist, für eine solide fi-
nanzielle Förderung des Spitzensports auf hohem Ni-
veau zu sorgen.
Die Sportförderung der Bundesressorts betrug im Be-
richtszeitraum circa 832 Millionen Euro. Aus dem Etat
des BMI mit rund 559 Millionen Euro konnte der vom
DOSB im Jahr 2007 vorgelegte Stufenplan „Zur Zu-
kunftsfähigkeit der Spitzensportförderung in Deutsch-
land“ in den wesentlichen Punkten umgesetzt werden.
Ich bin sicher, dass wir auch künftig im internationalen
Sport eine führende Rolle unter den Sportnationen ein-
nehmen werden.
lm Koalitionsvertrag finden wir den Hinweis auf die
duale Karriere, die auch Spitzensportlern mit Behinde-
rung ermöglicht werden soll. Dieses Ziel konnten wir
bereits umsetzen. Ab diesem Jahr gibt es einen Stellen-
plafond im Umfang von zehn Stellen, um Sportlerinnen
und Sportlern mit Behinderung den Zugang zu einer
„dualen Karriere“ zu ermöglichen.
Eine unbestrittene Schlüsselaufgabe für Politik und
Gesellschaft ist die Integration. Auch hier leistet der
Sport bereits einen wichtigen Beitrag. Wir haben in der
Vergangenheit – nicht zuletzt bei der Fußball-WM in
Südafrika – immer wieder erleben können, wie gegen-
seitiges Verständnis und Respekt über kulturelle, sprach-
liche und soziale Grenzen hinweg aufgebaut werden
konnten. Die Bundesregierung hat bereits seit 1989 das
vom BMI finanzierte Programm „Integration durch
Sport“ umgesetzt. Im Berichtszeitraum wurde das Pro-
gramm erneut mit einer beträchtlichen Summe unter-
stützt.
Wir Sportpolitiker fühlen uns neben der Begeisterung
für den Sport auch dafür verantwortlich. Entwicklungen
entgegenzutreten, die die Werte des Sports gefährden.
Die Bundesregierung setzt daher konsequent ihre Linie
fort, nur in einen sauberen Sport zu investieren, in dem
Doping und Betrug keinen Platz haben. Auf diesem
Gebiet sind wir im Berichtszeitraum ein großes Stück
vorangekommen. Wir haben konsequente Anti-Doping-
Arbeit geleistet und eine für manchen Verband schmerz-
hafte Überprüfung durchgeführt. Dies ist national und
international gewürdigt worden. Unser Augenmerk wer-
den wir künftig noch stärker auf die Präventionsarbeit
richten. Der im Jahr 2009 unterzeichnete Nationale Do-
pingpräventionsplan muss nun mit Leben gefüllt wer-
den.
9528 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
(A) (C)
(D)(B)
Daneben werden wir das Gesetz zur Verbesserung der
Bekämpfung des Dopings im Sport bis Oktober 2012
evaluieren. Dabei wird ein wissenschaftlicher Sachver-
ständiger einbezogen, der im Einvernehmen mit dem
Deutschen Bundestag noch bis Mitte dieses Jahres be-
stellt werden wird.
Auch im Sport sagen wir dem Rechtsextremismus
den Kampf an. Vorgestern wurde in Berlin das „Hand-
lungskonzept zur Förderung von Toleranz und Mensch-
lichkeit“ vorgestellt. Ich bin davon überzeugt, dass Sport
und Politik auch bei diesem Thema auf einem guten ge-
meinsamen Weg sind.
Zum Schluss möchte ich noch kurz auf die mit Span-
nung erwartete Entscheidung über die Bewerbung Mün-
chen 2018 eingehen. Mit der Abgabe des Bid Books ist
der Kampf um die Winterspiele 2018 nun in die ent-
scheidende Phase getreten. Die Bundesregierung unter-
stützt die Bewerbung auf nationaler und internationaler
Ebene. Die drei Weltmeisterschaften in Bayern in die-
sem Winter sind glänzende Plattformen, Deutschland im
Vorfeld der IOC-Entscheidung international zu präsen-
tieren. So hoffen wir alle darauf, dass am 6. Juli 2011 in
Durban der Startschuss für ein „Wintermärchen 2018“
fällt.
Die Begeisterung für den Sport und seine Werte ver-
eint uns alle, und der 12. Sportbericht zeichnet davon ein
eindrucksvolles Bild. Ich habe mich sehr darüber ge-
freut, dass der Bericht im Sportausschuss fraktionsüber-
greifend als Gewinn für den Sport gelobt wurde. Wir
werden die eingebrachten Anregungen der Fraktionen
für den nächsten Sportbericht aufgreifen. So werden wir
einen eigenen Abschnitt zum Thema „Dopingbekämp-
fung“ aufnehmen und auch die Ergebnisse der „World
Games“ angemessen darstellen.
Für ihren fachkundigen Einsatz, aber auch für manche
durchaus lebhafte, aber immer konstruktive Diskussion
im Berichtszeitraum möchte ich mich ganz herzlich hier
bei allen Mitstreitern für den Sport bedanken.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Nichtstaatliche mili-
tärische Sicherheitsunternehmen registrieren
und kontrollieren (Tagesordnungspunkt 12)
Roderich Kiesewetter (CDU/CSU): Seit 20 Jahren,
seit dem Fall des Eisernen Vorhangs, ist nicht nur unsere
Gesellschaft von Veränderungen und Umwälzungen
betroffen, sondern im besonderen Maße auch unser
Verständnis von Sicherheitspolitik. Ein sichtbarer Höhe-
punkt dieser Transformation ist die anstehende Umstruk-
turierung der Bundeswehr, die eine erhebliche Reduzie-
rung von Soldatinnen und Soldaten und hoffentlich auch
Beamtinnen und Beamten der Bundeswehr mit sich
bringt.
Es wäre falsch, die Reform allein auf den personellen
Abbau zu reduzieren, Ziel ist vielmehr, die Streitkräfte
und die Bundeswehrverwaltung auf die mannigfaltigen
sicherheitspolitischen Herausforderungen unserer Zeit
im Sinne eines vernetzten Ansatzes auszurichten.
Vernetzte Sicherheit ist die Kunst, umfassend zivile
staatliche und nichtstaatliche Akteure, Regierungs- und
Nichtregierungsorganisationen der Entwicklungszusam-
menarbeit, Polizei und Militär zu orchestrieren, um poli-
tische Ziele im Vorfeld von Krisen oder in Umsetzung
eines Mandats der Vereinten Nationen in Krisengebieten
zu erreichen.
Es sind nicht nur militärische, sondern vor allem ge-
sellschaftliche, ökonomische, ökologische und kulturelle
Bedingungen, die die sicherheitspolitische Entwicklung
bestimmen. Sicherheit wird deshalb weder rein national
noch allein durch Streitkräfte gewährleistet. Wesentlich
ist vielmehr ein umfassender Ansatz, der nur in vernetz-
ten sicherheitspolitischen Strukturen sowie im Bewusst-
sein eines umfassenden gesamtstaatlichen und globalen
Sicherheitsverständnisses zu entwickeln ist.
In diesen oft asymmetrischen Konfliktszenarien
kommt es in wachsendem Maße parallel zu militärischen
und zu zivilen Kriseninterventionen. Dabei sehen sich
militärische und zivile Akteure immer stärker mit Über-
schneidungen ihrer Handlungsfelder und der Notwen-
digkeit zur Abstimmung und Kooperation konfrontiert.
Erschwerend kommt hinzu, dass aufgrund Kostendrucks
und Sparmaßnahmen Aufgaben zunehmend an private
Militär- und Sicherheitsunternehmen, PMSU, übertragen
werden. Wir erkennen ein sprunghaftes Wachstum sol-
cher Unternehmen. Die Gefahr dieser Privatisierung ist,
dass solche Organisationen staatlicher und parlamentari-
scher Kontrolle und dem staatlichen Gewaltmonopol
entzogen sein können. Deshalb müssen wir unsere Auf-
merksamkeit auf diese Unternehmen richten.
Ich danke an dieser Stelle den Kollegen der SPD für
diesen Antrag, darüber hinaus gilt aber meine besondere
Anerkennung unserem Kollegen Ruprecht Polenz, der
bereits 2004 diese Problematik thematisiert hat und ver-
antwortlich dafür war, dass wir in der 16. Wahlperiode
einen Konsens erzielen konnten. Auf dieser Basis sollten
wir weiterarbeiten.
Beleuchten wir den großen Umfang, in dem die US-
amerikanischen Streitkräfte gegenwärtig auf PMSU zu-
rückgreifen, dann wird deutlich, dass wir in Deutschland
noch weit von eben diesen Maßstäben entfernt sind, die
selbst in den Augen des US Departments of Defense ein
„nie gekanntes Maß an Abhängigkeit von zivilen Ver-
tragsnehmern“ angenommen haben. Für uns gilt: Wehret
den Anfängen! Das staatliche Gewaltmonopol, demokra-
tisch legitimiert und kontrolliert, darf nicht aufgeweicht
werden. In den USA hat diese Unternehmensbranche in-
nerhalb der letzten Dekade eine außergewöhnlich hohe
Bedeutung für die militärischen Einsätze der Vereinigten
Staaten von Amerika gewonnen. PMSU werden ein be-
deutsames Element in den internationalen Beziehungen
und im internationalen Konfliktgeschehen bleiben, ihre
Bedeutung wird, wenn wir nicht aufmerksam sind, noch
weiter zunehmen.
Worauf kommt es an? Zunächst ist es wichtig, solche
Unternehmen, deren Auftrag in der Durchsetzung politi-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9529
(A) (C)
(D)(B)
scher oder wirtschaftlicher Ziele mithilfe militärischer
Gewalt besteht – Söldner –, rechtlich und politisch strikt
abzugrenzen von Unternehmen, die Sicherheitsdienst-
leistungen anbieten, bei denen Gewalt keine oder nur
eine untergeordnete Rolle spielt. Beispiele hierfür sind
zahlreiche Dienstleistungen im Objekt- oder Personen-
schutz oder bei der Ausbildung. Also: nicht alles „über
einen Kamm scheren“.
Zweitens brauchen wir dringender denn je einen ge-
eigneten Rechtsrahmen mit Überprüfbarkeit und klaren
Einsatzkriterien. Es bedarf einer strengen Differenzie-
rung nach Aufgabenschwerpunkten, um hier ein „Ber-
muda-Dreieck“ zu vermeiden von moralischen Aspek-
ten, internationalen Erfordernissen in Krisengebieten
und dem nachvollziehbaren Gewinnstreben privater
Sicherheitsfirmen.
Während für meine Fraktion ein Söldnereinsatz in
Krisengebieten abzulehnen ist, kann eine Sicherheits-
partnerschaft bei humanitären Einsätzen oder bei der
Ausbildung lokaler Sicherheitskräfte unter bestimmten
Umständen durchaus sinnvoll und vorteilhaft für alle
Seiten sein. Vorausgesetzt, dritter Punkt, eine entspre-
chende Zertifizierung des Unternehmens und verlässli-
che Überprüfungskriterien liegen vor.
Viertens unterstreichen wir die Forderungen unseres
Antrags aus der 16. Wahlperiode, das Wirken nichtstaat-
licher militärischer Sicherheitsfirmen stärker zu kontrol-
lieren. Wir fordern die Einführung einer Registrierung
von privaten militärischen Sicherheitsunternehmen, eine
Mitteilungspflicht der Vertragsabschlüsse, die Einfüh-
rung eines Lizensierungssystems für militärische Dienst-
leistungen von Unternehmen, um eine Kontrolle der
„Dienstleistungen“ ausüben zu können.
Fünftens halte ich folgende weitere Kriterien für sinn-
voll: Die Firmen sollten die Verträge mit ihrem Personal
offenlegen: denn nur dort und nicht in Stellungnahmen
und Pressemitteilungen wird stehen, was die „Military
Contractors“ im Ausland wirklich tun sollen bzw. für
was sie bezahlt werden. Dass solche Überprüfungen und
Controllinginstrumente jedoch ein schwieriges und kos-
tenintensives Unterfangen sind, ist angesichts der Kom-
plexität der Einsätze und der Tatsache, dass private
Sicherheitsfirmen oft in Grauzonen operieren, offen-
sichtlich.
Sechstens muss eine enge Abstimmung mit den poli-
tischen Interessen des Entsendestaates erfolgen; insbe-
sondere dann, wenn private Sicherheitsfirmen von Auf-
traggebern aus der Krisenregion beauftragt werden.
Ein bedeutungsvolles Geschäftsfeld für private Si-
cherheitsunternehmen wird sicher der Ausbildungssek-
tor sein, Entminungen sind es ja bereits. Fest steht, dass
eine enorme Bandbreite von Aktivitäten privater Sicher-
heitsfirmen besteht, die es zu kontrollieren und bei
Bedarf auch einzuschränken gilt. Mir geht es um eine
wirksame Kontrolle der Zusammenarbeit und der Unter-
nehmen und um angemessene Sanktionierungsmöglich-
keiten. Darüber müssen wir im Ausschuss beraten. Der
Mangel an Transparenz kann durch verschiedene For-
men von Kontrolle aufgehoben werden. Es fehlen bisher
vergleichbare Kontrollmechanismen mit entsprechenden
Sanktionsmöglichkeiten. Ein Verbot würde die stärkste
Form einer Regulation dieser Branche darstellen. Aller-
dings würde hierdurch außer Acht gelassen, dass auch
kommerzielle Firmen wichtige Beiträge für das Gemein-
wohl leisten können. Hierbei sei zum Beispiel auf einen
Einsatz im Rahmen von humanitärer Hilfe oder Land-
minenbeseitigung hingewiesen. Dementsprechend er-
scheint ein generelles Verbot solcher Unternehmen als
wenig sinnvoll, eine Feststellung, zu der wir bereits in
der 16. Wahlperiode gemeinsam gekommen sind.
Es ist notwendig, national und international möglichst
einheitliche Genehmigungs- und Registrierungsverfah-
ren zu schaffen. Sicherheitsunternehmen müssen sich
zuvor registrieren lassen, um überhaupt tätig werden zu
dürfen. Auf dieser Grundlage von unternehmens- und
transaktionsbezogener Aufsicht könnten in Zukunft die
Tätigkeiten kontrolliert werden. Die unternehmensbezo-
gene Aufsicht kann jedoch die transaktionsbezogene
bzw. projektbezogene Kontrolle und gegebenenfalls Ge-
nehmigung nicht ersetzen. Für eine projektbezogene
Kontrolle der militärischen Sicherheitsunternehmen
muss zunächst ein detaillierter Katalog von Dienstleis-
tungen erstellt werden. Dieser Katalog müsste in Pro-
blemlagen auf die jeweilige aktuelle Situation und ge-
plante Dienstleistung flexibel anwendbar sein. Ist dieses
Instrument geschaffen, muss es weiterhin möglich sein,
die Genehmigung mit bestimmten Auflagen zu verse-
hen. Anschließend muss ein Gremium geschaffen wer-
den, welches die Einhaltung der beschriebenen Tätigkei-
ten überprüft. Um die Belastung einer Kontrollinstanz
oder -behörde in einem erträglichen Rahmen zu halten,
sollte die Möglichkeit gegeben sein, bei Dienstleistun-
gen von geringem Risiko, wie etwa Instandhaltungs-
dienstleistungen, nur eine Meldepflicht vorzuschreiben.
Somit schlage ich vor, den Antrag der SPD, dem wir
in weiten Teilen zustimmen können, um folgende Punkte
zu ergänzen: Zertifizierung der Unternehmen, bevor sie
als Auftragnehmer infrage kommen. Ferner muss geklärt
werden, unter welchen Rahmenbedingungen die Bun-
deswehr oder die deutsche Polizei in Auslandseinsätzen
mit Verbündeten und Partnern zusammenarbeiten soll,
die statt Soldaten oder Polizisten Angehörige privater
Militär- oder Sicherheitsorganisationen in gemeinsame
Vorhaben, Operationen und Projekte entsenden. Und
schließlich sollten zumindest bis zum Vorliegen ausrei-
chender Daten Verträge mit privaten Sicherheitsunter-
nehmen mit Beträgen auch unter einer 1 Million Euro
zur Kenntnis gegeben werden.
Henning Otte (CDU/CSU): Bereits zur Zeit der gro-
ßen Koalition im Jahr 2009 haben wir in einem mit gro-
ßer Mehrheit des Deutschen Bundestages verabschiede-
ten Antrag festgestellt, dass nichtstaatliche militärische
Sicherheitsunternehmen einer verbesserten Kontrolle
und Lizenzierung unterzogen werden müssen. Der uns
nun vorliegende Antrag der SPD lehnt sich sehr eng an
den Konsens aus der 16. Wahlperiode an. Insofern bietet
ihr Antrag wenig Neues.
9530 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
(A) (C)
(D)(B)
Private Sicherheits- und Militärunternehmen, PSMU,
sind zwischenzeitlich vermehrt Gegenstand politischer
und öffentlicher Kritik. Daher besteht in der Tat Hand-
lungsbedarf, wenn es um die Kontrolle dieser Unterneh-
men geht. Skandale wie der um die Firma Blackwater
haben uns gezeigt, dass immer häufiger Konflikte und
militärische Operationen in die Hände Privater gegeben
werden, die sich offenbar nicht an das humanitäre Völ-
kerrecht halten wollen. Daher ist der Forderung der
SPD-Fraktion, einen Genehmigungsvorbehalt für die
Weitergabe von technischem und militärischem Know-
how für private militärische Sicherheitsunternehmen
einzuführen, grundsätzlich nichts entgegenzusetzen. Al-
lerdings sagen Sie weder, wer die Genehmigung erteilen
soll, noch, wer dann wie informiert wird. Auch scheinen
Aspekte der Haftung bzw. der rechtliche Aspekt im ak-
tuellen Antrag der SPD nicht maßgeblich zu sein. Ihr
Antrag ist zumindest in dieser Hinsicht wenig hilfreich.
Damit Unternehmen in einem klaren rechtlichen Rah-
men agieren können, fordern wir auch klare Haftungsbe-
dingungen sowie Regelungen zur Verfolgung bei mögli-
chen Straftaten.
Seit dem Ende des Kalten Krieges befindet sich un-
sere Bundeswehr in einem Reformprozess, der sich ge-
rade in einer entscheidenden Phase befindet. Die damit
einhergehende Verkleinerung der Streitkräfte darf aber
nicht als Grund für die von der SPD negativ bewertete
Ausweitung der Beauftragung privater Sicherheitsunter-
nehmen herangezogen werden. Die aktuelle Reform
dient dazu, mit effizienteren Strukturen arbeiten zu kön-
nen. So wird es möglich sein, mehr Soldaten für den
Auslandseinsatz bereitzuhalten. Damit kann auch der Ei-
genschutz im Einsatz verbessert werden, ohne vermehrt
auf Unternehmen zurückgreifen zu müssen. Das schließt
aber nicht aus, dass wir weiterhin die Unterstützung vor
allem von Unternehmen im Bereich des Transports und
der Logistik brauchen, aber auch der einfachen Siche-
rung. Diese Aufgaben gehören nicht zum Kernbereich
der Bundeswehr und schon gar nicht zu der auch von Ih-
nen geforderten Attraktivitätssteigerung. Somit wird
keine Aushöhlung des staatlichen Gewaltmonopols be-
trieben. Auch müssen wir genau unterscheiden, welche
Unternehmen dieser Kontrolle unterzogen werden sol-
len; denn Unternehmen, die nur logistische Dienstleis-
tungen wie den Transport von militärischen Gütern ab-
wickeln, aber nicht in die Konflikte selbst hineingezogen
werden, sollten nicht für die Skandale in Haftung ge-
nommen werden, die andere verursacht haben. Es darf
nicht sein, dass wir Firmen schädigen, die zum Beispiel
die Bundeswehr bei ihren wichtigen Auslandseinsätzen
unterstützen. Wer hier seriöse Dienstleistungen erbringt,
darf nicht vom Gesetzgeber allein gelassen oder gar ver-
boten werden.
Auch haben wir in der Vergangenheit gute Erfahrun-
gen mit der Sicherung von Bundesliegenschaften im In-
und Ausland gemacht. Diese Aufgabe gehört ebenfalls
nicht zum eigentlichen Kernbereich der Bundeswehr.
Beschwerden im Zusammenhang mit rechtlichen Über-
tritten hat es nicht gegeben. Selbstverständlich müssen
sich Soldaten selbst schützen können. Aber unsere Sol-
daten haben eine wichtigere Funktion, als einfache
Wachaufgaben zu übernehmen. Wir alle haben die Ver-
pflichtung, mit den Steuergeldern sorgsam umzugehen.
Unsere Soldaten durchlaufen eine komplexe Ausbildung
und sollen entsprechend dieser Ausbildung eingesetzt
werden. Hierauf gründet sich auch ihre internationale
Anerkennung, die es hier einmal hervorzuheben gilt!
Es wird Zeit, dass nichtstaatliche militärische Sicher-
heitsunternehmen kontrolliert und registriert werden.
Ein Verschieben des Problems ist keine Lösung. Ansons-
ten würden diese Unternehmen weiterhin in einer Art
Grauzone agieren. Ich stelle fest: Es ist wichtig, einen
parteiübergreifenden Konsens zu erzielen, der einen ge-
meinsamen Antrag ermöglicht. Wir appellieren, sich
dem nicht zu widersetzen. Um diesen Konsens zu erzie-
len, schlagen wir eine Überweisung des Antrags an den
Auswärtigen Ausschuss vor.
Dr. Rolf Mützenich (SPD): Seit dem Ende des Ost-
West-Konfliktes ist eine zunehmende Privatisierung des
Krieges zu beobachten. Gewalt geht heute meist von pri-
vaten Akteuren und Gruppen unterhalb der Schwelle des
Nationalstaates aus. Auch wenn die Entstaatlichung des
Krieges im Bewusstsein vieler noch überwiegend mit
der Herrschaft von Kriegsfürsten und Warlords in Afrika
und Afghanistan verbunden ist, erlebt auch der „Westen“
eine zunehmende Privatisierung seines Kriegshand-
werks.
