Protokoll:
17071

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 17

  • date_rangeSitzungsnummer: 71

  • date_rangeDatum: 11. November 2010

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  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 21:20 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 17/71 schen Konzept der NATO . . . . . . . . . . . . . . Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. h. c. Gernot Erler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU) . . . . . Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) . . . . . . . . . Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Uta Zapf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 4: a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung des Wertpapierer- werbs- und Übernahmegesetzes (Drucksache 17/3481) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer, Sahra Wagenknecht, Dr. Barbara Höll, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Beschäftigtenrechte bei Übernahmen und Fusionen stärken (Drucksache 17/3540) . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Poß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU) . . . . . . 7599 A 7599 B 7600 D 7602 A 7604 B 7606 C 7607 D 7609 B 7610 D 7611 A 7620 B 7620 C 7620 C 7622 A Deutscher B Stenografisc 71. Sit Berlin, Donnerstag, de I n h a Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- neten Inge Höger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erinnerung an Eduard von Simson . . . . . . . Begrüßung der neuen Abgeordneten Rita Schwarzelühr-Sutter und Johanna Voß . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung des Tagesordnungspunktes 34 . . . Begrüßung des Präsidenten der Abgeordne- tenkammer des Großherzogtums Luxemburg, Herrn Laurent Mosar . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 3: Vereinbarte Debatte: zum neuen Strategi- 7597 A 7597 B 7597 D 7598 A 7598 D 7599 A Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Guido Westerwelle (FDP) . . . . . . . . . . . . 7612 C 7613 C undestag her Bericht zung n 11. November 2010 l t : Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE) . . . . . . . . . Dr. Hans-Peter Bartels (SPD) . . . . . . . . . . . . Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Ruprecht Polenz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 7613 D 7614 A 7615 A 7615 C 7616 A 7617 B 7617 D 7618 A 7619 A Ulla Lötzer (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . 7624 D 7626 A II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU) . . . . . Petra Hinz (Essen) (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 37: a) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur bestätigenden Regelung verschiedener steuerlicher und ver- kehrsrechtlicher Vorschriften des Haus- haltsbegleitgesetzes 2004 (Drucksache 17/3632) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Änderungsprotokoll vom 25. Mai 2010 zum Abkommen vom 17. Oktober 1962 zwischen der Bundes- republik Deutschland und Irland zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerver- kürzung bei den Steuern vom Einkom- men und vom Vermögen sowie der Ge- werbesteuer (Drucksache 17/3358) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Drit- ten Gesetzes zur Änderung des Um- wandlungsgesetzes (Drucksache 17/3122) . . . . . . . . . . . . . . . . d) Antrag der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Elisabeth Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Mehr Flexibilität und Transpa- renz bei der Pandemiebekämpfung (Drucksache 17/3544) . . . . . . . . . . . . . . . . e) Antrag der Fraktion der SPD: Das Men- schenrecht auf sauberes Trinkwasser und Sanitärversorgung umsetzen (Drucksache 17/3652) . . . . . . . . . . . . . . . . f) Antrag der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann, Dr. Valerie Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Modellversuche mit Gigalinern been- den – Umweltorientierten Aktionsplan Güterverkehr und Logistik auf den Weg bringen (Drucksache 17/3674) . . . . . . . . . . . . . . . . 7627 C 7629 C 7631 D 7632 D 7633 D 7634 D 7637 C 7638 D 7639 A 7639 A 7639 A 7639 B 7639 B g) Antrag der Abgeordneten Karin Binder, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Akzeptanzprobleme bei der Rheintalbahn durch offene Planung beseitigen (Drucksache 17/3659) . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 2: a) Antrag der Abgeordneten Heinz Paula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Petra Crone, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Tierschutz bei Katzen verbessern (Drucksache 17/3653) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Undine Kurth (Quedlinburg), Cornelia Behm, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Tierschutz stärken – Tierheime entlas- ten (Drucksache 17/3543) . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch, Renate Künast, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: zu dem Vor- schlag für eine Richtlinie des Europäi- schen Parlaments und des Rates über Rechte der Verbraucher KOM(2008)614 endg.; Ratsdok. 14183/08 hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes Modernes Verbraucherrecht für Eu- ropa entwickeln (Drucksache 17/3675) . . . . . . . . . . . . . . . d) Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe, Tom Koenigs, Markus Kurth, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Rechte indigener Völker stärken, ILO-Konvention 169 ratifizieren (Drucksache 17/3676) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 38: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 9. Juni 2006 zwischen der Europäi- schen Gemeinschaft und ihren Mit- gliedstaaten, der Republik Albanien, Bosnien und Herzegowina, der Repu- blik Bulgarien, der ehemaligen jugosla- wischen Republik Mazedonien, der Re- publik Island, der Republik Kroatien, der Republik Montenegro, dem König- reich Norwegen, Rumänien, der Repu- 7639 C 7639 C 7639 C 7639 D 7639 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 III blik Serbien und der Übergangsverwal- tung der Vereinten Nationen in Kosovo zur Schaffung eines gemeinsamen euro- päischen Luftverkehrsraums (Vertrags- gesetz ECAA-Übereinkommen – ECAAÜbkG) (Drucksachen 17/2068, 17/3396) . . . . . . . b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Aufhebung des Frei- hafens Hamburg (Drucksachen 17/3353, 17/3682) . . . . . . . c) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinbarung vom 20. April 2010 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung von Quebec über Soziale Sicherheit (Drucksachen 17/3120, 17/3575) . . . . . . . d) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom 24. Oktober 2008 zwischen der Regierung der Bundesre- publik Deutschland, der Regierung des Königreichs Belgien, der Regierung der Französischen Republik und der Regie- rung des Großherzogtums Luxemburg zur Einrichtung und zum Betrieb eines Gemeinsamen Zentrums der Polizei- und Zollzusammenarbeit im gemeinsa- men Grenzgebiet (Drucksachen 17/3117, 17/3500) . . . . . . . e) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab- kommen vom 9. März 2009 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Französischen Republik über die Zu- sammenarbeit im Bereich der Sicher- heit im Luftraum bei Bedrohungen durch zivile Luftfahrzeuge (Drucksachen 17/3125, 17/3661) . . . . . . . f) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Verordnung der Bundesregierung: Verordnung zur An- passung umweltrechtlicher Verordnun- gen an die Terminologie der Verord- nung (EG) Nr. 1272/2008 (Drucksachen 17/3476, 17/3578 Nr. 2, 17/3657) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g)–q) Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- schusses: Sammelübersichten 153, 154, 155, 156, 157, 158, 159, 160, 161, 162 und 163 zu Petitionen 7640 B 7640 C 7640 D 7641 A 7641 B 7641 D (Drucksachen 17/3455, 17/3456, 17/3457, 17/3458, 17/3459, 17/3460, 17/3461, 17/3462, 17/3463, 17/3464, 17/3465) . . . Zusatztagesordnungspunkt 3: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Meinungsverschiedenheiten in- nerhalb der Bundesregierung über die Re- form der Kommunalfinanzen Joachim Poß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katrin Kunert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU) . . . . . . Bernd Scheelen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Birgit Reinemund (FDP) . . . . . . . . . . . . . Kirsten Lühmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) . . . . . . . . Peter Friedrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Bernhard Kaster (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 5: a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des Arz- neimittelmarktes in der gesetzlichen Krankenversicherung (Arzneimittel- marktneuordnungsgesetz – AMNOG) (Drucksachen 17/2413, 17/3698) . . . . – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Neuord- nung des Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Krankenversiche- rung (Arzneimittelmarktneuord- nungsgesetz – AMNOG) (Drucksache 17/3116, 17/3211, 17/3698) b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Karl Lauterbach, Dr. Marlies Volkmer, Elke Ferner, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD: Effektivere Arzneimittelversorgung – zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel, Dr. Marlies Volkmer, Dr. Ernst 7642 A 7643 A 7644 B 7645 D 7647 A 7648 C 7650 A 7651 A 7652 C 7654 A 7655 A 7656 B 7657 D 7658 D 7660 A 7660 A IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 Dieter Rossmann, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der SPD: Öffentlichen Zugang zu Informa- tionen über klinische Studien umfas- send sicherstellen – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, Dr. Martina Bunge, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion DIE LINKE: Verpflichtung zur Registrierung al- ler klinischen Studien und zur Ver- öffentlichung aller Studienergeb- nisse einführen – zu dem Antrag der Abgeordneten Kathrin Vogler, Dr. Martina Bunge, Karin Binder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Unab- hängige Patientenberatung in Regel- angebot überführen – zu dem Antrag der Abgeordneten Kathrin Vogler, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für ein mo- dernes Preisbildungssystem bei Arz- neimitteln – zu dem Antrag der Abgeordneten Birgitt Bender, Fritz Kuhn, Maria Anna Klein-Schmeink, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Qualität und Sicherheit der Arzneimittelversor- gung verbessern – Positivliste ein- führen – Arzneimittelpreise be- grenzen – zu dem Antrag der Abgeordneten Maria Anna Klein-Schmeink, Fritz Kuhn, Birgitt Bender, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Unabhängige Patientenberatung ausbauen und in die Regelversorgung überführen (Drucksachen 17/1201, 17/1768, 17/893, 17/2322, 17/2324, 17/1418, 17/1985, 17/3698) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Philipp Rösler, Bundesminister BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Singhammer (CDU/CSU) . . . . . . . . Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) . . . . . . Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) . . . . . . 7660 B 7660 D 7661 D 7663 C 7664 D 7666 B 7667 D 7668 D 7669 B Dr. Marlies Volkmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Jens Spahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . Michael Hennrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Namentliche Abstimmungen . . . . . . . . . . . . . Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 6: Erste Beratung des von den Abgeordneten Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, Diana Golze, weiteren Abgeordneten und der Frak- tion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs ei- nes Gesetzes zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Ge- setze (RV-Altersgrenzenanpassungs-Aus- setzungsgesetz – RV-AgAG) (Drucksache 17/3546) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) . . . . . . . Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . Tagesordnungspunkt 7: a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP: Mobilität nachhaltig sichern – Elektromobilität fördern (Drucksache 17/3479) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig, Dr. Petra Sitte, Dr. Gesine Lötzsch, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Klimaschutz im Verkehr braucht wesentlich mehr als Elektroau- tos (Drucksache 17/2022) . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit 7669 C 7670 C 7671 B 7672 C 7673 D, 7674 C 7676 C, 7678 B 7675 A 7675 B 7681 A 7681 D 7682 C 7683 C 7684 A 7685 C 7686 B 7687 A 7688 A 7688 C 7689 D 7691 A 7691 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 V Zusatztagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Ute Kumpf, Wolfgang Tiefensee, Uwe Beckmeyer, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Nachhaltige Mobilität fördern – Elektro- mobilität vorantreiben (Drucksache 17/3647) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas Jung (Konstanz) (CDU/CSU) . . . . . Ute Kumpf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werner Simmling (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Leidig (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Steffen Bilger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Tiefensee (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 8: Antrag der Abgeordneten Katja Dörner, Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Vorrang für Kinder – Auch beim Lärmschutz (Drucksache 17/2925) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Michael Paul (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Ute Vogt (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Judith Skudelny (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Sabine Stüber (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Daniela Raab (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 9: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung des Schutzes von Vertrauensverhältnissen zu Rechtsanwäl- ten im Strafprozessrecht (Drucksachen 17/2637, 17/3693) . . . . . . . . . . Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesministerin BMJ . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . . Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7691 B 7691 C 7692 D 7694 A 7694 D 7695 C 7696 D 7697 D 7698 D 7699 C 7700 B 7700 B 7701 B 7702 B 7703 A 7703 C 7704 D 7705 B 7706 B 7706 C 7707 C 7709 B 7710 B Tagesordnungspunkt 10: Erste Beratung des von den Abgeordneten Christine Lambrecht, Olaf Scholz, Bärbel Bas, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes zur Verlängerung der straf- und zivilrechtlichen Verjährungsfristen bei sexuellem Missbrauch von Kindern und minderjährigen Schutzbefohlenen (Drucksache 17/3646) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christine Lambrecht (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . Christian Ahrendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Olaf Scholz (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 11: a) Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Freiheit für Gilad Shalit (Drucksache 17/3422) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Fraktion DIE LINKE: Durch einen humanitären Akt Frieden beför- dern – Gilad Shalit freilassen (Drucksache 17/3431) . . . . . . . . . . . . . . . Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Christian Lange (Backnang) (SPD) . . . . . . . . Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ruprecht Polenz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Bettina Kudla (CDU/CSU) (Erklärung nach § 31 GO) . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Abgeordneten Gabriele Hiller- Ohm, Anette Kramme, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes durch eine transparente Bemessung der Regelsätze und eine Förderung der Teil- habe von Kindern umsetzen (Drucksache 17/3648) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU) . . . . . . . Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7711 B 7711 C 7713 A 7714 D 7715 D 7716 A 7716 D 7717 B 7717 C 7717 C 7718 D 7720 A 7720 D 7721 D 7723 A 7723 D 7724 C 7724 D 7725 C 7726 C 7727 D VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Lösekrug-Möller (SPD) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 13: a) Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: 60 Jahre Europäische Menschenrechts- konvention (Drucksache 17/3423) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Andrej Hunko, Dr. Diether Dehm, Annette Groth, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: 60 Jahre Europäische Men- schenrechtskonvention – Menschen- rechte stärken, schützen und durchset- zen (Drucksache 17/3658) . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Hörster (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andrej Hunko (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Holger Haibach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Abgeordneten Jan Korte, Wolfgang Nešković, Petra Pau, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion DIE LINKE: Widerstand von Kommunistinnen und Kommunisten gegen das NS-Regime aner- kennen (Drucksache 17/2201) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 15: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Abge- ordneten Anette Hübinger, Holger Haibach, Dr. Christian Ruck, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Harald Leibrecht, Helga Daub, Joachim Günther (Plauen), weiterer Abgeord- 7729 C 7730 C 7730 D 7731 D 7733 A 7733 D 7734 D 7734 D 7735 A 7736 B 7737 D 7738 D 7739 C 7740 B 7741 B 7742 C neter und der Fraktion der FDP: Bildung in Entwicklungs- und Schwellenländern stär- ken – Bildungsmaßnahmen anpassen und wirksamer gestalten (Drucksachen 17/2134, 17/3622) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 16: Antrag der Abgeordneten Dr. Valerie Wilms, Markus Kurth, Cornelia Behm, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Rohstoffförderung im Meer – Aus der Katastrophe lernen (Drucksache 17/3662) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 17: Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über den Stand des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes Ange- bot an Kindertagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren für das Berichtsjahr 2009 (Erster Zwischenbericht zur Evaluation des Kin- derförderungsgesetzes) (Drucksache 17/2621) . . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 5: Antrag der Abgeordneten Dorothee Bär, Markus Grübel, Marcus Weinberg (Ham- burg), weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Miriam Gruß, Nicole Bracht-Bendt, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Faire Teilhabechancen von Anfang an – Frühkindliche Betreuung und Bildung fördern (Drucksache 17/3663) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 20: Antrag der Abgeordneten Dr. Heinz Riesenhuber, Dr. Philipp Murmann, Dr. Joachim Pfeiffer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Paul K. Friedhoff, Patrick Meinhardt, Dr. Martin Neumann (Lausitz), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Existenzgründungen aus Forschung und Wissenschaft fördern – Für einen star- ken deutschen Innovationsstandort (Drucksache 17/3480) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 19: Antrag der Abgeordneten René Röspel, Dr. Matthias Miersch, Dr. Ernst Dieter 7742 D 7743 A 7743 B 7743 B 7743 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 VII Rossmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Schutz der biologischen Vielfalt – Die Taxonomie in der Biologie stärken (Drucksache 17/3484) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 22: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2009/28/EG zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen (Europarechtsan- passungsgesetz Erneuerbare Energien – EAG EE) (Drucksache 17/3629) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 21: a) Antrag der Abgeordneten Rolf Hempelmann, Hubertus Heil (Peine), Ulrich Kelber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Die Energieversor- gung in kommunaler Hand (Drucksache 17/3649) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Ulla Lötzer, Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Energienetze in die öffent- liche Hand – Kommunalisierung der Energieversorgung erleichtern – Trans- parenz und demokratische Kontrolle stärken (Drucksache 17/3671) . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Bareiß (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Breil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulla Lötzer (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 24: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Vormundschafts- und Be- treuungsrechts (Drucksache 17/3617) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andrea Astrid Voßhoff (CDU/CSU) . . . . . . . . Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7743 D 7744 A 7744 A 7744 B 7744 B 7746 B 7747 A 7748 A 7748 C 7749 C 7749 D 7751 B 7752 A 7752 C 7753 C Tagesordnungspunkt 23: Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Christine Buchholz, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Beziehung der Europäischen Union mit Afrika solidarisch und gerecht gestalten (Drucksache 17/3672) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartwig Fischer (Göttingen) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karin Roth (Esslingen) (SPD) . . . . . . . . . . . . Joachim Günther (Plauen) (FDP) . . . . . . . . . Annette Groth (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 26: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung von De-Mail-Diensten und zur Änderung weiterer Vorschriften (Drucksache 17/3630) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Clemens Binninger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Gerold Reichenbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Manuel Höferlin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 25: Antrag der Abgeordneten Dirk Becker, Ulrich Kelber, Gerd Bollmann, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der SPD: Biomethan im Verkehrssektor fördern (Drucksache 17/3651) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Hirte (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Dirk Becker (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 28: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Ersten Gesetzes zur Än- derung des Stipendienprogramm- Gesetzes (1. StipG-ÄndG) (Drucksachen 17/3359, 17/3699) . . . . 7754 C 7754 C 7756 A 7757 D 7758 C 7759 C 7760 B 7760 C 7761 D 7763 B 7764 B 7765 D 7767 B 7767 C 7768 D 7770 C 7771 A 7771 B 7772 A VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 – Bericht des Haushaltsausschusses ge- mäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/3701) . . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zu dem An- trag der Abgeordneten Nicole Gohlke, Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Mittel des Nationalen Stipen- dienprogramms für eine Erhöhung des BAföG nutzen (Drucksachen 17/2427, 17/3699) . . . . . . . Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD) . . . . Patrick Meinhardt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Nicole Gohlke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 27: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Wirtschaft und Technologie – zu dem Antrag der Abgeordneten Martin Dörmann, Garrelt Duin, Hubertus Heil (Peine), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Betroffene Kulturein- richtungen nach Frequenzumstellung für drahtlose Mikrofone angemessen entschädigen – zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert, Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra Sitte, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion DIE LINKE: Kulturelle Einrich- tungen vor Folgeschäden aus der Frequenzversteigerung der digitalen Dividende bewahren – zu dem Antrag der Abgeordneten Tabea Rößner, Agnes Krumwiede, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Kultur und Rundfunk nicht durch die Fre- quenzumstellung schädigen (Drucksachen 17/3177, 17/2416, 17/2920, 17/3694) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Johannes Selle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Martin Dörmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Burkhardt Müller-Sönksen (FDP) . . . . . . . . . Katrin Kunert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7772 A 7772 B 7772 B 7773 D 7775 A 7776 A 7776 C 7777 C 7777 D 7778 C 7779 A 7780 C 7781 C 7782 B Tagesordnungspunkt 30: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Siebten Geset- zes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (Drucksachen 17/3631, 17/3683) . . . . . . . . . . Thomas Dörflinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Angelika Krüger-Leißner (SPD) . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katrin Kunert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 29: Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion DIE LINKE: Erkenntnisse des Welt- agrarberichtes zur Grundlage deutscher, europäischer und internationaler Agrar- und Entwicklungspolitik machen (Drucksache 17/3542) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Röring (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) . . . . . . . . . . . . Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 31: Antrag der Abgeordneten Eva Bulling- Schröter, Dr. Barbara Höll, Ralph Lenkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Extraprofite von Atom- und Koh- lekraftwerksbetreibern abschöpfen (Drucksache 17/3673) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Frank Steffel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Ingrid Arndt-Brauer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Birgit Reinemund (FDP) . . . . . . . . . . . . . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . . Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . 7783 C 7783 C 7784 B 7785 B 7786 C 7787 C 7788 B 7789 A 7789 A 7790 B 7791 D 7792 D 7794 A 7794 D 7795 A 7795 D 7796 D 7797 B 7798 B 7799 C 7801 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 IX Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung: Sammelüber- sicht 163 zu Petitionen (Tagesordnungs- punkt 38 q) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Oliver Luksic (FDP) zur namentlichen Ab- stimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Krankenversicherung (Arz- neimittelmarktneuordnungsgesetz – AMNOG) (Tagesordnungspunkt 5 a) . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) zur Abstimmung über den Antrag: Freiheit für Gilad Shalit (Tagesord- nungspunkt 11 a) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung des Schutzes von Vertrauensverhältnissen zu Rechtsanwälten im Strafprozessrecht (Tages- ordnungspunkt 9) Dr. Peter Danckert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Widerstand von Kommunistin- nen und Kommunisten gegen das NS-Regime anerkennen (Tagesordnungspunkt 14) Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Bettina Kudla (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Bildung in Entwicklungs- und Schwellenlän- dern stärken – Bildungsmaßnahmen anpassen und wirksamer gestalten (Tagesordnungs- punkt 15) 7801 C 7802 A 7802 C 7803 A 7804 A 7804 D 7805 D 7806 D 7807 D 7809 A Anette Hübinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Bärbel Kofler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Harald Leibrecht (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Rohstoffförderung im Meer – Aus der Katastrophe lernen (Tagesordnungs- punkt 16) Ingbert Liebing (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Franz Obermeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angelika Brunkhorst (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Sabine Stüber (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Unterrichtung: Bericht der Bundesregie- rung über den Stand des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes Angebot an Kindertages- betreuung für Kinder unter drei Jahren für das Berichtsjahr 2009 (Erster Zwischenbe- richt zur Evaluation des Kinderförde- rungsgesetzes) – Antrag: Faire Teilhabechancen von An- fang an – Frühkindliche Betreuung und Bildung fördern (Tagesordnungspunkt 17 und Zusatztagesord- nungspunkt 5) Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD) . . . Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Existenzgründungen aus For- schung und Wissenschaft fördern – Für einen 7809 D 7811 B 7813 A 7813 D 7814 D 7815 D 7817 A 7818 A 7819 B 7819 D 7820 C 7821 B 7822 B 7823 B 7824 A 7825 A 7826 A X Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 starken deutschen Innovationsstandort (Ta- gesordnungspunkt 20) Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU) . . . . . . . . Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . Peter Friedrich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) . . . . . . . . Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Christine Scheel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Schutz der biologischen Vielfalt – Die Taxonomie in der Biologie stärken (Ta- gesordnungspunkt 19) Ewa Klamt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Josef Göppel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . Dr. Matthias Miersch (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Angelika Brunkhorst (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Krista Sager (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2009/28/EG zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quel- len (Europarechtsanpassungsgesetz Erneuer- bare Energien – EAG EE) (Tagesordnungs- punkt 22) Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU) . . . . . . . Dirk Becker (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Horst Meierhofer (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Dorothee Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7826 D 7828 D 7830 D 7831 D 7832 D 7834 A 7835 A 7836 A 7837 A 7837 D 7838 B 7838 D 7839 C 7840 B 7842 A 7843 B 7843 D 7844 C 7845 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7597 (A) (C) (D)(B) 71. Sit Berlin, Donnerstag, de Beginn: 9
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    Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7801 (A) (C) (D)(B) Zimmermann, Sabine DIE LINKE 11.11.2010 Deshalb stimme ich nicht dafür, die Petition zum Mindestlohn für Beschäftigte in Werkstätten für Men- Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Ackermann, Jens FDP 11.11.2010 van Aken, Jan DIE LINKE 11.11.2010 Bätzing-Lichtenthäler, Sabine SPD 11.11.2010 Buchholz, Christine DIE LINKE 11.11.2010 Bülow, Marco SPD 11.11.2010 Ernst, Klaus DIE LINKE 11.11.2010 Frankenhauser, Herbert CDU/CSU 11.11.2010 Friedhoff, Paul K. FDP 11.11.2010 Granold, Ute CDU/CSU 11.11.2010 Griese, Kerstin SPD 11.11.2010 Dr. Merkel, Angela CDU/CSU 11.11.2010 Movassat, Niema DIE LINKE 11.11.2010 Mücke, Jan FDP 11.11.2010 Dr. Müller, Gerd CDU/CSU 11.11.2010 Oswald, Eduard CDU/CSU 11.11.2010 Röspel, René SPD 11.11.2010 Dr. Schäuble, Wolfgang CDU/CSU 11.11.2010 Schreiner, Ottmar SPD 11.11.2010 Dr. Schwanholz, Martin SPD 11.11.2010 Dr. Sieling, Carsten SPD 11.11.2010 Dr. Steinmeier, Frank- Walter SPD 11.11.2010 Ulrich, Alexander DIE LINKE 11.11.2010 Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 11.11.2010 Werner, Katrin DIE LINKE 11.11.2010 Wicklein, Andrea SPD 11.11.2010 Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) zur Abstimmung über die Beschlussempfeh- lung: Sammelübersicht 163 zu Petitionen (Ta- gesordnungspunkt 38 q) Ich lehne die Beschlussempfehlung des Petitionsaus- schusses (2. Ausschuss) – Sammelübersicht 163 zu Peti- tionen – auf Drucksache 17/3465 ab, weil damit dem Anliegen der Petentinnen und Petenten der unter dem Stichwort „Hilfe für Behinderte“ zusammengefassten Petitionen mit der laufenden Nummer 11 der oben ge- nannten Drucksache nicht Rechnung getragen wird. In diesen Petitionen fordern der Petent sowie 564 Mit- zeichnende und 36 Personen, die die Petition mit einem Diskussionsbeitrag unterstützten, gesetzliche Mindest- löhne für Beschäftigte in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen Der Petitionsausschuss kam mehrheitlichen, das heißt mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP zur Einschät- zung, das Petitionsverfahren abzuschließen, weil er „die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohnes in den Werkstätten für behinderte Menschen nicht als sinnvoll“ ansieht, dem Anliegen des Petenten also nicht entspro- chen werden konnte. Diese Einschätzung teile ich nicht. Deshalb werden die Fraktion Die Linke und ich gegen diese Beschluss- empfehlung stimmen. Warum sollten die Petitionen an die Bundesregierung als Material und den Bundestagsfraktionen zur Kenntnis gegeben werden? Das war der (abgelehnte) Vorschlag aus der Opposition. Die derzeitige Situation von Beschäftigten in WfbM widerspricht in eklatanter Weise der UN-Behinderten- rechtskonvention, die seit März 2009 in Deutschland geltendes Recht ist. In Art. 27 „Arbeit und Beschäftigung“ geht es unter anderem um das Recht von Menschen mit Behinderung, den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen. Dies ist für die über 270 000 Beschäftigten in den circa 700 WfbM mit einem derzeitigen durchschnittlichen monatli- chen (!) Arbeitsentgelt von 160 Euro nicht möglich. Die Einführung von gesetzlichen Mindestlöhnen, welche Einkommen ermöglichen, die oberhalb von Hartz IV oder der Grundsicherung nach SGB XII liegen, wäre auch für Beschäftigte in Werkstätten ein wichtiger Schritt für ein menschenwürdiges selbstbestimmtes Leben in der Gesellschaft. Die bestehende nachteilsausglei- chende Rentenregelung für Werkstattbeschäftigte könnte dabei weitergeführt werden. Dieser Aufgabe dürfen sich die Bundesregierung, der Bundestag und die Gesell- schaft nicht länger verschließen. 7802 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 (A) (C) (D)(B) schen mit Behinderungen abzuschließen, ohne sich des berechtigten Anliegens anzunehmen und die Bundesre- gierung aufzufordern, akzeptable Lösungsvorschläge zu erarbeiten. Ich sage den Unterzeichnern der Petition: Die Linke fordert gute Bezahlung für gute Arbeit und einen ange- messenen gesetzlichen Mindestlohn – für Menschen mit und ohne Behinderungen. In diesem Sinne wird sie – ge- meinsam mit den Petenten und Behindertenverbänden – weiterhin aktiv kämpfen. Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Oliver Luksic (FDP) zur na- mentlichen Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des Arzneimittelmark- tes in der gesetzlichen Krankenversicherung (Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz – AMNOG) (Tagesordnungspunkt 5 a) Ich stimme dem Gesetzentwurf der Koalition heute zu, auch wenn dies aufgrund der Regelungen, welche die Arzneimittelimporteure betreffen, nur unter großen Be- denken geschehen kann. Das AMNOG ist prinzipiell begrüßenswert, da die aktuellen Zahlen eindeutig belegen, dass eine Begren- zung des Anstiegs der Arzneimittelkosten notwendig ist, um das Gesundheitsversorgungssystem in Deutschland nicht in eine fatale Schieflage kippen zu lassen. Die GKV gab allein 32,4 Milliarden Euro im Jahr 2009 für die Arzneimittelversorgung aus, was einem An- teil von 18 Prozent an ihren Gesamtausgaben ausmacht. Al- lein im ersten Quartal diesen Jahres stiegen die Kosten für Arzneimittel um knapp 5 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Vor dem Hintergrund, dass den Patienten auch in Zu- kunft die bestmögliche Versorgung garantiert sein muss – was vor allem auch eine Behandlung mit den wirk- samsten und besten Arzneimitteln beinhaltet – und vor dem Hintergrund, dass dabei auch die Finanzierbarkeit der GKV gewahrt werden muss, ist das AMNOG ein effektives Instrument, welches durch seinen Ansatz die Preisfindung im Arzneimittelmarkt neu justiert. Allerdings bin ich der Meinung, dass bei der durch das Gesetz zur Änderung krankenversicherungsrecht- licher und anderer Vorschriften verschärften Regelung zu den Herstellerrabatten Verbesserungsbedarf besteht: So leistet der Parallelhandel mit Arzneimitteln seit über 30 Jahren einen kontinuierlichen Anteil zur Kosten- senkung im Arzneimittelbereich. Der durchschnittliche Preisabstand zwischen Originalarzneimittel und Import- arzneimittel beträgt gegenwärtig circa 10 Prozent. Umso mehr bedauere ich, dass diese bereits bestehen- den kostendämpfenden Elemente bei den Beratungen zum AMNOG nicht hinreichend berücksichtigt worden sind. Mit der Erhöhung des Herstellerabschlags von 6 auf 16 Prozent besteht schlichtweg die Gefahr, dass jene Unternehmen, die nach § 129 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch Arzneimittel reimportieren, in Zukunft nicht mehr wettbewerbsfähig sind und dauerhaft ein struktureller Eingriff in den Wettbewerb erfolgt, der nicht in meinem liberalen Interesse ist. Diese Regelung belastet die Reimporteure von Arz- neimitteln unverhältnismäßig stark und hätte zudem gra- vierende wirtschaftliche Folgen: Allein im Saarland sind aufgrund dieser Regelung sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze direkt gefährdet. Gleichwohl erkenne ich an, dass die christlich-libe- rale Koalition, die erste Koalition ist, die eine struktu- relle Reform des Arzneimittelmarktes geleistet hat und somit einen wesentlichen Beitrag, die unkontrolliert stei- genden Kosten im Arzneimittelmarkt zu begrenzen, wo- von im Wesentlichen die Patienten und die Krankenkas- sen profitieren. Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Marieluise Beck (Bremen) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur Abstim- mung über den Antrag: Freiheit für Gilad Shalit (Tagesordnungspunkt 11 a) Dem Antrag „Durch einen humanitären Akt Frieden befördern – Gilad Shalit freilassen“ (Antrag der Fraktion Die Linke; Bundestagsdrucksache 17/3431) kann ich nicht zustimmen. Der Antrag unterschlägt den entscheidenden Fakt, dass der junge israelische Soldat Gilad Shalit bei einem Angriff militanter Palästinensergruppen verletzt und auf israelischem Boden gekidnappt wurde. Dieser Tatbe- stand unterstreicht die Völkerrechtswidrigkeit des Fest- haltens von Gilad Shalit und muss daher in einem Antrag, in dem die Freilassung von Gilad Shalit gefordert wird, erwähnt werden. Ebenso wenig kann ich dem Passus „Der Zusammen- hang zwischen israelischer Besatzungspolitik und der Gefangennahme des israelischen Soldaten Gilad Shalit liegt auf der Hand“ zustimmen. Dieser wirkt wie eine Rechtfertigung für das verbrecherische Kidnapping des 19-jährigen Soldaten. Diese Tat ist aber ein völkerrechts- widriges Verbrechen, das durch nichts zu rechtfertigen ist. Auch die Forderung der Linkspartei, dass die Freilas- sung von Gilad Shalit als humanitäres Zeichen für die Freilassung palästinensischer Häftlinge genutzt werden soll, kann ich in diesem Kausalzusammenhang nicht un- terstützen, auch nicht, dass in diesem Zusammenhang der inhaftierte Generalssekretär der Fatah, Marwan Barghuthi, genannt wird. Marwan Barghuthi ist von is- raelischen Gerichten wegen der Verantwortung für die Ermordung von 26 Menschen sowie wegen der Mit- gliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu fünf- mal lebenslanger Haft verurteilt worden. Amnesty Inter- national, die zu Recht humane Haftbedingungen und die Aufklärung von Foltervorwürfen im Fall des inhaftierten Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7803 (A) (C) (D)(B) Marwan Barghuthi fordern, schreiben zum Hintergrund seiner Inhaftierung: „Die Fatah wiederum ist für zahlrei- che Anschläge in den besetzten Gebieten, darunter auch auf israelische Zivilisten, verantwortlich. Marwan Barghuthi soll außerdem enge Verbindungen zu den Al- Aksa-Brigaden haben, einer bewaffneten palästinensi- schen Gruppierung mit Kontakten zur Fatah, die für viele bewaffnete Angriffe und Selbstmordattentate auf israelische Staatsbürger, darunter auch Zivilisten, in Is- rael und den besetzten Gebieten verantwortlich ist.“ Aus diesem Grund ist es nicht statthaft, die Freilas- sung des 19-jährigen Soldaten Gilad Shalit, der völker- rechtswidrig auf israelischem Staatsgebiet entführt wurde, mit der Freilassung des Fatah-Generalsekretärs Barghuthi in Verbindung zu bringen. Auch die wichtigste Forderung im interfraktionellen Antrag „Gilad Shalit muss umgehend zu seiner Familie zurückkehren dürfen“ wird in dieser Klarheit im Antrag der Partei Die Linke nicht ausgesprochen. Unter diesen Voraussetzungen, kann ich den Antrag der Linkspartei nicht unterstützen. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung des Schutzes von Vertrauensverhält- nissen zu Rechtsanwälten im Strafprozessrecht (Tagesordnungspunkt 9) Dr. Peter Danckert (SPD): Der vorliegende Gesetz- entwurf (Drucksache 17/2637) vom 22. Juli 2010 der Regierung zur Stärkung des Schutzes von Rechtsanwälten im Strafprozessrecht ist – wie in meiner Rede im Rah- men der ersten Lesung am 30. September bereits unter- strichen – eine wichtige und notwendige Maßnahme, um die bestehende Differenzierung zwischen Strafverteidi- gern und Rechtsanwälten – Initiativgrund – des § 160 a StPO in Ihrer Funktion als Berufsgeheimnisträger zu nivellieren. Ursprünglich war der § 53 a der StPO einschlägig, der dann durch einen – von meiner Fraktion mitgetragenen Änderungsantrag – in den § 160 a StPO Abs. 1 überge- gangen ist. Dieser wurde in seiner jetzigen Form von der Großen Koalition in der 16. Wahlperiode eingeführt. Was ist Sinn und Zweck dieser Änderung? In der Praxis ist es äußerst problematisch, zwischen Strafverteidiger einerseits und Rechtsanwalt andererseits zu unterscheiden, da die beruflichen Übergänge fließend sind. Sowohl die anwaltliche wie auch die strafverteidi- gende Tätigkeit wird überwiegend von derselben Berufs- gruppe ausgeübt. Ein vertrauensvolles Gespräch über Zi- vilsachen zwischen Rechtsanwalt und Mandant kann schnell in ein Gespräch über strafrechtliche Vorwürfe münden. Im Hinblick auf den höchstmöglichen Mandan- tenschutz müssen diese Informationen, unabhängig vom jeweiligen Berufsgeheimnisträger, unter den Schutz des § 53 a StPO fallen. Der Gesetzentwurf sieht vor, das für die in § 53 a und § 160 a Abs. 1/2 StPO aufgelisteten Be- rufsgeheimnisträger – Geistliche, Strafverteidiger und Abgeordnete – geltende absolute Erhebungs- und Ver- wertungsverbot von Ermittlungsmaßnahmen aus den ge- nannten Gründen auf Rechtsanwälte im Sinne der §§ 206, 209 Bundesrechtsanwaltsordnung, BRAO, aus- zuweiten. Die Neufassung des § 160 a StPO sieht demnach eine Erweiterung der in § 53 Abs. 1. Satz 1 Nr. 1, 2, 4 ge- nannten Personen um einen Rechtsanwalt, eine nach § 206 der BRAO in eine Rechtsanwaltskammer aufge- nommene Person oder einen Kammerrechtsbeistand vor. Bisher galt für Rechtsanwälte das relative Erhebungs- und Verwertungsverbot – § 160 a StPO Abs. 2 – von Be- weismaterial, was jedoch eine – im Einzelfall geltende – Verhältnismäßigkeitsprüfung voraussetzt. Maßstab die- ser Prüfung ist das Vorliegen „einer Straftat von erhebli- cher Bedeutung“. Dieses abgestufte System erscheint vor dem Hintergrund der beruflichen Schnittmengen nicht mehr sachgerecht. Stellungnahmen dazu: Der Bundesrat hat in seiner Empfehlung – 229/1/10 – vom 21. Mai 2010 und in seiner Stellungnahme – Be- schluss 229/10 – vom 4. Juni 2010 keinerlei Einwände hinsichtlich des Gesetzesentwurfs 17/2637 geäußert. Der Bundesrat bittet jedoch darum, eine analoge Anpassung bzw. Beseitigung der Vorschriften in § 20 u Bundes- kriminalgesetz – BKAG – und die darin enthaltene Dif- ferenzierung zwischen Verteidigern und Rechtsanwälten zwecks Angleichung vorzunehmen. Die SPD-Fraktion hat im Rahmen ihrer Klausursit- zung dieses Jahres beschlossen, der Erweiterung des Regierungsentwurfs zu § 160 a StPO zuzustimmen, die- sen allerdings bewusst auf die Berufsgruppe der Rechts- anwälte zu beschränken. Der Änderungsantrag der Grünen und der Entschlie- ßungsantrag der Linken, über die heute abgestimmt wird, sind daher in Ihrer aktuellen Form – ohne intensive Beratungen – abzulehnen. Ob der Einwand der beruf- lichen Ungleichbehandlung und der Verweis auf eine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes (Art. 3 GG) gegebenenfalls gerechtfertigt ist, erfordert eine sorgfältige Prüfung. Die von den Grünen und der Linken geforderten Erweiterung auf die verbleibenden Berufs- gruppen ist derartig komplex, dass es einer sorgfältigen Abwägung – je nach Berufsgruppe – bedarf. Steuerbera- ter, Wirtschaftsprüfer und Psychologen sind keineswegs gleich zu behandeln. Ich stimme dem Gesetzentwurf zur Stärkung des Schutzes von Vertrauensverhältnissen zu Rechtsanwäl- ten im Strafprozessrecht in meiner Funktion als Bericht- erstatter der SPD-Fraktion aus den erläuterten Beweg- gründen daher zu. 7804 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 (A) (C) (D)(B) Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Widerstand von Kommunistinnen und Kommunisten gegen das NS-Regime anerkennen (Tagesordnungspunkt 14) Klaus-Peter Willsch (CDU/CSU): Warum geben Sie eigentlich immer wieder Steilvorlagen? Auf der ei- nen Seite versuchen Sie, als ganz normale Partei wahr- genommen zu werden, aber immer wieder machen Sie es jedem klar denkenden Menschen so einfach, die offen- sichtliche Kontinuität von Linke über PDS weiter über SED zur KPD zurück zu verfolgen. Wann werfen Sie endlich ihren ideologischen Ballast über Bord und beläs- tigen nicht immer wieder dieses Haus mit ihrer kommu- nistischen Traditionspflege? Sie haben doch selbst die vierzig Jahre DDR perfekt dazu genutzt, das von ihnen favorisierte System bestmöglichst zu desavouieren. Aus Vertriebenen haben Sie Umsiedler gemacht. Widerständ- ler haben Sie danach unterteilt, ob sie der DDR geson- nen waren oder nicht. Wenn nicht, durften sie ihre Kar- riere als Widerständler gerne auch in der DDR fortsetzen, nur jetzt eben nicht mehr in Sachsenhausen oder Dachau, sondern in Hohenschönhausen und Baut- zen. Das, was Sie als kommunistischen Widerstand gegen das NS-Regime bezeichnen, ist – zumindest 1933/34 – die Fortsetzung der bürgerkriegsähnlichen Auseinander- setzung zwischen Kommunisten und Nationalsozialisten aus der Zeit vor Hitlers Ernennung zum Reichskanzler, nur mit dem Unterschied, dass NSDAP und KPD nicht länger in Konkurrenz hinsichtlich der Beseitigung der jungen Weimarer Demokratie standen, sondern die Na- tionalsozialisten die Macht mittlerweile erobert hatten. Dass die Nazis Kommunisten verfolgten, macht die Kommunisten noch lange nicht zu Verteidigern der Wei- marer Ordnung: Sie wollten diese ja selbst beseitigen! Selbst nach dem 30. Januar 1933 stellten die Kommunis- ten nicht ihre ideologische Engstirnigkeit zurück, son- dern sahen in der SPD weiterhin ihren Hauptfeind, Stichwort: Sozialfaschisten. Denn die SPD stand eben für die Weimarer Demokratie. Friedrich Ebert war ihr ersten Präsident. Mit Scheidemann hat ein SPDler die Republik von diesem Hause aus ausgerufen. Diese SPD wollten die Kommunisten nicht in Ihrem Kampf gegen Hitler unterstützen, weil die KPD ja selbst eine Diktatur errichten wollte. Nach dem Vorbild der Sowjetunion sollte ein Sowjet-Deutschland entstehen. Und dabei war die Abhängigkeit vom großen, roten Bruder in Moskau so überdeutlich. Einen kommunistischen Satelliten woll- ten die von ihnen hoch geehrten Widerständler aus Deutschland machen! Die, die Hitler stürzen wollten, verherrlichten gleichzeitig den zweiten Tyrannen Josef Stalin. Denken Sie doch einmal an die sogenannten Säu- berungen Ende der 30er in der Sowjetunion. 20 Millio- nen Menschen hat Stalin auf dem Gewissen. Hier kann und darf „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“ nicht gelten. Das Dilemma des kommunistischen Widerstands wurde dann vollends offensichtlich, als Hitler und Stalin 1939 begannen, miteinander auf Kosten anderer zu pak- tieren. Auf einmal verschwand die ganze antifaschisti- sche Propaganda aus den kommunistischen Postillen, die Alliierten waren plötzlich Schuld am Ausbruch des Krie- ges. Das Kapital hatte die Völker geknechtet und das passte auf einmal sehr gut mit der Nazi-Propaganda von den Plutokratien des Westens zusammen. Niemals zuvor waren die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland einerseits und der UdSSR/Russland ande- rerseits so gut und intensiv wie zwischen 1939 und 1941. Nachdem Deutschland den Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion 1941 gebrochen hatte, änderte sich das na- türlich wieder. Dass Kommunisten zwar zweifelsfrei die nationalso- zialistische Gewaltherrschaft bekämpften, steht außer Frage. Aber wofür? Was vorher sprichwörtlich nur Pro- gramm war, wurde nach Kriegsende sehr schnell Wirk- lichkeit. Jene, die vorher gemütlich in ihrem östlichen Widerstandsnestern bei Väterchen Stalin ausgeharrt hat- ten, kamen nun nach Ostberlin zurück und errichteten dort genau das, was sie wollten: die zweite Diktatur auf deutschem Boden. Professor Wolfgang Leonhardt hat es als Mitglied der Gruppe Ulbricht anschaulich beschrie- ben. Aber das ging nicht nur den Menschen in der SBZ so. Sämtliche Staaten des Ostblocks wurden unterjocht. Von Befreiung oder Freiheit keine Spur. Vom Regen in die Traufe, von der Elbe ostwärts. Jeder Unrechtsstaat braucht einen Entstehungsmy- thos. Wo demokratischen Staaten eine verfassungsge- bende Versammlung und freie Wahlen genügt, da brau- chen Diktaturen immer eine ordentliche Brise Heroisierung. Und es war eben der kommunistische Wi- derstand der von der SED-Führung zum Gründungsmy- thos der DDR gemacht wurde. Und es hat sich ja auch angeboten! Es gab ja keinen einzigen, der in der DDR politische Karriere gemacht hat und vorher nicht im Wi- derstand, Entschuldigung im kommunistischen Wider- stand, gegen Hitler aktiv war. Aber gerade diese personelle Kontinuität ist doch der Beweis dafür, dass die kommunistischen Widerständler nicht für ein sozialistisches Arbeiter- und Bauernpara- dies gekämpft haben, sondern für eine Diktatur, ein kri- minelles Unrechtsregime namens DDR, das seine Bürger einsperren musste, weil diese nicht in der Wahlkabine abstimmen durften, sondern ihr Kreuz mit den Füßen machen mussten. Es ist genauso wahnsinnig, die Mauer einen antifaschistischen Schutzwall zu nennen, wie Honecker, Ulbricht und all die anderen, die aus dem Exil die Errichtung der kommunistischen Gewaltherrschaft geplant haben, dafür zu adeln, dass sie eine Diktatur durch eine andere ersetzt haben. Das ist doch blanker Irr- sinn. Wenn in Moskau einer gehustet hat, haben die sich in Ostberlin mit Fieber ins Bett gelegt. Verschließen Sie doch bitte nicht weiter die Augen davor, fahren Sie doch einmal nach Hohenschönhausen. Ihr Antrag ist nur ei- nes: Eine Verhöhnung derer, die wirklich gegen Tyrannei und für die Freiheit gekämpft haben! Bettina Kudla (CDU/CSU): Der Antrag der Linken „Widerstand von Kommunistinnen und Kommunisten Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7805 (A) (C) (D)(B) gegen das NS-Regime anerkennen“ beinhaltet zwei For- derungen: die Anerkennung des Widerstandes von Kom- munistinnen und Kommunisten gegen das NS-Regime durch eine öffentliche Geste der Bundesregierung und die Einrichtung eines Härtefonds für NS-Verfolgte, die nach § 6 Bundesentschädigungsgesetz (BEG) ausge- schlossen sind. Der Antrag und damit beide Forderungen sind abzulehnen. Für die genannten Fälle gibt es eine klare Gesetzeslage, niedergelegt im Bundesgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Ver- folgung (BEG). Die Ablehnung dieses Antrags hat nichts zu tun mit dem Kalten Krieg, sondern begründet sich mit harten Fakten, die ich Ihnen im Folgenden darlegen möchte. Zum Anliegen nach einer öffentlichen Geste. Der Wider- stand verschiedener Gruppen – auch gegen das NS-Re- gime – wird bereits anerkannt und gewürdigt, nämlich in der Neuen Wache hier in Berlin. Sie ist die „Zentrale Ge- denkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Op- fer von Krieg und Gewaltherrschaft“. Damit geht die Würdigung der Opfer unserer Geschichte sehr viel wei- ter als zu Zeiten der totalitären Herrschaft der SED. In der DDR war die Neue Wache ein „Mahnmal für die Op- fer des Faschismus und des Militarismus“. Das Leid zahlreicher Personen wurde hierdurch bewusst ausge- klammert. Alle diejenigen, die vor 1933 und nach 1945 Leid erfahren mussten, hatten hier keinen Ort des Ge- denkens. Dies hat sich nach der Wiedervereinigung ge- ändert. Am 27. Januar eines jeden Jahres gedenken wir im Deutschen Bundestag und im ganzen Land aller Opfer eines beispiellosen totalitären Regimes der nationalso- zialistischen Gewaltherrschaft. Ein solches Gedenken hat es in der DDR in dieser Form nicht gegeben. Einen öffentliche Geste seitens der Bundesregierung bedarf es daher nicht. Sie hat ihren Ausdruck in der „Zentralen Gedenkstätte“ gefunden und sie wird jedes Jahr am 27. Januar in besonderer Weise betont. Zur Einrichtung eines Härtefonds. Bei diesem Punkt muss man sich die Frage stellen, wer diese Leute waren, die jetzt nach Wunsch der Fraktion Die Linke eine Ent- schädigung bekommen sollen. Ich will es Ihnen sagen: Die Kommunistinnen und Kommunisten haben in der Zeit der Weimarer Republik versucht, die „Diktatur des Proletariats“ zu errichten, und haben damit die freiheit- lich-demokratische Ordnung der ersten deutschen Repu- blik bekämpft. Somit haben die Kommunisten auch ein Stück weit auf den Zusammenbruch dieser Republik ein- gewirkt wie andere Gruppen dieser Zeit. Hierzu gehörte auch der „Rote Frontkämpferbund“ der KPD, ein circa 130 000 Mann starker paramilitärischer Verband mit ge- heimen Waffenlagern. Nach 1945 haben eben diese Kommunisten unter der schützenden Hand der Sowjetunion in der späteren Deut- schen Demokratischen Republik einen stalinistischen, totalitären Unterdrückungsapparat aufgebaut. Anders- denkende wurden inhaftiert oder mundtot gemacht. Ob- gleich freiheitliche Rechte in der DDR-Verfassung dem Einzelnen zugestanden wurden, war der Alltag ein ande- rer. Spätestens hier haben viele Kommunisten gezeigt: Sie haben nichts mit unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung gemein. Dass die Bundesrepublik als freiheit- lich-demokratischer Rechtsstaat Anhängern des Stalinis- mus die Opferrolle in Form opulent gefüllter Entschädi- gungsfonds versagt, ist konsequent und eine Würdigung von zig Millionen wirklichen Opfern. Von Ausgrenzung kann man daher nicht sprechen, sondern vielmehr von einem klaren Bekenntnis zu unserer freiheitlichen Grundordnung. In der DDR behauptete die Geschichtsschreibung und -propaganda der SED, allein die KPD sei die „führende Kraft“ im Widerstand gewesen und habe ununterbrochen von 1933 bis 1945 organisiert gegen das NS-Regime ge- kämpft. Die SED verbreitete, die KPD habe schon in der Weimarer Republik konsequent gegen die NSDAP ge- stritten und allen NS-Gegnern, insbesondere der Sozial- demokratie, „Einheitsfront“-Angebote gemacht. Mit die- sen Legenden wollte die SED vertuschen, dass die kommunistische Politik indirekt dazu beitrug, dass die Nationalsozialisten an die Macht kamen und Widerstand überhaupt erst notwendig wurde. Zum Abschluss möchte ich noch meine Verwunde- rung zum Ausdruck bringen, mit welcher Hartnäckigkeit jetzt plötzlich die Linke – Ex-PDS, Ex-SED – auf Ent- schädigungen drängt, insbesondere vor dem Hinter- grund, wie NS-Opfer in der DDR behandelt wurden. Hierzu zitiere ich den Bericht des Bundesministeriums der Finanzen „Entschädigung von NS-Unrecht, Rege- lungen zur Wiedergutmachung“ vom Dezember 2009: „In der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone und späteren Deutschen Demokratischen Republik gab es Leistungen für Opfer des Faschismus, die hauptsächlich an systemkonforme Opfer gezahlt wurden.“ Darüber sollten die Damen und Herren der Linkspartei nachden- ken. Für sie gab es offensichtlich Opfer erster und zwei- ter Klasse. Wir wollen die Bundesrepublik heute nicht mit der DDR vergleichen. Aber auf einen Unterschied muss hin- gewiesen werden: in der DDR wurde unterschieden, ob jemand systemkonform war oder nicht. In der Bundesre- publik wird gefragt, ob jemand gegen die freiheitlich-de- mokratische Ordnung kämpft oder nicht. Gabriele Fograscher (SPD): Zum wiederholten Male beraten wir heute einen Antrag der Linksfraktion zur Entschädigung von Kommunistinnen und Kommu- nisten, die im NS-Regime Widerstand geleistet haben. Mit dem Antrag wollen Sie 54 Jahre nach dem Verbot der KPD erreichen, dass ehemalige Mitglieder dieser Partei und politisch tätige Kommunistinnen und Kom- munisten ihnen versagte Entschädigungsansprüche nach erlittener Verfolgung durch das nationalsozialistische Regime geltend machen können. In der vergangenen Wahlperiode haben Sie von der Linksfraktion eine Ent- schädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz ge- fordert, heute soll es mal ein Härtefonds sein. Uns ist durchaus bewusst, dass Kommunistinnen und Kommunisten während der NS-Zeit zu den aktivsten Widerstandskämpfern gehört haben. Sie unterstellen aber in Ihrem Antrag, dass ehemalige Mitglieder der ver- 7806 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 (A) (C) (D)(B) botenen KPD generell keine Entschädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz erhalten haben. Das ist schlichtweg falsch. Eine Mitgliedschaft in der KPD oder in einer anderen kommunistischen Organisation führte zu keiner Zeit zu einem Ausschluss von Entschädigungs- leistungen. Die Vorschrift, die den Ausschluss von Leis- tungen festschreibt, zielt nicht auf die Parteimitglied- schaft oder die Funktion in der Partei ab, sondern auf die Aktivitäten des Einzelnen. § 6 Abs. 1 Nr. 2 und 3 Bundesentschädigungsgesetz regelt den Ausschluss von der Entschädigung. Er bezieht sich nicht auf die Mitgliedschaft in der KPD als Aus- schlussgrund, sondern auf die Aktivitäten von einzelnen Personen, die Mitglied in dieser Partei waren, aber nicht sein mussten. Danach ist „von der Entschädigung ausge- schlossen …, wer nach dem 23. Mai 1949 die freiheit- lich demokratische Grundordnung im Sinne des Grund- gesetzes bekämpft hat; 3. wer nach dem 8. Mai 1945 wegen eines Verbrechens rechtskräftig zu einer Frei- heitsstrafe von mehr als drei Jahren verurteilt worden ist.“ Weiter heißt es in § 6 Abs. 3 Bundesentschädigungs- gesetz: „Der Anspruch auf Entschädigung ist verwirkt, wenn nach Festsetzung oder nach rechtskräftiger richter- licher Entscheidung eines der Ausschließungsgründe des Absatzes 1 Nr. 2 und 3 eintritt. Die nach Eintritt eines Verwirkungsgrundes bewirkten Leistungen können zu- rückgefordert werden.“ Wenn Sie von der Linkspartei diese Vorschrift richtig gelesen und verstanden hätten, müssten wir dieses Thema heute nicht diskutieren. In der Begründung des Bundesentschädigungsgesetzes wurde vom Gesetzgeber klargestellt, dass eine bloße Mitgliedschaft in einer Par- tei noch kein Bekämpfen der freiheitlich demokratischen Grundordnung sei, aktives Handeln sei nötig. Dort heißt es ausdrücklich: „Es sei staatspolitisch geboten und rechtlich vertretbar, Verfolgte von der Entschädigung auszuschließen, die durch ihr Verhalten die politische Ordnung des heutigen Staates gestört haben. Doch liege in einer bloßen Mitgliedschaft in einer Partei, zum Bei- spiel in der KPD oder SED, noch kein bekämpfen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung; dieser Tatbestand sei nur bei aktivem Verhalten erfüllt.“ Auch der Bundesgerichtshof hat in einem Urteil klar- gestellt, dass der Betroffene bewusst das Ziel verfolgt haben muss, mit seiner Tätigkeit zum Kampf gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung beizutragen. Das Bundesverfassungsgericht hat die Verfassungsmä- ßigkeit der Ausschlussformel bestätigt; es reiche aber nicht aus, wenn jemand nur Mitglied in einer damals noch nicht verbotenen Partei ist. Einen pauschalen Aus- schluss von Parteimitgliedern von Entschädigungsleis- tungen hat es nicht gegeben. Sie haben, im Verhältnis zu Ihrem Antrag aus der ver- gangenen Wahlperiode, immerhin gelernt, dass eine Ent- schädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz nicht mehr möglich ist. Denn 1965 wurde das Bundes- entschädigungsgesetz-Schlussgesetz verabschiedet, das die Ausschlussfrist auf den 31. Dezember 1969 festge- legt hat. Deshalb besteht heute keine Möglichkeit mehr, Ansprüche geltend zu machen. Nun wollen Sie einen Härtefonds. Doch Härtefallregelungen sieht das Bundes- entschädigungsgesetz in § 171 sowieso schon vor. Laut einer Umfrage unter den Bundesländern Ende der 1990er-Jahre erhielten viele nach § 6 Bundesentschädi- gungsgesetz Ausgeschlossene in Härtefällen finanzielle Unterstützung. Das hatten die Länder 1968 gemeinsam beschlossen. Baden-Württemberg hat meines Wissens allen Betroffenen einen solchen Ausgleich nach § 171 Bundesentschädigungsgesetz gewährt. Deshalb kann ich die Aussage in Ihrem Antrag, dass jede Form der Rehabilitierung für die nach § 6 Bundes- entschädigungsgesetz ausgeschlossenen Kommunistin- nen und Kommunisten bis heute ausgeblieben sei, nicht nachvollziehen. Niemand ist pauschal von Entschädi- gungsleistungen ausgeschlossen worden, nur weil er Mitglied der KPD war. Sie sprechen davon, dass die damaligen politischen Umstände dazu geführt haben, dass es Unrecht gegen- über kommunistischen Opfern des NS-Regimes gab durch die Verweigerung bzw. Aberkennung von Ent- schädigungsansprüchen, und fordern eine Rehabilitie- rung der Kommunistinnen und Kommunisten. Es gab aber keine pauschale Verweigerung von Entschädi- gungsleistungen nach dem Bundesentschädigungsge- setz, wie Sie versuchen, durch Ihren Antrag zu unterstel- len. Deshalb werden wir Ihren Antrag ablehnen. Dr. Stefan Ruppert (FDP): Die Befassung mit Ge- schichte ist immer lehrreich. Jedoch dauert der Lernpro- zess bei den Kollegen von der Fraktion Die Linke scheinbar etwas länger. Denn mit Regelmäßigkeit legt die Fraktion hier im Deutschen Bundestag Anträge vor, welche angebliche Ungerechtigkeiten bei der Entschädi- gung von Kommunisten, die sich dem NS-Regime wider- setzt haben, beseitigen wollen. Die Anträge der Links- fraktion fielen schon in der Vergangenheit durch viele historische Unwahrheiten und verfahrenstechnische Feh- ler auf. Diese habe ich mit großer Verwunderung in den Plenar- und Ausschussprotokollen nachlesen können. Auch bei dem heute vorgelegten Antrag hat die Linke in beiden Punkten wenig dazugelernt, weshalb meine Frak- tion den Antrag erneut ablehnen wird. Doch bevor ich auf die genauen Gründe unserer Ablehnung eingehen will, möchte ich ein paar Sätze zum Entschädigungs- recht in der Bundesrepublik verlieren. Wir allen wissen, dass das Recht der Wiedergutma- chung im Allgemeinen und das Bundesentschädigungs- gesetz, BEG, im Speziellen im Kontext der deutschen Geschichte nach 1945 gesehen werden muss. Da stimme ich dem Antrag der Linksfraktion sogar zu. Wir alle wis- sen auch, dass in der Frage der Entschädigung von Op- fern des nationalsozialistischen Terrors Fehler gemacht worden sind. Und diese sind auf allen Ebenen gesche- hen: bei der Gesetzgebung, in der Verwaltung und in der Rechtsprechung. Denn – und hier zitiere ich einen durchaus streitbaren Aufsatz von Walter Schwarz aus dem Jahr 1986 – die „Wiedergutmachung hat sich nicht auf dem Papier, sondern im Tun und Lassen von Men- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7807 (A) (C) (D)(B) schen verwirklicht … Die auf der Geberseite waren nicht alle Genies; die auf der Nehmerseite nicht alle Heilige.“ Die frühe bundesrepublikanische Gesellschaft hat Fehler in ihrer – um ein Wort des Zeithistorikers Norbert Frei zu verwenden – „Vergangenheitspolitik“ gemacht. Einzelentscheidungen in Entschädigungsfragen – egal, welche Gruppe von Opfern sie betroffen haben – waren nicht immer richtig. Kollege Wolfgang Wieland von den Grünen hat in der Debatte der letzten Wahlperiode einige bedauerliche Fälle geschildert. Aber man muss auch ganz klar sagen, dass es im Gegensatz zum systemimma- nenten Unrecht in der DDR – liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linksfraktion – im Rechtsstaat der Bundesrepublik keine einseitige Rechtssetzung und Rechtsprechung gegen politische Gruppen gab. Kommu- nisten, die gegen das NS-Regime Widerstand geleistet haben, wurden nicht grundsätzlich von Entschädigungen nach 1945 ausgeschlossen. Diese Behauptung, die in Ih- rem Antrag zu finden ist, ist schlicht falsch. Nach § 6 Abs. 1 Nr. 2 und 3 BEG wurden nur die Personen nicht berücksichtigt, die entweder nach dem 23. Mai 1949 die freiheitlich demokratische Grundordnung bekämpft hat- ten oder nach dem 8. Mai 1945 wegen eines Verbrechens zu einer Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren verur- teilt wurden. Selbst Kommunisten, die nach 1949 Mit- glied der KPD waren und die bis zum Verbot der Partei im Jahr 1956 die Ziele der KPD mit allgemein erlaubten Mitteln vertreten haben, wurden nicht von Entschädi- gungen ausgeschlossen. Dies hat das Bundesverfas- sungsgericht in seinem Urteil von 1961 klargestellt. Die Karlsruher Richter haben damit die Rechtsposition von im Nationalsozialismus verfolgten Kommunisten ge- stärkt. Wenn man sich dann noch anschaut, wie extensiv der Ausschlusstatbestand nach § 6 Abs. 1 Nr. 1 BEG für ehemalige Mitglieder der NSDAP formuliert und rich- terlich ausgelegt wurde, widerlegt das allemal die Be- hauptung der Linksfraktion eines einseitigen Vorgehens gegen Kommunisten in der Bundesrepublik. Weshalb legt die Linke nun trotzdem einen Antrag vor? Sie wollen einen Härtefonds für Kommunisten ein- richten, denen nach § 6 BEG eine Entschädigung ver- wehrt worden ist. Dieser ist aber vollkommen unnötig. Denn es hat seit Mitte der 1980er-Jahre bereits außerge- setzliche Härtefallregelungen in den einzelnen Bundes- ländern wie Berlin und Baden-Württemberg gegeben. Hier wurden beispielsweise Kommunisten, die wegen ihrer Tätigkeit für die KPD keine Entschädigungen nach dem BEG erhalten haben, durch Einmalzahlungen und auch laufende Beihilfen finanziell rehabilitiert. Diese Tatsache wurde in den vergangenen Debatten hier im Deutschen Bundestag immer wieder hervorgehoben. Aber die Kolleginnen und Kollegen von der Linksfrak- tion wollen das anscheinend nicht zur Kenntnis nehmen. Zudem fordern Sie in ihrem Antrag eine öffentliche Geste, die die Zugehörigkeit von Kommunisten zum Erbe des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus zum Ausdruck bringt. Mir als Liberalem ist es immer fremd, wenn Sie von der Linksfraktion die Ehrung der Leistungen von Kommunisten gesetzlich verordnen wol- len. Aber das entspricht nun einmal ihrem Staatsver- ständnis. Eine Vorschrift ist auch hier gar nicht notwen- dig. Denn ranghohe Politiker haben beispielsweise in öffentlichen Reden immer wieder die Leistungen von Kommunisten im Widerstand hervorgehoben und aller Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ge- dacht. Richard von Weizsäcker hat dies als Bundespräsi- dent in seiner viel beachteten und gelobten Rede zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa ge- tan. Bundespräsident Horst Köhler hat in seiner Rede zum selben Anlass 20 Jahre später die Geschichte des deutschen Kommunisten Hermann Matzkowski beschrie- ben. Warum wollen Sie diese Gesten nicht sehen? Wa- rum wollen Sie die moralische Eigenverantwortung von Politik und Gesellschaft nicht anerkennen? Die Antwor- ten bleiben Sie uns schuldig. Zuletzt will ich noch einmal einen Punkt hervorhe- ben, der sich im Demokratieverständnis der Linksfrak- tion scheinbar noch nicht festgesetzt hat. Es ist richtig, dass diejenigen Kommunisten, die sich aktiv gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung der Bundesre- publik und unseren Rechtsstaat gewendet haben, die von einem Totalitarismus in den anderen wollten, keine Ent- schädigungen nach dem BEG erhalten. Soll ein Staat wirklich Menschen entschädigen, die diesen Staat be- kämpfen? Ich fordere deshalb die Kolleginnen und Kol- legen der Linksfraktion auf: Kommen Sie endlich mit beiden Beinen in unserem demokratischen Rechtsstaat an und zeigen Sie, dass Sie aus der Geschichte und aus eigenen Fehlern etwas lernen wollen. Ihren Antrag leh- nen wir aus den genannten Gründen ab. Jan Korte (DIE LINKE): Die Studie zur NS-Vergan- genheit des Auswärtigen Amtes hat die Diskussion und Aufarbeitung über die Rolle der ehemaligen Nazi-Eliten in Ministerien und Behörden der Bundesrepublik erneut auf die Tagesordnung gesetzt. Mittlerweile gibt es her- vorragende Forschungsergebnisse zu der Frage, in wel- chem Umfang die ehemaligen Träger des Nationalsozia- lismus, besonders aus den Reihen von Wirtschaft, Wehrmacht, Ministerien und Justiz, mit Gründung der Bundesrepublik zurückkehrten in Amt und Würden . Die verbreitete Abwehr und Verdrängung der unvorstellba- ren Menschheitsverbrechen der Nazis in den 50er- und 60er-Jahren hat die demokratische Entwicklung der Bundesrepublik beschädigt. Namen wie Globke und Oberländer waren nur die Spitze des Eisberges. Begründet und ideologisch getragen wurde diese Rückkehr maßgeblich durch einen fast religiöse Züge annehmenden Antikommunismus, der, verstärkt durch den Kalten Krieg, zur wesentlichen Leitlinie der damali- gen Politik gehörte. Überhaupt war die Zeit geprägt nicht nur durch Abwehr und Verdrängung, sondern auch durch Diffamierung des Widerstandes gegen den National- sozialismus. Die Widerständler des 20. Juli 1944 galten damals als Hochverräter, nicht jedoch als vorbild- und gedenkwürdig. Erst das Engagement unter anderem des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer führte dazu, dass der Widerstand Stück für Stück anerkannt wurde und heute zum offiziellen Gedenkkanon der Bundesre- publik Deutschland gehört. Das belegt sehr anschaulich, wie jeder Fortschritt hin zu einem kritischen Umgang 7808 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 (A) (C) (D)(B) mit der NS-Vergangenheit engagiert erstritten werden musste. Bis hinein in die konservative Geschichtswissen- schaft gibt es die Erkenntnis, dass es eine Unteilbarkeit des Widerstandes gibt. Diese Unteilbarkeit schließt eben auch den Widerstand und den unfassbaren Blutzoll ein, den Kommunistinnen und Kommunisten zahlen muss- ten. Sie waren die ersten, die damals in die Konzentra- tionslager wanderten. Sie saßen zum Teil die gesamte Zeit des Nationalsozialismus in Haft, wurden gefoltert und ermordet. Diese Opfer und ihr Widerstand sollen mit dem vorliegenden Antrag gewürdigt werden. Daher heißt es in unserem Antrag: „Der Bundestag ehrt in be- sonderer Weise die Leistungen der Frauen und Männer, die sich aktiv gegen das NS-Regime gewandt haben und in zahlreichen Fällen ihr Leben eingesetzt haben, um Widerstand gegen die Naziherrschaft in Deutschland zu leisten. Er sieht diesen, nicht sehr zahlreichen, Wider- stand gegen das Hitler-Regime in seiner Integrität als un- teilbar an.“ Ich hoffe, dass dieser Satz die Zustimmung des ganzen Hauses findet. Nun müssen wir uns in diesem Zusammenhang daran erinnern, wie mit dem kommunistischen Widerstand in der Bundesrepublik umgegangen wurde. Es ist heute un- umstritten, dass der Kalte Krieg und der Antikommunis- mus in Deutschland zu ungerechtfertigten Ausgrenzun- gen und auch zu juristischen Verurteilungen von Menschen aufgrund ihrer politischen Einstellung führ- ten, die nach heutigen Maßstäben als übertrieben und unangemessen anzusehen sind. Zwischen 7 000 und 10 000 vermeintliche oder reale Kommunisten wurden zwischen 1950 und 1968 verurteilt. Ein besonders skan- dalöser Vorgang in der jungen Bundesrepublik war der Umgang mit kommunistischen Widerstandskämpfern. Ihnen wurde nach § 6 Abs. 1 Nr. 2 BEG die Entschädi- gung für die erlittenen Qualen aberkannt. Die Entschädi- gungen waren als Wiedergutmachung und Anerkennung der Haft, zum Beispiel in einem Konzentrationslager ge- dacht. Der Rechtswissenschaftler Alexander von Brünneck hat in seiner umfangreichen Untersuchung über die poli- tische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland diesen heute unglaublichen Vorgang darge- stellt. Von Brünneck schreibt: „Viele ältere Kommunis- ten bezogen für die Verfolgung von 1933 bis 1945 Wie- dergutmachungsleistungen, insbesondere nach dem Bundesentschädigungsgesetz (BEG) … Nach § 6 Abs. 1 Ziff. 2 BEG war von der Entschädigung ausgeschlossen, wer nach dem 23. Mai 1949 die freiheitliche demokrati- sche Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes be- kämpft hatte.“ Und von Brünneck bringt es auf den skandalösen Punkt: „Diese Vorschriften bedeuteten, dass bei Kommunisten die Zahlung der Entschädigung vom politischen Wohlverhalten abhängig gemacht werden konnte.“ Übersetzt gesagt bedeutete dies eine Demüti- gung und Ausgrenzung von schwer gezeichneten Wider- ständlern und Opfern des NS-Terrorregimes. Hinter diesen juristischen Fakten stehen ganz kon- krete Menschen, und ich möchte Ihnen an einem Bei- spiel verdeutlichen, wie sich die Atmosphäre des Anti- kommunismus für diese Menschen auswirkte: Karl Stiffel, geboren 1929, kommt aus einem kommunistischen Elternhaus. Sein Vater wurde von den Nazis wegen Hochverrats zu einer Zuchthausstrafe verurteilt. Karl Stiffel wird 1946 Mitglied der KPD. 1957, nach dem Verbot der KPD, wird er verhaftet und schließlich zu einem Jahr und sechs Monaten Gefängnis, bei gleichzei- tiger Aberkennung seiner Grundrechte für drei Jahre, verurteilt. Im Prozess führt der Staatsanwalt aus, der An- geklagte sei seit Gründung der Bundesrepublik Mitglied der KPD, weshalb auch 1958 noch davon auszugehen sei, dass er dazu gehöre. Bei seinem Elternhaus sei es nicht verwunderlich, dass er keine Aussagen machen wolle, denn schon sein Vater sei in den 30er-Jahren wegen Hochverrats verurteilt worden. Und so habe auch der Angeklagte sein Vaterland, die Bundesrepublik, verraten und müsse entsprechend verurteilt werden. Der Wider- stand des Vaters gegen die Nazis wurde also als strafver- schärfend für den Sohn gewertet, womit sich die dama- lige Justiz die Rechtsauffassungen der Nazis zu Eigen machte – jedenfalls wenn es gegen Kommunisten ging. Von solchen Urteilen waren auch direkt Menschen be- troffen, die Widerstand gegen die Nazis geleistet haben. Es müsste jedem klar sein, dass wir heute nach so vie- len Jahrzehnten endlich auch dieses traurige Kapitel auf- arbeiten und die Würde und den Kampf dieser Menschen anerkennen müssen. Der Skandal wird umso größer, als damals die alten Nazis üppige Leistungen erhielten und wieder in Amt und Würden kamen. Oftmals richteten dieselben Richter, die schon während der NS-Zeit blutig über Widerständler geurteilt hatten, abermals über Kom- munisten. Ich darf nochmal von Brünneck zitieren, der diesen politischen und moralischen Skandal nüchtern nachgezeichnet hat: „Da viele der Betroffenen aufgrund der gesundheitlichen Schäden auf die Rente angewiesen waren, stürzte sie der Entzug oder die Rückforderung von Leistungen in materielle Not. Die Aberkennung wi- dersprach überdies dem Sinn der Wiedergutmachung. Denn die Entschädigung wurde als Ausgleich für früher erlittenes Unrecht gezahlt, das nicht mit Maßstäben spä- terer politischer Loyalität zu messen ist.“ Daher ist es heute an der Zeit, endlich durch eine öf- fentliche Geste die Zugehörigkeit deutscher Kommunis- ten und Kommunistinnen zum Erbe des Widerstandes gegen das NS-Regime zum Ausdruck zu bringen, wie wir es im Antrag formulieren. Es gilt, endlich anzuerken- nen, dass die Auseinandersetzung mit der NS-Vergan- genheit in der Bundesrepublik Deutschland eben nicht nur eine Erfolgsgeschichte war. Im Gegenteil: Klären wir auf, wie sich die Täter einrichteten, die für tausend- fachen Mord verantwortlich waren, und gedenken wir der Opfer und derer, die mutig Widerstand leisteten – egal, ob sie Kommunisten, Sozialdemokraten oder Kon- servative waren. Wenn das Nachrichtenmagazin Der Spiegel 2009 feststellt: „Die Zahl der zwischen 1951 und 1968 gefällten Urteile gegen Kommunisten lag fast sieben- mal so hoch wie die gegen NS-Täter – obwohl die Nazis Millionen Menschen ermordet hatten, während man westdeutschen Kommunisten politische Straftaten wie Landesvorrat vorwarf“, dann muss es dem Bundestag ein Anliegen sein, die gröbsten Verfehlungen im Um- gang mit Opfern des NS-Regimes anzuerkennen und diesem Antrag zuzustimmen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7809 (A) (C) (D)(B) Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Geschichte des Entschädigungsrechts für Opfer von NS-Unrecht in Deutschland ist in vielen Bereichen wahrlich kein Ruhmesblatt. Es hat jahrzehntelang ge- dauert, bis einige Opfergruppen in den Kreis der Leis- tungsberechtigten – auf unterschiedlichster rechtlicher Grundlage – miteinbezogen wurden. Viele Überlebende wurden so erst kurz vor ihrem Tod zu Anspruchsberech- tigten. Dies ist eine Schande, und das muss an dieser Stelle noch einmal klipp und klar gesagt werden! Das Bundesentschädigungsgesetz (BEG) von 1956 war ein Gesetz, das Diskriminierung unzweifelhaft fest- geschrieben hat. Sozusagen spiegelverkehrt gegenüber der DDR, wo willkürlich und teilweise mit antisemiti- scher Motivation in sogenannte Kämpfer gegen den Fa- schismus und sogenannte Opfer des Faschismus unter- teilt wurde, hatte auch die Bundesrepublik eine Zwei- Klassen-Opferentschädigung. Das BEG benachteiligte vor allem ausländische Verfolgte und verschiedene deut- sche Verfolgtengruppen, wie Sinti und Roma, Wehr- dienstverweigerer, Homosexuelle, vom NS-Erbgesund- heitsgesetz Betroffene, sogenannte Asoziale und durch eine eigene Ausschlussklausel eben die Kommunistin- nen und Kommunisten. Meine Damen und Herren, das im Kalten Krieg be- findliche Nachkriegsdeutschland hat sich immer wieder geweigert, überhaupt anzuerkennen, dass ganze Opfer- gruppen in Deutschland von der Entschädigung ausge- schlossen wurden. Später kamen dann verschiedene ge- setzliche und außergesetzliche Regelungen zustande, auch in vielen Bundesländern auf Landesebene. Unter Rot-Grün haben wir neben der Zwangsarbeitsstiftung auch die Regelungen beim Härtefonds für NS-Opfer nach dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz deutlich ver- bessert. Dennoch bleiben viele Opfer bis heute von einer Ent- schädigung, die diesen Namen auch verdient, ausge- schlossen. Die Landeshärtefonds haben bislang ausge- grenzte Kommunistinnen und Kommunisten in der Regel mitbedacht. Leider gibt es aber nicht in allen Bun- desländern solche Fonds. Hier sollte das Bundesfinanz- ministerium uns eine Aufstellung geben, in welchen Bundesländern NS-Verfolgte, die durch § 6 Abs. 1 Nr. 2 BEG vom Bundesentschädigungsgesetz ausgeschlossen wurden, Härteleistungen erhalten können und in wel- chen nicht. Im Falle der als Kommunistinnen und Kommunisten politisch Verfolgten, um die es heute geht, war es damals wie heute ein ganz bewusstes Außenvorlassen, weil man diese Menschen einer Entschädigung nicht für würdig erachtete. Der Bundestag hat nachträglich in das Ent- schädigungsgesetz geschrieben, dass diese NS-Opfer keinen Anspruch auf Entschädigung hätten, wenn sie auch nach 1949 Kommunistinnen und Kommunisten ge- blieben waren. Und das, obwohl die US-Militärregie- rung in ihrem ersten Entschädigungsgesetz von 1947, an das sich das Bundesentschädigungsgesetz laut Vertrag ja eigentlich anlehnen sollte, die Kommunisten nicht aus- genommen hatte. Mit dem 1969 in Kraft getretenen BEG-Schlussgesetz ist das Bundesentschädigungsgesetz ein totes Gesetz. Es werden danach zwar noch Leistungen ausgezahlt, eine Neuantragstellung ist jedoch heute nicht mehr möglich. Deshalb ist die Forderung nach einem Härtefonds nur zu begrüßen. Die Fraktion der Linken hat vollkommen recht, dass es nicht zuletzt die historische Verpflichtung der Bun- desrepublik ist, das Unrecht dieses Ausschlusses einer Entschädigung für Kommunistinnen und Kommunisten auszusprechen. Und es sollte auch ein Weg gefunden werden, dass diejenigen, die damals ihre Entschädigung wegen Unwürdigkeit zurückzahlen mussten, dieses Geld wiederbekommen. Lassen Sie mich noch einen anderen aktuellen Punkt aus dem Bereich NS-Entschädigung nennen. Es kann nicht sein, dass, je nach Lust und Laune eines Verwal- tungsbeamten, russische Sonderrenten als Einkommen von der deutschen Sozialhilfe abgezogen werden und die Ministerin von der Leyen mir mitteilt, dass sie daran nichts ändern will. Frau von der Leyen, während der deutschen Belagerung der Stadt Leningrad starben zwi- schen 1941 und 1944 über eine Million Menschen, weil die Wehrmacht sie in der Stadt aushungern ließ. Es ist zynisch von Ihnen, dass Sie jenen, die diesen Naziterror überlebten und sich trotzdem dafür entschieden, in Deutschland zu leben, nun ihre spärliche Opferrente von etwa 150 Euro als Einkommen von ihrer Rente abziehen. Dass kann doch nicht Ihr Ernst sein!? Kommunistinnen und Kommunisten gehörten wäh- rend der Nazidiktatur zu den aktivsten Widerstands- kämpfern; sie wurden in den Konzentrationslagern ge- schunden, gequält und ermordet. Es gab und gibt keinerlei Grund, Menschen aus dieser Opfergruppe eine Entschädigung vorzuenthalten. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Bildung in Entwicklungs- und Schwel- lenländern stärken – Bildungsmaßnahmen an- passen und wirksamer gestalten (Tagesord- nungspunkt 15) Anette Hübinger (CDU/CSU): Wir entscheiden heute abschließend über den Antrag der CDU/CSU- FDP-Koalition zu Bildung in Entwicklungs- und Schwellenländern. Dieser Antrag greift ein entwick- lungspolitisch äußerst wichtiges Thema auf, das Minis- ter Niebel gemeinsam mit der Koalition zu einem Schwerpunkt der deutschen Entwicklungszusammenar- beit ausbauen wird. Denn Bildung – da sind wir uns fraktionsübergreifend einig – ist der Schlüssel für Ar- mutsreduzierung. Sie eröffnet Lebenschancen für jeden einzelnen, die ohne Bildung nie ergriffen werden könn- ten. Bildung ist aber auch eine wichtige Voraussetzung für die Entwicklung eines Landes per se, für mehr Ver- teilungsgerechtigkeit, für die Teilhabe an politischen und 7810 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 (A) (C) (D)(B) gesellschaftlichen Prozessen und für die wirtschaftliche Prosperität und Innovation eines Landes. Ohne Bildung gibt es keine Zukunft. Diese Erkenntnis wird immer wieder von Vertretern aus Entwicklungs- und Schwellenländern betont. Den- noch wächst der Großteil der Kinder und Jugendlichen in Ländern auf, wo das Recht auf Bildung nicht gewähr- leistet ist. 72 Millionen Kinder, mehr als die Hälfte da- von Mädchen, besuchen keine Grundschule. Ein Drittel der eingeschulten Kinder in Afrika bricht die Grund- schule ab. Das bedeutet, dass weltweit 776 Millionen Ju- gendliche und Erwachsene weder schreiben noch rech- nen können. Investitionen in den Bildungsbereich sind aber auch entscheidend für den Erfolg von Programmen und Pro- jekten in anderen Bereichen der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit. Auch deshalb ist es der richtige Schritt, dass die Mittel für Bildung und Ausbildung im Entwicklungsetat in 2010 auf 200 Millionen Euro fast verdoppelt wurden, und dass dies 2011 weiter ausgebaut wird. Das zeigt deutlich, dass wir, die christlich-liberale Koalition, den Bildungsbereich und die Entwicklungszu- sammenarbeit insgesamt in den kommenden Jahren quantitativ aber auch qualitativ deutlich voranbringen wollen. Denn der Blick auf die Einschulungsquote ent- hält keine Aussage darüber, wie viele Kinder die Schule abbrechen und mit welchem Bildungsstand sie die Schule verlassen. Daher ist Qualität ein Kernpunkt in unserem Antrag. Er reicht von der Verbesserung der Lehrerausbildung bis hin zur Ausgestaltung von Curri- cula. Wir müssen uns jedoch auch kritisch fragen, in wel- chen Bildungsbereichen wir in der deutschen Entwick- lungszusammenarbeit besser sind als andere Geber, und wir müssen unsere Arbeit auf unsere Stärken fokussie- ren. Weiter müssen wir uns kritisch fragen, mit welchen Partnern wir welche Projekte nachhaltig aufbauen und unterstützen können. Bildung, als staatliche Basisleistung, liegt in der Ver- antwortung unserer Partnerländer. Dieser Meinung sind wir auch, liebe Kollegen der SPD-Fraktion und der Frak- tion Die Linke. Nur wenn diese originär staatliche Auf- gabe eben nicht oder nur ungenügend von den Regierun- gen wahrgenommen wird, dann werden wir im Sinne der Menschen Unterstützung leisten und nach Alternativen suchen. Eine Alternative können auch private Träger wie zum Beispiel die Kirchen sein. Warum sollten wir dann nicht mit diesen zusammenarbeiten? Wir müssen diese sogar unterstützen, wenn wir es ernst mit unserer Ent- wicklungszusammenarbeit meinen. Ideologisch vorge- fasste Muster wie die Ihren helfen den jungen Menschen nicht. So wichtig und richtig die Verbesserung der Grund- bildung in den Entwicklungsländern ist, so wird eine nachhaltige Entwicklung in unseren Partnerländern je- doch nur gelingen, wenn eine gleichmäßige Entwicklung der verschiedenen Bildungsbereiche – frühkindliche Bil- dung, Primar- und Sekundarbildung, berufliche Bildung, Hochschulbildung und Erwachsenenbildung – gewähr- leistet wird. Junge Menschen in den Entwicklungslän- dern brauchen wie bei uns Perspektiven – Perspektiven, die in weiterführenden Schulen bis hin zur Berufs- und Hochschulausbildung zu finden sind. Während unserer Ausschussreise nach Madagaskar und Lesotho in der letzten Woche konnten wir erfahren, dass in Lesotho zwar die Grundbildung gut funktioniert, aber die Sekundarbildung, die Hochschulbildung und die Berufsbildung dringend ausgebaut werden müssen. In Madagaskar informierten wir uns über die Initiative der IHK Hamburg, gemeinsam mit den örtlichen Handels- kammern ein duales Ausbildungssystem in nachgefrag- ten Berufen aufzubauen, ebenso wie über die Anstren- gungen der Access Bank, Bankkaufleute sowohl theo- retisch als auch praktisch auszubilden. Beeindruckend war auch der Besuch bei SOLTEC, einer Privatinitiative aus Baden-Württemberg, die in mehreren Handwerksbe- rufen fundiert ausbildet. Das sind Beispiele, wie wir un- ser Know-how nutzen können. Deshalb werden wir un- sere Expertise, die wir im Bereich der dualen Berufs- ausbildung haben, bei unseren Partnerländern stärker einbringen. Die Wirtschaft ist in vielen Partnerländern in den letz- ten zehn Jahren deutlich gewachsen. Das heißt aber auch, dass der Bedarf an gut ausgebildeten Arbeitskräf- ten ständig wächst. Die technologischen Entwicklungen und der auch dort einsetzende Strukturwandel verlangen nach gezielter Aus- und Weiterbildung der Mitarbeiter. Vielen Unternehmen vor Ort fehlt aber noch das Ver- ständnis dafür, für die Aus- und Weiterbildung von Mit- arbeitern Geld in die Hand nehmen zu müssen. Deshalb ist es sinnvoll, wie auch von Minister Niebel vorgeschla- gen, in Zusammenarbeit mit deutschen Unternehmen in- novative Angebote aus dem Bereich der beruflichen Bil- dung in Entwicklungs- und Schwellenländern zu för- dern. Unter der Einbeziehung von deutschen Berufsbildungs- einrichtungen, wie dem Bundesinstitut für Berufsbildung, und der deutschen Industrie- und Handelskammer, kann der Auf- und Ausbau des dualen Berufsausbildungssys- tems an die Bedürfnisse vor Ort angepasst werden Des- halb begrüßen wir, dass die berufliche Bildung mit einem Volumen von 83 Millionen Euro ein Förderschwerpunkt unserer entwicklungspolitischen Bildungsarbeit ist. Im Bereich der Hochschul- und Wissenschaftskoope- rationen leistet Deutschland schon seit vielen Jahren ei- nen wichtigen Beitrag für den globalen Wissensaus- tausch. Ich nenne hier den DAAD, die Stiftungen, Kirchen, GTZ, KfW, InWEnt und den DED, die mithilfe von unterschiedlichsten Fördermaßnahmen jungen Men- schen den Zugang zu einer Universitätsausbildung er- möglichen. Dabei ist uns besonders wichtig, dass wir vor Ort in den Partnerländern die Kapazitäten im Wissen- schafts- und Forschungsbereich gezielt unterstützen. Da- her verwundert mich die Meinung der Opposition, dass Studienplätze für junge Menschen aus Entwicklungslän- dern in Deutschland nicht entwicklungsunterstützende Maßnahmen wären, also nicht ODA-fähig seien. Zum ei- nen gibt es hierfür klare Kriterien der Anrechnungsfä- higkeit, und zum anderen ist es für die jungen Menschen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7811 (A) (C) (D)(B) die beste Ausbildung, die wir als Partnerland anbieten können. Wie man erkennen kann, betrifft allein der Bildungs- bereich in der Entwicklungszusammenarbeit vier ver- schiedene Ressorts. Die Abstimmung untereinander ist deshalb von zentraler Bedeutung. Die von Minister Niebel ambitioniert angegangene Strukturreform der technischen Zusammenarbeit ist ein wichtiger Schritt, unsere Zusammenarbeit effizienter zu gestalten. Die zu- nehmende Aufgabenbeteiligung der anderen Ressorts im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit ist sehr be- grüßenswert, erfordert aber auch mehr Koordination. Deshalb wäre es wünschenswert, dass das BMZ auf- grund seiner originären Aufgabe von Entwicklungszu- sammenarbeit auch die Koordinationsaufgabe bei res- sortübergreifenden Projekten übernimmt. Der Bildungsbereich ist ein Schlüsselsektor für nach- haltige Entwicklung und Wachstum – sowohl in unserem Land als auch in unseren Partnerländern. Dass er zu ei- nem Schwerpunktbereich ausgebaut wird, lag immer im fraktionsübergreifenden Interesse. Eine Ablehnung des Antrags seitens der Opposition bedeutet die Ablehnung des Ausbaus deutscher Entwicklungszusammenarbeit auf dem Bildungssektor. Das kann nicht gewollt sein. Des- halb bitten wir als CDU/CSU-Fraktion: Springen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, über Ihren Schatten und stimmen Sie diesem Antrag zum Wohle junger Menschen in unseren Partnerländern zu. Dr. Bärbel Kofler (SPD): Den heute vorliegenden Bildungsantrag der schwarz-gelben Koalition mit dem schönen Titel „ Bildung in Entwicklungs- und Schwel- lenländern stärken – Bildungsmaßnahmen anpassen und wirksamer gestalten“ habe ich mir sorgfältig durchgele- sen und mit dem entwicklungspoltischen Bildungsantrag verglichen, der vor zwei Jahren in der Großen Koalition geschrieben wurde. Ich möchte mein Fazit gleich voranstellen: Der alte Antrag war und ist gut und der jetzt vorliegende schwarz-gelbe Bildungsantrag ein Rückschritt für die Erreichung des Millenniumsziels 2 „Grundbildung für alle“. Denn Bildung ist ein Menschenrecht und Voraus- setzung für die Bekämpfung globaler Armut. Diesem Ziel aber wird der schwarz-gelbe Bildungsantrag nicht gerecht. Die SPD forderte damals wie heute, Bildung, insbe- sondere Grundbildung und Weiterbildung, als Schwer- punktbereich der deutschen EZ auszubauen, die Fast- Track-Initiative mit ihrem Ziel „Bildung für alle“ finan- ziell und organisatorisch zu fördern, Grundbildung zu verstärken und insbesondere dazu beizutragen, dass die Qualität des Unterrichts verbessert wird. Das heißt, es muss in die Lehrerausbildung und -bezahlung investiert werden. Besonders wichtig ist uns Sozialdemokraten, dass Bildung kostenfrei zur Verfügung steht. Diese Kernforderungen waren Beschlusslage des 16. Deutschen Bundestags und Leitlinie guter Bildungs- zusammenarbeit der deutschen Entwicklungspolitik. Das wären sie auch besser geblieben. Dem neuen Antrag fehlt es an einer klaren Linie. Das Einzige, was klar wird, ist, dass Grundbildung zu kurz kommt. Im Einleitungstext des schwarz-gelben Antrags ist zwar von der Wichtigkeit der Primarschulbildung die Rede – soweit kann ich zustimmen –, und zu Recht weist der Antrag darauf hin, dass es in den vergangenen Jahren eine Verbesserung im Bereich des Millenniumsziels 2 gab. Enttäuscht hat mich beim Weiterlesen dann aber der Forderungskatalog des schwarz-gelben Bildungsantrags: Der Antrag enthält 44 Forderungen an die Bundesregie- rung, und nicht in einer dieser Forderungen wird das Wort „Grundbildung“ genannt. Überhaupt stellen die Forderungen eine wilde Ideensammlung dar, aus der keine klare Linie für die Bildungszusammenarbeit er- kennbar wird. Ein schlüssiges Konzept, wie das Millen- niumsziel 2 „Grundbildung für alle“ zu erreichen ist, er- gibt sich aus diesem bunten Strauß nicht! Offensichtlich soll sich jeder aus diesem Forderungskatalog seine Lieb- lingsforderung selber heraussuchen. In jedem Fall ist für alle etwas dabei. Aus der öffentlichen Anhörung unseres entwicklungs- politischen Ausschusses zu den Millenniumszielen im Juni dieses Jahres ist mir ein Kernsatz der Bildungsex- pertin Frau Assibi Napoe, der Vorsitzenden der Global Campaign for Education, in deutlicher Erinnerung ge- blieben. Sie sagte sehr eindringlich, dass Bildung öffent- lich und kostenlos sein muss. Damit stimmt die SPD überein, denn Bildung ist staatliche Aufgabe und muss ohne Gebühren zugänglich sein. Nur so erreicht Bildung alle Menschen und jedes Kind. Nur so wird Bildung zu einer Chance für jeden in einer Gesellschaft und hilft dem Einzelnen, sich vor Ar- mut zu schützen. Grundbildung ist dabei nicht alles, aber alles ist nichts ohne Grundbildung. Schaue ich mir jetzt die einzelnen Forderungen von Schwarz-Gelb im vorliegenden Antrag nochmal an, heißt es da in Forderung 28, „Bestrebungen von privat- wirtschaftlichen Institutionen im Bereich der beruflichen Bildung weiter ausbauen und fördern“ oder bei Forde- rung 32 „… das Netzwerk und die Erfahrung der deut- schen Auslandsschulen und des Goethe-Instituts nutzen und einbeziehen“. Weiter wird der Aufbau von Alumni-Netzwerken ge- fordert, der Aufbau von Berufsakademien im Rahmen von PPP-Projekten sowie der Ausbau von Möglichkeiten des E-Learnings. Das ist ja ganz nett, aber es kommt da- rauf an, staatliche Strukturen und Bildungsangebote in den Entwicklungsländern zu stärken. Die SPD hat sich schon immer für Grundbildung und auch Weiterbildung eingesetzt. Dies umfasst sowohl die frühkindliche Bildung als auch die Primarschulbildung und Angebote der beruflichen Bildung bis hin zur Hoch- schulbildung. Es bedarf eines ganzheitlichen Ansatzes. Aber erst umfassende Grundbildung, die für alle zu- gänglich ist, gewährleistet, dass auch weiterführende Bildung in Entwicklungsländern für jeden erreichbar ist und zur Chance wird. Sonst wird Weiterbildung zum Ex- 7812 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 (A) (C) (D)(B) klusivangebot für Privilegierte, die sich Grundbildung kaufen können. Unsere staatlichen Entwicklungsgelder sollen aber bei den Armen und weniger Privilegierten ankommen und nicht zur Elitenförderung verwendet werden. Der schwarz-gelbe Bildungsantrag verfehlt die- ses Ziel. Es gibt allerdings eine Forderung aus dem schwarz- gelben Antrag, die ich in diesem Zusammenhang doch für sehr wichtig halte, und zwar gerade um „Grundbil- dung für alle“ zu erreichen. In Forderung 9 heißt es: „Die Bundesregierung wird aufgefordert, sich aktiv an der Reform der Fast-Track-Initiative zu beteiligen!“ Die Fast-Track-Initiative will das Millenniumsziel 2 „Grund- bildung für alle“ umsetzen. Sie hat bisher gute Fort- schritte im Bereich der Grundbildung gemacht. Die mul- tilaterale Initiative hat also den richtigen Ansatzpunkt. Allerdings hemmen bürokratische Hindernisse und Kon- ditionalitäten der Weltbank derzeit den Erfolg der Fast- Track-Initiative. Hier muss sich Minister Niebel tatsäch- lich verstärkt dafür einsetzen, dass die Reform voran- geht, damit die Mittelvergabe zügiger wird. Um Mittel zu vergeben, müssen aber auch Mittel vor- handen sein. Bisher ist es nicht gelungen, im ange- strebten Ausmaß Mittel für den Catalytic Fund, dem zentralen Topf der Fast-Track-Initiative, zu generieren und mehr Geber einzubinden. Auch hier muss die schwarz-gelbe Regierung nachlegen. Im Haushaltsjahr 2010 wurden 6,8 Millionen US-Dollar für den Catalytic Fund eingestellt, noch im Jahr 2009 waren es 7,4 Mil- lionen US-Dollar. Deutschland ist damit auf Platz 12 von 18 Gebern. Eine Vorreiterrolle im Bereich der Bil- dung, insbesondere Grundbildung, lässt sich daran nicht festmachen. Dabei hatte Minister Niebel noch vor einem Jahr in seiner Amtsantrittsrede die Förderung der Bildung zum Schwerpunkt seiner Arbeit erklärt. Ich darf wörtlich zi- tieren: „Die Förderung der Grundbildung und Weiterbil- dung sind für uns ebenso wichtig, denn Armut und Bil- dungsarmut sind zwei Seiten derselben Medaille.“ Auch in seiner Jahresbilanz vom Oktober dieses Jah- res betonte Minister Niebel wieder: „Wir konzentrieren uns auf Schlüsselsektoren wie Bildung, ländliche Ent- wicklung, gute Regierungsführung und Gesundheit und setzen dort gezielt Mittel in innovativen Ansätzen ein.“ Allerdings ist die Schwerpunktsetzung auf Bildung bisher weder konzeptionell noch finanziell erkennbar. Minister Niebel hat zwar ein neues Sektorkonzept Bil- dung für Februar 2011 in Aussicht gestellt, jedoch hat die Unterrichtung des BMZ im Ausschuss vom 27. Ok- tober kein Licht ins Dunkel gebracht. Bisher hat keiner auch nur einen Entwurf des Konzepts gesehen, und in der Unterrichtung blieb unklar, wo der inhaltliche Schwerpunkt des Konzepts liegen soll. Gestern in der Fragestunde im Plenum blieb auch Frau Kopp mir eine klare Antwort zu den Inhalten des Bildungskonzepts schuldig. Vielmehr sprach Frau Kopp von der Wichtig- keit der staatlichen Grundbildung und von Erwachsenen- bildung, von der Qualität der Bildung und der berufli- chen Weiterbildung in der Entwicklungszusammenarbeit. Mir kam es vor, als würde Frau Kopp gute sozialdemo- kratische Bildungsarbeit beschreiben. Freuen würde es mich, wenn das alles im neuen Bildungskonzept von Minister Niebel steht, nur neu ist es halt nicht. Neu ist allerdings seit Amtsantritt von Minister Niebel, dass das Freiwilligenprogramm „weltwärts“ we- niger Mittel als geplant erhält. Vollkommen unklar ist, warum es zu diesen Kürzungen kam. Offensichtlich hat Minister Niebel nicht verstanden, dass auch der Freiwil- ligendienst „weltwärts“ einen Beitrag zur entwicklungs- politischen Bildung leistet. Warum sonst würde er diesen guten Freiwilligendienst seit seinem Amtsantritt kaputt- sparen, während er andererseits Bildung als Schwer- punktthema seiner Entwicklungspolitik ankündigt? Auch der schwarz-gelbe Bildungsantrag beinhaltet keine Forderung zur entwicklungspolitischen Bildungsarbeit in Deutschland, dabei gilt der Lerndienst „weltwärts“ heute unter Entwicklungsexperten als unverzichtbarer Teil einer solchen politischen Bildungsarbeit. Denn das Konzept von „weltwärts“ geht auf: Junge Menschen werden in Partnerorganisationen in Entwick- lungsländer integriert und lernen dort die Arbeit im Kampf gegen Hunger und Armut hautnah kennen. Eine solche Erfahrung schärft das Bewusstsein für globale Verantwortung und weltweite Solidarität sowie für Zu- kunftsfragen und bürgerschaftliches Engagement in Deutschland. Das im Jahr 2007 ins Leben gerufene entwicklungs- politische Freiwilligenprogramm „weltwärts“ hat bisher großen Anklang bei jungen Menschen gefunden und wird von deutschen Entsendeorganisationen gelobt. Die schwarz-gelbe Regierungskoalition hat bereits für das laufende Haushaltsjahr 2010 den „weltwärts“-Etat um 10 Millionen Euro geringer angesetzt, als 2009 geplant. Auch für das Jahr 2011 wird diese Kürzung fortge- setzt. Das hat schwere Konsequenzen für die deutschen Entsendeorganisationen und hat bereits in diesem Jahr dazu geführt, dass viele interessierte junge Menschen nicht weltwärts gehen konnten. Die kurzfristige Ankün- digung von Kürzungen rief bei den Entsendeorganisatio- nen allgemeines Unverständnis hervor, zumal die Ju- gendlichen bereits ein Jahr vor der Entsendung mit Schulungen auf ihr „weltwärts“-Jahr vorbereitet werden. Zwar hat Minister Niebel noch im Mai und sogar Juni dieses Jahres betont, dass kein Jugendlicher weniger ent- sendet wird, nur weil es am Geld fehle. Wie ich jetzt von Entsendeorganisationen hörte, hat Minister Niebel aber auch diese Versprechen gebrochen. Beispielsweise hat das Welthaus Bielefeld im April dieses Jahres den Bescheid des BMZ erhalten, dass von ihren 67 Jugendlichen, die bereits auf die Entsendung vorbereitet waren und unter Vertrag standen, nur 44 Frei- willige entsendet werden könnten, also de facto eine Kürzung von 67 auf 44 vorgenommen werden müsste. Mit gleichem Schreiben wurde mitgeteilt, das der maxi- male Barmittelbetrag für das Welthaus Bielefeld im Jahre 2010 156 640 Euro betrage und nicht überschrit- ten werden dürfe. Zu Recht fragte das Welthaus Biele- feld nun: Wie sollen wir 23 jungen Leuten, die sich in- tensiv auf das Jahr vorbereitet haben, und unseren Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7813 (A) (C) (D)(B) Partnern mitteilen, dass es leider nichts mit dem „welt- wärts“-Jahr wird? Aus der Not geboren hat das Welthaus Bielefeld die Entsendung dieser 23 Jugendlichen dann selber bezahlt, vorfinanziert aus dem „weltwärts“-Etat für das Jahr 2011. Das heißt aber nun, dass nächstes Jahr weniger Ju- gendliche über das Welthaus entsendet werden können. Nach eigenen Schätzungen spricht das Welthaus von noch 80 Prozent im Vergleich zum jetzigen Jahrgang. Das Freiwilligenprogramm „weltwärts“ wird in die- sem Jahr evaluiert, so war es seit Programmstart geplant. Die Ergebnisse der Evaluation sollen im Frühjahr 2011 vorgestellt werden. Aber noch vor der Evaluierung des „weltwärts“-Programms wurde durch die Mittelkürzung der dynamische Aufbau des neuen Freiwilligendienstes gedrosselt. Bevor eine Bewertung des „weltwärts“-Pro- gramms vorliegt, wird das Programm von Schwarz-Gelb kaputtgekürzt. Das ist inakzeptabel! Abschließend kann ich nur sagen: Die schwarz-gelbe Regierung setzt für das wichtige Thema der Bildung in der Entwicklungszusammenarbeit keine neuen Impulse. Der heute beschlossene Koalitionsantrag bietet für eine nachhaltige und umfassende Bildungsarbeit in Entwick- lungsländern keine solide Grundlage. Harald Leibrecht (FDP): Nachhaltige Entwicklung hängt – und da sind wir uns wohl alle fraktionsübergrei- fend einig – in wesentlichem Maße vom Zugang der Menschen zu Bildung ab. Wenn wir den Entwicklungs- ländern eine Perspektive geben wollen, ist das Thema Bildung in Entwicklungsländern von zentraler Bedeu- tung. Vor allem im Bereich der Grundbildung hat es in den letzten Jahren durchaus Erfolge gegeben. Und wir sind dem Jahrtausendziel der allgemeinen Grundschul- bildung für alle Kinder bis zum Jahr 2015 ein gutes Stück nähergekommen. Um ein Land aber auf lange Sicht erfolgreich aus der Armut zu befreien, müssen wir in Zukunft noch mehr als bisher auf eine qualifizierte und nachhaltige Bildung in den Entwicklungsländern setzen. Grundbildung ist dafür natürlich eine fundamen- tale Voraussetzung. Die Kritik der Oppositionsparteien an unserem An- trag ist für mich daher nicht nachvollziehbar. Grundbil- dung ist und bleibt ein sehr wichtiges Anliegen. Aber ich möchte Sie auch fragen: Was wollen Sie anschließend den Grundschulabgängern als Perspektive bieten? Hier muss es doch in allen Bildungssektoren zu vermehrten Anstrengungen kommen. Die Behauptung von SPD und Linke, wir würden in Sachen Bildung in Entwicklungs- ländern rein auf private Anbieter setzen, ist falsch. Ne- ben dem staatlichen Bildungssystem muss es aber auch private Anbieter geben. Ich kenne viele nichtstaatliche Bildungseinrichtungen, die in Entwicklungsländern ganz hervorragende Arbeit leisten. SPD und Linke sollten hier endlich ihre ideologische Brille ablegen. In vielen Ent- wicklungsländern versagt der Staat in Sachen Bildung. Nach der Ideologie der Opposition haben die Kinder in diesen Ländern keine Chance auf Bildung. Das können Sie doch nicht wirklich wollen. Nur wenn Menschen eine solide Bildung bekommen, haben sie die Chance, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und sich von Abhängigkeiten zu befreien. Und darum geht es uns mit unserem Antrag. Bildung hat also auch mit Freiheit zu tun. Über eine umfangreiche Bil- dung kann das Verständnis untereinander und zu anderen Kulturen oftmals auch konfliktpräventiven Charakter ha- ben. Multikulturelle Wertegemeinschaften sind weniger konfliktanfällig, und in gebildeten Gemeinschaften kön- nen sich Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Mei- nungsfreiheit besser entfalten. Dies ist ein ganz wichti- ger Effekt, der oftmals keine ausreichende Beachtung findet. Und darum ist für den Aufbau von Justiz, Demo- kratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft eine breite Bildungsschicht, ja eine Bildungselite, die ihr Land in eine bessere Zukunft führt, unbedingt nötig. Junge Menschen – Männer und Frauen gleicherma- ßen – müssen die Chance haben, nach der allgemeinen Schulbildung einen qualifizierten Beruf zu erlernen oder eine höhere Schulbildung bis hin zur Universität zu er- halten. Und da der Lehrerausbildung zur Erreichung die- ser Ziele eine große Bedeutung zukommt, haben wir in unserem Antrag auch an mehreren Stellen die Forderung nach einer qualitativen Verbesserung der Lehrerausbil- dung erhoben. Lehrer sind die Basis für eine erfolgreiche Schulbildung in einem funktionierenden Schulsystem. Deutschland leistet mit weltweiten Bildungskooperatio- nen einen bedeutenden Beitrag. Auch über die Auswär- tige Kultur- und Bildungspolitik erhalten viele junge Menschen in der Welt durch die Hilfe unseres Landes eine bessere Bildung. Ich bin froh, dass unter der jetzigen Bundesregierung die Zusammenarbeit zwischen dem Auswärtigen Amt, dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammen- arbeit und Entwicklung und dem Ministerium für Bil- dung und Forschung funktioniert und ineffiziente Paral- lelstrukturen abgebaut werden. Aus-, Fort- und Hoch- schulbildung sind die beste langfristige Hilfe zur Selbst- hilfe und Voraussetzung für eine nachhaltige Entwick- lungspolitik. Mit unserem Antrag legen wir die Basis, um die Bildungssituation in Entwicklungsländern lang- fristig zu verbessern, und er ist ein wichtiger Schritt hin zur Erreichung der Millenniumsziele zur Verwirklichung der allgemeinen Grundschulbildung, MDG 2, und zur Förderung der Gleichstellung der Geschlechter, MDG 5. In elf Jahren, in denen die SPD das Entwicklungsmi- nisterium geleitet hat, wurde im Bildungsbereich für Entwicklungsländer leidlich wenig erreicht. Die jetzige Regierung handelt, und unser Antrag ist die richtige Weichenstellung für eine effektive und nachhaltige Ent- wicklungspolitik. Darum bitte ich Sie, unserem Antrag zuzustimmen. Heike Hänsel (DIE LINKE): Weltweit gibt es rund 780 Millionen Analphabeten, über 1,4 Milliarden Men- schen leben in Armut. Bildungsarmut und damit einher- gehender Hunger sind vor allem ein Problem in den ländlichen Regionen der Entwicklungsländer. Dort aber, wo Frauen und Männer lesen und schreiben können, sinkt der Grad an Unterernährung, steigen die Einkom- 7814 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 (A) (C) (D)(B) men sowie die Produktivität der Kleinbauern und erge- ben sich Wege aus der Armut. Bildung ist der Schlüssel zur Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und ist ein in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie der UN-Kinderrechtskonvention verankertes Menschen- recht. Die Millenniumsentwicklungsziele 2 und 3 bezie- hen sich auf Bildung, Grundbildung für alle Kinder und Aufhebung der Benachteiligung von Mädchen. Von der Verwirklichung dieses Rechts sind wir allerdings weit entfernt. Die Bundesregierung macht vollmundige An- kündigungen, dass Bildung zum Schwerpunktthema ih- rer Entwicklungspolitik gemacht werden soll, um das Ziel „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ zu veran- kern. Aber was sehen wir hinter der Fassade dieses Ver- sprechens? Der Antrag der Regierungskoalition zum Thema stellt einen erheblichen Rückstand bei der Grund- und Se- kundarbildung fest. Das deutsche Modell der dualen Ausbildung wird als Vorbild angeboten und die Einbe- ziehung der deutschen Wirtschaft, etwa durch PPP – Public-Private-Partnership-Projekte – empfohlen. Im Bereich der beruflichen Bildung sollen vor allem privat- wirtschaftliche Institutionen gestärkt werden. Hoch- schulbildung wird vor allem unter dem Gesichtspunkt der Elitenrekrutierung und wirtschaftlichen Innovations- fähigkeit betrachtet. Beim Wissensaustausch wird die stärkere Zusammenarbeit der Universitäten mit dem Pri- vatsektor empfohlen. Dieser Fokus auf Privatisierung ist genau das Gegenteil von Bildung für alle! In dem Antrag wird festgehalten, dass die Lehrerge- hälter oft zu niedrig seien und die Regierungen im Süden oft „nicht imstande“ seien, „ihre Hoheitsaufgaben im Bildungsbereich zu erfüllen“. Daraus wird aber nicht die naheliegende Schlussfolgerung gezogen, die Partnerre- gierungen seien durch die Stärkung der staatlichen Strukturen, zum Beispiel durch Budgethilfe, zu unter- stützen, um effektive staatliche Systeme aufbauen zu können, sondern es wird daraus eine Daseinsberechti- gung für die vielen privaten Angebote in diesem Bereich abgeleitet. Welchen finanziellen Beitrag die Bundesregierung zur Bildungsförderung in den Partnerländern künftig leisten will, wird mit keiner Silbe erwähnt. Das muss aber konkret benannt werden, wenn man sich ernsthaft für die weitere Unterstützung für Bildungssysteme ein- setzt. Das Gegenteil scheint jedoch der Fall zu sein. Die Finanzmittel für die „Internationalisierung von Bildung“ – Stipendien etc. – stagnieren seit Jahren oder sind sogar leicht rückläufig. Die Linke hätte es auch sehr begrüßt, wenn die Koali- tion etwas zur Anerkennung von in Partnerländern er- zielten Abschlüssen hier in Deutschland gesagt hätte. Wichtig wäre auch gewesen, das große Problem von Schul- und Studiengebühren anzusprechen, das ja maß- geblich den Zugang zu Bildung blockiert. Stattdessen wird „innovativen Finanzierungselementen“ und einer Förderung der Privatwirtschaft das Wort geredet. Natür- lich sollen auf diese Weise für die deutsche Wirtschaft durch sogenannte Bildungsdienstleister lukrative Märkte erschlossen werden. Die Linke will stattdessen staatliche Strukturen stär- ken. Wir brauchen ein öffentliches, allgemein zugängli- ches Bildungssystem, anstatt eine beliebige Trägerviel- falt zu finanzieren und die Regierungen in den Entwicklungs- und Schwellenländern so bildungspoli- tisch zu entmündigen. Die Linke empfiehlt außerdem, auf dem Feld der Bil- dungspolitik in eine trilaterale Kooperation einzutreten. Es gibt gute Süd-Süd-Initiativen, die oft angepasster ar- beiten als die Initiativen aus dem Norden und dabei be- eindruckende Erfolge bei der Alphabetisierung erzielen. Dabei möchte ich insbesondere die erfolgreiche kubani- sche Kampagne „Yo si puedo“ erwähnen, die auch von den UN entsprechend gelobt wurde. Hier könnte die in- ternationale Unterstützung gut ansetzen. Wir fordern die Bundesregierung auf, Entwicklungs- hilfeleistungen für Bildung deutlich zu erhöhen und dazu beizutragen, dass die Ziele des Weltbildungsforums 2000 in Dakar erreicht und das Millenniumsziel univer- saler Grundbildung bis 2015 umgesetzt wird. Die Indus- trieländer müssen ihre finanziellen Ausgaben für Bil- dung erhöhen, damit jedem Kind bis 2015 zumindest eine Primärschulbildung gewährleistet werden kann. Die ärmsten Länder müssen in die Lage versetzt werden, ge- nügend Lehrkräfte auszubilden und einzustellen, Schu- len mit ausreichend Klassenräumen zu bauen und Schul- bücher für jedes Schulkind anzuschaffen. Wir müssen das Menschenrecht auf Bildung endlich verwirklichen, statt nur leere Versprechen zu machen! Der Schlüssel hierzu ist der politische Wille. Herr Niebel, wenn Sie Bildung wirklich zum Schwer- punktthema machen wollen, ist es an der Zeit, so lang- sam den schönen Worten auch mal Taten folgen zu las- sen. Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Bildung ist kein Geschenk, das nur Auserwählten zukommt. Nein: Bildung ist ein Menschenrecht für alle. Daher stehen die Regierungen in allen Ländern der Welt in der Pflicht, das Recht auf Bildung umzusetzen und zu garantieren. Es stimmt: Beim zweiten Millenniumsentwicklungs- ziel – dem Zugang zu Grundbildung – wurden bereits viele Fortschritte erzielt. Und doch ist leider offensicht- lich: Bis 2015 wird das zweite Millenniumsentwick- lungsziel nicht erreicht. Gerade die ärmsten Länder wer- den das Ziel verfehlen. Besonders Kinder aus ländlichen Gebieten haben schlechte Bildungschancen – sie besu- chen nur halb so oft die Grundschule wie Kinder aus städtischen Gebieten. Neben der Frage des Zugangs zu Bildung quält uns insbesondere die Frage der Qualität der Bildung. Lehrer und Lehrerinnen sind weltweit die bedeutendste Res- source für das Lernen. Und gute Lehrerinnen und Lehrer sind eine der wichtigsten Voraussetzungen für den Lerner- folg. An beidem herrscht gerade in armen Ländern ein großer Mangel. Allein in Subsahara-Afrika müsste bei- spielsweise zur Erreichung des Grundbildungsziels die Zahl der Lehrer und Lehrerinnen verdoppelt werden. Und viel muss investiert werden in Lehrerausbildung; Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7815 (A) (C) (D)(B) denn besonders in ländlichen Gebieten mangelt es nicht nur an Lehrpersonal, sondern vor allem an qualifiziertem Lehrpersonal. Wir wissen alle, dass Bildung eine Grundvorausset- zung zur Überwindung von Armut ist. Alle entwick- lungspolitische Erfahrung lehrt uns, dass Frauen und Mädchen bei der Überwindung von Armut eine zentrale Rolle spielen. Doch noch immer sind Frauen bei der Bil- dung stark benachteiligt. Während sich in den Grund- schulen schon einiges verbessert hat für Mädchen, stellt der Gender Gap im Bereich der Sekundarbildung ein noch viel größeres Problem dar. In Mosambik habe ich Anfang des Jahres erfahren, dass zwar immerhin 95 Prozent aller Kinder eingeschult werden. Doch die Hälfte davon schafft den Primarschul- abschluss nicht, und nur eine kleine Minderheit, 5 Prozent, geht bis zum Abschluss der Sekundarschule zur Schule. So erwerben nur sehr wenige Menschen in Mosambik die Qualifikation für eine Universitäts- bzw. Fachhoch- schulbildung oder einen höheren Ausbildungsberuf. Die- ses Problem ist viel zu lange vernachlässigt worden. Da die Sekundarbildung in der Regel kostenpflichtig ist, werden große Bevölkerungsgruppen vom Zugang ausgeschlossen. So auch in Mosambik: Die Regierung unterstützt den Besuch der Primarstufe für alle Kinder bis zur siebten Klasse. Doch ab der achten Klasse müs- sen Familien die Schulkosten für ihre Kinder komplett selbst übernehmen, das Schulgeld, die Unterbringung in einer weiter entfernten Stadt – oftmals sind Sekundar- schulen bis zu drei Stunden von zu Hause entfernt – und die Kosten für Schulmaterial und Uniformen sind für viele Familien in Mosambik eine nicht zu bewältigende Anstrengung. Und da die Gesellschaft in Mosambik noch immer meist patriarchalisch organisiert ist, scheiden gerade Mädchen und junge Frauen besonders häufig und früh- zeitig aus der Schule aus. Argument: Sie werden für die Familienarbeit in der Landwirtschaft gebraucht. Es er- gibt sich ein Kreislauf, in dem Frauen zu einer frühzeiti- gen Heirat gedrängt werden, früh viele Kinder bekom- men und ihnen damit ein Lebensweg vorgeschrieben wird, der sich vor allem um die land- und hauswirtschaft- liche Tätigkeit und die Versorgung der Kinder unter prekä- ren sozioökonomischen Bedingungen dreht. Ein Leben in Armut ist damit auch für die nächste Generation so gut wie vorprogrammiert. Um diesen Kreislauf zu durchbrechen und die struk- turelle Benachteiligung von Frauen abzumildern, bedarf es der Förderung von Bildungschancen für junge Frauen, gerade auch in der Sekundarbildung. Zum Antrag der Koalition. Viele der angesprochenen Fragen thematisieren Sie in Ihrem Antrag. Das ist gut. Doch gerade dort liegt auch das Problem: Sie thematisie- ren so viele dieser Fragen, ohne konkrete Lösungsan- sätze zu präsentieren, dass im Fazit der Antrag ein zahn- loser Tiger bleibt. Wir können uns daher nur enthalten. Was zum Beispiel in Ihrem Antrag fehlt, sind konkrete Zahlen. Es ist schön, dass Sie die dringend nötige Reform der Fast Track Initiative für Bildung unterstützen. Doch wenn die Fast Track Initiative greifen soll und die Grundbildungssituation in den ärmsten Ländern verbes- sern soll, dann muss sie – insbesondere ihr Catalytic Fund – mit ausreichender und vorhersehbarer Finanzie- rung ausgestattet sein. Hier ist Ihr Antrag eine Fehlan- zeige. Wir Grünen haben im Entwicklungsausschuss Än- derungsanträge zum Haushaltsplan des Entwicklungs- ministeriums eingebracht, unter anderem zur Aufsto- ckung der Mittel des Catalytic Fund. Und was machen Sie von der Koalition? Für 2010 und 2011 fährt Deutsch- land seine Zusagen für den Catalytic Fund sogar noch zurück, und auch unsere Haushaltsanträge haben Sie leider abgelehnt. Aus Ihrem Antrag spricht, dass Sie viel Hoffnung in die Privaten stecken. Nach Ihren Vorstellungen soll sich die deutsche Wirtschaft auch im Bildungssektor in Ent- wicklungsländern einbringen können. Doch es ist eine grundlegende Aufgabe des Staates, für ein funktionie- rendes Bildungssystem zu sorgen und Bildung für alle zu garantieren – Private können höchstens als Ergänzung, aber nicht als Ausrede dienen! Und vor allem: Es geht hier nicht in erster Linie um die Förderung der deutschen Wirtschaft, sondern um die Verwirklichung des univer- sellen Menschenrechts auf Bildung! Sie haben Recht damit, dass auch in die berufliche Bildung investiert werden muss. Doch darüber darf der enorme Nachholbedarf bei Grundbildung, insbesondere bei der bereits angesprochenen Qualität der Grundbil- dung, und bei der Sekundarbildung nicht vergessen wer- den. Wenn die Basis nicht stimmt, dann macht auch be- rufliche Bildung keinen Sinn! Das haben Sie leider in Ihrem Antrag vernachlässigt. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Rohstoffförderung im Meer – Aus der Katastrophe lernen (Tages- ordnungspunkt 16) Ingbert Liebing (CDU/CSU): Mit der Ölkatastrophe im Golf von Mexiko verbinden wir schreckliche Bilder, die die Medien wochenlang beherrscht haben: Die Ex- plosion und das Sinken der Ölplattform „Deepwater Ho- rizon“ am 20. und 22. April 2010. Insgesamt flossen 780 Millionen Liter Rohöl damals verteilt über mehrere Monate, in den Golf von Mexiko – ein quälend langer Zeitraum. Versuche, das Leck abzudichten, misslangen ein ums andere Mal, erst drei Monate nach der Explo- sion der „Deepwater Horizon“ strömte endlich kein Öl mehr aus dem Bohrloch. Das Ergebnis sind verheerende Auswirkungen auf die genauso empfindlichen wie einzigartigen Ökosysteme an der US-amerikanischen Küste. Durch die Meeresver- schmutzung sind nicht nur Delfine und Meeresschildkrö- ten, auch Seevögel, Fisch- und Austernbestände gefähr- det, irreparable Schäden drohen. Aus dem ökologischen 7816 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 (A) (C) (D)(B) Schaden ist zudem ein horrender ökonomischer Schaden geworden, insbesondere für den Tourismus. Diese Kata- strophe macht deutlich, dass der Mensch mit seiner Technik die Natur keinesfalls immer zu kontrollieren vermag. Zu den Ursachen der Explosion gibt es unterschiedli- che Darstellungen, die sowohl technisches wie mensch- liches Versagen nahelegen. Es ist aber offensichtlich, dass der Konzern BP an seine Grenzen gestoßen ist. Es sind Fehler gemacht worden, und man kann nicht gerade sagen, dass damals alles Menschenmögliche getan wurde, um diese Katastrophe zu vermeiden. Diese Fehler, für die das Unternehmen nun geradeste- hen muss, sollen uns eine Warnung sein: Die Förderung von Erdöl in derart großen Wassertiefen, hier waren es circa 1 500 Meter, ist äußerst riskant. Unternehmen und Regierungen müssen mit diesem Risiko verantwortlich umgehen. Dazu gehört, das Geschehen umfassend aus- zuwerten, um ein weiteres Unglück dieser Art in der Zu- kunft verhinden zu können. In diesem Zusammenhang begrüße ich die Bemühun- gen im Rahmen der OSPAR-Konvention, deren Mitglie- der sich vom 20. bis 24. September 2010 auf einer Kon- ferenz im norwegischen Bergen trafen: Als erste vorläufige Konsequenz aus der Havarie der Bohrplattform im Golf von Mexiko haben sich die OSPAR-Staaten auf einen Fahrplan für eine umfassende Defizitanlayse der Katastrophe verständigt. Dazu gehört, dass die Staaten ihre einschlägigen nationalen Regel- werke analysieren. Ergänzend werden externe Berichte einer umfassen- den Bewertung unterzogen. Abhängig von der Auswertung der genannten Ergeb- nisse ist anlässlich der nächsten turnusmäßigen Sitzung der OSPAR-Kommission im Juni 2011 geplant, über mögliche Verbesserungsmaßnahmen zu entscheiden. Nun müssen wir aber aufpassen, dass wir die richti- gen, nicht die falschen Schlüsse aus der Katastrophe zie- hen. So fordert der Antrag der Grünen ein Verbot neuer Bohrungen und Ölförderungen in geschützten Meeresge- bieten in Deutschland, wie dem Wattenmeer. Das wird den Tatsachen nicht gerecht. Es ist unred- lich, die grauenhaften Bilder von den Ölverschmutzun- gen im Golf von Mexiko in Deutschland zu instrumenta- lisieren und damit die Situation in Deutschland zu dramatisieren. Der Vergleich, den der Antrag der Grünen zwischen der Situation im Golf von Mexiko und der Öl- förderung im deutschen Wattenmeer herstellt, ist so nicht haltbar. Eine solche Ölkatastrophe, wie im Golf von Me- xiko geschehen, ist vor unserer Haustür so nicht denkbar. Weil ich eine sachliche Diskussionsgrundlage in dieser wichtigen Angelegenheit für notwendig erachte, möchte ich die Unterschiede deutlich machen: Die Bohr- und Förderinsel „Mittelplate“ vor der schleswig-holsteinischen Westküste – genauer gesagt auf einer Sandbank vor der Dithmarscher Küste am süd- lichen Rand des Nationalparks Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer – ist die einzige deutsche Produktionsanlage zur Förderung von Öl im Meer. Und obwohl auch hier Öl gefördert wird, bestehen ganz wesentliche Unter- schiede zwischen „Mittelplate“ und „Deepwater Hori- zon“: Im Gegensatz zur Situation am Golf von Mexiko, wo mit einem ungeheuren natürlichen Druck riesige Ölmen- gen ins Meer sprudelten, muss bei der Förderung durch die „Mittelplate“ das Öl aktiv hochgepumpt werden, da es hier keinen natürlichen Druck gibt. Für den Fall, dass es zu einem Ölverlust kommen sollte, steht die „Mittelplate“ in einer Stahlwanne, die auslaufendes Öl auffangen kann von wo es dann abge- pumpt würde. Die Bohr- und Förderinsel „Mittelplate“ ist auf dem Wattboden gegründet, kann daher nicht sinken, wie es bei der „Deepwater Horizon“ leider passiert ist. Hinzu kommt, dass im Bereich des Nordostatlantiks, zu dem auch der deutsche Bereich zu zählen ist, die In- dustrie auf der Basis der besten verfügbaren Technik ar- beitet. Ferner haben die jahrelangen Erfahrungen bei der Ölförderung bei „Mittelplate“ gezeigt, dass der Betreiber ein Höchstmaß an Sicherheit und Verantwortungsbe- wusstein walten lässt. Auch die Mechanismen der Not- fallvorsorge, deren Überprüfung die Grünen in ihrem Antrag fordern, stehen aufgrund der internationalen Zu- sammenarbeit in Nord- und Ostsee auf einer soliden Ba- sis. Für die „Mittelplate“ und auch für die von der Win- tershall betriebene Gasplattform A6-A gibt es Nofall- pläne und Ölwehrpläne. Bei Schäden, die den Austritt von Öl in das Meer zur Folge haben, wird das Havarie- kommando in Cuxhaven informiert. Das ist gut so. Entscheidend aber ist in diesem Zusammenhang das „Vorsorgeprinzip“, dass es keine neuen Fördereinrich- tungen im Watt geben wird. Das ist durch das schleswig- holsteinische Nationalparkgesetz bereits klargestellt. Da bedarf es keiner neuen Forderungen der Grünen. Die Bundesregierung wird ihrer internationalen Ver- pflichtung gerecht und hat im Rahmen des bereits er- wähnten OSPAR-Treffens einen Entwurf für eine Emp- fehlung vorgelegt, die nach Durchführung der Defizit- analyse die Option eines Moratoriums für neue Ölerkun- dungsbohrungen vorsah. Zwar konnte dieser Entwurf gegen den Widerstand insbesondere der betroffenen Staaten nicht durchgesetzt werden, der Antrag hat aber gleichwohl einen Prozess eröffnet, der OSPAR veranlas- sen wird, sich weiter mit dem Thema auseinanderzuset- zen. Insofern bedarf es auch hier keiner Aufforderung durch die Grünen. Eine weitere Kernforderung des Antrages der Frak- tion der Grünen ist die nach eindeutigen und umfassen- den Haftungsregelungen. Allerdings haben die Grünen den Nachweis versäumt, dass tatsächlich Defizite beste- hen. Das Verursacherprinzip ist klar geregelt, die Not- wendigkeit für weitere gesetzliche Präzisierungen kann ich derzeit nicht erkennen. Zusammenfassend ist festzustellen, dass der Antrag der Fraktion der Grünen voreilige Schlussfolgerungen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7817 (A) (C) (D)(B) zieht, unnötige Forderungen stellt, wo die Regierung be- reits handelt, und falsche Antworten auf sicherlich be- rechtigte Sorgen gibt. Völlig unstrittig ist, dass der Wert des Ökosystems Tiefsee zukünftig einen weitaus größeren Stellenwert ha- ben muss, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Hier gilt es auch, die technischen Errungenschaften – zum Beispiel in Form von Tiefseerobotern – konse- quent zugunsten der wertvollen maritimen Ökosysteme zu nutzen. Dafür lassen Sie uns gemeinsam kämpfen! Franz Obermeier (CDU/CSU): Der Antrag ist banal, da er Selbstverständlichkeiten beinhaltet: Ja, aus Fehlern soll man lernen, auch wenn andere sie gemacht haben. Ja, Nachhaltigkeit und Umweltschutz sind auch bei der Rohstoffförderung zu achten. Das Meer ist ein be- sonders sensibles Ökosystem, auf das die Menschheit angewiesen ist. Die Folgen von Umweltkatastrophen und negativen Eingriffen überqueren buchstäblich die Ozeane. Wir alle sind gegen eine hemmungslose Aus- beutung von Rohstoffen ohne Rücksicht auf die Folgen für Menschen und Umwelt. Ja, unsere gemeinsame Aufgabe ist es, weltweit Re- geln für die Rohstoffgewinnung aufzustellen und für deren Einhaltung zu sorgen. Das gilt nicht nur für die Gewin- nung aus dem Meer, auch auf dem Land gibt es hierbei verheerende Umweltzerstörungen. Umweltschutz gilt genauso für die Errichtung von Windkraftanlagen im Meer. Hier gibt es erhebliche nega- tive Auswirkungen auf das ökologische Gleichgewicht, angefangen von der Zerstörung des Meeresbodens bis hin zur Beeinträchtigung des Schiffsverkehrs, der Geräusch- entwicklung, die Meerestiere wie Wale gesundheitsge- fährdend irritiert. Das dürfen wir bei Betrachtung Ihres Antrags auch nicht ausklammern. Denn das soll direkt vor unserer Küste passieren. Selbstverständlich sind internationale Vereinbarungen und Standards zum Meeresschutz nötig. Hierzu sind be- reits verschiedene Initiativen auf den Weg gebracht, und das nicht erst seit Mexiko. Ich danke Ihnen, dass Sie mir Gelegenheit geben, einige diese Aktivitäten vorzustel- len. Zu den EU-Aktivitäten: Circa 30 Prozent der welt- weiten Erdölreserven liegen im Offshore-Bereich. Die EU-Kommission beabsichtigt, die Ölindustrie stärker zu kontrollieren. In einem ersten Schritt hat die Kommis- sion am 13. Oktober eine umfassende Mitteilung zu Off- shore-Aktivitäten bei Öl und Gas vorgelegt. Darin greift sie die Themen Lizenzvergabe, Sicherheitsstandards, Haftungsrecht, Verantwortung der Betreiber, staatliche Aufsicht und Kontrolle, Notfallreaktionsfähigkeit sowie internationale Aspekte auf. Sie will bis spätestens Sommer 2011 – möglichst gebündelt – Vorschläge zur Präzisierung und Ergänzung des EU-Rechtsrahmens vorlegen. Deutschland unterstützt grundsätzlich das Ein- treten der Kommission für höchste Sicherheitsstandards sowie eine stärkere Harmonisierung in EU und gegebe- nenfalls darüber hinaus, da Schäden grenzüberschreitend sein können. Auf globaler Ebene wurde auf dem G-20-Gipfel in Toronto eine „Global Marine Environment Protection Initiative“, GMEP-Initiative, vorgeschlagen. Ziel ist die Einrichtung eines internationalen Mechanismus zur Vor- beugung von Katastrophen und Schadensbeseitigung in Festlandsockelgewässern bei der Offshore-Förderung von Öl und Gas. Eckpunkt der GMEP-Initiative ist eine international abgestimmte Regulierung von Aktivitäten in Festlandsockelgewässern, die stattfinden durch ein Netz regional zuständiger „International Shelf Regula- tors“. Konkret geht es um die Prüfung der Auswirkung von Exploration, Förderung und Lagerung, die Entwick- lung effektiver Gefahrenabwehrmaßnahmen, die Risiko- abschätzung und -beurteilung möglicher Störfälle, die Sicherung biologischer Ressourcen und den Technolo- gietransfer in von Ölkatastrophen betroffene Entwick- lungsländer. Dieser internationale Mechanismus soll finanziert werden über nationale bzw. regionale Fonds, die aus ver- pflichtenden Abgaben der Förderunternehmen – Versi- cherungsbeiträge oder Steuern – gespeist werden, ent- sprechend dem in der deutschen Umweltpolitik geltenden Verursacherprinzip. Auch die sonstigen in Ihrem Antrag aufgestellten For- derungen sind schon längst erkannt und in Angriff ge- nommen. Es soll eine internationale Kooperation und ei- nen Austausch von Erfahrungen geben zur Krisen- prävention und Sicherheit der maritimen Umwelt ein- schließlich der Reaktion auf Unfälle. Konkret geht es um Zulassungsverfahren – einschließ- lich Umweltverträglichkeitsprüfungen und Lizenzierungs- verfahren), Sicherheitsstandards, Krisenplanung – unter anderem Einführung internationaler Konventionen, Ent- wicklung einer Krisenpräventionsinfrastruktur, Zivil- schutz, Umweltverträglichkeit der Schadensbeseitigung, Erhalt biologischer Ressourcen, Notfallübungen –, Scha- densersatzregelungen – Haftung, Haftungsbesicherung, Ver- sicherung, Haftungsbeschränkung, Schadenstypen –, Über- wachungsmechanismen, Regelungen zum Transfer von Umweltsanierungstechniken, Verhaltensregeln für Ener- gieunternehmen und einen regionalen Erfahrungsaus- tausch – freiwillige Unterstützung, spezifische technische Standards. Deutschland setzt sich bei diesem Vorhaben beson- ders für eine stärkere Berücksichtigung von Sicherheits- anforderungen, einen erhöhten Bezug zu bestehenden in- ternationalen Organisationen und die Offenhaltung des Themas ein, will also keine Beschränkung auf die G-20- Länder. Die Konferenz der Vertragsstaaten des Übereinkom- mens über die biologische Vielfalt am 29. Oktober in Nagoya, Japan, ist ein weiterer Schritt. Man einigte sich auf einen weiteren Ausbau eines globalen Netzes von Meeresschutzgebieten innerhalb und außerhalb nationa- ler Hoheitsgebiete. Abschließend möchte ich bemerken: Umweltschutz gilt für alle Arten der Rohstoff- und Energiegewinnung, nicht nur bei Öl und Gas. Auch Rohstoffe für erneuer- bare Energien, beispielsweise die speziellen Metalle für 7818 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 (A) (C) (D)(B) Photovoltaikanlagen, müssen umweltgerecht gefördert, entsorgt und möglichst umfassend recycelt werden. Das Meer ist besonders sensibel. Aber auf dem Land ist Um- weltschutz genauso wichtig. Wenn wir wirklich etwas bewirken wollen, brauchen wir internationale Vereinba- rungen. Und nicht zu vergessen: Wir dürfen den Meeres- schutz nicht auf die Rohstoffgewinnung allein verkür- zen. Auch der Plastikmüll in den Weltmeeren ist ein weiteres Umweltthema. Frank Schwabe (SPD): Am 20. April explodierte die vom Ölkonzern BP gecharterte Bohrplattform Deep- water Horizon und sank zwei Tage später. In knapp drei Monaten strömten etwa 800 Millionen Liter Rohöl in gut 1 500 Metern Tiefe ins Meer. Tausende Schiffe und Zehntausende Helfer waren im Golf von Mexiko im Ein- satz, um die Folgen der Katastrophe einzudämmen. Zwar beherrschen heute andere Schlagzeilen die Me- dien, die Folgen der Ölkatastrophe werden uns aller- dings noch lange beschäftigen. Der größte Teil des aus- gelaufenen Öls ist immer noch im Meer, und es braucht wahrscheinlich Jahre, bis es abgebaut ist. Wir sind noch weit davon entfernt, die Auswirkungen vollständig zu verstehen. Die mittel- und langfristigen Schäden sind noch nicht absehbar. Wir dürfen uns diesem wichtigen Thema nicht nur annehmen, wenn es große Schlagzeilen in den Medien gibt. Denn die größte Bedrohung der Meere sind nicht nur die spektakulären Umweltkatastro- phen, wie wir sie gerade im Golf von Mexiko erlebt ha- ben, sondern die alltägliche Verschmutzung, die es nicht auf die Titelseiten der Zeitung schafft, die aber umso verheerender ist. Wir dürfen nicht weitermachen wie bisher, als ob nichts geschehen sei. Wir müssen aus der Katastrophe lernen und Konsequenzen ziehen. Dies greift auch der Antrag der Grünen auf. Wir müssen die Fragen diskutie- ren, wie die Schäden beseitigt werden können und ob es überhaupt möglich ist, dass wirklich alle Schäden besei- tigt werden können? Wie hat sich der massive Einsatz von Chemikalien zur Ölbekämpfung ausgewirkt? Bis heute weiß niemand, ob die drei Millionen Liter Corexit, die im Meerwasser verteilt wurden, ihren Zweck erfüllt haben. Es gibt Berichte, dass sich das Lösungsmittel nicht besonders gut mit dem Öl vermischt hat. Gibt es Techniken, die mögliche Unfälle bei Tiefsee- bohrungen beherrschbar machen, oder müssen wir Tief- seebohrungen untersagen? Als SPD fordern wir die Bun- desregierung auf, sich für ein Moratorium für Öl- Tiefseebohrungen einzusetzen, solange die Technolo- gien noch nicht verfügbar sind, um auftretende Unfälle zu beherrschen. Die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko zeigt aber auch, dass es richtig war, dass sich die SPD schon vor einigen Jahren für eine Strategie „weg vom Öl“ entschieden hat – und das nicht nur aus Gründen des Klimaschutzes, sondern weil das „schwarze Gold“ auf der ganzen Welt dreckige Spuren hinterlässt. Leider scheiterte die US-Regierung mit dem Versuch, ein Moratorium für Tiefsee-Ölbohrungen durchzusetzen, bis die Ursachen für die Katastrophe im Golf von Me- xiko geklärt sind. So wird heute im Golf von Mexiko weiter gebohrt, auch Genehmigungen für neue Bohrun- gen werden erteilt. Der Unfall auf der Bohrinsel Deep- water Horizon war ein Schuss vor den Bug. Die Frage ist, ob die Politik die Kraft hat, darauf zu reagieren. Mit Hinblick auf den Ausgang der jüngsten OSPAR-Konfe- renz bin ich sehr skeptisch. Es ist enttäuschend, dass auf der OSPAR-Konferenz kein Moratorium für Tiefsee-Öl- bohrungen beschlossen wurde. So können die Ölbohrun- gen weitergehen, als hätte es die Katastrophe im Golf von Mexiko niemals gegeben. Auf der OSPAR-Konfe- renz haben die beteiligten Staaten beschlossen, dass eine Entscheidung über ein Moratorium erst gefällt werde, wenn ein Untersuchungsbericht zur Ölpest im Golf von Mexiko von US-Präsident Barack Obama im Januar vor- gelegt wird. Dabei ist die Gefahr in Europa genauso groß wie im Golf von Mexiko, wobei zu berücksichtigen ist, dass das Gebiet der OSPAR auch arktische Gewässer umfasst. Die Gewässer der Arktis sind besonders sensibel. Hier wird Öl wegen der kalten Temperaturen viel langsamer abgebaut als zum Beispiel im Golf von Mexiko. Die Bundesregierung hat es allerdings nicht für nötig gehal- ten, auf Ministerebene zur OSPAR-Konferenz zu kom- men, um mit allem Druck für ein Moratorium zu werben. Umweltminister Röttgen konnte im Vorfeld der Konfe- renz nicht durchsetzen, dass Deutschland auf der OSPAR-Konferenz ein sofortiges Moratorium für Tief- see-Ölbohrungen fordert. Ihm gelingt es auch hier nicht, seine schönen Worte in Taten umzusetzen. Auch die Europäische Union reagiert nicht so auf die Ölkatastrophe wie sie sollte. Kommissar Oettinger hat zwar ein Moratorium für neue Tiefsee-Ölbohrungen an- gekündigt. In einen Forderungskatalog hat es das Mora- torium jedoch nie geschafft. Es bedarf jedoch nicht nur eines Moratoriums für Tiefsee-Ölbohrungen, sondern auch eines hieb- und stichfesten Anforderungskatalogs zur Erteilung von Bohrgenehmigungen. Die bestehenden Zuständigkeits- und Gesetzeslücken bei den Sicherheits- und Haftungsfragen von Ölbohrungen in großen Mee- restiefen müssen geschlossen werden. Bis dahin rufen wir die betroffenen EU-Mitgliedstaaten dazu auf, neue Tiefseebohrungen auszusetzen. Wir brauchen Mechanis- men, die eine Katastrophe wie die im Golf von Mexiko zuverlässig verhindern. Zur Einhaltung gemeinsamer höchster Sicherheitsstandards sind eine bessere Zusam- menarbeit von nationalen Kontrollinstanzen in der EU sowie in den Nachbarstaaten notwendig. Das Mandat der Europäischen Agentur für Meeressicherheit, EMSA, muss entsprechend angepasst und auf Ölplattformen aus- geweitet werden. Auch muss national und auf EU-Ebene überprüft werden, ob das Unfall- und Katastrophenma- nagement gegen Ölunfälle noch effektiver gestaltet wer- den kann und alle denkbaren Gefahrenlagen umfasst. Doch wir brauchen nicht nur für europäische Gewäs- ser schärfere Vorschriften. Auch für die Tiefsee sind klare Spielregeln notwendig. In der Tiefsee besteht höchstwahrscheinlich die Gefahr, dass viele Arten vom Aussterben bedroht sind, obwohl sie von der Wissen- schaft noch gar nicht entdeckt wurden. Wir wissen bis heute sehr wenig über die Tiefsee, obwohl fast 70 Pro- zent der Erde von Ozeanen bedeckt sind. Vier Fünftel Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7819 (A) (C) (D)(B) davon sind tiefer als 1 000 Meter. So gesehen könnte man fast sagen, das wir auf dem „Planet Tiefsee“ leben. Die tiefste Stelle unter dem Meeresspiegel, die bis heute gemessen wurde, liegt auf unter 11 034 Meter, das Chal- lenger-Tief im Marianengraben. Ein imposantes Ge- birge, der Mittelozeanische Rücken, erstreckt sich über etwa 60 000 Kilometer durch die Tiefsee. Es sind unter- meerische Vulkanketten, aus deren Zentralspalten sich glühende basaltische Schmelze aus dem Erdmantel schiebt. Allein im Pazifik sind bislang 30 000 vulkani- sche Seeberge kartiert. Seeberge und Kaltwasserkoral- lenriffe gelten als besonders artenreiche Lebensräume. Doch wir wissen immer noch extrem wenig über die Ar- tenvielfalt und die Lebensräume dieser Unterwasserwelt. Die Tiefsee ist ein Erbe der Menschheit. Sie ist kein rechtsfreier Raum. In zähen Verhandlungen bei den Ver- einten Nationen einigte man sich schließlich auf das heute gültige Seerechtsübereinkommen. Es teilt zu- nächst die Ozeane in verschiedene Bereiche ein. Zwölf Seemeilen breit sind demnach die Küstenmeere, in de- nen nationales Recht verbindlich ist. Es folgen bis zu 188 Seemeilen an „ausschließlicher Wirtschaftzone“, in der dem jeweiligen Land vielfältige Nutzungsmöglich- keiten zustehen. Alles was außerhalb dieser Gebiete liegt, und damit auch große Teile der Tiefseeböden, wird in der Charta als „gemeinsames Erbe der Menschheit“ bezeichnet. Durch das Seerechtsübereinkommen wurden sowohl geltendes Seevölkerrecht kodifiziert als auch neue seevölkerrechtliche Normen geschaffen wie bei- spielsweise im Bereich des Meeresumweltschutzes. Sei es auf nationaler Ebene, sei es in europäischen oder internationalen Verhandlungen – Ziel muss sein, den Schutz der Tiefsee sicherzustellen und die Nutzung und Bewahrung der Meere wieder miteinander zu ver- binden. Ansonsten verspielen wir leichtfertig das ge- meinsame Erbe der Menschheit. Aufgabe der Politik ist hierbei, in einen engen Dialog mit den relevanten Akteu- ren zu treten und kurzfristiges Profitdenken durch lang- fristige Verantwortung abzulösen. Angelika Brunkhorst (FDP): Der Wettlauf um die Rohstoffe der Tiefsee wird nicht aufzuhalten sein. Da die klassischen Ölquellen nach und nach versiegen, werden zunehmend Ölvorkommen in unwägbareren Gebieten gesucht. Noch vor 20 oder 30 Jahren galt die Tiefsee als nicht erschließbar. Aufgrund des steigenden Ölpreis und der hohen Nachfrage nach Erdöl werden die Tiefseevor- kommen nun attraktiver. Unsere Industriestaaten hängen immer noch stark vom Erdöl ab. Öl bedeutet nicht nur Energie. Viele unse- rer modernen Produkte basieren auf dem Rohstoff. Die Palette reicht von EDV-Hardware bis hin zu kosmeti- schen und medizinischen Produkten. Zwar haben die westlichen Industriestaaten der OECD ihre Abhängigkeit von Rohöl seit den 70er-Jahren etwa halbiert. Schwel- lenländer hingegen wachsen mit einem enormen Ener- giehunger. Die Katastrophe im Golf von Mexiko hat uns jedoch aufgerüttelt. Die Gefahr der Verschmutzung des Meeres und besonders der Küstenzonen durch Öl ist ein großes Problem. Bedroht sind hierbei nicht nur die Natur mit ih- ren Ökosystemen, sondern auch Fischerei, Tourismus und Küstenschutz. Trotz der Risiken darf die Erdölför- derung in der Tiefsee nicht per se als unsicher erklärt werden. Wir können und müssen jedoch dazu beitragen, dass die Zukunft der Offshore-Ölförderung noch siche- rer gestaltet wird. So konnten beispielsweise seit den ersten großen Tankerunfällen sowohl in technischen als auch gesetzlichen Bereichen der Sicherheit deutliche Fortschritte erzielt werden. Die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko muss einen Wendepunkt markieren – so wie der Untergang des Öl- tankers „Exxon Valdez“ 1989 vor Alaska. Auch für die deutschen Küsten wäre eine Ölkatastrophe in der Nord- see bzw. Ostsee verheerend. Seit der Havarie des Holz- frachters „Pallas“ im Herbst 1998, der letzten großen Öl- katastrophe in der Nordsee, haben wir uns jedoch gut vorbereitet. Der Bund und die Küstenländer haben im Jahr 2003 das Havariekommando in Cuxhaven ins Leben gerufen. Dieses sorgt im Notfall für ein koordiniertes Unfallma- nagement und ist Tag und Nacht besetzt. Sollte es zu kleineren Ölunfällen kommen, sind die lokalen Behör- den in der Pflicht. Bei größeren Unfällen koordiniert ein Havariestab die Einsatzkräfte von Bund und Land. Ein solcher Einsatz wird von dem Havariekommando in re- gelmäßigen Abständen trainiert. Begleitend stehen Spe- zialschiffe bereit, die bei einer Ölpest eingesetzt werden können. Mit ihnen ist es möglich, Ölteppiche aufzusau- gen bzw. einzufangen. Mit all diesen Maßnahmen stehen wir im Vergleich zu den USA deutlich besser vorbereitet und ausgerüstet da. International werden wir jedoch darauf drängen, dass bei der Ölförderung in der Tiefsee die Sicherheitsvorkehrun- gen verbessert werden, damit sich ein solcher Unfall nicht noch einmal wiederholen kann. Eines ist jedoch klar: Eine Vergleichbarkeit der Ölför- derung in der Nordsee zum Golf von Mexiko ist nicht gegeben. In der Nordsee sind deutlich geringere Wasser- tiefen. Daher können die im Golf von Mexiko aufgetre- tenen Probleme in der Nordsee nicht auftreten. Ein even- tuelles Leck würde sofort durch Taucher abgedichtet werden. Schlussendlich kann dem Antrag der Grünen nicht zu- gestimmt werden, da bei einer vernünftigen Abwägung von Chancen der Tiefseeexploration – Öl und Rohstoffe – und notwendiger Regulation der Antrag der Grünen weit über das Ziel hinausschießt. Er zielt letztendlich auf ein Verbot unterseeischer Nutzung. Wir Liberalen wollen auch unseren kommenden Generationen die Chance las- sen, die Schätze des Meeres mit Maß und Vernunft nach- haltig zu nutzen. Sabine Stüber (DIE LINKE): Risiken und Gefahren für unsere Meere kommen aus allen Richtungen. Nähr- und Schadstoffe, Müllverkippung und maßlose Überfi- schung belasten die Meere weltweit. John Irving sieht das so: „Die Zukunft der Menschheit hängt nicht mehr 7820 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 (A) (C) (D)(B) davon ab, was sie tut, sondern mehr denn je davon, was sie unterläßt.“ Für unseren hemmungslosen Rohstoffverbrauch muss es auch das Erdöl aus der Tiefsee sein. Vielleicht sollte man das unterlassen, vor allem nach der Havarie im Golf von Mexiko. Am Bohrloch trat am 20. April Gas aus und explodierte, elf Menschen starben, und zwei Tage später ging die Plattform unter. Was keiner von uns zu diesem Zeitpunkt wusste: Es gibt keine Technik für den Super- gau. Das Öl floss über drei Monate ins Meer, bis das Bohrloch versiegelt war. Insgesamt traten etwa 780 Mil- lionen Liter Rohöl aus. Zusätzlich wurden Tausende Tonnen Chemikalien ins Meer gekippt, damit das Öl nicht an die Wasseroberfläche steigt und an Land ge- schwemmt wird. BP arbeitete, laut eigener Aussage, nach internationa- len technischen Standards. Was bedeutet das eigentlich? Das bedeutet: Wenn es eine Panne auf einer Ölplattform gibt, ein Fehler auftritt oder es geht etwas kaputt, kann beim Ölbohren in der Tiefsee überall das Gleiche wieder passieren. Und dann? Der Havariedienst kommt, zuckt mit den Schultern und fängt an auszuprobieren, was hel- fen könnte. Natürlich soll dieses Bild provozieren. Aber wer von uns würde mit einem Auto fahren, das keine Bremsen hat? Und jetzt wissen wir, dass es keine ausgereifte Technik für die Tiefsee gibt. Die falschen Angaben von BP zur Menge des ausgetretenen Öls, das Herunterspie- len der Gefahren bis hin zu gefälschten Fotos im Juli dieses Jahres für die Medien sprechen eine eindeutige Sprache. Hinzu kommt, dass damals interne Papiere des BP-Konzerns besagen, dass zur Abdichtung des Bohr- lochs, trotz der Bedenken von Experten, eine kosten- günstige Methode angewendet wurde. Wie kann man das Meer vor den Menschen retten? Die Frage wurde in der letzten Zeit öfter gestellt. Von den Öl-Konzernen ist in dieser Richtung nichts zu erwar- ten. Ganz offensichtlich sind klare gesetzliche Vorgaben und strenge Sicherheitsauflagen erforderlich – im eige- nen Land und international. Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ent- hält dringend notwendige Maßnahmen, wie die Klärung von Haftungsfragen, Notfallpläne, bis hin zu Meeres- schutzgebieten. Die Linke unterstützt den Antrag. Es geht um die Verhinderung von Ölkatastrophen im Meer. Vorsorge und Nachsorge sind verbindlich zu regeln. Vor allem muss erreicht werden, dass neue Tiefseebohrungen überhaupt erst wieder genehmigt werden, wenn eine Fördertechnik entwickelt ist, die den Austritt von Öl aus- schließt. Diese Forderung, wie auch die meisten ande- ren, sind nur im internationalen Kontext zu klären. Trotzdem oder gerade deswegen sollte Deutschland da- mit beginnen, die national möglichen Regelungen zu treffen. Das sind die richtigen Schlüsse aus dem Desas- ter im Golf von Mexiko. Zum Schluss möchte ich ihnen einen Satz von Willy Brandt mit auf den Heimweg geben: „Der beste Weg, die Zukunft vorauszusagen, ist, sie zu gestalten.“ Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Am Jahresende gibt es viele Fernsehsendungen, die das Jahr mit Rückblicken Revue passieren lassen. Ich er- spare mir die Polemik, wer dieses Mal der Verlierer des Jahres wird, obwohl ich da ein paar Vorschläge machen könnte. Erst dann wird wohl wieder vielen Verantwortlichen ins Bewusstsein rücken, was in diesem Jahr im Golf von Mexiko passiert ist: Monatelang mussten wir eine der größten – wenn nicht gar die größte – Ölkatastrophe der Geschichte sehen, live übertragen im Internet. Damals haben sich viele mit Versprechen und Beteue- rungen zu Wort gemeldet: Umweltminister Röttgen und Energiekommissar Oettinger standen ganz vorn mit der Forderung nach einem Moratorium für neue Ölbohrun- gen. Als es ernst wurde, fehlte jedoch der Umweltminis- ter bei der entscheidenden Konferenz. Die Briten schick- ten dagegen alles, was zur Verfügung stand. Das Ergebnis kennen wir: Ein Moratorium gibt es für Europa nicht. Ich frage mich, wie ernst der Minister seine An- kündigungen nimmt! Das Gegenteil einer vernünftigen Bestandsaufnahme ist nun der Fall – es geht einfach weiter mit den Ölboh- rungen in unseren Meeren. BP hat inzwischen sogar die Genehmigung erhalten, um vor Libyen in der Tiefsee zu bohren. Hier frage ich mich, wie das mit allen Berichten zusammenpasst, die wir inzwischen von der Katastrophe kennen: BP selbst und auch eine Kommission der US-Regierung haben zahlreiche Fehler festgestellt. Wenn man den Untersuchungsbericht von BP liest, fragt man sich, wie man überhaupt wieder einen Bohrer in die Tiefsee lassen kann: Hier ist die Rede von fehler- hafter Zementierung, nicht funktionstüchtigen Dichtun- gen, falsch interpretierten Druckproben oder einem nicht funktionierenden Ableitsystem. In aller Breite wird die Komplexität der Technik und Verantwortung geschil- dert. Ich bin für diesen Bericht außerordentlich dankbar. Er gibt uns vielfältige Informationen, wie riskant das Bohren nach Öl in großen Tiefen ist. Gleichzeitig bin ich ehrlich entsetzt, wie man jetzt – nach nicht einmal einem halbem Jahr – wieder mit dem Bohren beginnen kann. Ist mit einem Mal dieses komplexe Risiko kleiner ge- worden? Der Verdacht drängt sich auf, dass hier die Risiken eingepreist werden. Die Entschädigungszahlungen im Golf von Mexiko sind offensichtlich für einen Konzern dieser Größe tragbar. Und auch der Imageschaden wird mit der Zeit vergessen werden. Das ist es, worauf man hofft. Wir wollen und wir werden nicht vergessen und wir müssen national und international zu neuen Vereinbarun- gen kommen. Wir müssen aus dieser Katastrophe lernen. Noch immer sind die Regelungen für unsere Meere sehr schwammig. Deswegen müssen wir aktiv werden und zum Beispiel klare Haftungsregelungen für Schäden durch Ölplattformen schaffen. Es kann nicht sein, dass Fischer oder Gemeinden nach einer Ölkatastrophe erst nach jahrelangem Rechtsstreit zu ihrem Recht kommen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7821 (A) (C) (D)(B) und Geld für entstandene Schäden erhalten. Wir müssen deswegen national und international zu Vereinbarungen kommen. Wir müssen wissen, was zu tun ist, wenn zum Beispiel Öl aus britischen oder norwegischen Plattfor- men deutsche Küsten verschmutzt. Ölkatastrophen sind nur die eine Seite der Medaille. Der Golf von Mexiko muss für uns Anlass sein, weiter- zudenken. Denn in den Tiefen der Ozeane liegen viele andere Rohstoffe, die Begehrlichkeiten wecken. Wenn wir hier keine Regeln schaffen, gewinnt der, der zuerst in diese Tiefen vorstoßen kann. Deswegen müssen wir heute diskutieren, wem die Ozeane gehören und wie wir diese einzigartigen Lebensräume erhalten. Noch haben wir die Möglichkeit, hier an Regeln mitzuarbeiten. Diese Chance müssen wir nutzen. Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Unterrichtung: Bericht über den Stand des Ausbaus für ein bedarfsgerechtes Angebot an Kindertagesbetreuung für Kinder unter drei Jahren für das Berichtsjahr 2009 (Ers- ter Zwischenbericht zur Evaluation des Kin- derförderungsgesetzes) – Antrag: Faire Teilhabechancen von Anfang an – Frühkindliche Betreuung und Bildung fördern (Tagesordnungspunkt 17, Zusatztagesordnungs- punkt 5) Dorothee Bär (CDU/CSU): Im September 2008 hat die damalige Familienministerin Ursula von der Leyen bei der Verabschiedung des Kinderförderungsgesetzes gesagt: Das Kinderförderungsgesetz wird unser Land spür- bar verändern. Es setzt Meilensteine für mehr Ver- einbarkeit von Familie und Beruf, für mehr Bildung für unsere Kinder und für mehr Zukunft in unserem Land. Und der bislang zurückgelegte Weg zeigt, dass sie mit dieser Einschätzung richtig lag. Wir haben damals gewusst, dass auf Bund, Länder und Gemeinden ein ehrgeiziger Arbeitsplan wartet, wenn wir bis 2013 für circa 35 Prozent der unter Drei- jährigen einen Betreuungsplatz – entweder in der Tages- pflege oder in Kindertagesstätten – zur Verfügung stellen wollen. Aber wir sind nach einer gemeinsamen Kraftan- strengung ein gutes Stück vorangekommen. Die Finanzierung und die Bedarfsplanung der Kinder- betreuung fallen im föderalen System der Bundesrepu- blik eigentlich in die Zuständigkeit der Länder und Kommunen. Doch wegen der großen gesamtgesell- schaftlichen Bedeutung hat sich der Bund bereit erklärt, Länder und Kommunen beim massiven Ausbau der Be- treuungsplätze für die Kleinsten zu unterstützen. Der Bund beteiligt sich an den Kosten des Ausbaus bis zum Jahr 2013 zu einem Drittel mit insgesamt 4 Mil- liarden Euro – 2,15 Milliarden Euro für die Investitions- und 1,85 Milliarden Euro für die Betriebskosten. Ab dem Jahr 2014 unterstützt er die Länder dann mit jähr- lich 770 Millionen Euro bei der Finanzierung der Be- triebskosten – und damit bei der Steigerung der Qualität. Mit dem Geld investieren wir nicht nur in die frühe Bildung aller Kinder, sondern auch in die echte Wahl- freiheit der Eltern: Bis heute haben – vor allem in vielen Bundesländern in Westdeutschland – Eltern kleiner Kin- der keine tatsächliche Wahlfreiheit: Da es an vielen Or- ten immer noch kein bedarfsdeckendes Angebot an Be- treuungsplätzen gibt, stehen die Eltern oft gar nicht vor der Wahl „Familie und Beruf“ oder „Familie oder Be- ruf“. Für viele Paare gibt es nur ein Entweder-oder. Der erste Evaluationsbericht zum KiföG, den wir heute diskutieren, zeigt, dass zwar alle Bundesländer die Ver- sorgungsquote im Vergleich zum Vorjahr verbessert ha- ben: Im März 2009 wurden immerhin bereits 20 Prozent der unter dreijährigen Kinder in ganz Deutschland in Kin- dertageseinrichtungen oder in der Kindertagespflege be- treut. Doch der Bericht zeigt auch, dass viele – vor allem westdeutsche – Bundesländer ihre Anstrengungen erheb- lich steigern müssen, damit das Ausbauziel erreicht wer- den kann. Dass es auch anders geht, zeigt das Beispiel des Frei- staates Bayern. Dort wird das angestrebte Ausbauziel bereits 2012 erreicht. Anders als andere Länder schöpft der Freistaat Bayern die Mittel des Bundes voll aus und legt noch Geld drauf, um ohne Deckelung fördern zu können. Kein anderes Bundesland hat den Kommunen bisher so viele Mittel bewilligt wie Bayern. Nur wenn wir ein bedarfsgerechtes Angebot an Be- treuungsplätzen aufbauen, werden alle Eltern, die das wünschen, einen Kinderbetreuungsplatz in Anspruch nehmen können. Dann haben alle Eltern wirkliche Wahl- freiheit. Echte Wahlfreiheit heißt für mich auch: Es liegt alleine im Ermessen der Eltern, wo und wie sie ihre Kin- der betreuen: zu Hause, zu Hause und auch in der Kita, überwiegend in der Kita oder in der Kindertagespflege. Um den Wünschen vieler Eltern nach einer familien- nahen Betreuung zu entsprechen, streben wir an, ein Drittel der Betreuungsplätze in der Tagespflege anbieten zu können. Wir haben bereits viel dafür getan, den Beruf der Tagesmutter oder des Tagesvaters attraktiver zu ge- stalten. Zur Steigerung der Qualität hat auch das „Ak- tionsprogramm Kindertagespflege“ beigetragen. Für Union und FDP – das haben wir auch in unserem Antrag herausgestellt – haben nicht Kita oder Schule den stärksten Einfluss auf die Erziehung und Bildung der Kinder, sondern die Eltern. Kompetente Eltern können das, was in Kinderbetreuungseinrichtungen vermittelt wird, mindestens ebenso gut leisten. Die Grundlagen für soziale Kompetenzen und Bildungsfähigkeit werden in der Familie gelegt. Noch so gute Bildungsangebote in den Betreuungseinrichtungen sind wirkungslos, wenn sie nicht auf fruchtbaren Boden fallen. Die eigenen El- tern sind die besten Experten für ihr Kind, und da, wo sie 7822 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 (A) (C) (D)(B) es objektiv nicht sind, müssen wir ihnen auf dem Weg zu ihrem Kind helfen, ohne sie von ihrer Elternrolle selbst auszuschließen. Das heißt – und das haben wir auch in unserem Antrag formuliert: Wenn Eltern Begleitung und Unterstützung brauchen, weil sie verunsichert oder tem- porär überfordert sind mit der Erziehung ihrer Kinder, müssen wir sie stärken, statt als Staat selbst die Rolle der Eltern übernehmen zu wollen. Wir brauchen vielmehr niedrigschwellige Angebote zur Vermittlung von Erzie- hungskompetenz, die die Eigenverantwortung der Eltern stärken, ihnen Erziehungssicherheit vermitteln und Überforderungen abbauen. Das ist für mich auch ein ganz wichtiger Punkt der neuen Qualifizierungsoffen- sive „Frühe Chancen“ des BMFSFJ: In den 4 000 Schwerpunkt-Kitas soll nicht nur die Sprache und die In- tegration gefördert werden, sondern in örtlicher Nähe zu diesen Kitas werden haupt- und ehrenamtliche Elternbe- gleiter aufsuchende Hilfen für Familien anbieten. Wenn Kindertagesstätten die Erziehung der Eltern ergänzen sollen, müssen wir dafür sorgen, dass sie qualitativ hoch- wertig sind. Eltern möchten und müssen auch die Ge- wissheit haben, dass ihre Kinder in der Kindertagesstätte und auch bei Tagespflegepersonen gut betreut und geför- dert werden. Wir wollen die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass sich Eltern und Kinderbetreuungseinrich- tungen als Partner verstehen, die gemeinsam durch eine gute frühkindliche Förderung die Bildungs- und Teilha- bechancen der Kinder verbessern. Lassen Sie uns ge- meinsam daran arbeiten. Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): Die zentrale Bedeutung der frühkindlichen Förderung ist un- bestritten. Diese wird durch zahlreiche allgemein be- kannte Studien belegt. Von der frühkindlichen Erziehung und Bildung wird es also im Wesentlichen abhängen, ob die heranwachsenden Generationen den Herausforderun- gen und Belastungen der Welt von morgen gewachsen sein werden, betont der renommierte Entwicklungspsy- chologe Professor Wassilios Fthenakis. Deshalb ist die Förderung von Anfang an für uns unabdingbar und hat sowohl in der Familien- als auch der Bildungspolitik oberste Priorität. Die frühkindliche Förderung beginnt in der Familie, in der erste grundlegende Kenntnisse und Fähigkeiten vermittelt und gestärkt werden. Viele Eltern erfüllen die- sen Erziehungsauftrag kompetent. Nicht wenige benöti- gen jedoch ergänzende Unterstützung, wenn es darum geht, berufliches Fortkommen und Familie in Einklang zu bringen. Ihnen soll ein Betreuungsangebot eröffnet werden, ebenso aber auch denjenigen Eltern, die mit der Förderung ihrer Kinder zuweilen überfordert sind. Um nunmehr den Zugang für möglichst alle Kinder zu Betreuungseinrichtungen zu ermöglichen, haben Bund, Länder und Kommunen vor drei Jahren den mas- siven Ausbau der Betreuungsplätze beschlossen. Dass die vorhandene Struktur der Kindertagesstätten in Deutschland zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf beträgt, bestätigte die OECD, indem sie ausdrücklich den Dreiklang von Bildung, Betreuung und Erziehung in den Kindertagesstätten in Deutschland lobt. Die Erfolge, die die CDU-geführte Große Koalition bei dem Ausbau der Kinderbetreuung bis zum Jahr 2009 herbeigeführt hat, sprechen für sich: 130 000 neue Ange- bote entstanden im Bereich der Kinderbetreuung, davon 102 000 in Einrichtungen und rund 28 000 in der Tages- pflege. Die Betreuungsquote stieg bundesweit von durchschnittlich 13,5 Prozent auf 20,4 Prozent. Bis 2013 soll die Zielquote von 35 Prozent erreicht werden. An den Kosten des Ausbaus beteiligt sich der Bund bis da- hin zu einem Drittel in Höhe von Milliarden Euro. Ab 2014 unterstützt er die Länder darüber hinaus mit 770 Millionen Euro zusätzlich für die Betriebskosten. Darüber hinaus fließen Mittel in Projekte der Weiterbil- dung, Qualifizierung, Bildungsforschung und Evaluie- rung. Der Bund hat seine Hausaufgaben gemacht, die Län- der und Kommunen sind nun am Zug. Der Stand des Ausbaus ist jedoch in den Ländern sehr unterschiedlich. Die Bertelsmann-Stiftung stellte im „Ländermonitor Frühkindliche Bildung 2010“ fest, dass in der Höhe der Investitionen für frühkindliche Bildung eine große Lü- cke zwischen den einzelnen Ländern klafft. Hamburg ist das Land, das mit am meisten für die frühkindliche Bil- dung ausgibt. Damit ist die CDU-geführte Hansestadt eine gute Adresse, was die aktuellen Entwicklungen in der Kita-Politik angeht. Trotz eines strengen Konsolidie- rungskurses wurden die Kosten für die Kinderbetreuung nicht gekürzt oder eingefroren, nein ganz im Gegenteil: Sie stiegen um 10 Prozent von 411 Millionen Euro im Jahr 2008 auf knapp 460 Millionen Euro im vergange- nen Jahr. Im Jahr 2001 waren es noch 298 Millionen Euro – als Hamburg übrigens von der SPD regiert wurde. Derzeit liegt die Quote im Krippenbereich bei 27,3 Prozent. Das SPD-regierte Rheinland-Pfalz als Ver- gleich erreicht im Moment nur eine Betreuungsquote von 17,6 Prozent. Für die Zielquote von 32 Prozent muss das Land seine Anstrengungen also nahezu verdoppeln. So wie die Länder und Kommunen gemeinsam mit dem Bund bisher den quantitativen Ausbau vorangetrie- ben haben, setzen wir in Zukunft verstärkt auf den quali- tativen Durchbruch, da sich Kindertagesstätten längst als Bildungsorte etabliert haben. Aus diesem Grund fokus- sieren sich die aktuellen Anstrengungen auf die Erfül- lung des Bildungsauftrags, verbunden mit einem starken qualitativen Ausbau der Kinderbetreuung. Wir setzen daher verstärkt und gezielt auf eine Qualitätsinitiative, das heißt auf die Verbesserung der Ausbildung des päda- gogischen Personals, die Verbesserung der Betreuungs- relationen sowie der Bildungsinhalte und eine bestmög- liche Standardisierung in Kooperation aller Beteiligter. Dabei wollen wir die Länder mit allen Kräften unterstüt- zen. Dazu zählen unter anderem Bindungs- und Bil- dungsforschung, Bildungspartnerschaften zwischen Bund, Ländern und Kommunen, vor allem auch die Stärkung der Dynamik beim Ausbau und die Verbesserung der Personaleinsatzschlüssel. Darüber hinaus erachten wir angesichts der Vielfalt der Kinderbetreuungseinrichtun- gen freiwillige Zertifizierungen mit Blick auf die Quali- tät der Einrichtung als sehr sinnvoll. Die bisherigen Maßnahmen zeigen, dass der Bund je- derzeit bereit ist, in Kooperation mit den Ländern ge- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7823 (A) (C) (D)(B) meinsame Strategien zu entwickeln, die den Bildungs- auftrag umsetzen und den Ausbau noch schneller vorantreiben. Die Eltern unterstützt der Bund mit zahl- reichen Projekten wie dem „Familienwegweiser“, dem „Kompass Erziehung“, den Elternbriefen, Elternkursen und Telefonberatungen – durch praktische Begleitung in den ersten Lebensjahren. Zur Verbesserung der Qualität der frühkindlichen Betreuung startete im Januar 2009 unter anderem die „Weiterbildungsinitiative Frühpäda- gogische Fachkräfte“ (WiFF) des Bundesministeriums für Bildung und Forschung. Diese dient der Verbesse- rung von Qualität, Transparenz und Durchlässigkeit des Systems der Weiterbildung für die bereits tätigen Fach- kräfte. Das Programm bietet Erkenntnisse aus der Prä- ventionsforschung für Erzieherinnen und Erzieher. Zu- sätzlich fördert der Bund begleitend bis 2014 ein Projekt, um zu erforschen, welche Qualitätsanforderun- gen im Arbeitsfeld von Kindertageseinrichtungen und zur Ausbildung frühpädagogischer Fachkräfte bestehen. Um gerade Männer zu gewinnen, startete in diesem Jahr das Programm „Mehr Männer in Kitas“. Damit sollen auch Männer in ihrer Vorbildfunktion für die persönliche Entwicklung zur Komplettierung der pädagogischen Konzepte beitragen. Ebenso fördert der Bund seit sieben Jahren gezielt die Forschung im Bereich Sprachdiagnostik und Sprachför- derung und entwickelt gemeinsam mit den Ländern Maßnahmen für Sprachtests, Qualifizierung von Erzie- hern sowie für die Unterstützung der Eltern. In den nächsten vier Jahren werden zusätzlich rund 400 Millionen Euro in die frühkindliche Bildung inves- tiert. Dieses Geld wird für zusätzliches qualifiziertes Personal, insbesondere zur Integrations- und Sprachför- derung, eingesetzt. Die Mittel fließen in circa 4 000 Schwerpunkt-Kitas und sollen vor allem in sozialen Brennpunkten dazu beitragen, faire Chancen für alle Kinder zu schaffen. Der Bund will und wird die Länder und Kommunen auch weiter darin unterstützen, bedarfsgerechte Ausbau- konzepte zu entwickeln, die den qualitativen und quanti- tativen Anforderungen gerecht werden. Und das – und das gilt es noch einmal zu betonen –, weil er die Wich- tigkeit erkannt hat und mit den richtigen, zielgerichteten Maßnahmen fördert. Es geht einzig und allein um das Ziel, bestmögliche Betreuung und Bildung zu erzielen für die wichtigste Ressource, die Deutschland besitzt: unsere Kinder. Marlene Rupprecht (Tuchenbach) (SPD): Es freut mich, dass die Familienministerin ihre Pressemitteilung zu den neuen Zahlen des Statistischen Bundesamtes mit der Überschrift „Der Ausbau der Kinderbetreuung muss noch weiter an Dynamik gewinnen“ versieht. In der Tat: Ihre Appelle an die Länder, den Ausbau der Kinderbe- treuung zu beschleunigen, reichen nicht. Sie müssen endlich einen neuen Krippengipfel einberufen. 23,1 Prozent der Kinder unter drei Jahren nehmen ak- tuell Angebote der frühkindlichen Bildung und Betreu- ung in Anspruch. Zwar konnten 55 000 zusätzliche Plätze innerhalb eines Jahres geschaffen werden, doch nach wie vor ist die Betreuungsquote in den meisten westdeutschen Ländern nicht zufriedenstellend. Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, fordern die Frau Ministerin seit Monaten auf, eine aktuelle ehrliche Be- darfsanalyse vorzulegen. Wenn wir den Rechtsanspruch 2013 wirklich umsetzen wollen – und das wollen wir – brauchen wir genauere Zahlen von den Eltern, wie hoch der tatsächliche aktuelle Bedarf ist. Deshalb fordern wir eine jährliche unabhängige Bedarfsanalyse zur Feststel- lung des Bedarfs an frühkindlichen Bildungs- und Be- treuungsangeboten. Seit Monaten fordern wir die Regierung auch auf, sich erneut mit Ländern und Kommunen an den Ver- handlungstisch zu setzen. Die Bundesregierung darf die Hilferufe der Kommunen nicht länger ignorieren. Die den Kommunen durch das sogenannte Wachstumsbe- schleunigungsgesetz entstandenen Einnahmeausfälle von 1,6 Milliarden Euro jährlich müssen vollständig kompensiert werden, und weitere Belastungen durch die verfehlte Steuerpolitik der Regierung müssen verhindert werden. Spannen Sie lieber mit uns den Rettungsschirm für die Kommunen, statt sie weiter im Regen stehen zu lassen. Es ist schön, dass die Koalition mit ihrem Antrag, den wir heute debattieren, im Wesentlichen den SPD-Antrag „Frühkindliche Bildung und Betreuung verbessern – Für Chancengleichheit und Inklusion von Anfang an“ vom Juni dieses Jahres nachahmt. Doch leider bleibt er hinter unserem Antrag zurück. Das Konzept der Inklusion soll nach unserer Vorstel- lung grundlegend für das Bildungssystem für alle Kinder von Anfang an sein. Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen fordert ein inklusives Bildungssys- tem für alle Kinder. Der inklusive Ansatz geht dabei weiter als der integrative. Es geht nicht darum, Kinder mit Behinderungen in Klassen oder Gruppen mit über- wiegend nichtbehinderten Kindern einzugliedern. Es geht vielmehr darum, dass alle Kinder, Kinder mit und ohne Behinderungen, deutsche Kinder und Kinder mit Migrationshintergrund sowie Kinder aus allen sozialen Schichten, selbstverständlich gemeinsam unterrichtet und betreut werden. Inklusive Bildung heißt konkret: Alle Kinder werden in allgemeinbildenden Kindertages- einrichtungen und Schulen in heterogenen Lerngruppen den eigenen Fähigkeiten entsprechend gefördert. Die er- forderliche individuelle Unterstützung wird durch die Bildungseinrichtung zum Kind gebracht. Das System passt sich so dem Menschen an, nicht der Mensch dem System. Wenn es jetzt in dem Antrag von CDU und FDP heißt, Kinder mit Behinderung seien „nach Möglichkeit“ in Kindertagesstätten zu fördern, dann haben die Koali- tionsparteien das Konzept Inklusion entweder nicht ver- standen oder wollen Inklusion nicht. Auf jeden Fall blei- ben sie hinter den Forderungen der UN-Behinderten- rechtskonvention und der pädagogischen Fachleute zu- rück. 7824 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 (A) (C) (D)(B) Der Antrag der Regierungskoalition spricht auch von besserer Qualität bei der Betreuung, bleibt aber vage, wie dies zu erreichen ist. Wir wollen eine Fachkräfteof- fensive. In Zusammenarbeit mit den Ländern müssen die Aus-, Fort- und Weiterbildung von pädagogischen Fach- kräften gefördert und mehr Fachkräfte für den vorschuli- schen Bereich gewonnen werden. Ein Schwerpunkt un- serer Fachkräfteoffensive ist die Gewinnung von deutlich mehr männlichen Erziehern. Die Vermittlung von bereits ausgebildeten Fachkräften auf offene Stellen muss zügig erfolgen, der Betreuungsschlüssel in Tages- einrichtungen für Kinder verbessert und die bedarfsge- rechte und intensivierte Sprachförderung flächende- ckend sichergestellt werden. Noch ein Wort zum Betreuungsgeld: Das Betreuungs- geld schafft falsche Anreize, indem es den Verzicht auf frühkindliche Bildungsangebote fördert. Alle Fachleute quer durch die Parteien halten es für kontraproduktiv. Ich erinnere da nur an die frühere Familienministerin von der Leyen, die das Betreuungsgeld „eine bildungs- politische Katastrophe“ nannte. Dennoch fehlt der Ver- zicht auf die gesetzliche Umsetzung des Betreuungsgel- des in dem Antrag, und wir müssen leider davon ausgehen, dass die Regierung weiterhin daran festhält. Noch einmal appelliere ich an die Regierung: Führen Sie das Betreuungsgeld nicht ein, und fördern Sie stattdes- sen den Ausbau der frühkindlichen Bildungsinfrastruk- tur. Miriam Gruß (FDP): Lassen Sie mich beginnen mit der wichtigsten Aussage des ersten Zwischenberichts zur Evaluation des Kinderförderungsgesetzes: Die Befra- gung der Jugendämter hat ergeben, dass die heutigen Planungen zum Ausbau der Betreuung zur Einhaltung des 35-Prozent-Zieles im Jahr 2013 führen werden. Sie sehen: Diese Regierung erreicht, was sie sich vorgenom- men hat. Wir setzen konkrete Maßnahmen wie den Aus- bau der Kindertagesbetreuung zur besseren Vereinbar- keit von Familie und Beruf für alle Eltern um. Der Bericht zeigt auch, dass der Betreuungsbedarf ab Vollendung des zweiten Lebensjahres am größten ist: In Deutschland werden fast 40 Prozent der Zweijährigen außerhalb der Familie betreut. Hier wird deutlich: Der Bedarf, auf den wir uns vorbereiten, ist da. Wir sorgen nun dafür, dass er auch bedient wird. Laut einer Studie, die das Statistische Bundesamt diese Woche zur Kinderbetreuung vorgestellt hat, steigt die Zahl der Kinder unter drei Jahren in Kindertagesbe- treuung weiter an. Das sind gute Nachrichten, und das zeigt, dass die Entscheidung der christlich-liberalen Ko- alition, am Betreuungsanspruch für die unter Dreijähri- gen bis 2013 festzuhalten, richtig ist. Bei allen Bemühungen zum quantitativen Ausbau ist für uns aber auch die Qualität der Betreuung von ent- scheidender Bedeutung; denn Eltern wollen ihre Kinder nicht nur verwahrt, sondern bestens versorgt wissen. Die Vernetzung von Kindertageseinrichtungen und ihr Aus- bau mit anderen familienunterstützenden Angeboten zu sogenannten Familienzentren sind hier ein sehr guter Ansatz, den wir weiter fördern werden. Diese Regierung hat ihre Prioritäten bei der Familien- förderung richtig gesetzt: Gespart werden muss überall, auch in der Familienpolitik. Das sind wir zukünftigen Generationen schuldig. Aber bei Investitionen in Bil- dung und Betreuung und damit Investitionen in das Po- tenzial und in die Zukunft unserer Kinder wird nicht ge- spart. Hier fördern wir die frühkindliche Bildung zusätzlich, und zwar genau da, wo es ganz besonders notwendig ist, wie bei der Sprachförderung in Schwer- punktkitas. In unserem heute vorgelegten Antrag konzentrieren wir uns noch einmal ganz bewusst auf die Rolle von Kindertageseinrichtungen als frühkindliche Bildungsein- richtungen; denn frühkindliche Bildung ermöglicht Chancengerechtigkeit für alle Kinder von Anfang an, und das ist Schwerpunkt einer christlich-liberalen Fami- lienpolitik. Dabei ist es wichtig, zu betonen: Die Familie legt den Grundstein für die frühe Entwicklung der Kin- der. Stabile Bindungen und ein vertrauensvolles Mitei- nander sind unersetzlich; dadurch können Kinder sich zu starken Persönlichkeiten entwickeln. Wir wollen deshalb den Eltern in den entscheidenden Phasen vor und nach der Geburt die Begleitung und Unterstützung geben, die sie benötigen. Durch niedrigschwellige Angebote der Familienberatung und -bildung wie den Einsatz von Fa- milienhebammen können Eltern in ihrer Erziehungs- kompetenz gestärkt werden und praktische Hilfen für den Umgang mit neuen Situationen vermittelt bekom- men. Die zentrale Bedeutung der ersten Lebensjahre für die körperliche und geistige Entwicklung der Kinder wird durch die aktuelle Entwicklungsforschung belegt. Früh- kindliche Bildungs- und Betreuungsangebote müssen also auch qualitativ so gut aufgestellt sein, dass sie der Wichtigkeit der ersten Lebensjahre angemessen sind. Es braucht individuelle Förderung, um Begabungen und Ta- lente bereits im frühen Alter zu fördern und zu unterstüt- zen. So kann ein besonderer Förderbedarf frühzeitig er- kannt und darauf gezielt eingegangen werden. Die Fachkraft-Kind-Relation stellt jedoch bundesweit nach wie vor eine Herausforderung dar. Durch den steigenden Ausbau der Kinderbetreuung wächst natürlich auch der Bedarf an pädagogischem Per- sonal. Wir wollen daher mehr Erzieherinnen, vor allem aber auch mehr männliche Erzieher einstellen. Das Mo- dellprojekt „MEHR Männer in Kitas“ ist ein Schritt in diese Richtung. Auch hier achten wir aber nicht nur auf Quantität, sondern verstärkt auch auf Qualität beim Er- zieherpersonal. Wir werden das Ausbildungsniveau stei- gern und Aus- und Weiterbildungsangebote ausbauen. Durch die Qualifizierungsoffensive „Frühe Chancen“, die die christliche-liberale Koalition auf den Weg ge- bracht hat, sollen außerdem Kindertagesstätten mit be- sonderem Bedarf an Sprachförderung eine zusätzliche Fachkraft zur Verfügung gestellt bekommen. Diese Fachkraft kann somit ganz gezielt auf die Sprachent- wicklung der Kinder und bestehenden Förderbedarf ein- gehen. Auch Kinder mit Behinderungen gilt es in Kinderta- gesstätten frühkindlich zu fördern. Die Ergebnisse des Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7825 (A) (C) (D)(B) 13. Kinder- und Jugendberichts machen deutlich: Eine kompetenzengerechte Förderung von Kindern mit Be- hinderungen in einer frühen Altersphase verbessert Chancen für die spätere Entwicklung. Wir werden ge- meinsam mit den Ländern Inklusionsstrategien bei Bil- dung und Betreuung für Kinder mit Behinderungen ent- wickeln und auch die allgemeine Gesundheitsförderung stärker in den Betreuungsalltag einbeziehen. Wir sind auf einem guten Weg, was den Ausbau der Kindertagesbetreuung betrifft, sowohl quantitativ als auch qualitativ. Unsere Zusage gilt: Diese Regierung wird sich gemeinsam mit den Ländern und den Kommu- nen auch in Zukunft für mehr Betreuungsplätze, mehr Qualität und die Erweiterung von frühkindlichen Bil- dungsangeboten einsetzen. Diana Golze (DIE LINKE): Der vorgelegte Bericht zum Erreichen der Ziele des Kinderförderungsgesetzes zeichnet im Großen und Ganzen ein realistisches Bild der Situation im Bereich des Ausbaus der Kindertages- betreuung. Doch aus unserer Sicht ist dies kein Grund, den derzeitigen Stand des Ausbaus der Kinderbetreuung in der Bundesrepublik zu feiern oder hochzujubeln. Viel- mehr erscheinen uns die lobenden Töne von der Regie- rungsbank und aus den sie tragenden Fraktionen als Schönfärberei und Verklärung der tatsächlichen Situa- tion. Dies wird zum Beispiel daran deutlich, dass der Be- richt auf das sehr unterschiedliche Niveau in Ost und West hinweist bzw. auf das immer noch zu geringe Aus- bautempo in den alten Bundesländern. Auch wenn in den letzten Tagen häufiger über eine positive Entwick- lung zu lesen war, bleibt es ein Fakt, dass der auch im Antrag der CDU/CSU-Fraktion gefeierte Anstieg der Betreuungsquote von bundesweit durchschnittlich 13,6 Pro- zent auf 20,4 Prozent noch immer auf das vergleichs- weise hohe Platzangebot in den neuen Bundesländern zurückzuführen ist. Hier möchte ich die Betreuungssituation von Kindern mit Migrationshintergrund hervorheben. Diese ist mit 9 Prozent der unter Dreijährigen in Westdeutschland und mit 16 Prozent in Ostdeutschland sehr niedrig; und dies, obwohl gerade in dieser Phase das Erwerben von sprach- lichen Fähigkeiten sehr wichtig ist, eine Frage, die auch im vorliegenden Antrag aufgeworfen wird. Es ist also dringend geboten, hier politische Mittel zu finden, um diese Kinder besser einzubinden bzw. den Familien ent- sprechende Angebote zu machen. Doch diese fehlen an allen notwendigen Stellen. Ja, wir haben zur Kenntnis genommen, dass das Fa- milienministerium in den kommenden Jahren insgesamt rund 400 Millionen Euro zusätzlich in die Verbesserung der Qualität der frühkindlichen Bildung investieren will. Das klingt schön – aber nur so lange, wie man die Reali- täten in puncto Ausbau von Kindertagesbetreuung aus- blendet, wie es die Bundesregierung nun schon seit eini- gen Jahren und auch weiterhin tut. Denn diese Mittel sind erstens auf mehrere Jahre aufgesplittet, werden zweitens gleich für mehrere Förderbereiche ausgeschrie- ben und wirken somit drittens wie ein Universalheilmit- tel aus dem Billigladen. Mal ist es die Gewinnung von jungen Männern für den Erzieherberuf, dann sind es die Kinder aus bildungsfernen Schichten, dann wieder Kin- der mit Migrationshintergrund. Und weil man das Ganze am ehesten in sozialen Brennpunkten findet, werden die gleich als Zielort des Programmes festgemacht. Genau diese Projektpolitik, die schon Ursula von der Leyen zur Maxime des Familienministeriums gemacht hat, wird nicht zur Lösung des Problems führen. Dies reicht bes- tenfalls für eine positive Pressemitteilung – gegen die wirklichen Probleme hilft es nicht. Es täuscht darüber hinweg, dass es die Elternbeiträge sind, die Familien mit keinem oder geringem Einkom- men davon abhalten, ihre Kinder in einer Kita betreuen zu lassen. Hierzu schweigen sowohl der vorliegende An- trag als auch der Bericht der Bundesregierung – und dies, obwohl genau diese Frage immense Auswirkungen darauf hat, ob Kinder aus einkommensschwachen Fami- lien in den Genuss von frühkindlicher Bildung kommen. Der Bericht zeichnet zwar ein kritisches Bild des der- zeitigen Standes des Ausbaus, stellt das Erreichen des Zieles aber nicht infrage; aus meiner Sicht eine sehr mu- tige These, betrachtet man die Menge der notwendigen zu schaffenden Plätze und das derzeitige Niveau, vor al- lem in den westdeutschen Bundesländern. Dort müsste man in den nächsten Jahren die Platzzahlen nur für das Erreichen der 35-Prozent-Marke mindestens verdoppeln. Zahlreiche Umfragen in den Ländern deuten sogar da- rauf hin, dass mehr als die Hälfte der Eltern ihre Kinder in eine Tagesstätte bringen würden – wenn es denn ge- nug Plätze gäbe. Die Mittel in den Ländern und in den Kommunen aber sind knapper denn je. Was sich dazu im Antrag der CDU/CSU findet, ist nichts anderes als die Wiederholung der fast unver- schämten Forderung, die Länder müssten sich nur ein wenig mehr anstrengen, mehr finanzielle Mittel in die Hand nehmen, um „die Vernetzung eines breiten und fle- xiblen Angebots von Kindertagesbetreuungsangeboten und anderen familienunterstützenden Angeboten im Sinne von Familienzentren auszubauen“, während Sie sich auf ein Engagement im Rahmen der finanziellen Mittel des Bundes zurückziehen. Mit Ihrem Antrag machen Sie deutlich, dass Sie auch in Zukunft immer mehr Aufgaben auf die Länder und Kommunen abschieben werden, ohne dafür den notwen- digen finanziellen Ausgleich zu schaffen. Dafür gibt es dann Alibiprogramme wie das vorhin erwähnte Päckchen für soziale Brennpunkte. Ob dies allerdings Bürgermeis- tern, wie dem der Stadt Meerbusch, weiterhelfen wird, ist fraglich. Diesem Bürgermeister fehlt es nicht an Engage- ment, auch nicht in puncto finanzieller Eigenbeteiligung seiner Stadt, ihm fehlen die Mittel, die aufgrund eines Förderstopps nicht fließen werden! Diese Situation wird nicht aufgelöst, indem die CDU/CSU-Fraktion deutlich macht, dass sie genau weiß, was die Länder und Kommu- nen eigentlich alles machen müssten – und vor allem wo. Die Linke fordert seit langem, dass der Bund sich endlich dauerhaft und in größerem Umfang als bisher an der Fi- nanzierung der Kindertagesbetreuung beteiligen muss. Er darf Länder und Kommunen mit dieser Aufgabe nicht 7826 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 (A) (C) (D)(B) länger allein lassen: weder mit der zahlenmäßigen Auf- stockung der Betreuungsplätze noch mit dem zukünftig fehlenden Personal noch mit dessen Qualifizierung. Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der KiFöG-Zwischenbericht und auch der von den Regie- rungsfraktionen vorgelegte Antrag sind leider keine Gründe, Sektkorken knallen zu lassen. Ich möchte zunächst etwas zur Zahl 35 sagen. Sie ist ja mittlerweile im Zusammenhang mit dem Kita-Ausbau fast zu einer magischen Zahl geworden. Wir sollten sie von zwei Seiten betrachten: Erstens. Kann der Ausbau auf 35 Prozent bis 2013 ge- schafft werden? Die Ministerin hat in ihrer gestrigen Pressemitteilung selbst die Antwort gegeben: „Der Aus- bau der Kinderbetreuung muss noch weiter an Dynamik gewinnen.“ Sonst klappt es offensichtlich nicht. Sie appelliert insbesondere an die Länder, ihre Finanzie- rungszusagen wahrzumachen. Ich nehme einmal NRW. In NRW hatte die ehemalige schwarz-gelbe Landesre- gierung die Mittel, die über Neuverteilung der Umsatz- steuer für die Betriebskosten in den Kitas zur Verfügung gestellt werden, komplett im Landeshaushalt versickern lassen. So hat sie den Kitas in den letzten Jahren circa 70 Millionen Euro gestohlen. Ich habe die Bundesregie- rung mehrfach gefragt, wie sie sicherstellt, dass die Mit- tel auch zweckgebunden in den Kitas ankommen, aber die Regierung hat nur den Kopf in den Sand gesteckt. Jetzt soll es – endlich – ein Gutachten zur Frage der Ver- wendung der Mittel geben; wir können gespannt sein. In NRW korrigiert jetzt Rot-Grün die Absahnerpolitik der vorherigen Regierung. Und CDU und FDP sind sich nicht zu blöde, in diesem Zusammenhang „Neuverschul- dung“ zu schreien. Zweitens. Ist der Bedarf mit 35 Prozent gedeckt? Zur Erinnerung: Ab 2013 gibt es einen Rechtsanspruch. Aber nur für einen Bedarf von 35 Prozent ist Geld da. Die Annahme, dass der Bedarf aber mehr als 35 Prozent beträgt und er zudem über 2013 hinaus noch steigen wird, ist sehr berechtigt. Deshalb ist es verantwortungs- los, dass die Regierung sich unserer Forderung nach ei- ner soliden Bedarfsberechnung verweigert. Es ist unumgänglich, dass auf der Grundlage einer vernünftigen Bedarfserhebung eine neue Finanzierungs- vereinbarung zwischen Bund, Ländern und Kommunen geschlossen wird, damit nicht die Kommunen – oder das Land NRW aufgrund der Konnexität in der Landesver- fassung – alleine auf den zusätzlichen Kosten hängen bleiben. Es ist auch überfällig, im Gesetz festzuschreiben, dass es sich beim Recht auf einen Betreuungsplatz um ein Recht auf einen Ganztagsplatz handelt, und zwar für alle Kinder. Diese Klarstellung muss der Bund dringend vor- nehmen. Ein riesiges Problem ist es, dass der Ausbau der Plätze faktisch zulasten der Qualität in den Einrichtun- gen geht. Dabei brauchen wir dringend mehr Qualität in den Einrichtungen, und die hängt ganz wesentlich an der Fachkraft-Kind-Relation. Im KiFög-Zwischenbericht heißt es sogar, dass in einigen Bundesländern die „Perso- naleinsatzschlüssel in einer Größenordnung liegen, die unter fachlichen Gesichtspunkten als bedenklich einzu- stufen“ sei. Da müssen die Alarmglocken läuten. Nun verweist sogar der Koalitionsantrag darauf, dass der Personaleinsatzschlüssel verbessert werden müsste. Hierzu soll die Bundesregierung „prüfen“ und „hinwir- ken“. Hierfür soll sie – bitte schön – kein Geld ausgeben. Das ist Augenwischerei. Wenn ich so etwas lese, werde ich richtig sauer, weil die Qualität der frühkindlichen Förderung zu wichtig ist, um derartige Spielchen damit zu treiben. Es muss mal Schluss sein mit den ewigen Ausreden: Das Geld für die Kitas ist durchaus vorhanden. Durch das Abschmelzen des Ehegattensplittings könnten sehr bald und jährlich mindestens 5 Milliarden Euro inves- tiert werden. Kinder fördern, Kitas fördern statt der Pri- vilegierung der Ehe von anno dazumal, das sind die Zei- chen der Zeit. Wer angesichts der beschriebenen Herausforderungen immer noch plant, jährlich 2 Milliar- den Euro für ein Betreuungsgeld aus dem Fenster zu werfen, dem ist nicht mehr zu helfen. Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden Zur Beratung des Antrags: Existenzgründun- gen aus Forschung und Wissenschaft fördern – Für einen starken deutschen Innovationsstand- ort (Tagesordnungspunkt 20) Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU): Im Erfinden sind wir gut: 2009 lagen die Anmeldungen beim Deut- schen Patent- und Markenamt mit 47 859 Patenten aus Deutschland auf Rekordniveau, und auch die Anmelde- zahlen in den ersten neun Monaten dieses Jahres sind sehr gut. Aber im Umsetzen neuer Ideen in den Markt, in neue Produkte, Verfahren und Dienstleistungen sind wir bis jetzt nicht so erfolgreich, wie wir sein könnten – und sein müssten, wenn wir mit Zukunftstechniken weiterhin die Weltmarktführerschaft und damit Wachstum und Ar- beit bei uns im Land sichern wollen. Neue Ideen, die bei uns entwickelt werden, sollten auch bei uns produziert werden – und nicht, wie beim MP3-Player, nur im Aus- land zu Milliardenumsätzen führen. Eine wesentliche Voraussetzung, um den Wissens- und Technologietransfer zu verbessern, ist die Förderung von Unternehmensgründungen im Hightechbereich, denn sie sind wichtige Treiber für den technischen Fort- schritt hin zu den gefragten Spitzentechnologien. „Deutschland muss wieder zum Gründerland werden!“ heißt es deshalb auch in unserem Koalitionsvertrag, da- mit „Deutschland verstärkt Innovationen hervorbringen und Leitmärkte prägen kann“. An der Umsetzung dieses Ziels müssen wir noch hart arbeiten. Denn im internatio- nalen Vergleich ist die Gründungsquote in Deutschland – trotz einiger Fortschritte – mit 4,1 Prozent Anteil an den Erwerbstätigen zu niedrig. Nach dem Global Entrepre- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7827 (A) (C) (D)(B) neurship Monitor, GEM, 2009 belegen wir nur Platz 15 von 20 innovationsbasierten Industriestaaten. Nach den Studien des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung, ZEW, erreichen gerade Hightech- gründungen im Jahr 2008 in Deutschland mit rund 15 300 einen neuen Tiefpunkt. Im Vergleich zum Vorjahr bedeutet das einen Rückgang um 11 Prozent. Dabei sank die Zahl der Gründungen im Bereich Spitzentechnolo- gien, die für den technologischen Fortschritt besonders wichtig sind, sogar um 12 Prozent auf rund 600. Auch 2009 ist der Abwärtstrend bei den Spitzentechnologien noch nicht durchbrochen, während sich die Gründungs- aktivitäten im Hightechbereich allgemein wieder leicht verbessert haben. Als große Gründungshemmnisse in Deutschland identifiziert der GEM schon seit Jahren ein im Vergleich zu anderen Ländern ungünstiges Grün- dungsklima und insbesondere zu hohe bürokratische Hürden und Probleme bei der Finanzierung, die für die teuren Hightechgründungen besonders relevant sind. Schon unter den vergangenen Regierungen wurden ganz erhebliche Anstrengungen unternommen, um diese Gründungshemmnisse abzubauen. So profitieren auch Gründer von den Mittelstandsentlastungsgesetzen und dem Abbau der Bürokratie durch Anwendung des Stan- dardkostenmodells mit dem Ziel, rund ein Viertel der Bürokratiekosten, die deutsche Unternehmen mit insge- samt 48 Milliarden Euro jährlich belasten, bis 2012 ein- zusparen. Ein besonderer Schub für Gründungen ist jetzt schon sichtbar durch die GmbH-Reform, die wir 2008 durch- geführt haben. Bei Gründung einer haftungsbeschränk- ten Unternehmergesellschaft oder „Mini-GmbH“ wer- den, ähnlich wie bei der englischen Limited, geringere Anforderungen an die Gründungsformalien und speziell an das Mindeststammkapital gestellt, das bei einer Mini- GmbH nur noch 1 Euro pro Gesellschafter betragen muss. Diese Reform hat auch im Hightechbereich ver- hindert, dass die Gründungszahlen noch weiter zurück- gegangen sind. Die Gründungs- und Anschubfinanzierung junger Technologieunternehmen haben wir insbesondere durch staatlich (mit-)finanzierte Fonds, durch spezielle Förder- programme, und auch durch beratende Begleitung der Gründer verbessert. Strategisch sind diese Fonds und Programme ganz unterschiedlich angelegt: Die EXIST- Programme des BMWi zielen speziell auf die Förderung von Gründungen aus Hochschulen, mit den Modulen „Gründerstipendium“ und „Forschungstransfer“ sowie dem neuen Wettbewerb „Gründungskultur – Die Grün- derhochschule“. Der Wettbewerb „Go Bio“ des BMBF unterstützt gründungsbereits Forscherteams im Bereich Biowissenschaften, die kommerzielle Verwertung neuer Verfahren zielgerichtet vorzubereiten. Mit dem ERP-Startfonds stellt die KfW im Auftrag des BMWi Wagniskapital für innovative Technologieun- ternehmen in der Entwicklungs- und Aufbauphase zur Verfügung. Der ERP/EIF-Dachfonds des BMWi und des Europäischen Investitionsfonds (EIF) beteiligt sich als Dachfondsinvestor an professionellen Wagniskapital- fonds in Deutschland, die die Wachstumsphase von Hightechunternehmen unterstützen. Der vom BMWi mit Partnern aus der Wirtschaft und der KfW finanzierte Hightechgründerfonds unterstützt technologieorientierte Unternehmensgründungen durch die Bereitstellung von Beteiligungskapital bis zu 500 000 Euro in der ersten Phase und mit bis zu weiteren 500 000 Euro für die An- schlussfinanzierung. Gerade dieser Fonds hat sich als besonders wirksam für Gründer in der Frühphase erwie- sen und geholfen, die in diesem Bereich vorherrschende strukturelle Finanzierungslücke zu überwinden. Alle diese Maßnahmen haben aber noch nicht die Dynamik erreicht, die wir eigentlich brauchen, und mit den hervorragenden staatlichen Fondsengagements hat der Staat inzwischen die Grenzen dessen erreicht, was der Staat hier leisten kann. Denn die wichtigste Finan- zierungsquelle für Hightechgründungen – die oft beson- ders risikoreich sind und für eine Kreditfinanzierung nicht in Frage kommen – ist und bleibt das private Wag- niskapital. Und genau dieses müssen wir noch stärker mobilisieren, denn der Markt für Wagniskapital ist und bleibt in Deutschland nahezu ausgetrocknet. Traditionell gibt es in diesem Bereich bei uns zu wenige Kapitalge- ber. Die Finanzkrise und ihre Folgen haben zu einer weite- ren Verunsicherung geführt. Das belegt auch die Statistik des Bundesverbandes Deutscher Kapitalbeteiligungsge- sellschaften BVK: Danach gingen die Wagniskapitalin- vestitionen im Jahr 2009 gegenüber 2008 von 1 107 Mil- lionen Euro auf 611 Millionen Euro zurück und haben sich damit fast halbiert. Die Wagniskapitalinvestitionen im ersten Halbjahr 2010 liegen ebenfalls nur knapp über dem gleichen Zeitraum im Vorjahr. Allerdings gibt ein Anstieg im 2. Quartal, und hier gerade im wichtigen Be- reich Start-up-Finanzierung, Anlass zur Hoffnung. Spe- ziell in der Biotechnologiebranche scheint sich der Finan- zierungsengpass langsam aufzulösen, wie der Verband BIO Deutschland Anfang des Monates berichtet hat. Ins- gesamt bleiben die Wagniskapitalinvestitionen in Deutschland mit 0,027 Prozent des BIP jedoch weiter auf zu niedrigem Niveau und liegen immer noch unter dem EU-Durchschnitt von 0,03 Prozent. In Großbritannien ist ihr Anteil am Bruttoinlandsprodukt mit 0,05 Prozent dop- pelt so hoch und in den USA mit 0,125 Prozent mehr als viermal so hoch wie bei uns. Uns fehlt auch eine ausgewiesene „Business Angels“- Kultur wie in den angelsächsischen Ländern. Business Angels kommt eine besondere Rolle in der Gründungs- phase zu, da Fonds hier nur selten aktiv sind. Als erfah- rene Unternehmerpersönlichkeiten helfen sie mit finan- ziellem Engagement und mit gutem Rat, jungen Unternehmen den Weg in die Märkte zu eröffnen. In Deutschland gibt es nur rund 5 000 dieser Engel, die rund 200 Millionen Euro jährlich in Gründer investieren. In Großbritannien dagegen gibt es 20 000 Engel – und in den USA 260 000, mit einem Investitionsvolumen von 18 Milliarden Euro jährlich. Um eine neue Dynamik bei Hightechgründungen zu erreichen, werden wir in dieser Legislaturperiode viel- fältige Maßnahmen ergreifen. Wir werden die bewährte staatliche Gründerförderung fortsetzen, allen voran den 7828 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 (A) (C) (D)(B) Hightechgründerfonds, dessen zweite Auflage Mitte nächsten Jahres starten wird. Das Konzept dafür wird demnächst vorgelegt, und dann dürfte auch die jetzt noch vorliegende qualifizierte Haushaltssperre dafür fristgerecht aufgehoben werden. Die Verhandlungen mit privaten Koinvestoren sind auf gutem Weg – und wir hoffen hier auf eine rege Beteiligung. Wir wollen die Gründungsberatung noch weiter ver- bessern, den Bürokratieabbau beschleunigen und den Zeit- und Kostenaufwand für Gründer weiter verringern. Dazu gehört auch die weitere Vereinfachung von An- trags- und Genehmigungsverfahren. Wir wollen einen schnellen Neuanfang nach einem potenziellen Scheitern junger Unternehmen möglich machen, zum Beispiel durch ein stärker auf Sanierung und Neustart ausgerich- tetes Insolvenzverfahren und – wenn möglich – durch die Halbierung der Frist zur Restschuldbefreiung auf drei Jahre. Wir wollen die Förderung von Kompetenznetzen und Clustern fortsetzen, denn in enger Zusammenarbeit von Forschern und Unternehmern und lokalen Behörden ent- steht nicht nur eine Brutstätte für Innovationen, sondern auch ein ideales Umfeld für innovative Gründer. Wir wollen prüfen, den europäischen Status „Young Innova- tive Company“, YIC, auch für Deutschland einzuführen. An diesen Status kann EU-konform eine besondere För- derung, zum Beispiel die Befreiung von Steuern und Sozialabgaben, geknüpft werden. Das verbessert die Wettbewerbsfähigkeit junger forschungsintensiver Unter- nehmen gerade in der Anfangsphase und kann als Mar- kenzeichen verstärkt private Investoren anziehen. Frank- reich geht hier mit seinem Programm „Jeune Entreprise Innovante“, JEI, mit gutem Beispiel voran. Wir wollen auch für Deutschland entsprechend den Festlegungen des Koalitionsvertrags die Einführung einer steuerlichen Forschungsförderung prüfen. Diese kann auch für Gründer attraktiv sein, wenn sie auf Steuergut- schriften für Forschungsausgaben basiert, die auch dann ausgezahlt werden, wenn das neue Unternehmen noch Verluste macht. Ein solches Konzept wird unter Berück- sichtigung des gebotenen Konsolidierungskurses und der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung in ein haushalts- und steuerpolitisches Gesamtkonzept einzupassen sein. Eine besondere Aufgabe liegt darin, Hightechgrün- dern und jungen Technologieunternehmen den Zugang zu privatem Wagniskapital zu erleichtern. Dabei wird ent- scheidend sein, dass wir die Rahmenbedingungen – auch die steuerlichen Rahmenbedingungen – für Wagniskapital- investoren, Wagniskapitalfonds und Business Angels, ver- bessern. In der letzten Legislaturperiode haben wir versucht, dies mit dem Wagniskapitalbeteiligungsgesetz im Rah- men des MoRaKG – Gesetz zur Modernisierung der Rahmenbedingungen für Kapitalbeteiligungen – zu er- reichen. Unser Vorhaben ist jedoch am Einspruch und an den hohen Anforderungen der EU gescheitert. Mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz zu Beginn des Jahres haben wir die Möglichkeiten zur Verlustverrechnung für Wagniskapitalinvestoren wieder verbessert, die sich an jungen verlustreichen Hightechunternehmen, zum Bei- spiel Biotechunternehmen, beteiligen und deren Verlust- verrechnungspotenzial durch das Unternehmensteuerre- formgesetz stark eingeschränkt worden war. Hier bleiben die Verluste künftig anteilsmäßig in Höhe der stillen Reserven erhalten. In Vorbereitung ist aktuell außerdem ein Konzept für eine anteilige Garantiemöglichkeit zur Risikoabsiche- rung der Fondseinlagen institutioneller Investoren, die sich an Wagniskapitalfonds beteiligen. Damit wollen wir mehr Leadinvestoren anziehen. Das BMWi wird hierzu bald eine entsprechende Studie vorlegen. In den nächs- ten Monaten werden wir intensiv weitere Möglichkeiten untersuchen, wie die zielgenaue steuerliche Förderung von Wagniskapitalinvestitionen in junge Technologieun- ternehmen möglich ist. Zielgenau heißt dabei auch, dass unsere Pläne nicht mit den Vorbehalten der EU gegen eine diskriminierende Förderung kollidieren. In diesem Zusammenhang werden wir insbesondere prüfen, wie wir im Zusammenhang mit der neuen europäischen AIFM-Richtlinie zur aufsichtsrechtlichen Regulierung von „Alternativen Investmentfondsmanagern“ – die wir in den nächsten zwei Jahren umsetzen müssen – auch die steuerlichen Bedingungen für Hightechgründer und ihre Investoren, einschließlich der Business Angels, verbes- sern können. Damit Deutschland im globalen Innovationswettlauf auch künftig bestehen kann, brauchen wir eine neue Gründerwelle im Hightechbereich. Wir haben deshalb zahlreiche Maßnahmen für Hightechgründer auf den Weg gebracht, aber wesentliche Schritte liegen noch vor uns, von der steuerlichen Forschungsförderung über die bessere Gründungsausbildung in Schulen und Hoch- schulen bis hin zur Erhöhung der Anzahl der MINT-Ab- solventen, um für den „Unternehmer“ zu werben und das Hightech-Gründerpotenzial zu erhöhen. Ein zentrales Ziel ist und bleibt die stärkere Mobili- sierung von privatem Wagniskapital durch international attraktive Rahmenbedingungen für Investoren, damit Deutschland zu einer blühenden „Hightech-Gründer- landschaft“ werden kann, in dem immer neues Wachs- tum in Zukunftsmärkten entsteht und Arbeit und Wohl- stand dynamisch sichert. Lassen Sie uns gemeinsam an diesem Ziel arbeiten. Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU): Im Koalitions- vertrag haben wir vereinbart, ich zitiere: „Deutschland muss wieder zum Gründerland werden.