Private Sicherheitsunternehmen sind heute Teil der
modernen Kriegsführung und des Wiederaufbaus in
Postkonfliktgesellschaften. Nicht nur Regierungen und
Firmen, sondern auch die Entwicklungszusammenarbeit
und Nichtregierungsorganisationen nehmen vermehrt
nichtstaatliche militärische Sicherheitsunternehmen in
Anspruch. Diese haben seit dem Ende des Kalten Krie-
ges einen wahren Boom erfahren und sind heute welt-
weit tätig. Etwa 300 solcher Firmen haben mehrere
Zehntausend Mitarbeiter im Irak, in Afghanistan, in Süd-
amerika und in vielen Ländern Afrikas im Einsatz. Auf
250 Milliarden Euro schätzen Fachleute den Jahresum-
satz solcher Firmen weltweit. Der Schwerpunkt ihrer Tä-
tigkeit liegt im logistischen Bereich, umfasst aber auch
Bereiche wie den Personen- und Objekt- sowie den Kon-
voischutz, Ausbildung und Training von Sicherheitskräf-
ten, technische Dienste und die Informationsgewinnung.
Kunden dieser nichtstaatlichen Sicherheitsunternehmen
sind vor allem staatliche Institutionen, internationale Or-
ganisationen, aber auch Nichtregierungsorganisationen
und Wirtschaftsunternehmen. Angesichts international
begrenzter staatlicher Ressourcen und der fortschreiten-
den Technologisierung und Spezialisierung militärischer
Aufgaben ist künftig mit einem weiteren Anstieg der
Nachfrage nach Leistungen privater militärischer Sicher-
heitsdienste zu rechnen.
In Deutschland sind nach Angaben der Bundesregie-
rung über 2 500 private Sicherheitsunternehmen tätig.
Das Tätigkeitsfeld deutscher Sicherheitsfirmen umfasst
bislang vor allem logistische Aufgaben, Dienstleistun-
gen im technischen Bereich, aber auch die Übernahme
von sogenannten nichtmilitärischen Wachfunktionen.
Die Abschaffung der Wehrpflicht und die damit verbun-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9531
(A) (C)
(D)(B)
dene Reduzierung der Bundeswehr wird voraussichtlich
zu einer verstärkten Inanspruchnahme von privaten
Dienstleistern und damit auch von privaten militärischen
Sicherheitsunternehmen im In- und Ausland führen.
Afghanistan und Irak haben sich in den letzten Jahren
zum Arbeitsplatz für nichtstaatliche militärische Sicher-
heitsunternehmen entwickelt. Und der Druck der Öffent-
lichkeit wächst, die regulären Truppen endlich nach
Hause zu holen. Im August letzten Jahres hat US-Präsi-
dent Obama das Ende der Kampfhandlungen im Irak be-
kannt gegeben und angekündigt, dass bis Ende 2011 alle
amerikanischen Truppen das Land verlassen haben sol-
len. Und auch in Afghanistan soll noch dieses Jahr mit
dem Abzug der amerikanischen und deutschen Streit-
kräfte begonnen werden. Dabei sind in beiden Ländern
längst nicht nur Soldaten im Einsatz, sondern auch Tau-
sende private Militärdienstleister. Das US-Außenminis-
terium hat nach dem Abzug der Kampftruppen angekün-
digt, die Zahl seiner privaten Wachleute im Irak auf etwa
7 000 zu verdoppeln. Zwischen 25 000 und 50 000 An-
gehörige von privaten in- und ausländischen Sicherheits-
firmen sollen allein in Afghanistan tätig sein, von denen
19 000 allein für das US-Militär Aufträge übernommen
haben. Der Trend zur Privatisierung ist also in vollem
Gange, ungeachtet aller Kritik der Öffentlichkeit. In Af-
ghanistan stehen die privaten Sicherheitsfirmenunter-
nehmer zudem dem Aufbau afghanischer Sicherheits-
kräfte, besonders der Polizei, im Weg. Denn warum
sollte sich ein junger Afghane zur Polizei melden, wenn
er einen deutlich besser bezahlten Job bei einer Sicher-
heitsfirma kriegen kann?
Neben zunehmender Kritik an den Auswüchsen und
Missständen gab es in den letzten Jahren auch eine Reihe
von Kontroll- und Regulierungsversuchen. So hat der
Europarat im Juni 2009 auf der Grundlage eines umfang-
reichen Berichts eine Reihe von Forderungen aufgestellt,
um auch auf nationaler Ebene Regulierungen dieser Fir-
men zu erreichen. Weltweit gibt es allerdings nur wenige
Länder, in denen bislang spezielle Gesetze zur Überwa-
chung, Regulierung und Begrenzung der Tätigkeit von
privaten militärischen Sicherheitsfirmen geschaffen
wurden.
Nichtstaatliche Sicherheitsunternehmen bewegen sich
dennoch nicht im rechtsfreien Raum. Nationale und in-
ternationale Normen zum Schutz der Zivilbevölkerung
gelten trotz der genannten Durchsetzungsschwierigkei-
ten auch für private Sicherheitsunternehmen. Ihre völ-
kerrechtliche Einordnung nach den Zusatzprotokollen
zur Genfer Konvention, besonders ihr Kombattantensta-
tus, ist jedoch strittig. Auch die 1989 von der General-
versammlung der Vereinten Nationen verabschiedete
Konvention gegen die Rekrutierung, Verwendung, Fi-
nanzierung und Ausbildung von Söldnern ist nur be-
grenzt auf diese Firmen anwendbar. Sie geht von einer
Unterscheidung aus, die auf der einen Seite den guten
freiwilligen Kämpfer kennt, der für seine Sache kämpft,
und auf der anderen Seite den unehrenhaften Söldner,
der aus materiellen Gründen kämpft. Beide Typisierun-
gen treffen auf die Angestellten dieser Firmen kaum zu,
sodass aus völkerrechtlicher Sicht Regulierungslücken
bestehen. Ein erster Versuch auf zwischenstaatlicher Ba-
sis, die Rechtsstellung nichtstaatlicher Sicherheits- und
Militärfirmen zu konkretisieren, ist das im September
2008 von 17 Ländern verabschiedete Montreux-Doku-
ment, bei dem es sich allerdings nicht um einen verbind-
lichen völkerrechtlichen Vertrag handelt. Zu den Unter-
zeichnenden gehört neben den Vereinigten Staaten,
Großbritannien und Afghanistan unter anderem auch
Deutschland.
Erste Versuche, dies auf internationaler Ebene zu er-
reichen, laufen somit bereits. Auch die Sicherheitsunter-
nehmen haben reagiert und freiwillige Verhaltenskodizes
aufgestellt. Freiwilligkeit ist jedoch im Zusammenhang
mit sicherheitsrelevanten Dienstleistungen nicht die op-
timale Lösung. Hier bedarf es auch international der
Transparenz und vor allem Rechtssicherheit. Bis zu einer
sicheren Rechtslage ist es aber noch ein weiter Weg. Die
Bundesregierung hat bei der Beantwortung entsprechen-
der Fragen aus dem Parlament bis zum Sommer 2010 die
Auffassung vertreten, dass nach ihren bisherigen Er-
kenntnissen die bestehenden Vorschriften im EG-Sank-
tionsrecht, Gewerberecht und Außenwirtschaftsrecht
ausreichen, um „Sicherheitsunternehmen mit militäri-
schen Absichten wirksam zu begegnen“. Auf Nachfra-
gen hat die Bundesregierung schließlich eingeräumt,
dass ein weiterer Handlungsbedarf geprüft werden
müsse. Ressortübergreifend soll über den Handlungs-
und Regelungsbedarf im nationalen und internationalen
Bereich eine Verständigung erzielt werden. Es ist bemer-
kenswert, dass die Bundesregierung erst auf Drängen
des Parlaments zu einer Überprüfung des entsprechen-
den Regelungsbedarfs bereit war. Wir erwarten, dass die
Bundesregierung ihrer Pflicht ohne weitere Aufforde-
rung nachkommt und den Bundestag zeitnah über die
Prüfergebnisse unterrichtet.
Nichtstaatliche militärische Sicherheitsunternehmen
zu registrieren und zu kontrollieren, ist das Ziel des An-
trags der SPD-Fraktion. Darin wird unter anderem gefor-
dert auf nationaler Ebene eine Registrierungspflicht für
private Sicherheitsfirmen und Militärdienstleister, die in
Deutschland ihren Sitz haben, ein Lizenzierungssystem
für militärische Dienstleistungen von Unternehmen so-
wie einen Genehmigungsvorbehalt für die Weitergabe
von technischem und militärischem Know-how privater
militärischer Sicherheitsunternehmen einzuführen.
Weiterhin soll dem Bundestag ein jährlicher Bericht
sowohl über die in der Bundesrepublik ansässigen als
auch über ausländische private militärische Sicherheits-
unternehmen vorgelegt werden, deren Dienstleistungen
die Regierung oder ihr nachgeordnete Behörden im Aus-
land in Anspruch nehmen. Vor dem Hintergrund der ge-
planten Bundeswehrreform und der damit einhergehen-
den Reduzierung des Streitkräfteumfangs muss das
Parlament darüber informiert werden, in welcher Form
und in welchem Umfang die Regierung das Engagement
privater Sicherheitsunternehmen im In- und Ausland be-
absichtigt.
Auf internationaler Ebene fordern wir die Bundesre-
gierung dazu auf, die internationale Konvention gegen
die Rekrutierung, Verwendung, Finanzierung und Aus-
bildung von Söldnern von 1989 zu ratifizieren und bei
9532 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
(A) (C)
(D)(B)
den Vereinten Nationen darauf hinzuwirken, die der VN-
Konvention zugrunde liegenden Begrifflichkeiten zu
spezifizieren, um eine konkrete, zeitgemäße, auch auf
private militärische Sicherheitsunternehmen anwendbare
Norm zu schaffen. Darüber hinaus sollten die bestehen-
den Völkerrechtsinstrumente zum Söldnertum durch
weitere eigenständige völkerrechtliche und nationale Re-
gelungen ergänzt werden, insbesondere durch eine inter-
nationale Registrierung der privaten militärischen Unter-
nehmen, eine internationale Einrichtung zur Kontrolle
der privaten militärischen Unternehmen und der von ih-
nen abgeschlossenen Verträge, die beim UN-Sonderbe-
richterstatter über das Söldnertum angesiedelt sein sollte
sowie die Einführung von Sanktionsmöglichkeiten ge-
genüber den privaten militärischen Sicherheitsunterneh-
men und deren Auftraggebern.
Ich freue mich über die Signale aus den anderen Frak-
tionen, auf der Grundlage unseres Antrags zu diesem
wichtigen Thema interfraktionell eine Position zu erar-
beiten. Dies würde dem Thema auf jeden Fall das nötige
Gewicht geben, das ihm zusteht. Lassen Sie uns deshalb
diesen Antrag möglichst rasch umsetzen und gemeinsam
der Öffentlichkeit vorstellen. Es besteht in jedem Fall
Handlungsbedarf. Denn neue Staaten aufbauen zu wol-
len, indem ihre innere wie äußere Sicherheit zum Teil
entstaatlicht wird, erscheint zunehmend als ein Wider-
spruch in sich.
Dr. Bijan Djir-Sarai (FDP): Private Sicherheitsorga-
nisationen sind heute weltweit tätig. Die Auslagerung
bestimmter Aufgaben in nichtstaatliche Unternehmen
hat auch in der Außen- und Sicherheitspolitik Einzug ge-
halten. Dieser Trend hat sich seit dem Ende des Ost-
West-Konfliktes stetig verstärkt.
Die Ursachen dafür sind vielfältig. Ein wesentlicher
Grund ist das gestiegene Sicherheitsbedürfnis von Be-
hörden, internationalen Organisationen und Unterneh-
men, von Politik und Gesellschaft.
Was wir hier heute vor allem debattieren, ist daher
meines Erachtens nach nicht die Notwendigkeit der Aus-
lagerung staatlicher Aufgaben. Vielmehr müssen wir uns
im Hinblick auf die weltweiten Entwicklungen endlich
um ein umspannendes Regelungswerk kümmern. Wir
müssen im Parlament darüber debattieren, in welchem
rechtlichen Rahmen wir den Wandel im Verhältnis zwi-
schen Nationalstaat und Militär einbetten müssen. Nur
wenn wir sämtliche möglichen Konsequenzen im Vor-
feld ausführlich analysieren und bewerten, kann diese
Herausforderung angenommen werden. Dabei ist eine
verantwortungsvolle Ausgestaltung unbedingt notwen-
dig.
Es stellt sich die Frage nach den Rechten und dem
Rechtsstatus der in bewaffneten Konflikten beteiligten
privaten Sicherheitsunternehmen. Vor allem die welt-
weite Tätigkeit privater Sicherheitsunternehmen macht
die Lageanalyse um ein Vielfaches komplizierter. Allein
in Afghanistan waren bis vor kurzem mehr als 19 000
private Sicherheitskräfte im Einsatz. Aus diesem Grund
ist eine Beschränkung auf nationale Richtlinien nicht
sonderlich zielführend.
Allerdings gilt auch für die deutschen Richtlinien: Es
gibt bisher kein Gesetz im deutschen Rechtsraum, das
explizit die Aktivitäten nichtstaatlicher militärischer
Sicherheitsunternehmen abschließend regelt. Hier be-
steht erkennbar Handlungsbedarf.
Von daher möchte ich der SPD danken für diesen gu-
ten vorliegenden Antrag. Viele konstruktive Vorschläge
werden hier unterbreitet, ob es um eine Registrierungs-
pflicht und ein Lizenzierungssystem geht oder um die
Kontrolle der Weitergabe von technischem und militäri-
schem Know-how. Diese Gedanken müssen wir uns ma-
chen. Ich freue mich schon auf die inhaltlichen Beratun-
gen zu diesem wichtigen zukunftsträchtigen Thema.
In den kommenden Debatten muss dafür gesorgt wer-
den, dass internationale Institutionen aktiv werden – und
auch dies wird angesprochen im vorliegenden Antrag.
Besonders die Vereinten Nationen sehe ich hier in der
Pflicht. Ja, wir müssen unseren Einfluss geltend machen
und auf die Spezifizierung der in den VN-Konventionen
verwendeten Begrifflichkeiten hinwirken. Sicherlich
müssen auch die bestehenden völkerrechtlichen Instru-
mente durch eigenständige Regelungen ergänzt werden.
In Deutschland stehen wir erst am Anfang einer De-
batte, die international schon hohe Wellen geschlagen
hat. Mit diesem Antrag als Diskussionsgrundlage gehen
wir gut gerüstet in die tieferen thematischen Beratungen
im Ausschuss.
Ich bin zuversichtlich, dass wir gemeinsam mit den
demokratischen Fraktionen hier im Hause eine zukunfts-
fähige Lösung in der Frage nach einem angemessenen
Umgang mit privaten Sicherheitsunternehmen finden
werden.
Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): Der vorliegende
SPD-Antrag ist vor allem ein Eingeständnis des eigenen
Scheiterns. Als die SPD im Juni 2009 noch an der Regie-
rung beteiligt war, wurde ein ähnlicher Antrag vom Bun-
destag angenommen. Er wurde aber von der eigenen Re-
gierung nicht umgesetzt! Das ändert allerdings nichts
daran, dass für die Linke kein Zweifel besteht, dass Bun-
destag und Bundesregierung endlich eine Antwort auf
die Risiken der Auslagerung von militärischen Dienst-
leistungen finden müssen. Viel zu lange schon starrt man
in Deutschland gebannt auf den ICE der Privatisierung
militärischer Dienstleistungen, ohne die Weichen richtig
zu stellen, die nur in eine Richtung weisen können: in
Richtung Verbot!
So richtig daher die SPD-Initiative ist, so falsch ist die
Halbherzigkeit, mit der sich die SPD diesem Thema an-
nimmt. Ein Ja zur Regulierung, ein Ja zur Kontrolle, ein
Ja zur internationalen Koordination reichen einfach nicht
aus. Die Konflikte im Irak, in Afghanistan, aber auch
schon früher Kolumbien, Sierra Leone oder Angola ha-
ben doch deutlich gemacht, wie gefährlich der Einsatz
privater Militärfirmen ist, wie unkontrollierbar das Ge-
schäftsgebaren privater Akteure in Konflikten ist. Diese
Firmen untergraben das staatliche Gewaltmonopol, höh-
len das Völkerrecht aus, schaffen Abhängigkeiten und
tragen vor allem zur Konflikteskalation in fast allen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9533
(A) (C)
(D)(B)
Kontinenten bei. Nun liebäugeln deren Interessenver-
bände sogar damit, Aufträge der Vereinten Nationen für
niedrigschwellige Friedensmissionen zu bekommen!
Die US-Streitkräfte und das State Department kämp-
fen derzeit mit dem Vermächtnis der unter Reagan be-
gonnenen Privatisierung militärischer Dienstleistungen.
Im Irak und in Afghanistan haben die USA massiv auf
diese privaten Anbieter gesetzt. Im Irak waren zeitweise
sogar genauso viele private Angestellte mit militäri-
schem Auftrag unterwegs wie US-Soldaten. Es kam zu
Tötungen von Zivilisten, die Abhängigkeit der US-
Streitkräfte von diesen Dienstleistungen wuchs, kompli-
zierte Vertragswerke und dubiose Unterauftragnehmer
begünstigten Korruption und Destabilisierung. Jetzt grü-
belt man in den USA, wie man die Büchse der Pandora
wieder schließen kann. Aber das wird schwerfallen.
Soll auch Deutschland, soll die Bundeswehr diesen
Weg beschreiten? Die Antwort der SPD lautet wohl lei-
der: Ja! – Natürlich ein wenig regulierter, kontrollierter
und transparenter. Der Antrag liest sich wie ein Déjà-vu.
Solche Hoffnungen hat man auch schon in Bezug auf die
Kontrolle von Rüstungsexporten und der Rüstungsindus-
trie gehegt. Wie die Realität aussieht, weiß jeder:
Deutschland gehört zu den größten Rüstungsexporteuren
der Welt, der Schutz der Geschäftsinteressen der Rüs-
tungsindustrie steht über allem und außerhalb der Kon-
trolle des Bundestages. Dieser Fehler darf bei den militä-
rischen Dienstleistungen nicht wiederholt werden. Diese
Art von Unternehmen sind noch undurchschaubarer als
die Rüstungsindustrie: verschachtelte Unternehmens-
strukturen, rotierendes Personal, nicht kontrollierbare In-
teressenverflechtungen usw.
Glauben Sie wirklich, dass Sie wegen möglicher
Kriegsverbrechen oder anderer Vergehen die Geschäfts-
führung, den gesamten Vorstand und Aufsichtsrat einer
privaten Militärfirma vor einen nationalen oder interna-
tionalen Strafgerichtshof zitieren können? Eher meldet
das Unternehmen Insolvenz an bzw. gründet sich neu:
Aus Raider wurde Twix, aus Blackwater wurde Xe.
Noch sind die Aktivitäten von deutschen Firmen wie der
Asgaard German Security Group in Somalia oder der
BDB Protection GmbH in Libyen Einzelfälle. Es besteht
keinerlei Notwendigkeit, den Firmen, die militärische
Dienstleistungen anbieten, in Deutschland einen Markt-
zugang zu verschaffen. Die Bundeswehr hat immer wie-
der erklärt, militärische Dienstleistungen nicht auslagern
zu wollen. Weiß die SPD mehr? Es ist vielmehr an der
Zeit, klar zu machen, dass Deutschland nicht Heimat für
Unternehmen ist, die militärische Dienstleistungen auf
den Schlachtfeldern anbieten wollen, und dass sich alle
deutschen Staatsbürger strafbar machen, die für diese
Firmen solche Dienstleistungen erbringen.
Die Linke wird entsprechende Initiativen in den Bun-
destag einbringen, und hoffentlich wird es gelingen, in
den Ausschüssen auch die anderen Fraktionen zur Ein-
sicht zu bewegen, dass auch in Zukunft das Gewaltmo-
nopol in Deutschland nicht weiter angetastet werden
darf, und dass dem modernen Söldnertum auf den heuti-
gen Kriegsschauplätzen ein Riegel vorgeschoben wird.
Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In dieser
Legislaturperiode debattieren wir jetzt zum ersten Mal
über das Problem der unzureichenden Regulierung von
privaten Sicherheitsfirmen, und ich begrüße grundsätz-
lich den Antrag der SPD, der uns dazu heute vorliegt.
Allerdings hat es in den vergangenen Jahren zu diesem
Thema schon etliche solcher Anträge und Anfragen in
unterschiedlichen Konstellationen gegeben. In der letz-
ten Legislaturperiode gab es einen Antrag der CDU/CSU
und SPD, in dem bereits einige Verbesserungen bei der
Kontrolle nichtstaatlicher militärischer Sicherheitsunter-
nehmen eingefordert wurden. Ein Gesetzentwurf wurde
aber bis heute nicht vorgelegt, obwohl das Problem im-
mer größere Ausmaße annimmt.
Private Sicherheitsfirmen sind weltweit im Dienste
von Staaten, internationalen Organisationen, Unterneh-
men und Privatpersonen im Einsatz. Ihre Tätigkeiten rei-
chen von Wach- und Schutzaufgaben über Logistik und
Wartungsarbeiten bis hin zur Durchführung militärischer
Operationen. Auch im Rahmen der militärischen Auf-
klärung und Informationsgewinnung sind solche Unter-
nehmen tätig. Die USA setzen im Irak und in Afghanis-
tan mittlerweile mehr privates Militärpersonal ein als
amerikanische Soldaten. Allerdings sind auch deutsche
Sicherheitsunternehmen im Ausland tätig. Nach 2003 ar-
beiteten sogar ehemalige deutsche Soldaten für ausländi-
sche Sicherheitsfirmen, wie Blackwater im Irak, obwohl
die deutsche Regierung diese Intervention ablehnte.
Die Privatisierung militärischer Fähigkeiten unter-
gräbt das staatliche Gewaltmonopol. Das ist besonders
in fragilen Ländern mit einer schwach ausgeprägten
staatlichen Struktur gefährlich. In bewaffneten Konflik-
ten unterliegen private Sicherheitsunternehmen als juris-
tische Personen nicht einmal dem humanitären Völker-
recht. Jede natürliche Person, die aktiv an einem
bewaffneten Konflikt teilnimmt, ist an das humanitäre
Völkerrecht gebunden und kann sich gegebenenfalls
strafbar machen, nicht aber das Unternehmen, für das
diese Person arbeitet. Diese Konstellation war bei der
Vereinbarung der Genfer Konvention und ihrer Zusatz-
protokolle nicht vorgesehen und ist damit eindeutig eine
Regelungslücke.
Auch die Söldnerdefinition des Zusatzprotokolls fin-
det auf Angehörige von privaten Sicherheitsfirmen nur
selten Anwendung, weil sie sehr eng gefasst ist. Trotz-
dem wäre es ein wichtiges Zeichen, wenn die Bundesre-
gierung endlich die Söldnerkonvention von 2001 ratifi-
zieren würde! Einen Grund, warum dies bislang nicht
geschehen ist, haben wir auch auf mehrfache Nachfrage
bis heute nicht erfahren.
Ziel einer gesetzlichen Regulierung privater Sicher-
heitsunternehmen muss es sein, die Einhaltung humani-
tären Völkerrechts zu gewährleisten und Aktivitäten zu
verhindern, die nicht im Einklang mit den menschen-
rechtlichen und friedenspolitischen Interessen Deutsch-
lands stehen. Umfassende Registrierungs- und Lizensie-
rungspflichten – wie sie die SPD vorschlägt – sind ein
erster Schritt hin zu einer besseren Kontrolle privater Si-
cherheitsfirmen. Ebenso begrüße ich die Forderung nach
9534 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
(A) (C)
(D)(B)
regelmäßigen Berichten über die Aktivitäten dieser Un-
ternehmen.
Einen wesentlichen Kritikpunkt habe ich dann aller-
dings doch an diesem Antrag: Militärische Sicherheits-
dienstleister sollten wir im deutschen Inland nicht regis-
trierungspflichtig machen, sondern schlicht verbieten!
Privates Militär ist weder mit unserem Waffenrecht noch
mit der Gewerbeordnung vereinbar, und das soll auch
unbedingt so bleiben! Für Sicherheitsdienstleistungen,
die nicht der militärischen Kategorie unterfallen, gibt es
allerdings großen Regelungsbedarf, wenn diese Leistun-
gen im Ausland erbracht werden sollen. Wir halten es für
dringend erforderlich, den Export solcher Dienstleistun-
gen in das Außenwirtschaftsgesetz aufzunehmen. Wo
das Handeln mit Waffen den Frieden gefährdet, tut dies
erst recht das Benutzen einer Waffe! An dieser Stelle
bleibt Ihr Antrag leider unklar.
Solange es auf internationaler Ebene kein bindendes
Vertragswerk gibt, sind die Nationalstaaten gefragt, pri-
vate Sicherheitsfirmen durch innerstaatliches Recht ef-
fektiv zu binden. Zum Erlass solcher Regelungen hat
sich Deutschland mit dem Dokument von Montreux vom
17. September 2008 verpflichtet. Dieser Verpflichtung
ist Deutschland bis heute nicht nachgekommen. Meine
Fraktion wird in Kürze hierzu eine Große Anfrage ein-
bringen. Keinesfalls ausreichend sind in diesem Zusam-
menhang freiwillige Selbstverpflichtungen der entspre-
chenden Branche. Wer zu Hause auf nationaler Ebene
keine effektive Regulierung vorweisen kann, kann auch
international nicht glaubwürdig verhandeln. Sollten sich
Bestrebungen zu einem interfraktionellen Vorgehen ab-
zeichnen, sind wir gerne bereit, unsere Vorstellungen
und konkreten Gesetzesänderungsvorschläge mit einzu-
bringen.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes über
den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsver-
fahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfah-
ren (Tagesordnungspunkt 13)
Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU): Stel-
len Sie sich vor, Sie brechen sich bei einem Unfall auf
dem Weg ins Büro einen Arm und das Nasenbein. Es
vergehen neun Jahre, bis rechtskräftig über einen An-
spruch auf Schadenersatz gegen die Haftpflichtversiche-
rung des Unfallgegners entschieden wurde. Es verrinnen
weitere 15 Jahre, in denen es der Justiz in den verschie-
denen Instanzen nicht gelingen will, über die Höhe des
Schadenersatzes abschließend zu entscheiden.
Dieser und andere Sachverhalte lagen dem Europäi-
schen Gerichtshof für Menschenrechte in den vergange-
nen Jahrzehnten aus den verschiedensten Mitgliedstaa-
ten vor. Dies nahmen die Straßburger Richter bereits im
Jahr 2000 zum Anlass, ihre Rechtsprechung dahin ge-
hend zu ändern, die Europäische Menschenrechtskon-
vention als verletzt anzusehen, wenn gerichtliche Ver-
fahren eine unangemessene Dauer aufweisen und den
Betroffenen kein wirksames Rechtsmittel dagegen zur
Verfügung gestellt wird.
Dem Straßburger Gerichtshof lag im September letz-
ten Jahres ein Fall aus der Bundesrepublik zur Entschei-
dung vor, in dem der Beschwerdeführer nach 13 Jahren
auf eine rechtskräftige Entscheidung zur Neuerteilung
eines Waffenscheins warten musste. Wenn man sich die
Umstände des Falls vor Augen führt, aufgrund derer der
EGMR nun die Bundesrepublik binnen Jahresfrist zur
Schaffung eines wirksamen Rechtsmittels auffordert, so
wird deutlich, dass es hier nicht allein um das zentrale
Verfahrensgrundrecht der Rechtsschutzgarantie nach
Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes geht: Der Beschwer-
deführer betreibt ein Personenschutzunternehmen. Es
fällt daher nicht schwer, eine Betroffenheit seines
Grundrechts auf freie Berufsausübung nach Art. 12 GG
festzustellen.
Auch andere Freiheitsrechte stehen hier im Fokus: In
einem anderen prominenten Fall, der im Herbst 2000
entschieden wurde, verbrachte der Beschwerdeführer
wesentliche Teile des als überlang empfundenen Verfah-
rens in Untersuchungshaft. Insgesamt sind in allen Fäl-
len also ganz wesentliche Grundrechte betroffen. Des-
halb verlangt der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte von der Bundesrepublik, dass wir die
verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für einen effekti-
ven Rechtsschutz schaffen. Neben Art. 19 Abs. 4 und
Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes verpflichtet uns Art. 6
Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention
dazu.
Auf der anderen Seite steht mit der Gestaltung und
Leitung des Gerichtsverfahrens auch die richterliche Un-
abhängigkeit auf dem Spiel. Es sind damit unterschiedli-
che grundgesetzlich geschützte Rechte und Grundsätze
betroffen, die in praktische Konkordanz gebracht werden
müssen.
In verfahrensrechtlicher Hinsicht gilt: Bei der Ausge-
staltung des Rechtsmittels müssen wir einerseits die
Qualität eines tatsächlich wirksamen Rechtsmittels errei-
chen, ohne andererseits dem missbräuchlichen Einsatz
Tür und Tor zu öffnen. Dabei ist mir die Missbrauchsge-
fahr, die ein solch umfassendes, die Gerichtsbarkeiten
übergreifendes Rechtsmittel mit sich bringt, bewusst.
Die Verzögerungsrüge mit anschließender Entschädi-
gungsklage könnte schnell zum Massenphänomen wer-
den. Schließlich könnten Rechtsanwälte allein aus Haf-
tungsgesichtspunkten regelmäßig veranlasst sein, die
Rüge gewissermaßen „pro forma“ zu erheben, um für
spätere Entschädigungsklagen nicht präkludiert zu sein.
Natürlich muss das Rechtsmittel auch so ausgestaltet
sein, dass es sich nicht selbst negativ auf die Dauer des
Ausgangsverfahrens auswirkt. Deshalb ist es richtig,
dass das Gericht nicht notwendig zu einer förmlichen
und begründeten Entscheidung verpflichtet ist. Hier soll-
ten wir aber meines Erachtens prüfen, die Eingabe, mit
der die Verzögerung geltend gemacht wird, um ein Be-
gründungserfordernis, wie es beispielsweise vom Deut-
schen Richterbund gefordert wird, zu ergänzen. Nur auf
diese Weise kann den Verfahrensbeteiligten konstruktiv
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9535
(A) (C)
(D)(B)
angezeigt werden, woran die gewünschte Fortsetzung
scheitert.
Gerade aus der Richterschaft höre ich, dass Verfahren
oftmals daran kranken, dass Parteien, Sachverständige
und das Gericht sich nicht hinreichend über den Fort-
gang des Verfahrens und etwaige Hindernisse und Hür-
den austauschen. Ihre Erfahrung ist, dass man oftmals
über lange Zeiträume hinweg zwar die Dauer des Ver-
fahrens kritisiert, ohne sich gemeinsam über die Gründe
zu verständigen. Dem Mangel der unzureichenden Kom-
munikation könnte durch eine konkrete Begründung zu-
mindest entgegengewirkt werden. Wenn sich eine lange
Dauer abzeichnet, müssen die Beteiligten künftig ver-
bessert nach Möglichkeiten suchen, wie man das Verfah-
ren beschleunigen kann. Gleichermaßen müssen die Ge-
richte auch in die Lage versetzt werden, deutlich zu
machen, warum im speziellen Fall die Dauer eben doch
noch sachgerecht ist.
Zudem soll das Rechtsmittel nicht dazu führen, dass
die Gerichte in einer Art vorauseilender Anpassung die
Gründlichkeit zugunsten der Verfahrensbeschleunigung
hintenanstellen. In den allermeisten Fällen entspricht die
gerichtliche Gründlichkeit dem Interesse der Parteien.
In materieller Hinsicht müssen wir noch im Einzelnen
diskutieren, welche Verzögerungsgründe zur Entschädi-
gung führen sollen. Klar ist, dass es dabei nicht auf das
Verschulden des Gerichts ankommen soll. Deshalb soll-
ten wir auch den Begriff der Rüge noch einmal überden-
ken, denn damit ist zumeist assoziiert, dass ein Verschul-
dungsvorwurf gegenüber dem Gericht erhoben wird.
Wenn man sich die Gründe für Verfahrensverzögerungen
anschaut, dann ist es in den seltensten Fällen der Spruch-
körper des befassten Gerichts selbst, der eine überlange
Verfahrensdauer verursacht. Auch ist es – zumindest
nicht für die Fälle, über die wir heute reden – nicht etwa
eine unzureichende Personalausstattung von Gerichten
und Staatsanwaltschaften, die zu Verfahrenslängen von
10, 15 Jahren führt. Die dünne Personaldecke verlängert
die Verfahren in der Praxis – zweifellos. Aber dabei geht
es um Verzögerungen um einige Monate oder darüber,
nicht jedoch um Verzögerungen von acht, neun oder
mehr Jahren.
Ein gängiges Phänomen ist, so wird es aus der Praxis
immer wieder berichtet, dass die Einholung von Sach-
verständigengutachten sich als wahre Verfahrensbremse
erweist. Dass die Zahl der verfügbaren Gutachter, so bei-
spielweise in komplizierten baurechtlichen Verfahren,
sehr gering ist, gehört zu der Vielzahl von Gründen, wes-
halb sich gerichtliche Verfahren in die Länge ziehen.
Das sehen die Parteien in der Regel aber auch ein, sie ha-
ben selbst ein Interesse daran, dass der Sachverständige
sich die nötige Zeit zur Begutachtung nimmt. Unter wel-
chen Voraussetzungen es dann einen Entschädigungsan-
spruch geben soll, müssen wir noch diskutieren.
Wir müssen uns angesichts der im Gesetzentwurf an-
gelegten Entschädigungslösung auch mit der Frage aus-
einandersetzen, ob der von der Großen Kammer des
EGMR im Urteil vom Sommer 2006 erwogene präven-
tive Ansatz zur Verhinderung von überlangen Verfah-
rensdauern ein gangbarer Weg wäre. Ob sich die teil-
weise vorgeschlagene gesetzliche Fixierung einer
Untätigkeitsbeschwerde umsetzen lässt, ohne sich selbst
verzögernd auf das Verfahren auszuwirken, wird zu prü-
fen sein. Auch die im Entwurf unbegrenzte Höhe des Er-
satzes für materielle Schäden müssen wir diskutieren.
Ich will an dieser Stelle noch auf die strafrechtlichen
Ermittlungsverfahren eingehen, deren überlangem Ver-
lauf künftig ebenfalls mit einer Verzögerungsrüge be-
gegnet werden soll. Im Strafverfahren sind kompensato-
rische Ansätze, beispielsweise in Form eines Straf- oder
Vollstreckungsabschlags, bereits gerichtliche Praxis.
Hier sind die Maßgaben der Art. 20 Abs. 3 GG und des
Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention be-
reits richterrechtlich umgesetzt worden. Vor allem in den
Fällen, bei denen die Verfahren durch Einstellung oder
Freispruch beendet werden, sieht der Europäische Ge-
richtshof erheblichen Handlungsbedarf beim Gesetzge-
ber. Auch an dieser Stelle soll nun die Verzögerungsrüge
greifen und all die Fälle abdecken, in denen verzöge-
rungsbedingte Nachteile nicht bereits durch Strafgericht
oder Staatsanwaltschaft ausgeglichen wurden. Ob wir
uns als Gesetzgeber nun tatsächlich darauf verlassen,
dass die richterrechtlich entwickelten Entschädigungs-
formen weiter praktiziert werden und die gesetzliche
Kompensation lediglich subsidiär greift, ist ebenso zu
diskutieren wie die These, nach der das richterliche
Strafvollstreckungsmodell mit Inkrafttreten dieses Ge-
setzes entbehrlich und damit nicht mehr angewandt
werde. Gleiches gilt für die Frage, ob wir mit der Ge-
währung einer Rügemöglichkeit für alle Verfahrensbe-
teiligten nicht über das Ziel hinausschießen und ohne
Not weiter gehen, als es der EGMR von uns verlangt.
Eines können wir trotz der im Einzelfall überlangen
Verfahren in die Ausschussberatungen mitnehmen: Der
Rechtsschutz am Justizstandort Deutschland funktioniert
vorbildlich. Dies ist nicht zuletzt im jährlich von der
Weltbank herausgegebenen „Doing Business“-Bericht
auch für dieses Jahr deutlich gemacht worden: Gerade
im Hinblick auf die Rechtspflege bestehen danach gute
Investitionsbedingungen in der Bundesrepublik. Wir re-
den hier lediglich über Einzelfälle, bei denen die Um-
stände des Verfahrens für die Beteiligten wirklich extrem
und nicht hinzunehmen sind.
Trotzdem ist es gut, dass die Gesetzesinitiative an-
scheinend den Willen ausgelöst hat, auch mäßige Verzö-
gerungen im Alltag der Gerichte noch einmal zu über-
prüfen. So haben, wie zu hören war, einige
Verwaltungen bereits die Ankündigung des Gesetzent-
wurfs zum Anlass genommen, neben den üblichen
„Überlängeanzeigen“ in den Gerichtsbarkeiten auch Er-
hebungen zu den einzelnen Verfahrenslängen durchfüh-
ren. Hier entsteht auch in einigen Landesjustizverwal-
tungen ein Bewusstsein, das ich angesichts der bis-
herigen Verfahrenslängen nur begrüßen kann.
Abschließend möchte ich noch einen weiteren Gedan-
ken in die Beratungen mitnehmen: Wir sollten prüfen,
wie man beim Entschädigungsverfahren den Effekt aus-
schließt, dass allein Richter über richterliches Handeln
des Ausgangsverfahrens entscheiden. Ich gehe davon
aus, dass nur in wenigen Fällen das Ergebnis heißen
9536 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
(A) (C)
(D)(B)
wird, dass ein Verfahren tatsächlich als überlang zu be-
werten ist und einen Entschädigungsanspruch auslöst. In
den vielen Fällen, in denen Richter entscheiden, dass die
Kollegen alles richtig gemacht haben, dass ein langes
Gerichtsverfahren trotzdem nur als angemessen und
eben nicht als überlang bewertet wird, wird das nicht im-
mer die gewünschte Akzeptanz finden. Deshalb wäre es
schön, an dieser Stelle nicht ausschließlich professio-
nelle Richter mit der Entscheidung zu betrauen, sondern
auch die Bewertung durch Laien einfließen zu lassen. In
den Gerichtsbarkeiten, in denen Laienrichter im Spruch-
körper integriert sind, ist dieses bürgerschaftliche Ele-
ment bereits vorgesehen. Wir sollten prüfen, ob und wie
man dies darüber hinaus auf die anderen jeweils zustän-
digen Gerichte übertragen kann.
Dr. Edgar Franke (SPD): Wir beraten heute den Ent-
wurf der Bundesregierung zu dem Gesetz über den
Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und
strafrechtlichen Ermittlungsverfahren. Die mit diesem
Gesetz verbundenen Maßnahmen zur Beschleunigung
von Verfahren und vor allem zur Vermeidung von über-
langen Verfahren werden seit langem vielfach gefordert.
Lassen sie mich zunächst ein paar grundsätzliche An-
merkungen machen.
Worum geht es bei dem Gesetzentwurf? Mit dem Ge-
setz soll eine Rechtsschutzlücke geschlossen werden.
Das Gesetz gibt dem Rechtsuchenden die Möglichkeit,
bei Gericht die Rüge des überlangen Verfahrens zu erhe-
ben und auch eine Entschädigung hierfür zu beanspru-
chen. Die Entschädigung umfasst materielle und in Ein-
zelfällen auch immaterielle Nachteile. In Strafverfahren
darüber hinaus sind besondere Wiedergutmachungsmög-
lichkeiten vorgesehen. Über die Entschädigung sollen
dann die jeweils nächsthöheren Instanzen entscheiden.
Ich denke, eine Regelung ist notwendig. Bei den Pro-
zessbeteiligten, insbesondere bei Klägern im Zivilpro-
zess, geht oftmals das Vertrauen in den Rechtsstaat ver-
loren, wenn Prozesse so lange dauern, vor allem wenn es
um richtig viel Geld geht. Wenn gerade bei Mittelständ-
lern eine erhebliche Forderung nicht beglichen wird,
kann das oftmals für den Gewerbebetrieb eine Existenz-
gefährdung bedeuten, weil dieser durch einen Forde-
rungsausfall nicht selten in Liquiditätsprobleme kommt.
Ein gerichtlicher Rechtsschutz ist nur dann effektiv,
wenn er nicht zu spät kommt. Deshalb garantieren
Art. 19 Abs. 4 und Art. 20 Abs. 3 GG als auch die Euro-
päische Menschenrechtskonvention in Art. 6 Abs. 1 ei-
nen Anspruch auf Rechtsschutz in angemessener Zeit.
Die Schaffung eines Entschädigungsanspruchs bei über-
langen Gerichtsverfahren ist im Grundsatz zu begrüßen.
Damit wird dem Gedanken des Grundgesetzes, betroffe-
nen Bürgern effektiven Rechtsschutz zu gewähren,
Rechnung getragen. Zum effektiven Rechtsschutz zählt
nach meiner Auffassung nämlich auch die Garantie eines
raschen Rechtsschutzes. Der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte hat bereits mit einem Urteil vom
26. Oktober 2000 entschieden, dass bei überlanger Dauer
gerichtlicher Verfahren neben dem Recht auf ein faires
und zügiges Verfahren auch das in Art. 13 der Europäi-
schen Menschenrechtskonvention verbürgte Recht auf
wirksame Beschwerde verletzt sein kann. Danach muss
ein betroffener Bürger die Möglichkeit haben, einen
Rechtsbehelf wegen der überlangen Verfahrensdauer bei
einer staatlichen Stelle einzulegen und sich damit gegen
eine unangemessene Verfahrensdauer zu wehren. Bis-
lang sieht die deutsche Rechtsordnung einen solchen
Rechtsbehelf bei überlangen Gerichtsverfahren aus-
drücklich nicht vor. Das geltende deutsche Recht hat kei-
nen speziellen Rechtsbehelf bei überlanger Dauer von
gerichtlichen Verfahren, wenn man einmal von der
Dienstaufsichts- und der Verfassungsbeschwerde ab-
sieht. Die Rechtsprechung lässt zwar kraft richterlicher
Rechtsfortbildung eine außerordentliche Beschwerde,
eine Untätigkeitsbeschwerde zu, aber um Rechtsbehelfs-
klarheit für alle Gerichtszweige zu erzielen, erscheint
eine Normierung geboten.
Und dennoch, liebe Frau Ministerin Leutheusser-
Schnarrenberger, besteht bei einigen Punkten aus meiner
Sicht noch Klärungsbedarf. Und dennoch, liebe Kollegin
Leutheusser-Schnarrenberger, nur eine gute Absicht zu
haben, reicht nicht aus! Wichtig erscheint mir, dass ins-
besondere bei der Entschädigungsregelung noch Klä-
rungsbedarf besteht. Nach meiner Überzeugung ist es
notwendig und richtig, dass die Entschädigung nicht erst
ab dem Zeitpunkt der Erhebung der Verfahrensrüge
durch den Betroffenen zu leisten ist. Nein, sie muss
rückwirkend ab dem Zeitpunkt des Beginns des Verfah-
rens geleistet werden, damit sie auch eine präventive
Wirkung bei den Gerichten entfalten kann. Aber nicht
nur das: Auch würde eine solche Regelung verhindern,
dass ein Anwalt wegen der zu erwartenden höheren Ent-
schädigungssumme frühzeitig im Verfahren diese Rüge
vorbringt. Und Sie müssen die Voraussetzungen konkre-
tisieren, nach denen Entschädigungszahlungen auch
dann geleistet werden, wenn die Schäden der Betroffe-
nen keine Vermögensschäden sind.