“ Mit dem vorlie- genden Antrag wollen wir dieses Vorhaben angehen und erste Schwerpunkte setzen. Denn wir sind überzeugt da- von, dass dies eine Schlüsselfrage für die Zukunft unse- res Landes ist. Deshalb bedaure ich es besonders, diese Rede nur zu Protokoll geben zu können! Für mich persönlich ist dies auch eine Herzensangele- genheit. Denn es waren unternehmerischer Mut und der persönliche Einsatz von vielen Unternehmern, die Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer füh- renden Industrienation gemacht haben, getragen durch den Mittelstand und unzählige Familienunternehmen, die über viele Generationen geführt wurden und werden. Ein Wirtschaftswunder, wie wir es in Deutschland erlebt Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7829 (A) (C) (D)(B) haben, wäre ohne diese Unternehmensgründer nicht möglich gewesen. Eine solche Unternehmerpersönlichkeit war zum Bei- spiel Rudolf Hell aus meiner Heimatstadt Kiel. Schon in der Schule waren Mathematik und Physik seine Lieb- lingsfächer. Nach seinem Studium meldete er zahlreiche Patente an und gründete 1929 sein erstes Unternehmen, das selbstentwickelte Peil- und Morsegeräte produzierte und verkaufte. Nach dem 2. Weltkrieg wagte er 1947 einen Neuanfang in Kiel. Sein Unternehmen wurde zu einem der führenden deutschen Unternehmen im Bereich Ko- pier- und Drucktechnik und ist nach seinem Tod – auch mangels Nachfolger – in verschiedenen anderen Unter- nehmen aufgegangen. Warum erzähle ich das? Wir alle wissen: Deutschland lebt von seinen Hochtechnologieprodukten. Forschung, Innovation und neue Technologien sind die Grundlage für unseren Wohlstand. Wir alle sprechen von Nachhal- tigkeit, aber es sind eben gerade die Forschung und neue Technologien, die entscheidend sind für nachhaltige Pro- duktion, für nachhaltigen Konsum und für Ressour- ceneffizienz. In Deutschland, dem Land der Ideen, müs- sen neue Technologien nicht nur entwickelt, sondern auch produziert und angewandt werden. Gute Rahmenbedingungen und der erfolgreiche Tech- nologiertransfer aus Forschung und Wissenschaft in die Wirtschaft machen Deutschland zu einem international erfolgreichen Hightechstandort. Doch wir bekommen auf den Weltmärkten immer stärkere Konkurrenz. Be- sonders der Wettbewerb durch Schwellenländer wie China und Indien nimmt zu. Angesichts der globalen Herausforderungen muss Deutschland mehr Innovatio- nen hervorbringen und Leitmärkte prägen. Unterneh- mensgründungen spielen dabei eine wichtige Rolle. Der Handlungsbedarf ist groß. Deutschland liegt im internationalen Vergleich der Unternehmensgründungen weiterhin auf einem der hinteren Plätze, Platz 15 von 20 gemäß Global Entrepreneurship Monitor 2009. Laut der ZEW-Studie Hightech-Gründungen in Deutschland, Juli 2009 erreichten Hightechgründungen im Jahr 2008 in Deutschland mit rund 15 300 einen neuen Tiefpunkt. Im Vergleich zum Vorjahr bedeutet das einen Rückgang um 11 Prozent. Dabei sank die Zahl der Gründungen im Bereich Spitzentechnologien, die für den technologi- schen Fortschritt besonders wichtig sind, sogar um 12 Prozent auf 600. Gegenüber 1995 haben wir heute nur einen Anteil von rund 70 Prozent Unternehmens- gründungen. Dabei liegen wir bei den Patenten gar nicht so schlecht. So wurden in 2009 47 859 Patente aus Deutschland beim Deutschen Patentamt angemeldet. Aber nur ein sehr geringer Teil davon ging in die volks- wirtschaftliche Verwertung, denn nur relativ wenige Patente erreichen eine Inkubationsphase, in der aus dem Patent ein Produkt entsteht. Laut dem Expertengutachten für Forschung und Innovation aus 2010 werden „viele Er- folg versprechende Forschungsergebnisse der öffentlich finanzierten Forschung in Deutschland nicht effektiv vermarktet“. Das heißt für uns: Die Verwertung von For- schungsergebnissen und Patenten, insbesondere durch Ausgründung neuer Unternehmen, muss verbessert wer- den. Wir brauchen mehr Persönlichkeiten wie Rudolf Hell, die aus ihren Patenten erfolgreiche Produkte ma- chen und Unternehmen gründen. Und noch eine andere Erkenntnis in diesem Zusam- menhang ist wichtig: Bis in die achtziger Jahre galt in den meisten europäischen Ländern, dass volkswirt- schaftlicher Wohlstand durch große Unternehmen und Konzerne erreicht wird. Das hat sich entscheidend geän- dert: KMU stellen über 99 Prozent aller Unternehmen in Deutschland, erwirtschaften fast 40 Prozent des Umsat- zes, beschäftigen rund 70 Prozent der Arbeitnehmer und über 80 Prozent der Auszubildenden. Wie sieht es aber im Bereich der Forschung und Ent- wicklung bei den KMUs aus: Die deutsche Wirtschaft hat im Jahr 2008 insgesamt 57,3 Milliarden Euro für FuE ausgegeben, aber nur ein geringer Teil davon ent- fällt auf die KMUs, nämlich rund 9 Prozent. Beim FuE- Personal halten KMU immerhin einen Anteil von 15 bzw. rund 20 Prozent, je nach KMU-Definition. Was heißt das für uns: Mit der Erkenntnis, dass kleine und mittlere Unternehmen eine entscheidende Rolle für un- sere Gesamtwirtschaft spielen, muss die Politik gerade auch die Rahmenbedingungen für Forschung und Ent- wicklung stärker auf die KMU und das damit verbun- dene Unternehmertum ausrichten. Was müssen wir also tun, um einerseits eine bessere Verwertung unserer Forschungsergebnisse und anderer- seits mehr Unternehmensgründungen in Deutschland zu erreichen? Zunächst einmal können wir feststellen, dass es be- reits zahlreiche gute Programme gibt, um diesen Bereich zu fördern. Professor Riesenhuber hat bereits einige In- strumente aus dem Bereich des BMWi genannt. Auch im Bereich des BMBF gibt es gute Beispiele: das Förder- programm „ForMat“, Forschung für den Markt im Team, mit dem Ergebnisse aus der öffentlichen Forschung bes- ser und schneller für die Wirtschaft nutzbar gemacht ma- chen werden sollen; der Wettbewerb „GO-Bio“, der grün- dungsbereite Forscherteams in den Lebenswissenschaften unterstützt, um technisch anspruchsvolle Ideen zu einer tragfähigen Unternehmensgründung reifen zu lassen; das Programm „Power für Gründerinnen“ fördert Projekte, um Frauen auf ihrem Weg in die Selbstständigkeit be- sonders zu unterstützen; der bundesweite Wettbewerb „Jugend gründet“, bei dem Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe II im Rahmen eines internetbasierten Planspiels ein Unternehmen gründen und so ihre Wirt- schafts- und Gründungskompetenzen stärken können. Immerhin beteiligen sich rund 4 500 Jugendliche jähr- lich an diesem Wettbewerb. Im Rahmen des Wettbewer- bes werden übrigens auch freiwillige Fortbildungen für Lehrerinnen und Lehrer angeboten. Nicht zuletzt gehört auch das neue Programm zur Validierungsförderung, über das wir erst vor einigen Wochen hier im Bundestag debattiert haben, dazu. Aber es stellt sich natürlich die Frage, inwieweit es sinnvoll ist, dass der Staat sich immer neue Programme ausdenkt. Kann mutiges Unternehmertum, wie das von Rudolf Hell durch staatliche Programme erzeugt wer- 7830 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 (A) (C) (D)(B) den? Nein, sicher nicht! Es geht vielmehr darum, die Rahmenbedingungen so zu setzen, dass sich junge Unter- nehmer mit guten Ideen frei entfalten können und von unserer Gesellschaft dafür anerkannt und unterstützt werden. Lassen Sie mich dazu auf vier Schwerpunktfelder ein- gehen, die auch in unserem Antrag zum Ausdruck kom- men: Erstens. Eine solide Finanzierung mit Eigen- und Fremdkapital ist die Lebensquelle eines jeden jungen Unternehmens und die fehlende zugleich ihre häufigste Todesursache. Hier liegt eines unserer größten Probleme in Deutschland: Der Markt für Wagniskapital in Deutschland ist nahezu ausgetrocknet. Vielen Gründern fehlt eine Finanzierung zum Erreichen der Marktreife oder einer kritischen Größe, zum Beispiel durch Venture Capital oder Seed Funding. Gerade jungen Unternehmen im Hightechbereich muss der Zugang zu Wagniskapital erleichtert werden. Dabei sollten auch die erfolgreichen Modelle unserer Nachbarländer geprüft werden, wie zum Beispiel die Marke einer „Young Innovative Com- pany, YIC“. Da der Staat selbst nur begrenzt Wagniska- pital zur Verfügung stellen kann – und sollte –, muss er die Bedingungen für Banken und Private so gestalten, dass ausreichend Kapital für Unternehmensgründungen zur Verfügung steht. Ohne diese notwendige Bedingung werden wir unser Ziel, Deutschland wieder zu einem Gründerland zu machen, nicht erreichen. Zweitens. „Business Angels“ können für die Unter- nehmensgründung eine entscheidend wichtige Rolle spielen. Während der Gründer selbst, zum Beispiel als Ingenieur oder Naturwissenschaftler, häufig eher mit dem Produkt vertraut ist, bringt ein „Business Angel“ Markt- und Betriebserfahrung mit ein. Das ist für die Ausgestaltung und Umsetzung des Geschäftsmodells häufig der entscheidende Beitrag. Um hier besser zu werden, müssen wir den Anreiz für „Business Angels“ zur Beteiligung an jungen Unternehmen deutlich erhö- hen, zum Beispiel durch eine Verbesserung von steuerli- chen Rahmenbedingungen. Das wird übrigens – bei rich- tiger Ausgestaltung – auch einen wichtigen Beitrag zur besseren Finanzierung von Gründungsunternehmen leis- ten. Drittens. Gründungen aus Hochschulen und For- schungseinrichtungen heraus müssen erleichtert werden; dazu sollten auch mehr Möglichkeiten zur Lizensierung und Ausgründungen geschaffen werden, zum Beispiel im Rahmen des anstehenden Wissenschaftsfreiheitsge- setzes. Warum sollten wir nicht auch der Wissenschaft und den Forschungseinrichtungen erlauben, sich stärker an Unternehmensgründungen zu beteiligen oder Toch- tergesellschaften zu gründen. Die Hürden hierfür sind noch zu hoch. Weiterhin sollte geprüft werden, inwie- weit der von der EFI-Kommission vorgeschlagene „Kommerzialisierungsfonds“ zur Anschubfinanzierung der Inkubationsphase umsetzbar ist. Auch eine stärkere Ausrichtung auf die Prüfung von Anwendungsmöglich- keiten für Forschungsergebnisse ist ein wichtiger Schritt, der durch das kürzlich beschlossene Programm zur Vali- dierungsförderung erleichtert wird. Viertens. Ganz wichtig ist in meinen Augen die grün- dungsbezogene Aus- und Weiterbildung innerhalb der Schulen und Universitäten: Sie muss unbedingt verstärkt werden, da hier eine Quelle des unternehmerischen Be- wusstseins liegt. Ich halte zum Beispiel eine Lehreraus- bildung in Anlehnung an das Projekt NFTE, Network for Teaching Entrepreneurship, das konkrete Hilfe für Jugend- liche mit der Vermittlung unternehmerischen Denkens vereint, für einen sehr guten Ansatz. Auch in den techni- schen und naturwissenschaftlichen Studiengängen der Hochschulen sollten durch verstärkte Angebote für Stu- dierende die nötigen Kenntnisse für eine Unternehmens- gründung und -führung vermittelt werden, um schon früh Alternativen zur abhängigen Beschäftigung aufzu- zeigen, zum Beispiel durch ergänzende „Unternehmer- kurse“ für Studierende der naturwissenschaftlichen und technischen Fächer. Eine wichtige Antriebskraft für Un- ternehmertum ist schließlich der Drang zur Selbststän- digkeit und Freiheit der Lebensgestaltung. Unternehmerpersönlichkeiten wie Rudolf Hell gibt es viele – auch in unserer heutigen Zeit. Wir müssen sie fin- den, anspornen und unterstützen, damit gute Ideen und gute Forschungsergebnisse überall in Deutschland eine wirkliche unternehmerische Chance bekommen. Das schafft neue wertvolle Arbeitsplätze und stärkt unsere Position im internationalen Wettbewerb. Innovative Unternehmensgründer müssen im beson- deren Fokus der Politik stehen, denn sie sind eine wich- tige treibende Kraft für unser Land. Lassen Sie uns ge- meinsam für ein Leitbild der unternehmerischen Selbstständigkeit werben, damit Deutschland wieder zu einem Gründerland wird. Peter Friedrich (SPD): Existenzgründungen aus Forschung und Wissenschaft sind wichtig für den Inno- vationsstandort Deutschland; das steht außer Frage. Wirtschaftliche Stärke basiert auch auf der Fähigkeit, aus guten Ideen innovative Produkte und Dienstleistun- gen zu erstellen. In Deutschland wird ein Großteil der gesamten Forschungs- und Entwicklungsarbeiten in Un- ternehmen durchgeführt. Ein Antrag, der Existenzgrün- dungen aus Forschung und Wissenschaft und damit den Innovationsstandort Deutschland fördern will, könnte deshalb durchaus Sinn machen. Er könnte Sinn machen für Großunternehmen genauso wie für kleine und mitt- lere Unternehmen. Doch auch in der Politik braucht es gute Ideen, damit innovative Ergebnisse entstehen können. Dazu muss man aber erst einmal gute Ideen haben. Auch dieser Zu- sammenhang dürfte ein Teil der Erklärung dafür sein, warum wir bislang unter dieser Regierung von einer inno- vativen Politik so weit entfernt sind. Gerade dieser Antrag verdeutlicht auf frappierende Art und Weise die Ideenlosigkeit der beiden Koalitionsfraktionen. Viel schlimmer noch: Wenn man den Antrag liest, meine Da- men und Herren von CDU, FDP und CSU, fragt man sich sogar, was Sie mit Ihrem Antrag überhaupt bezwe- cken wollen. Sie beschreiben zunächst einmal ausführlich Maßnah- men der Bundesregierung aus der Vergangenheit, darun- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7831 (A) (C) (D)(B) ter den ganzen Katalog der rot-grünen Regierungszeit und der Großen Koalition. Das stimmt; unter sozialdemo- kratischer Führung ist zwischen 1998 und 2009 viel Richtiges beschlossen und auf den Weg gebracht wor- den. Wir wissen das, Sie wissen das; wir freuen uns aber darüber, dass Sie das auch noch einmal zu würdigen wis- sen. Danke schön. In einem zweiten Schritt tragen Sie zahlreiche Forde- rungen und mögliche Ansätze einer Förderpolitik zu- sammen, verkünden aber lediglich Allgemeinplätze. Die Aussagen zu Förderprogrammen klingen gut, sind aber viel zu vage. Gleiches gilt für die Aussage zu dem ge- planten Wissenschaftsfreiheitsgesetz: Klingt gut, ver- bleibt aber unkonkret und ist damit wertlos – von Inno- vationen ganz zu schweigen. Aber dafür bräuchte es eben auch gute Ideen; das hatte ich bereits ausgeführt. Der zweifelhafte Höhepunkt Ihres Antrags ist jedoch die Aufforderung an die Bundesregierung – ich zitiere – „entsprechend den Festlegungen des Koalitionsvertrags die Entscheidung über die Einführung einer steuerlichen Forschungsförderung unter Berücksichtigung des gebo- tenen Konsolidierungskurses und der weiteren wirt- schaftlichen Entwicklung in ein haushalts- und steuer- politisches Gesamtkonzept einzupassen“. Was genau heißt das denn, meine Damen und Herren von CDU, FDP und CSU? Das ist doch die Leerformel für Ihre Verschlep- pungsgarantie. Sie wollen die steuerliche Forschungsför- derung, wir auch. Sie können sich aber schlicht und er- greifend bei Herrn Schäuble nicht durchsetzen. In Ihrer Koalitionsvereinbarung waren Sie noch muti- ger; denn da stand immerhin, dass Sie eine solche Förde- rung „anstreben“ wollen. Das, was Sie uns jetzt vorle- gen, ist aber weder Fisch noch Fleisch. Wie, bitte schön, sollen wir in diesem Hause und die staunende Öffent- lichkeit draußen diesen Satz denn verstehen? Heißt das, was ich gerade zitiert habe, dass Sie eine steuerliche For- schungsförderung schaffen wollen? Oder heißt das, dass nach all den millionen- und milliardenschweren Ge- schenken an einzelne Branchen wie den Kernkraftwerks- betreibern und dem Hotelgewerbe kein Geld mehr da ist, mit dem man den Innovationsstandort Deutschland steuer- lich sinnvoll fordern könnte, Sie aber nicht den Mut be- sitzen, dies einzugestehen? Ist also für die Entwicklung der Technologien von morgen kein Geld mehr da, weil Sie und die Bundesregierung, die Sie tragen, an der fal- schen Stelle Milliardensummen hinterherschmeißen? Meinen Sie das, wenn Sie von „gebotenem Konsolidie- rungskurs“ und der Einbettung in ein „haushalts- und steuerpolitisches Gesamtkonzept“ sprechen, meine Damen und Herren von den Regierungsfraktionen? Aber warum stellen Sie denn überhaupt diesen Antrag, wenn zur steu- erlichen Förderung sowieso kein Geld mehr da ist? Was, bitte schön, wollen Sie mit diesem Antrag bezwecken? Gleich zu Beginn dieser Legislaturperiode, im De- zember des vergangenen Jahres, hat meine Fraktion ei- nen Antrag gestellt, in dem die Bundesregierung aufge- fordert werden sollte, einen „forschungspolitisch substanziellen und finanzpolitisch soliden Entwurf für die Einführung einer steuerlichen Förderung von For- schungs- und Entwicklungsausgaben vorzulegen“. Lei- der wurde der Antrag damals im federführenden Finanz- ausschuss mehrheitlich abgelehnt. Wir bedauern das nach wie vor; denn dies wäre ein klares Signal für die steuerliche Förderung von Forschung und Entwicklung in Deutschland gewesen. In der zugehörigen Beschluss- empfehlung des Finanzausschusses betonten die Koali- tionsfraktionen zwar noch die „zusätzlichen Impulse ins- besondere für kleinere und mittlere Unternehmen“, die durch die im Koalitionsvertrag vereinbarte steuerliche Förderung von Forschung und Entwicklung gesetzt wer- den würden, doch nach den Klientelgeschenken der ver- gangenen Wochen und Monate ist hierfür eben kein Spielraum mehr da. Warum aber dann – ich wiederhole mich – dieser Antrag? Technologie- und wissensintensive Unternehmens- gründungen sind von großer Bedeutung für den Innova- tionsfortschritt einer Gesellschaft. Die Rahmenbedin- gungen hierfür sind gut, aber können zweifellos weiter verbessert werden. Dass wir im internationalen Ver- gleich mit anderen innovationsbasierten Volkswirtschaf- ten nur den 17. von 18 Plätzen einnehmen, kann uns nicht zufriedenstellen. Gerade kleinen und mittleren Unternehmensgründun- gen sollten wir eine stärkere Hilfestellung auf dem Weg in die wissensbasierte Gesellschaft geben. Gerade inno- vative Existenzgründungen leiden häufig unter unzurei- chenden kaufmännischen und branchenspezifischen Kenntnissen; da kann ein besseres Beratungsangebot sehr hilfreich sein. Auch die professionelle Hilfestellung bei der Positionierung des Unternehmens am Markt sollte verbessert werden; denn die Auftragsakquisition und der Aufbau eines Kundenstamms ist für viele neue Unternehmen eine zentrale Schwierigkeit. Wichtig ist zudem, dass wir mehr Wagniskapital be- reitstellen. Hier ist vieles denkbar, auch eine steuerliche Förderung von Wagniskapitalfonds. Sie haben das in Ih- rem Antrag drin, machen aber keine näheren Ausführun- gen. Dabei wissen wir, dass die Sicherung der Finanzie- rung das zentrale Hindernis für insbesondere innovative Existenzgründungen darstellt, und zwar sowohl in der Gründungs- als auch in der Wachstumsfrage. Die Rah- menbedingungen für Venture-Capital-Unternehmen soll- ten verbessert werden, um die Finanzierungsbedingun- gen für innovative Existenzgründungen insgesamt zu verbessern. Wichtig wäre darüber hinaus, die ERP-Wirt- schaftsförderung genauer auf ihre Wirksamkeit zu unter- suchen. Im ERP-Abschluss für das Jahr 2009 fällt auf, dass die Inanspruchnahme von Kapital im Programm „Gründung und Wachstum“ weit unter den Erwartungen geblieben ist. Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP): Die Förderung von Existenzgründungen aus Forschung und Wissen- schaft ist das richtige Zeichen. Die Phase einer der größten Wirtschaftskrisen seit 50 Jahren ist überwunden und wir starten mit über 3,5 Prozent geschätzten BIP- Wachstum in das nächste Jahr. Es ist nun an uns, die Weichen für unsere Zukunft zu stellen. Zukunftsinvesti- tionen in Bildung und Forschung haben höchste Priori- tät, denn gerade in diesen Bereichen stellen wir die Wei- 7832 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 (A) (C) (D)(B) chen für unsere Zukunft. Sie sind unsere Chance, mit neuer Kraft und neuen Ideen auf den internationalen Märkten auch in den nächsten Jahren wettbewerbsfähig zu bleiben. Dazu leistet die Bundesregierung einen wichtigen Beitrag: Der Haushaltsentwurf des Bundesministeriums für Bildung und Forschung für das Jahr 2011 sieht mit einem Gesamtvolumen von 11,6 Mil- liarden Euro einen Zuwachs von rund 746 Millionen Euro gegenüber dem Jahr 2010 vor; das sind mehr als 7,2 Prozent. Damit wird es gelingen, trotz der schwieri- gen finanziellen Situation Bildung und Forschung nach- haltig im Bundeshaushalt zu verankern. Jetzt darf man sich nicht zurücklehnen und auf bessere Zeiten warten. Die bürgerliche Koalition aus CDU/CSU und FDP ist sich der großen Bedeutung der Wissenschaft und For- schung gerade auch für unsere Wirtschaft bewusst. Weil die Gründung und der Ausbau von innovativen Unter- nehmen die Mobilisierung erheblicher Anstrengungen erfordern, stellen wir die Weichen für neue Ideen und mehr Unternehmergeist. Die jungen, innovativen Grün- der und Selbstständige sind das Rückgrat der Forschung und auch der Wirtschaft. Denn jedes Unternehmen, auch unsere jetzigen Global Player, musste einmal klein be- ginnen: Am Anfang ist immer eine Idee. So fördert die schwarz-gelbe Koalition wagemutige und innovative Menschen mit Visionen. Denn wir brauchen in Deutsch- land mehr Menschen, die mit Mut und guten Ideen den Schritt in die Selbstständigkeit wagen. Da private Inves- toren sich im Vergleich zum Ausland sehr zurückhalten, führt unser Engagement nicht zu einem Verdrängungs- wettbewerb, sondern ist sinnvoll und marktkonform. Dies zeigt sich an der Vielzahl von Fördermaßnah- men, die auf die speziellen Umstände der Existenzgrün- dungen angemessen angepasst sind. Der Nachschub jun- ger innovativer Unternehmen und deren Wachstum ist der Schlüssel für die künftige technologische Wettbe- werbsfähigkeit Deutschlands auf den internationalen Märkten. Doch der Markt für Wagniskapital zur Finan- zierung dieser Unternehmen ist in Deutschland noch schwach entwickelt: In anderen Industrieländern wie Großbritannien, Frankreich, Skandinavien und den USA liegen die relativen Wagniskapitalinvestitionen beim Zwei- bis Dreifachen des deutschen Wertes. Die schwarz-gelbe Regierungskoalition hat sich dazu ent- schlossen, das Umfeld für die Tätigkeiten von Business Angels in Deutschland deutlich zu verbessern. Den jun- gen Technologieunternehmen wird der Zugang zu Wag- niskapital erleichtert und durch geeignete Maßnahmen dringend benötigtes privates Kapital für deutsche Ven- ture-Capital-Fonds mobilisiert. Die schwarz-gelbe Ko- alition ergreift große Anstrengungen zur Innova- tionsförderung. Diese Politik ist in einer Zeit, in der sich der internationale Wettbewerb verschärft, von großer Bedeutung. Deutschland braucht wieder ein positives For- schungsklima, frei von bürokratischen Hürden und ideo- logischen Debatten. Deshalb geht es uns darum, dass in Deutschland neue Technologien entwickelt und auch an- gewandt werden. Wir wollen wieder eine vorwärtsge- wandte technik- und innovationsfreundliche Gesell- schaft. So sollten die erfolgreiche Förderprogramme der Bundesregierung für Hightechgründer und junge Tech- nologieunternehmen fortgeführt werden. Erfolgreiche Innovationen sind ein wichtiger Grund- stein für Wirtschaftswachstum und steigenden Wohl- stand. Innovative Unternehmen erweitern das Produkt- und Dienstleistungsspektrum und fordern etablierte Un- ternehmen zum Wettbewerb heraus. Sie schaffen deut- lich mehr Arbeitsplätze als nicht innovative Unterneh- men und erschließen neue Märkte. Unternehmergeist, Innovation und Einsatz neuer Technologien sind heute wesentliche Faktoren für Wettbewerbsfähigkeit, Wachs- tum und Beschäftigung. Innovation erfordert einen kom- plexen Prozess und ein umfassendes Vorgehen in den Unternehmen und an den Universitäten. Im Vordergrund stehen die Förderung neuer Kenntnisse und Technolo- gien, der Erwerb neuer Kompetenzen, die Entwicklung neuer Produkte, Verfahren oder Dienstleistungen, An- meldung von Patenten etc. Deutschland verfügt heute über grundlegende Vor- teile: eine Ausbildungslandschaft und eine wissen- schaftliche Forschung auf hohem Niveau, eine immense Unterstützung von Forschung und Innovation durch die öffentliche Hand sowie wettbewerbsfähige Unterneh- men, die in vielen Branchen an der Spitze des Fortschritts stehen. An den Hochschulen und in Unter- nehmen gibt es zahlreiche Initiativen, in deren Gefolge innovative Projekte mit jungen Unternehmern entstehen. Gründungen schaffen Beschäftigung und Wachstum. Deutschland braucht deshalb eine stärkere Gründungs- kultur. Initiativen wie die „Initiative Gründerland“ des Bundeswirtschaftsministeriums sollen dies verbessern und die Menschen für unternehmerisches Denken und Handeln sensibilisieren. Die Chancen und Möglichkei- ten der Selbstständigkeit werden ihnen dadurch besser vermittelt. Politik und Wirtschaft arbeiten eng zusam- men, um Gründerinnen und Gründer zielgerichtet zu un- terstützen. Gerade dies ist wichtig, um den Ruf der deut- schen Unternehmen und Erfinder zu bewahren. Genauso wichtig sind für private Investoren in innovative und prosperierender Erfindungen die Rechtssicherheit in Deutschland und das große Vertrauen von Anlegern aus der ganzen Welt – und nicht das Schüren von Ängsten, wie es von der Opposition durch ihre aggressive Anti- haltung in allen wesentlichen Infrastruktur- und sonsti- gen Zukunftsfragen gepflegt wird. Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Als ich die Ankündi- gung eines Koalitionsantrages zur Gründungstätigkeit im Hochtechnologiebereich las, vermutete ich zuerst zu- mindest eine neue Idee, ein neues Förderprogramm oder Ähnliches. Leider ist dieser Antrag nur das sprichwörtli- che Schaufenster, in dem alles ausgestellt wird, was die Regierung so im Bereich der Gründungsförderung zu bieten hat: vom Hightech-Gründerfonds über die Exist- Programme bis zum Wettbewerb „Jugend gründet“. Dann wird die Bundesregierung aufgefordert, die Finan- zierungs- und Rahmenbedingungen für Gründungen un- ter anderem in der Initiative „Gründerland Deutschland“ zu verbessern. Diese wurde bereits im Januar 2010 vor- gestellt, jetzt soll sie, so der Antrag, „zeitnah“ umgesetzt Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7833 (A) (C) (D)(B) werden; und zu guter Letzt erinnert man noch einmal da- ran, dass diese Koalition wie auch die Vorgängerin ei- gentlich die Einführung von Steuerzuschüssen für den FuE-Aufwand privater Unternehmen geplant hatte. So einfallslos werden Sie potenziellen Gründerinnen und Gründern keinen Mut machen, meine Damen und Herren. Im Gegenteil: Die eigentlichen Probleme spre- chen Sie gar nicht an. Gründungen sind ein risikobehaf- teter Schritt, der zwar mit der Lösung von Abhängigkei- ten etwa vom Arbeitgeber beginnt, aber bei vielen in neue Abhängigkeiten – etwa von Kreditgebern oder In- vestoren – führt. Daher sind Ihre Zahlen im Antrag, die sich auf die Zeit vor der Krise beziehen, auch veraltet. Schauen Sie einmal in das Gründungspanel der KfW: Durch krisenbedingte Unsicherheit sehen viele Arbeit- nehmer die Unternehmerrolle als Alternative zum Ange- stelltenstatus und machen sich selbstständig. Schon in den Jahren 2003 und 2004 führte die Einführung der so- genannten Ich-AG zu einem Gründungsboom, der ganz sicher nicht einem plötzlich überbordenden Ideenüber- schuss geschuldet war. Unternehmensgründungen haben laut KfW im Jahr 2009 krisenbedingt 560 000 Arbeitsplätze geschaffen – mehr als je zu vor. Die durchschnittliche Zahl der Stellen in neu gegründeten Unternehmen hat sich sprunghaft von 2,3 auf 3 – inklusive des Gründers oder der Gründe- rin – erhöht. Dass dieser Anstieg durchaus auch etwas mit prekären Verhältnissen zu tun hat, wird durch die zeitgleich dramatisch steigenden Insolvenzzahlen belegt. Gründungen sind einerseits ein Zeichen für Erneuerung; andererseits sind sie auch aus einer wirtschaftlichen Kri- sensituation heraus geboren. Nicht alle, aber einige der jungen Firmen treffen in der Gründungsphase auf Schwierigkeiten bei der Finan- zierung; das haben Sie zu Recht in Ihrem Antrag er- wähnt. Ein Viertel der neu gegründeten FuE-intensiven Hightech-Unternehmen gab bei den Befragungen durch die KfW Finanzierungsprobleme zu Protokoll, deutlich seltener übrigens im Bereich innovativer Dienstleistun- gen und Software. Das entscheidende Problem sind je- doch nicht die fehlenden Wagniskapitalgeber. Der Markt für Private Equity und Wagniskapital sei wieder auf dem Vorkrisenstand angekommen, so teilte der Bundesver- band Deutscher Kapitalbeteiligungsgesellschaften im August mit. Man sei auf dem bestem Wege zu einer Boomphase, insbesondere durch krisenbedingt günstige Einstiege in die Unternehmen. Hier liegen die Probleme also nicht, zumal bereits die letzte Koalition mit dem Wagniskapitalbeteiligungsgesetz den entscheidenden Durchbruch erzielen wollte und der Venture-Capital- Branche Steuergeschenke gemacht hat. Für die große Menge der Gründerinnen und Gründer kommen Venture-Capital-Fonds gar nicht als Finanzierer in Betracht. Am häufigsten tragen Bankkredite zur Gründungsfinanzierung bei. Dies bestätigen nicht nur di- verse Studien, sondern auch ein Bericht des Büros für Technikfolgenabschätzung beim Bundestag zu akademi- schen Spin-offs. Dazu schweigt der schwarz-gelbe An- trag. Doch an diesem Punkt hat sich die Lage tatsächlich verschlechtert und bleibt auch im Aufschwung proble- matisch. Obwohl Geld von den Zentral- und Notenban- ken so billig ist wie noch nie, verlangen die Banken hohe und höchste Sicherheiten gerade von jungen und kleinen Unternehmen. Dies bestätigen auch die Aussagen der Gründerinnen und Gründer im Gründungspanel der KfW: Sie nannten vor allem zu hohe geforderte Sicher- heiten und zu hohe Zinsen als Gründe für die Ablehnung von Kreditfinanzierungsangeboten. Meine Fraktion hat bereits im vergangenen Dezember einen Antrag eingebracht, der die Bundesregierung auf- fordert, endlich etwas gegen die Kreditklemme zu tun. Die Lage heute wird zwar unterschiedlich beurteilt. Als sicher kann jedoch gelten, dass die neuen Finanzierungs- regeln nach Basel III mit noch einmal verschärften Si- cherheitsanforderungen die Lage verschlechtern werden. Wenn Sie etwas für die Finanzierung von Gründungen tun wollen, dann verbessern Sie die Kreditversorgung von kleinen und mittleren Unternehmen. Warum erlau- ben Sie etwa der KfW nicht, Förderkredite direkt auszu- zuzahlen, ohne über Pleitegeier wie die IKB gehen zu müssen? Der Kern Ihres Antrags scheint jedoch darin zu beste- hen, sich gegenseitig noch einmal zu versichern, dass eine steuerliche Förderung privater Forschungs- und Entwick- lungstätigkeit noch nicht ganz vom Tisch ist. Wir Linke unterstützen die öffentliche Gründungsförderung von KMU, insbesondere in strukturschwachen Regionen. Viele Studien zeigen, wie wichtig staatliche Unterstüt- zung bei den ersten Schritten in die Selbstständigkeit ist. Auch und gerade deswegen sind wir gegen eine steuerli- che FuE-Subvention. Natürlich nehmen die Unternehmen diese gern mit. Aber das geringste Problem, das Gründe- rinnen und Gründer in der verlustreichen Anfangszeit ha- ben, sind zu hohe Steuern. Und auch ein kleiner Bonus hilft ihnen wenig. Was jedoch nachweislich über diese Gründungsphase hilft, ist eine beratungsintensive Förde- rung, wie sie in vielen Programmen des Wirtschafts- und des Forschungsministeriums, etwa im Rahmen des High- tech-Gründerfonds, der Programme „Unternehmen Re- gion“ oder des Zentralen Innovationsprogramms für den Mittelstand, ZIM, vorgesehen ist. Besonders im Osten sind diese Programme nicht nur aus finanziellen Gründen überlebenswichtig für die kleinen und mittleren Unter- nehmen. Wenn Sie im Rahmen der steuerlichen For- schungsförderung Milliarden Steuermindereinnahmen hinnehmen, dann lässt das unschwer erraten, welche Res- sorts und welche Förderprogramme dafür im Rahmen der Haushaltskonsolidierung bezahlen werden. Da die Koali- tion auf Drängen der Arbeitgeber- und Industrieverbände unbedingt auch die Großunternehmen mit den Segnungen der Steuerboni beschenken will, wird eine solche Förde- rung eine glatte Umverteilung von den KMU hin zu den ohnehin profitablen großen Technologiekonzernen sein. Bei all dem ist keineswegs sicher, dass die Anreize ausreichen, um diese Konzerne wirklich zu noch mehr Investition in Forschung und Entwicklung zu bewegen. Das Wort Mitnahmeeffekt ist zwar nicht ganz präzise, trifft aber in der Sache das Problem. Lassen Sie uns also gemeinsam über eine Verbesserung der Bedingungen für innovative Gründungen in Deutschland streiten; allge- 7834 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 (A) (C) (D)(B) mein formulierte Schaufensteranträge voller Gemein- plätze helfen dabei nicht weiter. Christine Scheel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit Ihrem Antrag stellen Sie der Regierung ein Zeugnis der Untätigkeit aus. Es ist nett, dass Sie sich selbst die Mühe machen, auf diese Mängel hinzuweisen, und dies nicht gänzlich der Opposition oder den Wirtschaftsweisen überlassen. Diese haben ja gestern deutliche Worte der Kritik gefunden, dass der momentane Aufschwung noch auf die Vorarbeit der vorigen Bundesregierungen zu- rückzuführen ist und echte Strukturreformen überfällig sind. Dieser Antrag ist leider keinesfalls ein energischer Schritt in die richtige Richtung. Nach einem langen Jahr leerer Versprechungen und mutloser Politik legen Sie nun dieses „Anträgchen“ vor. Eine Aneinanderreihung von Allgemeinplätzen und An- kündigungen. Gänzlich ohne konkrete Vorschläge. Wem wollen Sie denn mit diesen müden Absichtserklärungen noch etwas vormachen? Sie kümmern sich mit Ihrer Politik nicht um den Mittelstand, Sie kümmern sich nicht um die Gründer, Sie kümmern sich nicht um die kleinen, mutigen, innovativen Unternehmen in unserem Land. Sie kümmern sich gewöhnlich lieber um die großen Fische: um die Autoindustrie, die Energiekonzerne und die Hoteliers. Aber das reicht nicht. Wer Innovationen haben will, wer für Beschäftigung und Wachstum sorgen will, wer neue Ideen verwirkli- chen und Potenziale heben will, der braucht den Mittel- stand und die Existenzgründungen. Und der muss es ernst meinen. Sie nehmen die kleinen und mittleren Un- ternehmen, die mutigen Gründer aus Forschung und Wissenschaft und die innovativen Unternehmen mit die- sem Antrag nicht ernst. Denn Ernstnehmen heißt Ver- sprechen halten. Und Sie lösen die entsprechenden Ver- sprechen aus Ihrem Koalitionsvertrag immer noch nicht ein. Wir wollen aber nicht länger warten. Deshalb haben wir heute einen Antrag in die Bereinigungssitzung zum Bundeshaushalt 2011 im Haushaltsausschuss einge- bracht, dem die Regierungsfraktionen zustimmen müss- ten, wenn sie ihren eigenen Koalitionsvertrag ernst neh- men würden. Darin fordern wir eine Steuergutschrift von 15 Prozent auf alle Forschungs- und Entwicklungsausga- ben von Unternehmen bis 250 Mitarbeitern. So können wir gezielt forschungsintensive, innovative kleine und mittlere Unternehmen fördern und unterstützen Ideen dort, wo sie entstehen und zügig umgesetzt werden kön- nen. Für eine Existenzgründung bedeutet die Steuergut- schrift in einer anfänglichen Verlustphase zusätzliches Kapital und erleichtert somit die Gründungsfinanzie- rung. Die bestehende Forschungsförderung benachteiligt massiv kleine und mittlere Unternehmen. Antragsver- fahren sind aufwendig und kompliziert, viele innovative Ideen können nicht gefördert werden, weil es kein ent- sprechendes Programm gibt. Das Ergebnis: Kleine und mittlere Unternehmen bestreiten nur 15 Prozent der For- schungs- und Entwicklungsausgaben der Wirtschaft in Deutschland, obwohl sie über 95 Prozent aller Unterneh- men ausmachen. So verspielen Sie mit Ihrer Politik der Untätigkeit wertvolle Potenziale und Wachstumschan- cen. Mit der Hightech-Strategie startete die große Koali- tion 2006 ein ehrgeiziges Projekt, um ein nationales Ge- samtkonzept für Forschung und Innovation voranzubrin- gen. Leider haben Sie sich an diesem Projekt etwas verhoben. Denn weder Schwarz-Rot noch Schwarz-Gelb haben sich getraut, ihre Förderung auf einzelne strate- gisch wichtige Projekte zu konzentrieren, sondern woll- ten es wieder allen recht machen. Dieses Gießkannen- prinzip ist aber heute nicht mehr finanzierbar. Deshalb ist erst einmal gar nichts passiert. Wiederholt mahnte die unabhängige Expertenkommission Forschung und Inno- vation (EFI) deutlich mehr Konzentration an. Aber das Förderungsprofil blieb leider sehr diffus. Tonangebend scheint bei der Themenfindung nicht die Politik, nicht Ihre parlamentarische Arbeit zu sein, sondern das Minis- terium mit den jeweils im Hintergrund stark vernetzten Lobbygruppen. Und weil die Regierung kein offenes Ohr für den Mittelstand fand, blieb für ihn leider wenig übrig. Sie schlagen in ihrem Antrag vor, den jungen Techno- logieunternehmen den Zugang zu Wagniskapital zu er- leichtern und privates Kapital für den Venture-Capital- Markt zu mobilisieren. Aber dann verraten Sie uns doch bitte, wie sie dies machen wollen. Die grüne Bundes- tagsfraktion hat die große Koalition vor über drei Jahren aufgefordert, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die steuerlichen Bedingungen für Hochtechnologie-Grün- dungen, junge hochinnovative Unternehmen und der sie finanzierenden Wagniskapitalgeber verbessert. Durch ein solches Vorgehen könnte man die innovativen und forschungsintensiven kleinen und mittelständischen Un- ternehmen gezielt bei ihrer Finanzierung und auf ihrem mutigen Weg unterstützen. Auch hierauf gibt Ihr Antrag keine Antwort. Sie wollen den Wissens- und Technologietransfer aus den Hochschulen in Form von Existenzgründungen ver- bessern. Aber ohne eine zusätzliche finanzielle und per- sonelle Ausstattung der Universitäten ist dies als neue in Ihrem Antrag geforderte „Kernaufgabe“ der Hochschu- len kaum zu leisten. Auch hier fehlt eine konkrete Um- setzungsstrategie in ihrem Antrag. Sie nennen in Ihrem Antrag das Ziel, das Insolvenz- verfahren stärker auf Sanierung und Neustart auszurich- ten. Mit einer kontrollierten Neuordnung des Unterneh- mens in einem Insolvenzplanverfahren kann vieles gerettet werden. Aber warum wird in Ihrem Antrag kein einziges, von Ihnen angekündigtes, Instrument genannt? Und warum schwächen Sie mit Ihren Beschlüssen im Haushaltsbegleitgesetz die Position des Insolvenzver- walters, indem der Fiskus insolventen Unternehmen Liquidität entzieht? Dies ist der falsche Weg, weil da- durch die Sanierung und Fortführung von Betrieben ge- fährdet wird. Die Fleißarbeit dieser mehrseitigen Aufzählung von vagen Absichtserklärungen hätten Sie sich sparen kön- nen und hätten uns stattdessen lieber konkrete Vor- schläge geboten. Es ist Ihnen auf jeden Fall nicht gelun- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7835 (A) (C) (D)(B) gen, von der Untätigkeit ihrer eigenen Fraktionen und ihrer Regierung abzulenken, die sich weder für die klei- nen und mittleren Unternehmen noch für die Gründer stark macht und somit ein großes Potenzial innovativer Lösungen und Produkte aus Forschung und Wissen- schaft verschenkt. Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Schutz der biologi- schen Vielfalt – Die Taxonomie in der Biologie stärken (Tagesordnungspunkt 19) Ewa Klamt (CDU/CSU): Der Verlust der biologi- schen Vielfalt stellt gemeinsam mit dem Klimawandel das größte Umweltproblem des 21. Jahrhunderts dar. In beiden Feldern stehen wir nicht nur vor einer komplexen Aufgabe, sondern zudem unter enormem Zeitdruck, denn der Verlust zahlreicher Arten schreitet stetig voran. Die Taxonomie der Biologie leistet einen wichtigen Beitrag zum Schutz der Biodiversität. Beide, Taxonomie und Biodiversitätsforschung, sind wichtige Bereiche der Grundlagenforschung. Sowohl das Bundesministerium für Bildung und Forschung als auch das Bundesumwelt- ministerium tragen dieser Bedeutung mit einer Vielzahl von Programmen und Initiativen bereits Rechnung. So fördert das Bundesministerium für Bildung und For- schung seit circa 10 Jahren im Rahmen der Projektförde- rung den Biodiversitätsbereich mit einem Jahresbudget von über 10 Millionen Euro. Unter anderem wird das Projekt „Netzwerk & Forum zur Biodiversitätsfor- schung“ als strukturelle Unterstützung der deutschen Wissenschaft gefördert. Zum einen bietet dieses Projekt Informationen und Hilfestellungen zur Verknüpfung ver- schiedener Disziplinen sowie Zugang zu nationalen und internationalen Forschungsprogrammen an. Zum anderen wird eine direkte Schnittstelle zu Politik und Öffentlich- keit geschaffen, die die Wahrnehmung von Biodiversi- tätsforschung maßgeblich erhöhen soll. Denn zu Recht versteht sich die Biodiversitätsforschung als interdiszi- plinäre Wissenschaft, die neben den klassischen biolo- gisch orientierten Disziplinen wie der Taxonomie oder Ökologie auch einen starken Anteil gesellschaftswissen- schaftlicher und ökonomischer Aspekte und Disziplinen einbezieht. Mit der Konferenz „Biodiversitätsforschung – Mei- lensteine zur Nachhaltigkeit“ vom März dieses Jahres hat das Ministerium für Bildung und Forschung die öf- fentliche Wahrnehmung gezielt auf das Thema der Bio- diversität gelenkt. Im Blickpunkt dieser Konferenz stand das Forschungsprogramm BIOLOG, „Biodiversität und globaler Wandel“, des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, das die biologische Vielfalt unter dem Einfluss von Klima- und Landnutzungsänderungen un- tersucht hat. Die aus diesem Programm erlangten Er- kenntnisse wurden in Handlungsoptionen zusammenge- tragen, die sowohl den Schutz der Biodiversität als auch die Einkommenssicherung im Blick haben. Die Biodiversitätsforschung ist zudem ein wichtiger Bestandteil des Forschungsrahmenprogramms „For- schung für nachhaltige Entwicklung“, welches das Bun- desministerium für Bildung und Forschung mit 2 Mil- liarden Euro fördert. 2008 wurde außerdem der Leibniz-Verbund Biodiver- sität, LVB, gegründet. Dieser bündelt die Kompetenzen von 28 Leibniz-Einrichtungen der Umwelt-, Sozial-, Lebens-, Raum- und Wirtschaftswissenschaften. Wis- senschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Instituten und Forschungsmuseen erfassen und dokumentieren die Viel- falt des Lebens, forschen an Themen von großer gesell- schaftlicher Relevanz, informieren kompetent die Öf- fentlichkeit und beraten die Politik bei der Entwicklung und Umsetzung ihrer Biodiversitätsziele. Von zentraler Bedeutung bei Entscheidungsprozessen in den Bereichen Natur- und Artenschutz ist der Zugriff auf Informationen über Vielfalt und Verschiedenartigkeit von Genen, Arten, Tier- und Pflanzengesellschaften. Deshalb fördert das BMBF bereits seit 2002 im Bereich der Mobilisierung von Biodiversitätsdaten und Biodiver- sitätsinformatik den Auf- und Ausbau der deutschen Komponenten der Global Biodiversity Information Faci- litiy, GBIF. Die internationale Initiative zu GBIF hat die Vernet- zung und freie Verfügbarmachung der weltweit vorhan- denen Daten zur biologischen Vielfalt per Mausklick und für jedermann über das Internet zum Ziel. GBIF soll zunächst vor allem wissenschaftliche Biodiversitätsda- ten, primär mit Bezug auf Arten, liefern. Weiterhin soll GBIF die Zusammenstellung, Verknüpfung, Standardi- sierung, Digitalisierung und globale Verbreitung der Bio- diversitätsdaten der Welt fördern, koordinieren, entwi- ckeln und einführen. Deutschland ist eines der Grün- dungsmitglieder von GBIF. Unter Federführung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung werden derzeit in Deutschland sieben GBIF-Knoten eingerich- tet, die sich an großen Organismengruppen orientieren. Mithilfe dieser Knoten werden die in Deutschland vor- handenen Biodiversitätsinformationen erfasst, digitali- siert, angeboten und durch Vernetzung mit weiteren Da- tenbanken vereint. Im Bereich der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses insgesamt sind seit der vergangenen Legis- laturperiode die Maßnahmen erheblich ausgebaut wor- den: Mit dem Pakt für Forschung und Innovation sollen die Zuschüsse für die gemeinsam mit den Bundesländern geförderten Forschungseinrichtungen in den Jahren 2011 bis 2015 jährlich um fünf Prozent steigen. Dazu gehören Fraunhofer-Gesellschaft, Helmholtz-Gemeinschaft, Max- Planck-Gesellschaft und Leibniz-Gemeinschaft sowie die Deutsche Forschungsgemeinschaft. Von der Erhö- hung dieser Zuschüsse profitieren indirekt auch die DFG- Programme zur Förderung des wissenschaftlichen Nach- wuchses. Zusätzlich wurden die Promotionsstipendien der zwölf durch das Ministerium für Bildung und For- schung unterstützten Begabtenförderungswerke qualita- tiv wie quantitativ ausgebaut. In diesem Jahr ging zudem die Exzellenzinitiative in die dritte Runde. Das Fördervo- lumen wurde um 30 Prozent auf rund 2,7 Milliarden Euro 7836 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 (A) (C) (D)(B) mit einer Laufzeit bis 2017 gesteigert. Die Bundesregie- rung will mit der Fortsetzung der Exzellenzinitiative den Wissenschaftsort Deutschland nachhaltig stärken, seine internationale Wettbewerbsfähigkeit verbessern und Spit- zenforschung an deutschen Hochschulen sichtbar ma- chen. Mit ihren Vorgaben haben Bund und Länder dafür gesorgt, dass auch die „kleinen Fächer“ profitieren und eine faire Chance erhalten. Die Bedingungen für den wissenschaftlichen Nach- wuchs insgesamt, also auch im Bereich der Taxonomie, sind in Deutschland daher so gut wie nie. Davon profi- tiert auch die taxonomische Forschung. Ein „Sonderpro- gramm“ für den Taxonomie-Nachwuchs halten wir vor diesem Hintergrund für ein falsches Signal. Eine Verla- gerung von Kapazitäten und begrenzten Mitteln könnte nur zulasten anderer wichtiger Forschungsbereiche voll- zogen werden. Dies erscheint uns in Anbetracht der be- reits bestehenden Programme nicht angemessen. Josef Göppel (CDU/CSU): Vor nicht einmal zwei Wochen ging die Konferenz zum Schutz der biologi- schen Vielfalt in Japan mit einem Erfolg zu Ende. In Na- goya konnte ein strategischer Plan für die Jahre 2011 bis 2020 beschlossen werden, und bei dem ABS-Protokoll zum gerechten Vorteilsausgleich ist man ein gutes Stück vorangekommen. Das ABS-Protokoll ermöglicht Zu- gang zu den Ressourcen in den tropischen Regionen, eine Beteiligung der Länder des Südens am ökonomi- schen Gewinn und für die Unternehmen Rechtssicher- heit, wie zum Beispiel für die Pharmaindustrie, die den Artenreichtum der Regenwälder zur Entwicklung neuer Medikamente nutzen möchte. Mit diesem Vorteilsaus- gleich ist auch eine Bewahrung und Weiterentwicklung des traditionellen Wissens verbunden. Ich selbst konnte an der Konferenz in Nagoya und an der Gründung eines internationalen Netzwerkes der Sa- toyama-Initiative teilnehmen. „Satoyama“ ist eine Initia- tive aus Japan, die zum Ziel hat, den Artenschutz in Kul- turlandschaften zu fördern. Als politischer Begriff meint „Satoyama“ die Nutzung des Landes in Harmonie mit der Natur, das, was die westliche Welt „nachhaltige Nut- zung“ nennt. Ich hatte Gelegenheit, bei einer Exkursion ein typisches Satoyama-Projekt kennenzulernen, „Sen- maida“: die „Tausend Reisfelder“ von Yotsuya im Gebiet der Stadt Shinshiro östlich von Nagoya. Von vier steilen und bewaldeten Bergen umgeben, liegen dort 420 Ter- rassenreisfelder, die im Einklang mit der Natur bewirt- schaftet werden. Eine Initiative mit Vorbildcharakter, die Mut macht. Das darf uns nicht darüber hinwegtäuschen, dass Ja- pan die gleichen Probleme mit dem Verlust der biologi- schen Vielfalt hat wie Deutschland, wie Europa und all die anderen Länder. Das Artensterben ist vor allem auf landwirtschaftlichen Flächen besonders ausgeprägt und schreitet mit dem Verlust ursprünglicher und naturnaher Wälder sowie mit der Überfischung der Weltmeere wei- ter voran. Das Satoyama-Beispiel zeigt mir deutlich, wie wich- tig es ist, den Biodiversitätsschutz in den Alltag und un- ser wirtschaftliches Handeln einzubetten. Biologische Vielfalt ist nichts Entferntes; der Artenreichtum der Erde ist das Netz, das uns täglich trägt. Es muss deshalb in un- serem Interesse liegen, die Natur und unsere Lebens- grundlagen zu schützen. Unser fraktionsübergreifender Antrag „Biologische Vielfalt für künftige Generationen bewahren und die natürlichen Lebensgrundlagen si- chern“ hat gezeigt, dass wir als Abgeordnete im Deut- schen Bundestag mit so wichtigen Fragen wie dem Schutz der Artenvielfalt verantwortungsvoll umgehen und gemeinsam handlungsfähig sind. Was den Schutz der biologischen Vielfalt angeht, sollten wir nicht hinter die Forderungen dieses Antrags zurückgehen. Genau diese Gefahr sehe ich in dem Antrag „Die Taxonomie in der Biologie stärken“. Fast alles, was Sie in dem Antrag zu biologischer Vielfalt geschrieben haben, könnte ich sofort unter- schreiben. Dennoch sehe ich zwischen dem, was Sie zur biologischen Vielfalt schreiben, und dem, was Ihre da- raus abgeleiteten Handlungsempfehlungen sind, eine Diskrepanz. Ob die Stärkung der Taxonomischen Lehr- stühle die richtige Antwort auf die Herausforderungen des Artenschwundes ist, darüber kann man streiten. Die Taxonomie wurde von Carl von Linné im 18. Jahrhun- dert begründet, einer Zeit, in der die Grundlagenfor- schung in der Botanik und Zoologie in den Kinderschu- hen steckte. Mit der von ihm geschaffenen Einteilung der Pflanzen und Tiere hat er Grundlagen für die heutige Forschung und das Verständnis für Natur und die Zu- sammenhänge zwischen den einzelnen Arten gelegt. Die naturkundlichen Sammlungen entstanden in dieser Zeit und sind ein wertvolles wissenschaftliches und kulturel- les Erbe. Ich finde Ihren Antrag vor dem Hintergrund diskussionswürdig, dass das Leipziger Naturkundemu- seum wegen Geldmangel geschlossen werden soll. Wenn Sie mit Ihrem Antrag darauf abzielen, sollte man an an- derer Stelle darüber reden. Meine Kollegin Frau Klamt hat bereits deutlich gemacht, wie der Schutz der biologi- schen Vielfalt und der entstehende Forschungsbedarf ab- gedeckt werden sollen. Der beste Weg zum Schutz des Artenreichtums in Deutschland ist die Umsetzung der Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt, NBS. Die Umsetzung dieser Nationalen Strategie soll in den kommenden Jahren aus Sicht des Bundesumweltministeriums durch ein neues Bundesförderprogramm gezielt unterstützt werden. Als mögliche Förderschwerpunkte werden „Arten in beson- derer Verantwortung Deutschlands“, „Hotspots der biolo- gischen Vielfalt in Deutschland“ und „Ökosystemdienst- leistungen“ genannt. Mit der Artenvielfalt setzen sich viele Wissenschaftszweige auseinander. Es ist schwer zu vermitteln, warum hier der Bereich Taxonomie eine be- sondere Bevorzugung erhalten soll. Zu den Projektförder- aktivitäten kommt ganz maßgeblich die institutionelle Förderung der Forschungsmuseen der Leibniz-Gemein- schaft mit 50 Prozent des dortigen Forschungsaufwandes durch den Bund hinzu. Diese Museums- und Bildungsbe- reiche können aufgrund der Zuständigkeit der Länder nicht weitergehend mit Bundesmitteln gefördert werden. Wir sollten unsere Kräfte auf die wesentlichen Aufga- ben konzentrieren. Dazu gehört die Umsetzung der na- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7837 (A) (C) (D)(B) tionalen Biodiversitätsstrategie. Ich empfehle deshalb, den Antrag an die entsprechenden Ausschüsse zu über- weisen. Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD): Die General- versammlung der Vereinten Nationen hat im Dezember 2006 beschlossen, das Jahr 2010 zum Internationalen Jahr der Biodiversität zu erklären. Sie tat dies aus tiefer Besorgnis über die sozialen, ökonomischen, ökologi- schen und kulturellen Konsequenzen des Biodiversitäts- verlustes und mit der Hoffnung, dass die Staaten und anderen Akteure von dieser Gelegenheit profitieren wür- den, um das Bewusstsein für die Wichtigkeit der Biodi- versität zu stärken und lokale, regionale und internatio- nale Aktionen durchzuführen. Biodiversität meint die Vielfalt des Lebens und damit insbesondere auch die Vielfalt der Arten (Tiere, Pflanzen, Pilze). Die SPD- Bundestagsfraktion hat nicht zuletzt auch das Internatio- nale Jahr der Biodiversität 2010 zum Anlass genommen, um mit ihrem Antrag „Stärkung der Grundlagenfor- schung der biologischen Taxonomie und Stärkung der Biodiversitätsforschung zum Schutz der biologischen Vielfalt“ das Thema auf die politische und parlamentari- sche Agenda zu setzen. Lassen Sie mich eingangs eine Frage stellen: Was schätzen Sie, wie viele Tierarten es in Deutschland gibt? Laut einer Untersuchung des Bundesamtes für Natur- schutz gab es 2004 in etwa 48 000 Tierarten in Deutsch- land. Davon zählen allein 33 300 Arten zu den Insekten. Wirbeltierarten, also zum Beispiele Rehe, Füchse, Frösche, Vögel oder Fische, existieren bei uns hingegen nur knapp über 700. Verglichen mit anderen Regionen auf dieser Erde, wie zum Beispiel den Tropen, zählt Deutschland eher zu den Gebieten mit einer geringeren Artenvielfalt. Zur Orientierung: Von den zehn Staaten auf der Erde mit der reichsten Tier- und Pflanzenwelt lie- gen allein fünf Länder im Amazonasbecken: Venezuela, Kolumbien, Ecuador, Peru und Brasilien. Nachgewiesen sind auf unserer Erde circa 1,5 bis 1,75 Millionen Pflanzen- und Tierarten. Schätzungen ge- hen aber davon aus, dass es weltweit mindestens zwi- schen 13 und 20 Millionen Arten gibt. Denn viele sind einfach noch nicht entdeckt und wissenschaftlich einge- ordnet worden. Gleichzeitig sterben täglich auch 2 bis 130 Arten aus. Da jede Art ihre Rolle innerhalb des Öko- systems hat, geht dabei nicht nur die Art in ihrer Einzig- artigkeit unwiderruflich verloren, sondern kann im Zweifel auch das gesamte System geschwächt werden. Taxonomie in der Biologie ist die systematische Be- stimmung und Einteilung von Tieren und Pflanzen in Kategorien wie Familie, Gattung und Art. Viele andere Wissenschaftsdisziplinen bauen auf deren Erkenntnissen auf. Taxonomie ist also zumeist Grundlagenforschung, die allerdings vor besonderen Herausforderungen steht. Aufgrund der vorwiegend beschreibenden Arbeit über vorhandene Arten in einem bestimmten Gebiet ohne die ansonsten in der Wissenschaft übliche Forschungshypo- these ist es für Vertreterinnen und Vertreter der Taxono- mie in Deutschland besonders schwierig, Forschungs- mittel einzuwerben. Durch den Föderalismus und die daraus resultierenden unterschiedlichen Ansprechpartner und Forschungsförderer wird die Arbeit der Taxonomen in Deutschland ebenfalls erschwert. Aus diesem Grund sind spezielle auf die Taxonomie zugeschnittene For- schungsprogramme notwendig. Zudem macht sich be- reits heute ein Mangel an wissenschaftlichem Nach- wuchs in der Taxonomie bemerkbar. Auch diesem Trend muss entgegengewirkt werden. Die SPD-Bundestagsfraktion fordert mit diesem An- trag, den wir heute in erster Lesung beraten, die Bundes- regierung auf, sich gemeinsam mit den Bundesländern auf ein Konzept für eine bessere Ausstattung der natur- kundlichen Museen und Sammlungen zu verständigen. Darüber hinaus wird die Bundesregierung aufgefordert, Strukturen zu unterstützen und gegebenenfalls aufzu- bauen, die den wissenschaftlichen Nachwuchs im Be- reich der Taxonomie unterstützen und fördern. Letztlich können wir diese Fragen aber nicht allein auf nationalstaatlicher Ebene lösen. Daher wird die Bun- desregierung darüber hinaus aufgefordert, ein mit den Bundesländern und der Europäischen Kommission abge- stimmtes Bundesforschungsprogramm für die biologische Taxonomie ins Leben zu rufen, welches Infrastrukturen, Datenbanken, Forschungsprojekte und Koordinierungs- strukturen langfristig finanziell unterstützt. Auf europäi- scher Ebene beginnen derzeit die Verhandlungen zum 8. Forschungsrahmenprogramm. Die Bundesregierung wird daher mit diesem Antrag aufgefordert, dass die Biodiversitätsforschung und dabei auch die Taxonomie im 8. Forschungsrahmenprogramm sichtbar ausgebaut wird. Ich freue mich auf die gemeinsamen Beratungen in den Ausschüssen und möchte schon heute bei allen Frak- tionen um die Zustimmung zu diesem Antrag werben. Dr. Matthias Miersch (SPD): Die 10. Vertragsstaa- tenkonferenz des Übereinkommens über die biologische Vielfalt in Nagoya hat sehr deutlich gemacht, wie eng der Schutz von terrestrischen und marinen Lebensräu- men und Arten, ihre nachhaltige Nutzung und vor allem der gerechte Vorteilsausgleich zwischen Industrie- und Entwicklungsländern zusammenhängen. Ohne eine faire Regelung über den Zugang zu genetischen Ressourcen und der gerechten Gewinnbeteiligung bei der Nutzung dieser Ressourcen wird es langfristig keinen Schutz der Lebensräume und Arten, vor allem in den Entwicklungs- und Schwellenländern, geben. Dieser Erkenntnis haben sich die Vertragsstaaten in Nagoya verpflichtet; diese gilt es jetzt auch endlich mit Leben zu füllen und umzuset- zen. Diese Erkenntnis setzt aber inhaltlich voraus, dass es genug Haupt- und Ehrenamtliche gibt, die eine gute Ar- tenkenntnis besitzen und sich in der Pflanzen- und Tier- systematik auskennen. Ohne den Unterbau an fundierter Sachkunde sind die ehrgeizigen Ziele zum Schutz und Erhalt der Natur nicht zu halten. Hier gibt es zunehmend Engpässe – sowohl bei der Erfassung der Arten außer- halb Deutschlands, insbesondere in tropischen Gebieten, als auch innerhalb Deutschlands. Hier sind es hauptsäch- lich die Ehrenamtlichen, die das Arteninventar in schüt- zenswerten Gebieten kennen, aufnehmen und an die zu- 7838 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 (A) (C) (D)(B) ständigen Naturschutzbehörden weiterleiten und so eine Bestandsaufnahme und darauf aufbauende wirkungs- volle Kontrolle erst möglich machen. Die Naturschutzbehörden haben durch Stellenstrei- chungen massiv an qualifizierten Mitarbeitern und Mit- arbeiterinnen verloren. Der Trend hält leider nach wie vor an. Das führt dazu, dass die Erstellung der Roten Listen ohne die Zuarbeit der ehrenamtlichen Naturschüt- zer und Naturschützerinnen heutzutage gar nicht mehr möglich ist. Ein herzliches Dankeschön an alle ehren- amtlichen Naturschützer und ihre Dachverbände; aber langfristig ist das, bei steigenden Anforderungen an die Naturschutzbehörden, natürlich keine Lösung. Dieses Problem betrifft die Länder- und Kommunalverwaltun- gen, aber auch der Bund ist betroffen. Das Bundesamt für Naturschutz und die Naturschutzabteilung im Bun- desumweltministerium arbeiten bereits jetzt am Rande ihrer Kapazität. Wie soll auf dieser Basis ein wirksamer Schutz der biologischen Vielfalt erreicht werden? Wie meint die Bundesregierung, mit diesen Ressourcen ihre internationalen Zusagen einhalten zu können? Leider hat die Bundesregierung das Problem noch nicht angepackt. Im Bereich der Taxonomie muss ent- schieden gegengesteuert werden. Beim Bundesamt für Naturschutz fallen 2011 acht Stellen weg. Vor dem Hin- tergrund neuer Aufgaben, zum Beispiel beim Meeresnatur- schutz, oder durch die neuen Anforderungen, die sich aus dem Verhandlungsergebnis der 10. Vertragsstaaten- konferenz von Nagoya ergeben, ist dies ein Unding. Eine Entwicklung in die gegenteilige Richtung wäre das poli- tische Gebot der Stunde. Es bleibt zu hoffen, dass die Bundesregierung in Zukunft dem Schutz der Biodiversi- tät und der Bedeutung des Themas Taxonomie als Grundstein für den Erhalt der Natur einen größeren Stel- lenwert zuschreibt. Angelika Brunkhorst (FDP): Seit Jahren beklagen gerade die Naturkundemuseen ihre schlechte finanzielle und sächliche Ausstattung. Dies führt dazu, dass ihre Sammlungen infolge Geldmangels größtenteils nicht ge- zeigt und erforscht werden können. Noch viel gravieren- der ist jedoch, dass der Nachwuchs bei den Taxonomen fehlt. Bundesweit mangelt es an Lehrstühlen, die eine ganzheitliche Forschung und Lehre der Artenvielfalt an- bieten. Taxonome klassifizieren Lebewesen aus Flora und Fauna nach ihren Merkmalen in ein Ordnungssys- tem. Nur wer umfassend um die Arten und deren Funk- tion innerhalb der Ökosysteme weiß, kann sie bewahren. Die Wissenschaftler leisten damit einen bedeutenden Beitrag zum Artenschutz. Rund zwei Millionen Arten sind bis heute bestimmt und erfasst. Schätzungen gehen davon aus, dass über 90 Prozent aller Arten weltweit noch immer unbekannt sind. Millionen von Tieren und Pflanzen sind somit un- beschrieben. Dies hat zur Folge, dass die meisten Arten, unerforscht und unbekannt aussterben. Im Hinblick auf die Verfügbarkeit pflanzlicher Wirk- stoffe als Heilmittel ist der Schutz der Artenvielfalt ein wichtiger Beitrag zur Bekämpfung von Krankheiten. Be- reits heute ist die Natur Vorbild für Hightechprodukte und hält Optionen für innovative Produkte in der Zu- kunft bereit. Viele Pflanzen- und Tierarten beinhalten oder produzieren Wirkstoffe, die uns neue Ansätze bei der Behandlung von Erkrankungen eröffnen könnten. Diese gilt es zu erforschen, bevor sie uns verloren gehen. Jährlich werden alleine in Lebewesen der Meere Hun- derte Naturstoffe entdeckt, die beispielsweise bei der Krebstherapie, im Kampf gegen das HI-Virus oder den Malariaerreger neue Perspektiven eröffnen. Die Vereinten Nationen haben das Jahr 2010 zum In- ternationalen Jahr der Biodiversität erklärt. Ziel ist es, eine größere Sensibilität für die Vielfalt und die Schutz- bedürftigkeit des Lebens auf der Erde zu schaffen. Nach langen vergeblichen Bemühungen um ein tragfähiges Konzept gegen das Artensterben konnten wir vor weni- gen Tagen beim UNO-Gipfel in Nagoya einen großarti- gen Erfolg für mehr internationalen Artenschutz verbu- chen. Dies war dringend notwendig, da alle bisherigen Anstrengungen im Sande verliefen. Die Natur ist unser größter Schatz. Wir stehen unverändert in der Pflicht, entschlossen und umsichtig die natürlichen Lebens- grundlagen zu schützen und die Lebensqualität nachfol- gender Generationen in ökologischer, ökonomischer und sozialer Hinsicht zu bewahren und weiterzuentwickeln. Auch ist es unsere Aufgabe unseren Kindern und Kin- deskindern eine artenreiche Natur zu hinterlassen, so- dass auch sie noch von den Ökosystemdienstleistungen der Natur profitieren können. Hierfür benötigen wir hochqualifizierte Spezialisten im Bereich der Taxono- mie. Der Nachwuchsmangel in Deutschland ist eklatant. Die vielen zoologischen und botanischen Einrichtungen haben es verdient, dass ihre Arbeit auch weiterhin wis- senschaftlich fundiert untermauert wird. Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): 2010 wurde von den Vereinten Nationen zum Jahr der biologischen Vielfalt ausgerufen. Die durch den Menschen verursachte Zer- störung der Artenvielfalt hat ein dramatisches Ausmaß angenommen. Bis zu 130 Arten sterben jeden Tag aus. Wie der vorliegende Antrag richtig beschreibt, zieht die- ser Prozess Konsequenzen für viele weitere Bereiche nach sich. So ist die Welternährung betroffen, weil Monokulturen, die übermäßige Bodennutzung und die Einengung des Sortenspektrums die Nahrungsketten vie- ler Millionen Menschen bedroht. 75 Prozent der im 19. Jahrhundert noch bekannten Kulturpflanzen und Nutztierarten sind inzwischen ausgestorben. Der Verlust an Biodiversität steht auch in engem Zu- sammenhang mit Themen der Energieversorgung, der Gesundheit und nicht zuletzt des Klimawandels. So ist etwa die biologische Vielfalt der Regenwälder essenziell für eine Abpufferung der klimatischen Veränderungen. Artenvielfalt sichert Schädlingsarmut, unterstützt die Kreisläufe von Wasser und Kohlenstoff und verhindert Bodenerosion. Es geht also, wenn wir die Dringlichkeit politischen Handelns gegen den Verlust der Artenvielfalt begründen, nicht nur um ethische Fragen. Die Forschung spricht in- zwischen von Biodiversitätsgütern und -dienstleistun- gen, also ganz utilitaristisch von Dingen, die wir als Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7839 (A) (C) (D)(B) Menschen existenziell zum Leben brauchen. Es ist zwar traurig, dass immer wieder in Studien der Wert der Bio- diversität in Dollar und Euro ausgerechnet werden muss, um die Gesellschaft für das Problem wachzurütteln. Diese Methode hat jedoch auch beim Klimawandel er- folgreich gewirkt. Trotz des komplexen Beziehungsgeflechts der Biodi- versität steht sie in der öffentlichen Aufmerksamkeit hinter Themen wie dem Klimawandel oder der Energie- versorgung zurück. Bereits 2001 hatte die EU den Stopp des Verlustes der Artenvielfalt bis 2010 beschlossen, ein Jahr später setzten sich die Vertragsstaaten des Überein- kommens über die biologische Vielfalt (CBD) das glei- che Ziel. Vor drei Wochen nun vereinbarten die Vertrags- staaten im japanischen Nagoya erneut, den weltweiten Artenschwund in den kommenden zehn Jahren zu stop- pen. Es bleibt jedoch unklar, wie diese hehren Vorhaben eigentlich überprüft werden können. Denn es fehlt an Wissen und Kategorien für die Artenvielfalt. Der Antrag der SPD-Fraktion weist daher zu Recht da- rauf hin, dass diese Lücken bestehen. Auch Institute der Forschungsorganisationen, namentlich der Helmholtz- und der Leibniz-Gemeinschaft, machen immer wieder darauf aufmerksam, wie wichtig es ist, die Prozesse des Verlustes der Biodiversität wissenschaftlich zu erfassen. Die sprichwörtliche Schmetterlings- und Schlangen- sammlung, die wir aus der Kolonialzeit kennen, hatte eher eine kulturelle Dimension der Entdeckung fremder Welten. Heute kommt der Taxonomie, die eine moderne, mit IT und Raumfahrt verknüpfte Wissenschaftsdisziplin ist, eine grundlegende Bedeutung im Kampf um unsere Lebensgrundlagen zu. Je fundierter die Kenntnis über die Prozesse der Pflanzen- und Tierwelt ist, um so präziser können wir Maßnahmen gegen das Artensterben planen und umsetzen. Trotz dieser Bedeutung ist die Taxonomie, also die Kartografie der Biodiversität, selbst eine fast vom Aus- sterben bedrohte Art der Biologie. Sie hat Schwierigkei- ten, sich im Kampf um Mittel und Ausstattung zu be- haupten. Ihre Forschungsgebiete können zumeist keine unmittelbare Anwendungsrelevanz behaupten. Wenn dieses Problem des wissenschaftlichen Substanzverlus- tes ernsthaft angegangen werden soll, muss der wissen- schaftliche Nachwuchs besonders gestärkt werden. Zwar gibt es auf deutscher und internationaler Ebene durchaus schlagkräftige Netzwerke der Biodiversitäts- forschung. Allerdings werden diese in Umfang und The- menstellung der Breite und Bedeutung des Themas noch nicht gerecht. Das BMBF etwa hat neben der institutio- nellen Förderung im laufenden Haushaltsjahr nur 8,5 Millionen Euro für Projekte der Biodiversitätsfor- schung verausgabt. Viele der im Antrag benannten For- schungsmuseen kämpfen gegen Mittelkürzungen. Wir unterstützen die Forderung der SPD, Forschungsinfra- strukturen und Datenbanken im Rahmen eines Bundes- forschungsprogramms langfristig finanziell abzusichern. Aber die Politik sollte nicht nur Geld für die Erfas- sung der Artenvielfalt und das Monitoring beisteuern. Wir müssen auch sagen, welchen Wissensbedarf wir selbst haben. Die Umsetzung der Strategie zur Erhaltung der Biodiversität muss auf der Grundlage des neuesten Standes wissenschaftlicher Erkenntnisse erfolgen. Denn solch eine Strategie wird in viele Bereiche unserer Le- bens- und Produktionsweise eingreifen, angefangen von der Flächennutzung bis zur Landwirtschaft oder dem lär- mintensiven Verkehrswesen. Forschung für Artenschutz ist mehr als Taxonomie. Wir brauchen auch eine ange- wandte Nachhaltigkeitsforschung und die enge Zusam- menarbeit von Wissenschaft und Politik. Krista Sager (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Taxonomie gehört zum Basiswissen für die Biodiversi- tätsforschung und damit für alle praktischen Maßnah- men, die auf biologische und ökologische Systeme zielen. Das Erkennen von Veränderungen im Ökosystem zum Beispiel bei der Artenzusammensetzung, beim Ver- schwinden von Arten oder dem Auftauchen von invasi- ven, gebietsfremden Arten und die Beurteilung ihrer Folgen sind wichtige Voraussetzungen dafür, dass Bio- diversitätsforschung als Frühwarnsystem funktionieren kann. Die Kenntnis der Arten und ihrer Eigenschaften in Inter- aktion mit ihrem Lebensraum ist unverzichtbar für jedes nachhaltige Populationsmanagment, ob im Naturschutz oder bei der Schädlingsbekämpfung. Artenkenntnis ist auch eine wichtige Grundlage, um zum Beispiel bei der Kooperation mit Entwicklungsländern, den optimalen Einsatz knapper Ressourcen für die Biodiversitätsfor- schung zu erreichen. Wenn für diese Aufgaben zuneh- mend die Expertinnen und Experten fehlen, wird Deutschland es schwer haben, seine Verpflichtungen aus dem Übereinkommen über die biologische Vielfalt (CBD) von 1993 zu erfüllen. Denn dieses hat im Prinzip die hinreichende Bereitstellung von Forschungsinfra- struktur und Forschungsressourcen zur Voraussetzung. Die wachsende Bedeutung der Biodiversitätsfor- schung nicht nur für den Erhalt der Artenvielfalt, son- dern auch für Ernährung, Land- und Forstwirtschaft, Kli- maschutz, Medizin, Pharmazie, Bionik bis hin zur Vorbereitung internationaler Schutzabkommen wird in- zwischen allgemein anerkannt. Die Biodiversitätsdebatte bietet im Prinzip auch gute Voraussetzungen, um die Taxonomie von ihrem etwas angestaubten Image zu be- freien und für wissenschaftliche Nachwuchskräfte wie- der interessanter zu machen. Das Handwerkszeug der Taxonomie ist zudem vielfältiger und anspruchsvoller geworden und reicht von der Molekulargenetik bis zur Teilnahme an Freilandexperimenten. Das Hauptproblem in der Biodiversitätsforschung ist sicherlich das Auseinanderklaffen von wissenschaftlicher Erkenntnis und praktischem Handeln. Gerade mit Blick auf die bevorstehende Umstellung der EU-Landwirt- schaftspolitik nach 2013 bekommen interdisziplinäre Praxisprojekte mit wissenschaftlicher Begleitung eine große Bedeutung. Gebraucht werden dafür zunehmend interdisziplinäre Teams mit Biologen, Taxonomen, Juris- ten und Ökonomen, die mit örtlichen politischen Akteu- ren und Praktikern kooperieren. Der Bund sollte durch ein entsprechendes Programm dafür sorgen, dass an Uni- versitäten und Forschungseinrichtungen in Deutschland 7840 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 (A) (C) (D)(B) für jede Tier- und Pflanzenklasse mindestens ein spezifi- sches Kompetenzzentrum gesichert wird bzw. bestehende Lücken geschlossen werden. In diesem Kontext sollte die Nachwuchssicherung im Bereich Biotaxonomie gefördert werden. Für die Ausbil- dung und Forschung im Bereich Biotaxonomie, aber auch als DNA-Banken und Archive des Lebens haben Samm- lungen und Museen eine große Bedeutung. Der Leibniz- Verbund Biodiversitätsforschung umfasst 28 Leibniz- Einrichtungen. Es ist fraglich, ob eine fünfzigprozentige Bundesbeteiligung an der Finanzierung dieser nationalen Bedeutung noch entspricht, zumal der hohe Länderanteil zunehmend zur Entwicklungsbremse für diesen Bereich wird. Der Bund sollte auch auf internationaler Ebene ge- rade auch im Hinblick auf das deutsch-brasilianische Wissenschaftsjahr sich dafür einsetzen, dass die Möglich- keiten für die Grundlagenforschung für internationale Biodiversitätsforscher erleichtert und offener werden. Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2009/28/EG zur För- derung der Nutzung von Energie aus erneuer- baren Quellen (Europarechtsanpassungsgesetz Erneuerbare Energien – EAG EE) (Tagesord- nungspunkt 22) Dr. Maria Flachsbarth (CDU/CSU): Der Klima- schutz ist weltweit die herausragende umweltpolitische Herausforderung der Gegenwart. Er ist Vorsorge für eine langfristig tragfähige wirtschaftliche und ökologische Entwicklung. Um den Anstieg der durchschnittlichen Temperatur auf der Erde auf maximal 2 Grad Celsius ge- genüber dem vorindustriellen Niveau bis zum Ende die- ses Jahrhunderts zu begrenzen, ist es erforderlich, dass die Industriestaaten ihre Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2050 um mindestens 80 Prozent reduzieren. Deutschland verfolgt daher das Ziel, die nationalen Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2020 um 40 Pro- zent gegenüber 1990 und um 80 bis 95 Prozent bis zum Jahr 2050 zu reduzieren. Dies erfordert eine deutliche Steigerung der Energieeffizienz und Alternativen zu den herkömmlichen Energieträgern; diese Notwendigkeit wird auch durch die knapper werdenden fossilen Res- sourcen und den weltweit kontinuierlich steigenden Ener- giebedarf unterstrichen. Erneuerbare Energien sind nach menschlichen Maß- stäben unerschöpflich. In der Verantwortung gegenüber künftigen Generationen gilt es, vorhandene Ressourcen zu schonen und regenerative Energien zu nutzen. Durch die Nutzung heimischer erneuerbarer Energien wird zu- gleich die Importabhängigkeit von ausländischen Ener- gieträgern reduziert. Deutschland verfolgt daher das Ziel, den Weg in das regenerative Zeitalter zu gehen und zugleich die Technologieführerschaft bei den erneuerba- ren Energien auszubauen. Die christlich-liberale Koalition hat in Regierung und Parlament ein umfassendes Energiekonzept zur Sicher- stellung einer zuverlässigen, wirtschaftlichen und um- weltverträglichen Energieversorgung vorgelegt. Damit haben wir zum ersten Mal seit über 20 Jahren wieder ein ideologiefreies, technologieoffenes und marktorientier- tes Energieprogramm aus einem Guss, das alle energie- wirtschaftlich relevanten Bereiche anspricht und den Weg in das Zeitalter der erneuerbaren Energien weist. Mit dem Konzept soll das Energiesystem der Zukunft so gestaltet werden, dass Deutschland bei wettbewerbs- fähigen Energiepreisen und hohem Wohlstandsniveau eine der energieeffizientesten und umweltschonendsten Volkswirtschaften der Welt wird. Das Energiekonzept ist eine bis in das Jahr 2050 reichende Strategie, in der erst- malig der Weg in das Zeitalter der erneuerbaren Ener- gien konkret beschrieben wird. Ein hohes Maß an Ver- sorgungssicherheit, ein wirksamer Klima- und Umweltschutz sowie eine wirtschaftlich erfolgreiche Perspektive werden damit dauerhaft miteinander verbun- den. Wir holen das von der rot-grünen Bundesregierung Versäumte nach und stellen uns unserer Verantwortung. Im Energiemix der Zukunft sollen die erneuerbaren Energien den Hauptanteil übernehmen. Auf diesem Weg werden in einem dynamischen Energiemix die konven- tionellen Energieträger kontinuierlich durch erneuerbare Energien ersetzt. Dabei baut die Kernenergie eine Brü- cke auf dem Weg dorthin. Unser Konzept ist weltweit beispiellos, weil es lang- fristig angelegt ist und eine Vision für eine klimafreund- liche Energieversorgung bis zum Jahre 2050 schafft, weil es ein umfassendes und konkretes Maßnahmenpro- gramm enthält und seine Umsetzung solide finanziert ist. Wir zeigen damit konkret auf, wie wir den Weg in das Zeitalter der erneuerbaren Energien gehen wollen, wie er im Koalitionsvertrag festgelegt ist. Ein regelmäßiges und konsequentes Monitoring wird dazu dienen, Fehl- entwicklungen frühzeitig zu erkennen und zu korrigie- ren. Die neun Handlungsfelder des Energiekonzeptes der Bundesregierung beinhalten neben den Feldern Energie- effizienz, Kernenergie, Netzausbau, Herausforderung Mobilität oder energetische Gebäudesanierung die er- neuerbaren Energien. Letztere sollen als Ziel so dyna- misch ausgebaut werden, dass ihr Anteil am Energiever- brauch 30 Prozent bis 2030 und 60 Prozent bis 2050 beträgt. An der Stromversorgung soll der Anteil sogar auf 50 Prozent bis 2030 und 80 Prozent bis 2050 steigen. Im Zusammenhang mit dem Energiekonzept der Bun- desregierung wurde am 28. September 2010 auch das so- genannte Europarechtsanpassungsgesetz vom Bundeska- binett verabschiedet, dessen Entwurf wir heute beraten. Mit dem Europarechtsanpassungsgesetz setzen wir die EU-Richtlinie 2009/28/EG zur Förderung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen – die sogenannte Erneuerbare-Energien-Richtlinie – in deutsches Recht um. Diese Richtlinie ist Teil des Europäischen Klima- und Energiepakets. Sie gibt als Ziel für das Jahr 2020 einen Anteil Erneuerbarer Energien von 20 Prozent am Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7841 (A) (C) (D)(B) Endenergieverbrauch der EU verbindlich vor. Für Deutschland ist ein nationales Ziel von 18 Prozent vor- gegeben. Mit der Richtlinie wird erstmals eine Gesamt- regelung in der EU für alle Energiesektoren, also Strom, Wärme/Kälte und Transport, eingeführt. Sie schafft hier- durch einen verlässlichen Rechtsrahmen für die notwen- digen Investitionen. Für die Zielerreichung können die Mitgliedstaaten ihre Förderinstrumente grundsätzlich selbst ausgestalten, um ihre Potenziale optimal zu errei- chen. Darüber hinaus führt die Richtlinie flexible Me- chanismen für eine Kooperation zwischen den Mitglied- staaten ein. Die Umsetzung der Erneuerbare-Energien-Richtlinie ist in Deutschland bereits weit gediehen: Mit dem Erneu- erbare-Energien-Gesetz, EEG, dem Erneuerbare-Ener- gien-Wärmegesetz, EEWärmeG, der Biokraftstoffförde- rung und den Nachhaltigkeitsverordnungen sind bereits weite Teile der Erneuerbare-Energien-Richtlinie vorzei- tig umgesetzt worden. Das zeigt ganz besonders deut- lich, dass die deutschen Förderregelungen für erneuer- bare Energien ehrgeizig und europaweit vorbildlich sind. Deshalb passen wir das nationale Recht mit dem Europa- rechtsanpassungsgesetz nur in Details an die Erneuer- bare-Energien-Richtlinie an. Der Gesetzentwurf setzt die Richtlinie „eins zu eins“ um. Deshalb nehmen wir keine über eine solche Eins-zu-eins-Umsetzung hinausgehen- den Änderungen vor. Kern dieses Gesetzes sind die Ein- führung eines elektronischen Herkunftsnachweisregis- ters und die Vorbildfunktion öffentlicher Gebäude. Zum Herkunftsnachweisregister: Die Mitgliedstaaten müssen ein elektronisches Register für Herkunftsnach- weise für Strom aus erneuerbaren Energien einführen. Diese Nachweise werden für direkt vermarkteten Strom aus erneuerbaren Energien ausgestellt. Sie können für die Stromkennzeichnung genutzt werden. Gegenüber dem Verbraucher kann damit bewiesen werden, dass der genutzte Strom aus erneuerbaren Energien stammt. Zur Umsetzung wird § 55 EEG neu gefasst und eine Verord- nungsermächtigung geschaffen. Das Umweltbundesamt, UBA, soll das Register führen. Ich denke, dass wir mit diesem Register die Stromkennzeichnung für Strom aus erneuerbaren Energien marktnah verbessern und trans- parenter gestalten. Zur Vorbildfunktion: Die Richtlinie verpflichtet die Mitgliedstaaten, sicherzustellen, dass auch bestehende öffentliche Gebäude ab 2012 im Falle einer grundlegen- den Renovierung eine Vorbildfunktion für die Nutzung erneuerbarer Energien übernehmen. Um dies umzuset- zen, wird die bereits für Neubauten bestehende Nut- zungspflicht des EEWärmeG auf öffentliche Bestands- gebäude ausgedehnt. Bei der Ausgestaltung ist darauf geachtet worden, keine Privaten zu belasten; Wohnge- bäude sind vollständig ausgeklammert. Die Verpflich- tung gilt außerdem nur für öffentliche Gebäude, die im Eigentum der öffentlichen Hand stehen oder die künftig von der öffentlichen Hand angemietet werden. Gebäude, die die öffentliche Hand bereits von Privaten angemietet hat, werden nicht erfasst. Allerdings haben wir uns hier mit Härtefallregelungen für Kommunen stark gemacht. Klar ist: Die Mehrheit der öffentlichen Gebäude wird von den Kommunen genutzt. Eine Ausnahme für diese Gebäude ist mit der Erneuerbare-Energien-Richtlinie zwar nicht vereinbar. Um nun potenzielle finanzielle Be- lastungen der Kommunen auf ein Minimum zu reduzie- ren und zugleich den europarechtlichen Mindestanforde- rungen zu genügen, wollen wir Kommunen, die in einer akuten Haushaltsnotlage sind, von der Nutzungspflicht befreien. Ich freue mich, dass auch insgesamt gesehen die Kos- ten dieser Regelung im Rahmen bleiben. Natürlich ist Klimaschutz nicht ganz kostenlos zu haben: Die Kosten der Verpflichtung der öffentlichen Hand zu einer vor- bildlichen Nutzung erneuerbarer Energien sind von der öffentlichen Hand zu tragen, als Eigentümerin der öf- fentlichen Gebäude oder als Mieterin, weil der Mietver- trag zugleich die Kostenübernahme der Vorbildfunktion durch die öffentliche Hand regeln kann. Die Bundesregierung nimmt an, dass aufgrund der ak- tuellen Haushaltsnotlage deutlich weniger als jährlich knapp 2 500 öffentliche Gebäude aufgrund der Vorbild- funktion des neuen § 1 a EEWärmeG in erneuerbare Energien für die Wärme- oder Kälteversorgung investie- ren müssen. Da den Investitionen auch Einsparungen durch vermiedene Nutzung teurer werdender fossiler Brennstoffe entgegenstehen, können sich auf mittelfris- tige Sicht jedenfalls die anfänglichen Investitionskosten innerhalb der üblichen Betriebsdauer einer Anlage amor- tisieren und die Nutzung erneuerbarer Energien wird rentabel. Die Bundesregierung schätzt die maximale Ge- samtbelastung, Differenzkosten, auf 4,07 Millionen Euro. Davon entfallen circa 0,25 Millionen Euro, 6,1 Pro- zent, auf den Bund, circa 0,54 Millionen Euro, 13,3 Pro- zent, auf die Länder und circa 3,28 Millionen Euro, 80,6 Prozent, auf die Kommunen und ihre mittelbaren Einrichtungen bzw. sonstige Eigentümer von öffentli- chen Gebäuden. Ich betone, dass im Ergebnis mit keinen unmittelbaren oder abschätzbaren mittelbaren Kosten für Private oder für die Wirtschaft zu rechnen ist, die durch dieses Artikelgesetz ausgelöst werden. Dies gilt sowohl für den Herkunftsnachweis als auch für die Vorbildfunk- tion öffentlicher Gebäude. Schließlich beinhaltet der Gesetzentwurf zum Bei- spiel punktuelle Verbesserungen beim Netzanschluss von EEG-Anlagen, zur Sicherstellung einer ausreichen- den Datenlage im Wärme/Kälte-Bereich, in der Energie- statistik und bei der Fortbildung von Handwerkern sowie eine Vertrauensschutzregelung beim Einsatz von flüssi- ger Biomasse. Die flexiblen Kooperationsmechanismen, wie zum Beispiel gemeinsame Projekte mit anderen Ländern, set- zen wir nicht mit diesem Gesetz um. Sie sind eine zu- sätzliche, freiwillige Möglichkeit der Länder, ihre Ziele zu erfüllen. Deutschland wird sein nationales Ziel nach der Ende 2009 an die Kommission übermittelten Voraus- schätzung bereits ohne Nutzung dieser Mechanismen er- füllen. Insofern hängt die Frage, ob und in welchem Um- fang die Bundesregierung von den Kooperations- mechanismen Gebrauch machen wird und ob dies dann einer Umsetzung im EEG bedarf, zum einen von der tat- sächlichen Entwicklung des Ausbaus der erneuerbaren Energien in Deutschland ab. Zum anderen spielen auch 7842 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 (A) (C) (D)(B) das Interesse anderer Mitgliedstaaten und schließlich eine gemeinsame, vertiefte Analyse der wirtschaftlichen und rechtlichen Implikationen im Einzelfall eine Rolle. Ich bin sicher, dass wir mit dem Europarechtsanpas- sungsgesetz einen ausgewogenen Gesetzentwurf vorlie- gen haben, mit dem wir unsere Klimaschutzziele in einem ehrgeizigen, aber dennoch realistischen Rahmen umsetzen. Dirk Becker (SPD): Die Einführung eines elektroni- schen Herkunftsnachweisregisters für Strom aus erneu- erbaren Energien erscheint sinnvoll, um die europaweite Vermarktung von grünem Strom zu vereinheitlichen. Noch bleibt allerdings abzuwarten, ob die neue Rechts- verordnung tatsächlich deutliche Verbesserungen gegen- über dem bisherigen System schafft. Die darin zu kon- kretisierenden Anforderungen an die Ausstellung, Anerkennung, Übertragung und Entwertung von Her- kunftsnachweisen müssen klar und unmissverständlich formuliert sein, sodass rechtliche Unsicherheiten nicht zu Investitionshemmnissen werden. Genau das ist der Bundesregierung allerdings beim Netzanschluss bereits misslungen. In § 5 Abs. 5 EEG soll es künftig heißen: „Netzbetreiber sind verpflichtet, Einspeisewilligen unverzüglich die für den Netzan- schluss erforderlichen Informationen vollständig zu übermitteln …“ Das klingt ja auf den ersten Blick gut und schön, auf den zweiten Blick frage ich mich aber, was ist hier eigentlich mit „unverzüglich“ gemeint? In der Begründung heißt es, dass die zeitliche Anforderung „unverzüglich“ – etwa bei der Übermittlung der Unterla- gen zur Prüfung des Verknüpfungspunkts seitens des Einspeisewilligen – nicht zwangsläufig eine Verschär- fung der bisher vorgesehenen acht Wochen darstellt. Hier frage ich mich dann doch, welchen Nutzen sich die Bundesregierung bezüglich der Beschleunigung des Netzzugangs verspricht. Die Bemühungen scheinen hier über Lippenbekenntnisse nicht hinauszugehen. Was wir beim Netzanschluss brauchen, sind klare Fristen, für de- ren schuldhafte Überschreitung der Netzbetreiber haften muss. Ich befürworte darüber hinaus, die Netzbetreiber zu verpflichten, auf ihrer Internetseite die aktuelle Netzaus- lastung und die bestehenden und zu erwartenden Eng- pässe zu veröffentlichen. Das schafft Transparenz, gibt der Öffentlichkeit Aufschluss darüber, wie viel Strom aus erneuerbaren Energien noch in die Leitungen passt, und erleichtert die Investitionsentscheidungen für Anla- genbetreiber. Außerdem müssen wir Klarheit darüber schaffen, wie die Gebühren für Netzverträglichkeitsprüfungen gestal- tet werden sollen. Die gegenwärtige Praxis ist rein will- kürlich und beruht auf keinen festen Regelungen. Insbe- sondere für Investoren in Kleinanlagen stellt dies ein weiteres Investitionshemmnis dar. Hier ist etwa zu über- legen, die Angemessenheit der Gebühren regelmäßig von der Bundesnetzagentur überprüfen zu lassen. Bisher habe ich in erster Linie von Versäumnissen der Bundesregierung bei der Beschleunigung des Netzzu- gangs von Erneuerbare-Energien-Anlagen gesprochen. Was mich aber besonders empört, ist, dass Sie mit § 64 Abs. 2 EEG versuchen, dem Parlament seine Mitsprache bei der Ergänzung der Positiv- und Negativlisten von nachwachsenden Rohstoffen zu entziehen. Mithilfe einer Rechtsverordnung wollen Sie die in Anlage 2 des EEG festgeschriebenen Listen zukünftig ohne Zustimmung des Deutschen Bundestages ergänzen. Das Parlament hat bei der letzten EEG-Novellierung im Jahr 2008 auf eben diese Mitbestimmung als eines der Kernelemente des EEG besonderen Wert gelegt. Mir erscheint das Misch- gebilde, das hier aus Gesetzestext und Rechtsverordnung entsteht, in seiner Verfassungsmäßigkeit äußerst frag- würdig. Dies gilt es im Rahmen des Gesetzgebungsver- fahrens unbedingt zu prüfen. Generell sollte gelten: Alles, was über die Anpassung nationalen Rechts an die EU-Richtlinie hinausgeht – wie etwa Ergänzungen der Positiv- und Negativlisten – sollte im Rahmen der EEG-Novelle 2012 geprüft werden. Das Europarechtsanpassungsgesetz darf nicht als Vorwand genutzt werden, heimlich, still und leise das Parlament in seinen Zuständigkeiten und Kontrollrechten zu be- schneiden. Über 50 Prozent der Energie wird in Deutschland im Wärmesektor verbraucht. Mit dieser Energie wird Brauchwasser erhitzt, werden Gebäude geheizt und ge- kühlt bzw. insgesamt klimatisiert. Rund 40 Prozent der Treibhausgasemissionen aus der energetischen Nutzung fossiler Energieträger fallen hier an. Der Anteil der er- neuerbaren Energien lag demgegenüber im vergangenen Jahr bei bescheidenen 8,4 Prozent. Alle sprechen vom „schlafenden Riesen“ Wärmesek- tor, aber die Bundesregierung und die sie tragende Ko- alition trauen sich nicht, ihn zu wecken. Die Bundesre- gierung hat bereits in ihrem Energiekonzept verpasst, für den Wärmemarkt einen stringenten und für alle Beteilig- ten transparenten Pfad für die Verringerung des Energie- bedarfs in diesem Bereich und die Steigerung des An- teils erneuerbarer Energien aufzuzeichnen. Lediglich für das Jahr 2050 wird ein ambitioniertes Ziel ausgerufen. Mit dem vorliegenden Entwurf für ein Europa- rechtsanpassungsgesetz wird eine weitere große Chance verpasst. Mit der Novelle des Erneuerbare-Energien- Wärmegesetzes, EEWärmeG, hätte man tatsächlich eine Initialzündung für mehr an erneuerbaren Energien auch in Bestandsgebäuden, aber auch für eine ambitionierte Steigerung der Sanierungsquote erreichen können. Doch vorgelegt wird dem Deutschen Bundestag ein Entwurf, über den es sich kaum zu diskutieren lohnt. Positiv sind zwar sicherlich die Gleichstellung von Wärme- und Kälteerzeugung und die Vorbildfunktion öffentlicher Gebäude im Bestand. Das ist aber in Hin- blick auf das Ausbauziel für erneuerbare Energien bis 2020 herzlich wenig. Der Großteil der vorgeschlagenen Änderungen des EEWärmeG beziehen sich darauf, die Anzahl der von den gesetzlichen Bestimmungen betrof- fenen Gebäuden zu minimieren. Denn es sind nicht alle öffentlich genutzten Gebäude betroffen. Kirchen, freie Träger von Kitas oder Kliniken fallen zum Beispiel raus. Auch die Länder fallen raus, sofern sie keine eigenen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7843 (A) (C) (D)(B) Regelungen treffen. Skandalös ist, dass Kommunen ohne ausgeglichenen Haushalt das EEWärmeG nicht an- wenden müssen, obwohl gerade sie von verringerten Be- triebskosten der sanierten Gebäude in Zukunft finanziell entlastet werden. Die Nutzungsverpflichtung von erneuerbaren Ener- gien greift im Übrigen auch nur dann, wenn innerhalb von zwei Jahren sowohl die Heizungsanlage erneuert als auch mindestens ein Fünftel der Gebäudehülle saniert wird. Aber für die wenigen Gebäude, die dann wirklich vorbildhaft saniert werden müssen, soll laut Entwurf auch keine Nachweispflicht – und damit keine Kontroll- möglichkeit – bestehen, im Gegensatz zu privaten Bau- herren. Ob durch Schlampigkeit oder Vorsatz sind in dem Entwurf auch einige Verschlimmbesserungen enthalten. So soll die Fernwärme als Ersatzmaßnahme entfallen, falls sie aus einem öffentlichen Wärmenetz stammt. Die stiefmütterliche Behandlung der Kraft-Wärme-Kopplung im Energiekonzept und die jüngsten Änderungen im Energiesteuergesetz zuungunsten der Fernwärme drän- gen bei mir schon den Eindruck auf, dass hier konse- quent ein ganzes Marktsegment im Wärmebereich ka- puttgemacht werden soll. Mit diesem Entwurf kann die Bundesregierung ihre energie- und klimapolitischen Ziele im Wärmesektor bis 2020 nicht erreichen. An eine Zielerreichung 2050 ist mit diesem dürren Instrumentarium ebenfalls nicht zu denken. Wir bieten Ihnen nun im parlamentarischen Verfahren unsere Hilfe an, den schlafenden Riesen zu wecken. Wir werden Ihnen aufzeigen, wie man den Gebäudebestand in das EEWärmeG und das Ordnungsrecht integrieren kann, ohne die finanzielle Möglichkeiten privater Eigen- tümer zu überfordern. Wir werden Ihnen ein Modell für einen haushaltsunabhängigen und mit klaren Prioritäten ausgestatteten Förderanreiz präsentieren. Wir werden Ih- nen zeigen, wie man die verschiedenen Instrumente, wie zum Beispiel EEWärmeG, EnEG/EnEV, BauGB, Miet- recht, MAP und CO2-Gebäudesanierungsprogramm, zu einem wirkungsvollen Gesamtinstrumentarium und ei- nem abgestimmten Fahrplan in Richtung eines weitest- gehend CO2-freien Gebäudebestand 2050 zusammen- fügt. Denn eines ist klar: Alle Beteiligten, private Bauher- ren, gewerbliche Investoren, Mieter und Vermieter, die Baustoffindustrie, die Hersteller von Heiz- und Klima- anlagen sowie Handwerker aller betroffenen Gewerke müssen verlässlich wissen, wo die Reise hingeht und wie man dort hinkommt. Michael Kauch (FDP): Der vorliegende Gesetzent- wurf dient der Umsetzung der EU-Richtlinie zur Förde- rung der Nutzung von Energie aus erneuerbaren Quellen. Unter anderem wird geregelt, dass die öffentliche Hand bei der Sanierung ihres Gebäudebestandes eine Vorbild- funktion einnimmt. Dies ist gut und richtig. Denn wir werden die Klimaschutzziele im Gebäudesektor nur er- reichen, wenn wir energetische Sanierung mit der Nut- zung erneuerbarer Energien beim Heizen verbinden. Uns als FDP ist es ein zentrales Anliegen, dass bei der Überarbeitung des Wärmegesetzes innerhalb des Euro- parechtsanpassungsgesetzes eine größere Technologie- offenheit, insbesondere für Biogas, geschaffen wird. Deshalb hat das FDP-geführte Wirtschaftsministerium in der Ressortabstimmung dieses Gesetzes schon dafür ge- sorgt, dass die KWK-Pflicht bei der Verwendung von Biogas im Gebäudebestand der öffentlichen Hand gestri- chen worden ist. Dies hat Signalwirkung für das Wärme- gesetz insgesamt. Der Grund für die Streichung der KWK-Pflicht ist einfach: die Differenzierung zwischen Biogas für die „gute“ KWK-Anlage und Biogas für den „bösen“ Heizkessel ist ideologisch. Ist es denn besser, im Heizkessel Erdgas zu nutzen? Auch wenn Biogas mit einem schlechteren Wirkungsgrad im Brennwertkessel verbrannt wird, so ist die CO2-Bilanz immer noch bei weitem besser als bei der Verwendung von Erdgas. Da- her führt die KWK-Pflicht letztendlich zu weniger Kli- maschutz. Zudem ist bei kleineren Gebäuden die KWK schlicht keine realistische Option. Im parlamentarischen Verfahren wird zu prüfen sein, ob die Technologieoffenheit in diesem Bereich weiter gestärkt werden kann und ob alle Zusatzauflagen, die im Gesetzentwurf für die Biogasnutzung noch stehen, not- wendig sind. Wir Liberale wollen die Chance ergreifen, um ein Zeichen für den unideologischen Einsatz von er- neuerbaren Energien und insbesondere Biogas zu setzen. Nur so werden wir der im Gesetzentwurf erwähnten Vor- bildfunktion der öffentlichen Hand tatsächlich gerecht. Darüber hinaus hat diese Koalition im Energiekon- zept vereinbart, eine haushaltsunabhängige Förderung der erneuerbaren Wärme zu prüfen. Das ist auch drin- gend erforderlich, um erneuerbare Wärme voranzubrin- gen. Denn Ordnungsrecht kann nur letztes Mittel sein, und die steuerfinanzierten Programme treffen auf stei- gende Finanzierungsprobleme, wenn wir zu Recht aus Gründen der Generationengerechtigkeit die Staatsver- schuldung absenken wollen. Horst Meierhofer (FDP): Mit dem Europarechtsan- passungsgesetz Erneuerbare Energien vollziehen wir ei- nen ersten Schritt, die ehrgeizigen Ziele des Energiekon- zepts in die Tat umzusetzen. Wir wollen den Anteil Erneuerbarer am Bruttoend- energieverbrauch deutlich steigern. Die Zielvorgabe für 2020 aus dem Nationalen Aktionsplan von 18 Prozent wird nach aktuellen Schätzungen mit 19,6 Prozent über- erfüllt werden. Allein im Stromsektor streben wir für diesen Zeithorizont mindestens 35 Prozent Erneuerbare an. Zielvorgaben sind aber nur die eine Seite der Me- daille. Wir wollen sicherstellen, dass keine statistischen Tricksereien dafür sorgen, dass diese Zielvorgaben er- reicht werden, sondern eine handfeste Berechnungs- grundlage Beleg für das Erreichen oder Nichterreichen ist. Vergangene Regierungen aller haben oftmals über 7844 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 (A) (C) (D)(B) statistische Schönrechnerei Lobhudelei in eigener Sache betrieben. Das wollen wir hier ändern. Die Herkunftsnachweise werden in Zukunft nicht mehr durch Umweltgutachter, sondern durch das Um- weltbundesamt erbracht. Auch dies ist ein weiterer As- pekt, der mehr Transparenz und Verlässlichkeit bringt. Das Problem des Netzausbaus zieht sich wie ein roter Faden durch die Gesetzgebung und die Diskussionen der letzten Monate. Laut der aktuellen dena-Netzstudie be- nötigen wir bis 2015 900 Kilometer neue Hochspan- nungsnetze, von denen circa ein Neuntel bis zum heuti- gen Tag gebaut worden ist. Die Zahlen, die wir nach der neuen Studie erwarten dürfen, werden angesichts der ehrgeizigen Ziele für Erneuerbare voraussichtlich noch deutlich über den genannten liegen. Wie Sie sehen, be- steht massiver Handlungsbedarf, nicht zuletzt auch auf gesetzgeberischer Ebene. Mit der hier zu behandelnden Gesetzesinitiative lösen wir dieses Problem zwar nicht, aber wir tragen dazu bei, dieses Problem an einer kleinen, wenn auch keineswegs unbedeutenden Stelle anzupacken. Die Netzbetreiber werden verpflichtet, einen detaillierten Kostenvoran- schlag und Zeitplan für den Netzanschluss dem Anla- genbetreiber vorzulegen. Der Anlagenbetreiber erhält dadurch Rechtssicherheit und Planbarkeit. Von verschie- denen Seiten haben wir in letzter Zeit immer wieder die Sorge gehört, dass der Anschluss an das Netz nicht zeit- nah gewährleistet werde. Ob dies für Deutschland recht neue Projekte wie Interkonnektoren sind oder klassische Kleinanlagen, die um ihren Anschluss fürchten: Ange- sichts der angestrebten dezentralen Energieversorgung sind dies berechtigte Sorgen. Die Informationspflicht gibt den Betreibern eine Handhabe, ein Grundgerüst für ihr Vorhaben. Aus diesem Grund begrüßen wir die Ein- führung der Informationspflichten. Zum Abschluss möchte ich noch auf die Nutzungs- pflicht erneuerbarer Energien bei der Renovierung öf- fentlicher Gebäude eingehen. Wir können nicht die Um- stellung des Energiesystems von den Bürgern fordern und gleichzeitig zulassen, dass die öffentliche Hand sich aus ihrer Verantwortung stiehlt. Die Verwaltung und ins- besondere die öffentlichen Gebäude haben hier eine Vor- bildfunktion. Das gilt für den Einsatz von Erneuerbaren genauso wie für die Wärmedämmung und die Steigerung der Energieeffizienz, und zwar grundsätzlich sowohl für Bestandsgebäude als auch für Neubauten. Zumindest bei einer grundlegenden Renovierung von Bestandsgebäu- den stellen wir nun sicher, dass zukünftig die Nutzung Erneuerbarer erfolgen muss. Die Ausnahmeregelung für klamme Kommunen, nach der sie sich nicht daran betei- ligen müssen, sollte kritisch hinterfragt werden. Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass wir Wert da- rauf gelegt haben, nur die Gebäude zu erfassen, die im Eigentum der öffentlichen Hand stehen oder künftig von der öffentlichen Hand angemietet werden. Wir wollen den Systemwandel, aber nicht durch Zwang oder Pflicht, sondern durch die Schaffung von vernünftigen Anreiz- programmen und unter Mitwirkung der Bürger. Dorothee Menzner (DIE LINKE): Die Europäische Union hat sich darauf festgelegt, dass 20 Prozent des Endenergieverbrauchs bis zum Jahr 2020 aus erneuerba- ren Energiequellen gewonnen werden sollen. Frei nach dem Motto, das Wenigste ist für uns gut genug, geht die Bundesregierung auch hier einen Sonderweg: 18 Prozent Energie aus Erneuerbaren am Endenergieverbrauch plant die Bundesregierung für 2020, das steht bereits in ihrem Energiekonzept. Warum sie hier so unambitioniert auftritt, ist klar: Der Ausbau erneuerbarer Energien ge- fährdet die Stromerzeugung aus Kohle- und Atomkraft, also die dreckigen und strahlenden Profitschleudern der vier großen Energieversorger. Beim Lesen der Begründung Ihres Gesetzentwurfs fällt mir vor allem auf, dass für Sie wie immer kurzfris- tige wirtschaftliche Aspekte über ökologischen rangie- ren. Gerade diese Ignoranz gegenüber existenziellen Notwendigkeiten hat ja dazu geführt, dass wir heute froh sein müssen, wenn wir das 2-Grad-Ziel nicht noch über- schreiten. Ich fordere Sie auf, im Interesse der Menschen Ihr Wertesystem zu überprüfen. Sie sprechen allenthalben von der Notwendigkeit des Wachstums. Jedes Kind lernt in der Schule, dass es so etwas wie unbegrenztes Wachs- tum nicht gibt, das ist schier unmöglich. Das ist die sys- temimmanente Lüge vom Ausbruch der Armut bei aus- bleibendem Wirtschaftswachstum. Sie vertreten hier ökonomische Interessen, ohne die sozialen und ökologi- schen Zwänge zu beachten. Und damit verhindern Sie das, was die Menschheit zum Überleben braucht: den nachhaltigen Schutz der Biosphäre, der Atmosphäre und die Schonung natürlicher Ressourcen. Ein Beispiel: Öffentliche Gebäude zum Vorbild in Sa- chen Energieeffizienz und Nutzung erneuerbarer Ener- gien zu machen, ist prinzipiell ein guter Weg. Ihr Gesetz- gebungsentwurf liest sich aber so, dass es wiederum eine soziale Frage ist – diesmal in kommunalem Maßstab –, ob dieser Umbau auch gelingt. Es ist verheerend, die an- fallenden Kosten für die Sanierung der Gebäude in öf- fentlicher Hand allein den Kommunen überlassen zu wollen – im Rahmen Ihrer Verteilungspolitik. Da zeigt sich deutlich der Widerspruch, den Ihre Politik forciert und deren Folgen die Gesellschaft auszubaden hat. Was Sie endlich begreifen müssen, ist, dass Sie die Probleme der ökologischen Krise nicht gesondert von den Problemen der sozialen Krise in diesem Land lösen können. Es nützt nichts, Kommunen von der Verpflich- tung zur Gebäudesanierung freizustellen, wenn es eine Haushaltsnotlage gibt. Schauen Sie sich doch mal die Haushalte der Kommunen an. Die haben Ihretwegen für so etwas kein Geld übrig. Das ist eine Folge Ihrer Vertei- lungspolitik. Und dann schaffen Sie hier eine Ausnah- meregelung, die tatsächlich die Mehrheit der Kommu- nen in strukturschwachen Regionen treffen wird. Mit solcher Inkonsequenz verpufft die Wirksamkeit jeglicher Effizienzbestrebungen in Sachen Energie. Und nicht er- folgte Sanierung schafft die Haushaltsbelastungen der Kommunen von morgen. Sanieren Sie doch trotzdem alle öffentlichen Gebäude und zahlen Sie die Kosten aus den satten Steuereinnah- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 7845 (A) (C) (D)(B) men, die Sie bekommen würden, wenn Sie allein der so- genannten Liberalisierung des Stromsektors eine stren- gere Regulierung verpassen würden. Tun Sie nicht so, als gefährde das die Existenz der großen Energieversor- ger. Geben Sie den Kommunen ihre Leitungsnetze zu- rück, dann haben Sie auch die Mittel, um die Vorgaben im Gesetzentwurf umzusetzen. Aber Sie ruhen sich aus auf Ihrem Marktvertrauen und torpedieren den mögli- chen Wettbewerb im Energiesektor mit der Laufzeitver- längerung für Atomkraftwerke und einem unsäglichen Lobbyistengehabe für die vier großen Energiekonzerne. Die Energiepolitik der Koalition und der schwarz-gel- ben Regierung wird nicht einmal die Minimalziele der Europäischen Vorgaben und der global notwendigen Emissionseinsparziele umsetzen können, dafür schaffen Sie hier im Land einfach nicht die Rahmenbedingungen. Die Linke fordert die Rekommunalisierung der Stromverteilnetze, die Besserstellung von Stadtwerken. Und weil es sich bei der Versorgung mit Energie um ein Instrument der öffentlichen Daseinsvorsorge handelt, muss dieser Sektor auch in öffentliche Hand überführt werden. Erst wenn diese Rahmenbedingungen geschaf- fen sind, wird eine auf die Zukunft ausgerichtete Politik für Energieeffizienz, für Ressourcenschutz und auch für die Sozialverträglichkeit der Energieversorgung Erfolg haben können. Und das nicht nur in unserem Land. Hans-Josef Fell (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Europarechtsanpassungsgesetz Erneuerbare Ener- gien ist in erster Linie ein Gesetz der verpassten Gele- genheiten. Anstatt bei den erneuerbaren Energien Gas zu geben, wird weitgehend „business as usual“ betrieben. Tönte die Bundesregierung vor wenige Wochen noch von einem revolutionären Energiekonzept und einem Sofortplan, so hat sie jetzt ein Gesetz auf den Tisch ge- legt, das sich in einer Vielzahl teils kleinster Kleinigkeit aufhält. Aber ich will nicht nur allgemein die Mut- und Phan- tasielosigkeit dieser Regierung kritisieren, sondern auch auf einzelne Aspekte eingehen, die im Detail mitunter auch zu begrüßen sind. So ist die Ausweitung der Her- kunftsnachweise von Strom aus Erneuerbare-Energien- Anlagen ebenso grundsätzlich zu begrüßen wie die Kon- kretisierung von Nachhaltigkeitsvoraussetzungen bei Bio- gasanlagen. Das Bundesumweltministerium sollte mög- lichst kurz nach dem Inkrafttreten des Gesetzes einen Verordnungsentwurf vorlegen. Grundsätzlich zu begrüßen ist auch, dass beim Wär- megesetz endlich auch die öffentlichen Gebäude aufge- nommen werden. Dies hätte bereits die große Koalition tun können. Wir verstehen nicht, warum diese langjäh- rige grüne Forderung zur Vorbildfunktion der öffentli- chen Hand erst jetzt umgesetzt wird. Leider traut sich die Bundesregierung nicht, die Nutzungspflicht erneuerba- rer Energien auf den gesamten Gebäudebestand auszu- dehnen. Gestern hatte die Bundesregierung noch von Revolution gesprochen, und heute kneift sie bereits. Hinzu kommt, dass nächstes Jahr voraussichtlich noch weniger Mittel für das Marktanreizprogramm für erneu- erbare Energien ausgegeben werden als dieses Jahr; da- bei hatte Schwarz-Gelb die Mittel bereits dieses Jahr ge- kürzt. Die Glaubwürdigkeit des Aktionsprogramms für erneuerbare Energien wird dadurch jedenfalls nicht er- höht. Zurück zum Wärmegesetz. Wieder einmal lässt die Bundesregierung die Gelegenheit aus, wärmeerzeugende Kleinwindanlagen in das Erneuerbare-Energien-Wärme- gesetz mit aufzunehmen. Ursprünglich hatte die Bundes- regierung vorgehabt, Kleinwindanlagen in das Gesetz mit aufzunehmen. Leider wurde dieser Passus wieder gestrichen, weshalb die Windenergie im Wärmegesetz für Erneuerbare Energien weiterhin diskriminiert wird. Hier wiederholt die Bundesregierung die Fehler der gro- ßen Koalition. Unbefriedigend sind die Vorgaben für die elektrischen Wärmepumpen für die öffentlichen Gebäude. So sind Arbeitszahlen nicht anspruchsvoll genug und sollten er- höht werden. Zudem sollten die Anforderungen für Wär- mepumpen-Strom deutlich verschärft werden. Nur Wär- mepumpen, die mit Strom aus erneuerbaren Energien betrieben werden, können selbst als Erneuerbare-Ener- gien-Anlagen bewertet werden. Ansonsten handelt es sich hier um Kohle- und Atomstromwäsche. Die Wär- mepumpen sollten daher einen 100-prozentigen Strom- bezug aus erneuerbaren Energiequellen nachweisen. Ein weiterer Punkt bei den öffentlichen Gebäuden ist die Frage, ab wann die Nutzungspflicht erneuerbarer Energien ausgelöst wird. Der Moment der Nutzungs- pflicht sollte umfassender formuliert werden, um zu ver- hindern, dass Sanierungen aufgeschoben werden. Bei Gebäuden, die einen schlechten Dämmstandard haben, sollte die Nutzungspflicht bereits eintreten, wenn die Heizungsanlage saniert wird. Zumindest fragwürdig sind die Anforderungen an die im Gesetzentwurf formulierten Normen für Nullenergie- häuser, welche eine Ausnahme von der Nutzungspflicht erneuerbarer Energien begründen. Die hier formulierten Normen dürften deutlich unter den tatsächlichen Effi- zienzanforderungen an Nullenergiehäuser liegen. Eine Ausnahme von der Nutzungspflicht unter diesen laschen Vorgaben lädt damit nur zur Umgehung der Gesetzes- zielsetzung ein. Ich bin gespannt, wie die Experten dies in einer Anhörung einschätzen werden. Beim Netzanschluss von erneuerbaren Energien hat die Bundesregierung das Richtige im Sinn, wenn sie vor- gibt, dass dieser unverzüglich hergestellt werden soll. Nur was heißt im konkreten Fall „unverzüglich“? Dieser Begriff ist uns rechtlich zu unbestimmt. Zudem können die Anlagenbetreiber die Einhaltung auch kaum verifi- zieren. Es wäre daher sinnvoll eine konkrete Frist vorzu- geben. Zudem sind die Auskunftspflichten des Netzbe- treibers gegenüber dem Anlagenbetreiber auszuweiten. Spätestens nach zwei Monaten sollte dem Einspeisewil- ligen ein Zeitplan für die Erstellung des Netzanschlusses zugestellt werden. Wer darauf gehofft hat, dass die Bundesregierung vor der Klimakonferenz in Cancun ein ambitioniertes Gesetz auf den Tisch legen würde, muss enttäuscht sein. Aller Revolutionsrhetorik zum Trotz muss man sagen, dass in 7846 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 71. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 (A) (C) (D)(B) der Bundesregierung weiterhin diejenigen das Sagen ha- ben, die wenig von Klimaschutz halten und die vor der Erdölverknappung beide Augen zudrücken, obwohl die Bürger wissen, dass das Erdöl in den nächsten Jahren wesentlich teurer werden wird. Bei der Laufzeitverlän- gerung für Atomkraftwerke zeigte die schwarz-gelbe Koalition großes Engagement für die Atomkonzerne. Der vorliegende Gesetzentwurf zeigt, dass Schwarz- Gelb gar nicht daran denkt, sich in vergleichbarem Aus- maß für die erneuerbaren Energien einzusetzen. 71. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 11. November 2010 Inhalt: Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3 Anlage 4 Anlage 5 Anlage 6 Anlage 7 Anlage 8 Anlage 9 Anlage 10 Anlage 11 Anlage 12
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1707100000