Nach meiner Auffassung ist der von Ihnen in den Ge-
setzentwurf geschriebene Regelbedarf von 100 Euro pro
Monat Verfahrensdauer in den meisten Fällen absehbar
zu niedrig angesetzt. Gerade bei den von mir beschriebe-
nen Fällen, wo wirtschaftliche Existenzen bedroht sind,
bietet sich beispielsweise auch eine zeitliche Staffelung
– zum Beispiel ab einem gewissen Zeitpunkt pro Monat
200 oder 300 Euro – an. Die vorgesehene Öffnungsklau-
sel könnte beispielsweise auch entsprechend entwickelt
und konkretisiert werden.
Gerade auch als jemand, der in seinem Leben vor der
Politik als Jurist und Bürgermeister tätig war, will ich
mir erlauben, abschließend auf einige praktische Beden-
ken hinzuweisen: Erstens. Wenn man den Art. 22, also
die Übergangsvorschriften des Gesetzentwurfes, liest,
muss man befürchten, dass mit Inkrafttreten des Geset-
zes eine Flut von Verzögerungsrügen quer über alle Ge-
richtszweige über die Gerichte hereinbrechen könnte,
wenn auch möglicherweise zu einem guten Teil unsub-
stanziiert. Zweitens. Darüber hinaus muss man befürch-
ten, dass zuerst die Verfahren bearbeitet werden, in de-
nen die Rüge erhoben wurde, und dann unter Umständen
hierbei die Fälle zuerst, in denen die Rüge substanziiert
erscheint und es beispielsweise im Zivilrecht um hohe
potenzielle Schäden oder Summen geht! Das wäre dann
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9537
(A) (C)
(D)(B)
eine Bevorzugung der Fälle mit hohem Streitwert, und
das kann nicht Sinn der Gesetzgebung sein. Drittens. Ge-
nerell ist zu befürchten, dass Anträge auf Fristverlänge-
rung und Terminverlegung – auch da, wo es juristisch
geboten ist und sinnvoll erscheint – restriktiver gehand-
habt werden, um den etwaigen Vorwürfen der überlan-
gen Verfahrensdauer von vornherein den Boden zu ent-
ziehen. Viertens. Schließlich gilt es zu bedenken, dass es
für Gerichte bzw. Richter auch eine Rolle spielen
könnte, welche Schadenersatzansprüche sie durch über-
lange Verfahrensdauer ausgelösen würden. Mit anderen
Worten, wir dürfen Richter auch nicht dem Vorwurf aus-
setzen, lieber schnell anstatt richtig entschieden zu ha-
ben.
Zusammenfassend will ich feststellen, dass auch nach
meiner Überzeugung der mittelbare Druck auf das ent-
scheidende Gericht verstärkt wird. Insofern wird die Re-
gelung präventiv eher zu einem zügigen Gerichtsverfah-
ren führen. Ich bin allerdings davon überzeugt, liebe
Frau Ministerin Leutheusser-Schnarrenberger, dass es in
jedem Fall geboten und notwendig ist, die Verfahrens-
dauer auch dadurch zu verkürzen, dass Sie für eine bes-
sere Ausstattung an Personal- und Sachmitteln sorgen.
Auch an dieser Stelle müssen Sie zweifellos noch deut-
lich nachbessern.
Und, damit komme ich dann zum Schluss, wenn ich
dann lese, dass das Bundesministerium für Justiz selbst
davon ausgeht, dass die Schadenersatzansprüche nicht
unbedingt zu Mehrbelastungen der öffentlichen Haus-
halte führen, weil die Richter jetzt schneller entscheiden
und im Gegenzug zukünftig die Kosten der Verfahren
vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
wegfallen, dann ist, zurückhaltend formuliert, auch an
dieser Stelle noch erheblicher Klärungsbedarf. Insofern
hoffe ich, dass meine Bedenken bzw. die Bedenken der
SPD-Fraktion im Gesetzgebungsverfahren noch Berück-
sichtigung finden können.
Jens Petermann (DIE LINKE): Was lange währt,
sollte besonders gut werden. Die Hinweise des Europäi-
schen Gerichtshofs für Menschenrechte blieben zehn Jahre
ungehört. Mehrfach wurde die Bundesrepublik Deutsch-
land auf eine Lücke im deutschen Recht aufmerksam ge-
macht. Wer vor einem Gericht klagt, erwartet ein Urteil in
angemessener Zeit. Das verlangen auch das Grundgesetz
und die Europäische Menschenrechtskonvention. Nach
zehnjähriger Untätigkeit versucht die Bundesregierung
mit dem vorliegenden Entwurf, diese Lücke zu schließen.
Wie jeder sehen kann, benötigt sie dazu einen unange-
messenen Zeitraum; eine Untätigkeitsrüge gegenüber der
Regierung ist damit mehr als angebracht!
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll für die
Menschen, deren Gerichtsprozesse zu lange dauern, ein
gesetzlicher Entschädigungsanspruch eingeführt wer-
den. Grundsätzlich ist es die Aufgabe des Staates, ausrei-
chende personelle und sachliche Ressourcen zur Verfü-
gung zu stellen, damit es gar nicht erst so weit kommt.
Durch das nun vorgeschlagene Entschädigungsverfahren
werden aber unnötig weitere Kapazitäten bei den
Instanzgerichten durch Erhebung der Verzögerungsrüge
sowie bei den Oberlandesgerichten durch die Entschei-
dung über den Entschädigungsantrag gebunden. Dafür
bleiben andere Verfahren, insbesondere Hauptsachever-
fahren, liegen. Die von der Koalition angedachte Be-
schleunigungswirkung wird ins Gegenteil verkehrt. Die
Einführung der Entschädigungsregelung ändert nichts an
dem Missstand überlanger Verfahren. Vielmehr wird die
ohnehin schon überlastete Justiz zusätzlich belastet.
Scheinbar gehen Sie davon aus, dass die Richterinnen
und Richter im Moment noch über ausreichend freie Ar-
beitszeit verfügen, um sich mit den Gründen der Verzö-
gerung zu beschäftigen. Dem ist aber nicht so. Und das
sage ich Ihnen aus zwanzigjähriger Erfahrung als Ar-
beits- und Sozialrichter. Die einzige Gefahr, die ich mit
der Einführung sehe, ist, dass die betroffenen Richterin-
nen, Richter, Staatsanwältinnen und Staatsanwälte das
jeweilige Verfahren nach Eingang einer Verzögerungs-
rüge auf Kosten anderer – ebenfalls wichtiger und dring-
licher Verfahren – vorziehen. Ich habe einen anderen Lö-
sungsvorschlag: Sorgen Sie für eine ausreichende
sachliche und personelle Ausstattung der Gerichte und
Staatsanwaltschaften, geben Sie der Justiz mehr Autono-
mie, dann bekommen wir die Probleme mit überlangen
Gerichtsverfahren in den Griff. Die Krankheitssymp-
tome zu kaschieren, ist der falsche Weg. Die eigentli-
chen Ursachen dieses Phänomens werden damit jeden-
falls nicht beseitigt.
So wurde zum Beispiel durch Ihre verfassungswid-
rige Hartz-IV-Gesetzgebung eine Prozessflut an den So-
zialgerichten provoziert. 41 Gesetzesnovellen in sechs
Jahren haben zum Teil zu chaotischen Zuständen in der
Sozialgerichtsbarkeit und damit zu unzumutbaren Belas-
tungen für die rechtsschutzsuchenden Bürgerinnen und
Bürger geführt. In ihrer Not haben die Landesjustizmi-
nister Ressourcen aus den anderen Gerichtsbarkeiten
verlagert. Auch innerhalb der Sozialgerichtsbarkeit
selbst wurden Stellen zum SGB-II-bearbeitenden Be-
reich zulasten der übrigen Bereiche wie Rentenversiche-
rung, Krankenversicherung oder Unfallversicherung
umgeschichtet. Da muss sich niemand mehr wundern,
wenn ein rentenrechtliches Verfahren mit einem Antrag
im Jahre 2000 beginnt, über die Instanzen acht Jahre bis
zu einer Entscheidung benötigt und im Jahre 2010 mit
einer Rüge des Europäischen Gerichtshofs für Men-
schenrechte wegen überlanger Verfahrensdauer abge-
schlossen wird. Derartige Beispiele lassen sich zuhauf
finden, und ihre Zahl wird sich auch trotz des nun vorge-
sehenen Entschädigungsanspruchs nicht signifikant
ändern. Da wir gerade beim SGB II sind: Was bleibt ei-
gentlich einem Hartz-IV-Empfänger, wenn er eine Ent-
schädigung für ein mehrere Jahre dauerndes Verfahren
zugesprochen bekommt? Wahrscheinlich nichts; denn
diese wird wohl auf seine Regelleistungen angerechnet!
Die gesetzliche Festlegung eines bestimmten Geldbe-
trages, der Nichtvermögensschäden ausgleichen soll,
lehnen wir ab. Stattdessen sollte der Betrag von
1 200 Euro für jedes Jahr der Verzögerung als Unter-
grenze und nicht als fester Entschädigungsbetrag festge-
legt werden. In anderen derartigen Fällen hat der Gesetz-
geber es den Gerichten überlassen, den angemessenen
Betrag unter Berücksichtigung aller Umstände des Ein-
9538 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
(A) (C)
(D)(B)
zelfalls festzusetzen. Dies ist gerade vor dem Hinter-
grund der unterschiedlichen psychischen Belastungen
der am Gerichtsprozess Beteiligten sinnvoll. Das Ent-
schädigungsmodell soll für alle Gerichtsbarkeiten gelten
und das jeweilige Oberlandesgericht soll eine Allzustän-
digkeit für Entschädigungsverfahren aller übrigen Ge-
richtsbarkeiten erhalten. Mir ist schleierhaft, wie Richte-
rinnen und Richter am Oberlandesgericht schwierige
steuerrechtliche, verwaltungsrechtliche oder arbeits-
rechtliche Sachverhalte hinsichtlich einer damaligen
Möglichkeit zur Beschleunigung bewerten sollen. Ir-
gendwie drängt sich der Verdacht auf, dass nach dem
Prinzip „linke Tasche, rechte Tasche“ verfahren wird.
Greifen Sie unsere Vorschläge auf, dann können wir dem
Gesetzentwurf zustimmen.
Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Das Thema der überlangen Gerichtsverfahren ist von
grundlegender Bedeutung für die Rechtspolitik. Der Eu-
ropäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die Bun-
desrepublik bereits in 54 Fällen verurteilt mit der Be-
gründung, dass überlange Gerichtsverfahren gegen die
Europäische Menschenrechtskonvention verstoßen. Ei-
nes dieser Verfahren dauerte 13 Jahre lang. Dabei stritt
man sich damals nicht einmal um eine juristisch beson-
ders komplexe Materie. Es ging ausschließlich um die
Erteilung eines Waffenscheins. In einem anderen Fall
musste ein Unfallopfer 24 Jahre auf seine Entschädigung
warten. Es war von einer Radfahrerin angefahren wor-
den. Dabei hatte es sich Nase und Arm gebrochen und
konnte anschließend seinen Beruf nicht mehr ausüben.
Derart lange Verfahren führen die Rechtssuchenden oft-
mals an den Rand der Verzweiflung.
Richtig ist aber auch: Die Alltagsrealität an den deut-
schen Gerichten ist das nicht. Überlange Gerichtsverfah-
ren sind glücklicherweise kein Massenphänomen, sie
sind die Ausnahme. Deutschland weist sich im Allge-
meinen durch ein gutes und funktionierendes Rechtssys-
tem aus.
Was schlägt nun die Bundesregierung vor, um das
Problem der überlangen Gerichtsverfahren zu lösen? Die
Bundesregierung will für überlange Gerichtsverfahren
einen Entschädigungsanspruch einführen. Um diesen
Entschädigungsanspruch durchzusetzen, muss die Klä-
gerin bzw. der Kläger zuvor im Verfahren die lange Ver-
fahrensdauer gerügt haben. Die Entschädigung umfasst
materielle Nachteile. Sie umfasst auch immaterielle
Nachteile. Dann beträgt sie 1 200 Euro pro Jahr, bei Un-
billigkeit kann ein höherer oder niedrigerer Betrag fest-
gesetzt werden.
Wenn man sich diesen Vorschlag genauer anschaut,
dann stellt man fest: Die Entschädigung für immaterielle
Nachteile kann nur beansprucht werden – ich zitiere –,
„soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalls Wie-
dergutmachung auf andere Weise … ausreichend ist“.
„Wiedergutmachung auf andere Weise“ bedeutet: die
bloße Feststellung, dass das Verfahren zu lange gedauert
hat, mehr nicht.
Wir fragen uns: Was bringt dem Rechtsuchenden eine
solche Feststellung, die er sich dann stolz auf seinen
Schreibtisch legen kann? Aus unserer Sicht nicht wirklich
viel. Wir Grünen setzen uns deshalb für eine Umkehr des
Regel-Ausnahme-Verhältnisses ein. Mit anderen Worten:
Jede und Jeder soll Anspruch auf eine Entschädigungs-
zahlung haben, wenn ein Verfahren zu lange dauert. Nur
in besonderen Fällen soll die alleinige Feststellung der
überlangen Verfahrensdauer ausreichen.
Auch die Höhe der Entschädigungszahlung überzeugt
nicht, wenn wir überlangen Verfahren wirklich vorbeu-
gen wollen. Lassen Sie uns noch einmal einen Blick in
den vorgelegten Entwurf werfen. Dort steht geschrieben:
„Die Entschädigung … beträgt 1 200 Euro für jedes Jahr
der Verzögerung.“ Die Entschädigung wird also nicht
nach Monaten, sondern nach Jahren berechnet. Das be-
deutet wiederum, dass derjenige, dessen Verfahren sich
„nur“ um 11 Monate verzögert, leer ausgeht. Auch mei-
nen wir, dass eine reine Entschädigungslösung zu kurz
gegriffen ist.
Wir müssen zusätzlich die Kontrollmechanismen in-
nerhalb der Gerichte stärken. Wenn sich das Präsidium
eines Gerichts alle Vorgänge vorlegen lassen müsste, die
nicht innerhalb eines Jahres abgeschlossen sind, würde
eine bessere und kontinuierlichere Kontrolle innerhalb
der Gerichte stattfinden. Das Präsidium müsste dann
feststellen, aus welchem Grund ein Verfahren zu lange
dauert. Sollte dieser in der Struktur bzw. der Aufgaben-
verteilung liegen, sollte das Präsidium die Möglichkeit
erhalten, geeignete Maßnahmen zu ergreifen. Gesetzlich
könnte das zum Beispiel im Deutschen Richtergesetz
verankert werden. Über das Gerichtsverfassungsgesetz
könnten wir regeln, dass die Gerichtspräsidien einen er-
weiterten Bedarf an Richterstellen dem zuständigen Par-
lament als Haushaltsgesetzgeber zur Entscheidung zulei-
ten.
Wir Grünen werden uns in dieser Sache weiterhin ak-
tiv am parlamentarischen Verfahren beteiligen, um den
Bürgerinnen und Bürgern geeignete Mittel gegen über-
lange Verfahren an die Hand zu geben.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-
ministerin der Justiz: Die Justiz in Deutschland arbeitet
im Ganzen gesehen zügig; sie entscheidet rasch, und sie
ist damit bürgerfreundlich. Ganz gleich, ob Strafverfah-
ren, ziviler Rechtsstreit oder Fachgerichtsbarkeit, die al-
lermeisten Verfahren können in einer angemessenen Zeit
abgeschlossen werden. Bei den Amtsgerichten zum Bei-
spiel wird die Hälfte aller Zivilverfahren innerhalb von
drei Monaten erledigt.
Trotzdem kommen leider immer wieder Einzelfälle
vor, in denen Prozesse viel zu lange dauern. Wenn aber
jahrzehntelang Unsicherheit besteht, ob eine Forderung
besteht oder wie über eine Anklage entschieden wird,
dann kann dies für die Betroffenen eine enorme Belas-
tung sein. In Zukunft sollen Bürgerinnen und Bürger
deshalb vor überlangen Gerichtsverfahren besser ge-
schützt werden. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
wollen wir einen Entschädigungsanspruch gegen den
Staat schaffen; er soll für alle Gerichtsbarkeiten gelten,
und er bezieht auch die obersten Bundesgerichte und das
Bundesverfassungsgericht mit ein. Damit wollen wir zu-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9539
(A) (C)
(D)(B)
gleich dafür sorgen, dass in Zukunft überlange Verfahren
noch seltener vorkommen als heute.
Bislang gibt es im deutschen Recht keinen Rechts-
schutz gegen überlange Gerichtsverfahren. Diese Lücke
müssen wir schließen; denn sie ist nach der Rechtspre-
chung des Europäischen Gerichtshofs für Menschen-
rechte ein strukturelles Defizit. Nach den Vorgaben des
Gerichtshofs muss Deutschland dieses Defizit bis spätes-
tens Ende 2011 beheben. Wir stehen hier also völker-
rechtlich in der Pflicht. In der Pflicht stehen wir aber
auch verfassungsrechtlich. Das Bundesverfassungsge-
richt hat stets den hohen Rang der Prozessgrundrechte
bekräftigt. Zu ihnen gehört das Recht, dass in einem Ver-
fahren nach angemessener Zeit auch entschieden wird.
Die Vorgaben sind also klar. Trotzdem sind in der Ver-
gangenheit alle Lösungsversuche an politischen Wider-
ständen gescheitert.
Ich freue mich deshalb sehr, dass es inzwischen einen
breiten Konsens darüber gibt, dass wir den Rechtsschutz
gegen überlange Verfahren endlich verbessern müssen.
Auch inhaltlich wird das Konzept der Bundesregierung
von den Ländern und den Verbänden der Richter- und
Anwaltschaft im Grundsatz mitgetragen. Viele sind mit
mir der Meinung, dass wir den Entschädigungsanspruch
davon abhängig machen sollten, dass die Betroffenen
zuvor eine Verzögerungsrüge erheben. Eine solche Vor-
warnung dient der Prävention. Sie soll das Gericht dazu
bewegen, das Verfahren zu beschleunigen und es gar
nicht erst zu einem überlangen Verfahren kommen zu
lassen.
Natürlich hat es an unserem Entwurf an der einen
oder anderen Stelle Kritik gegeben. Manche Länder
meinen, der Entwurf gehe zu weit und könne die Länder-
haushalte mehr als nötig belasten. Demgegenüber
wollen Teile der Anwaltschaft sogar mehr, als der Regie-
rungsentwurf vorschlägt; sie wollen eine Kombination
aus Entschädigung und einer echten Beschwerdemög-
lichkeit an ein höheres Gericht. Wenn ein Gesetzentwurf
den einen zu weit und den anderen nicht weit genug
geht, gibt das Anlass zu der Annahme, dass er genau
richtig liegt, nämlich in der Mitte.
Die Regelung ist so ausgestaltet, dass für die Justiz
keine unnötigen Mehrbelastungen entstehen. Wir ver-
zichten ganz bewusst darauf, für den notwendigen
Rechtsschutz ein neues Nebenverfahren zu eröffnen. Das
würde nur zusätzlichen Aufwand schaffen. Stattdessen
bekommen die Richter, um deren Verfahren es geht, die
Möglichkeit, bei berechtigten Verzögerungsrügen Ab-
hilfe zu leisten und so einen Entschädigungsprozess zu
verhindern. Nur wer nach einer solchen Vorwarnung an
den Richter sein Verfahren immer noch für zu langsam
hält, der kann eine Entschädigung verlangen. Liegen die
Voraussetzungen vor, werden Vermögensnachteile und
Nichtvermögensnachteile ersetzt. Dabei kommt es übri-
gens nicht auf ein Verschulden der einzelnen Richter an.
Der Staat trägt auch dann die Verantwortung, wenn ein
Verfahren aus strukturellen, also vom einzelnen Richter
nicht zu vertretenden Gründen unangemessen lange dau-
ert.
Wenn es in Einzelfällen berechtigte Klagen über zu
lange Verfahren gibt, dann muss man auch über Verbes-
serungen nachdenken. Das bedeutet aber nicht automa-
tisch Mehraufwendungen für die Ausstattung der Ge-
richte. Verbesserungen lassen sich auch und gerade
durch die Geschäftsverteilung und die Organisation in
der Gerichtsbarkeit erreichen. Das neue Gesetz kommt
deshalb nicht nur den Beteiligten eines Gerichtsverfah-
rens zugute, sondern es dient auch der Justiz insgesamt.
Damit stärken wir den Rechtsstaat, und deshalb hoffe ich
auf eine breite Zustimmung für dieses Projekt.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts: Beziehungen der Europäischen Union
mit Afrika solidarisch und gerecht gestalten
(Tagesordnungspunkt 14)
Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU): Nach
dem EU-Afrika-Gipfel Ende November letzten Jahres in
Tripolis debattieren wir heute in zweiter und dritter Le-
sung den Antrag der Fraktion Die Linke „Beziehungen
der Europäischen Union mit Afrika solidarisieren und
gerecht gestalten“. Im Fall Ihres Antrags muss ich sagen:
Papier ist geduldig. Aber Papier sowie Ihr undifferen-
zierter Antrag entwickelt sich manchmal auch genauso
schnell, wie es beschrieben wird, zur Makulatur. Wenn
Sie den Verlauf des Gipfels in Tripolis mit seinen Ver-
handlungsergebnissen verfolgt haben, dann werden Sie
feststellen, dass Konsens über die Wichtigkeit der Wirt-
schaftspartnerschaftsabkommen zwischen den Mitglied-
staaten der EU und den Mitgliedstaaten der AU herrscht.