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz. Ich begrüße
Sie alle herzlich.

Vor Eintritt in unsere Tagesordnung möchte ich der
Kollegin Inge Höger zu ihrem 60. Geburtstag, den sie
vor einigen Tagen begangen hat, gratulieren und ihr im
Namen des Hauses alles Gute wünschen.


(Beifall)


Es gibt noch einen anderen bedeutenden Geburtstag,
den ich mit wenigen Sätzen würdigen möchte.

Gestern vor 200 Jahren – das ist also ein bisschen län-
ger her –, am 10. November 1810, wurde der große Parla-
mentarier und Parlamentspräsident Eduard von Simson
geboren. Von Simson, der bereits mit 23 Jahren Profes-
sor des Römischen Rechts in Königsberg wurde, war
von seiner Mitgliedschaft in der Frankfurter National-
versammlung 1848/49, deren letzter Präsident er war, bis
zum Ende seiner Amtszeit als Präsident des Deutschen
Reichstages im Jahre 1873 nahezu ununterbrochen Mit-
glied parlamentarischer Versammlungen. Er war – Sie
werden es glauben oder nicht; auch ich habe es erst nicht

Rede
glauben wollen – Präsident von insgesamt sieben Parla-
menten


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Lammert, da haben Sie noch etwas vor sich!)


– ich lege besonderen Wert darauf, dass dieser Zwi-
schenruf des Kollegen Trittin in gebührender Weise im
Protokoll festgehalten wird –,


(Heiterkeit)


bevor er – jetzt warte ich auf den nächsten Zwischenruf –
1879 Präsident des Reichsgerichts wurde und bis 1890
blieb. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits 80

Von Simson hat sich Zeit seines Lebens
sche Einheit und für die Rechte des Parlam
setzt. Die Schriftführer wird besonders beeindrucken,
zung

n 11. November 2010

.01 Uhr

dass er seine Karriere in der Frankfurter Paulskirche als
Schriftführer begonnen hat.


(Heiterkeit)


Unsere Verfassung, aber insbesondere auch die Ge-
schäftsordnung deutscher Parlamente bis heute, ist nicht
zuletzt von den Beiträgen geprägt, die er dafür geleistet
hat.

Richard von Weizsäcker hat vor einigen Jahren an-
lässlich eines damals runden Geburtstages in seiner Fest-
ansprache erklärt:

Eduard von Simson gehörte zum Besten, was das
oft geschmähte und doch atemberaubend interes-
sante 19. Jahrhundert unter Deutschen hervorge-
bracht hat.

Ich denke, wir – nicht nur wir Parlamentarier – haben
allen Grund, in diesen Tagen voller Dank und Hochach-
tung an Eduard von Simson zu denken.


(Beifall)


Für den verstorbenen Kollegen Dr. Hermann Scheer
hat die Kollegin Rita Schwarzelühr-Sutter, die ich

text
herzlich begrüße, erneut die Mitgliedschaft im Deut-
schen Bundestag erworben. Herzlich willkommen!


(Beifall)


Nachfolgerin des am 1. November ausgeschiedenen
Kollegen Dr. Herbert Schui ist die Kollegin Johanna
Voß. – Da sie nicht anwesend ist, muss die Begrüßung
zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Wir richten es aus!)


– Sehr schön. Das ist eine gute Lösung.


(Beifall)


me der kollegialen Stimmung, dass sich
rbulenten Woche wieder allgemeiner Frie-
Jahre alt.

für die deut-
ents einge-

Ich entneh
nach einer tu

den eingestellt hat.





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-
dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-
geführten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
CDU/CSU, FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN:

Demonstrationen und Vorgänge beim Castor-
transport


(siehe 70. Sitzung)


ZP 2 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren

Ergänzung zu TOP 37

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz
Paula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Petra Crone, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Tierschutz bei Katzen verbessern

– Drucksache 17/3653 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Undine
Kurth (Quedlinburg), Cornelia Behm, Ulrike
Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Tierschutz stärken – Tierheime entlasten

– Drucksache 17/3543 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Renate Künast, Ulrike Höfken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Euro-
päischen Parlaments und des Rates über
Rechte der Verbraucher KOM(2008)614
endg.; Ratsdok. 14183/08

hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesre-
gierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes

Modernes Verbraucherrecht für Europa ent-
wickeln

– Drucksache 17/3675 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Federführung strittig

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Tom Koenigs, Markus Kurth, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Rechte indigener Völker stärken – ILO-Kon-
vention 169 ratifizieren

– Drucksache 17/3676 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:

Meinungsverschiedenheiten innerhalb der
Bundesregierung über die Reform der Kom-
munalfinanzen

ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute
Kumpf, Wolfgang Tiefensee, Uwe Beckmeyer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Nachhaltige Mobilität fördern – Elektromobi-
lität vorantreiben

– Drucksache 17/3647 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dorothee Bär, Markus Grübel, Marcus Weinberg

(Hamburg), weiterer Abgeordneter und der Frak-

tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Miriam Gruß, Nicole Bracht-Bendt, Patrick
Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der FDP

Faire Teilhabechancen von Anfang an – Früh-
kindliche Betreuung und Bildung fördern

– Drucksache 17/3663 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.

Der Tagesordnungspunkt 34 wird abgesetzt. Stattdes-
sen soll an diesem Platz der ursprünglich für heute vor-
gesehene Tagesordnungspunkt 18 aufgerufen werden.
Die nachfolgenden Tagesordnungspunkte rücken da-
durch jeweils einen Platz vor. Sind Sie damit einverstan-
den? – Das ist offenkundig der Fall. Dann ist das so be-
schlossen.





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Ehrentri-
büne hat der Präsident der Abgeordnetenkammer des
Großherzogtums Luxemburg, Herr Laurent Mosar, mit
seiner Delegation Platz genommen.


(Beifall)


Im Namen aller Kolleginnen und Kollegen des Deut-
schen Bundestages begrüße ich Sie hier ganz herzlich.
Wir hatten schon gestern Gelegenheit, die großartigen
Beziehungen, die es zwischen unseren beiden Ländern
und insbesondere zwischen unseren Parlamenten gibt,
intensiv zu würdigen, verbunden mit der wechselseitigen
Bekräftigung, das auf diesem Niveau fortzusetzen. Wir
freuen uns, dass Sie heute hier sind, und wünschen Ihnen
einen guten und interessanten Aufenthalt in Berlin.
Herzlich willkommen!


(Beifall)


Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 auf:

Vereinbarte Debatte

zum neuen Strategischen Konzept der NATO

Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion
der SPD sowie je zwei Entschließungsanträge der Frak-
tionen Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen vor. Nach
einer interfraktionellen Vereinbarung sind für die Aus-
sprache 90 Minuten vorgesehen. – Das ist offenkundig
einvernehmlich und damit so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zu-
nächst der Bundesminister des Auswärtigen, Dr. Guido
Westerwelle.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
wärtigen:

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Kolleginnen und Kollegen! Seit Jahrzehnten garan-
tiert die NATO unsere gemeinsame Sicherheit. Auch
diejenigen, die gerne gegen die NATO demonstrieren
– das ist ihr gutes Recht –, dürfen nicht vergessen: Es ist
auch das Ergebnis unserer erfolgreichen Sicherheitspoli-
tik und des Bündnisses der NATO, dass sie diese De-
monstrationsfreiheit wahrnehmen können.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


In der nächsten Woche werden wir in den Beratungen
über das Strategische Konzept den Kurs festlegen. Ich
möchte mich zu Beginn meiner Ausführungen beim
NATO-Generalsekretär, Anders Fogh Rasmussen, be-
danken. Ich möchte mich bei Madeleine Albright und
ihrem Expertenteam ausdrücklich für die wichtige Vor-
arbeit bedanken. Unser Eindruck ist – natürlich immer
vorbehaltlich der Entscheidungen in der nächsten Woche
in Lissabon –: Das, was vorgelegt worden ist, bildet eine
sehr gute Grundlage für die weiteren Beratungen. Es be-
rücksichtigt unser Sicherheitsinteresse. Es macht aber
auch klar, dass wir eine Wertegemeinschaft sind: Die
NATO ist nicht zuerst ein Militärbündnis, sondern eine
transatlantische Wertegemeinschaft.

(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ich will zu wenigen Punkten im Einzelnen Stellung
nehmen, ohne die Ergebnisse der Beratungen vorweg-
nehmen zu wollen. Es handelt sich heute um eine De-
batte im Vorgriff. Die Debatte ist verbunden mit dem
Auftrag an uns – diejenigen, die in der nächsten Woche
verhandeln werden –, für die richtige Richtung der Poli-
tik zu sorgen. Wir, die Bundesregierung, verfolgen beim
Strategischen Konzept der NATO mehrere Ziele, die wir
in die Verhandlungen einbringen wollen. Ein entschei-
dendes Ziel ist, dass sich die NATO auch den Themen der
Abrüstung und der Rüstungskontrolle verschreibt. Wir
haben im Frühjahr, bei den Beratungen im April, eine
ganze Reihe von Verbündeten dafür gewinnen können.
Wir alle wissen, dass die Umsetzung der Vision des Prä-
sidenten Obama von einer nuklearwaffenfreien Welt na-
türlich ein sehr langfristiges Ziel ist; aber es ist ein ver-
nünftiges Ziel. Wir wollen Schritte in diese Richtung
unterstützen. Deswegen ist eine reduzierte Rolle von
Nuklearwaffen zu Recht Teil der Strategie, die wir als
Bundesregierung unterstützen wollen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Mit der Debatte in der nächsten Woche in Lissabon
wollen wir die Diskussion nicht beenden. Sie muss na-
türlich fortgesetzt werden. Die Debatte über Abrüstung
und Rüstungskontrolle ist nicht beendet, sondern wird in
einem Folgeprozess fortgesetzt, der uns dem Ziel einer
Welt ohne Atomwaffen näherbringen soll. Fortschritte
sind unverkennbar. Ich denke nicht nur an den Nuclear
Posture Review der Vereinigten Staaten von Amerika,
sondern ausdrücklich auch an die Konferenz zur Über-
prüfung des Vertrages über die Nichtverbreitung nuklea-
rer Waffen in diesem Jahr in New York. Sie ist dieses
Mal, anders als vor fünf Jahren, nicht gescheitert, son-
dern es wurde ein gemeinsames Ergebnis vereinbart. Es
ist richtig, dass sich die NATO als Sicherheitsbündnis
und als politische Werteunion versteht und sich daher
der Abrüstung verschrieben hat. Abrüstung und die
Nichtverbreitung nuklearer Waffen sind zwei Seiten der-
selben Medaille. Beides gehört zusammen. Es gibt neue
Herausforderungen und neue Gefahren in unserer Zeit.
Je mehr Staaten sich atomar bewaffnen können, umso
größer ist die Gefahr, dass terroristische Gruppen darauf
Zugriff haben. Genau das gilt es im Interesse der Bürge-
rinnen und Bürger unserer Länder durch vorausschauen-
des und kluges Agieren zu verhindern.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Natürlich ist es notwendig, auch die taktischen Atom-
waffen in diese Diskussion einzubeziehen. Wir halten
am Ziel des Abzugs fest. Wir sehen darin aber vor allem
einen Katalysator für ein sehr breites Ergebnis. In das
Thema Abrüstung ist Bewegung gekommen. Ich denke
beispielsweise an den neuen START-Vertrag. Wir setzen
darauf, dass dieser START-Vertrag auch mit neuen
Mehrheitsverhältnissen ratifiziert wird, damit er zur Gel-
tung kommen kann.

Zu einem weiteren bemerkenswerten, wie ich finde,
geradezu historischen Vorgang: Das Programm zur





Bundesminister Dr. Guido Westerwelle


(A) (C)



(D)(B)

Raketenabwehr, das von Präsident Bush angeregt und
begonnen worden ist, hat mittlerweile eine völlig neue
Richtung bekommen. Während das Projekt Raketenab-
wehr ursprünglich von den USA mit ein, zwei Verbünde-
ten in Europa durchgeführt werden sollte, ist es mittler-
weile ein Projekt, das im gesamten Bündnis angegangen
wird. Was besonders wichtig ist: Russland wird eingela-
den, bei dem Projekt Raketenabwehr mitzuwirken. Wir
wollen nicht, dass es in Europa Zonen mit einem unter-
schiedlichen Sicherheitsgrad gibt. Wir wollen in Europa
beim Thema Sicherheit keine Trennlinien, sondern Ge-
meinsamkeit. Dass Präsident Medwedew angekündigt
hat, zum NATO-Gipfel nach Lissabon zu reisen, ist eine
große Geste. Wir wollen mit Russland unsere Sicherheit
verbessern und nicht in Konfrontation zu Russland. Das
ist die klare Ansage des Bündnisses.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich glaube, wir alle müssen anerkennen, dass auf die-
sem Gebiet eine enorme Bewegung stattgefunden hat.
Wenn man sich vor Augen führt, worüber vor 20,
30 Jahren noch diskutiert worden ist, und sieht, dass
Russland jetzt von der NATO eingeladen wird, bei The-
men der Raketenabwehr und der Sicherheit mitzuma-
chen, und Russland sich nicht verweigert, sondern sagt:
„Wir sehen uns das an, prüfen das und überlegen, welche
Möglichkeiten wir haben“, dann müssen wir feststellen:
Das ist eine historische Entwicklung, die wir nicht mal
eben so durchwinken sollten. Darüber sollten wir uns
freuen. Das ist die Friedensdividende langjähriger, jahr-
zehntelanger Bemühungen vieler Vertreterinnen und
Vertreter der Politik in vielen Ländern, übrigens von
Vertretern aller geistigen Richtungen in der Politik.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben über dieses Thema unter anderem bei den
Gesprächen im NATO-Russland-Rat, der neu belebt
worden ist, debattiert. Das sind gute und vernünftige
Schritte.

Zum Schluss möchte ich die grundsätzliche Ausrich-
tung noch einmal klarmachen: Wir werden uns unverän-
dert als Verteidigungsbündnis verstehen. Das heißt,
Art. 5 des Nordatlantikvertrages – das sagen wir ganz
klar insbesondere an die Adresse der sogenannten ost-
europäischen Mitgliedstaaten – steht für uns außerhalb
jeder Debatte und jeder Diskussion. Wir kennen die
neuen Herausforderungen, die zum Beispiel Computer-
attacken darstellen. Wir wissen aber auch, dass es andere
Mechanismen gibt als die in Art. 5 des Nordatlantikver-
trages genannten, zum Beispiel die, die in Art. 4 des
Nordatlantikvertrages erwähnt werden: Konsultations-
mechanismen und Beratungen, die stattfinden müssen.
Auch das muss man sehen. Deshalb bleibt die strenge
Bindung an das Völkerrecht unser Kompass.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie das einmal Ihrem Verteidigungsminister!)


Wir haben zwei Leitlinien: Wir wollen die internatio-
nale Verantwortung wahrnehmen. Gleichzeitig werden
wir aber auch die Politik der militärischen Zurückhal-
tung fortsetzen.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha! Da haben Sie aber einen Konflikt mit zu Guttenberg!)


Das ist eine klare Ansage für die Bundesregierung insge-
samt. Alle anderen Unterstellungen sind abwegig. Wir
werden unsere internationale Verantwortung wahrneh-
men, aber es bleibt bei der Kultur der militärischen
Zurückhaltung.


(Zuruf des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


– Lassen Sie solche Unterstellungen. Wenn Sie etwas an-
deres von uns behaupten, sind das Diffamierungen, die
mit der Realität nichts zu tun haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Der Deutsche Bundestag wird den Einsatz unserer
Bundeswehr im Blick haben. Ich kann Ihnen für die
Bundesregierung noch einmal versichern: Für uns ist
eine klare Maßgabe, ein klarer Kompass: Die Bundes-
wehr ist keine Regierungsarmee, sie ist auch keine Ar-
mee von irgendwelchen Parteien oder parteipolitischen
Mehrheiten. Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee.
Auch das ist unser Kompass bei den Verhandlungen im
Bündnis.

Ich danke sehr für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1707100100

Gernot Erler ist der nächste Redner für die SPD-Frak-

tion.


Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1707100200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meinen Beitrag muss ich leider mit einer Unmutsäuße-
rung beginnen. Ich finde es nicht angemessen, dass wir
acht Tage vor dem NATO-Gipfel, auf dem das neue Stra-
tegische Konzept beschlossen werden soll, hier im Deut-
schen Bundestag diskutieren, ohne den Wortlaut des
Textentwurfs zu kennen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Mehr Offenheit und Transparenz hätten der Diskussion
und damit auch dem Bündnis mehr genutzt als gescha-
det.

Nach 1991 und 1999 versucht die NATO zum dritten
Mal in 20 Jahren, sich an neue Rahmenbedingungen
und Herausforderungen anzupassen. Es gibt einige in-
ternationale Entwicklungen, die uns Sorge machen. Aber
es ist auch nicht zu übersehen, dass gerade in den letzten
zwei Jahren viel passiert ist, was eine besondere Gunst-
situation geschaffen hat.

Im Jahr 2007 sah das alles noch ganz anders aus. Ich
entsinne mich noch gut an die berühmte Wutrede des da-
maligen russischen Präsidenten Wladimir Putin am
10. Februar auf der Münchener Sicherheitskonferenz, an





Dr. h. c. Gernot Erler


(A) (C)



(D)(B)

seine Ankündigung, Russland werde eine weitere Aus-
nutzung seiner vermeintlichen Schwäche durch den
Westen nicht mehr hinnehmen und dabei jede Konflikt-
scheu ablegen. Auf diese Worte folgten Taten: Spannun-
gen mit den baltischen Staaten, mit Großbritannien, Wi-
derstand gegen die US-Pläne zur Stationierung von
Raketenabwehr in Polen und der Tschechischen Repu-
blik, das Moratorium beim KSE-Vertrag, Versuche, eine
dritte Erweiterungsrunde der NATO mit Georgien und
der Ukraine zu verhindern. Und schließlich führte der
Kaukasus-Krieg im August 2008 Moskau in die politi-
sche Isolation.

Heute, liebe Kolleginnen und Kollegen, hat sich die
Situation vollständig verändert. Die russische Regierung
fühlt sich von Präsident Obama als ebenbürtig akzep-
tiert. Die Missile-Defense-Pläne wurden auf Eis gelegt,
die nächste NATO-Erweiterung wurde vorerst von der
Tagesordnung genommen. Mit seiner Prager Rede vom
5. April 2009 bekannte sich der neue amerikanische Prä-
sident zum Ziel einer Welt ohne Atomwaffen und öffnete
damit die Tür – auch der Außenminister hat es hier ge-
rade vorgetragen – für das START-Nachfolgeabkommen
zur Reduzierung strategischer Nuklearwaffen mit Russ-
land und für einen Erfolg der Überprüfungskonferenz
zum Nichtverbreitungsvertrag in New York im Mai die-
ses Jahres.

Die am 6. April beschlossene neue US-Nuklearstra-
tegie schließt einen Einsatz von Nuklearwaffen gegen
Nichtnuklearstaaten aus, wenn sich diese an den Nicht-
verbreitungsvertrag halten, und reduziert damit im Ver-
gleich zu früher eindeutig die Rolle von Atomwaffen in
der amerikanischen Sicherheitsdoktrin.

Alle diese Schritte haben große Erwartungen und
Hoffnungen geweckt, dass der erfolgreiche Neuanfang
mit Russland – auch „Reset“ genannt – den Weg zu einer
echten globalen Sicherheitspartnerschaft mit Moskau
öffnet und dass der neue START-Abrüstungsvertrag
nicht nur hoffentlich bald ratifiziert und umgesetzt wird,
sondern dass ihm weitere Abrüstungsschritte auch im
konventionellen Bereich folgen.


(Beifall bei der SPD)


Besser und prominenter kann man diese Erwartungen
nicht zum Ausdruck bringen, als dies 34 Elder States-
men Europas in ihrer Erklärung vom 27. September die-
ses Jahres – von deutscher Seite mit Unterschriften von
Richard von Weizsäcker, Helmut Schmidt, Hans-
Dietrich Genscher und Egon Bahr – getan haben. Die
SPD-Fraktion macht sich diese überparteiliche Position
zu eigen und unterstützt die dort formulierten Vorschläge
und Erwartungen.


(Beifall bei der SPD)


Wir wollen, dass die neue NATO-Strategie dieser
Gunstsituation Rechnung trägt, dass sie das Momentum
bei der Abrüstung aufnimmt und verstärkt und dass sie
die konstruktiven Ansätze im Verhältnis zu Russland als
Chance erkennt und ausbaut. Was heißt das konkret? Wir
wollen, dass sich auch die NATO zu einer Eingrenzung
der Rolle von Nuklearwaffen bekennt und nicht der
neuen Einsatzdoktrin hinterherhinkt, die im April dieses
Jahres in Washington beschlossen worden ist. Wir kön-
nen für die taktischen Atomwaffen, die noch heute in
fünf Ländern auf dem europäischen Kontinent
– Deutschland inklusive – stationiert sind, keine plau-
sible Funktion mehr erkennen. Wir wollen, dass diese
vollständig abgezogen werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Herr Außenminister, wir haben bei Ihren Ankündi-
gungen gehört, dass auch Sie das für ein prioritäres Ziel
halten. Sie haben aber auch diese Debatte leider wieder
nicht genutzt, um uns konkret zu sagen, welche Anstren-
gungen Sie bisher unternommen haben und welche Er-
folgsaussichten diese haben. Sie haben hier nur ein ent-
täuschendes allgemeines Statement von sich gegeben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir wollen weiter, dass sich die NATO zu einer inten-
siven Sicherheitspartnerschaft mit Russland bekennt
und den Dialog mit Moskau ausbaut und erweitert. Dazu
gehört eine andere Nutzung des NATO-Russland-Rates.
Herr Westerwelle, ich bin mit dem, was da bisher pas-
siert ist, nicht einverstanden. Die Möglichkeiten werden
bei weitem nicht ausgeschöpft.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Es kann doch nicht sein, dass der NATO-Russland-Rat
ausgerechnet in einer Krisensituation wie im August
2008 außer Betrieb gesetzt wird, also dann, wenn man
den Dialog am ehesten gebraucht hätte.


(Zurufe von der FDP: Wer war denn da an der Regierung?)


Damit wurde nebenbei auch noch der fatale Eindruck er-
weckt, der NATO-Russland-Rat sei eine Art Gunsterwei-
sung, die bei Fehlverhalten des Partners beliebig entzo-
gen werden kann. Nein, das Gegenteil ist der Fall: Wir
haben ein klares Interesse an einem nachhaltigen Funk-
tionieren dieses politischen Scharniers und dieser Dia-
logplattform. Dazu sollte in der neuen Strategie der
NATO etwas Konkretes stehen.

Schließlich kann es nicht dabei bleiben, dass die
Frage einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitek-
tur, zu der Präsident Medwedew vor zwei Jahren kon-
krete Vorschläge vorgelegt hat, lediglich in irgendwel-
chen Arbeitsgruppen des sogenannten Korfu-Prozesses
erörtert wird. Es wäre wichtig, dass in dem neuen Strate-
gischen Konzept die Bereitschaft, mit der russischen
Führung in einen verbindlichen Dialog zu diesem Thema
einzutreten, erkennbar wird, ein Dialog im Geiste des
Helsinki-Prozesses, ergebnisoffen und ohne Vorfestle-
gung auf ein bestimmtes Vertragsergebnis.

Nur wenn die neue NATO-Strategie diese besondere
Gunstsituation tatsächlich nutzt und konkrete Fort-
schritte in den beiden Bereichen macht, die ich exempla-
risch herausgehoben habe – Abrüstung und Verhältnis zu





Dr. h. c. Gernot Erler


(A) (C)



(D)(B)

Russland –, wird das Bündnis gestärkt von dem Gipfel in
Lissabon zurückkehren.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1707100300

Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Andreas

Schockenhoff für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Andreas Schockenhoff (CDU):
Rede ID: ID1707100400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In-

ternationaler Terrorismus und organisierte Kriminalität
sowie Instabilität, die von scheiternden Staaten ausgeht,
bedrohen die gesamte zivilisierte Welt.


(Zuruf von der SPD: Oh! Jetzt kommt der wieder mit der Leier!)


Die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und
Raketen hat unmittelbare Konsequenzen für unsere Si-
cherheit. Die Folgen des Klimawandels können zu Kon-
flikten um natürliche Ressourcen oder Siedlungsräume
und zu großen Migrationsströmen mit sicherheitspoliti-
schen Auswirkungen für uns führen. Cyberattacken und
mögliche Angriffe auf Handelsrouten und unsere Ener-
gieversorgung sind neue Dimensionen der konkreten Be-
drohungen für unser Land.


(Uta Zapf [SPD]: Dass das als erster Punkt kommt, Herr Schockenhoff, ist peinlich!)


Kurz gesagt: Wir stehen neuen, durch Asymmetrien
geprägten Herausforderungen gegenüber. Die NATO
hat vor elf Jahren ihre letzte Strategie verabschiedet.
Seither hat sich das Bündnis fast verdoppelt; es hat nun
28 Mitgliedstaaten. Die NATO braucht also neue Klar-
heit über ihre Ziele und die sich daraus ableitenden Auf-
gaben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wie unterschiedlich die Vorstellungen hinsichtlich
Sinn und Zweck der Allianz unter den Mitgliedstaaten
sind, wurde zuletzt während der zehnmonatigen Bera-
tungen in der Expertenkommission von Madeleine
Albright deutlich. Das neue Strategische Konzept der
NATO muss deshalb die gemeinsamen Sicherheitsinte-
ressen der Allianz auf einen aktuellen Nenner bringen,
also einen neuen strategischen Konsens der 28 Staaten
begründen.

Es gilt, die Frage zu beantworten, wie das Bündnis
vor dem Hintergrund der beschriebenen Aufgaben seine
Kernaufgabe, unsere Sicherheit und den Schutz des Ter-
ritoriums, der Bevölkerung und der vitalen Interessen
der Bündnispartner zu gewährleisten, in Zukunft erfüllen
kann.

Herr Erler, es ist für uns Parlamentarier zweifellos un-
befriedigend, wenn es um die öffentliche Befassung mit
einem Dokument geht, das einer Geheimeinstufung un-
terliegt. Dabei ist nicht von der Hand zu weisen, dass es
im Zuge der Erarbeitung des Albright-Berichts eine
bislang noch nicht dagewesene öffentliche Diskussion
über die künftige Ausrichtung der Allianz gegeben hat.
Deshalb ist es richtig, dass wir uns auch im Deutschen
Bundestag mit der Frage befassen, warum die NATO ein
neues Strategisches Konzept benötigt.

Die Bundesregierung, die sich im Übrigen nicht über
die Einstufung durch den NATO-Generalsekretär hin-
wegsetzen kann, hat zumindest dafür gesorgt, dass die
Fachpolitiker der einzelnen Fraktionen Einsicht in den
aktuellen Entwurf nehmen konnten,


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Oh! Wie großzügig!)


der von den Staats- und Regierungschefs in der nächsten
Woche beim Gipfel in Lissabon verabschiedet wird.


(Uta Zapf [SPD]: Nein! Nur die Obleute durften das, nicht die Fachpolitiker! Ich bin auch Fachpolitikerin!)


– Nein. Die Einstufung ist doch nicht durch die Bundes-
regierung, sondern durch den NATO-Generalsekretär er-
folgt; man muss die Fakten einmal benennen. Ich halte
es trotzdem für unbefriedigend, dass wir diese Diskus-
sion so zu führen hatten.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das macht die Sache aber nicht besser!)


Meine Damen und Herren, die NATO bleibt ein trans-
atlantisches, also regionales Bündnis, das sich allerdings
mit den genannten neuen Risiken und Bedrohungen ei-
ner globalisierten Welt konfrontiert sieht. Die gemein-
same Verteidigung der 900 Millionen Bürger im Bünd-
nisgebiet gemäß Art. 5 des NATO-Vertrages bleibt
ebenso Kern des Bündnisses wie das Prinzip der kol-
lektiven Sicherheit.

Landesverteidigung heißt künftig aber primär Bünd-
nisverteidigung jenseits der äußeren Grenzen des
NATO-Gebietes. Denn Bündnissicherheit bedeutet heute
mehr als die Abwehr eines Angriffs mit konventionellen
militärischen Mitteln. Es kommt deshalb künftig vor al-
lem darauf an, die Entwicklungen in geografisch weiter
entfernten Regionen zu beobachten, zu analysieren und
dann zu handeln, wenn unsere Sicherheit berührt wird.
Dabei bleibt ein zugrunde liegendes Mandat des VN-
Sicherheitsrates zentral.

Für die Allianz bedeutet Art. 4 des NATO-Vertrages
die Grundlage für die notwendigen intensiven Konsulta-
tionen innerhalb des Bündnisses zur Bewältigung und
Verhinderung von Krisen. Bei einer unkonventionellen
Gefahr, beispielsweise der fortgeschrittenen Planung ei-
nes Terrorangriffs, muss der NATO-Rat aber im Einzel-
fall entscheiden, ob ein Fall der kollektiven Verteidigung
gemäß Art. 5 des NATO-Vertrages vorliegt.

Internationale Konfliktverhütung und -bewälti-
gung bleiben auf absehbare Zeit die wahrscheinlichsten
Aufgaben der Bundeswehr. Es ist daher richtig, dass die
von Verteidigungsminister zu Guttenberg angestoßene





Dr. Andreas Schockenhoff


(A) (C)



(D)(B)

Neuausrichtung der Bundeswehr der Bündnisfähigkeit
zentrale Bedeutung beimisst und die Zahl der für den
Einsatz im Rahmen multinationaler krisenbewältigender
Maßnahmen zur Verfügung stehenden Kräfte erhöht
wird.

Unser Einsatz in Afghanistan hat zudem gelehrt, dass
die NATO auf die Zusammenarbeit mit internationalen
Organisationen wie den Vereinten Nationen, der EU und
anderen zivilen Organisationen angewiesen ist. Zur Kri-
senprävention und Konfliktbewältigung ist ein umfas-
sender vernetzter Ansatz erforderlich, der neben militäri-
schen Mitteln vorrangig zivile, also politische,
diplomatische, wirtschaftliche und entwicklungspoliti-
sche Mittel einschließt. In Afghanistan haben wir mit
unserem Konzept der zivil-militärischen Wiederaufbau-
teams, den sogenannten PRTs, ein Beispiel hierfür gege-
ben. Dieser Ansatz wird von der NATO und ihren Mit-
gliedstaaten heute insgesamt akzeptiert.

Im Rahmen des neuen Strategischen Konzepts muss
der Beitrag der NATO zu diesem Comprehensive Ap-
proach weiterentwickelt und der vernetzte Ansatz als
Prinzip des Krisenmanagements vorgesehen werden.
Der neue Ansatz muss sein, von Beginn einer Operation
an so weit wie möglich eine ressortübergreifende Kon-
fliktbewältigung sicherzustellen. Zudem müssen andere
relevante Organisationen, insbesondere die EU, mit ih-
rem umfassenden zivilen Instrumentarium frühestmög-
lich einbezogen werden. Schon mit Blick auf die
Ressourcen ist größtmögliche Komplementarität und Ar-
beitsteilung mit anderen internationalen Akteuren gebo-
ten.

Meine Damen und Herren, in dem neuen Strategi-
schen Konzept ist der Aufbau einer wirksamen Rake-
tenabwehr vorgesehen. Dies hält die CDU/CSU-Frak-
tion für richtig; denn wir benötigen neue Instrumente,
um einen effektiven Schutz vor der realen Bedrohung
durch Atomwaffen in den Händen von Risikostaaten,
wie Iran oder Nordkorea, gewährleisten zu können.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Diese Länder lassen sich vielleicht in Zukunft nicht
mehr abschrecken. Somit gilt die Maxime von Präsident
Obama, dass die NATO so lange zur Abschreckung be-
reit und in der Lage sein muss, wie es Atomwaffen in
dieser Welt gibt.


(Uta Zapf [SPD]: Sie haben doch gerade gesagt, sie lassen sich nicht abschrecken! Wo ist da die Logik?)


Im Umkehrschluss gilt aber auch, dass sich die NATO
der Nichtverbreitung von Nuklearwaffen verschreiben
wird und sie das Prinzip anerkennen muss, dass sie den
Staaten, die keine Nuklearwaffen haben und die dem
Nichtverbreitungsvertrag beigetreten sind und den ent-
sprechenden Verpflichtungen nachkommen, niemals mit
dem Einsatz von Atomwaffen drohen wird.

Zweifellos muss im neuen Strategischen Konzept
aber die größtmögliche Reduzierung der weltweit vor-
handenen nuklearen Arsenale als gemeinsames Ziel der
Allianz festgeschrieben werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP])


Konkret bedeutet dies zum Beispiel, in künftigen Abrüs-
tungsrunden mit Russland die substrategischen Nuklear-
waffen einzubeziehen.

Herr Erler, Sie haben dem Außenminister vorgewor-
fen, er habe hier nur vage gesprochen. Er hat genau das
gesagt: In künftigen Abrüstungsrunden mit Russland
müssen die substrategischen Nuklearwaffen einbezogen
werden. – Das ist sehr konkret. Das ist ein Ziel, das wir
in der NATO insgesamt erreichen wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie geben auch noch zu, dass Sie ihn ausgebremst haben! Das ist aber nicht schön zwischen Koalitionspartnern!)


Durch den Aufbau einer effektiven Raketenabwehr
könnte die Bedeutung von Nuklearwaffen drastisch ver-
ringert und somit ein wesentlicher Beitrag zur weltwei-
ten Abrüstung geliefert werden. Auch das ist nicht vage,
sondern sehr konkret.

Sicherheit in und für Europa lässt sich nur mit und
nicht gegen Russland erreichen. Deswegen haben wir,
so glaube ich, in diesem Hause gemeinsam jedes Inte-
resse an einer möglichst intensiven Zusammenarbeit mit
Russland, etwa bei der Rüstungskontrolle, in Bezug auf
die nukleare Nichtverbreitung, beim Kampf gegen den
internationalen Terrorismus und hinsichtlich eines ge-
meinsamen Krisenmanagements.


(Beifall des Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP])


Herr Erler, Sie können ja kritisieren, dass der NATO-
Russland-Mechanismus im Jahre 2008 ausgesetzt
wurde. Ich gebe sogar zu, dass auch ich das aus heutiger
Sicht für einen Fehler halte. Dass Sie das aber dem Au-
ßenminister Westerwelle vorwerfen, obwohl zu diesem
Zeitpunkt der federführende Außenminister Steinmeier
und nicht Westerwelle hieß, ist nun wirklich daneben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Uta Zapf [SPD]: Das hat er gar nicht Westerwelle vorgeworfen! So ein Schmarren! Richtig zuhören!)


Dadurch zeigen Sie, dass es Ihnen nicht darum geht, dies
zu kritisieren. Das ist wirklich zu billig. Sie sollten das
nachher vielleicht korrigieren.


(Uta Zapf [SPD]: Das hat er nicht gemacht! Lesen Sie es einfach nach!)


Wenn Sie den Außenminister kritisieren, dann fügen Sie
hinzu, dass im Jahr 2008 nicht Herr Westerwelle, son-
dern Ihr Fraktionsvorsitzender Steinmeier der deutsche
Außenminister und der in dieser Sache federführende
Minister der Bundesregierung war.





Dr. Andreas Schockenhoff


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der FDP – Dr. h. c. Gernot Erler [SPD]: Er war aber auch dagegen!)


Ich begrüße es sehr, dass Russland zusammen mit den
USA einen wichtigen Beitrag zur Drogenbekämpfung in
Afghanistan geleistet hat, und ich hoffe, dass die von
Präsident Medwedew in Aussicht gestellte Mitwirkung
an der gemeinsamen Raketenabwehr Realität wird und
zu einer konkreten Zusammenarbeit im gemeinsamen
Sicherheitsinteresse führt.

Meine Damen und Herren, auch nach dem NATO-
Gipfel von Lissabon werden wir die Reform und die
Transformation der NATO parlamentarisch begleiten.
Wenn die NATO im Zeitalter globaler Bedrohungen mit-
hilfe des neuen Strategischen Konzepts den strategi-
schen Konsens innerhalb der Allianz erneuert und wenn
sich die 28 Mitgliedstaaten in Lissabon auf gemeinsame
Ziele und Instrumente zur Aufrechterhaltung der Bünd-
nissicherheit in einer globalisierten Welt des 21. Jahr-
hunderts einigen können, dann ist ein erster Schritt ge-
lungen. Die weiteren Schritte werden wir intensiv
begleiten.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1707100500

Für die Fraktion Die Linke erhält die Kollegin

Dr. Gesine Lötzsch das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707100600

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Sie, Herr Bundestagspräsident
Lammert, haben in der vergangenen Woche die Bundes-
regierung wegen der Missachtung des Deutschen Bun-
destages kritisiert, und ich finde, zu Recht.


(Beifall bei der LINKEN)


Ja, es ist ein Skandal, wie die Atomlobby die Regie-
rung über den Tisch gezogen hat und wie dann die Re-
gierung das Parlament über den Tisch zog.


(Birgit Homburger [FDP]: Was hat das mit der NATO zu tun?)


Das Gleiche erleben wir mit dem neuen Strategischen
Konzept der NATO und der Rüstungslobby. Genau das
ist der Zusammenhang, Frau Kollegin Homburger.


(Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/ CSU]: Endlich sagt es mal einer!)


Das NATO-Konzept wird als geheime Verschlusssa-
che behandelt. Wir als Volksvertreter sollen über ein
Konzept beraten, das die meisten in diesem Saal gar
nicht kennen. Nun könnte die Regierung sagen: Sie,
meine Damen und Herren, müssen es auch nicht kennen;
Sie brauchen auch nicht zu entscheiden. – Das ist, finde
ich, der zweite Skandal.


(Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Schon wieder! Ein Skandal nach dem anderen!)

Die Bundeswehr als Parlamentsarmee wird direkt in
das neue NATO-Konzept einbezogen, und das Parlament
soll das nicht entscheiden dürfen. Was hat das noch mit
Demokratie zu tun?


(Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Dass Sie es nicht verstehen, ist mir schon klar!)


In dem Konzept, das den meisten nicht vorgelegt
wurde, muss es nach Ansicht der Linken darum gehen,
wann endlich die amerikanischen Atomwaffen aus
Deutschland abgezogen werden. Ich sage Ihnen ganz
klar: Wir fordern den sofortigen Abzug dieser Atomwaf-
fen.


(Beifall bei der LINKEN)

Wenn wir nicht darüber entscheiden dürfen, dann ist

das eine unglaubliche Bevormundung des Deutschen
Bundestages. Das dürfen sich selbstbewusste Abgeord-
nete aus allen Fraktionen nicht bieten lassen.


(Beifall bei der LINKEN – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Davon gibt es aber da drüben nicht so viele!)


Auch die Menschen, die durch die NATO geschützt
werden sollen, werden nicht über das Strategische Kon-
zept informiert und haben kein Mitspracherecht, wenn es
um ihre eigene Sicherheit geht. Stellen Sie sich vor, ein
Autoverkäufer würde auf die Frage eines Kunden nach
der Sicherheit des Autos antworten: Das geht Sie gar
nichts an. – Aus dem Geschäft würde wohl kaum etwas
werden. Man muss den Eindruck haben, dass jeder Auto-
verkäufer dieser Republik mehr Verstand hat als die Si-
cherheitsexperten in dieser Regierung.


(Beifall bei der LINKEN)

Auch die Autoverkäufer wissen, dass ein gutes Sicher-
heitskonzept eines der wichtigsten Verkaufsargumente
ist.

Wenn die Bundesregierung nun der Meinung ist, dass
sie dieses Konzept nicht öffentlich vorzulegen hat, dann
scheint es dafür zwei Gründe zu geben: Erstens scheint
die Regierung der Auffassung zu sein, dass Sicherheits-
politik außerhalb der demokratischen Verfahren steht.
Dem stellen wir uns entgegen.


(Beifall bei der LINKEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Wie macht sie das?)


Zweitens kann die Regierung der Auffassung sein,
dass das NATO-Sicherheitskonzept nichts taugt.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Genau! Wahrscheinlich beides!)


Wir als Linke wollen, dass alle Menschen ein angst-
freies Leben führen können. Das ist doch wohl nicht zu
viel verlangt.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)

Wenn das die wichtigste Prämisse von Sicherheitspolitik
ist, dann müssen wir uns fragen, ob die NATO bisher ein
angstfreies Leben garantieren konnte. Die Antwort ist
eindeutig Nein.


(Beifall bei der LINKEN)






Dr. Gesine Lötzsch


(A) (C)



(D)(B)

Der ewige Krieg gegen die Menschen in Afghanistan
hat eine ganze Region destabilisiert und unzählige Opfer
gefordert. Es ist bis zum heutigen Tag nicht klar, wie die
NATO aus diesem Krieg wieder herauskommen will.
Darum fordern wir auch hier und heute wieder den so-
fortigen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan.


(Beifall bei der LINKEN)


Unsere Freiheit wird nicht am Hindukusch verteidigt,
und die Bundeswehr ist auch nicht die größte Friedens-
bewegung, wie es einst der damalige Verteidigungsmi-
nister Struck behauptet hat.

Wir müssen feststellen, dass mit dem Kampf gegen
den Terror die Welt nicht sicherer, sondern unsicherer
geworden ist. Die NATO hat einen beträchtlichen Anteil
daran, dass der Terror jetzt nach Europa kommt. Das ist
eindeutig das Ergebnis einer falschen Politik. Wir haben
immer gesagt, dass man Terror nicht mit Krieg bekämp-
fen kann, im Gegenteil: Es entsteht neuer Terror.


(Beifall bei der LINKEN)


In dieser Situation gibt uns die Bundesregierung und
insbesondere Herr Minister de Maizière den guten Rat,
wachsam zu sein. Ist das alles, was die Bundesregierung
sicherheitspolitisch zu bieten hat? Die NATO und meh-
rere Bundesregierungen haben uns die Suppe einge-
brockt, und jetzt sollen die Menschen diese Suppe aus-
löffeln. Das ist doch wirklich eine Zumutung.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir müssen uns fragen, ob diese Organisation, die für
den Tod von unzähligen Zivilisten die Verantwortung
trägt und das Leben von Millionen Menschen unsicherer
gemacht hat, in der Lage ist, in Zukunft für unsere Si-
cherheit zu sorgen.

Wir als Linke sind der Auffassung, dass sich die
NATO nicht reformieren lässt. Sie ist nicht in der Lage,
auf die Fragen der Gegenwart und der Zukunft die richti-
gen Antworten zu geben.


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, im Augenblick erleben wir
einen bedrohlichen Währungs- und Handelskrieg zwi-
schen den USA, China und Europa. Die USA befinden
sich in einer schweren wirtschaftlichen Krise und haben
kein ökonomisches Konzept. Was geschähe denn, wenn
die USA versuchen wollten, ihren ökonomischen Nie-
dergang mit militärischen Mitteln zu stoppen? Hat die
NATO darauf eine Antwort? Nein.


(Lachen bei der FDP)


Wir erleben die Zunahme von Naturkatastrophen als
Folge des Klimawandels. Immer mehr Menschen sind
auf der Flucht vor Hunger, Wassermangel, Überschwem-
mung und Bodenerosionen. Hat die NATO darauf eine
Antwort? Nein. Was können wir mit einem Raketen-
schutzschirm über Europa anfangen, wenn die Bomben
mit der Luftpost kommen? Hat die NATO darauf eine
Antwort? Nein.

Ich halte fest, dass die NATO mit den Menschheits-
fragen des 21. Jahrhunderts komplett überfordert ist.

(Beifall bei der LINKEN)


Sie gaukelt Sicherheit vor, bringt aber immer mehr Unsi-
cherheit nach Europa.

Wenn nun der Kollege Verteidigungsminister zu
Guttenberg sich hinstellt und erklärt, die NATO und die
Bundeswehr sollen in Zukunft die Handelswege und die
Rohstoffquellen sichern, steht er mit dieser Position
nicht mehr auf dem Boden des Grundgesetzes. Ihn
scheint das nicht zu stören, uns stört es schon.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir sollten uns über eines im Klaren sein: Wenn es
um den Welthandel geht, sind die wirklichen Bedrohun-
gen doch ganz andere. China, Deutschland und Japan
stehen als Exportstaaten international unter Kritik. Im-
mer mehr Staaten wollen sich nicht länger mit den un-
ausgeglichenen Handelsbilanzen abfinden. Die Kanzle-
rin hat vor dem G-20-Gipfel erklärt, dass sich die
anderen Staaten mehr anstrengen müssen, um mehr ex-
portieren zu können. Das ist ökonomischer Unsinn; das
weiß doch jedes Kind. Wenn alle Staaten nur noch auf
Export setzen würden, dann bräche der internationale
Handel zusammen. Wenn wir also unsere Handelspolitik
nicht freiwillig ändern, dann werden die anderen Staaten
mit Protektionismus antworten, und unsere Exportstrate-
gie wird wie ein Kartenhaus zusammenfallen. Das kön-
nen wir doch alle nicht wollen.


(Beifall bei der LINKEN)


Und hat die NATO darauf eine Antwort? Nein.

Wir sehen, dass die NATO für fast alle Aufgaben un-
geeignet ist, bis auf eine: Sie hält die Rüstungsindustrie
am Laufen. Zwei Drittel der weltweiten Militärausgaben
werden von NATO-Staaten getätigt. Allein für den un-
sinnigen Raketenabwehrschirm wurden schon jetzt
120 Milliarden Euro ausgegeben. Ich habe ebenso wie
viele hier im Saal – ich hoffe, zumindest auf der linken
Seite – bessere Ideen für die Verwendung von 120 Mil-
liarden Euro: für Bildung, für Kultur, für Infrastruktur,
für Zukunft und nicht für die Zerstörung der Zukunft.


(Beifall bei der LINKEN)


Abschließend noch einige Anmerkungen zu den vor-
liegenden Anträgen. Der Entschließungsantrag der SPD
enthält einige Forderungen an das Strategische Konzept
der NATO, die auch wir unterstützen können. Einen
Punkt davon hebe ich hier besonders hervor: Die Kolle-
gen der SPD fordern wie auch wir zu Recht, dass die
Konvention über Landminen und Streumunition end-
lich von allen unterstützt werden soll und dass alle
NATO-Mitglieder dieser Konvention beitreten müssen.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD])


Diese Streumunition und diese Landminen haben sehr
viel Leid über die Menschheit gebracht. Gerade Kinder
und Jugendliche werden ihrer Zukunft beraubt, wenn sie
noch Jahre nach Kriegsende auf diese Landminen treten
oder von Streumunition verletzt werden können. Dies





Dr. Gesine Lötzsch


(A) (C)



(D)(B)

sind so menschenverachtende Mittel, dass sie sofort ver-
boten gehören.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, unsere Fraktion hat einen
Entschließungsantrag eingebracht, der eine Abstimmung
über das neue Strategische Konzept der NATO hier im
Bundestag fordert. Meines Erachtens muss das eine For-
derung aller Abgeordneten sein. Ansonsten, wenn wir
diese Forderung nicht unterstützen, können wir unsere
Rolle als Volksvertreter nicht ernst nehmen.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der FDP)


In einem zweiten Entschließungsantrag fassen wir ei-
nige unserer wichtigsten Forderungen zum neuen Strate-
gischen Konzept der NATO zusammen. Drei davon
nenne ich noch einmal: Erstens. Wir fordern den soforti-
gen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan.


(Beifall bei der LINKEN)


Zweitens. Wir fordern den Abzug aller Atomwaffen aus
Deutschland und weltweit endlich konkrete nukleare
Abrüstungsschritte und nicht nur schöne Deklarationen.


(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der CDU/CSU und der FDP)


Drittens. Wir wollen, dass sich die NATO nicht an dem
unsinnigen Raketenabwehrschild beteiligt.

Mit diesen Forderungen vertrete ich, im Gegensatz zu
den Zwischenrufern von der rechten Seite, die Meinung
der Mehrheit der Menschen in diesem Land.


(Widerspruch bei der FDP)


Wenn Sie unseren Entschließungsanträgen zustim-
men, dann sind Sie auf der richtigen Seite; wenn Sie da-
gegen stimmen, dann wird in der Öffentlichkeit klar,
dass für Sie nicht die Sicherheitsinteressen der Men-
schen wichtig sind, sondern vor allen Dingen die üppi-
gen Profite der Rüstungsindustrie.

Vielen Dank.


(Anhaltender Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der FDP: Welche Geschichtsvergessenheit!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1707100700

Frau Kollegin Lötzsch, da Sie mich zu Beginn Ihrer

Rede nicht vollständig zitiert haben, will ich in Erinne-
rung rufen, dass ich darauf hingewiesen habe, dass nach
meiner Einschätzung der Ablauf der letzten Sitzungswo-
che für alle Beteiligten im Hause Anlass zu selbstkriti-
schem Nachdenken über die eigene Rolle bietet. Punkt.

Nächster Redner ist nun der Kollege Jürgen Trittin für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Jetzt wollen wir mal gucken; der hat auch mal eine gute Stunde!)


Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1707100800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die

NATO ist ein Sicherheitsbündnis, das sich Werten ver-
pflichtet fühlt. Herr Bundesaußenminister, ich hätte mir
schon gewünscht, dass Sie hier festgestellt hätten, dass
es zu einer Wertegemeinschaft eben nicht passt, dass das
zukünftige Konzept dieser Wertegemeinschaft nur in der
Geheimschutzkammer des Deutschen Bundestages ein-
zusehen ist. Das schafft keine Legitimation für diese
Werte, sondern delegitimiert sie.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


In Wahrheit haben wir es seit Jahren mit einer neuen
Sinnsuche der NATO zu tun. Wenn man das in einer
Stellenanzeige ausdrücken wollte, müsste man sagen:
Rüstiger Rentner in Altersteilzeit sucht neue Beschäfti-
gung. – Das ist der Kern der Debatte, um die es hier
geht. Das hat einen Grund – das ist bei Frau Lötzsch
vielleicht noch nicht angekommen –: Der Kalte Krieg ist
vorbei, es gibt die bipolare Welt nicht mehr. Es ist rich-
tig: Wir stehen vor völlig neuen Herausforderungen –
Ressourcenwettläufen, Klimawandel, globaler Armut,
Verbreitung von Massenvernichtungswaffen


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Er wiederholt gerade meine Rede!)


und Zerfall von Staaten. Die Wahrheit erfahren wir doch
jeden Tag, zum Beispiel in den Auseinandersetzungen
um Somalia, in den Auseinandersetzungen um Afgha-
nistan. All diese Probleme lassen sich mit den klassi-
schen Instrumenten der Abschreckung – das war doch
die wesentliche Funktion der NATO – alleine nicht lö-
sen, im Gegenteil: Im typischen Konflikt, den wir haben,
dem asymmetrischen Konflikt, ist Abschreckung der
Stachel dazu, den Konflikt zu verschärfen. Das sind die
Herausforderungen, vor denen wir stehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Jetzt stellen wir fest, dass eine Suche nach neuen Auf-
gaben innerhalb der NATO stattfindet. Es ist die Rede
vom Cyberwar. Ja, der Cyberwar ist eine Bedrohung.
Nur, ist diese Bedrohung mit den Instrumenten der
NATO zu lösen? Was wollen Sie denn tun? Google bom-
bardieren? Das kann doch keine ernsthafte Alternative
sein.


(Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Oder nehmen wir die Debatte über den Terrorismus.
Es wurde uns doch in diesen Tagen hautnah vor Augen
geführt: Ihr Innenministerkollege meint, bei Paketfracht
– wir alle müssen immer unser Kosmetikbeutelchen vor-
zeigen – reichten Stichproben aus.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Du hast doch gar keinen Kosmetikbeutel!)


Auch das ist kein militärisches Problem; vielmehr bedarf
es zur Lösung dieses Problems einer integrierten Sicher-
heitspolitik, in der Fragen polizeilicher Vorsorge im
Vordergrund stehen sollten. Ich finde, das hat nichts in





Jürgen Trittin


(A) (C)



(D)(B)

einer Aufgabenbeschreibung für ein Militärbündnis zu
suchen. Das ist keine Aufgabe für das Militär, und das
muss an dieser Stelle klar gesagt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die NATO muss sich, anstatt nach neuen Aufgaben zu
suchen, auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren. Diese
bestehen in der Herstellung kollektiver Sicherheit, und
zwar in Europa zusammen mit den USA. Das ist die
Kernaufgabe, die sie erfüllen kann, die zu erfüllen von ihr
erwartet wird. Wenn es richtig ist, dass das nur mit Russ-
land zusammen geht, wie es von Herrn Schockenhoff und
anderen gesagt wird, dann brauchen wir eine NATO, die
kollektive Sicherheit in Kooperation mit Russland, durch
Öffnung in Richtung Russland und langfristig durch die
Perspektive einer Mitgliedschaft von Russland gewähr-
leistet. Dann haben wir einen Raum gemeinsamer Sicher-
heit von Vancouver bis Wladiwostok. Das ist die Perspek-
tive: Konzentration auf die Kernaufgabe der NATO als
militärischem Bündnis, das sich durchaus Werten ver-
pflichtet sieht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In diesem Konzept spielt die Abrüstung eine zentrale
Rolle. Herr Westerwelle, Sie haben gesagt, Abrüstung
sei der Kern, sozusagen der Schwerpunkt von Außen-
politik. Sonst bekommt man ja von Ihren Schwerpunk-
ten der Außenpolitik nicht so viel mit. Über die neue Ar-
chitektur zwischen G 8, G 11 und G 20 veröffentlicht der
Finanzminister in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
einen Aufsatz. Das ist eigentlich Ihre Kompetenz, werter
Kollege Westerwelle.


(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: So wenig verstehen Sie!)


Sie sprechen von Abrüstung. Die FDP hat im letzten
Jahr hier einen Antrag zur Beendigung der nuklearen
Teilhabe als Relikt des Kalten Krieges eingebracht; so
steht es wörtlich in diesem Antrag. Was ist daraus ge-
worden? Sie sind von Ihrem größeren Koalitionspartner
ausgebremst worden. Dann sagen Sie das doch an dieser
Stelle.

Sie sagen, Sie wollten Abrüstung, weil der nuklearen
Proliferation begegnet werden solle. Wie passt das zu ei-
ner Politik, die jetzt wieder darangeht, den Export von
Atomtechnologie, die Wiederaufarbeitung und die An-
reicherung mit Hermes-Krediten zu subventionieren?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Was soll denn das sein? Schafft ein, zwei, viele Iran? Ist
das Abrüstung?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Es wurde immer gesagt: Afghanistan ist die Heraus-
forderung für die NATO. – Schauen wir uns Afghanistan
an: Die Niederländer sind weg, die Kanadier gehen
nächstes Jahr weg, die Schweden und die Italiener sind
2014 weg, die Polen 2012. Wissen Sie, was das heißt?
Im Jahr 2014 sind im Norden und Osten Afghanistans
keine NATO-Truppen. Und nur noch die Deutschen sind
da? Das glauben Sie doch selber nicht!

Wo ist Ihre Perspektive, Ihre Überführung dieser Mis-
sion in eine zivile? Wir wollen ja nicht aus Afghanistan
abziehen, sondern wir wollen das militärische Engage-
ment dort beenden. Was ist Ihr Datum? Sie sagen, Sie
wollen es nicht nennen. Mittlerweile bindet die NATO
die Verhandler der Taliban unter freiem Geleit in Ge-
spräche mit der afghanischen Regierung in Kabul ein.
Wo also ist Ihre Afghanistan-Strategie?

Eigentlich haben wir es mit einer fast unsichtbaren
deutschen Außenpolitik zu tun. Nach außen wahrnehm-
bar ist und bleibt im Falle von Afghanistan ausschließ-
lich der Verteidigungsminister, die Federführung hat
aber das Außenministerium.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach!)


– Ich muss es an dieser Stelle sagen. Ich weiß es, weil
ich die Kabinettsvorlagen gelesen habe.


(Zuruf von der CDU/CSU: Hallo!)


Aber, meine Damen und Herren, was macht der Bun-
desverteidigungsminister? Der Bundesverteidigungs-
minister gibt jetzt den Außenminister, und er sagt zu
Wirtschaftskriegen, derzeit finde er das nicht so verwe-
gen, und man solle mit dem Thema Wirtschaftskrieg of-
fen und ohne Verklemmung umgehen. Ganz offen und
ohne Verklemmung: Handels- und Rohstoffkriege sind
durch das Grundgesetz nicht gedeckt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Hierzu hätte ich von Ihnen, Herr Westerwelle, eine klare
Ansage erwartet.

Selbstverständlich haben wir Rohstoff- und Ener-
gieinteressen. Aber das ist kein Grund für militärisches
Engagement. Um zu zitieren, was der Kollege Polenz in
anderen Zusammenhängen gesagt hat: Selbstverständ-
lich ist das nicht eine Sache, die wir mit einer Art Kano-
nenpolitik sichern könnten.

Ich hätte von einem deutschen Außenminister, der
sich der Selbstbeschränkung deutscher Außenpolitik
verpflichtet weiß, erwartet, sich von dieser Kanonenpoli-
tik des Verteidigungsministers hier klar zu distanzieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf von der CDU/CSU: Oh, Mann!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1707100900

Nächster Redner ist für die FDP-Fraktion der Kollege

Dr. Rainer Stinner.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Rainer Stinner (FDP):
Rede ID: ID1707101000

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Herr Trittin, man merkte: Sie haben heute nichts





Dr. Rainer Stinner


(A) (C)



(D)(B)

auf der Pfanne. Deshalb mussten Sie Ihre Rede mit einer
Verunglimpfung der Bundesregierung krönen.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ach, lieber Herr Stinner!)


Niemand in dieser Bundesregierung, niemand auf dieser
Seite des Parlaments denkt daran, Wirtschaftskriege zu
führen. Der Terminus technicus „Wirtschaftskriege“ ist
von niemandem gebraucht worden.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch!)


Niemand aus diesem Deutschen Bundestag will und
wird deutsche Soldaten schicken, um Rohstoffinteressen
zu sichern.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Außer Guttenberg!)


Darum geht es überhaupt nicht. Es geht darum, die Pira-
terie zu bekämpfen. Aber das hat mit Rohstoffkriegen
überhaupt nichts zu tun. Herr Trittin, ich weise diese
Verunglimpfung im Namen meiner Fraktion ausdrück-
lich zurück.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Sie haben einen zweiten Fehler gemacht, Herr Trittin;
denn Sie haben unterstellt, die NATO würde krampfhaft
nach neuen Aufgaben suchen. Das ist falsch, und das
braucht sie auch gar nicht. Wir können mit Stolz und mit
Freude feststellen: Die NATO hat erreicht, dass Hunderte
von Millionen – jetzt sind wir 850 Millionen – 60 Jahre
lang in Frieden und Freiheit gelebt haben. Herr Trittin,
wenn unsere Nachfolger das in 60 Jahren auch noch so
sagen können, nämlich dass die NATO dazu beigetragen
hat, dass 850 Millionen Menschen auf dieser Welt in
Frieden und Freiheit leben können, dann braucht sie
keine weitere Aufgabe, dann ist sie ein erfolgreiches
Bündnis, und dann können wir auf dieses Bündnis stolz
sein.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Selbstverständlich hat sich seit 1999 die Situation für
die NATO geändert, und das wird in dem neuen Strategi-
schen Konzept reflektiert – völlig richtig –, und es war
hohe Zeit, dass wir das anpassen. Jetzt stellen wir uns
die Frage: Was ist eigentlich neu? Ich finde, es gibt eine
ganze Reihe von neuen Aspekten, die wir würdigen
müssen und die damals, 1999, so nicht formuliert wor-
den sind oder werden konnten.

Das erste Thema – ganz wichtig – ist die Kooperation
mit Russland. Ich glaube, hier haben wir einen ganz we-
sentlichen Fortschritt erlebt. Ich verhehle nicht, dass die
Bundesregierung und mit ihr der deutsche Außenminis-
ter ganz wesentlich dazu beigetragen haben, das Thema
Russland in der Weise zu intonieren, wie es jetzt into-
niert wird. Russland wird nämlich nicht nur als Problem
gesehen – es gibt Probleme, die wir alle kennen –, son-
dern Russland wird zunehmend als Problemlöser, Mitge-
stalter eingebunden. Auch das ist eine Aufgabe, der sich
die NATO verschrieben hat. Dieser Aufgabe werden wir
uns widmen. Dazu hat deutsche Politik ganz wesentliche
Impulse gegeben.
Das zweite Thema ist die Nuklearfrage. Selbstver-
ständlich wird auch im neuen Strategischen Konzept ste-
hen, dass, solange es auf dieser Welt Nuklearwaffen gibt,
auch die NATO eine nukleare Abschreckungskompo-
nente haben wird. Das halte ich auch für richtig. Den-
noch ist hier angesprochen, dass wir die Vision, die
Obama hat, die wir haben, die wir gemeinsam haben, am
Ende Global Zero, schrittweise – schrittweise! – errei-
chen können.

Meine Damen und Herren, speziell von der SPD, lie-
ber Herr Erler, ich muss Ihnen deutlich sagen: Ich bin
immer wieder erstaunt darüber, wie eine Partei, die elf
Jahre lang durch Bundeskanzler und Außenminister Au-
ßenpolitik in Deutschland definiert hat, nach einem Jahr
den Eindruck zu erwecken versucht, als hätte sie damit
überhaupt nichts zu tun. Das kann so nicht weitergehen,
Herr Erler. Sie haben elf Jahre lang Verantwortung ge-
habt. In Ihrer Zeit ist der NATO-Russland-Rat ausgesetzt
worden. In Ihrer Zeit haben Sie nicht erreicht und auch
keinen Anstoß dazu gegeben, dass aus Deutschland Nu-
klearwaffen entfernt werden. Jetzt kommen Sie und re-
den klug daher. Meine Damen und Herren, es ist uner-
träglich, wie Sie Politik zu machen versuchen; das muss
ich Ihnen ganz ehrlich sagen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Es gibt einen weiteren neuen Aspekt in dem NATO-
Konzept, und das ist Cyberwar; darauf ist hingewiesen
worden. Ich möchte Sie aber bitten, Herr Außenminister,
in der nächsten Woche, vor Verabschiedung des Kon-
zepts, darauf hinzuarbeiten, dass wir jedenfalls nicht ei-
nen Automatismus zwischen Cyberbedrohung und Art. 5
NATO-Vertrag bekommen. Ich sehe das sehr kritisch.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Uta Zapf [SPD]: Das tut doch gar nichts zur Sache! Art. 5?)


– Ich sage das ja so. Liebe Kollegin, ich sage deutlich, wie
ich es empfinde. Ich sehe es sehr kritisch, dass wir einen
Automatismus zwischen Cyberattacken und Art. 5 her-
stellen sollen. Hier müssen wir sehr genau hinschauen.
Ich möchte die Verbindung so unverblümt möglichst
nicht in dem Konzept haben.

Ich möchte gern eine weitere kritische Anmerkung
machen, und die bezieht sich auf das Thema Missile De-
fense. Herr Außenminister, Sie haben zu Recht gesagt,
dass wir jetzt eine völlig neue Perspektive haben. Es
geht von dem alten Bush-Konzept, das unter verschiede-
nen Gesichtspunkten falsch war – das haben wir immer
gesagt –, hin zu einem neuen Konzept, das aber, wie ich
finde, überhaupt noch nicht richtig definiert wird. Ich
habe mich auch in der Öffentlichkeit gegenüber dem
NATO-Generalsekretär kritisch geäußert, der nämlich in
den Raum stellt, das würde die NATO nur 200 Millionen
Euro kosten. Meine Damen und Herren, lieber Herr Au-
ßenminister, das halte ich für eine Vernebelung der Öf-
fentlichkeit. Das können wir so nicht stehen lassen.


(Beifall der Abg. Agnes Malczak [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])






Dr. Rainer Stinner


(A) (C)



(D)(B)

Wir müssen an diesem Missile-Defense-Konzept sehr
genau nacharbeiten. Es muss deutlicher werden, um was
es sich dabei handelt. Die Elemente, die verknüpft wer-
den sollen, sind bisher noch gar nicht vorhanden. Ange-
sichts dessen die Zahl von 200 Millionen Euro in den
Raum zu stellen, halte ich für problematisch; ich will das
so deutlich sagen.

Lassen Sie mich, Herr Präsident, zum Abschluss et-
was zu einem Element sagen, das in dem neuen Konzept
verstärkt dargestellt wird, das aber in der Öffentlichkeit
bisher leider zu kurz gekommen ist: Das ist Art. 4. In
Art. 4 geht es um Konsens und Kooperation, um Koope-
ration und Information innerhalb der NATO. Bundes-
kanzler Schröder und ein Jahr später Bundeskanzlerin
Merkel haben in München auf der Sicherheitskonferenz
jeweils dasselbe gesagt – für Herrn Schröder hat Herr
Struck kaum verstehbar, verschwurbelt, aber inhaltlich
richtig vorgetragen, und Frau Merkel hat es deutlich ge-
sagt –: Die NATO muss im Zentrum ein politisches, ein si-
cherheitspolitisches Koordinations- und Kooperationsgre-
mium sein. Deshalb müssen wir, Herr Außenminister – ich
weiß, wir sind da einer Meinung, aber ich will es auch
noch einmal deutlich im Deutschen Bundestag sagen –,
darauf Wert legen, dass insbesondere die Kooperation
und die Information im Rahmen des NATO-Bündnisses
verstärkt werden. Die NATO muss ihrer Rolle diesbezüg-
lich gerecht werden, nämlich als Sicherheitsbündnis für
heute, für morgen und für die Zukunft. So ist die NATO
auf dem richtigen Weg. Dann können wir hoffentlich in
60 Jahren sagen: Jawohl, weitere 60 Jahre hat diese
NATO für Frieden, Freiheit und Sicherheit für 850 Mil-
lionen Menschen in dieser Welt gesorgt. Das ist ein Er-
folg. – Wir arbeiten daran, dass dieser Erfolg eintritt.

Danke schön.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1707101100

Die Kollegin Uta Zapf ist die nächste Rednerin für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Uta Zapf (SPD):
Rede ID: ID1707101200

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Herr Stinner, immer, wenn Sie so laut sind, kommt
nichts dabei herum. Wenn Sie aber ab und zu leisere
Töne anschlagen, kann man sich schon mit Ihnen aus-
einandersetzen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Kommen Sie einmal zur Sache und verzapfen Sie nichts zusammen! – Dr. Rainer Stinner [FDP]: Ich kann noch viel lauter!)


Vielleicht tun wir das dann auch in den entsprechenden
Ausschüssen.

Dass wir, wie die Linken es fordern, über das neue
Strategische Konzept der NATO im Bundestag abstim-
men, ist aus politischen Gründen schlicht und ergreifend
gar nicht möglich; denn hierzu hat das Parlament keine
Handlungsbefugnis.
Ich beklage aber genau wie alle anderen vor mir, dass
dieses Konzept so geheim gehandelt wird, dass es wirk-
lich nur die Obleute sehen durften und nicht die Fach-
leute, die auch sicherheitsüberprüft sind und normaler-
weise solche Dinge einsehen können. Noch komischer
ist eigentlich, dass wir hierzu eine Anhörung im Aus-
wärtigen Ausschuss hatten, bei der von den fünf eingela-
denen Experten offensichtlich nur einer Einsicht in den
Entwurf dieses Konzeptes hatte. Dieser Herr Kamp vom
NATO Defense College hat mit folgendem Zitat eröffnet
– ich finde, das ist ein schönes Zitat –:

Eine Firma, die nur alle 10 Jahre überprüft, ob ihre
Produkte den Bedürfnissen der Kunden entspre-
chen, wäre wahrscheinlich nicht mehr im Geschäft.

Jetzt führt die NATO also eine solche Überprüfung
durch, um im Geschäft zu bleiben. Das Ergebnis kennen
wir noch nicht, weil es geheim ist; aber wir wissen, was
wir wollen, und wir wissen auch, was wir nicht wollen.
Jedenfalls haben wir als SPD das in unserem Antrag sehr
deutlich niedergelegt.

Zu einem Teil unserer Vorstellungen hat Kollege Erler
sehr deutlich Stellung genommen. Dabei ging es vor al-
lem um die Frage, wie die NATO mit Russland umgeht.
Ich sehe, dass hier ein relativ breiter Konsens für eine
andere Politik als während des Kalten Krieges und viel-
leicht auch noch in der Zeit danach besteht. Also, Ent-
spannung ist angesagt.

Wir begrüßen natürlich, dass in diesem Konzept nie-
dergelegt ist, dass das Ziel eine nuklearwaffenfreie Welt
ist. Trotzdem bleibt doch – ich finde, wir müssen das
auch kritisch sehen, Herr Außenminister – ein Mix aus
konventionellen und nuklearen Waffen bestehen; die
Abschreckung bleibt; die nukleare Teilhabe und das
Burden Sharing bleiben, und die Stationierung von US-
Waffen in Europa wird für den transatlantischen Zu-
sammenhalt weiterhin als notwendig deklariert.

Herr Minister, Sie haben ganz offensichtlich zu Be-
ginn Ihrer Amtszeit den Mund zu voll genommen, als
Sie über den Abzug von substrategischen Waffen spra-
chen. Wir jedenfalls wollen weiterhin, dass diese aus
Deutschland abgezogen werden.


(Beifall bei der SPD)


In diesem Konzept findet sich allerdings kein Hinweis
darauf, dass so verfahren wird. Im Gegenteil, man hält
an diesem Burden Sharing fest. Wir meinen – Herr
Trittin hat das ähnlich ausgedrückt –, dass ein Bündnis,
das sich als Werte- und Verteidigungsgemeinschaft ver-
steht, keine Nuklearwaffen als Klebstoff für den transat-
lantischen Zusammenhalt braucht. Hier sind ganz andere
Dinge wichtig, nämlich unsere gemeinsamen Werte und
unser gemeinsames Interesse an Stabilität und Sicher-
heit.


(Beifall bei der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass sich die
NATO auf nukleare Abrüstung verpflichtet, ist gewiss
positiv. Aber gewiss sind diese Aktivitäten nicht auf den
Außenminister Westerwelle alleine zurückzuführen,
auch wenn Sie es im Auswärtigen Ausschuss so darzu-





Uta Zapf


(A) (C)



(D)(B)

stellen versucht haben. Es gab die sogenannte Vierer-
bande – Kissinger, Shultz, Perry und Nunn –, es gab
Obamas Wahlkampf, und es gab im Jahre 2008 die Rede
von Obama in Prag. Aus Deutschland und Norwegen
gab es eine Initiative von Steinmeier und seinem norwe-
gischen Kollegen, die ein Papier in die NATO einge-
bracht haben, das besagte, dass Abrüstung wieder größe-
res Gewicht haben solle.

Natürlich ist die Nuclear Posture Review ein Leitfaden
für das strategische Konzept; darauf muss es reagieren.
Aber Clinton und Obama haben deutlich gesagt – das
wurde hier von Herrn Stinner zitiert –, dass man eine
wirkungsvolle Abschreckung und ein Arsenal von Nu-
klearwaffen brauche, solange es Nuklearwaffen auf der
Welt gibt. Ich bin da anderer Meinung. Ich weiß, dass
das innerhalb der NATO anders diskutiert wird, und die
Abstimmungsverfahren sprechen dafür, dass man mit ei-
ner Nulllösung nicht so recht durchdringen kann.

Hinsichtlich der Fortführung von Abrüstungsmaßnah-
men bin ich nicht ganz so optimistisch, wie es hier beim
Außenminister klang, insbesondere nach der Wahl in den
USA, aufgrund derer die Fraktion von Obama sehr an
Kraft verloren hat. Der Stellenwert von Abrüstung wird
bei den USA insgesamt geringer sein. Ob New START
ratifiziert werden wird, weiß ich nicht. Auch die Duma
bereitet sich bereits darauf vor, hier wieder einen Rück-
zieher zu machen. Eine alternative Kommentierung wird
in der Duma vorbereitet. Es wird in der Duma eben nicht
ratifiziert, weil man sich sagt, wenn man wieder dasselbe
wie bei START II hat, schaut man dumm aus.

Das Nächste ist, liebe Kolleginnen und Kollegen:
Was wird aus der konventionellen Abrüstung? Ich
weiß nicht, ob in diesem Konzept dazu etwas stehen
wird. In Brüssel wird uns erklärt, als NATO seien wir gar
keine Vertragspartner. Wir wissen, dass es zwei Papiere
gibt, ein Papier aus den USA von Frau Viktoria Nuland
und ein russisches Papier. Darin wird deutlich, dass es
Gespräche gibt. Ich erinnere daran, dass Steinmeier dies
angestoßen hat, indem er in den Jahren 2007 und 2008
zu entsprechenden informellen Gesprächen in die Bun-
desrepublik geladen hat. Ob wir eine Ratifizierung im
Kongress erwarten können, steht garantiert in den Ster-
nen.

Lassen Sie mich in der wenigen Zeit, die mir noch zur
Verfügung steht, etwas zur Raketenabwehr sagen. Ich
glaube, wir werden gut beraten sein, wenn wir uns in
diesem Hohen Hause sehr genau mit den neuen Plänen
auseinandersetzen. Meine Sicht auf die Dinge ist im Mo-
ment, dass das, was in der NATO vorgeschlagen wird
und was Rasmussen als wunderbare Lösung beschreibt,
eigentlich Augenwischerei ist, weil sich dies nur darauf
bezieht, dass alle bisher existierenden Systeme „zusam-
mengeplugt“ werden. Rasmussen macht ein Plugin: Hier
ist NATO, und dann Plugin! Dort sind aber zum Beispiel
die Kosten für Patriots und MEADS in Deutschland
überhaupt nicht mit eingerechnet; dies alles kommt
hinzu.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1707101300

Frau Kollegin!

Uta Zapf (SPD):
Rede ID: ID1707101400

Ich erinnere daran, dass wir bei MEADS immer noch

nicht im Reinen sind. Deshalb glaube ich, dass wir auch
sehr gut beraten sind, darauf zu hören, was die Russen in
diesem Moment sagen. Sie werden sich nicht auf ein
Abenteuer einlassen, das keinen Mehrwert bietet; dies
alles muss noch sehr genau geprüft werden.

Ich stimme mit dem überein, was hier von einigen
Kollegen zu Cyber gesagt worden ist; dies kann nicht
nach Art. 5 erfolgen.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1707101500

Frau Kollegin, Sie müssen jetzt aber zum Schluss

kommen.


Uta Zapf (SPD):
Rede ID: ID1707101600

Letzter Satz, Herr Präsident. – Wir sollten auch noch

einmal klären, wie es in den Regierungsfraktionen mit
der Frage einer Mandatierung durch den Sicherheitsrat
oder einfach durch den Geist der UN ist. Ich würde dies
gern präzise haben, wie wir es in unserem Antrag nieder-
gelegt haben.

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1707101700

Das Wort erhält nun der Kollege Philipp Mißfelder

für die CDU/CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU)



Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1707101800

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Für die Zuschauer an den Fernsehbildschirmen,
die heute vielleicht zum ersten Mal diese Diskussion
verfolgen, möchte ich zur Klarstellung sagen, dass die
Mitglieder des Deutschen Bundestages sehr wohl Mög-
lichkeiten hatten, sich mit dem Bericht zu beschäftigen.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Über die Geheimschutzstelle! – Uta Zapf [SPD]: Sie gehören ja auch zu den Privilegierten!)


Sicherlich war das nicht so tiefgehend möglich, wie es
bei anderen Papieren sonst der Fall ist. Auch Sie, Frau
Zapf, waren doch bei der Unterrichtung durch den
Staatssekretär Born anwesend.

Es ist nicht die Bundesregierung bzw. der Bundes-
außenminister, sondern die NATO gewesen, die festge-
legt hat, dass es sich um ein Geheimpapier handelt. Ich
möchte an dieser Stelle der Bundesregierung ausdrück-
lich dafür danken, dass es uns zumindest in einem klei-
nen Kreis ermöglicht wurde, Fragen zu stellen, und dass
wir über das Papier direkt und ausführlich informiert
wurden. Das ist, so glaube ich, der unter den Geheim-
schutzregeln einzig gangbare Weg gewesen.


(Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Herr Ströbele, bei Ihnen immer gerne.






(A) (C)



(D)(B)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1707101900

Wenn ich vielleicht an dieser bilateral vereinbarten

Zwischenfrage wenigstens notariell beteiligt werden
könnte.


(Heiterkeit)


Herr Kollege Ströbele, Sie haben das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Kollege Mißfelder, ich durfte als Mitglied des
Auswärtigen Ausschusses diese Papiere nicht einsehen.
Gibt es eine Erklärung, Verfügung oder Ähnliches der
NATO, wo steht, dass zwar Obleute des Auswärtigen
Ausschusses diese Papiere einsehen dürfen, aber stell-
vertretende Obleute nicht? Das hätte ich gerne einmal
gewusst. Wie käme ansonsten der Außenminister dazu,
zu sagen: „Die Obfrau darf das einsehen, aber ihr Stell-
vertreter darf auch für den Fall, dass sie krank ist, die Pa-
piere nicht einsehen“? Was Sie gemacht haben, ist doch
reine Willkür.


Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1707102000

Nein, Herr Ströbele, da muss ich Sie korrigieren. Wir

haben das Papier nicht einsehen können – das habe ich
schon gesagt –, sondern wir haben die Möglichkeit ge-
habt, mit dem Staatssekretär, der das Papier kennt, aus-
führlich darüber zu diskutieren.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So haben wir uns die Junge Union immer vorgestellt! Papa erzählt, was in dem Text drinsteht! Aber nicht selber lesen!)


Was Sie richtigerweise gesagt haben – diesen Punkt
wollte ich eigentlich weglassen, um Ihre Fraktion nicht
zu diskreditieren –, ist, dass die Grünen bei dieser Unter-
redung nicht anwesend waren. Aber jede Fraktion hatte
die Möglichkeit, einen Stellvertreter zu entsenden. An-
sonsten wäre Frau Zapf in Vertretung von Herrn
Mützenich nicht dabei gewesen. Sie müssen sich in Ihrer
Fraktion einfach besser abstimmen. Wenn Sie freundli-
cher zu Frau Müller wären, dann würde sie Sie vielleicht
zukünftig in den Debatten reden lassen und dann müss-
ten Sie sich nicht in Form von Zwischenfragen zu Wort
melden.


(Beifall des Abg. Dr. Günter Krings [CDU/ CSU])


Vielleicht würde sie Sie auch darüber unterrichten, dass
es solche Termine gibt, an denen Sie dann stellvertretend
teilnehmen dürfen. Aber das ist ein Problem der Grünen
und nicht unser Problem.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich will zum eigentlichen Thema kommen. Seit 1990
hat die NATO 97 Prozent ihres Atomwaffenarsenals ab-
gerüstet. Allein das zeigt, in welchem Wandlungsprozess
sich die NATO in den vergangenen Jahrzehnten befun-
den hat. Politisch hat sich seit 1999, seit der letzten Dis-
kussion über die strategische Konzeption der NATO, Er-
hebliches geändert. Die Weltwirtschaft ist globaler
geworden. Die Internetwelt hat sich radikal verändert.
Auch unsere sicherheitspolitischen Herausforderungen
haben sich massiv verändert.

Während des Kalten Krieges war Bündnissolidarität
nahezu immer deckungsgleich mit nationalen Sicher-
heitsinteressen. Das kann man heute für die NATO nicht
mehr zwangsläufig sagen; denn wir stehen heute vor He-
rausforderungen, die anderer Natur sind und bei denen
Sicherheitsinteressen einzelner Mitgliedsländer in unter-
schiedlichem Maße betroffen sind. Terrorismus, geschei-
terte Staaten, Verbreitung von Massenvernichtungswaf-
fen sind notwendigerweise nicht für alle Mitgliedsländer
der NATO eine existenzielle Gefahr und werden daher
von Bündnispartnern unterschiedlich wahrgenommen.
Nehmen wir den konkreten Fall Afghanistan. Während
einige Verbündete ihr militärisches Engagement aus-
drücklich als Kampf gegen eine unmittelbare Bedrohung
empfinden und deshalb die Akzeptanz für diesen Einsatz
in ihrer Gesellschaft hoch ist, ist dies nicht zwangsläufig
bei allen Mitgliedsländern der Fall. Das zeigt, wie
schwierig mittlerweile Operationen unter dem Dach der
NATO sind. Wir müssen daher darüber diskutieren, wie
es mit der NATO politisch weitergehen soll.

Es zeigte sich schon in dieser Debatte: Uns geht es
nicht darum, die NATO nur als reines Militärbündnis zu
sehen. Wir sehen sie als politische Plattform, die uns die
Möglichkeit gibt, mit anderen Organisationen und Bünd-
nissen, mit NGOs sowie mit anderen Partnern aus dem
asiatischen Bereich, aber insbesondere auch in unserer
unmittelbaren Nachbarschaft – ich denke dabei an Russ-
land – zu diskutieren. Wir stehen in der NATO auf einer
gemeinsamen Wertebasis. Deshalb ist es für uns von
zentraler Bedeutung – es ist mir ganz wichtig, das zu er-
wähnen –, auf Basis dieser Werte gemeinsam für eine Si-
cherheitsarchitektur zu werben und dabei nicht nur über
militärische Aspekte zu diskutieren, sondern auch über
politische Perspektiven. Wir müssen die Diskussion über
die Strategie der NATO dazu nutzen, hier Fortschritte zu
machen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir müssen für eine stärkere Akzeptanz der NATO
werben; das ist unbedingt notwendig. Wir befinden uns
in einer Situation, die vollkommen anders ist als die zur
Zeit des Kalten Krieges. Dazu kann ich nur aus Ge-
schichtsbüchern zitieren und kaum aus eigenem Erleben
berichten. Wir befinden uns heute Gott sei Dank nicht
mehr in einer Situation, in der die unmittelbare Bedro-
hung für den einzelnen Bürger automatisch in einem per-
sönlichen Zusammenhang zum Bündnis steht, weder im
Osten noch im Westen Deutschlands.

Wir stehen heute vor ganz anderen Herausforderun-
gen. Deshalb finde ich es richtig, dass sich die NATO um
die Frage der Cyberattacken bemüht, selbst wenn das
nur der Beginn einer Diskussion sein kann. Hier gibt es
viele Fragen zu den Fähigkeiten der NATO. Die Frage
ist auch – Rainer Stinner hat sie zu Recht aufgeworfen –:
Wie geht man im Fall des Falles damit um? Wir stellen
uns diesen Fragen in der Diskussion; wir wollen sie wei-
ter in den Blick nehmen.





Philipp Mißfelder


(A) (C)



(D)(B)

Die militärische Transformation der NATO muss
fortgesetzt werden. Dies bleibt für uns ein wichtiger
Punkt; denn es ist notwendig, die Soldaten auf die neuen
Herausforderungen vorzubereiten, sowohl im Hinblick
auf ihre Ausrüstung als auch auf die Organisationsstruk-
tur der NATO. Insofern passt sich unsere Bundeswehrre-
form nahezu nahtlos in die Diskussionen ein, die in den
anderen Mitgliedsländern der NATO intensiv geführt
werden. Wir wollen die Bundeswehr effizienter, schnel-
ler und effektiver machen, damit sie den neuen Heraus-
forderungen gerecht wird. Neuen Herausforderungen ge-
recht zu werden, heißt in erster Linie, unsere eigene
Sicherheit und die Sicherheit unserer Bündnispartner zu
schützen.

Die Diskussion um Rohstoff- und Ressourcensi-
cherheit ist nicht vom Himmel gefallen. Das zeigt sich
darin – Frau Zapf, da möchte ich Sie gerne korrigieren –,
dass wir schon bei der Erstellung des Weißbuchs 2006
– unter Applaus der SPD – kein Problem damit hatten,
auch über sichere Zugänge zu Märkten und über die
Frage der Rohstoffsicherheit zu diskutieren.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das war damals schon falsch! Das wird dadurch nicht besser! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kein Weißbuch kann das Grundgesetz aushebeln!)


Nichts anderes hat der Minister getan; nichts anderes hat
zuvor der zurückgetretene Bundespräsident getan. Inso-
fern bedeutet die Aufregung an dieser Stelle viel Lärm
um nichts.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Früher gab es Zeiten, in denen Sie bei diesem Thema ap-
plaudiert und tatkräftig daran mitgewirkt hätten.

Ein wichtiger Punkt wurde in dieser Debatte angespro-
chen: das Verhältnis zu Russland. Sicherlich kann man
darüber streiten, nicht über die Vorschläge der Gruppe um
Frau Albright, aber vielleicht über die Art und Weise, wie
der NATO-Generalsekretär auf Russland zugegangen ist
oder eben nicht. Ich kann das im Einzelnen nicht beurtei-
len, weil ich keine detaillierten Kenntnisse darüber habe.
Es geht aber nicht nur darum, wie wir die Diskussion hier
bei uns führen, sondern auch darum, wie sie in Russland
aufgenommen wird. Der NATO-Generalsekretär hat viel-
leicht nicht zu jedem Zeitpunkt in angemessener Weise
wahrgenommen, dass Russland uns, der NATO und der
Europäischen Union die Hand ausgestreckt hat. Das ist
aber eine politische Diskussion, um die es sich zu streiten
lohnt. Ich bin deshalb besonders froh darüber, dass die
Bundeskanzlerin sowie der französische Präsident und
der russische Präsident von Anfang an die Missverständ-
nisse ausgeräumt haben, die im Zuge der Diskussion um
das Strategische Konzept hätten auftreten können. Sie ha-
ben die feste Absicht erklärt, Russland mit ins Boot zu ho-
len und gemeinsam mit Russland an einer Sicherheitsar-
chitektur zu arbeiten. Damit wird die ausgestreckte Hand
Russlands angenommen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1707102100

Nächste Rednerin ist die Kollegin Agnes Malczak für

die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1707102200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber

Kollege Mißfelder, es ist ein unwürdiger Vorgang, dass
nur zehn Parlamentarier das Strategische Konzept einse-
hen können, sodass man in einer Runde das Ratespiel
betreiben muss: „Steht denn darin, dass …?“ Das ist
auch für eine Organisation unwürdig, die sich Transpa-
renz und Öffentlichkeit groß auf die Fahnen schreibt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. h. c. Gernot Erler [SPD])


Herr Außenminister Westerwelle, mangels anderer au-
ßenpolitischer Akzente haben Sie vollmundig das sympa-
thieträchtige Thema Abrüstung zu Ihrem persönlichen
Steckenpferd gemacht. Nach den Luftsprüngen wegen
Deutschlands Sitz im UN-Sicherheitsrat hätten Sie nun in
der NATO belegen können, dass Sie internationale Politik
beherrschen und Ihr Eintreten für Abrüstung nicht nur
eine Luftnummer ist. Was zu befürchten war, ist eingetre-
ten: Schwarz-Gelb hat den Abzug der US-Atomwaffen
aus Deutschland im Koalitionsvertrag absichtlich an die
Verhandlungen in der NATO gekoppelt, um danach mit
dem Finger auf andere zu zeigen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Herr Westerwelle, der Deutsche Bundestag hat Sie in
großer Einigkeit damit beauftragt, sich in der NATO für
nukleare Abrüstung und den Abzug der US-Atomwaffen
aus Deutschland einzusetzen. Bei der Erfüllung dieses
Auftrags sind Sie gnadenlos gescheitert.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)


Mit einem Angebot zum Kuhhandel erschienen Sie in sel-
tener Eintracht mit Ihrem Kabinettskollegen zu Guttenberg
beim Treffen der Außen- und Verteidigungsminister der
NATO-Mitgliedstaaten im Oktober. Ihr plumper Deal
war: Deutschland unterstützt jetzt doch das Raketenab-
wehrsystem und erhält im Gegenzug Zugeständnisse bei
der nuklearen Abrüstung. – Doch die schallende Ohrfeige
ließ nicht lange auf sich warten. Gleich nach der Konfe-
renz erklärte der amerikanische Verteidigungsminister
Gates, dass Raketenabwehr gar nichts mit Abrüstung zu
tun hat. Eine deutlichere Abfuhr kann man sich nicht ho-
len.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Richtig!)


Das Ergebnis ist: Die US-Atomwaffen bleiben in
Deutschland, und die Bundesregierung vergibt einen
Blankoscheck für ein Raketenabwehrsystem, von dem
niemand weiß, wie teuer es wird, ob es überhaupt funk-
tioniert und wer am Ende die Befugnis für die Entschei-
dung hat, wann es zum Einsatz kommt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)






Agnes Malczak


(A) (C)



(D)(B)

Der NATO-Generalsekretär Rasmussen wirbt mit ei-
ner Schnäppchenrechnung, nach der das Raketenab-
wehrsystem nur 200 Millionen Euro kosten würde. Da-
für erntet er sogar von den Befürwortern dieses Systems
nur Gelächter. Experten rechnen mit Gesamtkosten in
Milliardenhöhe. Dem Verteidigungsminister, dem das
Sparen sonst so wichtig ist, fiel zu dieser Sache nichts
Besseres ein, als Ja dazu zu sagen und gleichzeitig sein
vorauseilendes Misstrauen gegenüber den Zahlen zum
Ausdruck zu bringen. Das Tragische an dieser Entschei-
dung ist: Ein solches Raketenabwehrsystem birgt in der
jetzigen Situation, in einer Zeit, in der die globale
Machtverteilung durch aufstrebende Mächte neu be-
stimmt wird, die Gefahr einer weltweiten Aufrüstungs-
spirale. Raketenabwehr täuscht in einer hochgerüsteten
Welt über die Notwendigkeit von Abrüstung und Rüs-
tungskontrolle hinweg.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir fordern Sie daher auf: Ziehen Sie Ihre Zustimmung
zum Raketenabwehrsystem auf dem NATO-Gipfel in der
nächsten Woche zurück.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Auch ich war vorauseilend misstrauisch, was den ab-
rüstungspolitischen Willen dieser Bundesregierung an-
belangt. Nach einem Jahr kann ich sagen: völlig zu
Recht. Atomraketen trotz Raketenabwehrsystem, das ist
die Formel für die doppelte Pleite von Schwarz-Gelb in
der Abrüstungspolitik und in der NATO.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1707102300

Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege

Westerwelle das Wort.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja peinlich!)



Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Rede ID: ID1707102400

Sehr geehrte Frau Kollegin, ich bitte Sie! Ich bin Ab-

geordneter des Deutschen Bundestages. Ich will eine Sa-
che zum Ausdruck bringen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn Sie sonst nicht zu Wort kommen!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1707102500

Frau Kollegin Künast, Sie werden sich wie ich an

Beispiele erinnern, wo nicht nur gemeldete Redner zu
Wort kamen, sondern in Debatten des Deutschen Bun-
destages zusätzlich fleißig von der Möglichkeit der
Kurzintervention Gebrauch gemacht wurde.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber auch vom Zwischenruf! – Dr. Rainer Stinner [FDP], an die Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] gewandt: Frau Regierende Bürgermeisterin!)


Dr. Guido Westerwelle (FDP):
Rede ID: ID1707102600

Frau Kollegin, bei allem Respekt: Noch sind auch Sie

Mitglied dieses Hauses. Sie können sich ja auch zu Wort
melden, wenn Sie es denn möchten.

Ich möchte auf einen Punkt eingehen, weil mir das ein
wichtiges Anliegen ist. Wir können hier gerne inhaltlich
über die Frage der Abrüstung diskutieren. Wir haben
eine sehr viel positivere Sicht auf dieses Thema. Wir
sind der Meinung, dass die Entwicklung auf dem Gebiet
der Abrüstung in dem letzten Jahr, insbesondere in den
letzten Monaten, gut und positiv ist.

Da ich als Parlamentarier viele Jahre lang in der Op-
position gearbeitet habe, liegt mir viel daran, Folgendes
zu sagen – deshalb habe ich mich zu Wort gemeldet –:
So viel Transparenz, wie ich als Außenminister bei die-
sem Strategischen Konzept der NATO dem Deutschen
Bundestag gegenüber ermöglicht habe, habe ich in den
elf Jahren, in denen ich Abgeordneter einer Oppositions-
fraktion war, nicht einmal erlebt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir erinnern uns noch an 1999, als das Strategische Kon-
zept der NATO verabschiedet wurde. Damals bildeten
SPD und Bündnis 90/Die Grünen die Regierung. Wie oft
wurde den Obleuten Einsicht in die Unterlagen gegeben?
Wir, die Bundesregierung, haben alles erläutert, auch im
persönlichen Gespräch. Wir haben gesagt: Bitte berück-
sichtigt, dass der NATO-Generalsekretär dies als „Ge-
heim“ eingestuft hat und wir die Unterlage dementspre-
chend nicht eigenmächtig veröffentlichen können. Es ist
ja wohl völlig selbstverständlich, dass ich als Außen-
minister mich nicht darüber hinwegsetzen kann.

Ich hätte erwartet, dass Sie diese Transparenz, die Sie
nie – nicht ein einziges Mal in elf Jahren – gewährleistet
haben, heute anerkennen, statt uns dafür zu beschimp-
fen, dass wir so weit gegangen sind, mit Ihnen eine sol-
che Transparenz zu vereinbaren. So viel Offenheit hat es
in dieser Debatte in diesem Haus bei solchen als vertrau-
lich eingestuften Dokumenten noch nicht ein einziges
Mal gegeben. Darauf lege ich Wert.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1707102700

Zu einer kurzen Erwiderung hat Frau Kollegin

Malczak das Wort.


Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1707102800

Herr Außenminister, dieses neue Strategische Kon-

zept der NATO ist mit der Ankündigung des NATO-Ge-
neralsekretärs verbunden – insofern gibt es schon einen
Zusammenhang; dazu hat auch Kollege Mißfelder am
Schluss seiner Rede aufgefordert –, für mehr Akzeptanz
in der NATO zu werben. Von der Expertengruppe hieß es
ganz klar: Wir sind jetzt transparent; wir diskutieren es
in den einzelnen Mitgliedstaaten vor der Öffentlichkeit.
– Wenn aber jetzt das entscheidende Dokument geheim
und auch für die Parlamentarierinnen und Parlamentarier
nicht einzusehen ist, dann ist das natürlich ein Miss-
stand, den wir auch kritisieren werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1707102900

Der Kollege Dr. Karl Lamers ist der nächste Redner

für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Karl A. Lamers (CDU):
Rede ID: ID1707103000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das

neue Strategische Konzept wird die Leitlinie der NATO
für die nächsten Jahre sein. Es ist die NATO, die Europa
seit mehr als 60 Jahren Frieden und Freiheit gebracht
hat. Wir haben der NATO viel zu verdanken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Immer wieder hat sich das Bündnis den veränderten Si-
cherheitslagen angepasst, so auch mit diesem neuen
Strategischen Konzept, das auf dem NATO-Gipfel in
Lissabon in wenigen Tagen verabschiedet wird. Die
neue Strategie trägt den Herausforderungen unserer Zeit
Rechnung; denn Zukunft ist nicht nur Verlängerung der
Vergangenheit. Wir müssen neue Antworten finden. Mit
diesem Konzept wird die NATO neue Wege aufzeigen.

Sie, Herr Außenminister, haben die Group of Wise
Men – sinnigerweise unter der Leitung einer Lady, näm-
lich Madeleine Albright – angesprochen. Ich möchte an
dieser Stelle erwähnen, dass es die Parlamentarische
Versammlung der NATO war, die für das neue Konzept
einen eigenen Beitrag erarbeitet hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es sind auch Parlamentarier aus diesem Hohen Hause,
aus allen Fraktionen, die als NATO-Parlamentarier ihre
Gedanken und Ideen in unser Papier eingebracht haben.


(Uta Zapf [SPD]: Das gehört sich doch so!)


Danke dafür.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Beistandsverpflichtung gemäß Art. 5 des NATO-
Vertrages muss zentraler Pfeiler der Allianz bleiben. Die
Sicherheit unseres Bündnisses ist unteilbar. Art. 5 drückt
den Willen, die Bereitschaft, aber auch die Fähigkeit aus,
uns gemeinsam gegen Angriffe zu verteidigen. Dabei
bleibt es.

Bei neuen Bedrohungen denke ich zum Beispiel an
Cyberangriffe. Millionen Angriffe finden täglich statt:
auf Staaten, Sicherungssysteme von Industrieanlagen,
Banken und Pipelines. Das ist eine Gefahr, die uns exis-
tenziell bedrohen kann. Cybersicherheit muss, Herr
Trittin, stärker als bisher auch in das Blickfeld der
NATO rücken.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Da ist es nicht geeignet, hier Witzchen wie „Google
bombardieren“ zu machen. Vielmehr sollte auch für Sie
gelten, dass das ein wichtiges Thema ist, das in einer
politisch-militärischen Institution wie der NATO seriös
erörtert wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein wichtiges Thema, aber keines für die NATO!)


Das neue Strategische Konzept wird Bedrohungen
aufgreifen, die nicht an unseren Grenzen haltmachen:
Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, Pira-
terie, gescheiterte Staaten, Energieknappheit und vor al-
lem internationaler Terrorismus. Hier, Frau Lötzsch,
richte ich mich vor allem an Sie, an die Demokratie- und
Friedenswächter der Linken.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist vergebliche Liebesmüh!)


In Afghanistan kämpfen unsere Soldaten gegen Terror.
Ich möchte ihnen, unseren Soldatinnen und Soldaten,
auch an dieser Stelle meinen Dank und meinen höchsten
Respekt dafür bekunden, dass sie tagtäglich bereit sind,
ihre Gesundheit und ihr Leben für unsere Freiheit und
unsere Sicherheit einzusetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Sie verheizen die Soldaten! Das ist der Punkt!)


– Frau Lötzsch, hören Sie einmal zu! Dann können Sie
vielleicht noch etwas lernen.

Einigkeit und Geschlossenheit im Bündnis sind der
Schlüssel zum Erfolg. Gerade in einer Zeit knapper wer-
dender Ressourcen wird ein vertrauensvolles Miteinan-
der zwischen NATO und EU immer wichtiger. Wir brau-
chen eine strategische Partnerschaft. Unsere Kräfte
sinnvoll zu bündeln, ist das Gebot der Stunde. Ein wich-
tiger Partner für die Allianz ist Russland. Wir brauchen
Russland, aber Russland braucht auch uns bei der Ter-
rorbekämpfung, bei der Raketenabwehr und bei der Be-
kämpfung der Verbreitung von Massenvernichtungswaf-
fen.

Abrüstung und Rüstungskontrolle sind ein zentra-
les Thema für die NATO der Zukunft. Eine Welt ohne
Nuklearwaffen ist ein Traum, den wir alle teilen. Aller-
dings dürfen wir nicht außer Acht lassen, dass es poten-
ziell Staaten oder – ich will es nicht beschwören – nicht-
staatliche terroristische Akteure gibt, die unsere
Sicherheit gefährden. Solange diese Gefahr besteht,
muss die NATO abschreckungsfähig bleiben.

In einer globalisierten Welt haben für die NATO Part-
nerschaften mit Staaten, die unsere Sicherheitsinteressen
teilen, eine zunehmend größere Bedeutung. Zur NATO-
Erweiterung ein Satz: Die Tür muss offen bleiben. Wer
Mitglied wird, entscheidet einzig das Bündnis. Ein Veto
von dritter Seite lehne ich ab.

Um als Bündnis erfolgreich zu sein, brauchen wir den
Rückhalt und die Unterstützung unserer Bevölkerung.
Wir müssen besser als bisher erklären, was die NATO
ist, was sie macht und warum sie für unsere Sicherheit
unerlässlich ist. Dabei ist es wichtig, gerade die junge
Generation zu gewinnen. Sie trägt das Bündnis in die
Zukunft. Ich schlage deshalb die Einführung eines
NATO-Tages vor,


(Uta Zapf [SPD]: Feiertag mit Schulfrei!)






Dr. Karl A. Lamers (Heidelberg)



(A) (C)



(D)(B)

einen Tag im Jahr, an dem wir ganz besonders über die
Arbeit der NATO informieren, zum Beispiel an Schulen
und Universitäten,


(Uta Zapf [SPD]: Nein! Das muss ein freier Tag sein!)


an dem wir mit den Menschen über die NATO und ihre
Rolle im 21. Jahrhundert sprechen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Mit dem neuen Strategischen Konzept wird die
NATO ein zukunftsweisendes Dokument verabschieden.
Jetzt müssen wir alle unseren Beitrag dazu leisten, dass
dieses neue Konzept von den Mitgliedstaaten umgesetzt
wird.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1707103100

Herr Kollege Lamers, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Lenkert?


Dr. Karl A. Lamers (CDU):
Rede ID: ID1707103200

Bitte schön.


Ralph Lenkert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707103300

Vielen Dank, Herr Kollege. – Ich habe eine Frage. Sie

möchten einen Tag der NATO einführen, an dem die
NATO über ihre Arbeit informiert. Würden wir dann bei
dieser Gelegenheit auch über die Sicherheitsstrategie der
NATO informiert werden? Wenn das so ist, dann könnte
ich mir vorstellen, dass wir dem sogar zustimmen.


Dr. Karl A. Lamers (CDU):
Rede ID: ID1707103400

Herr Kollege, ich verstehe den NATO-Tag so wie den

Europa-Tag, den wir eingeführt haben und an dem wir
über Europa und die Bedeutung Europas sprechen. Ich
halte es angesichts der Bedeutung der NATO für wich-
tig, dass wir alle, Parlamentarier, Diplomaten, Politiker,
Menschen, die von der NATO überzeugt sind, in der Öf-
fentlichkeit verstärkt über Sinn und Zweck sowie die
Rolle der NATO sprechen. Öffentlichkeitsarbeit ist
wichtig; wir müssen uns ihr in Zukunft mehr zuwenden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1707103500

Herr Kollege, Sie müssen jetzt zum Schluss kommen.


Dr. Karl A. Lamers (CDU):
Rede ID: ID1707103600

Ich komme jetzt zum Schluss meiner Rede, Herr Prä-

sident. – Bei der Reform der Struktur der Bundeswehr
werden wir uns an den Anforderungen orientieren, die
die NATO in ihrem Strategischen Konzept stellt.
Deutschland wird auch in Zukunft ein verlässlicher
Bündnispartner sein.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1707103700

Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Gehrcke

das Wort.


Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707103800

Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Die Rede des

Kollegen Lamers macht das Dilemma, in dem wir ste-
cken, sichtbar. Er hat hier zu allen Punkten des Strategi-
schen Konzepts der NATO Ausführungen gemacht. Ich
weiß gar nicht, ob ich das Folgende sagen darf.


(Zurufe von der CDU/CSU: Nein!)


Es ist ja nicht nur so, dass lediglich 14 Kolleginnen und
Kollegen des Hauses Einsicht nehmen durften, sondern
der Inhalt ist auch geheim. Also niemand – mein Kollege
Schäfer und ich eingeschlossen – könnte hier sagen: Im
Strategischen Konzept der NATO steht das und das.

Das hat für die Politik der Bundesrepublik Deutsch-
land Konsequenzen. Kollege Lamers, ich glaube nicht,
dass Sie sich hier an der Grenze des Geheimnisverrates
bewegt haben. Ich will Ihnen das auch nicht vorhalten;
denn ich bin dafür, dass das Konzept öffentlich gemacht
wird. Ich will nur eines deutlich machen: Es kann sein,
dass die Regierung einigen wenigen Abgeordneten einen
Einblick ermöglicht hat. Ich finde es aber völlig unak-
zeptabel, mich für etwas bedanken zu müssen, das ei-
gentlich eine Selbstverständlichkeit ist: dass die Parla-
mentarier diese Unterlagen erhalten, einsehen und in der
Öffentlichkeit darüber reden können.


(Beifall bei der LINKEN – Jörg van Essen [FDP]: Ihnen ist doch vorhin erklärt worden, warum das so ist! Hören Sie doch wenigstens mal zu!)


– Eine Erklärung ersetzt nicht eine andere Verhaltens-
weise. Wenn Sie als Abgeordneter so wenig Selbstbe-
wusstsein haben,


(Jörg van Essen [FDP]: Ach! Das hat mit Selbstbewusstsein nichts zu tun! Das ist doch alles vorgetragen worden!)


dass Sie diese Unterlagen nicht kennen, sondern Ihre
Entscheidung lieber an andere delegieren wollen, ist das
Ihr Problem, nicht mein Problem.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Wollen Sie etwa die gleiche Transparenz, die früher in der DDR üblich war?)


Ich verlange, dass wir alle erfahren, worum es geht, und
dass Sie dafür sorgen, dass wir uns sachkundig machen
können. Das ist die Grundlage.


(Beifall der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE])


Herr Außenminister, merken Sie nicht, wie seltsam es
ist, dass Beamte Abgeordnete darüber aufklären sollen,
was in einem Papier steht? Wieso dürfen Beamte wissen,
was in einem Papier steht, Abgeordnete aber nicht?
Wenn man nachgefragt hat, wo etwas steht, lautete die

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1707103900
Das darf ich Ihnen nicht sa-





Wolfgang Gehrcke


(A) (C)



(D)(B)

gen. – Auf diese Art und Weise können wir nicht über
Zukunftsfragen entscheiden.

Ein letztes Wort, Herr Lamers – das haben Sie selbst
provoziert –: Der von Ihnen vorgeschlagene Kaisertag
für die NATO


(Heiterkeit der Abg. Uta Zapf [SPD])


ist eine Propagandaaktion, die wirklich nicht in die Welt
passt. Politische Auseinandersetzungen sind zu bejahen.
Aber für diese Art der Propaganda sind eigentlich sogar
Sie zu gut.

Danke sehr.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1707104000

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hans-Peter

Bartels für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):
Rede ID: ID1707104100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Diese Debatte bietet eine Gelegenheit, nach Gemein-
samkeiten in der Außen- und Sicherheitspolitik der Bun-
desrepublik Deutschland zu suchen. Insofern bin ich
dem Kollegen Lamers dankbar, nicht für den von ihm
angeregten NATO-Tag, sondern dafür, dass er auf etwas
hingewiesen hat, das eigentlich eine Selbstverständlich-
keit sein müsste, in dieser Debatte aber nicht allen ganz
klar war: nämlich dass die NATO in allererster Linie ein
Verteidigungsbündnis ist, basierend auf Art. 5 des
NATO-Vertrages, der Beistandsverpflichtung. Dies ist
ihre erste Aufgabe. Erst dann folgen die Aufgaben, die in
den letzten Jahren hinzugekommen sind, Out-of-Area-
Einsätze, um in anderen Teilen der Welt unter dem Dach
der UNO für Sicherheit zu sorgen, wenn die UNO dafür
ihre Legitimation erteilt hat.

Ich weiß nicht, ob der Verteidigungsminister inzwi-
schen wieder hier ist.


(Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär: Ja! Da drüben ist er!)


– Gut, irgendwo ist er also. – Es hat Irritationen darüber
gegeben, dass wieder einmal die Frage aufgeworfen
wurde: Wann ist der Einsatz militärischer Mittel eigent-
lich legitim? Zur Durchsetzung nationaler wirtschaftli-
cher Interessen, die in Konkurrenz zu den Interessen an-
derer Länder stehen, ist er natürlich nicht legitim. Zu
diesem Zweck werden militärische Mittel im 21. Jahr-
hundert nicht mehr eingesetzt. Das ist auch die Räson
unseres Grundgesetzes.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich will dem Verteidigungsminister nicht unterstellen,
dass er Böses meint. Er ist schließlich in der Lage, sich
zu korrigieren, wenn er vielleicht etwas Falsches gesagt
hat. Dann ist er immer stolz und weist darauf hin, dass es
eine Tugend ist, sich korrigieren zu können; vielleicht
können Sie das auch in dieser Frage tun. Wenn Sie mei-
nen, dass Deutschland aufgrund seiner wirtschaftlichen
Kraft – weil wir die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt
sind, weil wir die zweitgrößte Exportnation der Welt
sind und weil wir das größte Land in Europa sind – Ver-
antwortung für die Sicherheit in der Welt hat, dann lautet
die richtige Argumentation: Weil wir stark sind, haben
wir Verantwortung und müssen möglicherweise im Rah-
men der NATO und unter dem Dach der UNO auch mili-
tärische Mittel einsetzen. Andersherum ist die Argumen-
tation aber auf keinen Fall richtig: Wir dürfen nicht
durch den Einsatz militärischer Mittel stark werden wol-
len.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Ich möchte auf das NATO-Konzept und die Bundes-
wehrreform eingehen. Die Debatte, die wir führen, fin-
det nicht im luftleeren Raum statt, sondern sie ist mit ei-
ner Diskussion über die Veränderung der Bundeswehr
verbunden. In den letzten 20 Jahren hat die Bundeswehr
bereits einige Veränderungen erlebt. Die Zahl der Solda-
ten ist von 500 000 auf 250 000 halbiert worden. Die
Zahl der in Deutschland stationierten Alliierten ist auf
weniger als ein Zehntel reduziert worden. Deutschland
hat eine gewaltige Veränderung hinter sich. Jetzt steht
uns eine weitere Veränderung bevor. Ich würde mir wün-
schen, dass diese Veränderung in Abstimmung mit unse-
ren europäischen NATO-Partnern vollzogen wird. Es
muss verhindert werden, dass viele Staaten gleiche Fä-
higkeiten, die wir zu einem späteren Zeitpunkt vielleicht
gebrauchen könnten, aufgeben. Wir sehen das gerade bei
den Kanadiern, die die Fähigkeiten, die sie aufgegeben
haben, wieder neu entwickeln, weil sie sie bei den Ein-
sätzen brauchen.

Wenn wir also neue Konzepte für unsere Bundeswehr
entwickeln – andere Länder tun das für ihre Streitkräfte
auch –, dann muss das abgestimmt erfolgen. Natürlich
kann man auch beim Militär noch effizienter werden und
möglicherweise auch einen Sparbeitrag leisten. Dies darf
aber nicht gegen die Einsatzfähigkeit und die Sicher-
heitspolitik gerichtet sein, sondern das muss in Abstim-
mung mit dem erfolgen, was in der NATO vereinbart
wird und in Europa sinnvoll ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Auch in Zukunft bleibt nach dem Grundgesetz die
erste Aufgabe der Bundeswehr die Landes- und Bünd-
nisverteidigung; das gilt auch für die NATO. Sie ist nicht
nur dann erfolgreich, wenn sie mit möglichst vielen Sol-
daten im Ausland im Einsatz ist, sondern es kann sein,
dass ihr größter Erfolg darin besteht, dass sie nicht ein-
gesetzt werden muss, dass also zum Beispiel in Europa
nichts mehr passiert, weil der Einsatz auf dem Balkan er-
folgreich war. Das ist ein gutes Beispiel für die Erfolge
der NATO und der Bundeswehr: Nachdem wir auf dem
Balkan einen langen Atem hatten und es schrecklich be-
gonnen hatte, ist die Situation dort heute stabil. Wir hof-
fen, dass wir in wenigen Jahren gar nicht mehr von mili-
tärischen Mitteln reden müssen, wenn es um den Balkan
geht, sondern dass es dann nur noch um den zivilen Auf-





Dr. Hans-Peter Bartels


(A) (C)



(D)(B)

bau und die Mitgliedschaft in der Europäischen Union
geht.

Die alte Philosophie, dass man Streitkräfte nicht hat,
um sie überall in der Welt einzusetzen, sondern dass
Streitkräfte kämpfen können müssen, um nicht kämpfen
zu müssen, sie also zu haben, um sie nicht einsetzen zu
müssen, damit kein Vakuum und keine unstabilen Situa-
tionen entstehen, bleibt auch für die neue NATO und für
die reformierte Bundeswehr eine Grundkonstante ihrer
Sicherheitspolitik.

Lassen Sie mich abschließend einen Aspekt erwäh-
nen, der hier noch gar nicht angesprochen wurde. Ich
weiß auch nicht, ob das Konzept der NATO ihn enthält.
In dem Papier von Frau Albright und ihrer Kommission
spielt er eine wesentliche Rolle. Es geht um den Über-
gang zu besonderen neuen Fähigkeiten, zu unbemann-
ten, automatisierten Kampfsystemen – UAVs, Kampf-
drohnen –, zum Einsatz von Spezialkräften und zum
immer häufiger festzustellenden Einsatz von Militärfir-
men. Was ist Drohnen, Spezialkräften und Militärfirmen
gemeinsam? Die Gemeinsamkeit beim Einsatz solcher
Mittel besteht darin, dass dies in der Regel hinter dem
Schleier der Nichtöffentlichkeit geschieht. Die neue
Strategie der NATO darf nicht darauf abzielen, sich der
Öffentlichkeit zu entziehen und neue Formen militäri-
scher Auseinandersetzung zu finden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir müssen eine Debatte darüber führen, wie Demo-
kratien den Einsatz militärischer Mittel legitimieren kön-
nen, wenn er notwendig ist. Das kann nicht dadurch ge-
schehen, dass gesagt wird: Die Diskussion muss gar
nicht mehr stattfinden; Spezialkräfte sind geheim; von
Drohnen bemerkt niemand etwas, und bei den Militärfir-
men arbeiten keine Soldaten; sie machen nur ihren Job,
der bezahlt wird. – Das kann nicht die Zukunft der
NATO und übrigens auch nicht die Zukunft der Bundes-
wehr sein.

Schönen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1707104200

Jetzt erhält Herr Ströbele das Wort zu einer Kurzinter-

vention.


(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Stellt ihn doch einfach einmal ans Rednerpult! – Dr. Rainer Stinner [FDP]: Der Kollege darf nie reden!)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident, ich habe mich im Anschluss an das
gemeldet, was der Kollege gerade gesagt hat. Der Kol-
lege hat zutreffend darauf hingewiesen, dass wir alle
sehr gespannt darauf sind, was der Bundesverteidigungs-
minister mit seiner Äußerung tatsächlich hat sagen wol-
len. Ich bin heute Morgen hierher zu dieser Debatte
gekommen und davon ausgegangen, dass der Bundes-
verteidigungsminister das Parlament selbstverständlich
darüber informiert, was er mit seiner Erklärung im Inter-
view tatsächlich gemeint hat.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich sage das einmal ganz milde: Diese Erklärung ist rela-
tiv interpretationsfähig.

Ich habe mich seinerzeit über die Äußerung des da-
maligen Bundespräsidenten erheblich aufgeregt und
dazu auch Stellung genommen. Jetzt rege ich mich über
die Interviewäußerungen des Bundesverteidigungs-
ministers genauso auf. Ich habe nicht erwartet, dass der
Bundesverteidigungsminister in dieser Situation hier zu-
nächst auf der Regierungsbank und jetzt unter den Abge-
ordneten sitzt und zu diesem Thema überhaupt nichts
sagt. Er sollte jetzt einmal unverklemmt sagen, um was
es eigentlich geht.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Was hat er damit gemeint, dass in Zukunft die NATO
bzw. die Bundeswehr auch zur Sicherung von Handels-
wegen und Wahrung von Wirtschaftsinteressen einge-
setzt werden könnte? Bitte, Herr Verteidigungsminister,
gehen Sie nach vorne.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1707104300

Zu einer Kurzintervention hat sich der Kollege zu

Guttenberg zu Wort gemeldet.


(CDU/ CSU)


Herr Kollege Ströbele, herzlichen Dank. – Ich werde
Ihrem Wunsch nur bedingt nachkommen, jetzt nach
vorne zu gehen. Ich darf Ihnen von meinem Platz aus im
Rahmen einer Kurzintervention sehr kurz antworten: Le-
sen und dann verstehen! Es geht um Punkte, die ich seit
einem halben Jahr immer gesagt habe. Offensichtlich ha-
ben Sie das ein halbes Jahr lang nicht wahrgenommen.
Jetzt kommt die große Bugwelle der Empörung, die ich
auch wahrnehme.

Wenn Sie nachlesen, was ich gesagt habe, dann ver-
stehen Sie, dass das Punkte widerspiegelt, die bereits im
Weißbuch 2006 enthalten waren. Dazu habe ich von Ih-
nen keinen Aufschrei der Empörung gehört. Es mag
sein, dass Sie damals nicht so gut aufgepasst haben.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch!)


– Nein, dazu kam von Herrn Ströbele nichts.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben zusammen im Ausschuss gesessen!)


Was wir künftig zu erwarten haben, Herr Trittin, ist:
Sie werden wahrscheinlich demnächst Ihre Mitglieder
dazu aufrufen, in den Häfen das Wasser abzuschöpfen,





Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg


(A) (C)



(D)(B)

damit die Fregatten nicht zur Pirateriebekämpfung aus-
laufen können. Wir sollten also in der Sache ernst blei-
ben.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Edelgard Bulmahn [SPD]: Das ist dem Parlament nicht angemessen!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1707104400

Das Wort erhält nun der Kollege Ruprecht Polenz für

die CDU/CSU-Fraktion.


Ruprecht Polenz (CDU):
Rede ID: ID1707104500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Ströbele, ich verstehe diese Diskussion nicht. Wir
alle gehen von einem erweiterten Sicherheitsbegriff aus.
Wenn sich dann jemand aus Gründen sicherheitspoliti-
scher Vorsorge richtigerweise zu der Sicherheit der Han-
dels- und Wirtschaftswege äußert, dann wird ihm vorge-
worfen, mit militärischen Mitteln darauf antworten zu
wollen, obwohl das selbstverständlich zum erweiterten
Begriff der Sicherheitsvorsorge gehört, wie er im Weiß-
buch niedergelegt wurde. Sie bauen immer einen Papp-
kameraden auf, um dann auf ihn einschlagen zu können.
In Wirklichkeit sind wir doch alle der Meinung, dass
man heute Sicherheit nicht mehr allein militärisch defi-
nieren kann.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Von daher verstehe ich die gesamte Diskussion nicht.

Welches ist nun die Aufgabe im Rahmen einer neuen
NATO-Strategie, über die wir debattieren? Zum einen
geht es 20 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges um
die Legitimation der NATO nach außen. Zum anderen
geht es vor allem um die Orientierung nach innen. Bei
28 Mitgliedsländern muss man zu einer gemeinsamen
Sicht der Dinge kommen. Das ist nicht einfach.

Wie die Debatte hier zeigt, stellt sich auch die Frage,
wie wir, die Fraktionen im Deutschen Bundestag, es mit
der NATO halten. Haben wir eine gemeinsame Sicht der
Dinge? Der Auswärtige Ausschuss hat dazu eine Anhö-
rung durchgeführt. Die gute Nachricht war, dass keiner
der Sachverständigen, die die Fraktionen benannt haben,
die NATO als überflüssig bezeichnet hat. Von keinem
wurde empfohlen, die NATO abzuschaffen. Der von den
Grünen benannte Sachverständige Matthias Dembinski
von der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konflikt-
forschung hat gesagt: Die NATO erfüllt erstens die Auf-
gabe, einer Renationalisierung der Sicherheitspolitik
entgegenzustehen. Zweitens bildet sie eine transatlanti-
sche Klammer. Drittens ist sie eine kostengünstige Versi-
cherungspolice für alle, die ohne diese Police wesentlich
nervöser wären. Sie sind deshalb nicht nervös, weil sie
sich durch Art. 5 des Nordatlantikvertrages, nach dem
ein Angriff auf einen als ein Angriff auf alle bewertet
und entsprechend beantwortet wird, sicher fühlen. Das
ist der Kern des Bündnisses. Hinzu kommen die erwei-
terte Sicherheit des euroatlantischen Raumes und das
transatlantische Forum für Sicherheitskonsultationen.
Wie sieht es mit der Basis der NATO im Deutschen
Bundestag aus? Wenn ich den Entschließungsantrag der
SPD-Fraktion richtig verstehe, haben wir als Koalitions-
fraktionen in der Einschätzung eine große gemeinsame
Basis mit Ihnen. Sie, meine Damen und Herren von der
Linken, fordern nach wie vor die Abschaffung der
NATO, wenn ich Ihre Position richtig interpretiere. Im
Entschließungsantrag der Grünen steht nichts von den
Bedrohungen, denen wir uns im 21. Jahrhundert gegen-
übersehen. Es steht auch nichts von der Notwendigkeit
des Bündnisses darin. Sie konzentrieren sich auf einen
einzigen Aspekt, und so überschreiben Sie Ihren Antrag
auch: Die NATO muss abrüsten, und zwar einseitig. Von
dieser einseitigen Abrüstung der NATO versprechen Sie
sich sozusagen den Weltfrieden. Ich darf hier aus Ihrem
Antrag zitieren:

Ob die Wende hin in eine Ära der weltweiten Ab-
rüstung gelingt, hängt insbesondere vom zukünfti-
gen Selbstverständnis und Verhalten der NATO ab.

Das erinnert mich an Ihre Begründung des Atomaus-
stiegs: Wenn Deutschland vorangeht, wird die ganze
Welt folgen. – Sie wissen inzwischen, dass das Gegenteil
der Fall ist.

Wo haben wir denn jetzt im Augenblick Rüstungsspi-
ralen? Wir haben sie in Asien, Indien, Pakistan; China
rüstet auf; vor Nordkorea hat man Angst. Es gibt Auf-
rüstungsspiralen im Nahen Osten. Da geht es in erster
Linie um den Iran und die dortigen Konflikte und Bedro-
hungen. Wir konstatieren Aufrüstung in Afrika. Ist daran
die NATO schuld? Würde ein Abrüstungsprozess der
NATO dies verändern? Im Grunde genommen leidet
doch die Welt darunter, dass es gerade in Asien, in
Afrika und im Nahen Osten keine solchen Sicherheitsar-
rangements gibt, wie wir sie im euroatlantischen Raum
mit der NATO haben. Das ist doch das Problem, meine
Damen und Herren von den Grünen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Nun dreht uns die Schattenbürgermeisterin von Berlin
gerade den Rücken zu. Aber der Schattenaußenminister
sitzt noch hier vorn. Herr Trittin, wenn Sie jetzt als deut-
scher Außenminister nach Lissabon fahren müssten,


(Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister: Dann würde er ausgelacht!)


dann hätten Sie folgende Probleme: Sie müssten erklä-
ren, warum die NATO die Augen vor der Bedrohung un-
serer Computersysteme verschließen soll, von denen
nicht nur die Krankenhäuser, der Straßenverkehr und die
Elektrizitätsversorgung abhängen. Sie müssten den Fran-
zosen und Briten erklären, warum Sie für eine atom-
waffenfreie Zone in Europa sind. Sie müssten vor allen
Dingen allen anderen erklären, warum Sie die Raketen-
abwehr in Bausch und Bogen ablehnen, für die es einen
breiten Konsens im Bündnis gibt. Mit anderen Worten:
Ein Außenminister Trittin würde Deutschland politisch
in die Isolierung innerhalb der NATO führen. Das muss
man an dieser Stelle klar sagen.

Diese Debatte dient auch dazu, hier im Hause klar
darzustellen: Wer steht hinter diesem Bündnis, hinter





Ruprecht Polenz


(A) (C)



(D)(B)

dieser Strategie? Nach meiner Analyse sind das die Ko-
alitionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Die Linken
lehnen sie ab, und die Grünen wollen sie schrittweise ab-
schaffen, indem sie für eine einseitige Abrüstung der
NATO plädieren. Das ist aus meiner Sicht das Fazit der
heutigen Debatte.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1707104600

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Thomas Silberhorn für die CDU/CSU-Fraktion.


Thomas Silberhorn (CSU):
Rede ID: ID1707104700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sinn und Zweck der NATO wurden nach dem Ende des
Kalten Krieges vielfach offen infrage gestellt, bis hin zu
Prognosen über den kurz bevorstehenden Zerfall des
nordatlantischen Bündnisses. Die Debatte über das neue
Strategische Konzept der NATO, das im November be-
schlossen werden soll, zeigt: Keine dieser düsteren Vor-
hersagen ist eingetreten; die NATO gibt es nach wie vor.
Sie wird eine Schlüsselrolle bei der Bewältigung der
neuen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts spielen,
so wie sie auch im letzten Jahrhundert eine Schlüssel-
rolle gespielt hat. Von daher ist es gut, dass das Bündnis
seinen sicherheitspolitischen Kompass an den neuen Be-
drohungslagen ausrichtet und sich auch der öffentlichen
Debatte stellt. Im Kern geht es darum, gemeinsame Si-
cherheitsinteressen zu definieren und die dafür nötigen
Instrumente bereitzustellen.

Die NATO ist und bleibt ein transatlantisches, ein re-
gionales Bündnis. Deswegen wird auch die Beistands-
verpflichtung weiterhin ein Wesenskern der NATO sein.
Es geht allerdings nicht mehr um die Frage, ob die
NATO im Rahmen dieser Beistandsverpflichtung inner-
halb oder außerhalb des Bündnisgebietes tätig wird.
Vielmehr ist entscheidend, dass die westliche Wertege-
meinschaft in der Lage ist, neuen Bedrohungen ihrer
Sicherheit zu begegnen, die mit der Beistandsverpflich-
tung allein nicht mehr erfasst werden können. Es kenn-
zeichnet die neuen Bedrohungslagen, dass sie vielfach
nicht militärischer Natur sind, von nichtstaatlichen Ak-
teuren ausgehen und deswegen auch nicht allein mit mi-
litärischen Mitteln bewältigt werden können. Dennoch
sind diese neuen Bedrohungen – von Angriffen auf
Computernetze über Proliferation von Massenvernich-
tungswaffen bis zu Terrornetzwerken – Teil einer weit
gefassten Definition des Sicherheitsbegriffs. Von daher
ist es notwendig, dass die NATO sie in ihr neues Strate-
gisches Konzept aufnimmt.

Zu diesen neuen Herausforderungen gehört es selbst-
verständlich auch, dass wir die Handelswege und den
Zugang zu Rohstoffen und Energie sichern. Selbstver-
ständlich hat Deutschland als größte Exportnation und
als eine der größten Schifffahrtsnationen ein existenziel-
les Interesse an der Freiheit der Handelswege. Das ist
eine Selbstverständlichkeit. Wir haben das in das Man-
dat „Atalanta“ für die Piratenbekämpfung vor Somalia
ausdrücklich hineingeschrieben. Das ist im Weißbuch
der Bundeswehr enthalten. Wir haben das gemeinsam
mit der SPD im Rahmen der Großen Koalition beredet.
Niemand hat infrage gestellt, dass die Bundeswehr – das
steht völlig außer Zweifel – allein auf der Grundlage des
Grundgesetzes, im Einklang mit dem allgemeinen Völ-
kerrecht und im Rahmen der Satzung der Vereinten Na-
tionen tätig wird.


(Uta Zapf [SPD]: Was ist mit einem UNSicherheitsratsmandat?)


Deshalb brauchen Sie, Herr Trittin, oder auch Sie, Herr
Ströbele, hier nicht über Handels- oder Rohstoffkriege
zu schwadronieren. Das Wort „Kanonenpolitik“ ist ge-
fallen.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war ein Zitat von Herrn Polenz! Da habe ich nur Herrn Polenz zitiert!)


Herr Trittin, Sie sind tatsächlich verklemmt. Das ist das,
was der Bundesverteidigungsminister gemeint hat. Sie
bemühen sich, sich an ihm abzuarbeiten. Bleiben Sie
einfach locker!

Eine enge Zusammenarbeit mit Russland wird von
zunehmender Bedeutung für die NATO. Russland ist ein
Partner, mit dem wir gemeinsame Interessen haben, zum
Beispiel bei der Nichtweiterverbreitung von Nuklear-
waffen, der Bekämpfung des Terrorismus und anderen
Fragen. Allerdings gibt es weiterhin eine unterschiedli-
che Wahrnehmung in Bezug auf Russland innerhalb der
NATO, die unterschiedlichen historischen Erfahrungen
geschuldet ist. Deswegen ist es notwendig, dass wir
Transparenz wahren und vertrauensbildend tätig sind,
auch gegenüber den mittel- und osteuropäischen Staaten.

Deutschland ist nicht nur im Westen fest verankert.
Vielmehr haben wir auch eine besondere Rolle in Bezug
auf Russland, wo wir hohe Wertschätzung genießen.
Deswegen ist es richtig, dass wir eine aktive Rolle spie-
len; das hat die Bundeskanzlerin auch getan. Ich nenne
nur den Vorschlag zur Einrichtung eines politischen und
Sicherheitskomitees auf Ministerebene, den Frau Merkel
und Herr Medwedew im Juni unterbreitet haben, oder
die bevorstehende Teilnahme von Herrn Medwedew am
NATO-Russland-Rat während des Gipfels. Das sind er-
mutigende Signale. Deswegen ist die Gelegenheit für
eine Annäherung Russlands an die NATO günstig. Aller-
dings sollte Russland auch im eigenen Interesse diese
Kooperation suchen.

Das Angebot, Russland in die Raketenabwehr einzu-
binden, steht. Aber es muss klar sein, dass wir der poten-
ziellen Bedrohung, die vor allem von Kurz- und Mittel-
streckenraketen ausgeht, dadurch begegnen müssen,
dass wir eine Raketenabwehr errichten, die das ge-
samte Bündnisgebiet abdeckt. Dabei bleibt die Erkennt-
nis, dass eine solche Raketenabwehr keinen absoluten
Schutz gewährleisten kann. Daher bleiben andere For-
men der Abschreckung und Verteidigung einschließlich
der nuklearen Komponente notwendig, wenngleich diese
durch einen solchen Raketenabwehrschirm substanziell
an Bedeutung verlieren kann. Darin liegt die Herausfor-
derung dieser Raketenabwehr.

Eine Lehre aus dem Einsatz in Afghanistan ist, dass
der Ansatz der vernetzten Sicherheit bei künftigen Ein-





Thomas Silberhorn


(A) (C)



(D)(B)

sätzen von Beginn an zugrunde gelegt und in die Ein-
satzwirklichkeit übertragen werden muss. Wir müssen
die NATO auch mit zivilen Fähigkeiten ausrüsten. Die
engere Kooperation der Europäischen Union mit der
NATO ist ein weites Feld. Die Europäische Union ist ge-
eignet, die notwendigen zivilen Fähigkeiten in eine Ko-
operation mit der NATO einzubringen. Hier besteht die
große Herausforderung, die Zusammenarbeit zwischen
der Europäischen Union und den NATO-Mitgliedstaaten
zu vertiefen.

Zusammenfassend: Die NATO bleibt ein zentraler
Pfeiler unserer Sicherheit. Wir tun das Notwendige, um
sie zu stärken. Wir müssen auch die Mittel dafür bereit-
stellen. Wir sind beim Umbau der Bundeswehr in
Deutschland auf einem guten Weg. Ich glaube, es wird
uns gelingen, sowohl die NATO zu stärken als auch un-
seren Beitrag zu leisten.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1707104800

Ich schließe die Aussprache. Wir kommen zur Ab-

stimmung über die Entschließungsanträge.

Zunächst rufe ich den Entschließungsantrag der SPD
auf der Drucksache 17/3677 auf. Wer stimmt für diesen
Entschließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich der Stimme? – Damit ist der Entschließungs-
antrag mit Mehrheit abgelehnt.

Ich rufe den Entschließungsantrag der Fraktion Die
Linke auf der Drucksache 17/3678 auf. Wer stimmt für
diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich der Stimme? – Damit ist der Entschließungsantrag
mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen abgelehnt.

Ich rufe den Entschließungsantrag der Fraktion Die
Linke auf der Drucksache 17/3679 auf. Wer stimmt für
diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Mit gleicher
Mehrheit ist auch dieser Entschließungsantrag abge-
lehnt.

Ich rufe den Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 17/3680
auf. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Auch dieser Entschließungs-
antrag ist mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der Opposition abgelehnt.

Schließlich rufe ich den Entschließungsantrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3681
auf. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich der Stimme? – Dieser Entschlie-
ßungsantrag ist mehrheitlich abgelehnt.

Wir kommen nun zu den Tagesordnungspunkten 4 a
und 4 b:

a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Wertpapiererwerbs- und Übernah-
megesetzes

– Drucksache 17/3481 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Lötzer, Sahra Wagenknecht, Dr. Barbara Höll,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Beschäftigtenrechte bei Übernahmen und
Fusionen stärken

– Drucksache 17/3540 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Ich höre kei-
nen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.

Ich eröffne die Aussprache. Zunächst erhält für die
SPD-Fraktion der Kollege Joachim Poß das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Joachim Poß (SPD):
Rede ID: ID1707104900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Mit dem von der SPD-Bun-
destagsfraktion eingebrachten Gesetzentwurf wollen wir
das geltende Wertpapiererwerbs- und Übernahmegesetz
an einer zentralen Stelle ändern. Mit unserer Initiative
wollen wir das deutsche Übernahmerecht an den fakti-
schen europäischen Standard anpassen und die feindli-
che Übernahme von Unternehmen erheblich erschwe-
ren.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das stimmt aber nicht!)


– Herr Kollege Michelbach, Sie werden in zwölf Minu-
ten noch darlegen, was daran nicht stimmt.

Wir wollen das heimliche und feindliche An- und
Einschleichen von Unternehmenserwerbern in das Un-
ternehmen, das sie erwerben wollen, möglichst verhin-
dern. Denn, Kollege Michelbach, alle Erfahrung zeigt:
Dieses Anschleichen bekommt den bisherigen Aktionä-
ren des Unternehmens und in der Folge dessen Mitarbei-
tern regelmäßig nicht gut. Das ist die praktische Erfah-
rung, die wir haben machen müssen.


(Beifall bei der SPD)


Auch wenn der Fall Hochtief noch einmal ein Beleg
dafür ist, dass diese Novellierung überfällig ist, so geht
es bei diesem Gesetz um faire Wettbewerbsbedingungen
in ganz Europa und nicht um eine Sonderregelung in ei-
nem speziellen Fall.


(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das glauben Sie selber nicht!)


– Sie schauen so skeptisch, Herr Kuhn. Die Position der
Grünen in diesem Zusammenhang ist für mich uner-
gründlich.





Joachim Poß


(A) (C)



(D)(B)


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich erkläre es nachher!)


Gesunde und erfolgreiche Unternehmen in Deutschland
dürfen eben nicht ins Visier von windigen Finanzinves-
toren und Wettbewerbern geraten, nur weil sie derzeit an
der Börse unterbewertet sind.


(Beifall bei der SPD)


Das zu verhindern, ist im gemeinsamen Interesse von
Beschäftigten und Aktionären.

Wir wollen es mit der von uns vorgeschlagenen Geset-
zesänderung erschweren, dass ein hervorragendes Unter-
nehmen wie zum Beispiel Hochtief von einem hochver-
schuldeten Unternehmen viel zu günstig und – auch wenn
das dementiert wird – mit dem möglichen Ziel übernom-
men wird, anschließend zerschlagen und filetiert zu wer-
den, mit allen negativen Konsequenzen für die Beschäf-
tigten. An unserem Standort sind das, glaube ich, noch
10 000. Wenn Ihnen das egal ist, okay. Dann müssen Sie
es aber auch deutlich sagen und sich öffentlich dement-
sprechend positionieren.


(Beifall bei der SPD)


Wir wollen das nicht. Frank-Walter Steinmeier hat
recht, wenn er sagt: Die Methode „Einkaufen ohne
Geld“ hat die Welt, wie wir doch alle wissen, schon ein-
mal an den Abgrund geführt. Jetzt ist es an der Zeit, kon-
kret zu handeln. – Darum bitten wir Sie, liebe Kollegin-
nen und Kollegen, und zwar aller Fraktionen in diesem
Haus.

Es ist kein haltbarer Zustand mehr, dass mittlerweile
in den meisten europäischen Staaten Vorkehrungen ge-
troffen worden sind, die das Einschleichen ausschließen
oder zumindest erschweren, aber in Deutschland nicht.
Schauen Sie bitte nach Großbritannien und Frankreich,
nach Italien oder auch nach Österreich! Es gibt keinen
Grund, dass Deutschland zurückbleibt; denn wir haben
in Europa nicht die sogenannte gemeinsame Spielfläche,
die gleichen Wettbewerbsbedingungen. Das ist trotz der
Diskussion, die wir vor nahezu zehn Jahren geführt ha-
ben, nicht erreicht worden. Wir müssen uns an den Rea-
litäten in Europa orientieren und dürfen uns, meine Da-
men und Herren, nicht nur an dem orientieren, was wir
selbst für wünschenswert halten.

Der Gesetzentwurf hat Bedeutung auch über seinen
eigentlichen Inhalt hinaus,


(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das glaube ich auch!)


und zwar deshalb, weil damit versucht wird, im Wirt-
schaftsgeschehen an einer Stelle wieder Ordnung zu
schaffen. Im Wirtschaftsleben wieder Ordnung herzu-
stellen, das ist eines der zentralen Themen und eine Auf-
gabe unserer Zeit. Es hat einfach zu viele Krisen gege-
ben, nicht zuletzt die letzte schwere, als dass man
darüber einfach zur Tagesordnung übergehen könnte.


(Beifall bei der SPD)


Das meint nicht nur, dass der Finanzsektor endlich
umfassend, wirksam und vernünftig reguliert werden
muss. Ich sage vor dem G-20-Gipfel: Was den Bereich
der Regulierung angeht, gibt es immer noch deutlich
mehr Schatten als Licht – das muss man einmal feststel-
len –, und dass es auch in Europa nicht mehr Licht gibt,
zum Beispiel in Fragen der Beteiligung des Finanzsek-
tors an der Finanzierung der Kosten der Krise, hat etwas
mit der Handlungsunfähigkeit der Bundesregierung zu
tun.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Sie war bis in den Mai hinein nicht in der Lage, zum
Beispiel eine Position zur Finanzmarkttransaktionsteuer
zu finden.


(Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Was hat das mit dem Thema zu tun?)


Es ist bis heute so, dass wesentliche Teile der Koalition
damit offenkundig Schwierigkeiten haben.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist Unsinn!)


Ordnung herstellen meint auch, dass auf den Arbeits-
märkten wieder Ordnung einkehrt und der Ausweitung
von Niedriglohnbereichen entgegengewirkt wird. Das
heißt, vielleicht pathetisch gesprochen: Der Raubtierka-
pitalismus muss endlich gezähmt werden, auch an dieser
Stelle, die wir heute beraten. Das ist ein Teilstück, ein
Element, um den Raubtierkapitalismus zu zähmen,
meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ulla Lötzer [DIE LINKE])


Das meint auch eine Initiative wie die heute zu bera-
tende Vorlage. Wenn wir davon reden, in wichtigen wirt-
schaftlichen Bereichen Ordnung herstellen zu wollen,
dann müssen wir klare Regeln setzen. Wir wollen nicht
im Einzelfall eingreifen; wir wollen klare Regeln haben.
Es gebricht an diesen Regeln. Es kann Wettbewerb nicht
funktionieren, wenn kein klarer Ordnungsrahmen vor-
handen ist, und der fehlt.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Ulla Lötzer [DIE LINKE] – Dr. Volker Wissing [FDP]: Was haben Sie hinterlassen, wenn das alles fehlt?)


Wir sehen uns damit in der Tradition der deutschen
Ordnungspolitik der Mitte des letzten Jahrhunderts, Kol-
lege Wissing. Mit den Grundlagen der sozialen Markt-
wirtschaft sollten Sie sich einmal auseinandersetzen.


(Gisela Piltz [FDP]: Das machen wir ja!)


Sie scheinen keine tiefere Kenntnis davon zu haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Volker Wissing [FDP]: Sagen Sie mal, wer den Finanzminister elf Jahre lang gestellt hat!)


Wir wollen ein Erfolgsmodell der sozialen Marktwirt-
schaft.

Wir lehnen die Pervertierung des Begriffs „Ordnungs-
politik“ ab, die sich auch hier im Parlament in manchen
Ecken und Reihen breitgemacht und sich, wie jetzt ge-
rade, Gehör verschafft hat. Wir lehnen ab, dass Ord-
nungspolitik als „Deregulierung“ und „Minimierung des





Joachim Poß


(A) (C)



(D)(B)

Staates“ übersetzt und missverstanden wird. Dieses Ver-
ständnis ist ohne Tradition. Es ist ein Verständnis, das
schadet und Krisen verschärft, anstatt sie zu verhindern,
wenn es effektive Politik wird.

Weil es sich bei dem, was wir vorgelegt haben, eben
nicht um einen ordnungspolitischen Sündenfall handelt,
müsste ein gemeinsames Handeln im Hause eigentlich
möglich sein. Deshalb bitte ich alle Fraktionen aus-
drücklich um Zustimmung zu unserem Gesetzentwurf in
der Hoffnung, dass Vertreter von Wirtschaftsinteressen,
auch wenn sie vielleicht im Kanzleramt vorstellig ge-
worden sind, doch nicht die Rolle spielen und sich auch
nicht durchsetzen. Es wäre ein Hoffnungszeichen für die
soziale Marktwirtschaft, wenn wir uns auf eine solche
Regelung verständigen könnten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1707105000

Das Wort hat nun Kollege Mathias Middelberg für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Mathias Middelberg (CDU):
Rede ID: ID1707105100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kollegen! Lieber Herr Poß, wenn es um die Verleihung
des Preises „Märchenonkel des Jahres“ ginge, dann hät-
ten Sie mit Ihrer heutigen Rede gute Chancen, ihn zu ge-
winnen.


(Joachim Poß [SPD]: Greifen Sie doch nicht so hoch!)


– Ich greife da schon genau richtig hinein. – Im Übrigen
habe ich den Eindruck, dass Sie am Thema ziemlich vor-
beigesprochen haben. Das Horrorgemälde, das Sie hier
gezeichnet haben, hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun.
Selbst wenn es dazu käme, dass Hochtief am Ende des
Tages übernommen würde, könnte das durchaus positiv
sein. Das sehen wir daran, dass es in Deutschland viel
mehr positive als negative Beispiele für Fremdübernah-
men gibt.

Das Szenario einer Zerschlagung ist doch nun ziem-
lich unwahrscheinlich,


(Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Woher nehmen Sie das denn?)


weil der Wert von Hochtief doch gerade in der komple-
xen, weltweiten Aufstellung dieses Unternehmens liegt.
Das ist doch der eigentliche Unternehmenswert. Keiner
würde so dumm sein, dieses Unternehmen tatsächlich zu
zerschlagen. Die Spanier haben sich im Übrigen aus-
drücklich entsprechend bekannt und sind bereit, eine In-
vestorenvereinbarung abzuschließen, in der der Unter-
nehmenssitz Essen festgeschrieben wird und in der die
Börsennotierung in Deutschland und auch die Eigenstän-
digkeit des Unternehmens und darüber hinaus sehr viel
mehr festgeschrieben werden kann.
Die Spanier haben gesagt: Hochtief soll deutsch
bleiben, Leighton soll australisch bleiben, Turner und
Flatiron sollen amerikanisch bleiben. Man kann jetzt die
Frage stellen: Wie macht es Hochtief denn mit Leighton
in Australien, bei dem es die Mehrheit hat? Das ist doch
trotzdem ein australisches Unternehmen.

Schauen wir uns auch ruhig einige andere Beispiele
aus Deutschland an: Kamps hat nicht unter der Über-
nahme durch Barilla gelitten, Varta hat nicht unter der
Übernahme durch Johnson Controls gelitten, und
Mannesmann, von Vodafone übernommen, ist heute
Marktführer in Deutschland, hat seinen Sitz nach wie
vor in Düsseldorf und mehr Beschäftigte in Deutschland
als zu Zeiten der Übernahme.