Die Handels- und die Wirtschaftsbeziehungen zwischen
der EU und den Ländern des afrikanischen Kontinents
müssen als das begriffen werden, was sie sind, nämlich
als Chancen für sozialen Aufstieg, wirtschaftlichen Fort-
schritt, politische Selbstbestimmung und Unabhängig-
keit. Darin liegt der Unterschied zu Ihrer „kolonialen
Dominanz“, die Sie in diesen Handelsbeziehungen er-
kennen wollen. Der Gewinn durch Handelsbeziehungen
ist ungleich größer, als jede Form von Entwicklungszu-
sammenarbeit es jemals sein kann.
Die Linke tritt ja bekanntermaßen für mehr Solidarität
der Menschen untereinander ein. Jetzt ist nur die Frage:
Was ist überhaupt Ihre Definition von Solidarität? Ist So-
lidarität der Tropf der Entwicklungshilfe, wie es Ihr An-
trag implizit fordert? Oder ist Solidarität, wie wir sie se-
hen, Partnerschaft, in der beide Partner, in unserem Fall
Europa und Afrika, einander auf Augenhöhe begegnen
und wirtschaftlich kooperieren? In Ihrem Fall sehe ich
den Begriff Solidarität leider nur als ein Verharren im
Status quo. Wozu eine Partnerschaft anstreben? Sie woll-
ten doch am liebsten zurück in das von Ihnen kritisierte
Geber-Nehmer-Verhältnis. Nur hier können Sie Mitleid
haben und Ihre ideologische Rhetorik vortragen. Aber
dieses Nichtsgetue macht die Menschen nicht satt und
schafft auch keine Existenzgrundlage. Das sollten Sie
sich endlich eingestehen.
9540 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
(A) (C)
(D)(B)
Wie in Ihrem Antrag dargestellt, sehen Sie das Kon-
zept der zivilen Krisenprävention und der vernetzten Si-
cherheit als Wurzel staatlicher Repression und indirekt
als Ursache für Menschenrechtsverletzungen. Nun, dann
muss ich Ihnen sagen, dass Sie das Konzept einfach
nicht verstanden haben. Die Krisenprävention, wie der
Name sagt, beugt Krisen vor. Dabei sind Krisenpräven-
tion und vernetzte Sicherheit eine kohärente Strategie
zur Problembewältigung. Nicht die militärische Inter-
vention steht im Vordergrund, sondern die Vermeidung
bewaffneter Konflikte und Krisen. Wer wie im Kongo,
im Sudan und in Somalia den Schutz und die Sicherheit
der Bevölkerung sicherstellen will, der muss dafür sor-
gen, dass ein Staat auf eigenen Füßen stehen kann. Dazu
zählt notwendigerweise auch der Aufbau einer funktio-
nierenden Polizei und von Streitkräften. Aber wenn Sie,
wie in Ihrem Antrag auf Drucksache 17/4248, den sofor-
tigen Abzug deutscher Ausbilder aus Uganda fordern,
die dort Sicherheitskräfte für Somalia ausbilden, dann
zeigt dies wieder einmal, wer sich mit der Thematik be-
fasst hat oder nicht.
Deutschland und die Europäische Union haben ein In-
teresse an starken, selbstständigen afrikanischen Staaten.
Dazu wollen wir in Afrika Wirtschaftswachstum gene-
rieren. Doch wirtschaftliche Entwicklung setzt ein Min-
destmaß an Stabilität voraus, die wir politisch begleiten
müssen. Dazu gehören ein zuverlässiges Steuer- und
Rechtssystem sowie eine gute Regierungsführung, die
die Achtung der Menschrechte als erstes Paradigma ver-
tritt. Die Einigkeit in dieser Frage kam auch auf der Ab-
schlusserklärung des EU-Afrika-Gipfels in Tripolis zum
Ausdruck. Nur mit einem gemeinsamen Voranschreiten
in diesen Fragen werden wir Armut und Hunger in
Afrika besiegen können. Und, ich wiederhole es hier
noch einmal: Dies passiert in jedem Staat einzeln, unter
der Berücksichtigung der Eigenheiten jedes Landes. Ihre
„koloniale Dominanz“ tritt darin hervor, dass Sie ganz
Afrika über einen Kamm scheren.
Deutschlands Ausgaben im Rahmen der Entwick-
lungszusammenarbeit steigen stetig. Dies ist ein Zei-
chen, wie ernst wir unsere Verantwortung nehmen. Ganz
recht, wie Sie sagen: Migration kann nur in den Ländern,
in denen die Ursachen liegen, wirkungsvoll bekämpft
werden. Dafür treten wir ein. Deswegen haben wir im
Jahr 2009 3 478 Millionen Euro in die afrikanischen
Länder südlich der Sahara transferiert. Aber von nicht zu
unterschätzender Bedeutung sind auch die deutschen
Unternehmen, die in zahlreiche afrikanische Länder in-
vestieren und so einen Mehrwert für die Menschen vor
Ort schaffen. Wirtschaftlicher Austausch führt immer zu
beiderseitigem Gewinn. Die Chancen, die darin liegen,
gilt es zu nutzen. Hervorheben möchte ich hierbei den
Sektor der Informations- und Kommunikationstechnolo-
gie, der in Tripolis erwähnt wurde. Hier schlummert ein
riesiges Potenzial, das es zu wecken und zu fördern gilt.
Auch müssen wir den Bereich des Public-private-Part-
nership stärker in unsere Entwicklungsbemühungen ein-
beziehen und fördern.
Ein Punkt Ihres Antrags ist die Neuausrichtung der
Rohstoff- und Energiepolitik auf regenerative, umwelt-
verträgliche, gerechte und Konflikte vermeidende Strate-
gien der Energieversorgung. In diesem Punkt Ihres An-
trags stimme ich Ihnen vollkommen zu. Das Problem ist
nur, dass Sie hier der Zeit etwas hinterher sind. Genau
dies setzten wir schon lange um. Der Schutz der Umwelt
ist ein ausgewiesenes Ziel der MDG. Eine nachhaltige
Energieversorgung geht damit unzweifelhaft einher.
Dies sahen auch die Staaten in Tripolis so. Der Ausbau
eines Marktes für nachhaltige Energien insbesondere mit
Investitionen in den Bereich der erneuerbaren Energien
wird angestrebt, wie die Abschlusserklärung verlauten
lässt. Ein Technologie- und Wissenstransfer kann dem
großen Vorschub leisten.
In Ihrem Antrag plädieren Sie für die Herstellung von
Ernährungssouveränität in den afrikanischen Ländern. In
diesem Punkt muss ich Ihnen beipflichten. Aber ich
frage mich: Haben Sie die Entwicklung der letzten Jahre
verfolgt? Es ist ein ausgemachtes Ziel, die afrikanische
Landwirtschaft zu stärken. Daran wird mit vollem Elan
gearbeitet. Ihre Forderung ist insofern nichts Neues. Gut
wäre es, wenn Sie hierzu eigene Ansätze einbringen
würden.
Zu allerletzt noch eine Bitte an die linke Seite dieses
Hauses: Sie werden den Chancen des Kontinentes Afrika
mit solchen ideologisch geprägten Anträgen nicht ge-
recht. Noch weniger hilft es, die noch bestehenden Pro-
bleme zu lösen. Dies wird unter anderem dadurch deut-
lich, dass uns die Bevölkerung der Elfenbeinküste bittet,
die Wählerentscheidung der Präsidentschaftswahlen
vom 28. November 2010 durchzusetzen und Herrn
Ouattara als gewählten Präsidenten anzuerkennen. Dies
steht im krassen Gegensatz zu einer Äußerung eines Mit-
glieds der Fraktion der Linken in der Zeitung Das Parla-
ment, keinen der beiden Kandidaten zum Wahlsieger zu
erklären und die Wahlen zu wiederholen. Mit dieser For-
derung steht die Linke wieder einmal gegen die gesamte
Weltgemeinschaft. Kümmern Sie sich endlich um die
Belange der Menschen dieses Kontinents, aber instru-
mentalisieren Sie die Nöte der Menschen nicht mehr zu
Ihren Zwecken.
Karin Roth (Esslingen) (SPD): Das dritte Gipfeltref-
fen von Europäischer Union und den afrikanischen Staa-
ten am 29. und 30. November 2010 in Tripolis war ein
weiterer wichtiger Schritt zu einer echten Partnerschaft
auf Augenhöhe. Bedauerlicherweise hat die Bundes-
kanzlerin nicht an dem Gipfel teilgenommen und statt-
dessen ihren Außenminister geschickt. Dies ist eine völ-
lige Fehleinschätzung seitens der Kanzlerin über die
Bedeutung Afrikas in der Zukunft. Denn: Die Realität
sieht anders aus. 1 Milliarde Menschen in 53 Ländern
Afrikas erwarten zu Recht, dass die europäisch-afrikani-
sche Partnerschaft nach dem Gipfel nicht nur in gut ge-
meinten Absichtserklärungen stattfindet, sondern kon-
kret gelebt und weiter ausgebaut wird. Dazu haben sich
die Staats- und Regierungschefs mit dem verabschiede-
ten Aktionsplan ein ehrgeiziges Ziel bis zum nächsten
Gipfel 2013 in Brüssel gesetzt. Um es deutlich zu sagen:
Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt den Aktionsplan.
Allerdings kritisieren wir, dass es keinen verbindlichen
Finanzierungsplan zu dessen Umsetzung gibt. Deshalb
fordern wir alle Beteiligten – die Europäische Union, die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9541
(A) (C)
(D)(B)
afrikanischen Partnerländer und natürlich auch die Bun-
desregierung – auf, den Worten nun Taten folgen zu las-
sen und die dafür notwendigen finanziellen Mittel bereit-
zustellen.
Der Antrag der Fraktion Die Linke, über den wir
heute beraten, beschränkt sich im Wesentlichen auf wirt-
schafts- und sicherheitspolitische Aspekte und bleibt so-
mit unvollständig. Die SPD-Fraktion lehnt den Antrag
deshalb ab. Vielmehr muss es darum gehen, die Ent-
wicklung der afrikanischen Partnerländer in allen Poli-
tikbereichen zu fördern und nachhaltig zu stärken. Wo-
rum geht es uns konkret? Zum einen geht es um die
künftige Ausgestaltung der Wirtschaftspartnerschaftsab-
kommen. Auch hier müssen die gemeinsamen Interessen
und das Verbindende in den Vordergrund gerückt wer-
den. Die Zeiten des Exportkolonialismus, bei dem es nur
darum ging, neue Absatzmärkte für die Industriestaaten
zu erschließen, sind glücklicherweise endgültig vorbei.
Ich möchte mich in diesem Zusammenhang ausdrücklich
bei EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso be-
danken, dem es vor allem zu verdanken ist, dass auf dem
EU-Afrika-Gipfel alle Beteiligten bei der Frage der
Wirtschaftspartnerschaftsabkommen einen oder gar
mehrere Schritte aufeinander zugegangen sind. Das ist
ein Verdienst und für uns das richtige Verständnis von
Partnerschaft auf Augenhöhe.
Dazu gehört übrigens auch der Aufbau einer Rohstoff-
partnerschaft, bei der es nicht nur darum gehen kann, die
Rohstoffe in Afrika für Europa auszubeuten. Stattdessen
fordern wir die Eindämmung des illegalen Rohstoffab-
baus und die Ausweitung der Zertifizierung. Ich begrüße
den entsprechenden Vorschlag der Kommission, in Zu-
sammenarbeit mit der Initiative zur Verbesserung der
Transparenz in der Rohstoffindustrie – EITI – ein wirksa-
mes Controlling aufzubauen. Mit der Annahme des
US-Gesetzes über Konfliktmineralien, Conflict Minerals
Law, und des Cardin-Lugar-Act, der umfangreiche Be-
richtspflichten der Rohstoffindustrie vorsieht, wurden zu-
dem große Schritte zu mehr Transparenz und zur
Bekämpfung von Korruption und illegaler Rohstoffaus-
beutung in Afrika gemacht. Die SPD-Bundestagsfraktion
fordert die Kommission und die Bundesregierung auf,
schnellstmöglich entsprechende Vorschläge für die Rück-
verfolgbarkeit von in den europäischen Markt eingeführten
Mineralien und für mehr Transparenz in der Rohstoffwirt-
schaft vorzulegen. Letztlich brauchen unsere afrikanischen
Partner und wir eine gemeinsame Rohstoffstrategie, die
umwelt- und sozialverträglich ausgestaltet ist und auch
der örtlichen Bevölkerung zugutekommt.
Um es aber klar zu sagen: Wirtschaftliche Zusam-
menarbeit im Sinne von nachhaltiger Entwicklungszu-
sammenarbeit muss sich auch an der Einhaltung von ge-
meinsam vereinbarten Standards messen lassen. Bei der
Verhandlung und Durchführung der Wirtschafts- und
Handelsabkommen zwischen der EU und Afrika ist si-
cherzustellen, dass die von der Internationalen Arbeits-
organisation, ILO, vorgegebenen Sozialstandards – die
sogenannten ILO-Kernarbeitsnormen – und ökologische
Mindeststandards verbindlich festgeschrieben und ein-
gehalten werden. Ziel ist es, die Voraussetzungen zu ver-
bessern, damit die Menschen durch Erwerbsarbeit ein
existenzsicherndes Einkommen erhalten. Dies war übri-
gens – in Verbindung mit Wachstum und Investitionen –
eine zentrale Frage des EU-Afrika-Gipfels.
Die Leitlinien für die Umsetzung des Aktionsplans
sind für uns eindeutig. Eine Grundvoraussetzung dafür
ist zunächst einmal die Bereitschaft der Geberländer,
ihre internationalen Zusagen und Verpflichtungen einzu-
halten, allen voran die Erfüllung der sogenannten ODA-
Quote. So hatte sich Deutschland verpflichtet, diese öf-
fentliche Entwicklungshilfe im Jahr 2010 auf 0,51 Pro-
zent des Bruttoinlandsprodukts zu steigern. Davon sind
wir weit entfernt. Das Ziel, im Jahr 2015 auf 0,7 Prozent
zu kommen, wird diese Bundesregierung – wenn sie so
weitermacht – nie und nimmer erreichen. Wir begrüßen
deshalb, dass sich die Staats- und Regierungschefs in ih-
rer Abschlusserklärung erneut zu dem 0,7-Prozent-Ziel
bekannt haben und dass in diesem Rahmen für die
nächsten drei Jahre Finanzhilfen in Höhe von 50 Milliar-
den Euro zugesagt wurden; denn eines ist klar: Ohne die
Einhaltung dieser Zusagen sind die Millenniumsent-
wicklungsziele und die Förderung einer nachhaltigen
Entwicklung in den Partnerländern nicht zu erreichen.
Aber genau das wollen wir. Wir wollen die nachhaltige
wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung der
Partnerländer fördern und stärken. Dazu gehört zum Bei-
spiel der Aufbau stabiler Strukturen für eine gute und
transparente Regierungsführung.
Wir wollen die Armut und den Hunger in den afrika-
nischen Ländern bekämpfen. Ein wesentlicher Schlüssel
ist dabei der Aufbau von Systemen der sozialen Siche-
rung – vor allem solidarisch organisierter Gesundheits-
systeme. Nur so kann es gelingen, gerade für die Ärms-
ten der Armen eine Absicherung gegen alle Risiken
von Krankheit zu gewährleisten. Gewinnorientierte pri-
vatwirtschaftliche Systeme sind der falsche Weg. Da-
mit Gesundheitssysteme aber auch praktisch funktio-
nieren, muss die Abwanderung hochqualifizierter
Fachkräfte – der sogenannte Braindrain – aus Afrika ge-
stoppt werden. Damit diese Fachkräfte wieder in ihr
Land zurückkehren, bedarf es starker Anreize. Die Ein-
stellung und angemessene Entlohnung von Gesundheits-
fachkräften müssen deshalb direkt gefördert werden. Im
Bereich der Bekämpfung der Mütter- und Kindersterb-
lichkeit ist die Stärkung der Kampagne für die beschleu-
nigte Reduzierung der Müttersterblichkeit in Afrika
– CARMMA – zu begrüßen. Bis 2013 soll diese Kampa-
gne in allen 53 Staaten der Afrikanischen Union an den
Start gegangen sein.
Wir begrüßen ausdrücklich, dass der Bereich der
Wasser- und Sanitätsversorgung in den neuen Aktions-
plan aufgenommen wurde. Die SPD-Bundestagsfrak-
tion hatte die herausragende Bedeutung dieses Themas
für die Menschen in den Partnerländern bereits im Vor-
feld des EU-Afrika-Gipfels mit dem Antrag „Das Men-
schenrecht auf sauberes Trinkwasser und Sanitärversor-
gung umsetzen“ unterstrichen und so erfolgreich
gefordert, dass das Menschenrecht auf Wasser und Sani-
tärversorgung ein Schwerpunkt der Europäischen Union
bleibt und sich im Aktionsplan des EU-Afrika-Gipfels
wiederfindet. Hinsichtlich der Vereinbarungen zum
Klima- und Umweltschutz ist der Gipfel jedoch deutlich
9542 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
(A) (C)
(D)(B)
hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Zwar ist es er-
freulich, dass das Bekenntnis zur gemeinsamen ökologi-
schen Verantwortung erneuert und vertieft wurde. Die
gemeinsame Erklärung im Vorfeld der Weltklimakonfe-
renz in Cancún ist, obwohl sie unterschriftsreif vorlag,
letztlich nicht zustande gekommen.
Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang auch
die Weichenstellungen für eine Energiewende auf dem
afrikanischen Kontinent. Dazu gehört das Programm
über die Zusammenarbeit zwischen Afrika und der Euro-
päischen Union im Bereich der erneuerbaren Energien
sowie die im September 2010 in Wien vereinbarten poli-
tischen Zielsetzungen bis 2020. Hier ist die Bundesre-
gierung ganz besonders in der Pflicht, die gemeinsam
mit der österreichischen Regierung den Vorsitz der euro-
päisch-afrikanischen Energiepartnerschaft innehat.
Der Aktionsplan zur Umsetzung der acht strategi-
schen Partnerschaften ist ein ehrgeiziger Fahrplan für die
nächsten drei Jahre. Die mit dem Tripolis-Gipfel ge-
stärkte Partnerschaft von Europäischer Union und Afrika
wird sich beim nächsten Aufeinandertreffen 2013 in
Brüssel daran messen lassen müssen. Vor allem die EU-
Mitgliedsländer sind aufgerufen, ihren Beitrag zu leis-
ten. Das Europäische Parlament hat mit seinem Be-
schluss vom 15. Dezember 2010 den richtigen Weg auf-
gezeigt. Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt zudem
ausdrücklich die Forderung, dass es den Europaabgeord-
neten ermöglicht wird, die Umsetzung des Aktionsplans
zu überwachen und so dessen Erfolg bis 2013 zu ge-
währleisten. Die Bundesregierung muss dabei der Motor
in der Europäischen Union sein. Gemeinsam mit den eu-
ropäischen und afrikanischen Partnern muss ein konkre-
tes Arbeitsprogramm zur Umsetzung der EU-Afrika-
Partnerschaft erarbeitet und mit den erforderlichen Fi-
nanzmitteln ausgestattet werden; denn sonst geht es wei-
ter wie immer. Großen Ankündigungen auf internationa-
ler Bühne folgt schon bald die Ernüchterung, wenn es
um die konkrete Umsetzung geht. Hier ist durch
Schwarz-Gelb in den rund sechzehn Monaten ihrer Re-
gierungszeit viel Vertrauen und Kredit verspielt worden.
Deshalb muss endlich Schluss sein mit den leeren Ver-
sprechungen.
Die SPD-Bundestagsfraktion erwartet, dass die Bun-
desregierung – allen voran der Entwicklungsminister –
sich wieder stärker mit den anderen Geberländern koor-
diniert. Es kann und darf nicht sein, dass deutsche Ent-
wicklungspolitik mehr und mehr dem Motto „Auf jedem
Projekt ein deutsches Fähnchen“ folgt. Wir fordern die
Bundesregierung deshalb auf, sich wieder zu den erfolg-
reichen multilateralen Geberinitiativen zu bekennen.
Denn eines ist klar: Die Erreichung der Millenniumsent-
wicklungsziele bis 2015 und die weltweite Bekämpfung
der Armut kann nur gemeinsam gelingen. Dies gilt ganz
besonders für den Ausbau der europäisch-afrikanischen
Partnerschaft.
Joachim Günther (Plauen) (FDP): Wir debattieren
heute in zweiter Lesung den Antrag der Fraktion Die
Linke „Beziehungen der Europäischen Union mit Afrika
solidarisch und gerecht gestalten“. Lassen Sie mich zu-
nächst festhalten: Wir alle sind fraktionsübergreifend
überzeugt von der Wichtigkeit der Beziehungen und der
Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Union und
Afrika und auch davon, dass diese solidarisch und ge-
recht gestaltet sein müssen. Nur eben in der Ausgestal-
tung ist der Antrag der Linken erwartungsgemäß ein im-
mer wiederkehrender Angriff gegen die wirtschaftlichen
Beziehungen der EU zu Afrika. Dabei wirft die Linke
der EU und ihren Mitgliedstaaten vor, sie würden durch
ihre Handels-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik die
kolonialen Dominanzverhältnisse fortsetzen und damit
eine sozial und ökologisch nachhaltige wirtschaftliche
Entwicklung in Afrika erschweren.
Beispielsweise wird die Anschuldigung erhoben, die
EU-Wirtschaftspartnerschaftsabkommen und die Libera-
lisierung der Märkte seien unausgewogen und eine Be-
drohung der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung
afrikanischer Länder. Die Armut werde damit nicht besei-
tigt, ja, sie verschärfe sich dadurch sogar. Die Linke lässt
außen vor, dass letztlich nur eine wirtschaftliche Ent-
wicklung in den jeweiligen Ländern eine Grundlage für
Arbeit und Auskommen ist. Deshalb ist es wichtig, zu be-
tonen, dass eine Zunahme des Handels zwischen der EU
und den afrikanischen Ländern entwicklungsförderlich
ist. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass
bereits insgesamt 35 AKP-Staaten bislang ein (Interims-)
Wirtschaftspartnerschaftsabkommen paraphiert haben
und ihnen damit zoll- und quotenfreier Marktzugang für
Waren in die EU gewährt wird, bei Übergangsfristen für
Zucker bis 2015 und für Reis bis 2009. Darunter sind ein
umfassendes regionales Wirtschaftspartnerschaftsab-
kommen mit der Karibik-Region, CARIFORUM, und ein
regionales Interimsabkommen mit der Ostafrikanischen
Gemeinschaft, EAC – East African Community. In allen
anderen Regionen haben Subregionen, zum Beispiel süd-
liches Afrika – SADC – bzw. einzelne Länder, Interims-
abkommen paraphiert und mit Ausnahme von Namibia
auch unterzeichnet. Die Interimsabkommen konzentrie-
ren sich dabei auf den Warenhandel. Sie bilden seit 2008
die Grundlage für die Weiterführung der Verhandlungen
mit dem Ziel des Abschlusses umfassender WPAs. Paral-
lel zur Weiterführung der Verhandlungen sollen die unter-
zeichneten Interimsabkommen umgesetzt werden.
In ihrem Antrag kritisieren die Linken auch, dass die
EU und Deutschland mit Einzelstaaten oder kleineren
Staatengruppen Abkommen geschlossen haben. Hierzu
möchte ich sagen, dass Afrika aus 54 eigenständigen
Staaten besteht, die Voraussetzungen für eine Zusam-
menarbeit für jedes Partnerland jeweils unterschiedlich
sind und es eine gute EU-Afrika-Strategie ausmacht, ge-
rade auf die spezifischen Interessen, Bedürfnisse und
Probleme der afrikanischen Staaten einzugehen. Afrika
ist ein an Rohstoffen reicher Kontinent, der es in der
Vergangenheit oft versäumt hat, daraus die richtigen
Entwicklungswege einzuleiten. Diese Fehler der Vergan-
genheit dürfen nicht wiederholt werden. Allen sind noch
die Worte „Blutdiamanten“ und ähnliche Begriffe be-
kannt. Jetzt gilt es, auch mit unserer und der Hilfe der
EU neue Wege zu beschreiten. Öleinnahmen sollten über
Fonds für kommende Generationen mit angelegt wer-
den. Das will zum Beispiel Ghana mit deutschen Ent-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9543
(A) (C)
(D)(B)
wicklungsexperten vorantreiben. Dazu muss das Land
aber erst in die Situation versetzt werden, den Schatz
„Erdöl“ fördern zu können und über Pipelines zu vertrei-
ben. Voraussetzung dafür ist auch der Schutz der Han-
delsinteressen und der Sicherheit im und um das Land.
Im Antrag der Linken heißt es auch, die EU sei nur
auf den Schutz ihrer Handelsinteressen aus, beispiels-
weise durch die Marinemission Atalanta. Außerdem
gebe es eine Fokussierung der deutschen und europäi-
schen Afrikapolitik auf den Auf- und Ausbau von
Sicherheitsstrukturen in Entwicklungsländern. Auch da-
rüber möchte ich Sie gern aufklären; denn beim natio-
nenübergreifenden Atalanta-Mandat – im Übrigen ist
auch China involviert – geht es durchaus um den Schutz
des Handels, aber eben zu allererst um den Schutz von
Menschenleben und vor Kriminalität durch Piraten. Es
wäre absolut unverständlich, würde man der Kriminali-
tät im Golf von Aden nichts entgegensetzen. Man könnte
annehmen, die Linken meinen, das Leben eines Seeman-
nes sei weniger wert als das eines Piraten. Aber lassen
Sie mich auf einer sachlichen Ebene bleiben. Weiterhin
dient der Auf- und Ausbau von Sicherheitsstrukturen der
Wiederherstellung der staatlichen Gewalt durch die Stär-
kung von Polizei und Justiz. In vielen fragilen und zer-
fallenden Staaten zeigt sich, dass genau der Aufbau der
staatlichen Sicherheitskräfte nach demokratischen Spiel-
regeln elementar für die Stabilisierung eines Landes ist
und kriminelle Banden nicht plündernd und mordend
durch das Land ziehen können. Letztlich geht es hier
ebenso um den Schutz der Bevölkerung und den Aufbau
der Zivilgesellschaft.
Die Vorwürfe gipfeln in der Behauptung, dass sich
hinter dem zivilen Engagement häufig die Stärkung
staatlicher Repressionsorgane, die paramilitärischen
oder militärischen Charakter haben, verberge. Hier
scheinen die Antragsteller wohl im Hinterkopf Nord-
korea zu haben. Aber genau vor solchen Unterdrü-
ckungsstaaten, aus denen früher auch der gesamte Ost-
block bestand, möchten wir Afrika bewahren. Dem
Antrag liegt die permanente Anschuldigung zugrunde,
die Bundesregierung finde sich mit Ausbeutung und
Menschenrechtsverletzungen ab, sei sogar willens, selbst
davon Gebrauch zu machen. Durch seinen Grundtenor
disqualifiziert sich der Antrag als eine ernsthafte sachli-
che Diskussionsgrundlage. Die FDP-Bundestagsfrak-
tion lehnt diesen Antrag ab.
Niema Movassat (DIE LINKE): Jede Afrika-Politik
muss sich daran messen lassen, ob sie die Armut in
Afrika wirksam bekämpft; denn die Lage dort ist drama-
tisch: 27 der 29 Länder weltweit, in denen die Ernährung
besonders gefährdet ist, liegen südlich der Sahara. Und
im Niger und im Tschad herrscht derzeit eine Dürre; die
Folgen sind Ernteausfälle und Viehsterben.
Rund 2 Millionen Menschen im Tschad – das ist ein
Fünftel der Bevölkerung – leiden deshalb an Unterernäh-
rung. Im Niger ist sogar jeder zweite Einwohner betrof-
fen! Die Bekämpfung von Armut und Hunger muss in
den Beziehungen der EU und Deutschlands zu Afrika
deshalb uneingeschränkt im Mittelpunkt stehen, und
eben nicht eigene Wirtschaftsinteressen. Was selbstver-
ständlich klingt, ist nicht Praxis. Die Europäische Union
und Deutschland haben auf dem EU-Afrika-Gipfel Ende
2010 erneut bekräftigt, dass sie ihre bisherige Politik der
einseitigen Verfolgung von Wirtschafts- und Rohstoffin-
teressen unvermindert fortsetzen wollen. Seit Jahren ver-
sucht die EU, sogenannte Wirtschaftspartnerschaftsab-
kommen mit afrikanischen Staaten abzuschließen, um
den Freihandel zu stärken. Um die Entstehung gleichbe-
rechtigter Wirtschaftsbeziehungen geht es dabei aber
nicht. In Wirklichkeit sollen diese Abkommen die afri-
kanischen Märkte einseitig für die Einfuhr von EU-Pro-
dukten öffnen. Für hiesige Unternehmen winken neue
Absatzmärkte und Gewinne, für Afrika aber noch mehr
Armut.
Denn mit den oft hoch subventionierten EU-Waren
können afrikanische Bauern und Unternehmen nicht
konkurrieren. Im Ergebnis werden regionale Märkte und
Arbeitsplätze dort vernichtet. So wurden auf dem Ga-
neshi-Markt in Ghana früher 3 000 lebende Hühner pro
Tag verkauft. Seit der Öffnung des ghanaischen Marktes
und der darauf folgenden Importschwemme aus Europa
aber ist das Geschäft zusammengebrochen: Heute expor-
tieren europäische Länder 1 000 Tonnen Hühnerteile pro
Monat nach Ghana. Restfleisch, das hier keiner essen
will, wird so zu einem lukrativen Geschäft für europäi-
sche Unternehmen. Für den kleinen Hühnerfarmer vor
Ort, der gegen die Dumpingpreise nicht mithalten kann,
bedeutet es den wirtschaftlichen Ruin. Sollten die Wirt-
schaftspartnerschaftsabkommen Realität werden, wird
sich die Situation wie in Ghana bald vielerorts wiederho-
len. Das ist unverantwortlich! Und die Europäische
Kommission macht weiter massiven Druck, um die Ab-
kommen durchzusetzen.
So hält der Art. 8 des Interimsabkommens mit der
SADC-Region, der Südafrikanischen Entwicklungsge-
meinschaft, ausdrücklich fest, dass die EU für die Um-
setzung des Abkommens eine Priorität bei der Zuteilung
von Entwicklungshilfegeldern gewährt. Das ist nichts
anderes als Erpressung und hat mit einer Partnerschaft
auf Augenhöhe nichts zu tun! Es ist gut, dass die afrika-
nischen Staaten sich beim EU-Afrika-Gipfel gegen diese
Abkommen positioniert haben.
Um eine faire Handelspolitik zu betreiben, müssten
Entwicklungsziele in den Abkommen festgeschrieben
werden und nicht europäische Wirtschaftsziele! Aber ein
Umdenken ist nicht in Sicht: Neueste Strategie der EU
und Deutschlands ist es, die Gewährung von Entwick-
lungshilfe an den freien Zugang zur Ausbeutung afrika-
nischer Rohstoffe zu knüpfen. „Rohstoffpartner-
schaften“ heißt das Zauberwort. Im Gegenzug wird die
Aus- und Weiterbildung von Fachkräften vor Ort unter-
stützt – afrikanisches Personal für die von Deutschland
gewünschten Bergbauarbeiten. Das ist ein Einsatz vor
allem im eigenen Interesse. Entwicklungsförderung vor
Ort sieht anders aus! Echte Entwicklungsförderung
würde für die Menschen Möglichkeiten der Existenz-
sicherung vor Ort schaffen. Sie würde Perspektiven für
ein besseres Leben eröffnen und vor der Flucht vor Ar-
mut und Hunger bewahren; denn während wir hier de-
battieren, sind in Afrika circa 18 Millionen Menschen
9544 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
(A) (C)
(D)(B)
auf der Flucht! Beispielsweise aus Mali, einem der ärms-
ten Länder der Welt, wo die medizinische Versorgung
und das Bildungswesen brachliegen. Vielen Familien se-
hen dort keinen anderen Ausweg mehr aus der Not, als
ein bis zwei Familienmitglieder auf die lebensgefährli-
che Reise nach Europa zu schicken. Und wie reagiert die
Europäische Union darauf? Sie schottet sich mit aller
Brutalität vom verarmten Süden ab, setzt Kriegsschiffe
gegen die Flüchtlinge ein, schließt Abkommen mit nord-
afrikanischen Staaten mit katastrophaler Menschen-
rechtslage – wie etwa Libyen – zum Stopp von Flücht-
lingen. Währenddessen ertrinken täglich Menschen im
Mittelmeer, weil ihre Boote seeuntauglich sind. Erst
letzte Woche Sonntag sind vor der griechischen Küste
wieder 22 Flüchtlinge gestorben.
Jeden Tag wird an den Grenzen der Festung Europa
die Menschenwürde mit Füßen getreten. Dieser Umgang
mit den Flüchtlingen ist für unsere angeblich zivilisierte
Gesellschaft die zentrale Schande des 21. Jahrhunderts.
Sie ist ein Unrecht, das wir sofort beenden müssen!
Die Bekämpfung von Hunger und Armut, die Wah-
rung der Menschenwürde und ein Umgang auf Augen-
höhe müssen endlich die Grundlage deutscher und euro-
päischer Afrikapolitik sein! Es ist Zeit für einen
politischen Neuanfang in den Beziehungen zu Afrika!
Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
„1,5 Milliarden Menschen, 80 Länder, zwei Kontinente,
eine Zukunft“ – so beschreibt die Europäische Kommis-
sion die Beziehungen zwischen der EU und Afrika. Der
jüngste EU-Afrika-Gipfel in Tripolis Ende November
letzten Jahres sollte zu einem weiteren winzigen Schritt
auf dieser Etappe werden.
Die rhetorischen Ergebnisse des Gipfels begrüßen
und unterstützen wir. So bekannten sich die Staats- und
Regierungschefs in ihrer Abschlusserklärung zum not-
wendigen Ausbau von Infrastruktur auf dem afrikani-
schen Kontinent, insbesondere zu der von uns geforder-
ten Aufstockung von erneuerbaren Energien. Als
positives Ergebnis des Tripolis-Gipfels begrüße ich es
besonders, dass die Herausforderungen und vor allem
die Verbindungen und Interdependenzen zwischen
Migration und Entwicklung endlich klar angesprochen
wurden. Hier muss in den nächsten Jahren allerdings
mehr passieren.
Die auf dem Gipfel nochmals klar geäußerten Be-
kenntnisse, etwa zum Ziel der Ernährungssicherheit oder
der Bekämpfung von HIV/Aids, unterstreichen einmal
mehr, dass die Millenniumsentwicklungsziele zumindest
verbal im Mittelpunkt der aktuellen Partnerschaft EU-
Afrika stehen. Doch es kommt darauf an, diese hehren
Gipfelworte mit Leben zu füllen und den in Tripolis be-
schlossenen Aktionsplan tatsächlich umzusetzen. Denn
auch auf diesem dritten gemeinsamen Gipfel wurde
deutlich, dass die EU auf der einen und Afrika auf der
anderen Seite von der angestrebten „Partnerschaft auf
Augenhöhe“ noch weit entfernt sind. Wie sonst lässt es
sich erklären, dass die so heiklen und von afrikanischer
Seite nach wie vor heftig kritisierten Wirtschaftspartner-
schaftsabkommen zwischen der EU und Afrika auf dem
Gipfel nicht vertieft behandelt wurden, obwohl dies
doch ausdrücklicher Wunsch der afrikanischen Partner
war? Und wie sonst lässt sich die afrikanische Sorge ein-
ordnen, dass die Entwicklungshilfe aus Europa zuneh-
mend an den Zugang zu afrikanischen Rohstoffen ge-
koppelt wird?
Hier besteht seitens der EU noch enormer Nachholbe-
darf, vor allem auch im Hinblick auf eine kohärente
Politik im Sinne der Entwicklung. Auch die Bundesre-
gierung ist angesichts der Ergebnisse von Tripolis in der
Pflicht. Denn während sich Deutschland unter Schwarz-
Gelb von der Einhaltung des EU-Stufenplans verab-
schiedet hat, bekennt sich die Tripolis-Erklärung klar
zum 0,7-Prozent-Ziel. Die Gipfelerklärung unterstreicht
darüber hinaus die Notwendigkeit von innovativen Fi-
nanzierungsmöglichkeiten für die Umsetzung der Mil-
lenniumsentwicklungsziele. Auf beiden Feldern versagt
die Bundesregierung. Das schadet dem Ansehen der
Bundesrepublik sowohl bei den afrikanischen Partnern
als auch bei den EU-Mitgliedstaaten.
Zum Antrag der Linken. Liebe Kolleginnen und Kol-
legen, in vielen entwicklungs- und handelspolitischen
Grundsatzfragen stimmen wir mit der Analyse Ihres An-
trages überein. Dies gilt beispielsweise für die kritische
Haltung zu den Wirtschaftspartnerschaftsabkommen. Es
gilt auch für den wichtigen Hinweis, dass Rohstoffpart-
nerschaften mit afrikanischen Ländern – seien sie von
der EU oder der Bundesregierung initiiert – auf keinen
Fall dazu führen dürfen, dass Entwicklungshilfe in ir-
gendeiner Form an den Zugang zu Rohstoffen gekoppelt
wird. Hier teilen wir Ihre Haltung. Doch in einigen
Punkten werden Ihre Positionen von uns nicht mitgetra-
gen. Wir lehnen den Antrag daher ab.
Ihre Forderung nach einer Abschaffung jeglicher poli-
zeilicher und militärischer Kooperation mit den afrikani-
schen Partnerstaaten, die aus meiner Sicht unvermittelt
am Ende des Antrags auftaucht, ist in ihrer Konsequenz
viel zu kurz gedacht. Sie orientieren sich außerdem nicht
an den Bedürfnissen der afrikanischen Partnerländer.
Entwicklungszusammenarbeit im Allgemeinen und ins-
besondere humanitäre Hilfe ist in Krisen- und Konflikt-
fällen ohne eine militärische Absicherung häufig einfach
nicht realisierbar. Und was ist aus entwicklungspoliti-
scher Sicht an ausgebildeten Polizistinnen und Polizis-
ten, die zur Rechtssicherheit beitragen sollen, zu bean-
standen? In dieser Hinsicht liegen wir weit auseinander.
Zu kurz gedachte Forderungen finden sich auch in an-
deren Bereichen Ihres Antrags. So lehnen Sie jegliche
Form von Privatisierung ab. Teilprivatisierungen und
Privatisierungen können jedoch sinnvoll sein, wenn die
Rahmenbedingungen stimmen und effektive Kontrollbe-
hörden vorhanden sind. Diese aufzubauen und zu stär-
ken, ist auch Aufgabe der Entwicklungszusammenarbeit.
Diese Forderungen gehen an der Realität vorbei. Was
wir wollen und fordern, das ist die aktive Ausgestaltung
einer echten Partnerschaft auf Augenhöhe zwischen der
EU und den afrikanischen Staaten.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9545
(A) (C)
(D)(B)
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge:
– Einen Pakt für den wissenschaftlichen Nach-
wuchs und zukunftsfähige Personalstruktu-
ren an den Hochschulen initiieren
– Wissenschaft als Beruf attraktiv gestalten –
Prekarisierung des akademischen Mittel-
baus beenden
(Tagesordnungspunkt 16 a und b)
Monika Grütters (CDU/CSU): Die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen und die Fraktion der Linkspartei le-
gen heute jeweils Anträge vor, die sich mit der Situation
und den Zukunftsperspektiven des wissenschaftlichen
Nachwuchs beschäftigen. Für meine Fraktion kann ich
sagen, dass wir in vielen Punkten der Analyse und auch
bezüglich der im Antrag formulierten Zielperspektiven
zumindest mit den Kolleginnen und Kollegen der Grü-
nen übereinstimmen: Natürlich ist es auch ein vorrangi-
ges Anliegen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, dem
wissenschaftlichen Nachwuchs in Deutschland eine
möglichst gute Ausbildung und dementsprechende be-
rufliche Perspektiven zu bieten. Ich beziehe hier die
Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses ganz
bewusst mit ein; denn dazu findet man in Ihren Anträgen
leider nichts. Dabei haben wir gerade auch diesen Punkt
im vergangenen Jahr hier im Plenum häufig debattiert.
Ich nenne nur die Stichworte Deutschlandstipendium
und BaföG-Erhöhung. Dabei tragen diese Instrumente
maßgeblich dazu bei, die Ausbildung des wissenschaftli-
chen Nachwuchses in Deutschland zu verbessern. Das
gilt im Übrigen auch für die Arbeit der Begabtenförde-
rungswerke, die im kommenden Jahr mit mehr als
130 Millionen Euro durch den Bund gefördert werden.
Rot-Grün hat demgegenüber im Jahr 2005 nur 80 Millio-
nen Euro in die Begabtenförderungswerke investiert.
Allein diese Zahl macht deutlich, wie wichtig die Förde-
rung des wissenschaftlichen Nachwuchses der Bundes-
regierung ist.
Grundsätzlich sind wir alle uns hier aber bei der Be-
wertung der Situation einig. Gerade die sogenannte Post-
docgruppe, also Nachwuchswissenschaftler mit Promo-
tion, die ihre Zukunft in Forschung und Lehre an der
Universität sehen, können an deutschen Hochschulen
häufig zunächst nur befristet beschäftigt werden. Einer-
seits dient dies der ständigen Aktualität gerade in der
schnelllebigen Forschung. Andererseits aber ist so eine
stringente Planung der Karriere für Nachwuchswissen-
schaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler häufig
schwierig, sodass manche erst mit Ende 40 erkennen,
dass sie die Ziele ihrer Hochschulkarriere nur schwer
oder gar nicht erreichen können. Diese Problematik ist
im Übrigen auch in der letzten Bestandsaufnahme der
Bundesregierung zur Situation des wissenschaftlichen
Nachwuchses in Deutschland klar benannt worden. Lei-
der scheinen die antragstellenden Fraktionen diesen
„Bundesbericht zur Förderung des Wissenschaftlichen
Nachwuchses (BuWiN)“, den das BMBF 2008 vorgelegt
hat, nicht in ihre Willensbildung mit einbezogen zu ha-
ben. In den Anträgen wird er jedenfalls an keiner Stelle
erwähnt.
Der Bundesbericht macht deutlich, dass einer besse-
ren Planbarkeit der wissenschaftlichen Karriere große
Bedeutung bei der Reform der Förderung des wissen-
schaftlichen Nachwuchses zukommt. Die Ausweitung
des „Tenure Track“ an den Hochschulen und eine
stärkere Konzentration auf die Weiterentwicklung der
Juniorprofessur sind auch für die Bundesregierung In-
strumente, um mehr Verlässlichkeit und Planbarkeit für
Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswis-
senschaftler zu schaffen. Nicht ganz zustimmen kann ich
aber, wenn unbefristete Beschäftigungsverhältnisse an
den Hochschulen als Allheilmittel dargestellt werden.
Natürlich sind wir uns alle einig, dass Beschäftigungs-
verhältnisse auch und gerade in der Wissenschaft Sicher-
heit und Berechenbarkeit brauchen. Aber das Wissen-
schaftssystem kann sich in dieser Hinsicht nicht
vollständig von gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen
lösen. Der Arbeitsplatz auf Lebenszeit ist heute nicht nur
im Wissenschaftsbetrieb, sondern in vielen Arbeitsberei-
chen nicht mehr die Regel, übrigens nicht unbedingt
zum Nachteil des Arbeitnehmers. Gerade gut ausgebil-
dete, junge Nachwuchskräfte profitieren überproportio-
nal von den Freiheiten, die ihnen die globalisierte Welt
bietet.