Es gibt – das will ich ausdrücklich sagen – aus meiner
Sicht keine Lücke im Übernahmerecht, die wir schließen
müssten: nicht wegen dieses Falls und auch nicht wegen
anderer Fälle. Den Blick auf nur eine Vorschrift, nämlich
auf die Pflichtangebotsregelung, zu richten, ist nun aus-
gesprochen dämlich, um es ganz deutlich zu sagen. Das
ist eine Vorschrift im Rahmen des gesamten Übernahme-
rechtregimes und auch im Rahmen des gesamten Kon-
zernrechts. Wir haben eine Menge strengerer Vorschrif-
ten in Deutschland, etwa was die Preisfindung angeht.
Wir haben strengere Vorschriften in Deutschland bezüg-
lich des Squeeze-out, also der Verdrängung von Minder-
heitsaktionären,


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


und wir haben ein wesentlich strengeres Konzernrecht
mit hervorragenden Rechten für Minderheitsaktionäre.
Das konnten wir an vielen Fällen leibhaftig erleben, ins-
besondere beim Übernahmeversuch von VW durch
Porsche, wo es um die Stellung der 20-prozentigen Min-
derheitsbeteiligung des Landes Niedersachsen ging.

Als Minderheitsaktionär können Sie, wenn Sie eine
entsprechende Sperrminorität mobilisieren, eine ganze
Menge in Bewegung setzen und eine ganze Menge ver-
hindern.


(Joachim Poß [SPD]: Nützt aber nichts bei Übernahmen!)


Sie können jede Satzungsänderung verhindern, Sie kön-
nen eine Kapitalerhöhung verhindern, und Sie können
vor allen Dingen Beherrschungs- und Gewinnabfüh-
rungsverträge verhindern.

Entscheidend ist aus meiner Sicht etwas ganz anderes,
nämlich die Transparenz am Markt. Ich muss sehen
können, wie sich das Marktgeschehen abspielt. Kauft
sich da einer in mein Unternehmen ein? Nähert sich da
irgendjemand an? Offenheit und Klarheit des Marktes
sind also das Entscheidende. Daran arbeiten wir, und das
setzen wir mit dem Anlegerschutzgesetz um, indem wir
die Meldevorschriften deutlich verschärfen, sodass in
Zukunft Fälle wie Porsche/VW oder Schaeffler/Conti
nicht mehr möglich sind.


(Beifall des Abg. Ralph Brinkhaus [CDU/ CSU])






Dr. Mathias Middelberg


(A) (C)



(D)(B)

Das ist die entscheidende Änderung im Übernahmerecht,
meine Damen und Herren, auf die es ankommt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Sie preisen hier das Recht der anderen Staaten in
Europa. Schauen Sie einmal nach Frankreich: Da hat
sich LVMH, dieser Luxuskonzern, beim Krawattenher-
steller Hermès eingekauft. In diesem Zusammenhang ist
dort momentan eine große Diskussion darüber entbrannt,
und man ist zu dem Schluss gekommen, dass die Melde-
vorschriften nicht ausreichend sind. In Frankreich will
man jetzt genau die gleichen Meldevorschriften einfüh-
ren, wie wir sie jetzt mit dem Anlegerschutzgesetz ein-
führen. Das heißt, die Franzosen werden demnächst bei
uns abschreiben; denn unser Recht wird deutlich härter
sein als ihres. Wenn, dann muss ich den Blick etwas wei-
ter richten und darf mir nicht eine einzelne Regelung
herauspicken!

Bei Hochtief war der Fall doch ganz anders, da geht
es nicht um Anschleichen und auch nicht um Einschlei-
chen.


(Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Klar geht es darum!)


– Quatsch, das hat nichts damit zu tun. – Seit dreieinhalb
Jahren war ACS Aktionär und hat 25 Prozent übernom-
men. Vorher gab es andere Ankeraktionäre.


(Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Er hat versprochen: keine Übernahme!)


– Er hat gesagt: Wir bleiben Minderheitsaktionär. Das ist
schon richtig.

Dann aber kam folgender Punkt: Hochtief hat gesagt:
Wir glauben euch, dass ihr Minderheitsaktionäre bleibt,
wir vertrauen euch. Da muss man aber doch einmal fra-
gen, ob an diesem Punkt nicht das Hochtief-Manage-
ment hätte überlegen müssen, ob wenigstens der Fall zu
bedenken sei, dass sich die Spanier das eines Tages an-
ders überlegen.

Jetzt machen die Spanier Folgendes: Anfang 2009
kaufen sie sich weitere fast 5 Prozent und sind jetzt bei
29,9 Prozent. In dieser Situation sagen sie, sie blieben
immer noch Minderheitsaktionär, man brauche sich bei
Hochtief keine Sorgen zu machen. Was will ich aber,
wenn ich 25 Prozent als Sperrminorität habe und mir
dann noch 5 Prozent dazukaufe? Da muss doch bei je-
dem die rote Lampe angehen. Da hätten doch alle
Alarmglocken läuten müssen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: So ist es!)


Da hätte das Hochtief-Management in Habt-Acht-
Stellung gehen müssen. Sie hätten morgens um fünf auf-
stehen und sich überlegen müssen,


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Oder das sind Schläfer!)


wie sie unter Umständen andere Ankeraktionäre hinein-
bekommen, um gegen ein mögliches Umdenken der
Spanier vorzugehen, wenn sie es denn bekämpfen wol-
len. Sie hätten sich fragen müssen, ob sie eventuell mehr
eigene Aktien kaufen können, um selber eine Sperrmi-
norität aufzubauen, ob sie von Inhaber- auf Namens-
aktien umstellen können oder ob sie die Satzung ändern
können, in dem sie die Abwahl des Aufsichtsrats er-
schweren, also nicht mehr mit der einfachen Mehrheit
zulassen, die ACS mit ihrem 30-Prozent-Anteil mögli-
cherweise hat. Da wahrscheinlich nicht alle Aktionäre
auf die HV gehen, werden sie dort also 50 Prozent ha-
ben, und dann wird der Aufsichtsrat mit einfacher Mehr-
heit abgewählt. Das hätte man aber verhindern können,
indem man die Satzung ändert.

Dies alles haben sie nicht gemacht. Andere Unterneh-
men haben das gemacht; sie haben eine andere Satzung
bekommen. Ich könnte Ihnen eine ganze Reihe von Dax-
Unternehmen konkret aufzählen, die das schon frühzei-
tig gemacht haben.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Klare Managementfehler!)


Das heißt, das Hochtief-Management hätte sich viel
frühzeitiger mit Verteidigungsvorbereitungen befassen
müssen.


(Joachim Poß [SPD]: Selbst wenn das stimmt: Jetzt sind Ihnen die Beschäftigten und die Aktionäre egal?)


– Nein, die Beschäftigten und Aktionäre sind mir über-
haupt nicht egal.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Der Staat kann doch das Management nicht ersetzen!)


Ich habe Ihnen eben auseinandergesetzt, dass die Furcht-
und Horrorszenarien, die Sie hier beschreiben, völlig un-
berechtigt und unsachgemäß sind. Ich sage es noch ein-
mal, um es zusammenzuführen: Ich glaube, dass unser
Übernahmerecht, wenn man es insgesamt sieht, scharf
genug ist.

Der Fall Hochtief ist ein ganz anders gelagerter Fall.
Wenn Sie eine Frau oder Freundin haben, und dann
kommt Ihr guter Freund vorbei und sagt: Mensch, du
bist immer in Berlin, ich kümmere mich vielleicht ein-
mal zwei Tage in der Woche um deine Frau. Demnächst
sagt er: Ich stocke es jetzt auf und kümmere mich auch
noch einen dritten Tag, weil du immer so häufig weg
bist.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Heikles Thema!)


Irgendwann werden Sie von ihm angerufen und er sagt:
Pass mal auf, ich mache dir jetzt ein Angebot für eine
Komplettübernahme.


(Zuruf von der SPD: Das ist ja peinlich! Sie soll man noch ernst nehmen?)


Dann fallen Sie aus allen Wolken und sagen: Damit hätte
ich überhaupt nicht gerechnet, das konnte ich überhaupt
nicht ahnen, das überrascht mich jetzt vollständig. – Ich
erkenne nun eine Schutzlücke im Übernahmerecht, laufe
zum Gesetzgeber und sage ihm, er müsse das jetzt re-





Dr. Mathias Middelberg


(A) (C)



(D)(B)

geln. Ich sage es jetzt ganz deutlich: Wenn ich alles ver-
pennt habe, kann ich nachher nicht zum Gesetzgeber
laufen. So geht es nicht.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Joachim Poß [SPD]: Die Lücke sehen aber viele außerhalb des Bundestages! – Rolf Hempelmann [SPD]: Vielleicht sehen viele andere diese Lücke, nur Sie nicht!)


Es ist auch vollständiger Blödsinn, dass irgendwelche
Aktionäre benachteiligt würden. Der Aktienkurs von
Hochtief liegt im Moment bei 64 Euro. Das sind über
200 Prozent mehr als in der Krisenzeit; das ist der beste
Kurs seit über drei Jahren. Wenn Sie Aktionär von
Hochtief sind, können Sie, wenn Sie keine Lust mehr ha-
ben, jetzt mit gutem Gewissen verkaufen. Sie können
aber auch in dem Unternehmen engagiert bleiben; Sie
sind in keiner Weise benachteiligt.

Die gesetzliche Änderung, die Sie mit diesen 2-Pro-
zent-Schritten hier vorlegen, wo man dann immer wie-
der ein neues Pflichtangebot abgeben muss, ist – das
sage ich Ihnen ganz deutlich – eine reine Lex Hochtief,
ausschließlich auf diesen Fall bezogen, und das werden
wir in diesem Verfahren nicht mitmachen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Rolf Hempelmann [SPD]: Stimmt überhaupt nicht! Sogar Großbritannien hat es gemacht! Gucken Sie mal nach Frankreich und Großbritannien!)


– Ich habe Ihnen eben den Fall Frankreich erklärt. Die
Franzosen haben ganz andere Probleme, weil sie sich
nämlich um das Anschleichen nicht kümmern.


(Joachim Poß [SPD]: Die CDU hatte übrigens im Jahr 2001 schon einmal eine andere Meinung dazu! – Gegenruf des Abg. Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das habt ihr abgelehnt!)


– Ich mache Ihnen jetzt einen Vorschlag dazu. Das, was
Sie vorhaben, ist kein konstruktives Übernahmerecht,


(Joachim Poß [SPD]: Man kann aus Fehlern lernen! – Gegenruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU]: Macht das mal!)


sondern es ist faktisch ein Übernahmeverhinderungs-
recht. Damit gäbe es praktisch keine Übernahmen mehr.
Man muss sich fragen, ob so die Arbeitsplätze in
Deutschland dauerhaft gesichert werden und sich die
Unternehmen beständig weiterentwickeln können.

Wir sind an einem funktionierenden Übernahmerecht
interessiert. Deswegen teilen wir Ihren Vorschlag, der
ein Schnellschuss ist, nicht.


(Joachim Poß [SPD]: Es gibt auch andere Interessen!)


Wenn die EU im nächsten Jahr ihre Übernahmericht-
linie überarbeitet, werden wir ohnehin unsere gesam-
melten Erfahrungen einarbeiten.


(Joachim Poß [SPD]: Sie wollen in erster Linie die Erfahrungen der Deutschen Bank einarbeiten!)

Es mag dann Anpassungen unseres Übernahmegesetzes
geben. Eine mögliche Änderung wäre, dass für eine
Übernahme die Zustimmung der Hauptversammlung des
Zielunternehmens erforderlich ist. Das war im Übrigen
ein alter Vorschlag vonseiten der Sozialdemokratie, der
ein aus meiner Sicht vernünftiges Prozedere beinhaltet.


(Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Dann machen Sie es doch jetzt!)


– Das wird jetzt doch gar nicht vorgeschlagen.
Angesichts Ihres Zwischenrufs will ich kurz auf den

Vorschlag der Linken eingehen. Die Linken schlagen
ein Vetorecht für den Betriebsrat im Fall einer Über-
nahme vor.


(Beifall bei der LINKEN)

Dafür müssten wir erst einmal das Grundgesetz ändern
und Art. 14, der das Eigentum, also auch das Eigentums-
recht der Aktionäre betrifft, streichen. Dann könnten wir
uns mit Ihrem Vorschlag ernsthaft befassen. So geht es
aber nicht.

Ich sage abschließend und zusammenfassend: Hoch-
tief ist für mich das Paradebeispiel dafür, dass sich ein
Management rechtzeitig mit der Situation des Unterneh-
mens – wie ist die Beteiligungsstruktur der Aktionäre?
Wie kann man eine Übernahmeverteidigung gestalten? –
befassen muss. Aber Hochtief ist kein Fall für den Ge-
setzgeber.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1707105200

Das Wort hat nun Ulla Lötzer für die Fraktion Die

Linke.

(Beifall bei der LINKEN)



Ursula Lötzer (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707105300

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Durch

unserer Hände und Köpfe Arbeit steht Hochtief heute
glänzend da. Deshalb werden wir es nicht zulassen, dass
verantwortungslose Zocker und tatenlos zusehende Poli-
tiker unsere Jobs und die Zukunft unserer Familien ge-
fährden. – So beschreiben die Beschäftigten von Hoch-
tief ihren Kampf gegen die feindliche Übernahme.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Weil Sie sie falsch informieren!)


Das unterstützen wir uneingeschränkt.
Unternehmen sind keine Schnäppchen auf dem Basar

für Heuschrecken und Aktionäre. Unternehmen sind
eine gesellschaftliche Veranstaltung, die nützliche Güter
und Dienstleistungen produzieren sollen. Sie genießen
den Schutz der Verfassung und haben eine soziale und
beschäftigungspolitische Verantwortung. Deshalb ist es
Aufgabe der Politik, auch die Beschäftigten wirksam zu
schützen. Ihre Arbeitsplätze, ihre Lebensplanung und die
ihrer Familien sowie ihre Würde dürfen nicht der Gier
von Zockern zum Opfer fallen.


(Beifall bei der LINKEN)






Ulla Lötzer


(A) (C)



(D)(B)

Die Mitglieder der CDA Essen haben Ihnen und Frau
Merkel Folgendes ins Stammbuch geschrieben:

Feindliche Übernahmen durch marode Konzerne
ziehen unabsehbare Folgen, nicht zuletzt einen er-
heblichen Personalabbau zu Lasten des gesunden
Unternehmens nach sich.

Weiter heißt es:

Wir wollen, dass Politik und Wirtschaft dem Men-
schen dienen, nicht umgekehrt. Wir wollen verhin-
dern, dass der Mensch zum Spielball wird.


(Beifall bei der LINKEN)


Recht haben die Kolleginnen und Kollegen der CDA.
Ihre Politik straft Sie in diesem Fall allerdings seit Wo-
chen Lügen.

Bei ihrem Besuch in Essen ist Frau Merkel nur
20 Meter an den protestierenden Beschäftigten vorbeige-
gangen. Sie hat sie noch nicht einmal eines Blickes ge-
würdigt, geschweige denn mit ihnen gesprochen. So geht
man nicht mit den Sorgen und Nöten und dem berechtig-
ten Protest von Beschäftigten um.


(Beifall bei der LINKEN)


Frau Merkel, Ihr Ruf nach dem rettenden Scheich ist
nur ein Witz. Die Parallele, die Sie zu Holzmann ziehen,
ist völlig unsinnig. Bei Hochtief geht es nicht um ein an-
geschlagenes Unternehmen. Im Gegenteil: Der Konzern
ist für ACS eben deswegen interessant, weil er erfolg-
reich ist und weil ACS demgegenüber mit mehr als
10 Milliarden Euro verschuldet ist. Völlig zu Recht be-
fürchten deshalb die IG BAU, die Betriebsräte und der
Konzernvorstand sowie viele Wissenschaftler und Jour-
nalisten, dass anschließend die Zerschlagung droht, weil
ACS damit seine Schulden bezahlen will.

Wir kennen auch die Haltbarkeit von Versprechun-
gen, Herr Middelberg. Schauen Sie sich den Fall Man-
nesmann an: Auch da gab es das Versprechen, dass der
Konzern nicht zerschlagen wird; kurz nach der Über-
nahme – nach nur wenigen Monaten – wurde der Kon-
zern zerschlagen.

Eine solche Strategie gefährdet wirtschaftliche Ent-
wicklung, Beschäftigung und Demokratie. Es geht um
den Schutz eines wirtschaftlich gesunden Unternehmens
vor einer feindlichen Übernahme durch ein angeschlage-
nes Unternehmen. Es geht um 11 000 Beschäftigte in
Deutschland und 60 000 Beschäftigte weltweit sowie um
20 000 Arbeitsplätze bei Zulieferern allein in Deutsch-
land. Konzernchef Pérez verweigert bisher jede Antwort
auf die Frage der Betriebsräte nach Beschäftigungssiche-
rung.

Es geht auch um den Erhalt guter Arbeit. Während bei
Hochtief Tariflöhne gezahlt werden, sind bei ACS zu
85 Prozent Leiharbeiter beschäftigt. Das sind genügend
Gründe dafür, dass sich auch ein Wirtschaftsminister Ge-
danken machen müsste. Konzernbetriebsrat Müller be-
zeichnet es zu Recht als unerträglich, dass Herr Brüderle
eine Einmischung ablehnt.

(Beifall bei der LINKEN)


Das gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass eine
neue Welle von Übernahmen erwartet wird. Sie sind ein
Produkt der Wachstumskrise auf den Binnenmärkten.
Die eigene Position wird nicht durch Investitionen in
Produktionsstätten gestärkt, sondern durch den Zukauf
von Unternehmen. Deutsche Unternehmen gelten welt-
weit als vielversprechende Schnäppchen, weil ihr Bör-
senwert unter dem Unternehmenswert gehandelt wird.
Der Spiegel titelt: „Angst vor dem Ausverkauf“. In dem
Artikel heißt es, dass rund ein Dutzend der 100 größten
deutschen Unternehmen von Übernahmen gefährdet ist.

Die Monopolbildung wird verstärkt. Mittelständische
Unternehmen geraten als Zulieferer unter Kostendruck.
Es kommt zu einem Machtzuwachs transnational agie-
render Konzerne gegenüber Staaten und Regierungen.
Auf der einen Seite stehen hohe gesellschaftliche Folge-
kosten der Arbeitslosigkeit und Armut. Auf der anderen
Seite stehen Beratungsgewinne der Banken und der Fi-
nanzinvestoren, die aus der Zerschlagung auch noch ih-
ren Profit ziehen wollen.

Herr Brüderle hat vergangene Woche ein industrie-
politisches Konzept vorgelegt. Eigentlich könnte man
von Ihnen als Liberaler Maßnahmen gegen Konzentra-
tion und Monopolbildung erwarten. Davon steht jedoch
nichts in dem Konzept. Insofern hatten die Hochtief-
Beschäftigten mit ihrer in Berlin plakatierten Kritik
recht: FDP ordnungspolitisch am Boden – und da gehört
sie auch hin.


(Beifall bei der LINKEN)


Kollege Poß, wir halten die von der SPD vorgeschla-
genen Maßnahmen für richtig, aber nicht ausreichend.
Deshalb legen wir mit unserem Antrag weitergehende
Forderungen zur Korrektur des Übernahmerechts vor.
Uns geht es nicht um deutsche oder spanische Mehr-
heitseigner. Uns geht es darum, dass auch die Beschäf-
tigten sowie ihre Gewerkschaften und Betriebsräte Mit-
bestimmungsrechte erhalten. Sie müssen sich ein klares
Bild davon machen können, wie ihre Zukunft in einem
neuen Konzern aussehen soll, wie ihre Standards und
ihre gewerkschaftlichen Rechte erhalten werden sollen.
Deshalb fordern wir ein Vetorecht für Betriebsräte und
Gewerkschaften bei Übernahmen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir treten für das Recht auf Abschluss eines Tarifver-
trages ein, der die Fragen der Beschäftigungssicherung,
des Erhalts von Standards und gewerkschaftlicher
Rechte regelt. Beschäftigte schaffen nicht nur den Unter-
nehmenswert, sie haben auch ein Recht auf Mitbestim-
mung über seine Zukunft. Hier geht es nicht um ein
Schlagen alter Schlachten oder um eine Lex Hochtief.
Vielmehr geht es um die dringend benötigte Erneuerung
sozialer Demokratie.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Rolf Hempelmann [SPD])







(A) (C)



(D)(B)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1707105400

Das Wort hat nun Volker Wissing für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1707105500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Kollege Poß ist im Augenblick nicht mehr da; es ist
schon toll, was er hier so abliefert. Da heißt es: Die Poli-
tik soll den Unternehmen endlich einmal Grenzen auf-
zeigen. Wenn aber ein Unternehmen in Deutschland im
Wettbewerb Probleme hat,


(Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Hat es doch nicht!)


dann kommt die SPD wie ein Schoßhündchen an, wa-
ckelt mit dem Schwänzchen und bietet staatliche Hilfe
an. Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, hätten Sie Ge-
neral Motors Milliarden Euro deutscher Steuergelder ge-
geben.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Können Sie auch einmal zur Sache sprechen?)


Diese Bundesregierung hat das verhindert. Sie sollten
sich einmal mit sich selbst beschäftigen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was haben Sie denn für ein Weltbild?)


Die Vorschläge, die Sie heute machen, bedeuten doch
nichts anderes, als wieder den Unternehmen hinterherzu-
laufen, die sich bei Ihnen beschweren, weil sie sich im
Wettbewerb nicht zurechtfinden.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Lächerlich! Das ist doch so was von daneben!)


Es ist aber nicht Aufgabe der Politik, in den Wettbewerb
einzugreifen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Was Sie uns heute vorlegen, ist ein Anliegen, das be-
reits in der letzten Woche im Bundesrat mehrheitlich ab-
gelehnt worden ist.

Die Länderkammer hat den SPD-Finanzministern
recht gegeben, die in den elf Jahren ihrer Regierungszeit
ein derart verschärftes Übernahmerecht für unnötig,
wenn nicht sogar schädlich erachtet haben. Sie tun so,
als hätten Sie mit dem gegenwärtigen Übernahmerecht
überhaupt nichts zu tun. Es stammt aus dem Dezember
2001. Als manche Länder in Europa dieses Recht ver-
schärft haben, haben Sie das abgelehnt. Die SPD hat eine
Veränderung gemeinsam mit den Grünen und auch an
der Seite der Union abgelehnt. Dennoch tun Sie heute so,
als wäre das alles völlig falsch. Heute sagen Sie, es
müsste endlich etwas passieren. Warum haben Sie denn
nicht gehandelt, wenn Sie es für richtig gehalten haben?


(Beifall bei der FDP – Petra Hinz [Essen] [SPD]: Es hätte eine Harmonisierung auf europäischer Ebene stattfinden können!)


Entweder Sie haben das letzte Jahrzehnt in finanz-
wirtschaftlicher Hinsicht verpennt, oder Sie opfern Ihren
Sachverstand einem billigen Populismus. Die Antwort
auf diese Frage wird die anstehende Evaluation der
Europäischen Kommission zur EU-Übernahmerichtlinie
liefern. Die Ergebnisse werden uns 2011 vorliegen.
Dann werden wir darüber ergebnisoffen diskutieren.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Das ist klar! Erst mal die Deutsche Bank abwarten!)


Das deutsche Übernahmerecht ist, jedenfalls bisher, ein
ausgewogener Kompromiss zwischen den Interessen des
Bieters, der Zielunternehmen und der Aktionäre. Es ist
weder übernahmefreundlich noch übernahmefeindlich.
Genau so muss es auch sein.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Hat Ihnen das die Deutsche Bank aufgeschrieben? – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU], an die SPD gewandt: Was hat Hochtief euch aufgeschrieben? – Gegenruf des Abg. Joachim Poß [SPD]: Hochtief braucht uns nichts aufzuschreiben!)


Im Falle des Wechsels besteht das Ziel in der Über-
nahme der Kontrolle über ein Unternehmen. Den an-
deren Aktionären wird einmalig die Möglichkeit des
Ausstiegs gegeben. Damit wird den berechtigten Interes-
sen der Anleger, auf Veränderungen bei der Unterneh-
menskontrolle wertschonend zu reagieren, Rechnung
getragen. Minderheitsaktionäre sollen bei Hauptver-
sammlungen nicht Opfer neuer Mehrheitsverhältnisse
werden. Das ist ein wichtiges Anliegen. Ein derartiges
Interesse besteht aber nicht, wenn ein Mehrheitsaktionär
seine Beteiligung zum Beispiel von 46 auf 48 Prozent
ausweitet. Die Umsetzung des Vorschlags der Sozialde-
mokraten würde dazu führen, dass Spekulationen auf
immer höhere Übernahmepreise angeheizt werden. Der
Gesetzgeber sollte eine solche Kasinomentalität nicht
befördern. Wir jedenfalls machen das nicht mit.


(Joachim Poß [SPD]: Die FDP verrät die Kleinaktionäre!)


Die Integrität der Finanz- und Kapitalmärkte ist
eine wichtige Voraussetzung für eine stabile wirtschaftli-
che Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland,
aber auch in Europa insgesamt. Deswegen muss markt-
schädigendes und manipulatives Verhalten umfassend
gesetzlich sanktioniert werden. Das ist gegenwärtig der
Fall. Der Begriff Marktmanipulation umfasst alle Hand-
lungen, die einen Preis herbeiführen, der nicht einem un-
beeinflussten Ausgleich von Angebot und Nachfrage
entspringt.

Manipulationen, die nachweislich auf den Börsen-
oder Marktpreis eingewirkt haben, sind Straftaten. Sie
werden nach dem Wertpapierhandelsgesetz mit Frei-
heitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe geahndet.
Dieses Recht wird in der Bundesrepublik Deutschland
konsequent umgesetzt. Besser kann der Schutz eines An-
legers vor derartigem Betrug wohl kaum sein.

Was wir auch brauchen, ist mehr Transparenz, um
verloren gegangenes Vertrauen in die Kapitalmärkte zu-
rückzugewinnen. Die Koalition wird deshalb mit dem
Anlegerschutzgesetz bestehende Regelungslücken





Dr. Volker Wissing


(A) (C)



(D)(B)

schließen, die es Investoren bisher erlaubt haben, sich
durch die Übernahme von Anteilen an Unternehmen an-
zuschleichen. Herr Kollege Poß, wir wollen einmal fest-
halten: Damit schließt diese christlich-liberale Koalition
eine Regelungslücke, die Sozialdemokraten hinterlassen
haben. Es sind Ihre Versäumnisse, die uns jetzt zum
Handeln bringen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Sie waren jahrelang untätig. Die daraus folgenden Fehler
werden jetzt berichtigt. Die seit Jahren bestehende
Schutzlücke wird von dieser Koalition geschlossen.

Die Offenheit für ausländische Investitionen in
Deutschland ist eine Grundlage für ein erfolgreiches
Engagement deutscher Unternehmen im Ausland. Mit
rund 800 Milliarden Euro Direktinvestitionen profitiert
die Bundesrepublik Deutschland von dem Vertrauen an-
derer Länder. Gerade vor dem Hintergrund internationa-
ler Währungsinterventionen muss das Bekenntnis dieses
Landes zu offenen Investitionsmärkten jetzt erneuert
werden, und zwar auch, um das deutsche Engagement
im Ausland abzusichern. Es sind immer unsere Handlun-
gen, an denen die internationalen Partner unsere politi-
schen Absichten messen.


(Beifall bei der FDP)


Angesichts dessen ist es in dieser schwierigen Situa-
tion gut für die Bundesrepublik Deutschland, dass nicht
Sie, die Sozialdemokraten, mit Ihrem Populismus, den
sie uns heute darbieten, Verantwortung tragen. Als Sie
Regierungsverantwortung trugen, haben Sie nichts ge-
tan. In der Opposition betreiben Sie blanken Populismus.
All das hilft diesem Land in dieser schwierigen Situation
nicht.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Mein Gott! – Petra Hinz [Essen] [SPD]: Wer sahnt denn gerade ab?)


Man braucht eine besonnene Regierung wie die
christlich-liberale, die, Herr Kollege Poß, Schritt für
Schritt die Finanzmarktregulierung angeht, bei Verbrie-
fungen verschärfte Regelungen in Deutschland umsetzt
– die Sozialdemokraten haben sie nicht umgesetzt –, die
in Deutschland eine Bankenabgabe eingeführt hat, wozu
die Sozialdemokraten nicht die Kraft hatten.


(Lachen bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Rolf Hempelmann [SPD]: Man sollte zumindest ein bisschen bei der Wahrheit bleiben! Wenigstens in der Nähe!)


– Sie hätten es ja machen können, haben es aber nicht
getan. – Sie fordern Regulierung. Wenn wir regulieren,
sagen Sie zu allem Nein. Ein Schelm, wer Böses dabei
denkt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es sind immer die gleichen Muster, mit denen Sie hier
antreten. Sie fordern, dass wir Regelungslücken schlie-
ßen, die Sie hinterlassen haben. Wir tun das, und Sie
sagen dann: Nein, es geht nicht weit genug. Das ist ein
billiges Spiel und ganz bestimmt keine seriöse Finanz-
politik. Sie mögen mit Ihrem Populismus von den eige-
nen Fehlern der Vergangenheit ablenken. Wir arbeiten
Ihre Versäumnisse konsequent Schritt für Schritt auf und
haben dabei das Interesse unseres Landes fest im Blick.

Wir wollen ein offenes Land bleiben, das für Investo-
ren attraktiv ist. Wir wollen ein verlässlicher Partner im
Bereich der Finanzpolitik werden. Wir werden nicht, wie
Sie es gefordert haben, amerikanischen Konzernen deut-
sche Steuermilliarden hinterherwerfen.


(Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Was hat das mit dem Antrag zu tun?)


Wir haben einen Bundeswirtschaftsminister, der klar ge-
sagt hat, was geht und was nicht geht. Härte muss auch
einmal sein; aber Populismus, so wie Sie ihn betreiben,
ist unverantwortlich.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1707105600

Das Wort hat nun Kerstin Andreae für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1707105700

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Es sitzen Menschen an den Fernsehern, die
Angst um ihren Arbeitsplatz haben. Sie haben Existenz-
ängste. Deswegen sollten wir hier eine sehr ernsthafte,
seriöse und zukunftsgewandte Debatte führen und kei-
nerlei Beispiele über Freundinnen und Frauen bemühen.
Es sollte mehr der Frage nachgegangen werden: Wie
ernst nehmen wir eigentlich diese Existenzängste?

Die Menschen dürfen kein Spielball für Investoren
sein. Hinter jedem Arbeitsplatz stehen ein Mensch, eine
Familie, ein Lebensplan. Wir dürfen auch nicht verges-
sen, dass gerade nach dieser Krise – die Menschen haben
jetzt eigentlich wieder Hoffnung, dass die Unsicherheit
vorbei ist – hier neue Unsicherheit und neue Sorgen auf-
kommen. Die SPD schürt bei den Beschäftigten von
Hochtief Erwartungen, die sie nicht erfüllen kann. Diese
Debatte ist eine Anlegerschutzdebatte. Dieses Über-
nahmegesetz schützt die Anleger, die Eigentümer und
nicht die Arbeitsplätze.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die Unsicherheit der Menschen verpflichtet uns, die-
ses Thema seriös zu diskutieren. Wie sichern wir die Ar-
beitsplätze? Gibt es für die Übernahme eine solide
Finanzierung? Ist der Wettbewerb gesichert? Sind die
Rechte der Aktionäre, insbesondere der Kleinaktionäre,
gesichert?

Ich möchte festhalten: Die Altaktionäre sind doch
nicht schutzlos. Es geht nicht um ein Anschleichen wie
bei der möglichen Fusion von Schaeffler und Conti; da
geht es um ganz andere Sachen. Es geht um ein Ein-
schleichen – es ist erklärt worden –: Dieses Pflichtange-
bot bei Überschreiten der 30-Prozent-Schwelle sichert





Kerstin Andreae


(A) (C)



(D)(B)

allen Aktionären den Durchschnittspreis der letzten drei
Monate. Die Aktionäre müssen aber nicht verkaufen. Sie
können ihre Aktien auch behalten, wenn sie der Mei-
nung sind, dass sich der Börsenpreis besser entwickelt.
Da gibt es also einen Schutz.

Ich bitte darum, dass wir den Vorschlag, ein zweites
Pflichtangebot zu ermöglichen, zu Ende denken. Was
heißt das eigentlich? Für Aktionäre wird es attraktiver
werden, ihre Aktien zu verkaufen. Die Mittel zur Deckung
der Kosten müssen irgendwie erwirtschaftet werden. Das
heißt, der Sanierungsdruck für das Unternehmen wird
sich erhöhen. Ich plädiere wirklich eindringlich dafür,
dass diese Sache zu Ende gedacht wird. Das gebietet die
Seriosität.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU)


Mehrere Länder regeln Übernahmen. 2001 hat Rot-
Grün die Übernahmen für Deutschland geregelt, und
zwar mit vielen Modulen. Erstens: Ein Pflichtangebot
muss vorgelegt werden. Zweitens: Die solide Finanzie-
rung muss sichergestellt werden. Drittens: Die Informa-
tionspflichten sind ausgeweitet worden, und schließlich
haben wir keine Neutralitätsverpflichtung des Vorstands.

2004 hat man versucht, das Ganze innerhalb von Eu-
ropa mit weitreichenden Öffnungsklauseln zu harmoni-
sieren. Nationale Spielräume wurden aber unterschied-
lich genutzt. Sie sagen, dass wir hier über faire
Wettbewerbsbedingungen reden. Sie sollten dabei aller-
dings nicht nur einzelne Länder in Europa herausgreifen.
17 EU-Mitgliedstaaten sehen nur ein Pflichtangebot vor.
Nur sechs weitere wollen ein zweites Pflichtangebot.
Spanien – ausgerechnet Spanien – hat diese Regel ge-
rade wieder zurückgenommen.

Ich finde, dass die Neutralitätsverpflichtung für den
Vorstand, die es in Deutschland nicht gibt, ein hohes Gut
ist. Das, was Hochtief jetzt macht, mag uns nerven. Wir
meinen vielleicht, dass die Pressespiegel, die man uns
zuschickt, die Breite der Diskussion nicht ganz wider-
spiegelt. Aber der Vorstand darf politisch agieren; das ist
gut und richtig so.

Wir sollten uns gut überlegen, ob wir hier einen Sys-
temwechsel wollen und die Neutralitätspflicht aufheben
möchten. Ich möchte damit sagen, dass wir Äpfel und
Birnen nicht miteinander vergleichen können. Die Re-
geln im Ausland sind zwar anders, aber sie sind keines-
wegs strenger. Es ist mir wichtig, zu sagen, dass wir in
Deutschland sehr klare Übernahmeregelungen haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU)


Die solide Finanzierung liegt in der Hand der BaFin.
Was hat die BaFin gemacht? Sie hat geprüft, ob das Ka-
pital der Spanier ausreichen würde, wenn alle Aktionäre
das Angebot annehmen würden. Das Ergebnis der Prü-
fung ist: ACS muss eine Kapitalerhöhung vornehmen.
Das zeigt, dass in Deutschland ein richtiges und gutes
Instrument greift. Die BaFin ist Mediator eines geordne-
ten Übernahmeverfahrens und hat ihren Job gemacht.
Jetzt möchte ich die Debatte aufwerfen, was dieser
Vorschlag eigentlich für Deutschland in Europa bedeu-
tet. Deutsche Unternehmen gehen auf Einkaufstour. Wir
sind auf offene Märkte angewiesen,


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


und zwar auch für den Erhalt unserer Arbeitsplätze.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sehr richtig! – Joachim Poß [SPD]: Trotzdem haben die anderen Länder andere Regeln!)


Protektionismus schadet uns und Europa. Dies muss klar
gesagt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Dennoch finde ich es richtig, dass wir die Initiative der
SPD positiv aufgreifen. Wir müssen in den Ausschüssen
über den Schutz der Arbeitnehmerrechte reden. Was
passiert im Fall von Fusionen und Übernahmen? Ich
nenne Ihnen drei Punkte, über die wir Grüne mit Ihnen
im Ausschuss diskutieren wollen.

Erstens. Die EU-Übernahmerichtlinie sieht bereits
vor, dass Betriebsrat und Aktionäre gleichermaßen über
die Angebotskonditionen unterrichtet werden. Es gibt
also Informationspflichten. Das umfasst im Übrigen
auch die Absichten des Anbieters in Bezug auf die Ar-
beitsplatzsicherung. Aber die Frage ist: Reichen diese
Informationspflichten aus? Müssen wir sie vielleicht
ausweiten? Das heißt, wir müssen sie einmal evaluieren.
Das ist der erste Vorschlag, über den wir mit Ihnen dis-
kutieren wollen. Diese Evaluierung wollen wir auf den
Weg bringen.

Zweitens. ACS hat – das ist erwähnt worden – eine
Investorenvereinbarung vorgelegt. Ich möchte, dass wir
ernsthaft darüber diskutieren, ob wir Regelungen schaf-
fen müssen, die besagen, dass ein Pflichtangebot mit ei-
ner Investorenvereinbarung verbunden werden muss.
Über diese Investorenvereinbarung wird mit dem Vor-
stand, aber auch mit dem Betriebsrat diskutiert; er wird
darüber informiert. Dabei geht es um Aspekte wie die
zukünftige Geschäftsverteilung, die Arbeitsplatzent-
wicklung inklusive einer möglichen Verlagerung und
Konsolidierung. Wir möchten also über frühzeitige In-
formationen über die zukünftigen Absichten des Inves-
tors, über eine Pflicht zur Vorlage einer Investitionsver-
einbarung diskutieren.

Drittens. Fusionstarifverträge – diese schlagen Sie
von der Linken vor – können ein richtiges Instrument
sein, wenn sie die Möglichkeit bieten, organisatorische
Entwicklungen aufgrund von Fusionen und Übernahmen
sozialverträglich zu gestalten. Natürlich brauchen wir
das. Die Menschen haben Angst, wenn eine Übernahme
geplant wird. Sie fragen sich, was mit ihrem Arbeitsplatz
passieren wird und ob sich die Arbeitsplatzbedingungen
verändern werden. Wir wollen mit Ihnen im Ausschuss
darüber diskutieren, ob wir Fusionstarifverträge einfüh-
ren, die genau dies regeln.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)






Kerstin Andreae


(A) (C)



(D)(B)

Wir können auch über den Schutz des Anlegers spre-
chen. In den USA gibt es ein interessantes Verfahren.
Das war übrigens auch einmal ein SPD-Vorschlag. Ich
weiß nicht, warum er – ich glaube, es war 1997 – in der
Versenkung verschwunden ist. Bei dem Verfahren ent-
scheidet die Hauptversammlung – ohne die Stimmen des
Bieters – über Annahme oder Ablehnung des Übernah-
meangebots. Es ist ein klassisches Dilemma. Man sitzt in
der Hauptversammlung und fragt sich: Soll ich, oder soll
ich nicht? Ist das jetzt der bessere Preis, oder bin ich
morgen weg vom Fenster? Welche Rechte kann ich den
Aktionären, auch den Kleinaktionären, im Streubesitz
geben, damit sie ihre Entscheidungsgrundlage kennen
und sehen, vor welcher Situation sie stehen? Wir möch-
ten mit Ihnen über den Vorschlag diskutieren, dass die
Hauptversammlung über Annahme oder Ablehnung des
Übernahmeangebots entscheidet.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der CDU/CSU)


Ich möchte jetzt noch etwas Grundsätzliches sagen.
Wir haben in Deutschland sehr bewusst eine Entschei-
dung für den europäischen Binnenmarkt getroffen. Das
war gut und richtig so. Das bedeutet aber zweierlei:

Erstens muss man den europäischen Prozess beglei-
ten. Die EU-Kommission wird sich Anfang kommenden
Jahres mit den Übernahmeregelungen insgesamt befas-
sen und sie überprüfen. Dann ist der richtige Zeitpunkt,
auch über nationale Übernahmeregelungen zu sprechen.
Jetzt nationale und populistische Schnellschüsse zu wa-
gen, lehnen wir ab.

Zweitens darf man Übernahmen nicht undifferenziert
erschweren, sondern man muss spezifische Interessen
berücksichtigen. Im Klartext der Grünen bedeutet das:
Das Denken in Kategorien nationaler Champions lehnen
wir ab.

Es wird Zeit, dass wir in diesem Parlament zu ange-
messenen Verfahren zurückfinden. In den letzten Wochen
konnten wir viele Beispiele beobachten – Euro-Rettung,
Atompolitik, Haushaltsbegleitgesetz –, an denen deutlich
wurde, dass Sie Ihre Vorhaben im Hauruckverfahren
durchgesetzt haben, ohne dass wirklich ernsthafte Dis-
kussionen geführt worden waren. Bei diesem Thema darf
nicht das Gleiche passieren. Wir brauchen keine Schnell-
schüsse, sondern eine solide Gesetzgebung. Das heißt
auch, dass man nicht mit Blick auf einen spezifischen Fall
ein Gesetz ändert, ohne zu wissen, was diese Gesetzesän-
derung im Hinblick auf andere Fälle bedeutet.

Ich warne sehr davor, Versprechungen zu machen, die
wir nicht halten können, und Erwartungen zu schüren,
die wir nicht bedienen können. Unsere Aufgabe ist es,
Probleme zu lösen. Wir greifen Ihre Initiative auf, um
die Beschäftigten und die Arbeitnehmerrechte zu schüt-
zen. Aber wir wehren uns gegen eine Abschottung
Deutschlands.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Frank Schäffler [FDP])


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1707105800

Das Wort hat nun Hans Michelbach für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Hans Michelbach (CSU):
Rede ID: ID1707105900

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Der Ge-

setzentwurf der SPD-Fraktion zielt grundsätzlich auf den
aktuellen Fall Hochtief. Die Frage, die wir sorgfältig
prüfen sollten, lautet aber, ob ein konkreter Fall wie die
vom spanischen Baukonzern ACS geplante Übernahme
des Bauunternehmens Hochtief als Anlass für eine gene-
relle gesetzliche Regelung taugt. Wir nehmen die Ängste
der Menschen sehr ernst. Die leeren Versprechungen und
Falschinformationen vonseiten der SPD helfen den be-
troffenen Arbeitnehmern allerdings nicht.


(Rolf Hempelmann [SPD]: So ein Quatsch! Eine Behauptung ist das! Nenn doch mal ein Beispiel!)


Dem Populismus der SPD fehlt es an Glaubwürdigkeit.
Es ist immer das Gleiche: Sie können nicht unterschei-
den, wer letzten Endes das Primat hat. Das Primat hat
nicht Hochtief, sondern das Primat haben die Politik, das
Parlament, dieses Hohe Haus.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Deswegen ja auch unser Gesetzentwurf! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was ist das denn für eine verquere Argumentation?)


Ich darf Ihnen deutlich sagen: Das deutsche Über-
nahmerecht stellt einen ausgewogenen Kompromiss
zwischen den Interessen des Bieters und denen der
Aktionäre des Zielunternehmens dar. Der Vorwurf, dass
eine Schutzlücke oder Benachteiligung besteht, ist unab-
hängig zu prüfen.

Eines ist allerdings schon heute klar: Mit dem soge-
nannten Anschleichen hat der Fall Hochtief nichts, aber
auch gar nichts zu tun. Der spanische Konzern ACS hat
sein Vorhaben nie verschwiegen.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD – Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Oh nein! Das ist nicht richtig! – Joachim Poß [SPD]: Das sehen die Beteiligten aber anders! Selbst Herr Pérez hat sich dafür entschuldigt!)


Er hat nicht versucht, geltendes deutsches Recht und
deutsche Richtlinien zu unterwandern. Er war schon
lange an Hochtief beteiligt. Es ist die Aufgabe des Ma-
nagements von Hochtief, erfolgreich Kurspflege zu be-
treiben, eventuell einen weißen Ritter zu finden und die
Beteiligungen zu gewichten. Die Protestadresse im Fall
Hochtief ist das Management und nicht die Politik. Das
muss klar sein.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Es reicht in keinem Falle aus, bei einer solchen ge-
setzlichen Regelung zum Übernahmerecht nur die Aus-
wirkungen auf einen konkreten Fall zu betrachten. Wir
müssen auch die Auswirkungen auf andere mögliche





Dr. h. c. Hans Michelbach


(A) (C)



(D)(B)

Fälle bedenken und danach abwägen, ob bzw. welche
Änderungen des Übernahmerechts sinnvoll oder erfor-
derlich sind.

Die Bundesregierung wird die Regelungen zum soge-
nannten Anschleichen im Entwurf eines Gesetzes zur
Stärkung des Anlegerschutzes überarbeiten; dabei geht es
insbesondere um Unternehmensübernahmen. Wir wollen
die Transparenzregeln verschärfen, und zwar ohne ideo-
logische Scheuklappen.

Folgende grundsätzliche Aspekte möchte ich vorne-
weg verdeutlichen:

Deutschland hat ein Interesse daran, dass Investoren
in unserem Land grundsätzlich willkommen sind. Ich
rate dringend dazu, nicht den Eindruck zu erwecken, dass
ausländische Investoren bei der Übernahme von Unter-
nehmen grundsätzlich unerwünscht sind.


(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Das sagt doch keiner!)


Es gibt in der deutschen Unternehmenslandschaft Bei-
spiele für erfolgreiche Unternehmensübernahmen. Dabei
konnten alle Beteiligten mit einer solchen Übernahme
sehr gut leben. Häufig wird ein Investor geradezu ge-
sucht, insbesondere in Sanierungsfällen. Darauf sind
viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem
Land angewiesen. Ich kenne viele Fälle, in denen der
ausländische Investor deutsche Arbeitsplätze gerettet
und gesichert hat.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Das kann man doch nicht vergleichen!)


Die Abschottung des Marktes ist ein Anschlag auf die
Arbeitsplätze in unserem Land.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir als Exportnation müssen einen offenen Welthan-
del betreiben; sonst werden wir unter Protektionismus in
dieser Welt zulasten unserer Arbeitsplätze und unseres
breit verteilten Wohlstandes leiden. Das müssen wir er-
kennen, und wir dürfen uns keine ideologischen Scheu-
klappen aufsetzen, wie Sie sie uns hier zumuten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Rolf Hempelmann [SPD]: Ablenkungsgerede!)


Bei Hochtief geht es um den umgekehrten Fall. Ich
gebe eine grundsätzliche Überlegung zu bedenken: Auch
deutsche Unternehmen wollen im Ausland investieren,
und auch deutsche Unternehmen übernehmen häufig im
Ausland Unternehmen. Wir müssen mit dieser Proble-
matik auch unter diesem Gesichtspunkt sachlich und
fachlich ausgewogen umgehen.

Es ist richtig, dass das Übernahmerecht in fast allen
europäischen Staaten Regelungen enthält, durch die es
für die Aktionäre transparent wird, wenn jemand
30 Prozent der Stimmrechte erworben hat und sich diese
Beteiligung erhöht. Im Fall Hochtief geht es aber eigent-
lich nicht um die Transparenz, sondern um erneute An-
gebote an die Aktionäre. Genau betrachtet geht es also
um den Schutz bisheriger Aktionäre. Frau Andreae hat
es gesagt.

(Rolf Hempelmann [SPD]: Kleinaktionäre!)


Das ist ein wichtiges Anliegen. Das will ich keineswegs
geringschätzen. Aber Sie kommen dem mit Ihrem Ge-
setzentwurf überhaupt nicht nach.

In der europäischen Übernahmerichtlinie ist vorge-
schrieben, dass die bisherigen Aktionäre geschützt wer-
den müssen. Die Ausgestaltung bleibt zu Recht sämtli-
chen Mitgliedsländern überlassen. Nach dieser Richtlinie
müssen die Mitgliedsländer für den Fall, dass ein Erwer-
ber die Kontrolle über eine Gesellschaft erlangt, Regelun-
gen zu Pflichtangeboten an die Aktionäre treffen. Im
deutschen Recht haben wir mit der 30-Prozent-Schwelle
eine solche Regelung.

Meines Erachtens muss man sehr sorgfältig prüfen,
ob ein aktuelles Problem durch die Einführung zusätzli-
cher Schwellen überhaupt gelöst werden kann. Der Wert
von 2 Prozent in dem SPD-Gesetzentwurf ist natürlich
völlig aus der Luft gegriffen. Sie können mir gar nicht
sagen, wie dieser Wert zustande kommt. Auch wenn ich
das Wort „willkürlich“ nicht verwenden will, erscheint
es mir eine aus der Luft gegriffene Zahl zu sein. Gerade
vor dem Hintergrund der beabsichtigten Übernahme von
Hochtief durch ACS warne ich vor einem gesetzgeberi-
schen Schnellschuss mit einer aus der Luft gegriffenen
Zahl. Durch diesen Einzelfall wird belegt, dass es kein
grundsätzliches Transparenzproblem gibt; ich habe es
bereits angesprochen.

Es geht also darum, dass wir mit dem Anlegerschutz-
gesetz das Problem des Anschleichens in Angriff neh-
men, um die Nutzung bisher nicht meldepflichtiger Fi-
nanzinstrumente transparent zu machen. Seitens der
Bundesregierung ist vorgesehen, dass unterschiedliche
Stimmrechte zusammengerechnet werden müssen, damit
der Markt umfassend darüber informiert wird, wie viel
Stimmrechtseinfluss auf ein und dasselbe Unternehmen
besteht. Es muss vermieden werden, dass in intranspa-
renter Weise erhebliche Stimmrechtspositionen aufge-
baut werden können, ohne dass weder die Bundesanstalt
für Finanzaufsicht noch der Markt oder die Emittenten
frühzeitig darüber in Kenntnis gesetzt werden. Es muss
folglich eine umfassende Meldepflicht für Finanzinstru-
mente und -praktiken geschaffen werden. Darin sind wir
uns einig. Ich glaube, dass das der richtige Weg ist.

Die Eingangsschwelle für die Meldepflicht wird bei
5 Prozent der entsprechenden Stimmrechte festzusetzen
sein. Die neuen Meldepflichten werden mit zusätzlichen
Sanktionen verbunden werden. Wir erarbeiten also eine
konkrete Lösung, die genau zur richtigen Zeit kommt
und die Probleme angeht.

Die Zielsetzung des Entwurfs eines Gesetzes zur Stär-
kung des Anlegerschutzes und Verbesserung der Funk-
tionsfähigkeit des Kapitalmarktes überschneidet sich da-
her mit der Zielsetzung des Gesetzentwurfs der SPD, hat
aber die wahren Ursachen der zu lösenden Probleme viel
schärfer im Blick. Wir regeln genau das, was geregelt
werden muss. Das ist etwas ganz anderes als der Popu-
lismus und der Protektionismus, die im Gesetzentwurf
der SPD zum Ausdruck kommen.





Dr. h. c. Hans Michelbach


(A) (C)



(B)

Ich glaube, es ist wichtig, dass wir auch auf den An-
trag der Linken eingehen. Beim Antrag der Linksfrak-
tion geht es faktisch nicht um eine Änderung des Über-
nahmerechts, sondern um den plumpen Versuch,


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Na, na, na!)


die Mitbestimmung in Deutschland eklatant auszuweiten
und insgesamt weiter an der arbeitsrechtlichen Regulie-
rungsschraube zu drehen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Das Ziel ist einzig und allein ein verfassungsrechtlich
höchst problematischer, wenn nicht von vornherein aus-
geschlossener Eingriff in die unternehmerische Freiheit.
Ich nenne nur das Stichwort „Vetorecht des Betriebsrats
gegenüber Fusionen und Übernahmen“. Was Sie vorha-
ben, ist gegen unser Rechtssystem und die soziale
Marktwirtschaft.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Sie haben die soziale Marktwirtschaft immer noch
nicht begriffen, ebenso wenig wie ihre Vorteile.


(Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Sie wollen sie durch Marktfundamentalismus ersetzen!)


Das ist DDR-Politik, die Sie weg von der sozialen
Marktwirtschaft, in der Eigentumsrechte großgeschrie-
ben werden, hin zum Volkseigentum führt. Sie sollten
nachlesen, wohin die DDR-Wirtschaftspolitik und das
sogenannte Volkseigentum geführt haben.


(Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Man hatte vor allem Mitbestimmung! Das ist eine Erfahrung des Ruhrgebiets, nicht der DDR!)


Dazu sage ich Ihnen ganz deutlich: So etwas in einem
freiheitlichen Staat mit einer sozialen Marktwirtschaft
vorzutragen, ist bodenlos.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Es geht hinsichtlich der Auswirkungen solcher Über-
nahmen auf die Arbeitnehmer letzten Endes darum, die
besseren Lösungen der sozialen Marktwirtschaft anzu-
wenden. Das Übernahmerecht ist – das gebe ich zu – au-
ßerordentlich kompliziert. Es bedarf sorgfältiger Abwä-
gungen statt Schnellschüsse. Protektionismus zugunsten
unserer Unternehmen mag auf den ersten Blick immer
wieder verlockend sein – die SPD fällt grundsätzlich im-
mer darauf hinein –; in einem europäischen Binnenmarkt
sollte allerdings die Diskussion über Unternehmensüber-
nahmen nicht unter dem Stichwort „Nationalisierung“
erfolgen.


(Beifall des Abg. Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


In der Globalisierung darf es keinen Nationalismus und
Protektionismus geben.


(Beifall des Abg. Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Das ist die entscheidende Wegführung.
Ich lehne es als unabhängiger Abgeordneter ab, die
Frage der Übernahme von Hochtief durch ein anderes
europäisches Unternehmen zu bewerten und mit Natio-
nalismus in diesen Prozess einzugreifen. Ich weiß nicht,
wie dieser Fall ausgeht. Ich finde es auch nicht zielfüh-
rend, wenn der Staat versuchen will, solche Prozesse
durch gesellschaftliche Schnellregelungen zu steuern.

Das Grundanliegen der SPD-Fraktion ist immer dis-
kutabel; aber wir müssen es vom Einzelfall loslösen.
Vonnöten ist letzten Endes ein Gesetzentwurf, der auf
Lösungen für die richtigen Problemfälle abzielt. Das will
sorgfältiger bedacht sein, als es dieser Gesetzentwurf der
SPD mit herausgegriffenen Zahlen und neuen Schwel-
lenangaben vorsieht.

Ich glaube, dass wir in dieser Frage auf dem richtigen
Weg sind. Es ist ein Signal notwendig, dass freier Welt-
handel, freie Märkte und Schutz vor Abschottung oberste
Priorität haben, weil wir als Exportnation im Hinblick auf
den Erhalt unserer Arbeitsplätze darauf angewiesen sind.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1707106000

Das Wort hat nun Petra Hinz für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Petra Hinz (SPD):
Rede ID: ID1707106100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Michelbach, genau das wollen wir nicht: unseren
Gesetzentwurf, den wir heute eingebracht haben, anhand
eines Einzelfalles diskutieren. Die Fachleute, die Profes-
soren, die Juristen, die Wirtschaftsverbände, das Ma-
nagement in Nordrhein-Westfalen, der Kreis, der sich
dort regelmäßig trifft und uns immer Informationen zu-
kommen lässt, bestätigen uns und damit den Gesetzent-
wurf, den wir hier heute einbringen. Sie bestätigen, dass
diese Gesetzeslücke auf jeden Fall geschlossen werden
muss.

Machen wir uns nichts vor: Natürlich sind die deut-
schen Unternehmen Übernahmeattacken fast schutzlos
ausgeliefert.


(Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Das ist doch Quatsch, völliger Quatsch!)


Ich rede hier nicht über die Frage des Managements ei-
nes Unternehmens. Das haben wir hier gar nicht zu beur-
teilen und zu bewerten. Vielmehr reden wir hier heute
über das, was wir zu Veränderungen im Rahmen der
Übernahme einbringen. Außerdem ist es wichtig, die In-
teressen der Kleinaktionäre, der freien Aktionäre zu be-
rücksichtigen. Auch darüber gehen Sie einfach mit dem
Argument hinweg: Die können ja auf der Hauptver-
sammlung anwesend sein.

Angesichts dessen, dass Sie jetzt so locker mit dem
ganzen Thema umgehen, verstehe ich die Gedanken, die
Herr Schauerte 2001 in die Debatte eingebracht hat,
nicht. Ich empfehle Ihnen jedoch, das Protokoll vom
11. Oktober 2001 nachzulesen. Er hat seinen Wortbei-

(D)






Petra Hinz (Essen)



(A) (C)



(D)(B)

trag zu Protokoll gegeben. Es ist durchaus interessant,
wie Sie in so kurzer Zeit Ihre Position verändern und
sehr unsachlich und polemisch werden.

Die Kritiker sprechen von freiem Wettbewerb – ich
habe es auch hier gehört –, von weniger Einmischung
usw. Aber genau darum geht es uns nicht. Es soll kein
Unternehmen protegiert werden. Darum geht es doch
überhaupt gar nicht, Herr Michelbach.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Na, na, na!)


– Darum geht es in der Tat nicht. Es geht um Wettbe-
werbsgleichheit, die geschaffen werden soll.

Wenn wir einmal bei aller Polemik, die hier auch zum
Ausdruck kam, tatsächlich alle Informationen additiv sä-
hen, sähen Sie, dass jeder Wortbeitrag verdeutlicht, dass
es tatsächlich Lücken gibt. Wir müssen für jede Lücke,
die wir in unserem Gesetz haben, prüfen, in welcher
Weise wir sie im Rahmen der Harmonisierung auf euro-
päischer Ebene schließen können. Das haben Sie auch in
jedem einzelnen Wortbeitrag bestätigt.

Ich kann nicht nachvollziehen, dass sich Unterneh-
men, weil es in anderen europäischen Staaten verboten
ist, zum Nachteil Deutschlands hier an unserem Standort
austoben können sollen. Andere Länder haben damit tat-
sächlich ganz andere Erfahrungen gemacht. In diesem
Zusammenhang zitiere ich Professor Schneider, der die
Beispiele Großbritannien oder Schweiz immer wieder
hervorhebt. Er macht deutlich, welche Chancen für eine
solide Übernahme in Großbritannien bestehen, trotz der
Regelungen, die es in Großbritannien gibt. Dort ist näm-
lich vorgesehen, dass Aktionäre, die mit mehr als
30 Prozent, aber noch immer unter 50 Prozent an Unter-
nehmen beteiligt sind, ein erneutes Angebot machen
müssen, wenn sie mindestens 2 Prozent der Aktien zu-
kaufen. Wo ist das Problem, wenn es in Großbritannien
kein Problem darstellt? Hier wird es von Ihnen zu einem
Popanz stilisiert. Nein, so sagen Sie, Sie wollen an die-
sen Bereich nicht herangehen.

Ähnliche Regelungen gibt es in Österreich, Frank-
reich, Italien, Irland und auch in der Schweiz. In der
Schweiz wird die ganze Sache noch restriktiver gehand-
habt. Darüber wollen wir in diesem Fall überhaupt nicht
reden,


(Beifall bei der SPD – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ich wusste nicht, dass die zur EU gehören!)


weil nach der Regelung, die die Schweiz im Rahmen ih-
rer Gesetzgebung auf den Weg gebracht hat, niemand
mehr als 2 bis 5 Prozent der Aktien erwerben darf. Dies
schließt unser Aktiengesetz grundsätzlich aus.

In der Zeit, in der unsere europäischen Nachbarn Der-
artiges auf den Weg gebracht haben, lamentieren wir, zö-
gern wir, zaudern wir. Wir tun nichts, um diese Geset-
zeslücke zu schließen, um dieses Detail im Aktiengesetz
zu korrigieren.

Im Fall von ACS gibt es zumindest einen weiteren
Grund, große Sorge zu haben; es ist hier auch kurz ange-
sprochen worden. Der spanische Konzern ist hoch ver-
schuldet. Eine Zerschlagung der bisherigen Struktur von
Hochtief ist durchaus möglich. Wir wissen genau, dass
all das, was im Zusammenhang mit Übernahmen ver-
traglich versprochen wird, spätestens nach einem Jahr
keinen Wert mehr hat. Insofern müssten wir aufgrund
unserer Erfahrungen wissen, dass das, was ACS jetzt ge-
rade verspricht, um sich attraktiv zu machen, an den
Haaren herbeigezogen ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Zusammenfassend stelle ich fest: Erstens. Was in an-
deren europäischen Staaten verboten ist, darf nicht zum
Nachteil von deutschen Unternehmen und zum Nachteil
unseres Industriestandortes Deutschland gereichen. Das
ist sehr wichtig.

Zweitens. Deutschland fördert Industriepolitik und
keine Kapitalspekulation, wie wir es hier bei ACS in die-
sem Fall tatsächlich vorfinden.


(Frank Schäffler [FDP]: Es geht doch nicht um den Einzelfall!)


Drittens. Darüber hinaus geht es um den Schutz der
Kleinaktionäre vor Geringfügigkeitsangeboten. Ich muss
nicht extra auf das Verhalten der Deutschen Bank, der
Deutschen Post und der Postbank hinweisen. Es ging da-
rum, dass Ackermann die Postbank übernehmen wollte.
Ackermann ist so selbstsicher, dass er bereits von Perso-
nalabbau redet. Es gibt also genügend Beispiele. Aber
Ackermann schreibt die Gesetzentwürfe für die Regie-
rung und die Redeentwürfe für die entsprechenden Gip-
feltreffen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Na, na! Was machen Sie denn mit Hochtief?)


Viertens. Wir müssen verhindern, dass die Teilhabe
der Arbeitnehmer an der Vermögensbildung durch Spe-
kulation konterkariert wird. Ich würde mich sehr freuen,
wenn Sie unabhängig von dem Fall, der gerade in der
Öffentlichkeit diskutiert wird, die Protokolle von 2001
noch einmal durchlesen würden, damit wir zu einer ge-
meinsamen Lösung kommen. Die Lösung besteht darin,
dass Sie unserem Gesetzentwurf zustimmen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1707106200

Das Wort hat nun Frank Schäffler für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Frank Schäffler (FDP):
Rede ID: ID1707106300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das

Thema, über das wir heute diskutieren, hat meiner An-
sicht nach zwei Aspekte. Einmal geht es um die Frage,
ob wir in Deutschland das Übernahmerecht im Sinne der
Minderheitsaktionäre ausreichend geregelt haben. Meine





Frank Schäffler


(A) (C)



(D)(B)

Vorredner haben aus meiner Sicht dazu schon viel Rich-
tiges gesagt.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Insbesondere Herr Poß!)


– Herr Poß hat viel Richtiges gesagt, vor allem als er ge-
sagt hat, dass es nicht um den Einzelfall geht. Aber die
Redner der SPD beziehen sich auf diesen Einzelfall, und
beide haben ihren Wahlkreis dort, wo das Unternehmen
seinen Sitz hat. –


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Reine Klientelpolitik!)


Sie sollten die Diskussion hier ehrlich führen und nicht
über den Themen schwimmen. Ich glaube, Sie versu-
chen, dieses Thema zu instrumentalisieren, um vor Ort
Punkte zu machen. Das ist aber zu wenig für diese Dis-
kussion.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sind Sie eigentlich noch in der FDP?)


Ich glaube, wir korrigieren mit dem Anlegerschutzge-
setz etwas, was für die Kleinaktionäre, aber auch die
Anleger in Deutschland entscheidend ist. Es geht um die
Frage, ob sich jemand mithilfe von Finanzinstrumenten
an ein Unternehmen heranschleichen darf oder nicht und
ob dieses Verhalten im Rahmen der Meldeschwellen be-
rücksichtigt werden muss. Die Korrektur, die Sie im
Jahr 2008 nicht gemacht haben, führen wir jetzt durch.
Ganz viele Kleinanleger in Deutschland hatten erhebli-
che Vermögensverluste zu verzeichnen. Ich erinnere an
den Versuch von Porsche, VW zu übernehmen. Das hat
am Ende dazu geführt, dass Kleinanleger, die in Aktien-
fonds, die an den Deutschen Aktienindex gekoppelt wa-
ren, investiert hatten, zusätzliche Aktien kaufen muss-
ten, weil die Gewichtung von VW im Deutschen
Aktienindex angestiegen ist. Das hat zu einem massiven
Vermögensverlust gerade der Kleinanleger beigetragen.
Dagegen haben Sie in Ihrer Regierungszeit nichts unter-
nommen. Das korrigieren wir jetzt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist aber nur der eine Aspekt. Der andere Aspekt
betrifft die Frage – das ist ganz entscheidend –, ob man
den protektionistischen Reflexen, die man gemeinhin
sehr schnell hat, nachgeben will oder nicht. Da schreibe
ich Ihnen ins Stammbuch: Das, was Sie hier machen, ist
im Kern geschichtslos. Es ist deshalb geschichtslos, weil
Sie aus der Finanzkrise der vergangenen Jahre, Jahr-
zehnte und vielleicht sogar Jahrhunderte nichts gelernt
haben; denn Krisen haben sich immer dann besonders
verschärft, wenn sich die Länder dieser Welt mit
Abwehrmaßnahmen durch Erhöhung der Zölle, aber
auch bei Regelungen zum Übernahmerecht gegenseitig
hochgeschaukelt haben.


(Zuruf von der SPD: Das ist aber eine sehr eigene Analyse!)


– Das ist nicht irgendeine Analyse, sondern das ist die
Analyse, mit der Sie sich stärker beschäftigen sollten.

(Dr. Volker Wissing [FDP]: Das wäre sehr gut!)


Kenneth Rogoff – kein Unbekannter – hat dieser Tage
eines, wie ich finde, der bemerkenswertesten Bücher seit
langem mit dem Titel Dieses Mal ist alles anders. Acht
Jahrhunderte Finanzkrisen vorgelegt. Er hat, wie ich
finde, sehr treffend dargestellt, was in Finanzkrisen im-
mer das Problem ist. Er schreibt:

… war der Kollaps des internationalen Handels nur
zum Teil ein Nebenprodukt des steilen Rückgangs
der Wirtschaftsaktivität, der von rund 10 Prozent in
Westeuropa bis rund 30 Prozent in Australien, Ka-
nada, Neuseeland und den USA reichte. Der andere
destruktive Faktor war die weltweite Zunahme des
Protektionismus, sowohl in Form von Handelsbar-
rieren als auch gezielten Abwertungen der eigenen
Währung zum Schaden anderer Exportländer.


(Lachen bei Abgeordneten der LINKEN – Rolf Hempelmann [SPD]: Wir wollen keine Währung abwerten! Da haben Sie etwas verwechselt!)


Genau darum geht es eigentlich in dieser Auseinan-
dersetzung. Sie betreiben jetzt billige Polemik für billige
Münze, aber faktisch geht es um viel mehr. Es geht da-
rum, wie unser Finanzsystem stabilisiert wird und dass
wir uns nicht in eine Protektionismusspirale hineinbe-
geben, in der wir uns gegenseitig hochschaukeln. Denn
das ist das eigentliche Problem, das wir international ha-
ben. Deutschland sollte als Land, das den Freihandel im-
mer befürwortet hat, das die Kapitalverkehrsfreiheit im-
mer obenan gestellt hat, alles tun, um nicht in diese
Interventionsspirale hineinzugeraten. Das ist das Ent-
scheidende in dieser wichtigen Phase.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Die Finanzkrise scheint völlig an Ihnen vorbeigegangen zu sein!)


Märkte öffnen und nicht Märkte schließen – das ist
die eigentliche Botschaft, die von diesem Parlament aus-
gehen sollte.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1707106400

Für die Fraktion Die Linke hat nun der Kollege Axel

Troost das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Axel Troost (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707106500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ei-

nes muss noch einmal ganz deutlich gesagt werden: Das,
was Hochtief droht, hängt wie ein Damoklesschwert
über vielen deutschen Unternehmen. Für ein börsenno-
tiertes Unternehmen ist der Zugang zum Kapitalmarkt
zwar gesichert, wodurch sich die Situation auf den ersten
Blick verbessert. Doch machen wir uns nichts vor: Die
Bedrohung ist nahezu immer vorhanden. Gemeint ist die





Dr. Axel Troost


(A) (C)



(B)

Gefahr des Aufkaufs, der feindlichen Übernahme oder
gar der Plünderung, je nach Blickwinkel und Auge des
Betrachters.

Ein wesentliches Problem ist das deutsche Aktien-
und Kapitalrecht selbst. Es zwingt die börsennotierten
Unternehmen, übernahmeoffen zu sein, und dies um je-
den Preis.

Darum geht es, Herr Michelbach. Es geht nicht da-
rum, dass es Sanierungsfälle gibt, in denen es sicherlich
sinnvoll ist, dass Unternehmen einsteigen. Vielmehr geht
es um feindliche Übernahmen, um die Gefahr, dass an-
schließend filetiert wird, dass Massenentlassungen zur
Erzielung kurzfristiger Profite erfolgen, dass Unterneh-
mensteile stillgelegt werden. Insoweit sind wir in der Tat
der Ansicht, dass die dortigen Belegschaften ein Mit-
spracherecht haben müssen.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Nein!)


Das hat nichts mit der DDR zu tun, so wie Sie es hier
darzustellen versucht haben.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Offenlegungspflichten sind bei wesentlichen
Beteiligungen völlig unzulänglich. Das haben wir im
Fall von Continental und im Fall von VW heute schon
mehrfach gehört. Ein solches „heimliches Anschlei-
chen“ wird durch den kürzlich vorgelegten Gesetzent-
wurf der Bundesregierung zum Anlegerschutz nicht
wirklich eingeschränkt.

Hierzu möchte ich aus einem Kommentar der Börsen-
Zeitung zitieren, die bekanntlich nicht die Hauspostille
von Belegschaften, Gewerkschaften oder der Linken ist.
Darin steht:

Nur leider, leider ist der Regierungsentwurf für das
Anlegerschutz- und Funktionsverbesserungsgesetz
Flickschusterei.

Das ist genau das Problem, mit dem wir hier konfrontiert
sind.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ein schwachsinniger Kommentar gewesen!)


Eine Politik des Stillhaltens und des Aussitzens spielt
weiter Heuschreckeninvestoren in die Hände. Beleg-
schaften mittelständischer Unternehmen drohen zum
Spielball von Konzernen und Private-Equity-Gesell-
schaften zu werden. Deswegen muss aus unserer Sicht
gehandelt werden. Wir finden, das, was von der SPD
vorgelegt worden ist, geht in die richtige Richtung, wenn
auch aus unserer Sicht die Frage der Belegschaftsbeteili-
gungen noch mehr berücksichtigt werden sollte.


(Beifall bei der LINKEN)


Es ist in der Tat so – das ist hier auch erwähnt worden –,
dass es international auch andere Beispiele gibt, aus de-
nen man lernen kann und die man mit einbeziehen muss.
Es geht nicht um Protektion, so wie das eben von der
FDP dargestellt worden ist.

(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Selbstverständlich!)


Vielmehr geht es darum, eine langfristige und vernünf-
tige Unternehmensentwicklung zu gewährleisten. Dabei
können selbstverständlich auch Übernahmen sinnvoll
sein, aber sie müssen transparent sein. Die Anlegerin-
nen und Anleger, aber eben auch die Belegschaften müs-
sen vernünftig geschützt werden.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist ein Einmauern!)


– Nein, das ist eben kein Einmauern, aber auch keine
völlige Offenheit und kein Nichtwissen darüber, was da-
bei herauskommt.

Ich möchte noch einmal aus der Börsen-Zeitung zitie-
ren:


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Bitte keine Rosinenpickerei betreiben!)


Wir haben dazugelernt. Es ist Zeit, den Störtebe-
kern des Kapitalmarkts entgegenzutreten.


(Joachim Poß [SPD]: Schönes Zitat!)


Es ist Zeit, die Satzungsfreiheit der Aktionäre wie-
der anzuerkennen. Es ist Zeit, für eine lückenlose
Offenlegungspflicht einzutreten. Flickschusterei
hilft nicht.

Darum geht es.

Hier ist gesagt worden: „Wir haben dazugelernt.“ –
Ich habe in der Debatte das Gefühl gehabt: Die FDP hat
überhaupt nichts dazugelernt, sondern setzt weiter aus-
schließlich auf Marktradikalität. Die CDU verspricht,
aber handelt nicht wirklich.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1707106600

Das Wort hat nun Kollege Ralph Brinkhaus für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Ralph Brinkhaus (CDU):
Rede ID: ID1707106700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das ist

eine emotionale Debatte. Das ist eine emotionale De-
batte für uns, aber auch für die Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter von Hochtief, die jetzt sicherlich vor dem
Fernsehschirm sitzen. Wir haben das gemerkt durch die
Briefe, die uns erreicht haben – von den Mitarbeitern
und Mitarbeiterinnen, vom Verband der Bauindustrie,
vom Management –, durch die Demonstrationen und
durch viele persönliche Gespräche. Aber gerade weil es
eine emotionale Debatte ist, macht es Sinn, die Sache
einmal sehr kühl und sachlich anzugehen.

Wenn ich die Sache sehr kühl und sachlich angehe,
stelle ich mir die Frage: Ist es eigentlich ein ungewöhnli-
cher Vorgang, dass eine Unternehmensgruppe eine an-
dere Unternehmensgruppe mehrheitlich übernimmt?

(D)






Ralph Brinkhaus


(A) (C)



(D)(B)

Schauen wir doch einmal in die Geschichte der Firma
Hochtief! Die Geschichte der Firma Hochtief ist von
Übernahmen geprägt. Da ist zum Beispiel Leighton in
Australien, 1983, ein großer Baukonzern, der wiederum
einen anderen Baukonzern, Holland, und arabische Bau-
konzerne übernommen hat. Da können wir über die Tur-
ner-Gruppe in den USA reden, börsennotiert, auch von
Hochtief übernommen. Da können wir über Lufthansa
Gebäudemanagement reden, hier in Deutschland zusam-
mengekauft, auch übernommen.

Wir können den Blick weiten und uns die Bauindus-
trie insgesamt anschauen, etwa den zweiten großen Spie-
ler auf dem deutschen Markt: Bilfinger Berger. Die Liste
der Akquisitionen von Bilfinger Berger jetzt zu verlesen,
würde den Rahmen sprengen. Ich sage dazu nur: M + W
Zander, Abbey-Group in Australien und viele weitere
Akquisitionen.

Betrachten wir doch einmal unsere bundeseigenen
Unternehmen oder die Unternehmen, die unter unserem
Einfluss stehen! Die Deutsche Post hat übernommen
Exel in Großbritannien, DHL in den USA,


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Es geht doch gar nicht um Übernahmen! Machen Sie doch keinen Popanz daraus!)


Airborne in den USA,


(Joachim Poß [SPD]: Sie lenken nur vom Thema ab!)


im Übrigen finanziert durch die Monopolgewinne aus
dem Briefgeschäft, was ordnungspolitisch bedenklich
ist. Wir können uns die Deutsche Bahn anschauen. Die
Deutsche Bahn hat die Stinnes AG übernommen. Die
Deutsche Bahn hat jetzt einen großen englischen Ver-
kehrsdienstleister übernommen. Wir können uns auch
die Telekom anschauen mit Voicestream in den USA
oder OTE in Griechenland und vielen anderen.

Wenn wir uns die Flaggschiffe im DAX anschauen:
Daimler ist aus einer Fusion von Daimler und Benz ent-
standen. RWE und Eon haben sich durch Übernahmen
und durch Akquisitionen so aufgestellt, wie sie jetzt auf-
gestellt sind.


(Beifall des Abg. Lothar Binding [Heidelberg] [SPD])


Die Geschichte von Volkswagen, um einmal dieses Un-
ternehmen zu nennen, ist eine Geschichte von Akquisi-
tionen, beginnend von Auto-Union über Skoda und Seat
bis hin zu Porsche.

Also ist es im Grunde genommen ein relativ normaler
Vorgang in der Marktwirtschaft, dass Unternehmen ge-
kauft werden,


(Rolf Hempelmann [SPD]: Aus der Vogelflugperspektive auf jeden Fall!)


verkauft werden, fusioniert werden oder auch zerschla-
gen werden. Das ist nichts Ungewöhnliches, in der
Marktwirtschaft wahrscheinlich sogar funktional.

Betrachten wir einmal den Vorgang an sich, den Ein-
zelfall! Der Kollege Middelberg hat eben eindrucksvoll
und auch sehr plastisch geschildert: Es ist nicht eine
wirkliche Überraschung, dass ACS nach der Mehrheit
bei Hochtief greift; das war abzusehen. Insofern kann
ich an diesem Vorgang, abgesehen von einigen Begleit-
erscheinungen, nichts Ungewöhnliches erkennen.

Jetzt könnte ich eigentlich einen Strich unter die Sa-
che ziehen und sagen: Dann ist ja alles gut, aber das will
ich ausdrücklich nicht machen, weil wir – das gilt auch
für uns als Union – durchaus viele Störgefühle bei die-
sem Prozess haben.

Das erste Störgefühl ist, dass es ausgerechnet ein spa-
nisches Unternehmen ist, das jetzt einen großen deut-
schen Konzern übernehmen will. Wir alle erinnern uns
noch an einen Fall vor einigen Jahren. Da wollte die
deutsche Eon Endesa übernehmen, einen großen spani-
schen Versorger, und die spanische Regierung hat wirk-
lich alles getan, um, auch mit unfairen Mitteln, diese
Transaktion zu verhindern. Insofern bleibt da ein Nach-
geschmack. Wir könnten das auch auf Frankreich aus-
dehnen. Da war es das Unternehmen Siemens, das bei
Alstom einsteigen wollte. Es muss schon gelten: wenn
faire Regeln, dann überall faire Regeln.


(Beifall des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD] – Rolf Hempelmann [SPD]: Das ist unser Ansatz!)


Zweites Unwohlsein. Ich habe meine Zweifel, ob das,
was ACS sagt, dass man einfach nur eine höhere Beteili-
gung haben wolle, weil man eng kooperieren wolle, so
richtig ist. Man kann sich durchaus darüber unterhalten:
Wird diese Transaktion gemacht, um die Bilanz von
ACS aufzubessern? Wird diese Transaktion gemacht, um
Hochtief nachher zu zerschlagen?


(Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Die Gefahr besteht!)


Ich weiß es nicht. Man kann es erst einmal so stehen las-
sen.

Zum dritten Punkt, den ich sehr ernst nehme. Die
deutsche Bauindustrie spricht von industriepolitischen
Problemen und sagt: Das Gefüge in Deutschland, das
Netzwerk aus gesunden Mittelständern und großen Un-
ternehmen, die notwendig sind, um große Projekte abzu-
wickeln, wird durcheinandergebracht. – Das muss man
ernst nehmen.

Vor allen Dingen muss man eine Sache ganz ernst
nehmen: Das ist die emotional sehr individuelle Situa-
tion der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Stel-
len Sie sich vor, Sie arbeiten in einer Tochtergesellschaft
von Hochtief oder wo auch immer.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1707106800

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Heil?


Ralph Brinkhaus (CDU):
Rede ID: ID1707106900

Das machen wir nachher als Kurzintervention oder

wie auch immer. – Wenn Sie also in einer Tochtergesell-
schaft von Hochtief oder wo auch immer Ihrem Job
nachgehen, Ihre Arbeit ordentlich machen, sich ein





Ralph Brinkhaus


(A) (C)



(D)(B)

Netzwerk im Kollegenkreis aufgebaut und Wissen ange-
eignet haben und sogar Geld für Ihr Unternehmen ver-
dienen, dann erwarten Sie, dass Sie Ihr Gehalt bekom-
men, und Sie erwarten auch eine gewisse Planungs- und
Arbeitsplatzsicherheit. Ich denke, das ist fair. Dann aber
entscheidet irgendjemand in Madrid am grünen Tisch
und sagt: Das können Sie aus strategischen Gründen al-
les vergessen. Das interessiert mich nicht mehr. Ihr Fir-
menteil wird zerschlagen, verkauft oder fusioniert. – Das
ist sehr schwierig. Das bringt auch die Balance zwischen
Arbeitnehmern und Arbeitgebern durcheinander. Das ist
nicht gut. Das muss man einmal so stehen lassen.


(Zurufe der Abg. Ulla Lötzer [DIE LINKE] und Rolf Hempelmann [SPD])


Wenn ich jetzt mir das Spannungsfeld anschaue zwi-
schen der Tatsache, dass Unternehmensakquisitionen
marktwirtschaftlich üblich sind, deutschen und auch
bundeseigenen Unternehmen genützt haben, und den
Bedenken, die ich gerade geschildert habe, stellt sich mir
die Frage: Wie gehe ich damit um bzw. wie gehe ich da-
mit nicht um?


(Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Das wüsste ich auch gerne!)


Ich gehe damit nicht um, indem ich mich auf Betriebs-
versammlungen stelle und das Blaue vom Himmel ver-
spreche.


(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Stimmt doch gar nicht!)


Seit Philipp Holzmann ist das in der deutschen Politik
Mode geworden, insbesondere bei der Sozialdemokratie,
solche Versprechungen zu machen. Der Erfolg war im-
mer äußerst übersichtlich.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Rolf Hempelmann [SPD]: Wir können gar nichts versprechen! Wir regieren nicht! – Petra Hinz [Essen] [SPD]: Fragen Sie Frau von der Leyen!)


Das trägt auch zum Glaubwürdigkeitsproblem der Poli-
tik bei.

Im Übrigen frage ich mich, wo bei dieser wichtigen
Debatte Ihre Protagonisten sind. Wo ist denn Herr
Gabriel? Ich sehe ihn hier heute nicht. Daran sieht man,
wie ernst er dieses Thema nimmt.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wo ist er denn? – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo ist denn Frau Merkel? Wo ist denn Herr Brüderle?)


Weiterhin kann man jetzt auch nicht die Regierung
auffordern, sich etwas Kreatives zu überlegen, um zu
verhindern, dass Hochtief übernommen wird. Meine Da-
men und Herren, wir leben immer noch in einem Rechts-
staat.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Deswegen machen wir diesen Vorschlag!)


Das bedeutet, dass Regeln verlässlich sein müssen. Kre-
ativität in Übernahmeprozessen mag vielleicht die Poli-
tik der spanischen oder der französischen Regierung
sein, aber nicht unsere. Das tun wir nicht. Das machen
wir nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Rolf Hempelmann [SPD]: Das haben wir auch nicht vorgeschlagen!)


Schließlich geht es auch nicht an, das Problem darauf
zu verengen, dass man sagt, an dieser Situation sei die
Politik schuld, weil sie es versäumt habe, Lücken im
Übernahmerecht zu schließen. Das ist, meine Damen
und Herren, Quatsch. Das ist Blödsinn. ACS hätte diese
Transaktion auch durchgeführt, wenn wir die von Ihnen
vorgeschlagene Regelung gesetzlich verankert hätten.


(Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Richtig!)


Das ist im Grunde genommen eine unzulässige Veren-
gung dieses Problems. Sie streuen den Menschen Sand
ins Auge. Sie erzählen den Menschen die Unwahrheit.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Damit komme ich zu dem Punkt, wie man mit so ei-
nem Problem umgeht.

Das Erste ist, dass man den Menschen auch in
schwierigen persönlichen Situationen die Wahrheit
sagt. Die Wahrheit lautet: Unternehmen werden gekauft,
verkauft, fusioniert und zerschlagen. Das gehört zur
Marktwirtschaft dazu. Das hat uns oftmals auch genützt.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Petra Hinz [Essen] [SPD]: Da haben Ihre Kollegen aber etwas anders gesagt!)


Aus der individuellen Perspektive mag das zu negativen
Begleiterscheinungen führen.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Kollateralschäden!)


Aber man kann nicht nur die positiven Seiten der Markt-
wirtschaft mitnehmen und die negativen ausblenden.
Das geht nicht, meine Damen und Herren.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Lauter Blabla! – Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Ordnungspolitik ist für Sie ein Fremdwort!)


Ein zweiter Punkt, der sehr wichtig ist: Wenn faire
Regeln gelten, wenn Transparenz auf Kapitalmärkten
gelten soll – darauf ist Deutschland als Wirtschaftsnation
angewiesen, weil wir eine Exportnation sind und viele
Beteiligungen in anderen Ländern haben –, dann müssen
wir dafür sorgen, dass diese Regeln auch in Spanien,
Frankreich und Deutschland gelten. Deshalb kann ich
die Bundesregierung – das gilt auch für die Bundesregie-
rung, die vorher im Amt war, bevor Sie jetzt grinsen,
Herr Heil – nur auffordern, hier mehr zu tun. Wir haben
uns da in der Vergangenheit viel zu viel gefallen lassen.


(Beifall des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD])


Wir sollten energisch darauf drängen, dass gleiche
Regeln für alle gelten.





Ralph Brinkhaus


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Rolf Hempelmann [SPD]: Jetzt machen wir einen Vorschlag, und dann wollt ihr nicht folgen!)


Das sollten wir auch einmal der EU-Kommission mittei-
len, die hin und wieder einen unterschiedlichen Maßstab
bei Dingen, die in Deutschland passieren, und Dingen,
die im Rest Europas passieren, anlegt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Der nächste Punkt, der relativ entscheidend ist – das
wurde oft gefordert –, ist, Industriepolitik zu betreiben,
aber nicht Industriepolitik in dem Sinne, wie Sie sie ver-
stehen. Industriepolitik bedeutet nämlich nicht, Struktu-
ren zu konservieren. Industriepolitik bedeutet nicht – in-
sofern war das ein kluger Beitrag von Ihnen, Frau
Andreae –, nationale Champions heranzuzüchten. Das hat
immer nur dazu geführt, dass die eigene Volkswirtschaft
wie unter einer Käseglocke lebte und schwächer gewor-
den ist. Eine gute Industriepolitik bedeutet, vernünftige
Rahmenbedingungen zu schaffen, das heißt ein vernünf-
tiges Steuerrecht, ein vernünftiges Arbeitsrecht und ein
vernünftiges Klima für Innovationen und Bildung. Das
tun wir, meine Damen und Herren.


(Beifall des Abg. Leo Dautzenberg [CDU/ CSU] – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo denn? – Weiterer Zuruf von der SPD: Das wollen wir!)


Der letzte entscheidende Punkt – insofern verweise ich
wiederum auf den Vortrag der Kollegin Andreae von den
Grünen, der in weiten Teilen sehr klug war –: Wir müssen
uns überlegen, ob unser Arbeitsrecht, unser Gesell-
schaftsrecht und unser Wertpapierrecht tatsächlich die
Beteiligten am Transaktionsprozess ausreichend schüt-
zen. Im Gegensatz zu Ihnen bin ich der Meinung, dass wir
im Arbeitsrecht schon sehr weitgehende Schutzvorschrif-
ten haben – ich denke hier an § 613 a BGB mit einer sehr
exzessiven Rechtsprechung –; aber man kann darüber re-
den. Ich bin auch der Meinung, dass wir in Deutschland
beim Schutz der Minderheitsaktionäre im Gesellschafts-
recht sehr vorbildliche und weitreichende Regelungen
haben.

Aber wir müssen uns über das Wertpapierübernah-
megesetz unterhalten, was die Regierungsfraktionen im
Übrigen morgen tun werden: Wir werden morgen in ers-
ter Lesung ein Gesetz zum Anlegerschutz einbringen.
Dieses Gesetz enthält als einen ganz wichtigen Passus die
Regelungen zum Anschleichen. Der Kollege Middelberg
hat dies bereits erläutert: Anstatt transparent nach einem
anderen Unternehmen zu greifen, macht man es versteckt
über Derivative, und dann wird die ganze Sache zu einer
großen Überraschung. Dies hilft niemandem, weder dem
Markt noch den Arbeitnehmern noch dem Management,
und auch nicht dem Wirtschaftsstandort. Da gehen wir
heran.

Ich lade Sie herzlich ein: Wenn Ihnen dieses Thema
abgesehen vom Einzelfall Hochtief ernst ist, dann bera-
ten Sie mit, dann machen Sie Ihre eigenen Vorschläge,
dann lassen Sie uns im parlamentarischen Prozess da-
rüber reden. Denn ich bin davon überzeugt, dass wir,
wenn wir dieses Gesetz auf den Weg bringen und uns im
nächsten Jahr vernünftig an der Überprüfung der EU-
Übernahme-Richtlinie beteiligen werden, eine gute
Chance haben, im nächsten oder übernächsten Jahr, je
nachdem, wie lange es dauert, bessere Regelungen für
Übernahmen, ein transparenteres Regime und auch eine
höhere Rechtssicherheit für Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer sowie für den Wirtschaftsstandort Deutsch-
land zu erzielen. Was wir nicht machen sollten, sage ich
ganz ausdrücklich: So wichtig dieses Thema auch ist,
wir dürfen keine Schaudebatten führen, wir dürfen den
Menschen nicht Dinge versprechen, die wir nicht halten
können. Dies tut weder der Politik noch den Menschen
gut.

Danke.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1707107000

Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich dem

Kollegen Rolf Hempelmann für die SPD-Fraktion das
Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Rolf Hempelmann (SPD):
Rede ID: ID1707107100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! In der Tat, der Anlass für die
heutige Gesetzesinitiative der SPD-Bundestagsfraktion
ist der Fall Hochtief.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Ach so?)


– Ja, der Anlass. – Zahlreiche Wirtschaftsverbände ha-
ben aber sehr deutlich gemacht, dass es notwendig ist,
die Lücke im Übernahmegesetz so zu schließen,


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Welche Wirtschaftsverbände?)


wie wir es hier vorschlagen, weil es sonst beim Fall
Hochtief nicht bleiben wird. Es fallen Namen wie Infi-
neon, Rheinmetall, MTU Aero Engines usw. Von daher
sage ich: Ja, das ist der Anlass; aber vor allen Dingen
geht es darum, hier gleiches Recht in Europa zu schaf-
fen, damit von dieser Regelungslücke nicht auch noch
ganz andere Unternehmen in Deutschland betroffen sein
werden.


(Beifall bei der SPD – Dr. Volker Wissing [FDP]: Wer hat denn die Regelungslücke geschaffen?)


Weil dies der Anlass ist, lohnt sich auch ein Blick auf
das Unternehmen Hochtief. Was ist das für ein Unter-
nehmen? Es ist einer von zwei verbliebenen großen Bau-
dienstleistern in Deutschland: sehr erfolgreich in Deutsch-
land und in Europa, praktisch schuldenfrei, wirtschaftlich
absolut gesund, mit strategischen Projekten in Deutsch-
land und Europa und darüber hinaus, in Deutschland mit
11 000 Beschäftigten. Selbst der Vorsitzende des Vorstan-
des des größten Konkurrenten von Hochtief, Herbert
Bodner, Chef von Bilfinger Berger, lobt Hochtief als ei-





Rolf Hempelmann


(A) (C)



(D)(B)

nen Konzern mit einer hervorragenden Vernetzung mit
dem Mittelstand und dem Bauhandwerk;


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist auch der Präsident des Bauindustrieverbandes!)


ein Verlust dieses Konzerns bedeutete für die gesamte
Branche, dass dieses Netzwerk mit vielen Arbeitsplätzen
auch außerhalb des Unternehmens Hochtief automatisch
gefährdet wäre.

Schauen wir auf ACS, das Unternehmen, das hier die
Übernahme tätigen will. Es ist ein hochverschuldetes
spanisches Unternehmen – die Schulden beziffern sich
auf circa 10 Milliarden Euro –, unter Druck von den kre-
ditgebenden Banken. Deswegen hat man versucht, eine
Anleihe von ACS zu platzieren. Diese Anleiheplatzie-
rung ist geplatzt. Dies alles wissen Sie sehr genau. ACS
benötigt also ganz offensichtlich bei Hochtief vor allen
Dingen eins: die Finanzkraft dieses Unternehmens.

Wie geht ACS vor? Da brauchen wir nur zu schauen,
wie es ACS in der Vergangenheit auf dem spanischen
Markt gemacht hat: Sie kaufen sich zunächst mit einem
kleinen Anteil ein. Anschließend schleichen sie sich an
und erhöhen verdeckt diesen Anteil. Dann unterbreiten
sie ein unattraktives Übernahmeangebot, um über die
Schwelle von 30 Prozent zu kommen. Danach bauen sie
ihren Anteil weiter aus. Schließlich zerschlagen sie das
Unternehmen mit der Folge, dass Arbeitsplätze verloren
gehen.

Wie sieht heute ACS in Spanien aus? ACS hat
85 Prozent Leiharbeitsplätze und 15 Prozent feste Ar-
beitsplätze. Wer hier davon spricht, dass durch eine sol-
che Übernahme Arbeitsplätze in Deutschland – quasi au-
tomatisch – nicht gefährdet seien, der blendet die
Erfahrungen der Vergangenheit bewusst aus.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Patrick Döring [FDP]: Geht es jetzt um diesen Einzelfall?)


– Ich habe Ihnen gerade geschildert, dass dieser Fall der
Anlass für unseren Gesetzentwurf war. Ich habe aber
auch gesagt, dass es noch andere Fälle von Unternehmen
gibt, die nach Ansicht der Fachleute in gleicher Weise
gefährdet sind.

Worum geht es Hochtief? Herr Brüderle sagt: Wir ge-
ben kein Geld. – Das zeigt die Reflexe, wie sie auch im
Fall von Opel, Karstadt und Holzmann zu beobachten
waren. Aber genau diese Fälle sind mit Hochtief nicht
vergleichbar. Hochtief geht es eben nicht um Staats-
knete; es geht nicht um Geld.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Um Staatshilfe geht es!)


Es geht vielmehr um einen Lückenschluss im Übernah-
megesetz und um die Anpassung dieses Übernahmege-
setzes an europäische Standards.


(Beifall bei der SPD)

Hochtief will faire Rahmenbedingungen im Abwehr-
kampf gegen ein Unternehmen, das sich durch Anschlei-
chen in eine bessere Position bringen möchte.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Drei Jahre anschleichen?)


Worum geht es der SPD? Der SPD geht es darum, in
diesem Fall rechtzeitig zu handeln, aber auch für andere
Fälle vorzubeugen und dafür zu sorgen, dass solche
Übernahmen, bei denen der Arme sozusagen den Rei-
chen kauft, nicht die Regel werden.

Was sagen die Fachmedien? Was sagt zum Beispiel
der Spiegel?


(Patrick Döring [FDP]: Ein wirtschaftspolitisches Fachblatt!)