Wenn wir die mahnenden Worte des Wissenschaftsra-
tes berücksichtigen wollen, der der Politik und der Wis-
senschaft ins Stammbuch geschrieben hat, dass „die
Promotion in Deutschland nicht allein auf eine wissen-
schaftliche Laufbahn ausgerichtet“ ist, dann müssen be-
fristete Arbeitsverhältnisse auch künftig ihre Berechti-
gung behalten, um den Austausch zwischen Hochschule,
Wirtschaft und Gesellschaft weiter zu ermöglichen, der
für beide Seiten, für exzellente Forschung und Lehre und
für die sie umgebende Gesellschaft unerlässlich ist.
Auch in Bezug auf die Vereinbarkeit von Beruf und Fa-
milie muss nicht immer die unbefristete Stelle der einzig
gangbare Weg sein. So hat die Bundesregierung zum
Beispiel im Jahr 2007 das Programm „Zeit gegen Geld“
gestartet, das Nachwuchswissenschaftlern ermöglicht,
Gelder aus Stipendien für Maßnahmen der Kinderbe-
treuung zu verwenden. Eng verbunden mit der Verein-
barkeit von Beruf und Familie ist auch die Frage der
Förderung von Nachwuchswissenschaftlerinnen. Über-
raschenderweise haben beide Anträge dazu gar nichts zu
sagen. Dabei haben es Frauen im Wissenschaftsbetrieb
auch hier immer noch deutlich schwerer als ihre männli-
chen Kollegen. Zwar hat das Professorinnenprogramm
der Bundesregierung seit 2007 mehr als 200 zusätzliche
Professuren für Frauen geschaffen, doch trotz dieses gro-
ßen Erfolges kann von einer wirklichen Gleichstellung
der Geschlechter an den Hochschulen noch lange keine
Rede sein.
Deshalb sollten wir bei allem Engagement für Bil-
dung und Wissenschaft auch nicht aus den Augen verlie-
ren, dass die Zuständigkeit für Bildung und Wissen-
schaft im Wesentlichen bei den Ländern und hier vor
allem bei den Hochschulen selbst liegt. Ich darf daran er-
innern, dass die Länder für die Übernahme der Bildungs-
9546 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
(A) (C)
(D)(B)
aufgaben allein 2011 mehr als 1,3 Milliarden Euro an
Kompensationsmitteln vom Bund erhalten. Auch die
Hochschulen haben in der Vergangenheit Schritt für
Schritt mehr Autonomie erhalten und müssen damit auch
ihrer gewachsenen Verantwortung gerecht werden. Dem
Bund allein die Verantwortung für die Finanzierung ei-
ner erneuten kostenintensiven Maßnahme aufzuerlegen,
ohne in Ihrem Antrag überhaupt einen Finanzierungs-
vorschlag zu machen, halte ich für deutlich zu kurz ge-
sprungen.
Dies alles sind Punkte, die wir trotz grundsätzlicher
Einigkeit in den kommenden Ausschusssitzungen noch
einmal intensiv debattieren müssen. Auf diese hoffent-
lich konstruktiven und fruchtbaren Diskussionen zum
Wohle der wissenschaftlichen Nachwuchsförderung
freue ich mich.
Tankred Schipanski (CDU/CSU): Der wissen-
schaftliche Nachwuchs an den Hochschulen und in den
außeruniversitären Forschungseinrichtungen in diesem
Land liegt uns allen am Herzen. Deswegen beurteile ich
das Ansinnen Ihrer Anträge, den jungen Wissenschaftle-
rinnen und Wissenschaftlern in unserem Lande gute be-
rufliche Perspektiven und verbesserte Arbeitsbedingun-
gen zu bieten, grundsätzlich als äußerst positiv. Dies gilt
umso mehr, als sich das akademische Personal durch den
Bologna-Prozess und die steigende Anzahl von Studie-
renden wachsenden Anforderungen ausgesetzt sieht.
Sie, liebe Grüne, präsentieren uns in Ihrem Antrag den
Vorschlag, mit den Bundesländern in der Gemeinsamen
Wissenschaftskonferenz einen Pakt für den wissenschaft-
lichen Nachwuchs und zukunftsfähige Personalstruktu-
ren an den Hochschulen zu schließen. Dort fordern Sie
unter anderem, 4 000 zusätzliche Professorenstellen ein-
zurichten und auch außerhalb der Professuren mehr unbe-
fristete Beschäftigungsverhältnisse zu schaffen. Allein,
Sie bleiben uns die Antwort schuldig, wie Sie diese Ziele
erreichen wollen.
Wir alle wissen, dass die Verbesserung von Arbeits-
bedingungen für Nachwuchswissenschaftler eng an die
finanzielle Ausstattung der Hochschulen geknüpft ist.
Und hier sind, ich habe es bereits in der Aktuellen
Stunde im Dezember erwähnt und tue es hier gern wie-
der, zuallererst die Länder in der Pflicht. Diese müssen
dafür sorgen, dass die Grundfinanzierung der Hochschu-
len in ihrem Verantwortungsbereich gesichert ist. In Zei-
ten knapper öffentlicher Finanzen heißt das eben auch,
Prioritäten zu setzen. In einem rohstoffarmen Land wie
Deutschland, dessen einzige Ressource die Köpfe der
Menschen sind, sollten Bildung und Forschung selbst-
verständlich an erster Stelle stehen.
Der Bund hat seine Prioritäten klar benannt. Unser Ziel
ist es, bis 2015 10 Prozent des Bruttoinlandsproduktes
für Bildung und Forschung auszugeben. Dabei haben wir
selbstverständlich auch den wissenschaftlichen Nach-
wuchs im Blick. Mit der Exzellenzinitiative, die im
nächsten Jahr in die mittlerweile dritte Runde geht, wurde
eine Reihe von Stellen für Doktoranden und Postdocs ge-
schaffen. Durch den Pakt für Forschung und Innovation
verbessern wir zudem die Bedingungen in den außeruni-
versitären Forschungseinrichtungen. Mit dem Bundesbe-
richt zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses
und der von der Ministerin in Auftrag gegebenen
HIS-Studie über wissenschaftliche Karrieren haben wir
zudem erstmals empirisch fundierte Erkenntnisse über
die Karrierewege des wissenschaftlichen Nachwuchses
vorgelegt. Die Evaluation des Wissenschaftszeitvertrags-
gesetzes läuft. Sie sehen also: Hier tut sich einiges. Und
die Resonanz aus der Wissenschaft zeigt uns, dass wir auf
dem richtigen Weg sind: Erst gestern, am 19. Januar 2011,
haben die Präsidenten der drei großen Berliner Hoch-
schulen beim 52. Treffpunkt WissensWerte des Inforadio
des RBB bestätigt, dass Nachwuchswissenschaftler nie
zuvor so viele Möglichkeiten hatten, sich um Promo-
tionsstipendien oder Doktoranden- bzw. Postdocstellen
zu bewerben wie gegenwärtig.
Wenn wir über die Zukunft der jungen Wissenschaft-
lerinnen und Wissenschaftler in diesem Land sprechen,
kann es nicht nur um zusätzliche Stellen und Entfristun-
gen gehen. Auch einige andere Punkte dürfen wir nicht
aus den Augen lassen. Zum einen – das macht die
HIS-Studie deutlich – bemisst sich die Attraktivität der
beruflichen Zukunft in der Wissenschaft nicht nur an der
Vergütung oder der festen Stelle. Die jungen Wissen-
schaftlerinnen und Wissenschaftler brauchen vor allem
gute Rahmenbedingungen, um ihrer Kerntätigkeit in For-
schung und Lehre nachkommen zu können. Wenn man
aber, wie dies in Brandenburg gehandhabt oder in Thürin-
gen diskutiert wird, das Lehrdeputat der wissenschaftli-
chen Mitarbeiter exorbitant in die Höhe schraubt, sodass
ihnen de facto keine Zeit mehr zum Forschen und Publi-
zieren oder zur Vernetzung in der Scientific Community
bleibt, dann sind wir tatsächlich weit entfernt von guten
Rahmenbedingungen.
Zweitens ist es ein Gebot der Fairness, zu sagen, dass
wir natürlich Wettbewerb in unserem Wissenschaftssys-
tem brauchen. Wir wollen vermeiden, dass Leute über
Jahrzehnte auf – unbefristeten – Qualifizierungsstellen
sitzen, ohne dabei nennenswerte Forschungsergebnisse
zu produzieren und ohne Anreize zu haben, im akademi-
schen System aufzusteigen, und die Stellen für andere
Nachwuchswissenschaftler „blockieren“. Auch müssen
wir klar sagen, dass nicht jeder Doktorand später eine
Professur oder eine unbefristete Stelle an einer Hoch-
schule erlangen wird. Aber das kann auch gar nicht un-
ser Ziel sein. Auch außerhalb der Hochschulen und au-
ßeruniversitären Forschungseinrichtungen, zum Beispiel
in der Industrie, im Mittelstand, in der Verwaltung oder
auch im Gesundheitswesen, werden exzellent ausgebil-
dete Nachwuchswissenschaftler mehr denn je gebraucht.
Ein letzter Punkt, den ich mit Blick auf den Antrag
der Grünen noch aufgreifen möchte, betrifft die Tenure-
Track-Option. Wir als christlich-liberale Koalition ste-
hen – und da verrate ich Ihnen kein Geheimnis – voll
und ganz hinter der Möglichkeit, befristete Stellen nach
einer positiven Bewertung in unbefristete Stellen umzu-
wandeln. Wir können dafür werben, und dies werden wir
auch nach allen Kräften tun, aber wir als Bund können
sie nicht verordnen, wie Sie das fordern, wenn Sie sagen,
Sie wollen künftig alle Juniorprofessuren mit einer
Tenure-Track-Option ausgestattet sehen. Lassen Sie uns
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9547
(A) (C)
(D)(B)
uns also auf das konzentrieren, was wir leisten können,
und dazu beitragen, dass der wissenschaftliche Nach-
wuchs in Deutschland auch weiterhin eine gute Zukunft
hat.
Swen Schulz (Spandau) (SPD): Einer aktuellen, von
der Bundesregierung in Auftrag gegebenen Studie zu-
folge haben Nachwuchswissenschaftler Zukunftsängste.
Sie bewerten ihre Arbeit an sich zwar positiv. Doch über
90 Prozent der Nachwuchswissenschaftler müssen sich
mit unbefristeten Stellen begnügen. Die Leute wollen in
der Wissenschaft arbeiten, aber sie wollen dort auch Per-
spektiven haben. Sie wollen ihre Karriere planen kön-
nen – und das ist nur zu verständlich, vor allem wenn es
um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf geht. Die
Zukunftsängste gehen auch die Politik an, weil wir den
wissenschaftlichen Nachwuchs brauchen! Wir brauchen
ihn für die Lehre an den Hochschulen, und wir brauchen
Forscherinnen und Forscher für die technologische, wirt-
schaftliche, gesellschaftliche Entwicklung. Wir dürfen
diese Hochqualifizierten nicht abschrecken durch
schlechte Arbeitsbedingungen.
Besonders beeindruckt hat mich ein Zitat aus der er-
wähnten Studie. Dort sagt eine wissenschaftliche Mitar-
beiterin aus dem Bereich der Naturwissenschaften: „Die
Gefahr, nach jahrelangem ,Durchschlagen‘ auf befriste-
ten Stellen und einem gewissen ,Berufsnomadentum‘ am
Ende keine permanente Stelle zu bekommen, ist hoch.
Das Risiko, diesen Weg zu gehen, ist mir persönlich zu
hoch, auch wenn ich die Arbeit in der Wissenschaft
mag.“ Das können wir nicht einfach hinnehmen, dage-
gen müssen wir etwas tun! Sicher, in einem gewissen
Rahmen, insbesondere in der Qualifikationsphase, sind
Befristungen akzeptabel. Doch spätestens im vierten Le-
bensjahrzehnt, wenn neben der beruflichen auch die Fa-
milienplanung ansteht, ist der Wunsch nach einer Per-
spektive nur mehr als natürlich. Deshalb ist ein deutlich
höherer Anteil an unbefristeten Stellen sinnvoll. Es gilt
auch hier der sozialdemokratische Grundsatz von der gu-
ten Arbeit. Nur mit Perspektiven und nur mit guten Ar-
beitsbedingungen können wir die Leute gewinnen, und
nur so können diese auch die exzellenten Leistungen ab-
liefern, die wir von ihnen sehen möchten. Das wollen
wir erreichen: Gute Arbeit, auch in der Wissenschaft!
Die Bundesregierung hat bislang nichts unternom-
men, um dieses Problem zu lösen. Unter Rot-Grün haben
wir Regelungen zur Ausschaltung von Kettenbefristun-
gen geschaffen, und in der Großen Koalition haben wir
das Wissenschaftszeitvertragsgesetz gemacht. Wir haben
aber gleichzeitig gesagt, dass es evaluiert werden soll,
weil wir schauen müssen, was tatsächlich in der Realität
passiert. Wir haben die Bundesregierung damit beauf-
tragt, eine Evaluation vorzulegen. Auf dieser Basis kön-
nen wir vorankommen, können sagen, ob die jetzigen
Bestimmungen ausreichen oder vielleicht sogar an der
einen oder anderen Stelle kontraproduktiv sind. Doch
leider liegt der Bericht immer noch nicht vor.
Ein Punkt scheint jetzt schon klar zu sein: Die Tarif-
sperre muss weg! Es sollte die Möglichkeit geben, dass
Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam Regelungen
über das Gesetzliche hinaus treffen können. Wir Sozial-
demokraten haben das übrigens in der Großen Koalition
gefordert, aber unser damaliger Koalitionspartner CDU/
CSU wollte die Tarifsperre unbedingt beibehalten. Ich
hoffe, dass da jetzt etwas geht. Dann die Juniorprofessu-
ren: Unter Rot-Grün haben wir Juniorprofessuren einge-
führt und auch gefördert, weil das vielen Nachwuchs-
wissenschaftlern Perspektive gibt. Frau Schavan hat die
Förderung beendet bzw. kein neues Programm aufgelegt.
Wir wollen Juniorprofessuren. Deswegen schlagen wir
ein neues Bund-Länder-Programm vor: 1 000 Juniorpro-
fessuren – das wäre ein guter Beitrag. Der sogenannte
Tenure Track, also der Karriereweg an der eigenen
Hochschule, muss ausgebaut werden. Die Bundesregie-
rung sollte da aktiv werden und mit den Ländern ins Ge-
spräch kommen, wie wir den Tenure Track ausbauen
können.
Und wir müssen sehen: Es gibt eine Menge Bund-Län-
der-Programme im Hochschulbereich, etwa den Hoch-
schulpakt und die Exzellenzinitiative. Die Bundesregie-
rung hat in einem Bericht selbst gesagt, dass mit dem
Hochschulpakt sicherlich alles viel besser für die Nach-
wuchswissenschaftler wird. Aber Vertrauen allein reicht
nicht. Da muss man auch genauer hinschauen und viel-
leicht auch einmal den Erhalt von Bundesmitteln an Min-
destarbeitsbedingungen knüpfen und Anreize für gute
Arbeit einbauen. Es kann nicht sein, dass Leute ausgebeu-
tet werden, zu ganz schlechten Bedingungen Arbeit leis-
ten, die eigentlich von sozialversicherungspflichtig Be-
schäftigten geleistet werden sollte. Dem müssen wir
einen Riegel vorschieben.
Wir sind den Fraktionen Bündnis 90/Die Grünen und
Die Linke dankbar für ihre Impulse in den Anträgen. Die
SPD-Fraktion wird ihre Vorstellungen ebenfalls in die
Debatte einbringen – einige Aspekte habe ich bereits an-
gesprochen. Obwohl wir an verschiedenen Punkten glei-
cher Meinung sind und hoffen, dass auch die Regie-
rungskoalition sich anschließen kann, sind die Vor-
stellungen doch an einigen Stellen unterschiedlich, bzw.
wir haben noch Nachfragen, wenn etwa die Grünen un-
ter Punkt 6 ihres Antrages einen Risikoaufschlag vor-
schlagen. Löst das wirklich das grundsätzliche Problem
der Befristung der Mittel und damit der Reserve von
Hochschulen, Wissenschaftler unbefristet einzustellen?
Wir können und müssen uns Gedanken über Lösungs-
möglichkeiten auch im Drittmittelbereich machen. Ich
habe das bereits angesprochen. Aber ganz am Ende ist
natürlich die beste Lösung, dass wir die steigende Ab-
hängigkeit von Hochschulen und Forschungseinrichtun-
gen von notwendig befristeten Drittmitteln reduzieren
und die Grundfinanzierung wieder erhöhen, ohne in eine
ja auch teilweise zu verzeichnende Beamtenmentalität in
der Wissenschaft zu verfallen.
Letztlich hängt die Beantwortung dieser Grundfrage
von der finanziellen Ausstattung der Länder ab, die wie-
derum nur in Zusammenarbeit mit dem Bund verbessert
werden kann – ein Feld, auf dem die Bundesregierung
tätig werden müsste. Das wäre ein tolles Thema für ei-
nen Bildungsgipfel von Bundeskanzlerin und Minister-
präsidenten. Diese Gipfel sind bisher immer gescheitert.
Aber ich will die Hoffnung nicht aufgeben.
9548 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
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Dr. Martin Neumann (Lausitz) (FDP): Der Bundes-
tag befasst sich seit Jahrzehnten mit der beruflichen Per-
spektive von Nachwuchswissenschaftlern. Natürlich be-
wegt uns die Situation unserer klügsten und am besten
ausgebildeten Köpfe. Keineswegs können uns Meldun-
gen kalt lassen, wonach „nur jeder dritte Doktorand sein
Promotionsprojekt tatsächlich abschließt“. Gleichzeitig
finden wir es bemerkenswert, dass in Deutschland mehr
als 10 Prozent eines Hochschuljahrganges promovieren –
diesbezüglich sind wir Weltmeister. Dabei wundert es ei-
nen aber doch, weswegen, bei einer so hohen Promo-
tionsquote, nur 3 Prozent eines Hochschuljahrganges eine
wissenschaftliche Karriere ernsthaft anstreben. Natürlich
ist im Hochschulbereich nicht alles rosig. Das weiß ich
aus eigener Erfahrung. Schließlich lehre ich an einer
Hochschule, stehe im ständigen Kontakt mit Studieren-
den und wissenschaftlichem Nachwuchs. Und dennoch
stelle ich die, gerade für linke Politiker, provokante
These auf, dass dieser Personenkreis deutlich positive
Lebensperspektiven aufweist, geradezu gesegnet ist.
In einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zei-
tung unter der Überschrift „Fördert mich, ich bin For-
scher!“ finden sich interessante Beispiele, die Mut ma-
chen und zeigen, dass an vielen Hochschulen bereits sehr
verantwortungsvoll gehandelt wird. Den bereits vor Jah-
ren festgestellten Defiziten zum Beispiel hinsichtlich ei-
ner qualifizierten Betreuung, Planbarkeit und Finanzie-
rungsmöglichkeiten, Transparenz und Effizienz und in
Fragen der Karriereplanung begegnen zahlreiche Univer-
sitäten und Fachhochschulen mittlerweile mit strukturier-
ten Promotionsprogrammen und Graduiertenkollegs. In
diesen werden beispielsweise Softskills wie Kommuni-
kationsfähigkeiten vermittelt. Aber es gibt auch mehr und
mehr Stipendienprogramme. Und nicht zuletzt leisten
auch die Begabtenförderungswerke hier bereits sehr gute
Arbeit.
Und ja, es trifft zu, dass Projektarbeit und befristete
Arbeitsverträge Merkmal wissenschaftlichen Arbeitens
sind, nicht nur in Deutschland. Tenure ist auch im Aus-
land mehr die Ausnahme als die Regel. Und doch gilt es,
die deutschen Eigentümlichkeiten unter die Lupe zu neh-
men. Neben den Professuren gibt es nach wie vor – im
Gegensatz zu vielen Ländern – nur wenige andere, auf
Dauer angelegte Personalkategorien im wissenschaftli-
chen Mittelbau. Das hat etwas mit dem Selbstverständ-
nis des Wirkungsfeldes Hochschule zu tun. Wir setzen
auch beim Personal auf die Einheit von Forschung und
Lehre, lassen wenig Differenzierung zu.
Eine Karriere in der Wissenschaft wird auch künftig
nur dann angestrebt werden, wenn auch tatsächlich eini-
germaßen verlässliche Zukunftsperspektiven gesehen
werden. Das trifft insbesondere auf die entsprechenden
Rahmenbedingungen zu, die Deutschland attraktiv, for-
schungsfreundlich und international konkurrenzfähig
machen. Vor allem die für die deutsche Wissenschafts-
und Forschungspolitik verlorenen Jahre der rot-grünen
Bundesregierung mit ihrer fortschrittsfeindlichen Poli-
tik, beispielsweise im Bereich der Energieforschung und
bei der Gentechnologie, und den damit einhergehenden
Folgen bis hin zu dem ganz aktuell beim ITER-Projekt
zu beobachtenden Abzug von Know-how aus der deut-
schen Industrie haben hier eine große Lücke gerissen
und die Zukunftsängste des wissenschaftlichen Nach-
wuchses beflügelt. FDP und Union haben genau hier an-
gesetzt und werden mit ihrer Politik, die Deutschland
tatsächlich wieder hin zu einer Bildungs- und Fort-
schrittsrepublik verändern wird, verlässliche Rahmenbe-
dingungen für den wissenschaftlichen Nachwuchs schaf-
fen.
Doch bei unseren Anstrengungen auf Bundesebene
darf eines nicht aus dem Blick geraten: Wissenschaftspo-
litik – und damit auch die Problematik der Beschäftigung
von Nachwuchswissenschaftlern an Hochschulen und
Forschungseinrichtungen – ist in erster Linie Ländersa-
che. Aber das kann ich heute schon versprechen: Die
christlich-liberale Koalition wird mit einem Wissen-
schaftsfreiheitsgesetz auch auf Bundesebene die Rah-
menbedingungen weiter verbessern und bestehende
Hemmnisse im Wissenschaftssystem beseitigen sowie die
Handlungsspielräume der Hochschulen und Forschungs-
einrichtungen ausweiten.