Er sagt nicht, dass wir das kopieren sollen, was etwa in
Spanien und Frankreich üblich ist. Herr Zapatero schal-
tete sich aktiv ein, als Eon sich darum bemühte, Endesa
zu übernehmen. Herr Sarkozy versuchte, die Pläne von
Siemens im Falle von Areva zu durchkreuzen. Das alles
wollen wir, die Öffentlichkeit und die begleitenden Me-
dien nicht. Aber es kann doch nicht sein, dass wir in
Deutschland diejenigen sind, die alle anderen einladen,
billig auf Einkaufstour zu gehen. Der Spiegel spricht
wörtlich von der „Perversion der Marktwirtschaft“. Dort
heißt es weiter:

Belohnt wird nicht der Tüchtige, … sondern der
Trickreiche, der die laschen deutschen Gesetze
nutzt, um seinen Konkurrenten zu einem Spottpreis
zu übernehmen.

Genau darauf zielt unser Gesetzesvorschlag ab.


(Beifall bei der SPD)


Herr Brinkhaus, wenn Sie es mit der Artikulation der
Sorgen wirklich ernst meinen, dann belassen Sie es nicht
dabei, diese Sorgen im Parlament auszudrücken, sondern
dann tun Sie rechtzeitig das Notwendige, indem Sie un-
serem Vorschlag folgen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1707107200

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/3481 und 17/3540 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 37 a bis 37 g sowie
Zusatzpunkte 2 a bis 2 d auf:

37 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur bestäti-
genden Regelung verschiedener steuerlicher
und verkehrsrechtlicher Vorschriften des
Haushaltsbegleitgesetzes 2004

– Drucksache 17/3632 –





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Än-
derungsprotokoll vom 25. Mai 2010 zum Ab-
kommen vom 17. Oktober 1962 zwischen der
Bundesrepublik Deutschland und Irland zur
Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur
Verhinderung der Steuerverkürzung bei den
Steuern vom Einkommen und vom Vermögen
sowie der Gewerbesteuer

– Drucksache 17/3358 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Umwandlungsgesetzes

– Drucksache 17/3122 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Harald Terpe, Birgitt Bender, Elisabeth
Scharfenberg, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Mehr Flexibilität und Transparenz bei der
Pandemiebekämpfung

– Drucksache 17/3544 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss

e) Beratung des Antrags der Fraktion der SPD

Das Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser
und Sanitärversorgung umsetzen

– Drucksache 17/3652 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr.
Anton Hofreiter, Winfried Hermann, Dr. Valerie
Wilms, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Modellversuche mit Gigalinern beenden –
Umweltorientierten Aktionsplan Güterver-
kehr und Logistik auf den Weg bringen

– Drucksache 17/3674 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Binder, Dr. Dietmar Bartsch, Herbert Behrens,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Akzeptanzprobleme bei der Rheintalbahn
durch offene Planung beseitigen

– Drucksache 17/3659 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Haushaltsausschuss

ZP 2 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heinz
Paula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Petra Crone, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Tierschutz bei Katzen verbessern

– Drucksache 17/3653 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Undine
Kurth (Quedlinburg), Cornelia Behm, Ulrike
Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Tierschutz stärken – Tierheime entlasten

– Drucksache 17/3543 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Renate Künast, Ulrike Höfken, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

zu dem Vorschlag für eine Richtlinie des Euro-
päischen Parlaments und des Rates über
Rechte der Verbraucher KOM(2008)614
endg.; Ratsdok. 14183/08

hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes

Modernes Verbraucherrecht für Europa ent-
wickeln

– Drucksache 17/3675 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Federführung strittig

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Tom Koenigs, Markus Kurth, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

Rechte indigener Völker stärken – ILO-Kon-
vention 169 ratifizieren

– Drucksache 17/3676 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.

Wir kommen zunächst zu den unstrittigen Überweisun-
gen. Das sind die Tagesordnungspunkte 37 a bis 37 g so-
wie Zusatzpunkte 2 a, 2 b und 2 d. Interfraktionell wird
vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Die Vorlage auf
Drucksache 17/3632 – das ist der Tagesordnungs-
punkt 37 a – soll federführend beim Finanzausschuss be-
raten werden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Wir kommen nun zu einer Vorlage, bei der die Fe-
derführung strittig ist. Es handelt sich um den Zusatz-
punkt 2 c. Interfraktionell wird Überweisung der Vor-
lage auf Drucksache 17/3675 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Fraktionen
der CDU/CSU und FDP wünschen Federführung beim
Rechtsausschuss. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
wünscht Federführung beim Ausschuss für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz.

Ich lasse zunächst über den Überweisungsvorschlag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen – Federführung
beim Landwirtschaftsausschuss – abstimmen. Wer
stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Überweisungs-
vorschlag ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und
FDP gegen die Stimmen von Linken und Grünen abge-
lehnt.

Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
Fraktionen CDU/CSU und FDP – Federführung beim
Rechtsausschuss – abstimmen. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit dem
gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 38 a bis 38 q auf.
Es handelt sich um die Beschlussfassung zu Vorlagen,
zu denen keine Aussprache vorgesehen ist.

Zunächst Tagesordnungspunkt 38 a:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zu dem Übereinkommen vom 9. Juni 2006 zwi-
schen der Europäischen Gemeinschaft und ih-
ren Mitgliedstaaten, der Republik Albanien,
Bosnien und Herzegowina, der Republik Bul-
garien, der ehemaligen jugoslawischen Repu-
blik Mazedonien, der Republik Island, der Re-
publik Kroatien, der Republik Montenegro,
dem Königreich Norwegen, Rumänien, der
Republik Serbien und der Übergangsverwal-
tung der Vereinten Nationen in Kosovo zur
Schaffung eines gemeinsamen europäischen

(Vertragsgesetz ECAAÜbereinkommen – ECAAÜbkG)

– Drucksache 17/2068 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

(15. Ausschuss)

– Drucksache 17/3396 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrike Gottschalck

Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
lung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/3396, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 17/2068 anzunehmen. Ich bitte
diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen,
um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera-
tung bei Enthaltung der Linksfraktion mit den Stimmen
der übrigen Fraktionen angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit den Stimmen des Hauses bei Stimmenthal-
tung der Fraktion Die Linke angenommen.

Tagesordnungspunkt 38 b:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Aufhebung des Freihafens Hamburg
– Drucksache 17/3353 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)

– Drucksache 17/3682 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Patricia Lips
Dr. Carsten Sieling
Dr. Birgit Reinemund

Der Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/3682, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3353 an-
zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung einstimmig angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist damit ebenso einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 38 c:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Vereinbarung vom 20. April 2010 zwi-
schen der Regierung der Bundesrepublik
Deutschland und der Regierung von Quebec
über Soziale Sicherheit
– Drucksache 17/3120 –





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Arbeit und Soziales (11. Ausschuss)


– Drucksache 17/3575 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Josip Juratovic

Der Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3575,
den Gesetzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache
17/3120 anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-
setzentwurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist in zweiter Beratung einstimmig angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist in dritter Beratung einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 38 d:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom
24. Oktober 2008 zwischen der Regierung der
Bundesrepublik Deutschland, der Regierung
des Königreichs Belgien, der Regierung der
Französischen Republik und der Regierung
des Großherzogtums Luxemburg zur Einrich-
tung und zum Betrieb eines Gemeinsamen
Zentrums der Polizei- und Zollzusammenar-
beit im gemeinsamen Grenzgebiet

– Drucksache 17/3117 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)


– Drucksache 17/3500 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Armin Schuster (Weil am Rhein)

Wolfgang Gunkel
Gisela Piltz
Ulla Jelpke
Wolfgang Wieland

Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/3500, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3117 an-
zunehmen.

Zweite Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP
gegen die Stimmen der Fraktionen Die Linke und Bünd-
nis 90/Die Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 38 e:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom
9. März 2009 zwischen der Regierung der
Bundesrepublik Deutschland und der Regie-
rung der Französischen Republik über die Zu-
sammenarbeit im Bereich der Sicherheit im
Luftraum bei Bedrohungen durch zivile Luft-
fahrzeuge

– Drucksache 17/3125 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Verteidi-
gungsausschusses (12. Ausschuss)


– Drucksache 17/3661 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Florian Hahn
Michael Groschek
Joachim Spatz
Paul Schäfer (Köln)

Omid Nouripour

Der Verteidigungsausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/3661, den Gesetz-
entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3125
anzunehmen.

Zweite Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP
gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der Grü-
nen angenommen.

Tagesordnungspunkt 38 f:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der
Verordnung der Bundesregierung

Verordnung zur Anpassung umweltrechtlicher
Verordnungen an die Terminologie der Ver-
ordnung (EG) Nr. 1272/2008

– Drucksachen 17/3476, 17/3578 Nr. 2, 17/3657 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Paul
Dr. Matthias Miersch
Dr. Lutz Knopek
Ralph Lenkert
Dorothea Steiner

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/3657, der Verordnung auf
Drucksache 17/3476 zuzustimmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men des Hauses gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke angenommen.

Tagesordnungspunkte 38 g bis 38 q. Wir kommen zu
den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

Tagesordnungspunkt 38 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 153 zu Petitionen

– Drucksache 17/3455 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 153 ist einstimmig an-
genommen.

Tagesordnungspunkt 38 h:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 154 zu Petitionen

– Drucksache 17/3456 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 154 ist einstimmig an-
genommen.

Tagesordnungspunkt 38 i:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 155 zu Petitionen

– Drucksache 17/3457 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 155 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der
Linken bei Enthaltung der Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 38 j:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 156 zu Petitionen

– Drucksache 17/3458 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 156 ist einstimmig an-
genommen.

Tagesordnungspunkt 38 k:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 157 zu Petitionen

– Drucksache 17/3459 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Sammelübersicht 157 ist mit den Stimmen
des Hauses gegen die Stimmen der Linken angenom-
men.

Tagesordnungspunkt 38 l:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 158 zu Petitionen

– Drucksache 17/3460 –
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 158 ist mit den Stimmen
des Hauses gegen die Stimmen der SPD-Fraktion ange-
nommen.

Tagesordnungspunkt 38 m:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 159 zu Petitionen

– Drucksache 17/3461 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 159 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, FDP und Grünen gegen die Stimmen
der SPD bei Enthaltung der Linken angenommen.

Tagesordnungspunkt 38 n:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 160 zu Petitionen

– Drucksache 17/3462 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 160 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen von
Linken und Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 38 o:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 161 zu Petitionen

– Drucksache 17/3463 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 161 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen
von SPD und Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 38 p:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 162 zu Petitionen

– Drucksache 17/3464 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 162 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen von SPD
und Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen.

Tagesordnungspunkt 38 q:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 163 zu Petitionen

– Drucksache 17/3465 –

Hierzu liegt eine Erklärung gemäß § 31 der Geschäfts-
ordnung des Abgeordneten Ilja Seifert schriftlich vor.1)

1) Anlage 2





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

Wer stimmt für die Sammelübersicht 163? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Sammelüber-
sicht 163 ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfrak-
tionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfraktio-
nen angenommen.

Damit sind wir am Schluss dieser Abstimmungs-
runde.

Ich rufe Zusatzpunkt 3 auf:

Aktuelle Stunde

auf Verlangen der Fraktion der SPD

Meinungsverschiedenheiten innerhalb der
Bundesregierung über die Reform der Kom-
munalfinanzen

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Joachim Poß für die SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Joachim Poß (SPD):
Rede ID: ID1707107300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Steuerpolitik bleibt der zentrale Brandherd in der
schwarz-gelben Koalition. Nur bei einer steuerpoliti-
schen Frage hat es in der schwarz-gelben Regierungsko-
alition einen inhaltlichen Konsens gegeben, nämlich bei
der Hotelsteuer und den Privilegien für Unternehmen
und Unternehmenserben. Das war der einzige Fall, bei
dem es Übereinstimmung gab. Ansonsten setzt sich auch
bei den kommunalen Steuern der permanente Streit in
der Koalition nahtlos fort. Auch das Gerede von Frau
Merkel vom Neuanfang nach dem Sommer, vom Ende
des stetigen und quälenden Koalitionsstreits – bei eini-
gen hier sieht man, dass es sich schon in den Gesichtern
abbildet, wie anstrengend dieser Streit ist – und der ge-
genseitigen Angriffe, das war eben nur Gerede und der
Versuch, in der Öffentlichkeit eine etwas bessere Mei-
nung über Schwarz-Gelb zu schaffen. Gelungen ist das
nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Zur Sache!)


– Was heißt hier „zur Sache“? Gibt es denn eine wichti-
gere Sache, als dass die deutsche Bevölkerung erwarten
kann, als dass die Wählerinnen und Wähler erwarten
können, dass wir hier von Ihnen eine klare Aussage, eine
klare Linie in der Frage der Kommunalfinanzen bekom-
men, die mit über die Lebensqualität vor Ort entschei-
den? Gibt es denn eine wichtigere Sache, meine Damen
und Herren? Überlegen Sie sich mal solche Zwischen-
rufe.


(Zuruf von der CDU/CSU: Ja, eben!)


Es bleibt bestehen, was es da an Dissens gibt.

Da hat es der Bundesfinanzminister doch tatsächlich
gewagt, die Gewerbesteuer bis auf Weiteres für unantast-
bar zu erklären, ohne Herrn Brüderle und Herrn
Westerwelle zu fragen. Die gesamte FDP-Bundestags-
fraktion ist hier richtig sauer, von Herrn Schäuble so
schnöde übergangen worden zu sein. Sie hat sogar einen
entsprechenden einstimmigen Beschluss gefasst.
Um es für die SPD ganz deutlich zu sagen: Wir begrü-
ßen diesen Bestandsschutz für die Gewerbesteuer aus-
drücklich.


(Beifall bei der SPD)


Wir begrüßen ausdrücklich, dass Herr Schäuble jetzt of-
fensichtlich zu der Einsicht gelangt ist, dass die Gewer-
besteuer derzeit weder ausgehöhlt noch abgeschafft wer-
den darf. Persönlich vertritt er übrigens seit Jahrzehnten
eine andere Meinung. Ich hoffe allerdings, dass auf das
Wort des Bundesfinanzministers gegenüber den kommu-
nalen Spitzenverbänden auch tatsächlich Verlass ist und
hier nicht wieder übel getrickst wird.

Auch die Bundeskanzlerin hat gegenüber den Kom-
munen den Weiterbestand der Gewerbesteuer zugesi-
chert. Aber was gilt das Wort von beiden in der zerstrit-
tenen und unübersichtlichen schwarz-gelben Koalition
überhaupt noch? Die sofortige und geharnischte Ableh-
nung von Schäubles Gewerbesteuergarantie durch die
FDP bedeutet nicht Gutes. Die FDP will die Gewerbe-
steuer weg haben, koste es, was es wolle, und koste es
auch in den Kommunen die Einbuße an Lebensqualität
und Infrastruktur für die Bürgerinnen und Bürger.


(Patrick Döring [FDP]: Ist doch Quatsch! Sie sollten unser Programm mal lesen!)


Ihnen ist das egal, wenn Sie nur Ihre Klientel- und Lob-
bypolitik hier im Deutschen Bundestag konsequent um-
setzen können.


(Beifall bei der SPD)


Auch in CSU und CDU wird immer noch verlangt,
dass die Unternehmensteuerreform, die wir zum Jahre
2008 gemeinsam gemacht haben, im Interesse der Unter-
nehmen wieder aufgeribbelt wird. Dabei waren wir uns
in der Großen Koalition mit den Finanz- und Kommu-
nalpolitikern der Union und mit Herrn Kauder einig, die
Gewerbesteuer zur eigentlichen Unternehmensteuer zu
machen, weil die Körperschaftsteuer das in der globali-
sierten Wirtschaftswelt auf Dauer nicht mehr hergibt. Ich
fordere die Spitzen von CDU und CSU auf, sich daran
zu erinnern und diese richtige steuerpolitische Linie wei-
ter zu verfolgen.

Der zweite Vorschlag – das kommunale Zuschlags-
recht auf die Einkommensteuer – führt nicht weiter. Es
gibt dazu Untersuchungen aus über drei Jahrzehnten, die
immer zu dem Ergebnis „untauglich“ kamen. Das ist ein
Spaltervorschlag, mit dem zwischen strukturschwachen
Städten und Gemeinden auf der einen Seite und struktur-
starken auf der anderen Seite gespalten wird.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das können Sie gleich einpacken, meine Damen und
Herren, und zwar sowohl aus fachlichen als auch aus
politischen Gründen.

Wir müssen sehen, dass wir trotz der aktuellen Erho-
lung der Einnahmen – auch der Einnahmen der Gemein-
den – den Level von 2008 noch nicht wieder erreicht
haben und die strukturellen Finanzprobleme der Ge-
meinden weiterhin bestehen.





Joachim Poß


(A) (C)



(D)(B)

Die Bundeskanzlerin und der Bundesfinanzminister
sagen jetzt, dass sie die Kommunen bei den Sozialausga-
ben finanziell entlasten wollen. Die SPD hat das auf ih-
rem letzten Parteitag bereits so beschlossen. Deswegen
können wir schon heute in der Bereinigungssitzung des
Haushaltsausschusses und dann im Plenum des Deut-
schen Bundestages gemeinsam mit den Ankündigungen
Ernst machen


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


und die Kommunen zum Beispiel bei den Kosten der
Unterkunft oder bei der Grundsicherung im Alter entlas-
ten.

Wir können mit der Hilfe für die Kommunen auch
Ernst machen, indem wir die schwarz-gelben Kürzungen
bei der Städtebauförderung zurücknehmen. Die Pro-
gramme im Rahmen der Städtebauförderung sind auch
ein wichtiges Stück Sozialpolitik in den Kommunen. Es
geht nicht nur um Investitionen, sondern auch um den
Zusammenhalt in vielen Stadtteilen, in denen dies nötig
ist.

Wir können den Kommunen also helfen. Dafür brau-
chen wir aber Ihre Stimmen. Wir werden sehen, ob wir
sie bekommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1707107400

Ich erteile das Wort dem Parlamentarischen Staatsse-

kretär im Finanzministerium Hartmut Koschyk.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


H
Hartmut Koschyk (CSU):
Rede ID: ID1707107500


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Herr Poß, so ist es immer, wenn die SPD im
Deutschen Bundestag Debatten über die Zukunft der fi-
nanziellen Situation unserer Kommunen beantragt: Es
gibt nur lautes Getöse und Klamauk, aber es gibt über-
haupt nichts an Substanz, das unseren Kommunen zu
mehr Entlastung auf der Ausgabenseite verhilft und ihre
Einnahmesituation stetig und kontinuierlich verbessert.
Sie haben viel Lärm gemacht, aber Sie haben überhaupt
nichts an Substanz geboten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das wissen die Kommunen besser!)


Diese Bundesregierung hat eine Regierungskommis-
sion eingesetzt, die sowohl die Einnahmesituation der
Kommunen als auch die Ausgabenseite der Kommunen
betrachten soll, die sich aber auch um eine Verbesserung
der Rechtsstellung der Kommunen bemüht. Denn viel zu
oft werden europäische und bundesgesetzliche Vorgaben
auf den Weg gebracht, ohne danach zu fragen, was es die
Kommunen kostet. Darin, lieber Herr Poß, ist Ihre Frak-
tion gemeinsam mit den Grünen Meister in Deutschland
gewesen, als Sie in Regierungsverantwortung waren. Sie
haben die Grundsicherung im Alter eingeführt, ohne den
Kommunen dafür genug Geld in die Hand zu geben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt doch gar nicht!)


Sie haben bei den Kosten der Unterkunft immer zulasten
der Kommunen gespart. Es war Ihr Minister, Herr
Clement, der im Jahr 2005 den Anteil des Bundes bei
den Kosten der Unterkunft auf null setzen wollte.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die SPD trägt die Verantwortung für diese Lasten. Sie
wurden den Kommunen aufgebürdet und nicht durch
entsprechende Mittel aus dem Bundeshaushalt ausgegli-
chen.

Wir wollen das Problem jetzt grundsätzlich lösen.
Lieber Herr Poß, wiegen Sie die Kommunen nicht in ei-
ner falschen Sicherheit bezüglich der Gewerbesteuer.
Bundesminister Schäuble hat bei dem Gespräch mit den
Kommunen, das diese erbeten hatten, auf eines hinge-
wiesen, nämlich darauf, dass wir eine Rechtsprechung
haben, vor der auch Sie die Augen nicht verschließen
können. Ich denke an das BFH-Urteil vom Juni dieses
Jahres. Erweiterte Verrechnungsmöglichkeiten auch aus-
ländischer Verluste zulasten der Gewerbesteuer werden
zunehmend durch die Rechtsprechung des Bundesfi-
nanzhofs anerkannt.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Das heißt, die Gewerbesteuer in ihrer gegenwärtigen
Form ist auch im Hinblick auf Tendenzen in der deutschen
Finanzgerichtsrechtsprechung und auf europäische Ent-
wicklungen längst unter Druck. Das gilt insbesondere im
Hinblick auf gewerbesteuerliche Verlustvorträge in be-
trächtlicher Höhe, die das künftige Gewerbesteuerauf-
kommen gefährden, insbesondere wenn die von mir er-
wähnte Rechtsprechung anhält und sich verfestigen
sollte. Deshalb muss man grundsätzlich über das Pro-
blem sprechen.


(Joachim Poß [SPD]: Das ist eine politische Drohung!)


Wir werben dafür, dass wir mit den Kommunen in dieser
Kommission möglichst gemeinsam zu einer Lösung
kommen.

Ich möchte jetzt noch eine andere Frage stellen. Die
Kommunen brauchen doch mehr Autonomie, sowohl auf
der Ausgabenseite als auch auf der Einnahmeseite.


(Bernd Scheelen [SPD]: Wer sagt das?)


– Das wollen die Kommunen, lieber Herr Scheelen.


(Bernd Scheelen [SPD]: Das wollen die Länder nicht, und die Kommunen wollen es auch nicht!)


Ich habe an den beiden Sitzungen der Gemeindereform-
kommission teilgenommen. Dort haben vor allem die
Kommunen darum gebeten, dass wir ihnen auch im Hin-
blick auf die Sozialstandards, also bezüglich ihrer Situa-





Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk


(A) (C)



(D)(B)

tion auf der Ausgabenseite, größere Spielräume an die
Hand geben.


(Joachim Poß [SPD]: Das ist doch etwas ganz anderes!)


Diese Bundesregierung hat gehandelt. Es war der
Bundesfinanzminister,


(Joachim Poß [SPD]: CDU-Leute sind für Ablenkung immer gut!)


der gesagt hat, dass er den Kommunen bei der im Ge-
setzgebungsverfahren befindlichen Neuregelung der Re-
gelsätze für SGB-II-Empfänger durch Satzungsrecht die
Möglichkeit an die Hand geben will, bei den Kosten der
Unterkunft größere Spielräume zu bekommen, auch mit
Blick auf die Festlegung einer regional unterschiedli-
chen Höhe der Regelsätze. Das ist ein erster wichtiger
Schritt.

Die Arbeitsgruppe „Standards“ der Gemeindereform-
kommission hat fast 100 Vorschläge zusammengetragen,
um die Kommunen auf der Ausgabenseite zu entlasten.
Wir wollen den Kommunen aber auch auf der Einnah-
meseite größere Spielräume und mehr Gestaltungshoheit
ermöglichen.

Lieber Herr Poß, dass Sie den Vorschlag, über ein Zu-
schlagsrecht, ein Gestaltungsrecht, bei der Einkommen-
steuer nachzudenken, mit einem einzigen Satz abgebü-
gelt haben, zeigt, wie leicht Sie es sich in dieser Sache
machen.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Darüber haben wir schon länger nachgedacht!)


– Nein, Sie haben nicht darüber nachgedacht.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Natürlich! Schon vor Jahren!)


Wenn Sie darüber nachgedacht hätten, dann würden Sie
diese Möglichkeit nicht von vornherein zu den Akten le-
gen.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Wir haben doch schon im Rahmen der Föderalismuskommission gesagt, dass das viel günstiger wäre!)


Bei der Gewerbesteuer haben die Kommunen Gestal-
tungsmöglichkeiten. Dieser Gewerbesteuerwettbewerb
wirkt sich dämpfend aus. Warum soll es einen solchen
gesunden Wettbewerb, bei dem es um mehr Gestaltungs-
möglichkeiten der Kommunen geht, nicht auch bei der
Einkommensteuer geben? Sie sind nicht daran interes-
siert, weil Sie kommunale Selbstverwaltung mit Gestal-
tungsmöglichkeiten der Kommunen auf der Einnahme-
wie der Ausgabenseite in Wahrheit gar nicht wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei der SPD)


Sie wollen, dass die Kommunen auf Dauer Subsi-
dienempfänger sind und ihr Schicksal sowohl auf der
Einnahme- als auch auf der Ausgabenseite nicht selbst in
die Hand nehmen können.


(Joachim Poß [SPD]: Wovon reden wir denn die ganze Zeit?)

Wir wollen mit der Politik, die darin besteht, die
Kommunen zu alimentieren und am Tropf zu halten,
Schluss machen.


(Nicolette Kressl [SPD]: Glauben Sie eigentlich, was Sie da erzählen? Das glauben Sie doch wohl selbst nicht!)


Wir wollen mit den Kommunen zu einvernehmlichen
Lösungen kommen. Wir wollen, dass sie mehr Gestal-
tungsmöglichkeiten auf der Einnahmeseite bekommen,
dass sich ihre Einnahmesituation verbessert und dass sie
nicht von der volatilen Entwicklung bei den Steuerein-
nahmen abhängig sind.


(Nicolette Kressl [SPD]: Keine Ahnung, der Mann!)


Sie sollen aber auch auf der Ausgabenseite mehr Gestal-
tungsmöglichkeiten bekommen.

Wir werden zu Ergebnissen kommen, die für die
Kommunen eine bessere Zukunft bedeuten. Als Sie in
Deutschland regiert haben, haben Sie das nie geschafft.
Wir allerdings werden für eine bessere Zukunft der
Kommunen sorgen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Joachim Poß [SPD]: Wir haben diese Regelung doch gemeinsam getroffen! Sie haben wohl vergessen, was im Jahre 1998 war! – Nicolette Kressl [SPD]: So ein Blödsinn! – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Sie haben zwar immer mit dem Finger auf uns gezeigt, aber gemeint haben Sie andere!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1707107600

Das Wort hat nun Katrin Kunert für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Kunert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707107700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Koschyk, heute ist der 11. November. War das ge-
rade der Einstieg in den Karneval?


(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN und der SPD – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/ CSU]: Unglaublich! Sie vergleichen die Situation der Kommunen mit Fasching! – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Werden Sie mal ernsthaft! Oder sind Sie die Faschingsprinzessin?)


Die Kommunen sind in Not. In vielen Resolutionen,
die unsere Büros erreichen, wird deutlich, dass die Le-
bensqualität in den Kommunen so nicht aufrechterhalten
werden kann – und die Bundesregierung streitet sich.
Die Kommunen sind in Not, weil beim Kernstück der
kommunalen Selbstverwaltung, den sogenannten frei-
willigen Aufgaben, immer mehr gestrichen wird. Kultur-
und Sportförderung, Seniorenbetreuung, Kinder- und Ju-
gendarbeit, Bibliotheken oder Ausbildungen im öffentli-





Katrin Kunert


(A) (C)



(D)(B)

chen Dienst sind vor Ort kaum noch aufrechtzuerhalten.
Das ist die Realität.

Die Koalition sagt, eine vernünftige Reform der
Kommunalfinanzen sei ihr ein wichtiges Anliegen. Die
Bundesregierung hat eine Gemeindefinanzkommission
eingerichtet. Diese Kommission soll Vorschläge zur Lö-
sung der drängenden Probleme des kommunalen Finanz-
systems erarbeiten und bewerten. Geprüft werden soll
ein Vorschlag der FDP, die die Gewerbesteuer abschaf-
fen will. Geprüft werden soll auch ein Vorschlag der
Kommunen, die die Gewerbesteuer weiterentwickeln
wollen.

Soweit bekannt ist, hat die Gemeindefinanzkommis-
sion ihre Arbeit noch nicht beendet. Bisher hieß es von-
seiten der Koalition immer, man müsse erst die Ergeb-
nisse der Arbeit der Kommission abwarten, ehe eine
öffentliche Debatte über die Zukunft der Kommunal-
finanzen geführt werden könne. Deshalb lehnten die Ko-
alitionsfraktionen im Finanzausschuss unseren Antrag,
die Gewerbesteuer zu einer Gemeindewirtschaftsteuer
auszubauen, ab. Gemeindewirtschaftsteuer bedeutet:
Alle, die in einer Gemeinde wirtschaften, sollen sich an
dieser Steuer beteiligen. Wir sagen: Das ist der richtige
Weg.


(Beifall bei der LINKEN)


Auch hier lautete die Begründung der Ablehnung,
man könne der Kommission doch nicht vorgreifen. Die
Bundesregierung habe diese Kommission gebildet, um
prüfen zu lassen, ob die Gewerbesteuer auch durch an-
dere Steuern ersetzt werden könne.

Doch in der letzten Woche preschte Ihr Finanzminis-
ter vor, und er ließ einen Testballon steigen. Er bietet den
Kommunen ein vergiftetes Geschenk an; vergiftet des-
halb, weil die Schere zwischen armen und reichen Kom-
munen durch diesen Wettbewerb weiter geöffnet wird.
Das kann nicht wirklich ihr Ernst sein.


(Beifall bei der LINKEN)


Da die Kommunen gegen die Abschaffung der Ge-
werbesteuer sind und die CDU/CSU immer gesagt hat,
sie werde nichts gegen die Kommunen beschließen, will
der Finanzminister die Kommunen nun ködern. Die FDP
lehnt diesen Vorstoß ab und will sich nun am 18. No-
vember 2010 im Koalitionsausschuss damit befassen.

Die Gemeindefinanzkommission arbeitet immer hin-
ter verschlossenen Türen. Herr Schäuble und Herr
de Maizière haben sich bisher immer geweigert, die zu-
ständigen Gremien des Bundestages über ihre Arbeit zu
unterrichten.


(Patrick Döring [FDP]: Er hat doch gerade geredet!)


Die Linke hat von Anfang an gefordert, die Arbeit dieser
Kommission transparent zu gestalten.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: So ist das!)


Die Gremien des Bundestages und die Öffentlichkeit
müssen regelmäßig informiert werden.

(Dr. Daniel Volk [FDP]: Das machen wir doch! – Gegenruf des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Weil wir das immer beantragen!)


– Deshalb streiten Sie sich auch, Herr Kollege Volk. –
Schwarz-Gelb bevorzugt aber das stille Kämmerlein und
kommt trotzdem zu keinem guten Ergebnis für die Kom-
munen.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das passt doch überhaupt nicht!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP, Sie sind
doch so sehr für Lobbyarbeit. Warum haben die Kom-
munen in puncto Gewerbesteuer keine Lobby bei Ihnen?
Das frage ich Sie wirklich.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Weil die Gewerbesteuer eine volatile Einnahmequelle ist! – Gegenruf des Abg. Bernd Scheelen [SPD]: Davon hat der Volk doch keine Ahnung!)


Bei Ihrem Streit in der Koalition geht derzeit auch
vollkommen unter, dass wir im Bundestag nach wie vor
über Gesetzentwürfe diskutieren und Gesetze beschlie-
ßen, die zu weiteren Mehrausgaben bei den Kommunen
führen werden. Ich will Ihnen nur ein Beispiel nennen:
In Tagesordnungspunkt 24 geht es heute um den Gesetz-
entwurf zur Änderung des Vormundschafts- und Betreu-
ungsrechts. Für die Betroffenen ist das völlig in Ord-
nung; der Betreuungsschlüssel wird verbessert, weil er
verkleinert wird. Dies führt aber genau zu einer Verdop-
pelung der Personalkosten bei den Kommunen. Das ver-
gessen Sie bei diesem Streit völlig.

Die Aufgaben, die von den Kommunen zu erledigen
sind, werden vom Bund immer mehr ausgeweitet. Dabei
denken Sie nicht im Geringsten an eine angemessene Fi-
nanzierung. Wenn der Bund all das bezahlen würde, was
hier beschlossen wird, dann wäre den Kommunen die
größte finanzielle Last genommen. Das müsste doch ei-
gentlich der richtige Weg sein.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke fordert erstens, die Gewerbesteuer zu einer
Gemeindewirtschaftsteuer weiterzuentwickeln. Im Übri-
gen ist es sehr bemerkenswert, dass der Landtag in NRW
den Antrag der Linken angenommen hat, die Gewerbe-
steuer zur Gemeindewirtschaftsteuer weiterzuentwi-
ckeln. Ich hoffe, dass Sie im Bundesrat aktiv werden, um
der Gemeindefinanzkommission etwas Unterstützung zu
leisten.

Zweitens wollen wir, dass der Bund die Aufgaben, die
er bestimmt, auch mitfinanziert.

Drittens fordern wir nach wie vor ein verbindliches
Mitwirkungsrecht der Kommunen bei der Gesetzgebung
hier im Bundestag.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Daniel Volk [FDP]: Also Rot-Rot-Grün! – Joachim Poß [SPD]: Da hat Röttgen viel zu tun! 20 Milliarden hat die CDU in NRW gefordert!)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1707107800

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Volker Wissing

von der FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1707107900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

will zunächst einmal zurückweisen, dass die Gremien
des Bundestages von der Bundesregierung nicht über die
Arbeit dieser Gemeindefinanzkommission unterrichtet
werden.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Weil wir das auf die Tagesordnung setzen!)


Das wissen Sie möglicherweise nicht, Frau Kollegin,
weil Sie den betreffenden Gremien nicht angehören. Der
Staatssekretär unterrichtet im Finanzausschuss regelmä-
ßig über den Fortgang, und uns werden auch entspre-
chende Dokumente zur Verfügung gestellt. Ich bin mir
sicher, die Kolleginnen und Kollegen Ihrer Fraktion wer-
den sie an Sie weiterleiten. Wenn Sie Interesse daran ha-
ben, dann können Sie das nachlesen.


(Beifall bei der FDP)


Ich möchte zur Versachlichung zunächst eines sagen:
Es gibt auf allen Ebenen erhebliche Probleme – auch kri-
senbedingt –, die in den nächsten Jahren erfreulicher-
weise geringer werden, weil wir mit Steuermehreinnah-
men rechnen können. Wir sind froh, dass wir ein so
gesundes Wirtschaftswachstum in Deutschland haben,
dass die Entscheidungen dieser christlich-liberalen Ko-
alition Früchte tragen und dass wir niedrige Arbeitslo-
senzahlen haben.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Schuldenwachstumsbeschleunigungsgesetz!)


Fest steht, dass die Kommunen bei den Einnahmen
bereits im Jahr 2012 wieder das Vorkrisenniveau errei-
chen, während der Bund dieses erst im Jahr 2013 er-
reicht. Es ist also nicht so, wie der Kollege Poß das im-
mer darzustellen versucht, dass nämlich das größte
Einnahmeproblem auf kommunaler Ebene besteht. Das
muss man einmal festhalten.

Trotzdem hat die christlich-liberale Koalition gesagt:
Wir müssen dauerhaft stabile Einnahmen bei den Kom-
munen erreichen. Wir wollen eine Reformkommission
einsetzen, die sich um das Problem der Schwäche der
Gewerbesteuer kümmert.

Bei der Gewerbesteuer besteht das Problem, dass sie
in konjunkturellen Schwächephasen wegbricht, während
die Ausgaben der Kommunen konstant bleiben. Das be-
trifft übrigens nicht alle Kommunen. Ausgerechnet die-
jenigen, deren Oberbürgermeister in den kommunalen
Spitzenverbänden aktiv sind, haben das Problem nicht.
Deswegen appelliere ich an alle Bürgermeisterinnen und
Bürgermeister, die Probleme mit der Gewerbesteuer ha-
ben, sich für Reformen offen zu zeigen; denn diese brau-
chen wir.


(Beifall bei der FDP)

Man kann wie die SPD die Augen vor dem Problem
verschließen – das haben Sie jahrelang getan –, oder
man kann einen so wenig kreativen Vorschlag bringen
wie die Verstetigung der Gewerbesteuer, wie es die SPD
von morgens bis abends predigt. Für die vielen Zuhörer
am Bildschirm wie auch in diesem Saal will ich erläu-
tern, was „Verstetigung der Gewerbesteuer“ bedeutet:
Wenn die Einnahmen der Unternehmen nicht ausreichen,
um genügend Steuern erwirtschaften zu können, dann
muss man eben auch Steuern auf die Ausgaben der Un-
ternehmen erheben. Das ist der Vorschlag der SPD.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Genauso ist es! Substanzbesteuerung! – Thomas Oppermann [SPD]: Sie wissen genau, dass das nicht stimmt!)


Das bedeutet, dass die Unternehmen, wenn ihre Ge-
winne in einer Krise zurückgehen, die Steuern aus ihrer
Substanz bezahlen und daher Arbeitsplätze abbauen
müssen. Das gefährdet den sozialen Zusammenhalt un-
serer Gesellschaft.

Dazu sagt die FDP: Das kann kein fairer Weg für
Deutschland sein. Deswegen haben wir die Substanzbe-
steuerung, die Sie als Scheinlösung auf dem Rücken der
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer eingeführt ha-
ben, zum 1. Januar 2010 wieder beseitigt. Das ist eine
der Ursachen, weshalb die Arbeitslosenzahlen in
Deutschland stark rückläufig sind.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Joachim Poß [SPD]: Das ist ja wirr! Jetzt wird es konfus!)


Deswegen können wir auch nicht zu Ihrem falschen Weg
zurückkehren. Wir müssen vielmehr den richtigen Weg
der christlich-liberalen Koalition fortsetzen: Ertragsbe-
steuerung statt Substanzbesteuerung.


(Beifall bei der FDP – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Es geht nicht um Substanzbesteuerung!)


Damit stehen Sie, Herr Kollege Poß, und Ihre ganze
Fraktion nackt da, weil Ihr vermeintlicher Vorschlag als
Pseudolösung entlarvt ist und Sie nichts anderes anzu-
bieten haben.


(Beifall bei der FDP – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Aber Sie können ja mal ein Wort zur Konzernbesteuerung sagen, was Sie da angerichtet haben!)


Deswegen ist die Gewerbesteuer ein Problem. Man
kann nicht wie die Kommunen in der Finanzreformkom-
mission sagen: Wir haben ein Problem mit der Gewerbe-
steuer, aber bevor wir darüber reden, sagen wir gleich,
dass die Gewerbesteuer bleiben muss. – Das akzeptieren
wir nicht. Denn der Kern des Problems liegt in der Vola-
tilität dieser Steuer. Deshalb muss man, wenn man das
Problem nachhaltig lösen will, diese Steuer infrage stel-
len. Genau das tut die FDP.


(Beifall bei der FDP)


Sie konstruieren jetzt einen Riesenstreit.


(Bernd Scheelen [SPD]: Unglaublich!)






Dr. Volker Wissing


(A) (C)



(D)(B)

Bei allen Steuerfragen – ob nun unter Rot-Grün oder
Rot-Schwarz – sagt die SPD: Das haben wir nur deshalb
mitgemacht, weil wir dazu gezwungen worden sind.


(Lachen der Abg. Nicolette Kressl [SPD])


Die FDP verhält sich nicht so wie Sie. Wir tragen den
faulen Kompromiss, den die Kommunen der Bundesre-
gierung aufs Auge zu drücken versuchen, nicht mit. Wir
sagen von vornherein Nein. Denn was die Kommunen
wollen, nämlich eine Verstetigung der Gewerbesteuer
und eine Lösung zulasten der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer durch Erhöhung der Einkommensteuer,


(Nicolette Kressl [SPD]: Das ist Kabarett!)


ist nicht der Weg, den wir uns vorstellen. Wir wollen
eine substanzielle und nachhaltige Lösung, aber nicht
auf dem Rücken der Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer. Wir wollen auch keine Lösung, wie Sie sie vor-
schlagen, die Arbeitsplätze gefährdet.


(Joachim Poß [SPD]: Wie kann man nur den ganzen Tag lang so viel Unsinn erzählen?)


Wir sind froh, dass durch diese Koalition wieder Sta-
bilität am Arbeitsmarkt erreicht werden konnte. Was Sie
vorschlagen, bedeutet die Rückkehr zu den Problemen,
die wir unter Rot-Grün und der Großen Koalition hatten.
Die wird es aber nicht mehr geben.


(Thomas Oppermann [SPD]: Was schlagen Sie denn vor? Wir haben noch keinen Vorschlag gehört! Was ist die FDP-Position? – Joachim Poß [SPD]: Der redet nur drum herum!)


Deswegen gibt es das klare Votum der FDP-Fraktion.

Jetzt muss in der Reformkommission ein konstrukti-
ver und nachhaltiger Vorschlag erarbeitet werden, dem
wir uns dann in aller Ruhe und mit aller Sorgfalt widmen
werden.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Wir sehen uns wieder bei der Heidelberger Fastnacht!)


Aber erst die Dinge abzunicken, wie Sie es getan haben,
und dann zu sagen, man habe nichts damit zu tun: Das
machen wir nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Zu einem guten Klima in einer Koalition gehört auch,
dass ein Koalitionspartner sagt: Das ist der Rubikon; den
überschreiten wir nicht. Das ist für uns nicht diskutabel. –
Das haben wir in dieser Woche getan.


(Thomas Oppermann [SPD]: Zu mehr hat die Kraft nicht gereicht! – Bernd Scheelen [SPD]: Passen Sie mal auf, dass Sie nicht über die Wupper gehen!)


In konstruktiver Zusammenarbeit mit dem Bundes-
finanzministerium muss eine bessere Lösung gefunden
werden. Die werden wir im Interesse der soliden Finan-
zierung unserer Gemeinden finden.

Sie hatten keine Lösung. Wir werden eine hinkriegen.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]: Sie schwafeln immer, aber heute ganz besonders stark!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1707108000

Das Wort hat die Kollegin Britta Haßelmann von

Bündnis 90/Die Grünen.


Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1707108100

Herr Wissing, nur gut, dass Sie nur fünf Minuten Re-

dezeit hatten, sonst wären wir heute nicht über die Sit-
zung gekommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Liebe Bürgermeisterinnen und Bürgermeister,
die die heutige Debatte am Fernseher verfolgen! Man
hätte fast annehmen können, die Gemeindefinanzkom-
mission wäre ein Projekt, bei dem Schwarz und Gelb die
gleiche Meinung vertreten und gemeinsam zu einem Er-
gebnis kommen. Der Vorschlag des Bundesfinanzminis-
ters, den Kommunen die Beibehaltung der Gewerbe-
steuer zu garantieren, hatte aber nicht einen Tag Bestand.
Im Gegensatz zur FDP, die dafür eintritt, dass wir auf je-
den Fall zu einer Abschaffung der Gewerbesteuer kom-
men, hat Wolfgang Schäuble in seinem Vorschlag an die
kommunalen Spitzenverbände deutlich gemacht, dass es
bei der Gewerbesteuer bleibt und es ein kommunales Zu-
schlagsrecht auf die Einkommensteuer geben soll.

Ich halte von diesem Vorschlag nichts und werde auch
gleich sagen, warum. Aber tun Sie bitte nicht so, als
gäbe es eine konsequente Linie von Schwarz-Gelb. Wie
bei allen anderen substanziellen Fragen in diesem Haus
haben Sie keine gemeinsame Linie.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Es hat noch nicht einmal einen Tag gedauert, bis Ihre
Landesführungen angefangen haben, sich von dem Vor-
schlag von Wolfgang Schäuble zu distanzieren.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Woher wissen Sie denn das?)


– Ich weiß das, weil ich Zeitung lese, Herr Michelbach.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Joachim Poß [SPD]: Sie sollten das mal machen!)


Zum Beispiel hat der niedersächsische Minister Jörg
Bode erklärt, dieser Vorschlag habe keine Substanz.
Selbst Schäuble, der Minister, von dem der Vorschlag
stammt, hat gestern in der Presse erklärt, dass er seinem
Vorschlag nur 50 Prozent Umsetzungschancen gibt. Herr
Wissing, da haben Sie übrigens etwas verwechselt: Es
war nicht der Vorschlag der kommunalen Spitzenver-
bände. Es war der Vorschlag des Bundesfinanzministers.


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN und bei der SPD – Joachim Britta Haßelmann Poß [SPD]: Herr Wissing, Sie haben was verwechselt! Das war nicht der Vorschlag der kommunalen Spitzenverbände!)





(A) (C)


(D)(B)


Das erklärt auch die Rede von Koschyk. Herr Koschyk
hat sich nämlich insbesondere mit den Jahren 1999 bis
2004 beschäftigt.


(Joachim Poß [SPD]: Geh zurück in deinen Weinberg!)


Das hätte ich an seiner Stelle auch getan. Denn substan-
ziell ist in der Gemeindefinanzkommission noch nichts
geschehen. Da geht man lieber ein paar Jahre zurück und
schaut sich die rot-grüne Zeit an.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das war eine schlechte! – Dr. Volker Wissing [FDP]: Da sind die Probleme geschaffen worden, die wir heute lösen müssen! – Joachim Poß [SPD]: Wissing braucht Exerzitien!)


Um Sie zu beruhigen, Herr Koschyk: Die damaligen
Auswirkungen auf die Kommunen fand ich auch nicht in
Ordnung. Die Kapitalertragsteuer war für die Städte und
Gemeinden nicht das Gelbe vom Ei. Das kann man
selbstkritisch zugeben.

Aber das, was Sie hier machen, ist wirklich das Aller-
letzte: Sie erklären jeden Tag, Sie würden sich um die
Kommunen kümmern, aber dann legt der Bundesfinanz-
minister einen Vorschlag vor, der überhaupt nicht nach-
haltig ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Flankiert wird dieser Vorschlag dann durch Folgen-
des: Seit Sonntag glaubt man, dass die neue Steuerschät-
zung besser ausfallen wird. Man musste daher keine drei
Minuten warten, bis der erste FDPler


(Joachim Poß [SPD]: Die CDU ist aber auch dabei!)


oder CDUler erklärt, dass Steuersenkungen das nächste
Thema sein werden. Am Wochenende ging es also schon
wieder um Steuersenkungen. Erklären Sie diese Kombi-
nation den Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern vor
Ort. Das können Sie selbst Ihrer eigenen Partei – das
sage ich in Richtung CDU – keinesfalls erklären.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Auch Ihre Leute wissen ganz genau, dass die Menschen
vor Ort keine Steuersenkungen gebrauchen können. Das
zeigt deutlich, dass Sie keinen Bezug zur Realität in den
Städten und Gemeinden, keinerlei Bodenhaftung haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Lassen Sie mich jetzt noch kurz etwas zur kommuna-
len Einkommensteuer sagen. Warum ist sie so umstrit-
ten? Weil sie den ruinösen Wettbewerb der Kommunen
untereinander anheizt.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Seit wann ist denn Wettbewerb ruinös?)

Was meinen Sie denn, was demnächst los sein wird? Re-
den Sie doch nicht nur von kommunaler Selbstverwal-
tung. Fragen Sie doch einmal Kommunen wie Düssel-
dorf auf der einen und Kommunen wie Wuppertal,
Remscheid oder Solingen auf der anderen Seite, was es
bedeutet, wenn man die Höhe der Hebesätze demnächst
selbst festlegt. Was macht denn eine notleidende Kom-
mune, die einen Nothaushalt hat und vielleicht noch von
der Kommunalaufsicht aufgefordert wird, die Hebesätze
hochzusetzen? Sie wird sagen: Ihr in Düsseldorf habt es
gut, weil ihr möglichst niedrige Hebesätze festlegen
könnt. – Sie heizen den Wettbewerb in unglaublichem
Maße an. Das ist das Resultat Ihrer Maßnahme zur Stär-
kung der kommunalen Selbstverwaltung, die Sie so prei-
sen.

Denken Sie außerdem einmal über die Administrier-
barkeit nach. Ich habe im Finanzausschuss einige Bei-
spiele gebracht: Ich habe gefragt, was mit dem Kinder-
freibetrag bzw. dem Kindergeld ist. Dieses Thema ist
heute schon kompliziert. Das sage ich vor allem an die
Adresse der FDP, die immer so tut, als würde sie Büro-
kratie abbauen.


(Thomas Oppermann [SPD]: Aber sie tut nur so!)


Es wird demnächst zwei Günstigerprüfungen bei der
Frage geben müssen, ob man Kindergeld oder Kinder-
freibetrag bekommt.

Diese Probleme setzen sich bei einer kommunalen
Einkommensteuer durch das gesamten Steuerrecht fort.
Von wegen Bürokratieabbau!


(Joachim Poß [SPD]: Bürokratieweltmeister!)


Sie schaffen da ein riesiges Bürokratiemonster! Das wis-
sen diejenigen von Ihnen, die sich auskennen, ganz ge-
nau.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Bernhard Kaster [CDU/ CSU]: Unbegründete Ängste!)


Ich komme zum Schluss. Der Staatssekretär hat die
sozialen Kosten angesprochen. Sagen Sie doch den Leu-
ten, dass Sie Ihren Vorschlag im Vermittlungsausschuss
gestern wieder nicht durchsetzen konnten. Sie tun so, als
wären das alles großartige Maßnahmen, die Sie vor-
schlagen. Der Vermittlungsausschuss hat mit den Stim-
men der B-Länder kein Ergebnis erzielt. Ihr toller Vor-
schlag, den Bundesanteil an den Kosten der Unterkunft
ständig zu senken und für ein Jahr 25,1 Prozent in Aus-
sicht zu stellen,


(Widerspruch bei der CDU/CSU)


wird auch von Ihren Ländern nicht unterstützt.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1707108200

Kommen Sie bitte zum Schluss, Frau Haßelmann.


Britta Haßelmann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1707108300

Selbst in Nordrhein-Westfalen setzt sich die CDU ab.

Sie hat gemeinsam mit Rot-Grün ein riesiges Kommu-
nalprogramm verabschiedet,





Britta Haßelmann


(A) (C)



(D)(B)


(Joachim Poß [SPD]: 20 Milliarden schlägt die CDU vor!)


in dem Ansprüche an die Bundesebene angemeldet wer-
den.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1707108400

Das Wort hat der Kollege Dr. Mathias Middelberg

von der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Mathias Middelberg (CDU):
Rede ID: ID1707108500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Den letzten Anwurf von Ihnen, Frau Haßelmann, fand
ich wirklich ein bisschen dreist. Sie selber wollten 2005
die Beteiligung an den Unterkunftskosten auf null redu-
zieren.


(Bernd Scheelen [SPD]: Das ist doch eine Lüge! So ein Schwachsinn!)


Jetzt beschweren Sie sich ausgerechnet über diesen
Punkt. Das ist nun wirklich daneben, um es freundlich
auszudrücken. Das will ich vorwegschicken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Eine zweite grundlegende Feststellung ist mir wich-
tig. Es ist eine kritische Situation für die Kommunen zu
konstatieren. Darüber kann man nicht hinwegsehen.
Aber wir müssen doch auch in aller Sachlichkeit feststel-
len, dass wir im Moment durch unsere Politik, aufgrund
der soliden Wirtschafts- und vor allem durch eine solide
Haushaltspolitik, den besten Beitrag dazu leisten, dass
sich die finanzielle Lage des Bundes, der Länder, aber
auch der Kommunen stabilisiert, und zwar in einem ra-
santen Tempo. Wir in Deutschland haben die höchste
Wachstumsrate seit Jahren und die niedrigste Arbeitslo-
sigkeit seit fast 20 Jahren. Die Steuereinnahmen der
Kommunen steigen in einem erheblichen Umfang. Im
Verhältnis zum Vorjahr wachsen sie um 30 Prozent.


(Joachim Poß [SPD]: Wie tief sind sie vorher gesunken?)


Die Kommunen werden schneller wieder den Stand des
Vorkrisenniveaus erreicht haben als die anderen staatli-
chen Ebenen Bund und Länder. Auch das gehört zur
Wahrheit. Das sollten wir vorweg feststellen. Die Politik
dieser Koalitionsregierung zahlt sich insbesondere für
die Kommunen aus.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Für uns gilt der Koalitionsvertrag. Dazu stehen wir.
Wir sehen natürlich auch die Realitäten. Wir sehen auch
die Positionierung der Kommunen bzw. der kommuna-
len Spitzenverbände. Deshalb gilt für mich, dass wir den
Ersatz der Gewerbesteuer weiter verfolgen. Ich halte es
nach wie vor für richtig, an diesem Ersatzmodell weiter
zu arbeiten. Wir stellen aber auch fest, dass der Bundes-
finanzminister und die kommunalen Spitzenverbände in
der letzten Woche erklärt haben, dass die Kommunen die
Auffassung beibehalten, dass es nach wie vor keine trag-
fähige Alternative zur Gewerbesteuer gibt. Es sind aus-
drücklich die Kommunen, die das erklärt haben, nicht
der Bundesfinanzminister.


(Nicolette Kressl [SPD]: Das war eine gemeinsame Erklärung!)


– Das war eine gemeinsame Erklärung, aber es steht aus-
drücklich drin, dass die Kommunen diese Position ha-
ben. – Ich bedaure das ausdrücklich. Der Kollege
Wissing hat eben auf die Unzulänglichkeiten der Gewer-
besteuer hingewiesen. Die Verteilung ist ungerecht:
1 Prozent der Betriebe zahlt fast 75 Prozent des gesam-
ten Gewerbesteueraufkommens. Vor allem hat sich die
Hinzurechnung in der Krisensituation, die wir durchge-
standen haben, als absoluter Brandbeschleuniger gerade
für den Mittelstand herausgestellt. Es ist doch eine Kata-
strophe, dass Unternehmen besteuert werden, denen das
Wasser bis zum Hals steht und die um Liquidität ringen.
Wir haben uns doch mit dem Wachstumsbeschleuni-
gungsgesetz bemüht, diesen Betrieben wieder zu
Liquidität zu verhelfen. Diese werden nach Ihren Vor-
stellungen durch die Gewerbesteuerhinzurechnung zu-
sätzlich belastet. Ich finde, das ist eine Katastrophe. Des-
wegen halte ich die Gewerbesteuer für ausgesprochen
reformbedürftig. Ich würde mir wünschen, wir würden
ein vernünftiges Ersatzmodell finden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das mag schwierig sein aufgrund der Positionierung der
Kommunen. Ich würde mir manchmal wünschen, der
eine oder andere kommunale Vertreter würde vielleicht
einmal kritisch hinterfragen, was seine Leute in den
Spitzenverbänden für ihn vortragen, ob dies wirklich in
seinem Interesse und im Interesse der jeweiligen Kom-
mune ist und ob das gilt, was insbesondere der Städtetag
zum Besten gibt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich sehe den Vorschlag eines Zuschlags zur Einkom-
mensteuer gar nicht so negativ. Das Band zwischen Bür-
ger und Kommune würde dadurch gestärkt. Dies ist auch
ein Stück Selbstverwaltung, und es mag aus meiner
Sicht ein Schritt sein, um den Einstieg in den Ersatz der
Gewerbesteuer zu erreichen. So könnte man es nämlich
auch betrachten.

Zu den Horrorszenarien über Städte- oder Kommu-
nenwettbewerb und Stadtflucht, die Sie hier gemalt ha-
ben, nur zwei Zitate. Der Städte- und Gemeindebund hat
gesagt, Frau Haßelmann, dies sei vollständig wirklich-
keitsfremd; sonst hätten unterschiedliche Abfall- und
Abwassergebühren schon längst zu einer Abwanderung
führen müssen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)






Dr. Mathias Middelberg


(A) (C)



(D)(B)

Wir sehen auch – darauf hat der Staatssekretär zu
Recht hingewiesen –, dass sich der Gewerbesteuerwett-
bewerb eben nicht nachteilig auswirkt.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Doch!)


Auch der Landkreistag spricht von einer guten Grund-
idee. Deswegen sage ich: Wir sollten jetzt in aller Sach-
lichkeit und entspannt über diese gute Grundidee sorg-
fältig reden und miteinander im Gespräch bleiben. Die
ernste Lage der Kommunen fordert von uns eine ernst-
hafte Auseinandersetzung mit diesem Thema, sachlich
und – das sage ich auch – an bestimmten Punkten ohne
parteipolitische Scheuklappen. Wir verfolgen das Ziel
weiter, aber wir sehen auch ganz klar, dass es eine Lö-
sung nicht gegen, sondern nur mit den Kommunen ge-
ben kann.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1707108600

Das Wort hat jetzt der Kollege Bernd Scheelen von

der SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Bernd Scheelen (SPD):
Rede ID: ID1707108700

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Ich darf darauf verweisen, wie das Thema dieser
Aktuellen Stunde eigentlich heißt: Meinungsverschie-
denheiten innerhalb der Bundesregierung über die Re-
form der Kommunalfinanzen. Es wäre schön, wenn wir
von Ihnen etwas dazu gehört hätten.


(Beifall bei der SPD – Zuruf von der CDU/CSU: Und ihr sucht und sucht und sucht!)


Stattdessen hörten wir Drohungen von Herrn Staats-
sekretär Koschyk, Falschbehauptungen von Herrn
Dr. Wissing und Herrn Middelberg.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist unverschämt! Wir sagen die Wahrheit!)


Das, meine Damen und Herren, führt nicht weiter. Heute
geht es darum, festzuhalten, dass Sie mit Ihrer Gemein-
definanzkommission gescheitert sind. Mit dem, was dort
jetzt behandelt wird, stehen Sie vor einem Scherbenhau-
fen.


(Beifall bei der SPD)


Wie sind Sie denn vor einem Jahr in diese Traumhoch-
zeit von Schwarz und Gelb gestartet?


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Ihr wärt doch auch zu haben gewesen!)


Sie haben in Ihren Koalitionsvertrag geschrieben, Sie
wollten die Gemeindefinanzierung auf eine neue Basis
stellen. Damit war ein Heilsversprechen verbunden. Die
Kommunen und die Menschen haben geglaubt, für ihre
schwierige finanzielle Lage sei Hilfe in Sicht. Wenn man
sich jetzt anschaut, was dabei herausgekommen ist, stellt
man fest, dass der Aufschlag in der Realität ziemlich
hart war. Der Bundesfinanzminister hat den Kommunen
in einem Alleingang erklärt, dass er die Abschaffung der
Gewerbesteuer nicht mehr weiterverfolge.

Da sage ich für die SPD-Fraktion – ich vermute, für
die ganze Oppositionsseite –: Bravo, sehr gut! Wenn Sie
das durchhalten können, haben Sie unsere Unterstüt-
zung, Herr Minister.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Nun ist Herr Minister Schäuble ja nicht da.


(Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär: Er ist in Seoul!)


– Das ist ja kein Vorwurf. Ich wollte nur sagen: Sie, Herr
Koschyk, werden ihm das sicherlich berichten. – Wir ha-
ben ihn vor einem halben Jahr – da hatten Sie die Kom-
mission noch gar nicht eingesetzt – gewarnt und gesagt:
Solche Kommissionen gab es schon. In den Jahren 2002
und 2003 gab es unter Rot-Grün eine solche Kommis-
sion, die genau dasselbe untersucht hat und am Ende zu
genau demselben Schluss gekommen ist, den der Minis-
ter jetzt für sich persönlich gezogen hat: Es macht keinen
Sinn, die Gewerbesteuer abzuschaffen. Sie ist vielmehr
die geeignete Steuer für die Kommunen. – Das haben
wir Ihnen vor einem halben Jahr vorhergesagt. Sie hätten
sich die ganze Arbeit in der Kommission sparen können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zweitens sagt der Minister in seinem Vorschlag, er
wolle die Kommunen bei den Sozialausgaben entlasten.
Dazu sagen wir: Ja, das ist der richtige Weg; hier haben
Sie unsere Unterstützung. Das ist auch wichtig, weil wir
in Zukunft möglicherweise die Einzigen sind, die den
Minister in der Frage des Erhalts der Gewerbesteuer und
in der Frage der Entlastung der Kommunen bei den So-
zialausgaben unterstützen. Von der FDP ist ja keine Un-
terstützung zu erwarten, und in der Union gibt es offen-
sichtlich auch unterschiedliche Haltungen.

Den dritten Vorschlag betrachten wir allerdings kri-
tisch. Deswegen sind wir auch gar nicht so sicher, ob es
der Minister wirklich ernst meint. Der dritte Vorschlag,
nämlich den Kommunen ein Zuschlagsrecht zur Ein-
kommensteuer einzuräumen, hat die Qualität eines troja-
nischen Pferdes. Sie wissen, wie das damals war: Vor
Troja haben die abziehenden Danaer das Pferd hinge-
stellt. Die Troer sind gewarnt worden, dieses in ihre
Stadt zu holen. Wissende haben gesagt: Wir trauen den
Danaern nicht, wenn sie mit Geschenken kommen.

Ich sage dem Minister: Wir trauen Ihnen nicht, wenn
Sie mit Geschenken kommen. – Es ist ein Danaer-
geschenk, was Sie auf den Tisch legen. Es ist der Ver-
such, die Gewerbesteuer durch die Hintertür abzuschaf-
fen. Das machen wir nicht mit; da seien Sie mal ganz
sicher.


(Beifall bei der SPD)


Was macht den Vorschlag im Einzelnen genau aus?
Es ist ein Bestandteil von drei Bestandteilen, den Sie ei-
gentlich wollen. FDP und CDU wollen die Gewerbe-





Bernd Scheelen


(A) (C)



(D)(B)

steuer abschaffen und das sogenannte Prüfmodell instal-
lieren. Das muss man für die Zuhörer mit einem Satz
erklären: Die Gewerbesteuer soll entfallen, die Wirt-
schaft soll entlastet werden; belastet werden sollen Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie die Verbrau-
cher;


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Wer schlägt denn so etwas vor?)


ein bisschen soll noch bei den Unternehmen verbleiben.
Die Belastung der Bürgerinnen und Bürger soll über die
Einkommensteuer erfolgen. Wenn dieses Element jetzt
implementiert wird, ist das der erste Schritt zur Abschaf-
fung der Gewerbesteuer. Dazu sage ich ganz deutlich:
Das machen wir nicht mit.


(Beifall bei der SPD – Dr. Volker Wissing [FDP]: Das hat auch keiner vorgeschlagen! Sie können ganz beruhigt sein!)


Dazu, wie dieser Vorschlag von Herrn Schäuble ange-
kommen ist, will ich ein paar Zitate zur Kenntnis geben.
Ich hätte erwartet, zum Beispiel von Ihnen etwas zu hö-
ren, Herr Dr. Wissing. Ihre Reaktion in der Zeitung zu
dem Vorschlag war ja: Das können wir niemals mittra-
gen. – Deswegen haben wir Ihnen heute die Gelegenheit
gegeben, zu sagen, warum nicht. Diese Chance haben
Sie verpasst.


(Björn Sänger [FDP]: Da haben Sie nicht zugehört!)


Frau Homburger hat mit Blick auf den Minister ge-
genüber Journalisten gesagt: Er tut ja was, aber nicht
das, was wir wollen.


(Thomas Oppermann [SPD]: Tolle Aussage!)


Herr Brüderle sagt als Retourkutsche für Brüssel: Das
war mit uns nicht abgestimmt. – Das zeigt doch, wie
wichtig diese Aktuelle Stunde ist. Die nächsten Redner
haben noch die Chance, auf dieses Thema endlich einzu-
gehen. Von Ihnen haben wir nichts dazu gehört. Sie hät-
ten die Chance gehabt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Nicolette Kressl [SPD]: Das wäre auch zu peinlich gewesen!)


Ich darf Minister Schäuble selber zitieren. Er sagte im
Hinblick auf die FDP – das finde ich sehr bemerkens-
wert –: Ich wünschte mir eine ähnliche kommunale Ba-
sis wie bei der CDU für die FDP. – Da hat er völlig recht.
Die FDP ist leider völlig abgehoben, hat mit den Kom-
munen nichts zu tun.


(Lachen bei Abgeordneten der FDP)


Deswegen reden Sie von der FDP hier so abgehoben da-
her. Sie wissen überhaupt nicht, wie die Lage vor Ort ist.
Sie sind hier auf steuerpolitischer Geisterfahrt, und das
kommentiert mittlerweile auch die Presse so. Die Welt
sagt: In der Koalition tobt ein neuer Steuerstreit. Im
Handelsblatt gibt es von Frau Riedel die Überschrift:
Steuerpolitik – das Verliererthema der Koalition. Werner
Sonne sprach vorgestern im Morgenmagazin im Inter-
view mit Herrn Minister Brüderle vom bösen S-Wort.
Damit meinte er das Wort „Steuersenkung“. Das haben
Sie geschafft: „Steuersenkung“ ist mittlerweile ein nega-
tiv besetztes Wort. Die Menschen wissen, dass, wenn
von Steuersenkungen gesprochen wird, sie das unter
dem Strich bezahlen müssen: mit geschlossenen Thea-
tern, mit geschlossenen Bädern, mit geschlossenen Bü-
chereien. Das ist keine Politik, die wir mitmachen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1707108800

Das Wort hat die Kollegin Dr. Birgit Reinemund von

der FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Birgit Reinemund (FDP):
Rede ID: ID1707108900

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!

Herr Scheelen, Sie haben minutenlang mit Dreistigkeit
versucht, einen Streit innerhalb der Koalition zu konstru-
ieren.


(Lachen bei der SPD)


Es ist Ihnen nicht wirklich gelungen.


(Bernd Scheelen [SPD]: Die Journalisten haben offenbar alle eine Fehlwahrnehmung!)


Frau Haßelmann, ja, wir kümmern uns um die Kom-
munen. Die Koalitionsparteien haben sich bereits im Ko-
alitionsvertrag darauf verständigt, die kommunalen
Finanzen auf eine solide, tragfähige und nachhaltige
Grundlage zu stellen. Dazu haben sie die Regierungs-
kommission eingesetzt, deren Bericht wir bis Ende des
Jahres noch erhalten werden.

Grundlage war und ist – um Sie zu korrigieren, Herr
Scheelen –, die konjunkturanfällige Gewerbesteuer


(Bernd Scheelen [SPD]: Die ist überhaupt nicht konjunkturanfällig! – Weiterer Zuruf von der SPD: Die ist immer noch sehr stabil!)


durch einen höheren Anteil an der stabilen Umsatzsteuer
und einen kommunalen Zuschlag auf die Einkommen-
und Körperschaftsteuer mit eigenem Hebesatzrecht zu
ersetzen. Ziel war und ist, eine dauerhafte strukturelle
Einnahmeverbesserung für die Städte und Gemeinden zu
erreichen. Das ist die Vereinbarung im Koalitionsver-
trag, das ist Prüfauftrag der Regierungskommission, ein-
berufen von Minister Schäuble, und dahinter stehen wir
alle.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Natürlich sind Gedankenspiele erlaubt, auch solche
des Bundesfinanzministers und der kommunalen Spit-
zenverbände.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Gedankenspiele?)






Dr. Birgit Reinemund


(A) (C)



(D)(B)

Überrascht, erstaunt und vielleicht ein bisschen irritiert
hat allerdings der Zeitpunkt: Einen solchen Vorstoß vor
Abschluss der Arbeit der Kommission hat niemand
wirklich erwartet. Irritation? Ja. Klarstellung? Ja. Streit?
Nein, das ist etwas ganz anderes, Herr Scheelen, zumin-
dest bei uns.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Bernd Scheelen [SPD]: Dann möchte ich mal wissen, was Streit wirklich ist! Tolles Klima in der Koalition! – Katrin Kunert [DIE LINKE]: Da haben wir ja noch etwas zu erwarten!)


Wenn die kommunalen Spitzenverbände jetzt keine
strukturelle Verbesserung mehr wollen, hängt dies si-
cherlich auch damit zusammen, dass die Kommunen den
konjunkturellen Aufschwung sehen und die Wachstums-
dynamik der Gewerbesteuer zu schätzen wissen. Die
Steuerschätzung geht davon aus, dass die Kommunen
bereits 2012 ein Plus von 77 Milliarden Euro erzielen
werden und die Steuereinnahmen damit die des Rekord-
jahrs 2008 übertreffen werden. Beim Bund wird das üb-
rigens erst 2013 passieren.


(Bernd Scheelen [SPD]: Dank der tollen Gewerbesteuer natürlich!)


Damit verringern sich natürlich auch der Reformdruck
und die Reformbereitschaft.

Nach dem Urteil des Bundesfinanzhofes vom August
dieses Jahres steht jedoch zu befürchten, dass Verrech-
nungen von Verlusten von Auslandstöchtern deutscher
Unternehmen auch bei der Gewerbesteuer möglich wer-
den. Dadurch könnte es passieren, dass die Gewerbe-
steuereinnahmen trotz Aufschwungs wieder einbrechen –
ein Grund mehr, jetzt über Alternativen zur Gewerbe-
steuer zu diskutieren und nicht bloß über deren Auswei-
tung oder Ergänzung durch weitere Steuern.

Überwindung der Krise und Wirtschaftsaufschwung
waren die primären Ziele unserer Politik des letzten Jah-
res. Dieses Ziel haben wir erreicht.


(Zuruf von der SPD: Das nimmt Ihnen nur keiner ab!)


Wir haben mit verantwortungsvoller Wirtschafts- und
Finanzpolitik den Rahmen gesetzt. Die Wirtschaft
wächst in einem Maße, um das uns die Welt beneidet:
um 3,7 Prozent dieses Jahr und 2,2 Prozent im nächsten
Jahr. Anfang des Jahres sprachen wir noch von 1,5 Pro-
zent.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Wohl alles dank dieser Regierung!)


Für die Kommunen bedeutet das wachsende Einnahmen
bei gleichzeitig sinkenden Belastungen bei den Sozial-
kosten.

Für die Spitzenverbände scheint das Festhalten an ei-
ner althergebrachten Steuer, der Gewerbesteuer, mit all
ihren Problemen, die man kennt, augenscheinlich ver-
lockender als die Aussicht auf echte strukturelle Verbes-
serungen. „Wir wollen mehr Geld“ in Krisenjahren und
„Mitnehmen der Wachstumsdynamik“ im Aufschwung
mag ja aus Sicht der Betroffenen nachvollziehbar sein;
eine dauerhafte Lösung kann das nicht darstellen.


(Beifall des Abg. Dr. Volker Wissing [FDP])


Was bedeutet denn ein einseitiger Zuschlag auf die Ein-
kommensteuer bei vollständigem Erhalt der Gewerbe-
steuer anderes als eine Steuererhöhung für die Bürger
zum Stopfen eines Haushaltslochs der Kommunen? Das
kann nicht die Lösung sein, nicht für die Bürger und
nicht für diese Koalition.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die katastrophale Lage der Kommunen hängt nicht
nur mit der Wirtschaftskrise und dem Einbruch bei den
Steuereinnahmen zusammen – wir haben das heute
schon mehrfach gehört –, sondern eben auch mit der
Ausgabenseite, indem etwa Kommunen durch Aufgaben
belastet wurden, die ihnen vom Bund übertragen wur-
den,


(Katrin Kunert [DIE LINKE]: Richtig!)

ganz massiv zu Zeiten der rot-grünen Regierung.


(Katrin Kunert [DIE LINKE]: Nein! Sie genauso! Sie machen es ja weiter!)


Ich nenne einige Beispiele: Eingliederungshilfe, Grund-
sicherung im Alter und Tagesbetreuung. Das alles sind
Gesetzesvorgaben aus Zeiten der rot-grünen Regierung,
deren Scherben wir jetzt zusammenkehren müssen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die christlich-liberale Koalition strebt auch auf der
Ausgabenseite Entlastungen an. Auch dies ist ein Auf-
trag an die Kommission. Was haben Sie dagegen in den
letzten Jahren gemacht? – Nichts.


(Katrin Kunert [DIE LINKE]: Steht Ihre Entlastung schon im Haushalt drin?)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte zum
Schluss zwei Zitate von Herrn Koschyk aus der gestri-
gen Sitzung des Finanzausschusses anführen. Erstens:

Die Aussage unseres Finanzministers stellt keine
Vorwegnahme der Ergebnisse der Kommission zur
Reform der Gemeindefinanzen dar.

Zweitens sagte er, dass es „keine einseitige Belastung
der Bürger und Unternehmen geben wird“. Demnach
kann es also auch keine reine Steuererhöhung anstelle
von strukturellen Verbesserungen geben.

Wir erwarten in Kürze die Berechnungen und Ergeb-
nisse der Kommission


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Darauf warten wir auch!)


und freuen uns auf eine konstruktive und offene Diskus-
sion, nicht nur zwischen Finanzminister und Spitzenver-
bänden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1707109000

Das Wort hat die Kollegin Kirsten Lühmann von der

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Kirsten Lühmann (SPD):
Rede ID: ID1707109100

Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kollegin-

nen! In der letzten Zeit war es geradezu auffällig ruhig in
der Koalition. Da haben wir uns schon gefragt, ob dieses
einjährige Hickhack endlich beendet ist und die
Wunschkoalition, die ja mit einem veritablen Ehekrieg
gestartet ist, zu einer Liebesheirat mutierte. Es war aber
offenbar nur die Ruhe vor dem nächsten Sturm. Dieser
Streit ist jetzt ausgebrochen, weshalb wir hier jetzt diese
Aktuelle Stunde haben.

Die Gemeindefinanzkommission, die die Bundesre-
gierung eingesetzt hat, brütet noch darüber, wie sie den
Regierungsauftrag, die Gewerbesteuer abzuschaffen, ge-
gen den ausdrücklichen Willen der Kommunen am bes-
ten umsetzen kann, da lässt der Minister nach einem Ge-
spräch im kleinen Kreis etwas ganz anderes verlauten.
Liebe Kollegen und Kolleginnen von der FDP, ich kann
Sie sehr gut verstehen, dass Sie empört sind. Allerdings
muss ich feststellen, dass keiner Ihrer Vorschläge wirk-
lich geeignet ist, die desolate Lage der Kommunen dau-
erhaft zu verbessern.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Ich bekomme regelmäßig, fast wöchentlich, aus den
Kommunen meines Wahlkreises – aus den Kommunen,
nicht von den Funktionären der kommunalen Spitzen-
verbände – Briefe, die sich damit befassen, was die Fol-
gen Ihrer Entscheidungen für die kommunalen Finanzen
bedeuten. Ich nenne nur zwei Beispiele: erstens die Aus-
wirkungen des Atomgesetzes auf die Kommunen und
zweitens die beabsichtigte Änderung im Kreislaufwirt-
schafts- und Abfallgesetz.

Ein Hauptproblem der kommunalen Finanzen – das
ist hier angesprochen worden – sind die sozialen Trans-
ferleistungen. Würde sich die Bundesregierung endlich
dazu durchringen, einen Mindestlohn einzuführen, der
auskömmlich ist, könnten die Kommunen hier Milliar-
den einsparen.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Daniel Volk [FDP]: Jetzt ist der Mindestlohn auch noch ein Problem der Kommunalfinanzen?)


– Ja, aber sicher doch. – Da die Regierung dies ablehnt,
ist es kein Geschenk, sondern nur konsequent, dass diese
durch Nichthandeln entstehenden Kosten den Kommu-
nen von Ihnen erstattet werden.

Aber es gibt ja weitere Zusatzausgaben. Da vielleicht
nicht alle von Ihnen in kommunalen Parlamenten so ver-
ankert sind, wie ich es bin, nenne ich Ihnen ein paar Bei-
spiele, wie es dort aussieht.

Die Bearbeitung des neuen Personalausweises ist we-
sentlich zeitintensiver als die des alten Personalauswei-
ses. Schon in einer Stadt wie Bergen mit 10 000 Einwoh-
nern benötigt man eine zusätzliche halbe Stelle nur für
die Bearbeitung dieser Personalausweise. Eine die Ver-
waltungskosten deckende Erstattung ist Fehlanzeige;
nichts passiert dort.

Die Kinderbetreuung ist ein weiteres Beispiel. In mei-
ner Heimatgemeinde gibt es eine Grundschule, die keine
Ganztagsbetreuung hat. Die Betreuung wird jetzt von
der Kommune selbst organisiert und weitgehend selbst
finanziert. Täte die Kommune dies nicht, entstünde ein
Betreuungsloch zwischen Ganztagskindergarten und
weiterführender Schule mit allen uns bekannten Konse-
quenzen für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf,
Standortattraktivität und dergleichen. Kostenpunkt für
eine kleine Grundschule in einer 8 000-Einwohner-Ge-
meinde: 84 000 Euro im Jahr. Die Ausgaben sind not-
wendig, können im Prinzip aber nicht den Kommunen
zugemutet werden.

Auf der anderen Seite gibt es irrsinnige Regelungen
mit der Umsatzsteuer. Das Schwimmbad in Stadensen,
einem Ort in meinem Wahlkreis, hätte geschlossen wer-
den müssen, wenn die Kommune den Betrieb nicht ei-
nem eigens gegründeten Verein übertragen hätte. Dieser
Verein erhält einen nicht kostendeckenden Betriebskos-
tenzuschuss von der Kommune. Auf diesen Zuschuss
muss aber Umsatzsteuer gezahlt werden. Dadurch redu-
ziert sich dieser Zuschuss deutlich, und Land und Bund
freuen sich über zusätzliche Einnahmen aus dem kom-
munalen Säckel. Es ist doch hervorragend, wenn man
das so löst.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Die Kommunen kriegen auch Umsatzsteueranteile!)


Um all diese Löcher zu stopfen, schlägt Herr
Schäuble vor, zusätzlich zur bestehenden Gewerbesteuer
eine kommunale Einkommensteuer einzuführen. Dieser
Vorschlag ist weder neu noch hilfreich. Dieser Vorschlag
lässt Teile der Wirtschaft weiterhin unbelastet und bürdet
die Kosten der arbeitenden Bevölkerung auf.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Welche Teile der Wirtschaft?)


Zudem hätte eine kommunale Einkommensteuer uner-
wünschte Nebenwirkungen. Eben ist von den Vorrednern
schon darüber diskutiert worden, ob es diese Nebenwir-
kungen gibt oder nicht. Darüber werden wir in den Aus-
schüssen weiter reden. Wir sind der Meinung, dass wir
zwischen Kernstädten und Umland deutliche Unter-
schiede haben werden, was wir für nicht sachgerecht
halten. Der Vorschlag von Herrn Schäuble bringt mehr
Verwaltungsaufwand, mehr Spaltung, aber weniger Kon-
tinuität und weniger Rechtssicherheit.


(Beifall bei der SPD)


Dieser Vorschlag ist aber insofern nicht erstaunlich,
als die Bundesregierung konsequent an den Bedürfnis-
sen der Kommunen vorbei regiert. Symptomatisch dafür
ist, wie die Fraktionen von Union und FDP mit der Ar-
beit des Unterausschusses Kommunales umgehen. Diese
Arbeit wird konsequent verschleppt. Sie wollen sich of-





Kirsten Lühmann


(A) (C)



(D)(B)

fenbar nicht übermäßig intensiv mit den Belangen der
Kommunen in diesem Haus beschäftigen.

Abschließend zur Gewerbesteuer: Aus unserer Sicht
gehört sie nicht abgeschafft oder zementiert, sie gehört
ausgebaut und reformiert.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Sagen Sie doch endlich mal Substanzbesteuerung! Sie reden doch nur darum herum!)


Sie sichert die Wahrnehmung der kommunalen Aufga-
ben, und das ist für uns alle wichtig; denn die finanzielle
Autonomie der Kommunen bildet das Fundament demo-
kratischer Selbstorganisation und bürgerlicher Freiheit.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1707109200

Das Wort hat der Kollege Klaus-Peter Flosbach von

der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Endlich einer, der Ahnung hat!)



Klaus-Peter Flosbach (CDU):
Rede ID: ID1707109300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

ist erstaunlich, wie die SPD heute in der von ihr bean-
tragten Aktuellen Stunde das Thema verfehlt. Endlich
haben wir eine Kommission zur Reform der Gemeinde-
finanzen.


(Joachim Poß [SPD]: Die hatten wir auch schon! – Bernd Scheelen [SPD]: Endlich kassiert der Minister Ergebnisse!)


Endlich sind die Kommunen an dieser Reformkommis-
sion beteiligt. Das haben Sie nicht geschafft. Sie haben
die Kommunen immer außen vor gelassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Bernd Scheelen [SPD]: Das ist doch Unsinn! – Joachim Poß [SPD]: Das ist doch Quatsch! Wir hatten schon eine Kommission, da waren Sie noch nicht im Bundestag! Bei Herrn Eichel! Ihr Gedächtnisverlust ist erstaunlich!)


– Herr Poß, zu Ihnen komme ich gleich noch.

Wir alle kennen das Problem der Kommunen, näm-
lich dass ihre Ausgaben dramatisch gewachsen sind,
weil die Soziallasten sehr stark gestiegen sind. Dazu ge-
hören die Grundsicherung, die Kosten der Unterkunft,
die Eingliederungshilfe und die Kosten für die stationäre
Pflege.

Da Sie, Herr Poß, gerade dazwischengerufen haben:
Schauen Sie sich einmal die Seiten 4780 ff. im Stenogra-
fischen Bericht aus dem Jahr 2003 an. Es gab damals
eine große Debatte über die Zukunft der Kommunen.
Die SPD war damals der Meinung, dass die Soziallasten
kein Problem des Bundes, sondern das Problem der
Kommunen sind. Lesen Sie es einmal nach. Dann kön-
nen Sie erkennen, wie die Regierungspolitik der SPD
und der Grünen im Jahr 2003 gewesen ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Joachim Poß [SPD]: Das haben Sie extra nachgeguckt? Da mussten Sie aber viel lesen!)


Zu Ihrer Zeit ist die Grundsicherung für Menschen mit
einer geringen Rente eingeführt worden. Diese Lasten
sind vom Bund auf die Kommunen übertragen worden.
Sie haben den Kommunen nur geringe finanzielle Unter-
stützung gegeben. Wir haben das reformiert, indem wir
eine dynamische Anpassung vorgenommen haben.

Frau Lühmann, Sie haben gerade ein paar nette Bei-
spiele genannt. Schauen Sie sich einmal die Seite 1656
des Stenografischen Berichts aus dem Jahr 2003 an. In
der entsprechenden Debatte sagte Frau Hendricks, die
heute leider nicht anwesend ist, dass die Grundsicherung
überhaupt keine Personalkosten zur Folge hat. Das war
damals die Politik von Rot-Grün.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Herr Koschyk hat schon einige treffende Beispiele ge-
nannt. Einer Ihrer ersten Schritte damals war, Frau
Haßelmann, die Gewerbesteuerumlage anzuheben, weil
es den Kommunen anscheinend so gut ging. Das können
wir Ihnen im nächsten Jahr noch vorhalten. Im Jahre
2005 wollten Sie die Kommunen mit 2,5 Milliarden
Euro belasten, indem Sie ihnen keinen Euro Zuschuss
für die Kosten der Unterkunft geben wollten. Das ist rot-
grüne Politik gewesen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Bernd Scheelen [SPD]: Sie haben eine andere Regelung über den Bundesrat verhindert!)


Als wir im Jahr 2005 an die Regierung kamen, haben wir
selbstverständlich als ersten Schritt – das war eine Be-
dingung für das Zustandekommen der Koalition – die
Gewerbesteuerumlage für die Kommunen gesenkt. Au-
ßerdem haben die Kommunen einen Anspruch auf Zu-
schuss zu den Kosten der Unterkunft erhalten. Das war
Politik der Union im Jahre 2005.

Natürlich wissen wir, dass die Einnahmen sehr
schwankend sind. Gerade die letzten Jahre haben deut-
lich gezeigt, welche Probleme bei den Kommunen exis-
tieren. Entweder entlasten wir die Kommunen von be-
stimmten Aufgaben, oder sie müssen einen Teil über die
Einnahmen selbst gestalten können.

Die Gewerbesteuer ist nach wie vor das Thema für
die SPD. Aber wir haben niemals von der einseitigen
Abschaffung der Gewerbesteuer gesprochen. Wir haben
immer von einem Ersatz der Gewerbesteuer gesprochen;
denn wir wissen, dass die Kommunen eine wirtschafts-
bezogene Steuer brauchen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Das Problem ist, dass Firmen und Unternehmen Gewer-
besteuer zahlen müssen, auch wenn sie keinen Gewinn
machen. 7 Prozent der Gewerbesteuereinnahmen der
Kommunen ergeben sich aus den sogenannten ertragsun-
abhängigen Bestandteilen. Wir wollten immer eine ge-
meinsame Bemessungsgrundlage für die Gewerbesteuer
und für die Körperschaftsteuer haben, damit Millionen





Klaus-Peter Flosbach


(A) (C)



(D)(B)

Betriebe nicht jedes Jahr eine Gewerbesteuererklärung
abgeben müssen. Es geht also um ein Stück Bürokratie-
abbau.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Schauen Sie sich einmal die Situation bei den Perso-
nenunternehmen an. Alle diese Unternehmen müssen
eine Gewerbesteuererklärung abgeben. Sie geben das
Geld der Kommune, bezahlen noch den Steuerberater
und holen sich das Geld hinterher vom Finanzamt über
die Anrechnung ihrer Gewerbesteuerzahlung wieder zu-
rück. Die Kommunen sind in der folgenden Situation:
Sie müssen nach wie vor die Gewerbesteuerumlage zah-
len; den Rest behalten sie möglicherweise nur zu einem
Teil, weil anschließend die Zuweisungen des Landes ge-
kürzt werden. Das ist doch ein absurdes System; das
müssen wir doch nicht zwingend aufrechterhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie kritisieren den Vorschlag der Einführung eines
Hebesatzes der Kommunen bei der Einkommensteuer,
über den diskutiert wird. Natürlich muss über die Ein-
nahmemöglichkeiten der Kommunen diskutiert werden.
Bei der Gewerbesteuer und bei der Grundsteuer gibt es
schon einen Hebesatz der Kommunen. Das ist doch
zwingend notwendig, um den Kommunen eine eigenver-
antwortliche Einnahmepolitik zu ermöglichen.

Frau Haßelmann, es ist schon erstaunlich, dass auch
die Grünen dagegen wettern. Bürgerbeteiligung, Einbe-
ziehung der Menschen in die Politik – welch ein Graus
für die Grünen.


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Beantworten Sie doch einmal die Frage der Kollegin, wie das gehen soll!)


Das ist aber nicht unsere Politik. Wir wollen eigenver-
antwortliche Kommunen; die Kommunen sollen stark
sein. Wir wollen die Kommunen stärken; denn die kom-
munale Selbstverwaltung ist eines der höchsten Güter
unserer Demokratie.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1707109400

Das Wort hat der Kollege Peter Friedrich von der

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Peter Friedrich (SPD):
Rede ID: ID1707109500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Of-

fensichtlich hat der 11.11. – das ist jetzt übrigens keine
Seitenzahl – einigen schon aufs Temperament geschla-
gen. Ich halte Ihre Behauptung für eine Mär, dass es nur
einige kommunale Spitzenverbände und Oberbürger-
meister seien, die hier im Namen der Kommunen eine
irrige Position verträten, während die Kommunen in
Wahrheit geradezu darauf hofften, allen voran durch die
FDP aus der schlechten Situation bei der Gewerbesteuer
gerettet zu werden. Inzwischen beschließen Gemeinde-
räte und Kreisräte flächendeckend Resolutionen und
Aufforderungen an die Bundesregierung. Sogar die
NRW-CDU ergeht sich auf ihrem Parteitag in tätiger
Reue ob ihrer kommunalpolitischen Vergangenheit, ob
dessen, was die CDU in der Landesregierung angerichtet
hat. So hat die CDU im Landtag der Resolution zuge-
stimmt. Sie stellen sich hier hin und tun so, als gehe es
nur um ein paar kommunale Irrläufer. Dabei wird flä-
chendeckend, unisono die Meinung vertreten, dass ein
eigener Hebesatz bei der Einkommensteuer abzulehnen
ist, vielleicht abgesehen von ein paar Umlandgemein-
den, die von einem solchen Hebesatzrecht profitieren
würden, weil sie fast keine Sozialleistungen tragen und
keine Zentralitätsfunktionen übernehmen müssen, dafür
aber viele gut verdienende Einwohner haben. Diese Um-
landgemeinden würden von einer solchen Reform profi-
tieren; der komplette Rest ist gegen diese Reformvor-
schläge, die Sie hier mantraartig herunterbeten.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich bin wie einige Abgeordnete von der CDU/CSU
zugleich Mitglied eines Kreistages, des Kreistages des
Landkreises Konstanz. Dieser Kreistag hat am 25. Okto-
ber eine entsprechende Resolution beschlossen. Alle
Fraktionen mit Ausnahme der FDP-Fraktion waren da-
für. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
den Bürgermeistern und Kreistagsfraktionen der Union
müssen doch die Ohren klingeln; sie müssen sich doch
schämen, dass sich die CDU/CSU-Bundestagsfraktion
hier von der FDP den Ring durch die Nase ziehen lässt
und auch noch für das, was Herr Schäuble angekündigt
hat, Beifall spendet.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Er hat natürlich versucht, das Ergebnis der Kommission
vorwegzunehmen, indem er gesagt hat, er wolle nichts
gegen den Willen der kommunalen Spitzenverbände
durchsetzen. Herr Schäuble wird dieses Versprechen
nach dem, was die FDP hier eben aufgeführt hat, nicht
halten können. Damit ist deutlich: Herr Schäuble kann
sich an dieser Stelle überhaupt nicht in der Koalition
durchsetzen. Die Kommunen werden auch von Ihnen im
Stich gelassen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Das ist übrigens schwarz-gelbe Tradition: Am
4. Februar dieses Jahres hat die Vorsitzende der Fraktion
der FDP ein bemerkenswertes Interview gegeben, in
dem sie sagte:

Das Gejammer der Kommunen nervt mich.


(Joachim Poß [SPD]: Wer hat das gesagt?)


– Das hat Frau Homburger gesagt.


(Joachim Poß [SPD]: Ach, Frau Homburger!)


Die Reaktion von Schwarz-Gelb in diesem Jahr war
doch: Allein die Maßnahmen, die Sie mit dem Wachs-
tumsbeschleunigungsgesetz beschlossen haben, kosten





Peter Friedrich


(A) (C)



(D)(B)

jede baden-württembergische Kommune in diesem Jahr
35 Euro pro Einwohner an nicht eintretenden Steuerein-
nahmen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Quatsch!)


Das ist nur eine Zahl für Baden-Württemberg; aber es ist
flächendeckend so. Baden-Württemberg ist das Land,
das in der Vergangenheit am meisten von hohen Gewer-
besteuereinnahmen profitiert hat. 86 von 91 großen
Kreisstädten haben inzwischen eine negative Nettoin-
vestitionsrate. Das ist auch das Ergebnis Ihrer Politik.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wie reagieren die Kommunen darauf? Sie reagieren
mit der Schließung von Einrichtungen und – das wollten
Sie auf keinen Fall – mit Steuererhöhungen. Außerdem
reagieren die Kommunen mit Anpassungen der Gebüh-
ren – in der Regel nach oben – für Kindergärten, Biblio-
theken und sonstige öffentliche Einrichtungen. Was wir
hier sehen, ist nichts anderes als das Spiegelbild Ihrer
Mehr-Netto-vom-Brutto-Lüge. Sie über-lassen den Kom-
munen die Aufgabe, bei den kommunalen Steuern und
Abgaben zuzulangen, da Sie ihnen die Butter vom Brot
nehmen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wenn man sich die Aufgaben der Kommunen an-
schaut, stellt man fest, dass ihre Politik dramatische Fol-
gen hat. Die Kommunen sind dafür zuständig, dass wir
gute Bildungseinrichtungen haben. Die Kommunen sind
inzwischen die wahren Träger der Bildungspolitik. Mit
dem, was Sie bisher getan haben und noch vorhaben
– ich komme gleich auf das zu sprechen, was Sie prüfen
lassen –, nehmen Sie den Kommunen in Wahrheit die
finanzielle Grundlage, die sie benötigen, um Bildungs-
einrichtungen und andere soziale Einrichtungen zu
finanzieren. Deswegen richtet sich Ihr Vorschlag gegen
Bildung. Aus meiner Sicht ist die FDP daher eine Anti-
bildungspartei.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Widerspruch bei der FDP)


Zum Zuschlagsmodell. Die Unterlagen, über die in
der Kommission diskutiert wird, sind doch einsehbar. Es
gibt einen wunderbaren Zwischenbericht des Arbeits-
kreises Administrierbarkeit für die Sitzung der Arbeits-
gruppe Kommunalsteuern am 17. Juni 2010. Diesen Be-
richt haben Sie. Schauen Sie ihn sich doch einmal an.
Kollegin Haßelmann hat das Thema schon angespro-
chen. Es geht um die nochmalige Günstigkeitsprüfung,
den Familienleistungsausgleich, an den man noch ein-
mal herangeht, um Abgrenzungsprobleme bei der Ver-
rechnung ausländischer Steuerverpflichtungen, um die
Frage des sogenannten unterjährigen Wohnsitzwechsels
und um die Zuschlagsverwaltung durch die Kommunen.
Seitenlang wird dargelegt, welcher Verwaltungsaufwand
notwendig ist, um dieses kleine Fenster, das Sie anbieten
wollen, überhaupt administrieren zu können. Ich sage Ih-
nen: Am Ende wird die Soße teurer als der Braten.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Sie würden eine riesige Bürokratie und eine enorme Ver-
unsicherung aufbauen. Schauen Sie doch einmal in die
Schweiz. In vielen Dingen bin ich ein Fan der Schweiz:
Volksentscheide etc. Aber die Kommunalisierung des
Steuersystems hat in der Schweiz zu einem Steuersen-
kungswettbewerb geführt und damit zu einer Senkung
der Standards.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Schweizer Käse mit vielen Löchern!)


Also, lassen Sie die Finger davon. Gehen Sie mit uns
daran, die Gewerbesteuer auf eine vernünftigere, breitere
Grundlage zu stellen, damit es auch in der Wirtschaft
zwischen den Beteiligten gerecht zugeht. Dann wird ein
Schuh daraus. Lassen Sie die Finger von Ihrem Vorha-
ben. Zeigen Sie vielleicht ein klein bisschen Reue für
das, was Sie in dieser Woche bei diesem Thema aufge-
führt haben. Nach dieser Behandlung des Finanzminis-
ters durch Ihren Koalitionspartner würde ich ein biss-
chen zerknirscht an das Rednerpult treten und weniger
auf diejenigen einprügeln, die in früherer Zeit Regie-
rungsverantwortung innehatten.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1707109600

Das Wort hat der Kollege Peter Aumer von der CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Peter Aumer (CSU):
Rede ID: ID1707109700

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Ich durfte die Debatte jetzt eine Stunde lang verfol-
gen. Ich habe mich gefragt: Was wollte die SPD mit die-
ser Aktuellen Stunde erreichen?