Wo wir in den Ländern in Regierungsverantwortung
sind, werden wir die Autonomie der Hochschulen weiter
stärken, sei es mit Globalhaushalten oder eigener Perso-
nalverantwortlichkeit usw., und für eine bessere Finanz-
ausstattung der Universitäten und Fachhochschulen sor-
gen. In Nordrhein-Westfalen waren wir dahin gehend
schon sehr weit. Und wenn man sich mit den Akteuren
vor Ort verständigt, wird sehr schnell deutlich, dass erste
positive Effekte gerade auch für den wissenschaftlichen
Nachwuchs zu spüren waren. Leider hatte die rot-grüne
Minderheitsregierung nichts Besseres im Sinn gehabt,
als neben einem verfassungswidrigen Haushalt auch
gleich das Ende der Studienbeiträge zu beschließen. Ge-
rade durch die Einbindung privater Mittel wie Studien-
beiträge oder die Einwerbung privat kofinanzierter Sti-
pendien, wie FDP und Union sie nun mit dem
Deutschland-Stipendium auch für das gesamte Land
durchgesetzt haben, bekommen die Länder die Möglich-
keit, die seit Jahren unterfinanzierten Wissenschaftsein-
richtungen mit dringend notwendigen finanziellen Mit-
teln zu unterstützen; denn nur so wird die Wissenschaft
als Arbeitgeber an Attraktivität gewinnen können. Lei-
der hat auch hier die rot-grüne Übergangsregierung in
Nordrhein-Westfalen sofort die Axt angelegt und mit
dem Wegfall der Studienbeiträge dazu beigetragen, dass
zahlreiche Tutorenstellen an den Hochschulen gestri-
chen werden. Gerade die Grünen sorgen so dafür, dass
aus befristeten Beschäftigungsverhältnissen, die sicher
in vielen Punkten kritisiert werden können, nun aber
ehemalige Beschäftigungsverhältnisse werden. So sieht
also der rot-grüne Pakt für den wissenschaftlichen Nach-
wuchs in der Realität aus!
Auch was die Frage der fairen Beschäftigungsbedin-
gungen gerade für den wissenschaftlichen Nachwuchs
angeht, sind wir uns vermutlich einig. Es ist eine alte,
aber nach wie vor aktuelle Forderung der FDP, dass die
Tarifpartner in der Pflicht sind, einen geeigneten Wis-
senschaftstarifvertrag auszuhandeln, damit die auch sei-
tens Professor Strohschneider vom Wissenschaftsrat im
Bildungsausschuss geäußerte „Gefahr einer Prekarisie-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9549
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(D)(B)
rung des wissenschaftlichen Mittelbaus“, wie es die
Linke in ihrem Antrag auch zitiert hat, abgewendet wird!
Für mich ist die Kernaussage des in beiden vorliegen-
den Anträgen zitierten HIS-Berichts „Wissenschaftliche
Karrieren“ jedoch, dass die Mehrheit der befragten
Nachwuchswissenschaftler den Beruf des Wissenschaft-
lers als attraktives Ziel sieht. Damit das so bleibt, sind
alle Beteiligten in Bund, Ländern und an den Hochschu-
len aufgerufen, die entsprechenden Rahmenbedingungen
zu schaffen. Das Gros der von Linken wie Grünen in ei-
ner bunten Sammlung vorgetragenen Wünsche zur Ver-
besserung der Berufsperspektiven im Wissenschaftsbe-
reich fällt jedoch nicht in den Kompetenzbereich des
Bundes. Vielmehr stehen die Länder in der Verantwor-
tung, ihren Hochschulen die benötigten Freiräume zuzu-
gestehen.
Wenn ich mir beispielsweise die Wissenschaftspolitik
von SPD und Linken in Brandenburg anschaue, habe ich
jedoch eher den Eindruck, dass Anspruch und Wirklich-
keit in ihrer Politik wie so oft bei den Oppositionspar-
teien im Deutschen Bundestag extrem auseinanderfallen.
Mit ihrer unverlässlichen Hochschulpolitik versetzt die
rot-rote Landesregierung die Brandenburger Studieren-
den und Wissenschaftler in Angst und Schrecken! So
wurden im vergangenen Jahr den Hochschulen 10 Mil-
lionen Euro aus der vertraglich zugesicherten Rücklage
entnommen, um Löcher im Landeshaushalt zu stopfen,
natürlich nicht ohne den Hinweis, dass dies eine einma-
lige Vorgehensweise sei und ansonsten SPD und Linke
Wissenschaft entsprechend ihres vollmundigen Verspre-
chens im Koalitionsvertrag mit höchster Priorität behan-
deln würden. Nur wenige Monate später wissen wir
heute, dass dies eine plumpe Lüge war. Für den Haushalt
2012 hat der von den Linken gestellte Finanzminister be-
reits Kürzungen im Wissenschaftsressort in Höhe von
weiteren 27 Millionen Euro angekündigt. Welche Folgen
dies für das wissenschaftliche Personal haben wird, kann
sich jeder vorstellen.
Solange Wissenschaftspolitik von SPD, Grünen und
Linken in den Ländern so aussieht, wie beschrieben,
können Sie hier im Bundestag noch so viele vollmundige
Anträge mit Forderungen und Versprechungen für ein
Ende der „Prekarisierung des akademischen Mittelbaus“
und für einen „Pakt für den wissenschaftlichen Nach-
wuchs“ stellen. Solange diesen schönen Worten ständig
nur gegensätzliche Taten in Ihren Landesregierungen
folgen, wird sich ganz bestimmt nichts verbessern! Die
christlich-liberale Koalition beweist mit ihrem 12-Mil-
liarden-Euro-Paket für Bildung und Forschung, dass bei
uns Anspruch und Wirklichkeit im Gegensatz zur Oppo-
sition nah beieinanderliegen.
Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Ich hatte in den ver-
gangenen Monaten die Gelegenheit, mit vielen Nach-
wuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern bzw.
Vertretern des akademischen Mittelbaus zu sprechen.
Neben den Organisationen, Gewerkschaften und Verbän-
den hatte ich auch mit Promovierenden und Postdocs,
die sich bei uns mit ihren Problemen gemeldet haben,
das Gespräch gesucht. Ich wollte einen Eindruck gewin-
nen, wie sich ihre Situation seit 2008 geändert hat. Da-
mals gab es eine umfangreiche Debatte hier im Bundes-
tag und im Bildungsausschuss zu dem Thema, und die
Bundesregierung gelobte Besserung bei den Arbeitsbe-
dingungen von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaft-
lern.
Leider kann ich nur wenig Positives von der „Basis“
berichten. An erster Stelle der Probleme steht nach wie
vor die Frage der prekären Beschäftigung. Da hat sich
die Situation keineswegs verbessert. Der Trend zu be-
fristeten Verträgen, zu Teilzeitbeschäftigungen, zu Sti-
pendien hält ungebrochen an. Und mein persönlicher
Eindruck trügt nicht, wie die Zahlen des Statistischen
Bundesamtes belegen. Die Zahl der unbefristeten wis-
senschaftlichen Vollzeitstellen neben der Professur hat
einen historischen Tiefststand erreicht. An Universitäten
waren im Jahr 2008 weniger als 12 Prozent der ange-
stellten wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitar-
beiter dauerhaft beschäftigt. Zehn Jahre vorher hatte
diese Zahl immerhin noch knapp 19 Prozent betragen.
Das Verhältnis von befristet zu unbefristet angestelltem
Personal an allen Hochschularten hat sich von 3,6 : 1 im
Jahr 2000 auf 6,7 : 1 im Jahr 2008 dramatisch ver-
schlechtert. Ein Großteil des Personals verfügt zudem
nicht über Vollzeitstellen. Die Teilzeitquote des gesam-
ten hauptberuflichen Personals inklusive Professuren
stieg von 24 Prozent im Jahr 2000 auf 35 Prozent im
Jahr 2008. Selbst unter den angestellten hauptberufli-
chen wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
tern beträgt die Quote 40,9 Prozent.
Umfragen unter Wissenschaftlerinnen und Wissen-
schaftlern, wie aktuell eine Studie der Hochschul-Infor-
mations-System GmbH, HIS, ergeben das gleiche Bild.
Die Befragten wie auch meine Gesprächspartner sagen
übereinstimmend: Das Problem der unsicheren Zukunft
und der mangelnden Berufsperspektiven ist nicht nur
eine dramatische Beeinträchtigung der Lebenschancen
dieser jungen Menschen, sondern behindert auch die
Leistungsfähigkeit des gesamten Systems. Wer ständig
mit der Sicherung der eigenen Arbeitsmöglichkeiten be-
schäftigt ist, verheizt Ressourcen für gute Wissenschaft.
Und gerade die Besten verlassen irgendwann das Land,
weil ihnen anderswo überhaupt die Möglichkeit zur dau-
erhaften und selbstständigen wissenschaftlichen Tätig-
keit geboten wird. Für viele endet aber auch der Weg in
der Wissenschaft, wenn nach der Habilitation oder der
Juniorprofessur keine eigene Professur winkt.
Dieses Land behandelt seine Hoch- und Höchstquali-
fizierten wie einen lästigen Posten in der Haushalts-
kasse. Die Ursachen für diese Entwicklung lassen sich
klar aufzeigen. Der Anteil an flexiblen Mitteln in den
Haushalten der Forschungsinstitute und Hochschulen
steigt immer weiter an. Die großen Forschungsorganisa-
tionen haben ihre Finanzierung weitgehend auf wettbe-
werbliche Prozesse umgestellt. Eine Kollegin eines
Helmholtz-Zentrums berichtete, es gebe in ihrer großen
Arbeitsgruppe noch drei Stellen, die nicht aus befristeten
Projektmitteln finanziert würden: die des Leiters und die
von zwei Sachbearbeiterinnen. Auch ein Direktor eines
Leibniz-Instituts erzählte, er sei der einzige Wissen-
schaftler am Institut, der dort eine dauerhafte Perspek-
9550 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
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tive habe. Alle anderen müssten sich nach wenigen Jah-
ren etwas anderes suchen.
Aber auch der Boom der Drittmittel hält an: Ihr Anteil
ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten kontinuierlich
gestiegen. Er betrug im Jahr 2008 bei Hochschulen
schon 25,1 Prozent, bei außeruniversitären Einrichtun-
gen bereits 35 Prozent. Diese Situation schlägt sich auf
die Arbeitsbedingungen nieder: Im Berichtsjahr wurden
36 Prozent des gesamten hauptberuflichen wissenschaft-
lichen Personals an Hochschulen und eine Mehrheit des
befristeten wissenschaftlichen Personals aus Drittmitteln
finanziert. Wir leisten uns um der Flexibilität und der
niedrigen Kosten willen einen Verschleiß an Know-how
und eine Vergeudung intellektueller Ressourcen, wo-
durch immense individuelle und institutionelle Neben-
wirkungen produziert werden. Oder glauben Sie, die
Professorinnen und Professoren finden es sinnvoll, alle
zwei bis drei Jahre ihren Mitarbeiterstab komplett auszu-
wechseln?
Nun endlich setzt langsam ein Umdenken ein. So hat
die Deutsche Forschungsgemeinschaft empfohlen, mehr
Stellen und weniger Stipendien auszureichen. Auch kön-
nen Stellen für Promovierende mit mehr als den bisher
obligatorischen 20 Wochenstunden gefördert werden.
Wir wünschen uns mehr solcher Initiativen, auch in den
Forschungsorganisationen. Die Promovierenden-Um-
frage des PhDnet bei der Max-Planck-Gesellschaft etwa
zeigt die Schwierigkeiten bei deren sozialer Absicherung
auf und verweist auf die ganz praktischen Probleme, mit
denen sich besonders Stipendiatinnen und Stipendiaten
herumschlagen müssen.
Sie sind, anders als ihre angestellten Kolleginnen und
Kollegen, weder arbeitslosen- noch rentenversichert.
Viele Promovierende insbesondere aus dem Ausland
überlegen sich trotz gesetzlicher Verpflichtung auch
dreimal, ob sie ihr weniges Geld für eine Krankenversi-
cherung ausgeben. Und obwohl die Stipendiatinnen und
Stipendiaten in den gleichen Laboren stehen wie ihre
Kolleginnen und Kollegen, genießen sie keinen Unfall-
und Arbeitsschutz. Hier müssen Lösungen erarbeitet
werden. Vor allem aber sind Stipendien auf die wenigen
Fälle zu reduzieren, in denen sie geeigneter als Stellen
sind. Der Regelfall in der Promotion sollte ein Arbeits-
verhältnis mit sozialer Absicherung und angemessenem
Umfang an Arbeitszeit und Gehalt sein.
Auch die großen Probleme in den Phasen nach der
Promotion müssen endlich angegangen werden. Wir
schlagen ein Programm vor, mit dem die Einrichtung
von dauerhaften Beschäftigungsmöglichkeiten neben der
Professur durch den Bund unterstützt wird. Wir brau-
chen eine Kultur der Selbstständigkeit von jungen Wis-
senschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die die Jahre ih-
rer größten Kreativität nicht auf befristeten
Teilzeitstellen in Projekten ihres Doktorvaters verbrin-
gen sollten; denn sie sind eben nicht der ewige Nach-
wuchs, der sich ein ganzes Berufsleben lang auf die Pro-
fessur vorbereitet – um sie dann im Regelfall doch nicht
zu bekommen. Diese Menschen leisten den Großteil der
wissenschaftlichen Arbeit in diesem Land – auch wenn
der Name des Professors oder der Professorin auf der
Publikation steht. Sie sind Leistungsträgerinnen und
Leistungsträger und sollten die Bedingungen bekom-
men, die sie für ihre wichtige Arbeit brauchen.
Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Beschäftigungsbedingungen für den wissenschaftlichen
Nachwuchs haben sich in den letzten Jahren dramatisch
verschlechtert. Die Hochschulkarriere erweist sich für
immer mehr hochqualifizierte Nachwuchswissenschaft-
ler als Sackgasse. Befristete Arbeitsverhältnisse sind in-
zwischen der Normalfall an unseren Hochschulen. 2008
waren bereits 62 Prozent der hauptberuflichen wissen-
schaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nur noch
befristet beschäftigt. Das ist ein Zuwachs von 23 Prozent
innerhalb von nur fünf Jahren. Genauso rasant breiten
sich Teilzeitbezahlung und nebenberufliche Beschäfti-
gungsverhältnisse aus. Die Zahl der nebenberuflichen
Lehrbeauftragten stieg seit der Jahrtausendwende um
satte 50 Prozent. Die Zahl der Professuren stagniert da-
gegen seit Jahren.
Wir sprechen hier keineswegs von einer kleinen
Gruppe von Berufseinsteigern. Die Rede ist vielmehr von
der Mehrheit und dem Kernbestand der Wissenschaftle-
rinnen und Wissenschaftler, die an den Hochschulen Dau-
eraufgaben in Forschung und Lehre übernehmen und die
bis weit ins fünfte Lebensjahrzehnt mit diesen prekären
und befristeten Beschäftigungsbedingungen konfrontiert
sind. Solche Personalstrukturen und solche unsicheren
Karriereperspektiven werden auf Dauer nicht ohne Fol-
gen für das gesamte deutsche Wissenschaftssystem blei-
ben. Der Trend, an den Hochschulen möglichst viel Per-
sonal zu möglichst kostengünstigen Bedingungen
einzustellen, kommt nicht von ungefähr. Auch dass die
Zahl der Professuren seit Jahren stagniert, ist kein Natur-
gesetz. Wenn die Aufgaben in Forschung und Lehre
wachsen, aber zugleich an der Grundfinanzierung der
Hochschulen gespart wird, darf man sich nicht wundern,
wenn die Lücken mit kostengünstigen Nachwuchskräften
und prekären Verträgen gestopft werden. Wer ein leis-
tungsfähiges Hochschulsystem will, muss für die aus-
kömmliche Finanzierung gerade auch der grundständigen
Aufgaben der Hochschulen in Lehre und Forschung sor-
gen.
Als Ergänzung haben wettbewerblich vergebene Dritt-
mittel eine wichtige Funktion für Innovation und Qualität
gerade in der Forschung. Drittmittel müssen aber keines-
wegs automatisch zu befristeter Beschäftigung führen.
Mit der Herausforderung schwankender Auftragslagen
sind nicht nur Hochschulen konfrontiert. Statt die Risiken
einseitig auf die Beschäftigten abzuschieben, kommt es
vielmehr auf die Steuerungsleistung und das Personalma-
nagement der Hochschulleitungen an. Öffentliche Dritt-
mittelgeber wie das BMBF und die DFG sollten diese
Steuerungsleistung durch gezielte Anreize unterstützen.
Allein in der Unterfinanzierung der Hochschulen darf
die Ursache für die prekäre Lage des wissenschaftlichen
Nachwuchses nicht gesucht werden. Auch die verkruste-
ten Personalstrukturen und Qualifizierungswege haben
ihren Anteil. Aus internationaler Perspektive leistet sich
das deutsche Hochschulsystem eine exotische Besonder-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 84. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011 9551
(A) (C)
(D)(B)
heit: Unterhalb der Professur existieren hierzulande
keine dauerhaften Beschäftigungsmöglichkeiten für be-
währte Kräfte. An deutschen Hochschulen gibt es kaum
eine Möglichkeit, jenseits der Vollprofessur Wissen-
schaft als Beruf selbstständig in Forschung und Lehre
auszuüben. Das ist auch ein wesentlicher Grund für die
extreme Verengung der Karrierewege für den wissen-
schaftlichen Nachwuchs und damit für die ungewissen
Perspektiven. Die verstärkten Bemühungen im Rahmen
der Exzellenzinitiative, des Pakts für Forschung und
Innovation und die Internationalisierungsstrategie wer-
den durch diesen Karriereflaschenhals konterkariert;
denn nach den Graduiertenschulen und Graduiertenkol-
legs gibt es an den Hochschulen selbst für hervorragende
wissenschaftliche Postdocs kaum realistische Anschluss-
perspektiven. Auch für hervorragende Nachwuchswis-
senschaftlerinnen und -wissenschaftler droht an den
Hochschulen die Karrieresackgasse.
Der Beruf Wissenschaft verliert durch diese Karriere-
risiken und Unsicherheiten gefährlich an Attraktivität.
Es ist höchste Zeit, dass die Bundesregierung endlich
zu handeln beginnt und damit ihrer Verantwortung für
das gesamte Wissenschafts- und Hochschulsystem ge-
recht wird. Es reicht nicht, auf die Länder zu zeigen und
ansonsten den Kopf in den Sand zu stecken. Die Perso-
nalstrukturen an den Hochschulen gefährden die Qualität
und die Wettbewerbsfähigkeit des gesamten Wissen-
schafts-, Forschungs- und Innovationssystems, das auf
die Ausbildungsleistung der Hochschulen und den her-
vorragenden wissenschaftlichen Nachwuchs angewiesen
ist.
Wir fordern die Bundesregierung auf, mit den Län-
dern einen Pakt für den wissenschaftlichen Nachwuchs
und zukunftsfähige Personalstrukturen zu schließen. Ziel
muss es sein, die Professuren/Studierenden-Quote auf ei-
nen international wettbewerbsfähigen Standard zu he-
ben, Daueraufgaben in Forschung und Lehre durch Dau-
erstellen erledigen zu lassen und mit der Tenure-Track-
Juniorprofessur die Karrierewege in der Postdocphase zu
verstetigen und zu entkrusten. Die Tarifsperre im Wis-
Der wissenschaftliche Nachwuchs ist zwar hoch moti-
viert, begeistert sich für die Forschung und das wissen-
schaftliche Arbeiten. Aber er findet an den deutschen
Hochschulen keine attraktiven Bedingungen und ver-
lässlichen Perspektiven, und das oft in einem Alter, wo
auch das Thema Familienplanung ansteht. Als Arbeitge-
ber verlieren die deutschen Hochschulen gegenüber pri-
vaten Arbeitgebern und den Hochschulen und For-
schungseinrichtungen im Ausland im Ringen um die
besten Köpfe dadurch an Boden. Je stärker die demogra-
fische Entwicklung durchschlägt und je weiter sich die
Arbeitsmärkte für Hochqualifizierte internationalisie-
ren, desto härter wird die Konkurrenz noch werden und
desto mehr werden die deutschen Hochschulen das
Nachsehen haben, wenn sich nichts ändert. Schon heute
sind Sonderprogramme nötig, um hervorragende Nach-
wuchskräfte für die Rückkehr nach Deutschland zu ge-
winnen. Aber die Programme laufen ins Leere, wenn
sich die Perspektiven für den wissenschaftlichen Nach-
wuchs nicht verbessern und wenn Personalstrukturen
nicht neu geordnet werden.
senschaftszeitvertragsgesetz ist schleunigst aufzuheben,
da die Intention des Gesetzes, Befristungen zu be-
grenzen, unübersehbar gescheitert ist. Besonders steht
der Bund schließlich beim wachsenden Anteil der öf-
fentlichen Drittmittelfinanzierung in der Verantwortung.
Mehr als zwei Drittel der Drittmittel, die an die Hoch-
schulen fließen, stammen direkt vom Bund oder von der
Deutschen Forschungsgemeinschaft. Hier müssen effek-
tive Anreize für mehr unbefristete Beschäftigungsver-
hältnisse gesetzt werden, zum Beispiel durch einen Risi-
koaufschlag.
Die Fakten sind sattsam bekannt. Jetzt gilt es, zu han-
deln und mit den Ländern einen Pakt zu schließen, um
dem wissenschaftlichen Nachwuchs verlässliche Per-
spektiven zu geben. Morgen findet in Berlin die Follow-
up-Konferenz der GEW zum Templiner Manifest statt. Es
stünde dem Bundestag gut an, heute das Signal zu geben,
dass sich nicht nur die Opposition um die Nöte der Nach-
wuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler küm-
mern will.
84. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 20. Januar 2011
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7