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Gute Frage!)


Kam von der Opposition ein konstruktiver Vorschlag,
wie es mit den Kommunalfinanzen in Zukunft weiterge-
hen soll? Nein, der kam nicht. Es kamen Angriffe auf die
Regierung.


(Zuruf von der LINKEN)


– Ich war mit allen Sinnen anwesend, obwohl heute Fa-
schingsanfang ist. Aber der Faschingsanfang wurde eher
auf der linken Seite des Hauses zelebriert als auf unserer.

Uns geht es um ein konstruktives Arbeiten für
Deutschland. Uns geht es darum, dass die Kommunen
eine gute Zukunft haben. Wir versuchen in der Gemein-
definanzkommission gemeinsam, eine tragfähige und
zukunftsfähige Lösung für unsere Kommunen zu finden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich glaube, es ist wichtig, dass man in der Sache streitet
und kämpft. Man muss alles andenken; das steht auch in





Peter Aumer


(A) (C)



(D)(B)

der heutigen Ausgabe der Zeit. Man muss über den Er-
halt der Gewerbesteuer nachdenken, alle Möglichkeiten
überdenken und nach guten Lösungen suchen.

Sie haben heute den nordrhein-westfälischen Landtag
angesprochen. Ich habe in einer Stellungnahme des
Hauptgeschäftsführers des Städte- und Gemeindebun-
des Nordrhein-Westfalen eine Aussage zu dem Gespräch
mit Bundesfinanzminister Schäuble in der letzten Woche
gefunden. Er hat geschrieben, dass das jüngste Gespräch
mit dem Bundesfinanzminister Dr. Schäuble Anlass zur
Hoffnung gibt, dass die Arbeit der Gemeindefinanzkom-
mission zu übergreifenden Ergebnissen führen wird. Das
ist das, was wir wollen. Wir wollen Ergebnisse für die
Kommunen. Wir wollen zukunftsorientierte Lösungen
im Bereich der Kommunalfinanzen. Wir wollen aber
keine unnötige Diskussion. Wir sind dabei, Lösungen zu
finden. Ich finde es nicht abwegig, dass man sich manch-
mal streitet. Manche Lösungen lassen sich im Streit gut
erarbeiten. Wir haben die parlamentarische Debatte noch
nicht einmal begonnen. Wenn wir so weit sind, sind
CDU/CSU und FDP sicherlich in der Lage, eine für die
Kommunen gute Lösung zu finden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich glaube, es war wichtig, dass der Bundesfinanz-
minister in der letzten Woche gesagt hat, dass es ohne
die Kommunen keine Entscheidung geben wird.

Das war, glaube ich, das Zentrale. Der zweite Punkt war,
dass man ausgaben- und einnahmeseitig Lösungen fin-
den muss. Das ist der wesentliche Punkt, über den wir
heute streiten müssen.

Der Hauptgeschäftsführer hat gesagt, es müssten
greifbare Ergebnisse geliefert werden, nur so könnten
wir wieder Vertrauen schaffen. Wir haben in diesem
Herbst greifbare Ergebnisse auf den Weg gebracht. Die
letzten Wochen haben gezeigt, dass die Koalition ent-
scheidungsfähig ist, dass wir Entscheidungen auf den
Weg bringen, die für die Zukunft unseres Landes wichtig
sind. Das wird auch bei den Kommunalfinanzen so sein.

Der Bundesfinanzminister hat die Gewerbesteuer auf
den Prüfstand gestellt. Wir als CSU haben immer gesagt,
dass es ohne die Zustimmung der Kommunen keine Än-
derung bei der Gewerbesteuer geben wird. Ich glaube,
dass man sich in der letzten Woche einig war, dass man
nur gemeinsam Lösungen finden kann.

Ein Hebesatz auf die Einkommensteuer ist ein überle-
genswerter Ansatz, den es zu prüfen gilt.


(Bernd Scheelen [SPD]: Da stehen Sie auf der anderen Seite des Rubikons!)


– Das sagen Sie. Ich bin in zwei kommunalen Parlamen-
ten: im Gemeinderat bei mir zu Hause und im Kreistag.
Sich von der SPD vorhalten zu lassen, wir seien fern der
kommunalen Wahrheit, würde ich mir fast schon verbit-
ten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich glaube, der größte Teil aller hier im Bundestag Ver-
tretenen – auch unserer Fraktion – ist kommunalpoli-
tisch verankert und weiß, um was es geht. Die Kommu-
nen sind ein wesentlicher Bestandteil des deutschen
Staatssystems.

Ich glaube, wir brauchen auch nicht die Linken, um
gute Entscheidungen zu treffen.


(Katrin Kunert [DIE LINKE]: Doch! Sie brauchen die Linken!)


Die Gemeindewirtschaftsteuer ist kein durchdachter
Vorschlag. Rechnen Sie das Modell doch einmal durch,
und legen Sie auch Zahlen für das, was Sie vorschlagen,
auf den Tisch. Dann kann man weiter darüber reden.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das ist doch das kommunale Modell!)


Aber stellen Sie nicht irgendwelche Forderungen, die
nichts bringen, die nicht zukunftsorientiert sind und
keine Lösungen darstellen.


(Katrin Kunert [DIE LINKE]: Dann prüfen Sie doch mal das kommunale Modell!)


Mir ist bei der Debatte ein Zitat aus der Heiligen
Schrift eingefallen. Der Heilige Paulus hat einmal ge-
sagt: Prüfet alles, und behaltet das Beste. – Ich glaube,
das ist in dieser Debatte auch sinnvoll. Wir machen uns
Gedanken über das Große und Ganze, darüber, wie man
die Kommunalfinanzen befördern kann. Ich glaube, we-
sentlich ist, dass wir die Kommunen nicht alleinlassen
und die beste Entscheidung finden. Mir ist nicht bange.


(Katrin Kunert [DIE LINKE]: Aber uns ist bange!)


– Ja, das kann sein. Ich glaube, die Menschen haben uns
ihr Vertrauen geschenkt, weil wir für Deutschland und
für die Kommunen arbeiten, und dass das Beste am Ende
siegen wird.

Vielleicht sollten wir bei den nächsten Aktuellen
Stunden konstruktiv diskutieren, Lösungen auf den
Tisch legen und nicht nur für Unterhaltung sorgen und
einen Keil in die Regierung treiben. Dann ergibt das
Ganze Sinn.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1707109800

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt

erteile ich dem Kollegen Bernhard Kaster von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Bernhard Kaster (CDU):
Rede ID: ID1707109900

Sehr geehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Das, was wir uns jetzt von der SPD zum
Thema Kommunalfinanzen haben anhören müssen, war
nichts anderes als politische Schaumschlägerei.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ausgerechnet Sie von der SPD sorgen sich heute um
Meinungsverschiedenheiten in der Bundesregierung, ob-
wohl Sie genau wissen, dass das Thema Kommunalfi-





Bernhard Kaster


(A) (C)



(D)(B)

nanzen von der Bundesregierung und der Koalition in
Verbindung mit den Ländern und den kommunalen Spit-
zenverbänden, die Sie immer außen vor gelassen haben,
in einem Maße angegangen wird, wie es noch nie der
Fall war.


(Beifall bei der CDU/CSU – Bernd Scheelen [SPD]: Das ist doch überhaupt nicht wahr!)


Es geht außerdem nicht nur um Kommunalfinanzen;
da liegt der Unterschied. Es geht auch um Standards, um
Ausgabenentlastungen und um eine bessere Beteiligung
der Kommunen am Gesetzgebungsverfahren. Wir wol-
len eine Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung.
Sie wissen ganz genau, dass wir auf dem Gebiet der
Standards – Staatssekretär Koschyk hat das schon er-
wähnt – auf einem guten Weg sind; es liegen rund
100 Vorschläge vor.


(Bernd Scheelen [SPD]: 87, um genau zu sein!)


Auch beim Gesetzgebungsverfahren kommen wir voran.
Wir hatten in der letzten Sitzungswoche schon Anhörun-
gen im Geschäftsordnungsausschuss. Vieles ist auf ei-
nem guten Weg, und am Ende wird ein vielfältiger Pakt
für die Kommunen stehen.

Es ist schon dreist, wie Sie beim Thema Kommunen
heute dicke Backe machen, wo Sie doch in rot-grüner
Zeit – das ist schon angesprochen worden; aber man
kann es nicht oft genug sagen –, als die SPD die Bundes-
regierung geführt hat, hinsichtlich der Stärkung der
Kommunen jegliche Glaubwürdigkeit verloren haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Man muss immer wieder daran erinnern, dass in den Jah-
ren bis 2005 die kommunalen Defizite auf 8 bzw.
9 Milliarden Euro gestiegen sind; im Schnitt waren es
5 Milliarden Euro. Zu der Zeit hatten wir keine globale
Finanz- und Wirtschaftskrise; das war die rot-grüne
Krise für die Kommunen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die Gewerbesteuerumlage wurde erhöht, und in einer
Nacht-und-Nebel-Aktion – da war die Bundestagswahl
schon gelaufen – wollte man noch den Zuschuss zu den
Kosten der Unterkunft auf null setzen.


(Bernd Scheelen [SPD]: Das ist eine Lüge! Informieren Sie sich, warum das so war!)


Ich muss sagen: Sie waren wahre Helden.

Unser Finanzminister hat nunmehr sehr diskussions-
würdige innovative Vorschläge unterbreitet. Dazu gehört
auch das kommunale Zuschlagsrecht bei der Einkom-
mensteuer. Dieser Vorschlag greift unser Verständnis
von Selbstverwaltung, von Subsidiarität und von Verant-
wortung vor Ort auf. Bei den Kommunalfinanzen darf es
eben nicht nur darum gehen, dass der Bund gönnerhaft
Geld gibt oder, wie Sie es getan haben, machtvoll
nimmt. Geld und Verantwortung gehören immer zusam-
men.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär: Sehr richtig!)


Bei der Finanzierung der Kommunen müssen wir im-
mer drei wichtige Finanzbeziehungen bedenken: die Be-
ziehung zwischen Kommune und Bürger, die Beziehung
zwischen Kommune und Wirtschaft sowie die Bezie-
hung zwischen Kommune und Grund und Boden. In der
Beziehung zwischen Kommune und Wirtschaft haben
wir bereits Gestaltungsmöglichkeiten, nämlich Hebe-
sätze. Wir haben ebenfalls Gestaltungsmöglichkeiten in
der Beziehung zwischen Kommune und Grund und Bo-
den. Dieser Vorschlag ist daher im Hinblick auf Ent-
scheidungsmöglichkeiten vor Ort sehr diskussionswür-
dig und passt in die Systematik.

Wie waren die Reaktionen seitens der SPD? Man
kann feststellen, dass es auch bei einem solchen Thema
anscheinend nicht möglich ist, auf Grundsätzen basie-
rende Zukunftsentscheidungen innovativ und mutig zu
treffen. Sie reagieren je nach tagespolitischer Stimmung.
Das war auch hier der Fall. Die Rede war von Steuer-
krieg und ganz schlimmen Wettbewerbssituationen.
Ausgerechnet der Ministerpräsident von Rheinland-
Pfalz sprach von gigantischen Steuererhöhungen, also
der Ministerpräsident eines Landes, das allein von der
SPD regiert wird und bereits seit Jahren die Kommunen
im Rahmen des Finanzausgleichs plündert.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Hier ist jetzt von Wanderbewegungen und Steuer-
erhöhungen die Rede. Über was genau sprechen wir bei
einem solchen Zuschlagsrecht? Es geht um einen 15-pro-
zentigen Anteil der Kommunen am Einkommensteuer-
aufkommen. Wenn man den Rahmen von 5 Prozent voll
ausschöpfen würde, würde der kommunale Anteil bei ei-
nem mittleren Einkommen – hier geht es um 10 000 Euro
Einkommensteuer – im Jahr bei 75 Euro liegen. Bei gu-
ten Einkommen würde dieser Anteil vielleicht 200 bis
300 Euro betragen. Angesichts dessen von Wanderbewe-
gungen zu sprechen, wohl wissend, dass die Unter-
schiede zwischen den Gemeinden bei Abwasser- und
Abfallgebühren sowie Grundsteuer wesentlich größer
sind, ist einfach Unsinn.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Selbstverwaltung trägt in einem ganz erheblichen
Maße zur Stärke unseres Landes bei. Haben wir Zu-
trauen in die Bürger vor Ort, die sich für ihre Gemeinde,
ihre Stadt ehrenamtlich engagieren! Es lohnt sich, die
Finanzgrundlagen unserer Kommunen, die Verantwor-
tung vor Ort tragen, nachhaltig und dauerhaft zu sichern.
Für uns, die Union und die Koalition, gilt: Wir müssen
den Kommunen und ihren gewählten Vertretern Ver-
trauen schenken und ihnen Geld und Verantwortung
überlassen. Wenn es den Gemeinden gut geht, geht es
dem ganzen Land gut.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1707110000

Die Aktuelle Stunde ist beendet.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 a und b auf:

a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung des
Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Kran-

(Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz – AMNOG)


– Drucksache 17/2413 –

– Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in

(Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz – AMNOG)


– Drucksachen 17/3116, 17/3211 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Gesundheit (14. Ausschuss)


– Drucksache 17/3698 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Hennrich
Dr. Marlies Volkmer
Ulrike Flach
Dr. Martina Bunge
Birgitt Bender

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(14. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Karl
Lauterbach, Dr. Marlies Volkmer, Elke Ferner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD

Effektivere Arzneimittelversorgung

– zu dem Antrag der Abgeordneten René Röspel,
Dr. Marlies Volkmer, Dr. Ernst Dieter
Rossmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Öffentlichen Zugang zu Informationen über
klinische Studien umfassend sicherstellen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Petra
Sitte, Agnes Alpers, Dr. Martina Bunge, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Verpflichtung zur Registrierung aller klini-
schen Studien und zur Veröffentlichung aller
Studienergebnisse einführen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Kathrin
Vogler, Dr. Martina Bunge, Karin Binder, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Unabhängige Patientenberatung in Regelan-
gebot überführen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Kathrin
Vogler, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Für ein modernes Preisbildungssystem bei
Arzneimitteln

– zu dem Antrag der Abgeordneten Birgitt
Bender, Fritz Kuhn, Maria Anna Klein-
Schmeink, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Qualität und Sicherheit der Arzneimittel-
versorgung verbessern – Positivliste einfüh-
ren – Arzneimittelpreise begrenzen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Maria Anna
Klein-Schmeink, Fritz Kuhn, Birgitt Bender,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Unabhängige Patientenberatung ausbauen
und in die Regelversorgung überführen

Drucksachen 17/1201, 17/1768, 17/893, 17/2322,
17/2324, 17/1418, 17/1985, 17/3698 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ulrike Flach

Zu dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU
und der FDP liegen ein Änderungsantrag und ein Ent-
schließungsantrag der Fraktion der SPD sowie ein Ent-
schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
vor. Über den Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP sowie über den Entschließungsantrag
der Fraktion der SPD werden wir später namentlich ab-
stimmen.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. Gibt es Wider-
spruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Bundesminister Dr. Philipp Rösler das Wort.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1707110100

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren Abgeordnete! Die Maßnahmen zur Neuordnung
des Arzneimittelmarktes in Deutschland haben drei we-
sentliche Ziele: erstens auch die Pharmaindustrie in Ver-
antwortung zu nehmen, wenn es darum geht, die finan-
zielle Lage der gesetzlichen Krankenversicherung zu
konsolidieren; zweitens das bisherige Preismonopol der
Industrie durch die Etablierung eines neuen, wettbe-
werblichen und damit fairen Preisfindungsverfahrens zu
brechen und drittens den Zugang der Menschen zu den
bestmöglichen Medikamenten sicherzustellen, und dies
bei gleichzeitig besserer Preiskontrolle, als sie bisher
möglich ist. Wenn Sie sich den aktuellen Gesetzentwurf
ansehen, dann können Sie feststellen, dass alle drei Ziele
zu 100 Prozent erreicht worden sind.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Nein! Alle verfehlt!)






Bundesminister Dr. Philipp Rösler


(A) (C)



(D)(B)

Alleine durch das GKV-Änderungsgesetz und das
Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz, dessen Entwurf
Ihnen vorliegt, werden im letzten Quartal 2010 und im
Gesamtjahr 2011 für die Versicherten in Deutschland
Einsparungen in Höhe von 2 Milliarden Euro realisiert.
Nur zur Erinnerung: In Ihrer rot-grünen Regierungszeit
hatten auch Sie angekündigt, die Pharmaindustrie mit
Sparpaketen in Milliardenhöhe zu belasten. Daraus ist
eine Einmalzahlung in Höhe von 400 Millionen Euro ge-
worden. Dieses Zahlenbeispiel zeigt, wie entschlossen
diese Regierungskoalition ist, wenn es darum geht, auch
die Pharmaindustrie im Interesse der Versicherten in
Verantwortung zu nehmen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Frau Bender, es war übrigens eine grüne Ministerin, die
diesen Versuch unternommen hat und am Ende geschei-
tert ist.

Die einseitige Preisfestlegung wird beendet. Künftig
wird die Industrie bei der Einführung eines neuen Pro-
dukts immer auch Daten vorlegen müssen, die die Men-
schen in die Lage versetzen, den Nutzen bzw. den Zu-
satznutzen zu bewerten. Anders als es manchmal von der
Opposition dargestellt wird, soll diese Nutzenbewertung
ausdrücklich nicht von der Industrie vorgenommen wer-
den, sondern von einem unabhängigen Gremium der
Selbstverwaltung, nämlich vom Gemeinsamen Bundes-
ausschuss, gegebenenfalls unter Hinzuziehung des Instituts
für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswe-
sen. Dadurch stellen wir sicher, dass es keine überhöhten
Preisforderungen gibt, wie Sie, lieber Herr Kollege
Lauterbach, manchmal zu unterstellen versuchen. Denn
künftig werden nicht mehr die Preiskalkulationen der In-
dustrie, sondern die entsprechenden Nutzenbewertungen
Grundlage der Vertragsverhandlungen sein.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Erstmalig gibt es also eine wissenschaftliche Grundlage
für die künftige Preisgestaltung.

Medikamente, die im Vergleich zu anderen Medika-
menten keinen Zusatznutzen haben, werden übrigens au-
tomatisch in die sogenannten Festbetragsgruppen einge-
ordnet. Mit diesen Medikamenten kann man dann keinen
höheren Preis als mit vergleichbaren Therapeutika mehr
realisieren. Wir halten die Argumentation „kein Zusatz-
nutzen, also auch keine zusätzliche Bezahlung“ aus-
drücklich für richtig. Wir jedenfalls wollen die bisher
vorhandenen Anreize für Scheininnovationen, die dazu
führen, dass bei Medikamenten nur der Name, die Farbe
und vielleicht ein paar Molekülgruppen verändert wer-
den, beseitigen. Wir wollen, dass die Menschen in unse-
rem Lande zukünftig nur noch Innovationen erhalten,
auf die sie sich verlassen können und die einen tatsächli-
chen Nutzen haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Gerade im Hinblick auf die Frage nach dem Nutzen
für die Menschen machen wir uns große Sorgen um die
Opposition. Wir verstehen, dass Polemik zur Rolle der
Opposition gehört. Bei aller Diskussion darf man aber
nicht die Fachlichkeit vergessen. Man darf auch nicht
vergessen, für wen wir solche Gesetze überhaupt ma-
chen, nämlich für die Patientinnen und Patienten.


(Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Das ist richtig!)


Ihre Äußerungen gerade zu den seltenen Erkrankungen
finde ich mehr als bedenklich. Ich will ausdrücklich fest-
halten: Seltene Erkrankungen heißen so, weil sie – Über-
raschung – selten sind. Es sind also nur wenige Men-
schen davon betroffen. Leider stellen diese Menschen
eine so kleine Gruppe dar, dass sich die Industrie nicht
die Mühe macht, Medikamente für diese Menschen zu
erforschen, geschweige denn zuzulassen. Für Sie ist die
Gruppe vielleicht so klein, dass Sie sich um diese Men-
schen nicht kümmern wollen. Diese Regierungskoalition
kümmert sich aber auch um diese Menschen und sorgt
dafür, dass auf der einen Seite der Zugang für Menschen
mit seltenen Krankheiten zu Medikamenten sicherge-
stellt wird und dass auf der anderen Seite diese Regelun-
gen nicht missbraucht werden können, um den Markt
mit ungeprüften Medikamenten zu überschwemmen.
Wir haben die richtige Balance gefunden


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


zwischen dem Zugang der Menschen zu den bestmögli-
chen Innovationen auf der einen Seite und der Kosten-
kontrolle auf der anderen Seite. Genau das war das Ziel.

Wir als christlich-liberale Koalition wollen es nicht
zulassen, dass die Arzneimittelpreise in Deutschland
deutlich höher sind als im europäischen Ausland; deswe-
gen haben wir diesen Gesetzentwurf auf den Weg ge-
bracht. Das wird künftig nicht mehr möglich sein. Ich
hoffe, Sie stimmen dem Gesetzentwurf zu.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1707110200

Das Wort hat der Kollege Dr. Karl Lauterbach von der

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Rede ID: ID1707110300

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Der Gesetzentwurf, über welchen heute abgestimmt
wird, ist nichts anderes als eine Mogelpackung, um in
der Sprache der Pharmaindustrie zu bleiben. Mehr ist er
nicht. Er ist eine Mogelpackung, weil weder die Kosten
begrenzt werden noch die Qualität verbessert wird. Die
Therapie wird unsicherer gemacht.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Heute ist ja Karnevalsanfang!)


Ich will Ihnen das erläutern. Brauchbar ist ohne Wenn
und Aber die Erhöhung des Zwangsrabattes.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Immerhin!)


Selbst das wird aber keine lange Wirkung haben; denn
selbstverständlich werden es die Pharmaunternehmen
schaffen, die Versorgung auf teurere Medikamente um-
zustellen. Sie haben nichts unternommen, um sicherzu-





Dr. Karl Lauterbach


(A) (C)



(D)(B)

stellen, dass auch die richtigen Medikamente eingesetzt
werden.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Das glauben nur Sie!)


Bedenken Sie: Dieser Gesetzentwurf enthält keinen ein-
zigen Aspekt, bei dem es darum geht, dass die richtigen
Arzneimittel eingesetzt werden.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Das ist ja Quatsch!)


Dieser Gesetzentwurf beinhaltet keinen einzigen As-
pekt des Verbraucherschutzes.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Die Verbraucher zahlen 2,4 Milliarden Euro weniger!)


In diesem Gesetzentwurf steht nichts, wodurch sicherge-
stellt wird, dass zum Beispiel die Marketingaktivitäten
der Pharmaindustrie verändert werden und dass nach
wissenschaftlich gesicherten Leitlinien behandelt wird.
Das ist ein reines Kostensenkungsgesetz, und diese Kos-
tensenkung wird noch nicht einmal funktionieren.


(Beifall bei der SPD – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Was denn? Entweder es funktioniert oder nicht!)


Sie haben keinen einzigen Vorschlag gemacht, aus
dem hervorgeht, wie der Patient vor der Verabreichung
von Arzneimitteln geschützt werden kann, die gar keine
Wirkung haben oder überteuert sind.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Trauen Sie den Ärzten gar nichts mehr zu?)


Sie haben lediglich Preisverhandlungen eingeführt.
Diese werden auf der Grundlage von Preisvorschlägen
der Pharmaindustrie und auf der Grundlage von Studien
geführt, die die Pharmaindustrie selbst vorlegt. Das ist
nichts anderes als eine Feilscherei auf der Grundlage von
Studien, die von der Industrie einem Gremium vorgelegt
werden, das selbst keine Studien erstellen kann und dem
keine anderen vorliegen.

Hinsichtlich der Kosten-Nutzen-Bewertung haben Sie
sich selbst gelobt und gesagt, es werde etwas eingeführt,
das es bisher nicht gab. Das ist nicht richtig. Die Kosten-
Nutzen-Bewertung war nach geltendem Recht schon im-
mer erlaubt und durchführbar. Sie ist aber nicht genutzt
worden. Sie hätten Druck ausüben müssen, damit das be-
stehende Gesetz genutzt wird, das besser als der Gesetz-
entwurf ist, den Sie jetzt verabschieden wollen.


(Beifall bei der SPD – Patrick Döring [FDP]: Warum hat Frau Schmidt das nicht gemacht?)


In einigen Bereichen werden Sie die Versorgung ver-
schlechtern, zum Beispiel wenn es um die integrierte
Versorgung geht, die die pharmazeutische Industrie jetzt
erstmalig mit anbieten kann. Es ist erstmalig möglich,
dass die Pharmaunternehmen selbst die integrierte Ver-
sorgung anbieten. Das hört sich zunächst einmal gut an:
Der Arzt bekommt dann ein zusätzliches Honorar; die
Kasse erhält einen Rabatt, und das Medikament des
Pharmaunternehmens kommt auf den Markt. Es sieht so
aus, als ob alle profitieren würden. Wer profitiert aber
nicht? Der Patient profitiert nicht, weil er dieses neue
Medikament, das er ohne den neuen Vertrag möglicher-
weise nie bekommen hätte, gar nicht braucht.


(Patrick Döring [FDP]: Hätte, könnte, würde, sollte!)


Herr Rösler, haben Sie über diesen Teil des Gesetz-
entwurfs jemals mit einem Medizinethiker gesprochen?
Ist Ihnen vielleicht einmal der Gedanke gekommen, sich
zu fragen, weshalb Regeln dieser Art in jedem anderen
europäischen Land nicht erlaubt sind? Weshalb ist das
so? Das ist so, weil man sicherstellen will, dass der Pa-
tient nicht als Absatzmarkt der Industrie betrachtet wird,
sondern so behandelt wird, wie er es braucht. Der Krebs-
patient ist in erster Linie Patient und kein Absatzmarkt,
der durch einen Vertrag bedient werden soll, wie es ihn
in dieser Form in keinem anderen europäischen Land
gibt.


(Beifall bei der SPD)


Ich kenne keinen Ethiker, der ein solches Gesetz befür-
worten würde.


(Ulrike Flach [FDP]: Das spricht aber eher gegen Sie! – Patrick Döring [FDP]: Sie kennen die falschen Leute!)


Bedenken Sie, was es bedeutet, wenn die Jahreskos-
ten für ein Medikament 100 000 Euro betragen. Wie
groß ist dann der Anreiz, vertraglich zu regeln, dass der
Arzt eine Bonifikation bekommt? Man kann das, was
Sie einführen wollen, auch als legalisierte Form der Kor-
ruption bezeichnen, sehr verehrter Herr Minister.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Patrick Döring [FDP]: Quatsch!)


Sie haben uns vorgeworfen, wir würden uns nicht für
seltene Krankheiten interessieren. Das Gegenteil ist die
Wahrheit. Bei den seltenen Krankheiten ist eine schnelle
Zulassung sinnvoll. Daher werden diese Medikamente
auch länger patentgeschützt. Aber wir wissen, dass diese
Regelung seit Jahren von der Industrie missbraucht wird.
Was aber machen Sie? Statt diesen Missbrauch einzu-
schränken, bohren Sie ihn auf, indem Sie diese Medika-
mente zusätzlich von der Kosten-Nutzen-Bewertung
ausnehmen. Damit setzen Sie einen Anreiz, dass mehr
Medikamente für kleine Krankheitsgruppen getestet und
zugelassen werden, obwohl sie dann für viel größere Pa-
tientengruppen eingesetzt werden. Dieser Trick, den die
Pharmaindustrie in ganz Europa und insbesondere bei
uns anwendet, wird sich durch Ihr Gesetz wahrschein-
lich weiterverbreiten. Somit werden Patienten mit selte-
nen Krankheiten durch Ihre Politik nicht geschützt. Viel-
mehr werden Medikamente gegen seltene Krankheiten
von einer notwendigen Nutzenbewertung, die nach Ih-
rem Gesetz schon schlecht genug ist, ausgenommen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Was die von Ihnen vorgesehenen Einsparungen an-
geht, ist es richtig, dass der Rabatt den Krankenkassen
etwas Geld bringen wird – es sind aber keine 1,5 Milliar-
den Euro, wie Sie glauben, sondern vielleicht 500 Mil-





Dr. Karl Lauterbach


(A) (C)



(D)(B)

lionen Euro, weil von einer Preissteigerung auszugehen
ist –, aber dafür wird der Patient in der Apotheke zusätz-
lich zur Kasse gebeten. Sie erhöhen die Zuzahlungen bei
Nachahmerprodukten. Bei nicht rabattierten Medika-
menten muss zukünftig der volle Betrag zugezahlt wer-
den. Hier gilt keine Obergrenze.


(Ulrike Flach [FDP]: Das müssen sie ja nicht kaufen!)


Damit holen sich die Pharmafirmen den kleinen Rabatt,
den Sie eingeführt haben, vom Patienten zurück. Das ist
nichts anderes als „linke Tasche, rechte Tasche“.


(Beifall bei der SPD)


Der Versicherte wird minimal entlastet, und die Pharma-
unternehmen holen es sich bei Kranken und älteren
Menschen zurück.

Frau Flach, Sie haben gesagt, dass die Medikamente
nicht gekauft werden müssen. Sie wissen doch selbst,
dass ein älterer Mensch, der nicht gerade zufällig eine
Ärztin als Tochter hat, das nicht entscheiden kann. Wir
wollen keine Ausnutzung und Abzockerei von wehrlo-
sen älteren Patienten. Patienten sind keine Kunden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Patrick Döring [FDP]: Unglaublich! Die FDP muss lernen, dass der Patient kein Kunde ist. Er ist in der Regel kein junger Geschäftsmann, der sich im Internet bedienen kann. Es sind keine Menschen wie Herr Rösler, die jung, gesund und gut ausgebildet sind. Es sind Menschen, die darauf angewiesen sind, dass Sie sie vor Abzockerei schützen. Aber Sie führen diese ein. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


In der Summe ist der Gesetzentwurf eine Mogel-
packung, die im Januar nächsten Jahres geöffnet wird.
Dann werden Sie sehen, dass Ihre ohnedies bescheide-
nen Zustimmungswerte weiter sinken werden; denn die
Menschen werden in der Apotheke zuzahlen müssen. Sie
werden merken, dass es Ärger mit den Verträgen mit der
Pharmaindustrie gibt. Sie werden sich über die dadurch
bedingten Kostenerhöhungen ärgern. Der Beitragssatz
wird nicht sinken, sondern steigen. Das kommt dabei he-
raus. Ich habe diesbezüglich kein Mitleid. Aber die Ver-
schlechterung der Versorgungsqualität ist ein Armuts-
zeugnis. Daher ist der Gesetzentwurf es nicht wert, dass
wir ihm zustimmen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1707110400

Das Wort hat der Kollege Johannes Singhammer von

der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Johannes Singhammer (CSU):
Rede ID: ID1707110500

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Heute ist ein guter Tag für 80 Millionen gesetzlich
und privat Krankenversicherte und alle, die in Deutsch-
land auf Heil- und Arzneimittel angewiesen sind.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD – SteffenClaudio Lemme [SPD]: Fasching fängt an!)


Mit der Verabschiedung des Arzneimittelmarktneu-
ordnungsgesetzes wird sichergestellt, dass Patienten in
Deutschland die besten und wirksamsten Arzneimittel
erhalten, die es weltweit gibt. Gleichzeitig zahlen die Pa-
tienten im kommenden Jahr 2,4 Milliarden Euro – das
sind 2 400 Millionen Euro – weniger. Der scheinbar un-
aufhaltsame, endlose, ewige Anstieg der Arzneimittel-
kosten wird gestoppt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Mit einem völlig neuen, innovativen Verfahren sorgen
wir für Transparenz und Klarheit darüber, ob ein Medi-
kament tatsächlich einen zusätzlichen Nutzen für den
Kranken bringt und nicht nur einen zusätzlichen Nutzen
für das Unternehmen hat. Deshalb können alle, die mit-
gearbeitet haben, zu Recht zufrieden, ja stolz sein, dass
wir dieses Gesetz heute in zweiter und dritter Lesung
verabschieden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir verabschieden in Gesetzestafeln – damit setzen
wir ein Versprechen um –, was wir zu Beginn des Jahres
als Eckpunkte angekündigt haben.


(Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Gesetzestafeln wie auf dem Berg Sinai?)


Es ist ein Gesetz, das Bestand haben wird. Es wird eine
Umkehrung des genannten, scheinbar unaufhaltsamen
Trends bedeuten. Von 1998 bis 2009 sind die Arzneimit-
telausgaben von 18 Milliarden Euro auf über 32 Milliar-
den Euro gestiegen. So konnte es nicht weitergehen.
Jetzt wird nachprüfbar eingespart – hören sie genau zu –:
1,2 Milliarden Euro durch die Erhöhung des gesetzli-
chen Herstellerrabatts auf 16 Prozent; 200 Millionen
Euro durch Einbeziehung der Arzneimittel aus Kranken-
hausambulanzen; 200 Millionen Euro durch Übertra-
gung der gesetzlichen Herstellerrabatte auf die private
Krankenversicherung; 200 Millionen Euro durch Anhe-
bung des Apothekenrabatts von 1,70 Euro auf 2,05 Euro
je Packung; 200 Millionen Euro beim Großhandel;
300 Millionen Euro durch Rabattsenkung der Impfstoff-
preise auf das Niveau internationaler Vergleichspreise
und 100 Millionen Euro bei Zytostatika. Wer diese Zah-
len als schlagenden Beweis für ein Einknicken gegen-
über Lobbyismus und der Pharmaindustrie anführen
will, der leidet an Gehirnschwurbel.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche Diagnose ist das?)


Einsparmaßnahmen sind nicht nur angenehm, son-
dern sie bedeuten für manche Beteiligte auch Härten.
Deshalb müssen sie mit Vernunft und Augenmaß erfol-





Johannes Singhammer


(A) (C)



(D)(B)

gen. Wir haben durchgesetzt – der Minister ist bereits
darauf eingegangen –, dass Arzneimittel für seltene
Krankheiten weiterentwickelt werden, dass Patienten-
gruppen mit nur 500 bis 1 000 Betroffenen in Deutsch-
land nicht alleingelassen und vom Fortschritt ausge-
schlossen werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deshalb gibt es eine klare Ausnahmeregelung für seltene
Krankheiten, für die sogenannten Orphan Drugs.


(Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gehört Gehirnschwurbel auch dazu? – Volker Kauder [CDU/CSU]: Say it in German, please!)


Aber damit nicht Möglichkeiten für raffinierte Umge-
hungen eröffnet werden, wird das Umsatzvolumen bei
diesen Arzneimitteln auf 50 Millionen Euro begrenzt.

Wir haben auch erreicht, dass mittelständische phar-
mazeutische Unternehmen, die oft jahrelangen For-
schungsaufwand für nur ein oder zwei Medikamente be-
treiben, nicht in eine finanzielle Schieflage geraten.
Deshalb können diese Unternehmen mit einem völlig
unbürokratischen Antrag Freistellung von den gesetzli-
chen Rabatten verlangen. Damit sichern wir Arbeits-
plätze bei diesen mittelständischen Unternehmen, um
die es uns auch geht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Karl Lauterbach [SPD]: In erster Linie!)


– Gehen Sie doch einmal zu einer Demonstration von
Arbeitnehmern eines solchen Unternehmens mit oft nur
100 bis 200 Arbeitnehmern und sagen Sie ihnen, das sei
Ihnen egal.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Die gehen nur ins Wendland!)


Uns sind diese Arbeitsplätze nicht egal, und deshalb ha-
ben wir da einen Sondertatbestand geschaffen.

Wir stehen zu dem selbstständigen Beruf der Apothe-
ker. In einem Paket, mit dem wir allen Leistungserbrin-
gern – Arbeitgebern, gesetzlichen Krankenkassen usw. –
Sparmaßnahmen abverlangen, müssen auch sie einen
Sparbeitrag leisten. Durch eindeutige Formulierungen
haben wir aber sichergestellt, dass sich die Befürchtung
der Apotheker, dass der Sparbeitrag in Höhe von
200 Millionen Euro, den der Pharmagroßhandel erbrin-
gen muss, auf die Apotheken abgewälzt werde, nicht be-
wahrheitet, sondern dass es bei diesem Sparbeitrag
bleibt. Wir werden zudem das Versprechen, das wir im
Koalitionsvertrag gegeben haben, nämlich dass die Pick-
up-Stellen nicht zugelassen werden, halten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Volker Kauder [CDU/CSU]: Wir sind doch keine Hühner!)


Wir wollen Deutschland wieder zur Apotheke zumin-
dest Europas machen. Wo steht geschrieben, dass die
Zeit endgültig vorbei sei, dass von Deutschland Innova-
tionen ausgehen? Wir werden mit dem innovativen An-
satz des Zusatznutzens Standards setzen, und zwar nicht
nur für die Patienten. Das bietet auch Unternehmen eine
Chance, auf dem Leitmarkt Deutschland mit zertifizier-
ten Produkten einen Standard zu setzen, der auch für die
Märkte außerhalb Deutschlands Bedeutung hat.


(Beifall des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU])


Dazu brauchen die Unternehmen, die über Jahre hinweg
investieren, Rechtssicherheit. Deshalb ist es richtig, dass
der Bundesminister durch eine Verordnung die Verfah-
ren regeln will, die den Zusatznutzen feststellen. Damit
wird ein rechtssicheres, faires Verfahren für alle garan-
tiert.

Für uns als Union war es besonders wichtig, Bürokra-
tie abzubauen und den Wettbewerb zu stimulieren.


(Elke Ferner [SPD]: Davon merkt man wenig!)


Bonus-Malus-Regelung, Zweitmeinung – weg! Wirt-
schaftlichkeitsprüfung – verschlankt! Therapiehinweise
und Verordnungsausschlüsse – kurz und knapp geregelt!
Es gibt mehr Wettbewerb, weil Verhandlungen zwischen
den Pharmaunternehmen und den Kostenträgern künftig
zwingend vorgeschrieben sind. Ab Januar können die
Preise nicht mehr nach eigenem Ermessen festgelegt
werden. Künftig gilt das Wettbewerbsrecht bei Selektiv-
verträgen, nicht bei Kollektivverträgen.

Wir als Union setzen damit unser Versprechen um, in
Deutschland einen der modernsten Arzneimittelmärkte
zu schaffen. Was die Menschen in Deutschland jetzt
nicht brauchen, sind ewige Berufsnörgler, Berufs-
schlechtredner, die nichts anderes wollen, als das be-
rühmte Haar in der Suppe zu finden. Nein, die Patienten
in Deutschland brauchen eine Politik, die die neuen
Wege, die wir heute beschreiten, mutig weitergeht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Geschwurbel!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1707110600

Das Wort hat die Kollegin Kathrin Vogler von der

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707110700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich

möchte mich zunächst einmal recht herzlich bei den Ab-
geordneten der Koalition bedanken, aber nicht für die
Legendenbildung, die der Kollege Singhammer gerade
betrieben hat, sondern dafür, dass wir heute überhaupt
über den Entwurf eines Arzneimittelneuordnungsgeset-
zes hier im Plenum beraten. Das hatten Sie nämlich ur-
sprünglich gar nicht vor. Es ist vielmehr der Intervention
der Linken zu verdanken, dass wir uns dafür heute zu-
mindest eine Stunde Zeit nehmen.


(Ulrike Flach [FDP]: Das ist ein Irrtum, Frau Vogler!)


Eigentlich hatten Sie vor, dieses wichtige Paket parla-
mentarischer Initiativen versteckt hinter dem GKV-
Finanzierungsgesetz morgen, am Freitag, in gerade ein-





Kathrin Vogler


(A) (C)



(D)(B)

mal 90 Minuten abzufrühstücken. Ein solches Durch-
peitschen und ein solches Aushebeln der demokratischen
Rechte der Opposition, das Sie schon bei den AKW-
Laufzeiten praktiziert haben, lassen wir Ihnen nicht
mehr durchgehen.


(Beifall bei der LINKEN)


In dieser Woche wendeten Sie wieder einen takti-
schen Trick an, um die Rechte des Parlaments zu be-
schneiden und die Öffentlichkeit zu täuschen. Erst zur
Ausschusssitzung am Montag dieser Woche haben Sie
einen weiteren Änderungsantrag zu dem GKV-Finanzie-
rungsgesetz gestellt und das Ganze weiter verschlimm-
bessert. Sie wollen die Einführung der umstrittenen Ge-
sundheitskarte forcieren und die Krankenkassen unter
Androhung empfindlicher Geldstrafen dazu zwingen, in-
nerhalb eines Jahres mindestens 10 Prozent der Versi-
cherten mit dieser Karte auszustatten.

So macht Schwarz-Gelb Politik und Gesetze: am
Montag im Ausschuss, am Freitag schon im Plenum be-
schlossen, ohne erste Lesung, ohne ausführliche Debatte
im Ausschuss, ohne Anhörung von Expertinnen und Ex-
perten.

Sie, Herr Bahr, haben in der Presse behauptet, es han-
dele sich ja nur um eine „abgespeckte Version“ der
Karte.


(Patrick Döring [FDP]: Was Herr Bahr sagt, das stimmt!)


Ich wüsste gerne, woher Sie das haben. Im Gesetz steht
das nämlich nicht. Vermutlich war Ihnen klar, dass Sie
auch für dieses Projekt keine Lorbeeren bei den Fachleu-
ten ernten würden.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Das ist die Rede für morgen!)


Die Bedenken, was den Datenschutz angeht, hätte ich
gerne noch in einer Anhörung debattiert, zumal der elek-
tronische Personalausweis nicht einmal 24 Stunden alt
war, als er bereits gehackt worden ist.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Das kommt erst morgen!)


– Gut. Jetzt komme ich ja zu den Plänen für die Arznei-
mittelpreise.


(Zurufe von der CDU/CSU: Ah!)


Herr Minister Rösler, erinnern Sie sich noch daran,
dass Sie im Frühjahr groß angekündigt haben, die Phar-
maindustrie an die Kandare nehmen zu wollen? Das
wollten Sie uns gerade auch wieder verkaufen. Davon ist
aber leider fast nichts übrig geblieben. Das ist ausge-
sprochen schade, weil Sie nämlich die Versicherten mit
hohen Kosten und die Kranken mit zweifelhaften Thera-
pien im Regen stehen lassen.

Nur drei Beispiele. Erstens erlauben Sie den Unter-
nehmen weiterhin, den Preis neuer Medikamente im ers-
ten Jahr ganz allein festzusetzen. Erst dann sollen sie mit
den Kassen über einen angemessenen Preis verhandeln.
Das bedeutet doch erst recht Mondpreise im ersten Jahr.
Neue Medikamente werden zunächst einmal teurer.

(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: So ist es!)


Zweitens erlassen Sie den Firmen bei Medikamenten
für die sogenannten seltenen Erkrankungen die Nutzen-
bewertung. Genauer gesagt: Auch potenziell nutzlose
Mittel müssen die Kassen bezahlen, wenn diese nicht
mehr als 50 Millionen Euro Umsatz pro Jahr machen.
Sie können es selbst nachrechnen: Nur 20 solcher Medi-
kamente auf dem Markt belasten die Kassen mit bis zu
1 Milliarde Euro jährlich. Dabei kommt ganz schnell
mehr zusammen, als uns Herr Singhammer gerade an
Ersparnissen vorgerechnet hat.


(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Genau so ist es!)


Wir alle wissen doch, wie erfinderisch die Pharmain-
dustrie ist, wenn es um Profitmaximierung geht. Schon
jetzt schneidet sie Medikamente immer häufiger auf im-
mer kleinere Patientengruppen zu. So wird beispiels-
weise ein Medikament gegen Darmkrebs – Sie alle ken-
nen den Fall –, das auch bei einer bestimmten Form der
Altersblindheit wirkt, vom Unternehmen für genau diese
Indikation nicht zur Zulassung angemeldet. Stattdessen
wird ein ganz ähnlicher Wirkstoff neu patentiert und
zum 50-fachen Preis in den Markt gedrückt. Für die
25 Millionen Euro, welche die Kassen 2009 für dieses
Medikament für nur 1 500 Patientinnen und Patienten
ausgegeben haben, könnte mit dem ebenso wirksamen
günstigeren Medikament die Sehkraft von mehr als
80 000 Menschen in diesem Land gerettet werden. Das
ist doch ein Skandal, und dagegen müssen wir gemein-
sam vorgehen.


(Beifall bei der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, von den 36 im letz-
ten Jahr neu eingeführten Medikamenten sind nur 5 mehr
als 10 000-mal verschrieben worden. Sie sehen also:
Hier öffnen Sie ein Schlupfloch groß wie ein Scheunen-
tor, durch das sich die Firmen der Nutzenbewertung ent-
ziehen können und werden.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Es gibt keines!)


Drittens erschweren Sie es dem Gemeinsamen Bun-
desausschuss auch noch, unwirtschaftliche oder nutzlose
Medikamente nachträglich von der Erstattung durch die
Kassen auszuschließen. Im Klartext: Sie fördern teure
Medikamente mit zweifelhaftem Nutzen auf Kosten der
Allgemeinheit.

Es verwundert nicht, dass Sie in den Stellungnahmen
der Sachverständigen von fast allen Seiten verheerende
Kritiken bekommen haben. Nur die Pharmalobby war
erstaunlich leise.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Was?)


Denn schließlich haben Sie ja einen Gutteil des Gesetzes
beim Verband Forschender Arzneimittelhersteller abge-
schrieben. So machen Sie das überall. Die Hotelketten
und die Atomindustrie dürfen entscheiden, wie viel
Steuern sie zahlen wollen, die Pharmaindustrie wird ge-
fragt, ob sie vielleicht auf den einen oder anderen Euro
verzichten mag, die Ärztinnen und Ärzte freuen sich





Kathrin Vogler


(A) (C)



(D)(B)

über 600 Euro monatlich mehr, die Telematikindustrie
wird auch noch bedient, und die Privatversicherungs-
wirtschaft darf einen ganzen Strauß Wünsche in die ge-
setzgeberische Feder diktieren.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Ist da noch einer übrig geblieben, den wir nicht bedient haben?)


Aber haben Sie einmal die Versicherten, die Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer, die Rentnerinnen und
Rentner gefragt, was sie davon halten, dass sie künftig
mehr und mehr Beiträge zahlen sollen, nur damit die
Arzthonorare steigen und sich die Pharmafirmen weiter
goldene Nasen verdienen?


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Sie freuen sich, dass sie 2 400 Millionen weniger für Medikamente zahlen müssen!)


Herr Rösler, in den Zeitungen stand, dass Sie als Ti-
ger gesprungen und als Bettvorleger der Pharmakon-
zerne gelandet seien. Das halte ich inzwischen für maß-
los übertrieben. Sie waren nie ein Tiger; Sie waren
bestenfalls ein Miezekätzchen auf Schmusekurs mit der
Wirtschaft.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Wenigstens in einem Punkt – da muss ich Sie wieder
loben – haben Sie Ihre übliche Beratungsresistenz über-
wunden. Bei der Pflicht zur Veröffentlichung von Arz-
neimittelstudien haben Sie nach der Anhörung nachge-
bessert und sind der Kritik der Sachverständigen sowie
unseren Anregungen teilweise gefolgt. Aber die Ent-
scheidung darüber, welche Studien überhaupt gemacht
werden, überlassen Sie weiter der Industrie. Was wir
dringend brauchen, sind unabhängige Studien, wie die
Linke sie fordert.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich bleibe bei dem, was ich schon am 9. Juli hier ge-
sagt habe – ich komme jetzt auch zum Schluss –: Wir er-
heben für unsere Vorschläge kein Copyright. Es ist bes-
ser, Sie schreiben von uns ab


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Nein, tun wir nicht!)


als von der Wirtschaftslobby. Der eine Punkt, in dem Sie
uns gefolgt sind, heilt leider nicht den ganzen Murks,
den Sie in den anderen Punkten zugunsten der Konzerne
und zulasten der Solidargemeinschaft zusammengebas-
telt haben. Diesem Gesetz können und wollen wir des-
halb nicht zustimmen.


(Beifall bei der LINKEN – Patrick Döring [FDP]: Wir werden das nervlich ertragen!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1707110800

Das Wort hat die Kollegin Birgitt Bender von Bünd-

nis 90/Die Grünen.


Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1707110900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr

Minister Rösler, wenn Sie von Ihrer Vorvorgängerin
Andrea Fischer und von rot-grünen Regierungszeiten re-
den, dann folgt garantiert der Versuch einer Geschichts-
klitterung – das haben wir heute wieder erlebt –, deswe-
gen eine kurze Einheit in Sachen Gemeinschaftskunde
und dazu, wie es damals war.

Rot-Grün hatte keine Mehrheit im Bundesrat und
musste deshalb mit der Union verhandeln. Als wir im
Sommer 2003 am Tisch gesessen haben mit der Union
und mit der FDP – Herr Rösler, fragen Sie Ihren Kolle-
gen Daniel Bahr; der weiß es noch –, hat alsbald die FDP
diesen Konsenstisch verlassen. Warum?


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Weil mit den Grünen nicht zu reden war!)


Da gehe es ja der Pharmaindustrie an den Kragen, und
da wollte man nicht dabei gewesen sein. So war es da-
mals.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Aha! – Heinz Lanfermann [FDP]: Das war vorher, im Kanzleramt! Im Kanzleramt war die Rotweinrunde! – Ulrike Flach [FDP]: Das war jetzt Geschichtsklitterung!)


Es war damals die Union – auch das gehört zur Wahr-
heit dazu –, die den Einstieg in eine echte Kosten-Nut-
zen-Bewertung verhindert hat. Das durften wir nicht.
Man soll Leute loben, wenn sie dazugelernt haben. Ich
gestehe Ihnen zu: Es hat sich etwas bewegt. – Es ist gut,
dass wir damals mit Müh und Not die Gründung des In-
stituts, des IQWiG, durchsetzen konnten, das an der Be-
wertung, die Sie jetzt einführen wollen, Herr Minister,
mitarbeitet. Wenn es das nicht gäbe, hätten Sie viel grö-
ßere Schwierigkeiten, überhaupt den kleinen Schritt zu
wagen, den Sie jetzt gehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Heinz Lanfermann [FDP]: Sehr verstecktes Kompliment!)


Aber Sie müssen sich vorhalten lassen, dass Ihre an-
fänglichen Versprechungen und der Gesetzentwurf, der
von Ihnen heute vorliegt, weit auseinanderfallen. Was
haben Sie uns versprochen? Sie wollten erstens das
Preismonopol der Pharmaindustrie brechen.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Erledigt!)


Was ist jetzt? Es gibt ein Jahr lang Zeit, einen Preis zu
verhandeln. Wenn er dann endlich verhandelt ist, gilt er
im ambulanten Bereich; in den Krankenhäusern gilt er
nicht. Was wird in der Zeit sein? Die Firmen werden mit
Maximalpreis einsteigen und im Krankenhaus erst recht
abzocken. Was haben wir davon?

Zweites Versprechen. Sie wollten zwischen echten
und Scheininnovationen unterscheiden.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Haben wir auch gemacht!)


Warum darf dann der Gemeinsame Bundesausschuss für
ein neues Arzneimittel existierende internationale Evi-
denz nicht benutzen?





Birgitt Bender


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(Ulrike Flach [FDP]: Daran hindert doch keiner!)


Sie sagen: Nur die Unterlagen der Pharmaindustrie, die
hier vorgelegt werden, fließen in die Bewertung ein.

Warum hat dann, wenn man Innovationen und Schein-
innovationen tatsächlich unterscheiden will, eine solche
Nutzenbewertung keine echte Konsequenz? Bei Ihnen
dient sie nur als Preisfindungsinstrument, während die
Nutzenbewertung, die es schon gibt, ausgehebelt wird;
denn da wird auf einmal die Beweislast umgekehrt. Der
Gemeinsame Bundesausschuss soll beweisen, dass ein
Arzneimittel, das schon auf dem Markt ist, unzweckmä-
ßig ist. Was wir stattdessen brauchen, sind Nutzenbewer-
tungen gerade für Arzneimittel, die schon auf dem Markt
sind. Sie müssten eine solche Bewertung durchlaufen
und in eine Positivliste aufgenommen werden, damit wir
wissen: Hier ist nicht nur ein guter Preis, hier ist auch
Qualität der Arzneimittelversorgung gewährleistet. –
Andere Länder machen das so. Dahinter bleiben Sie weit
zurück.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es ist sogar so, Herr Minister, dass Ihr ursprünglicher
Gesetzentwurf in einigen Ansätzen weiter ging als die
Fassung, die uns heute vorliegt. Es muss wohl ziemlich
windig gewesen sein, und Sie als Bambus, wie Sie sich
ja einmal selbst bezeichnet haben, haben sich da ganz
schön gebogen.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Aber er schnellt immer wieder zurück!)


Die Pharmaindustrie stand zugegebenermaßen unter
Kulturschock. Was kommt jetzt dabei heraus? Ein schö-
nes Angebot an sie. Sie dürfen sich als direkte Vertrags-
partner an integrierten Versorgungsmodellen beteiligen.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Das steht seit Juli im Gesetzentwurf!)


Das aber öffnet Tür und Tor dafür, dass Missbrauch be-
trieben wird. Es wird so nämlich ein direkter Zugang zu
Patientendaten eröffnet. Hingegen wäre eine struktu-
rierte Arzneimittelversorgung im Rahmen von verein-
barten Versorgungsmodellen durch die existierenden
Vertragsmöglichkeiten gut möglich.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Wo ist der Unterschied?)


Jetzt handelt es sich einfach nur um ein Geschenk, zu-
mindest überflüssig für die Versorgung, wenn nicht so-
gar schädlich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ein anderes Beispiel: die seltenen Erkrankungen. Sie
haben vorhin etwas von fehlendem Mitgefühl für Men-
schen mit seltenen Erkrankungen erzählt. Dazu kann ich
nur sagen: Schauen Sie einmal ins Geschichtsbuch, wer
durchgesetzt hat, dass es überhaupt eine Förderung für
diese sogenannten Orphan Drugs gibt.

(Jens Spahn [CDU/CSU]: Um so schlimmer! – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Warum sind Sie dann dagegen?)


Was machen Sie? Sie wollen sie gänzlich von der Nut-
zenbewertung ausnehmen. Nehmen wir einmal ein Bei-
spiel: Für eine bestimmte Art von Krebserkrankung gibt
es sechs Arzneimittel. Drei davon haben den Orphan-
Drug-Status, drei nicht; und alle sechs sind noch nie ge-
geneinander geprüft worden. Wir wissen also nicht, wel-
ches Arzneimittel für den Patienten nutzbringender ist.
Sie wollen nun, dass das so bleibt. Da fragt man sich
doch: Wem fehlt hier das Mitgefühl für diejenigen, die
an seltenen Krankheiten leiden? Das sind doch offenbar
Sie.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Patrick Döring [FDP]: Unmöglich!)


Nun haben Sie gemerkt, dass Sie sich verrannt haben.
Dann kommt eine Korrektur: Es wird eine Umsatzgrenze
eingezogen. Dazu muss ich Ihnen sagen: Umsatzgrenze
ist nicht gleich Qualität bzw. Nutzen für die Patienten.

Das erinnert an das, was wir hier auch sonst erlebt ha-
ben: Es gab jeden Tag neue Änderungsanträge, Ände-
rungsanträge der Änderungsanträge, einen Austausch
von Änderungsantrag 26 gegen Änderungsantrag XY.
Ich frage mich manchmal, ob die ständigen Nachbesse-
rungen durch das Ministerium von den Abgeordneten
der Koalition überhaupt noch verstanden worden sind.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Na, na, na! – Volker Kauder [CDU/CSU]: An dem Punkt wäre ich als Grüne einmal ruhig!)


Im Ganzen gesehen, liebe Kollegen, kann ich nur sa-
gen: Es handelt sich nicht um eine Neuordnung des Arz-
neimittelmarktes, sondern so wird noch mehr Unordnung
auf dem Arzneimittelmarkt geschaffen. In Anknüpfung
an Ihr Bild vom Bambus, Herr Minister, kann ich nur sa-
gen: Der Bambus wiegt sich, der Bambus biegt sich. Es
wäre besser gewesen, Sie hätten bei diesem Thema etwas
mehr Standhaftigkeit gezeigt.

Danke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1707111000

Das Wort hat jetzt die Kollegin Christine Aschenberg-

Dugnus von der FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Christine Aschenberg-Dugnus (FDP):
Rede ID: ID1707111100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! In der gängigen Fachliteratur der Politikwis-
senschaft findet man zur Funktion und Rolle der Opposi-
tion, sie müsse die Regierung kontrollieren und konkret
Alternativen aufzeigen. Ich musste das hier einmal so
deutlich sagen; denn die Tatsache an sich, dass Sie sich





Christine Aschenberg-Dugnus


(A) (C)



(D)(B)

jetzt beschweren und unser AMNOG kritisieren, ent-
spricht natürlich voll der Rollenverteilung. In dieser
Rolle gefallen Sie sich; darin gehen Sie voll auf: Frau
Bender spricht von kleinen Schritten. Frau Vogler meint,
wir hätten die Pharmaindustrie nicht ausreichend an die
Kandare genommen. Wenn man Herrn Lauterbach zu-
hört, stellt man fest, dass seine meistgenannten Vokabeln
lauten: hätte, könnte, würde, sollte, möglicherweise. –
Verkaufen Sie doch die Menschen bitte nicht für dumm!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Das machen doch Sie!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1707111200

Frau Kollegin, darf ich Sie kurz unterbrechen? Frau

Kollegin Vogler möchte gerne eine Zwischenfrage stel-
len.


Christine Aschenberg-Dugnus (FDP):
Rede ID: ID1707111300

Ich bin gerade so in Schwung, bitte hinterher.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Sie müssen sich auch die Frage gefallen lassen: Wie
ist es denn zu Ihrer Regierungszeit gelaufen? Da schaue
ich Herrn Lauterbach ganz konkret an. Was haben Sie ei-
gentlich getan, um das Preismonopol der Pharmaindus-
trie zu brechen? Wie haben Sie es geschafft, die Kosten
in den Griff zu bekommen? Gar nichts haben Sie ge-
macht. Wenn jetzt an der Legende gestrickt wird, es habe
an der FDP gelegen, kann ich dem nur entgegnen: Ent-
schuldigen Sie bitte, es ist kein Gesetz verabschiedet
worden, es ist nichts gemacht worden.


(Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Sie waren damals noch nicht dabei!)


Das lag an dem ehemaligen Kanzler Gerhard Schröder,
der in einer seligen Weinrunde für sich alleine beschlos-
sen hatte, die Pharmaindustrie mit einer Einmalzahlung
zu bedenken. Das haben wir Ihnen zu verdanken. Das
war der Beitrag der Sozialdemokratie zur Stabilisierung
der Kosten im Pharmabereich. Herzlichen Dank dafür!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, Minister Rösler hat es Ih-
nen ausführlich erläutert: Im Gegensatz zu Ihnen haben
wir gehandelt. Wir haben konkret ein Gesetz auf den
Weg gebracht, wir haben für die Millionen Versicherten,
für die Patienten gehandelt und die Versorgung mit den
bestmöglichen Arzneimitteln sichergestellt. Außerdem
sparen wir jedes Jahr Milliardenbeträge ein. Sie ärgern
sich doch nur darüber, dass wir in einem Jahr mehr er-
reicht haben als Sie in zehn Jahren Regierungsbeteili-
gung vorher.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Außerdem haben wir im AMNOG die Zukunft der
unabhängigen Patientenberatung gesichert. Die UPD
leistet – darüber sind wir uns hier alle einig – einen un-
verzichtbaren Beitrag zu Rechtssicherheit und Transpa-
renz im Gesundheitswesen. Das Modellprojekt war gut,
und deshalb überführen wir die Beratung nun in die Re-
gelleistung. Aber nicht nur das: Wir verbessern auch die
Struktur und die Leistung der UPD.

Besonders wichtig war uns die wirkliche Unabhän-
gigkeit der UPD. Wir haben ins Gesetz geschrieben – ich
zitiere –:

Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen darf
auf den Inhalt oder den Umfang der Beratungstätig-
keit keinen Einfluss nehmen.

Meine Damen und Herren, das war auch notwendig;
denn Gespräche vor Ort haben ergeben, dass die Kassen
eben doch hier und da einmal versuchten, die Beratung
zu beeinflussen. Das war nicht hinnehmbar. Wir haben
die Neutralität gestärkt; das ist uns wichtig. Denn nur
eine neutrale UPD wird ihrer wichtigen Seismografen-
funktion gerecht. Darauf hat Kollege Zöller immer hin-
gewiesen; dafür bin ich ihm sehr dankbar.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Aber wir haben nicht nur die grundsätzliche Finanzie-
rung sichergestellt, sondern auch die PKV mit ins Boot
geholt, die mit einem Extrabeitrag gewährleistet, dass
Menschen mit Migrationshintergrund nunmehr anstän-
dige Beratungsleistungen erhalten können; denn die pri-
vaten Kassen zahlen das muttersprachliche Angebot der
UPD. Wir freuen uns über dieses Ergebnis.

Tatsache ist: Wir haben die UPD auf eine solide ge-
setzliche Grundlage gestellt und ihren Fortbestand gesi-
chert.


(Mechthild Rawert [SPD]: Das glauben auch nur Sie!)


Zudem wird es eine noch bessere UPD sein, als es noch
im Modellversuch der Fall war.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wollen ein ver-
trauensvolles Miteinander von Patienten, Ärzten, Klini-
ken und Kassen. Das Gesundheitswesen braucht dafür
Transparenz und Orientierung über Rechte und Pflichten
aller Beteiligten. Wir wollen eine UPD, die als ehrlicher
Makler zum Wohle der Patienten auftritt. Genau das ha-
ben wir mit diesem Gesetz auch umgesetzt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1707111400

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort der

Kollegin Kathrin Vogler.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Die hat doch gerade erst gesprochen! – Volker Kauder [CDU/ CSU]: Das verlängert nur die Redezeit!)



Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707111500

Danke, Herr Präsident. – Liebe Kollegin Aschenberg-

Dugnus, ich bitte Sie, zur Kenntnis zu nehmen, dass wir
als Opposition sehr wohl unsere Aufgabe erfüllt und Al-
ternativen vorgelegt haben. Wir haben heute hier drei
Anträge allein unserer Fraktion vorliegen, und an den
Drucksachennummern können Sie erkennen, dass sie





Kathrin Vogler


(A) (C)



(D)(B)

sehr frühzeitig, also vor Ihrem AMNOG, vorgelegt wor-
den sind, wir also nicht nur auf Sie reagieren, sondern
sehr wohl in der Lage sind, die Umsetzung unserer eige-
nen Konzepte zu fordern.

Ich verweise auf den Antrag „Verpflichtung zur Re-
gistrierung aller klinischen Studien und zur Veröffentli-
chung aller Studienergebnisse einführen“ vom 2. März
dieses Jahres und auf den Antrag „Unabhängige Patien-
tenberatung in Regelangebot überführen“ vom 30. Juni
dieses Jahres, wobei wir es, wenn Sie dies damals ent-
sprechend aufgegriffen hätten, geschafft hätten, heute
nicht in der Situation zu sein, dass die qualifizierten Be-
raterinnen und Berater sich auf andere Stellen bewerben,
weil sie in der Unsicherheit sind, ob ihre Träger noch
einmal den Zuschlag für das Projekt Beratung bekom-
men. Ich verweise weiter auf den Antrag ebenfalls vom
30. Juni dieses Jahres „Für ein modernes Preisbildungs-
system bei Arzneimitteln“ und darauf, dass ich in mei-
nem Redebeitrag darauf eingegangen bin, dass Sie tat-
sächlich einen Punkt von uns zumindest teilweise
aufgegriffen haben.

Uns hier vorzuwerfen, wir erledigten unsere Opposi-
tionsarbeit nicht richtig oder nur halb, halte ich einfach
für unredlich.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1707111600

Zur Erwiderung.


Christine Aschenberg-Dugnus (FDP):
Rede ID: ID1707111700

Liebe Frau Kollegin, ich glaube nicht, dass Sie das

eben richtig widerlegen konnten.


(Michael Leutert [DIE LINKE]: Zuhören!)


Um bei der UPD zu bleiben: Natürlich laufen jetzt ge-
rade die Ausschreibungen. Aber ich habe ja versucht,
darzulegen, dass wir die UPD gegenüber dem Modell-
versuch verbessern wollen.


(Mechthild Rawert [SPD]: Schaffen Sie aber nicht!)


Wenn Sie jetzt erzählen, es werde alles schlechter wer-
den oder nicht weitergeführt werden, dann stimmt das so
nicht.


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Das habe ich nicht gesagt!)


Ich möchte bitte nicht, dass Sie die Menschen vor Ort
verunsichern. Ich erwarte von Ihnen ja nicht, dass Sie sa-
gen, wir hätten ein gutes Gesetz gemacht. Aber es wäre
uns schon sehr geholfen, wenn Sie aufhören würden, die
Menschen vor Ort zu verunsichern.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Harald Weinberg [DIE LINKE]: Unglaublich!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1707111800

Das Wort hat die Kollegin Dr. Marlies Volkmer von

der SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)


Dr. Marlies Volkmer (SPD):
Rede ID: ID1707111900

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Herr Minister Rösler, Sie wollen mit diesem Gesetz
heute einen Befreiungsschlag starten.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Wieso starten? Das ist das Ende des Gesetzgebungsverfahrens!)


Sie wollen von den verheerenden Umfrageergebnissen
weg; das kann ich verstehen. Wenn das Gesetz wirklich
das bieten würde, was Sie heute hier vorgetragen haben,
dann wäre dies vielleicht möglich. Aber so ist es eben
nicht. Ob man das Gesetz nun Mogelpackung oder Eti-
kettenschwindel nennt, ist egal; denn in diesem Gesetz
ist nicht das drin, was draufsteht.

Schauen wir uns einmal die Kosten an. Sie haben ge-
sagt, Sie wollen mit diesem Gesetz 2 Milliarden Euro
einsparen. Das werden Sie niemals erreichen. Denn die
Arzneimittelhersteller können zunächst einmal selbst die
Preise festlegen. Dann lassen sie sich die neuen Preise
mühsam vom GKV-Spitzenverband abhandeln. Man
muss keine große Fantasie haben, um zu sagen, dass die
Arzneimittelhersteller mit einem hohen Preis einsteigen
werden und mit dem Preis ungefähr dort landen, wo wir
heute sind.

Der zweite Grund, warum Sie die Einsparungen, die
Ihnen vorschweben, nicht erreichen werden, ist, dass Sie
den Rabattverträgen alle möglichen Steine in den Weg
legen. Diese Verträge können zwischen Arzneimittelher-
stellern und den Krankenkassen geschlossen werden. Sie
sagen, es stimme nicht, dass die Rabattverträge abge-
schafft würden, weil feste Laufzeiten für die Rabattver-
träge vereinbart wurden.

Sie setzen darauf, dass die Öffentlichkeit die kompli-
zierten Änderungen des Rechtsweges und der Geltung
kartellrechtlicher Vorschriften nicht nachvollziehen
kann. Wir können das aber und sagen: Diese massive
Beschädigung der Rabattverträge wird die Versicherten
viel Geld kosten. Wenn etwa die AOK ihre Rabattver-
träge im nächsten Jahr nicht wie vorgesehen umsetzen
kann, stehen Einsparungen von 720 Millionen Euro auf
dem Spiel. Das ist ein Drittel der Summe, die Sie einspa-
ren wollen.

Sie sagen weiterhin – das ist die nächste Überschrift –,
die Versorgungsqualität werde durch die Nutzenbewer-
tung besser. Das trifft nicht zu. Die von Ihnen vorgese-
hene frühe Nutzenbewertung dient der Preisfindung. Für
Aussagen über den tatsächlichen Nutzen eines Arznei-
mittels sind ausführliche Nutzenbewertungen zu einem
späteren Zeitpunkt unabdingbar. Diese sind aber nur in
Ausnahmefällen möglich.

Sie wollen auf ausführliche Bewertungen von Arznei-
mitteln regelhaft immer dann verzichten, wenn es zwi-
schen Arzneimittelherstellern und den Krankenkassen
eine Einigung bei der Preisfindung gegeben hat. Ihnen
geht es nur um eine Regelung für die Preise, aber Sie
wollen nicht, dass die Krankenkassen nur noch solche
Arzneimittel bezahlen, die einen nachgewiesenen Nut-
zen haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)






Dr. Marlies Volkmer


(A) (C)



(D)(B)

Das zeigt auch Ihr Änderungsantrag, nach dem der Ge-
meinsame Bundesausschuss die Unzweckmäßigkeit ei-
nes Medikamentes beweisen soll. Das funktioniert aber
nicht, was Ihnen Experten in der öffentlichen Anhörung
auch ins Stammbuch geschrieben haben.


(Mechthild Rawert [SPD]: Sehr deutlich!)


Was bzw. wer Sie antreibt, haben Sie heute deutlich
gemacht. Herr Singhammer hat gegenüber der Presse er-
klärt, warum nicht die Selbstverwaltung, sondern das
Ministerium selbst die Kriterien für die frühe Nutzenbe-
wertung festlegt. Ich zitiere Herrn Singhammer aus der
Financial Times Deutschland:

Die Politik muss künftig den Daumen auf dem Ver-
fahren haben. Wir wollen, dass der Pharmastandort
Deutschland attraktiv bleibt.

Ich frage Sie: Sollen die Regelungen deshalb vom
Bundesgesundheitsministerium getroffen werden, weil
so pharmaindustriefreundlichere Bestimmungen veran-
kert werden können? Sie verneinen das vehement. Aber
welchen anderen Grund gibt es dann, die fachlich ver-
sierte Selbstverwaltung derart zu beschneiden?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Wird sie gar nicht!)


Aber auch an anderer Stelle wird klar, wer Ihnen die
Feder führt. Sie haben ganze Arzneimittelgruppen aus
der Nutzenbewertung herausgenommen, nämlich Arz-
neimittel gegen seltene Erkrankungen sowie Arzneimit-
tel, mit denen – was auch immer man sich darunter vor-
stellen soll – keine hohen Ausgaben verbunden sind.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Aus gutem Grund!)


Für diese Arzneimittel gilt für alle Zeit ein vom Herstel-
ler definierter Preis.

Hier sind die in letzter Minute durch Sie vorgenom-
menen Änderungen reine Kosmetik. Wenn Sie den von
den Experten vorgetragenen Argumenten wirklich ge-
folgt wären, dann hätten Sie generell auf Ausnahmerege-
lungen verzichtet. Das haben Sie nicht getan.

Dieser Etikettenschwindel geht weiter. Nehmen wir
das Beispiel der Mehrkostenregelung. Sie behaupten
hier, das führe zu einer Verbesserung bei der Wahlfrei-
heit der Patientinnen und Patienten: Die Patienten hätten
die Freiheit, sich für ein Arzneimittel zu entscheiden, das
nicht rabattiert ist. Der Nutzen liegt allerdings bei den
Pharmaherstellern: Sie werden ihre Marketingmaschinen
anwerfen und Ärzte und Patienten glauben machen wol-
len, dass zum Beispiel ihr teures Omeprazol unver-
gleichlich besser wirke als das rabattierte Omeprazol ih-
res Konkurrenten. Aufgrund geschickter Werbung
werden die Pharmahersteller häufig erfolgreich sein. Der
Patient bleibt auf den Mehrkosten sitzen.

Die Mehrkostenregelung, die Sie jetzt einführen wol-
len, bedeutet den Einstieg in ein System von Grund- und
Wahlleistungen. Sie wollen die gesetzliche Krankenver-
sicherung so umgestalten, dass sie nur noch die Basis-
versorgung absichert. Sie haben aber Angst vor der ge-
ballten Wut der Öffentlichkeit. Damit es nicht auffällt,
nehmen Sie die Umgestaltung scheibchenweise vor.


(Lars Lindemann [FDP]: Deswegen versprechen Sie jedem grundsätzlich alles!)


Wir werden Ihnen das aber nicht durchgehen lassen.


(Beifall bei der SPD)


Wir informieren die Öffentlichkeit.

Wir lehnen dieses Gesetz heute ab. Wir haben einen
Entschließungsantrag eingebracht. Dieser Antrag bringt
nicht nur unsere Ablehnung zum Ausdruck, sondern ent-
hält auch unsere Forderungen. Wir legen ferner zwei An-
träge sowie einen Änderungsantrag zur Abstimmung
vor.


(Beifall bei der SPD – Zuruf von der FDP: Wischiwaschi!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1707112000

Als nächstem Redner erteile ich das Wort dem Kolle-

gen Jens Spahn von der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Jens Spahn (CDU):
Rede ID: ID1707112100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Das

Gesetz, über das wir gerade beraten und über das wir
gleich in zweiter und dritter Lesung abstimmen werden,
führt zum stärksten Eingriff in der Geschichte der Bun-
desrepublik Deutschland in den Markt für Arzneimittel
und in die Preisfindung bei Arzneimitteln, die es je gege-
ben hat. Wir brechen das Preismonopol der Pharmain-
dustrie: Sie kann nicht mehr einseitig die Preise festle-
gen. Im Gegenteil: Die Pharmaindustrie kann nur bei
tatsächlich bewiesenem Zusatznutzen höhere Preise ver-
langen; darüber muss sie mit den Krankenkassen verhan-
deln.

Sie von der SPD haben seit zehn Jahren darüber gere-
det. Sie haben in zehn Jahren nichts hinbekommen.


(Elke Ferner [SPD]: Sie haben in den letzten drei Jahren alles blockiert! Sie waren doch die Oberblockierer!)


Das Einzige, was Ihnen jetzt einfällt, ist, hier herumzula-
mentieren, anstatt einmal anzuerkennen, dass an dieser
Stelle grundsätzlich Wichtiges gelingt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der SPD: Durch ständiges Wiederholen wird es nicht richtiger!)


Dann kommen Sie mit Änderungsanträgen. Ihnen ist
in den Beratungen seit Juli nicht ein einziger konstrukti-
ver Vorschlag zum Arzneimittelmarktneuordnungs-
gesetz eingefallen. Heute, am Tag der abschließenden
Beratungen, legen Sie uns hier die ersten Änderungsan-
träge vor. Verstehen Sie das unter Oppositionsarbeit? Ist
das die Alternative, die Sie anbieten? Sie legen hier in
letzter Sekunde Vorschläge auf den Tisch, weil Sie mer-
ken, dass es peinlich ist, dass Ihnen nicht mehr einfällt
als Worthülsen, um gegen dieses Gesetz vorzugehen.





Jens Spahn


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke Ferner [SPD]: Peinlich für Sie!)


Was machen wir denn? Wir führen ein neues Verfah-
ren ein, bei dem der pharmazeutische Hersteller wie
auch in anderen europäischen Ländern – die Schotten
etwa machen es auch nicht anders –


(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch! Die machen das anders!)


nach Zulassung eines Arzneimittels mit einem Dossier,
das er vorzulegen hat, nachweisen muss, dass sein Arz-
neimittel tatsächlich besser ist als die Mittel, die bereits
auf dem Markt sind. Dann wird entschieden, ob es einen
Zusatznutzen gibt oder nicht. Falls es keinen gibt, wird
für das Arzneimittel ein Höchstpreis festgesetzt. Falls es
aber einen Nutzen gibt, muss über den Preis verhandelt
werden. Spätestens nach zwölf Monaten gibt es einen
ausgehandelten Preis. Warum sehen wir diese zwölf
Monate vor? An dieser Stelle muss sich die Sozialdemo-
kratische Partei Deutschlands ein paar Fragen gefallen
lassen. Uns ist es wichtig, dass neue, innovative Medika-
mente auch in der gesetzlichen Krankenversicherung di-
rekt erstattungsfähig sind.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie haben recht: Wir sind eines der letzten Länder auf
der Welt, in denen das so ist. Es ist aber zu Recht so;
denn neue Medikamente für die Behandlung von Krebs,
HIV/Aids, Multipler Sklerose und Parkinson sind mit
der großen Hoffnung der Patienten auf Leidminderung,
auf eine höhere Lebensqualität und auf ein längeres Le-
ben verbunden. Deswegen wollen wir, dass neue Medi-
kamente grundsätzlich ab dem ersten Tag nach der
Markteinführung erstattungsfähig und damit für die Pa-
tienten zugänglich sind. Das ist ein hohes und wichtiges
Gut, für das wir einstehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1707112200

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen

Lauterbach?


Jens Spahn (CDU):
Rede ID: ID1707112300

Gerne.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1707112400

Bitte schön.


Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Rede ID: ID1707112500

Herr Spahn, wäre es nicht redlich, wenn Sie unter-

scheiden würden zwischen dem Zeitpunkt der Marktver-
fügbarkeit, die auch von uns nicht kritisiert worden ist,
und dem Preis? Wir beklagen nur, dass das Medikament
sofort zum Höchstpreis, den die Industrie vorgibt, ange-
boten wird. Wir haben kein Interesse daran, dass ein Me-
dikament verzögert auf den Markt kommt. Medikamente
werden mittlerweile in ganz Europa zum gleichen Zeit-
punkt eingeführt. Sie lenken ab. Es geht nicht darum,
wann ein Medikament eingeführt wird, sondern nur da-
rum, dass es in Deutschland zu einem viel zu hohen
Preis eingeführt wird. Daran wollen Sie nichts ändern.
Durch dieses Gesetz ändert sich daran überhaupt nichts.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie lenken davon ab, dass es um den Preis und nicht um
den Zeitpunkt der Zulassung geht.


Jens Spahn (CDU):
Rede ID: ID1707112600

Lieber Herr Kollege Lauterbach, hinter dem Begriff

der „vierten Hürde“ – das ist ein zusätzliches Kriterium
für die Zulassung – verbirgt sich genau diese Frage. Sie
wissen, dass man nicht bereits zum Zeitpunkt der Zulas-
sung über den Zusatznutzen entscheiden kann, weil die
entsprechenden Studien erst vorgelegt und die entspre-
chenden Verhandlungen durchgeführt werden müssen.
Eine solche Entscheidung ist auf Basis der vorgesehenen
Verfahren nicht möglich. Wir würden hierzu gerne ein-
mal Vorschläge von Ihnen hören. Wir kennen bloß kei-
nen. Wir kennen nur die schönen Überschriften, die Sie
immer wieder produzieren. Es ist also angemessen, diese
Preisbildung über einen begrenzten Zeitraum hinweg zu-
zulassen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Preisbildung ist übrigens nicht frei. Wie Sie zu
Recht gesagt haben, haben wir einen europäischen Preis-
findungsmechanismus. Der Preis für ein Medikament
kann in Deutschland schon heute nicht dramatisch über
dem Preis in anderen europäischen Ländern liegen; sonst
gäbe es einen massenhaften Import in den deutschen
Markt. Das System ist in sich preisregulierend. Sie wis-
sen so gut wie ich, dass für die Preisbildung Mechanis-
men erforderlich sind, mit denen der Zusatznutzen be-
wertet wird.

Was Sie mit der vierten Hürde erreichen wollen, ist,
dafür zu sorgen, dass neue, innovative Medikamente für
die kranken Menschen nicht mehr sofort zugänglich
sind. Das lehnen wir entschieden ab.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Andrea Wicklein [SPD]: Quatsch!)


Es ist doch bemerkenswert, dass der Leiter des Insti-
tuts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheits-
wesen, des IQWiG, Herr Windeler, in verschiedenen In-
terviews deutlich gemacht hat, wie positiv er das findet,
was wir hier vorlegen. Er sagt, wie wichtig es ist, dass
wir zu mehr Evidenz und zu einer besseren Grundlage
für die Arzneimittelpreisfindung kommen. Da Sie vorhin
gefragt haben, was in der gesetzlichen Krankenversiche-
rung erstattungsfähig bleibt, stelle ich fest: Wir stärken
den Gemeinsamen Bundesausschuss. Wir fordern von
der pharmazeutischen Industrie mehr Studien, die den
Nutzen beweisen. Wir achten aber auf ein faires Verhält-
nis und auf die Balance, weil wir wollen, dass in
Deutschland geforscht wird.


(Beifall des Abg. Lars Lindemann [FDP])


Wir wollen Forschung in Deutschland. Das ist im Inte-
resse der Patienten. Mit der Forschung werden viele
Hoffnungen verbunden. Deswegen muss man auf die





Jens Spahn


(A) (C)



(D)(B)

Balance achten und nicht die Pharmaindustrie per se ver-
dammen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Zu den Orphan Drugs. Das sind Arzneimittel für
Menschen mit seltenen Erkrankungen. An diesen Er-
krankungen leiden zum Teil nur 1 oder 2 Personen von
10 000. Sie stehen nicht immer im Mittelpunkt der For-
schung der pharmazeutischen Industrie. Deswegen un-
terstützt die Europäische Union bewusst die pharmazeu-
tischen Unternehmen, die auf diesem Gebiet forschen.
Man will – darauf hat die Kollegin Bender bereits hinge-
wiesen –, dass es auch für diese Patientengruppen inno-
vative Medikamente gibt. Wenn das so ist und die Euro-
päische Union hier – im Übrigen nach Vorprüfung –
entsprechende Unterstützung leistet, dann wollen auch
wir, dass es diese neuen Medikamente für Menschen mit
seltenen Erkrankungen schnell auf dem deutschen Markt
gibt. Man darf sie nicht per se verteufeln. Wir haben die
Ausnahme an dieser Stelle also bewusst geschaffen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie sagen, es gebe verschiedene Indikationen, indika-
tionsübergreifenden Gebrauch und Ähnliches. Ich ent-
gegne: Der eine Nierenkrebs ist nicht gleich einem ande-
ren Nierenkrebs; es gibt da große Unterschiede. Natür-
lich gibt es zur Bekämpfung der verschiedenen Ausfor-
mungen auch unterschiedliche Medikamente. Diese Un-
terschiede muss man anerkennen und deutlich machen,
wenn man im Sinne der Patienten handeln will. Es geht
darum, differenzierte Lösungen zu finden und nicht auf
alles mit dem Hammer zu schlagen. Genau das ist es,
was wir an dieser Stelle tun.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich komme auf die Frage zu sprechen, wie wir für
eine qualitativ gute Versorgung der Patientinnen und Pa-
tienten sorgen können. Herr Kollege Lauterbach, Sie ha-
ben gerade den Bereich „Arzneimittelversorgung bei
Schizophrenie“ angesprochen. Die AOK Niedersachsen,
die nicht im Verdacht steht, pharmahörig zu sein, hat im
Rahmen der integrierten Versorgung einen Vertrag ge-
schlossen – das geht schon heute, wenn die entsprechen-
den Bedingungen gegeben sind; wir ermöglichen, dass
das noch leichter vonstatten gehen kann; darum geht es –,
in dem ganz bewusst nicht nur geregelt wird, dass ein
Arzneimittel günstiger angeboten wird, sondern auch
das, was zu tun ist, wenn sich ein Patient freiwillig – es
wird ja niemand gezwungen – für einen solchen Vertrag
entscheidet.

Es geht darum, welche Ärzte mit welchen Qualifika-
tionen in Zusammenarbeit mit welchen Krankenhäusern
und unter welchen Leitlinien das jeweilige Medikament
verschreiben. Das ist im Sinne einer guten Behandlung
der Versicherten. Wir wollen an dieser Stelle die Zusam-
menarbeit mit der Pharmaindustrie, damit Arzneimittel
nicht nur auf den Markt kommen, sondern im Sinne ei-
ner guten Versorgung auch den Patienten erreichen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Unser Ziel ist eine innovative Versorgung der Patien-
ten. Wir wollen, dass die Kosten für neue Medikamente
nach deren Zulassung von den Krankenkassen möglichst
schnell und zügig erstattet werden können. Seitens der
betroffenen Patienten ist damit wahnsinnig viel Hoff-
nung auf Leidminderung, auf Verbesserung der Lebens-
qualität verbunden. Gleichzeitig brauchen wir Regelun-
gen, durch die das Preismonopol der Pharmaindustrie
gebrochen wird. Diese Regelungen sorgen dafür, dass
die Pharmaindustrie in Deutschland die Preise nicht ein-
seitig festlegen kann. Dabei orientieren wir uns an Rege-
lungen in anderen Ländern.

Diesen Spagat zu schaffen, ihn auch in der öffentli-
chen Auseinandersetzung auszuhalten und deutlich zu
machen, das ist die eigentliche Kunst. Hier zeigt sich
Verantwortung. Dieser Verantwortung stellt sich die Ko-
alition, die Opposition leider wieder einmal nicht. Ich
bitte um Zustimmung zu dem von uns vorgelegten Ge-
setzentwurf.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1707112700

Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich dem

Kollegen Michael Hennrich für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.


Michael Hennrich (CDU):
Rede ID: ID1707112800

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! In dieser Woche stehen zwei wich-
tige Gesetzesvorhaben auf der Tagesordnung: das
AMNOG und das GKV-FinG. Es ist ein wichtiges und
gutes Zeichen, dass wir die Debatte zur Gesundheitspoli-
tik mit dem AMNOG beginnen. Damit machen wir deut-
lich, dass wir die Leistungsfähigkeit der gesetzlichen
Krankenversicherung nicht nur über die Einnahmeseite
sicherstellen, sondern dass wir auch an der Ausgaben-
seite ansetzen.

Gerade das Thema Arzneimittel ist immer wieder in
der Diskussion. Es gibt kaum einen Politiker, der nicht
schon mit der Frage konfrontiert wurde, warum in Spa-
nien weniger für Arzneimittel gezahlt wird als in
Deutschland. An diesem Thema müssen wir arbeiten,
damit wir den Menschen deutlich machen, dass in
Deutschland nicht die höchsten Arzneimittelpreise ge-
zahlt werden, dass auch hier in Deutschland Einsparun-
gen erzielt werden können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der Arzneimittelsektor ist der zweitgrößte Ausgaben-
block. Es lohnt sich, einmal ganz genau hinzuschauen,
wie sich die Arzneimittelpreise in den letzten Jahren ent-
wickelt haben. Es gab bei den Arzneimitteln mit Festbe-
trägen von 2009 auf 2010 eine Senkung der Ausgaben
um 2 Prozent. Bei den patentgeschützten Arzneimitteln
ohne Festbeträge gab es von 2009 auf 2010 Preissteige-
rungen von 9 Prozent. Es ist wichtig, dass wir mit dem
AMNOG in diesem Bereich ansetzen, um die Finanzie-
rungsprobleme bei den patentgeschützten Arzneimitteln
in den Griff zu bekommen. 28 Prozent der Verordnungen
sind für 80 Prozent des Umsatzes im Arzneimittelsektor
verantwortlich. Mit der frühen Nutzenbewertung, die wir





Michael Hennrich


(A) (C)



(D)(B)

mit dem AMNOG einführen, werden wir die damit ver-
bundenen Probleme in den Griff bekommen.

Uns ist auch wichtig, dass die Patienten in Zukunft
möglichst schnell an ihr Medikament kommen. Herr
Lauterbach, es ist der falsche Weg – das hat der Kollege
Jens Spahn deutlich gemacht –, den Patienten nach der
Zulassung zu sagen, dass wir erst noch zusätzlich den
Nutzen prüfen und über den Preis verhandeln. Deswegen
brauchen wir nach der Zulassung die Möglichkeit, dass
ein Arzneimittel sofort in die Versorgung kommt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich möchte im Zusammenhang mit der frühen Nut-
zenbewertung zwei Themen aufgreifen, die in der öffent-
lichen Diskussion waren. Das waren die Themen
Rechtsverordnung und Orphan Drugs. Wir sollten daran
denken, welche Probleme wir mit der Kosten-Nutzen-
Bewertung nach § 35 b SGB V hatten, in dem wir ledig-
lich zwei Kriterien, internationale Standards und Ge-
sundheitsökonomie, festgelegt hatten. Dies sorgte vier
Jahre lang beim IQWiG, beim GBA und bei den pharma-
zeutischen Herstellern für Verunsicherung. Daher ist es
der richtige Weg, ein paar Rechtsfragen verbindlich in
einer Rechtsverordnung zu klären. Das heißt nicht, dass
das Gesundheitsministerium die Prüfungen durchführt.
Das heißt auch nicht, dass der GBA und das IQWiG in
ihrer Kompetenz beschnitten werden. Es bleibt bei einer
Verfahrensordnung.

Es ist uns wichtig, ein klares und transparentes Ver-
fahren zu gewährleisten. Wir wollen, dass die Beteilig-
ten, IQWiG, GBA und pharmazeutische Hersteller, ko-
operieren und verbindliche Abmachungen treffen.
Deswegen wird in dem Gesetz klar geregelt, dass die
Hersteller einen Anspruch auf Beratung haben und dass
es nach der Zulassung Vereinbarungen zwischen GBA
und Hersteller geben kann.

Nächstes Thema: Orphan Drugs. Ich hatte in der Dis-
kussion um die Orphan Drugs ein wunderbares Erlebnis,
als ich mit Ihnen, Herr Lauterbach, bei einer Veranstal-
tung war. Dort hat ein führender Kopf aus dem Gesund-
heitswesen – es waren nicht Sie –


(Patrick Döring [FDP]: Gibt es etwa noch einen? – Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Was soll das? Unverschämt!)


dieses Thema kritisiert und meinte, wir bräuchten eine
frühe Nutzenbewertung. Daraufhin wurde ihm die Frage
gestellt, wo das Thema Orphan Drugs geregelt ist. Der
Betroffene wusste keine Antwort. Aber er kritisiert uns
dafür, dass wir auf eine Zusatznutzenprüfung verzichten.

Viele Themen sind schon angesprochen worden. Ich
will noch einmal deutlich machen, welche Quanten-
sprünge und großen Vorteile wir über die frühe Nutzen-
bewertung hinaus mit diesem Gesetz auf den Weg brin-
gen. Es ist wichtig, dass wir nicht nur für die
gesetzlichen Krankenversicherungen, sondern auch für
die privaten Krankenversicherungen Verantwortung
übernehmen. Es gibt in diesem Haus einige Personen,
die ein Interesse daran haben, dass die privaten Kranken-
versicherungen an die Wand fahren. Dass in der Großen
Koalition, also in der Koalition zwischen CDU/CSU und
SPD, wenig für die privaten Krankenversicherungen und
vor allem für die Versicherten getan werden konnte, war
klar. Es muss unser Anspruch als bürgerliche Koalition
sein, dass wir auch für die private Krankenversicherung
Verantwortung übernehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben eine vernünftige Mehrkostenregelung. Ich
möchte in diesem Zusammenhang sagen, dass wir an
den Rabattverträgen festhalten. Aber wir wollen den Pa-
tienten in Zukunft die Möglichkeit geben – vor allem äl-
teren Menschen, die auf ein bestimmtes Medikament an-
gewiesen sind, das sie schon jahrelang nehmen –, dieses
Medikament weiterhin zu nehmen. Es kann nicht sein,
dass man einer älteren Dame sagt: Wir haben jetzt einen
Rabattvertrag, Sie müssen auf ein anderes Medikament
umsteigen. – Deswegen stärken wir in diesem Punkt die
Eigenverantwortung der Patienten.

Ein Vorzug des vorliegenden Gesetzentwurfes ist,
dass wir die Arzneimittelhersteller zur Veröffentlichung
der Ergebnisse klinischer Studien verpflichten. Außer-
dem haben wir den Großhandelszuschlag neu geregelt.
Mit Blick auf die Apotheker haben wir den ab 2011 gel-
tenden Kassenabschlag auf 2,05 Euro festgesetzt. Da-
durch werden Einsparungen in Höhe von 200 Millionen
Euro erzielt. Ich sage ganz offen, Herr Minister, dass es
mir lieber gewesen wäre, wenn der Kassenabschlag, der
bisher 2 Euro betrug, nicht auf 2,05 Euro erhöht worden
wäre. Ich habe aber Verständnis für Ihre Motivation, ihn
anzuheben. Darüber hinaus wollen wir die unabhängige
Patientenberatung ausbauen und das Wettbewerbsrecht
verbessern. Es gibt also viele gute Gründe, die für unse-
ren Gesetzentwurf sprechen.

Ich habe eine interessante Erfahrung gemacht. Frau
Vogler, als wir diesen Gesetzentwurf in der ersten Bera-
tung debattiert haben, haben Sie uns noch gelobt. Blank
entsetzt waren Sie allerdings, als Herr Lauterbach ihn
scharf kritisiert hat. Da kam Ihre Welt etwas durcheinan-
der. Sie konnten sich natürlich nicht gefallen lassen, dass
Herr Lauterbach Sie links überholt. Vor diesem Hinter-
grund verstehe ich die Kritik, die Sie heute geäußert ha-
ben. Ich glaube trotzdem, dass wir mit diesem Gesetz-
entwurf einen wichtigen Schritt machen, um in Zukunft
eine bessere Arzneimittelversorgung bei vernünftigeren
Preisen zu gewährleisten.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1707112900

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten
Entwurf eines Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes.
Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unter Nr. 1 sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/3698, den
Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

FDP auf Drucksache 17/2413 in der Ausschussfassung
anzunehmen.

Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD
vor, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt für den
Änderungsantrag der SPD auf Drucksache 17/3702? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Ände-
rungsantrag ist mit den Stimmen der CDU/CSU und der
FDP gegen die Stimmen von SPD und Grünen bei
Stimmenthaltung der Linken abgelehnt.

Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der drei Oppositionsfraktionen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Wir stimmen nun auf Verlan-
gen der Fraktion der SPD namentlich über den Gesetz-
entwurf ab. Zur Abstimmung über den Gesetzentwurf
liegt mir eine schriftliche Erklärung nach § 31 unserer
Geschäftsordnung des Kollegen Oliver Luksic vor.1) Ich
bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorge-
sehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle Plätze an den
Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Ich eröffne die Ab-
stimmung.

Haben sich alle Mitglieder des Hauses an der Abstim-
mung beteiligt? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann
schließe ich die Abstimmung und bitte die Schriftführe-
rinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu begin-
nen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen später
bekannt gegeben.2)

Wir kommen nun zu den Entschließungsanträgen.

Wir beginnen mit dem Entschließungsantrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3703. Auch hier
verlangt die Fraktion der SPD namentliche Abstim-
mung. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,
die üblicherweise vorgesehenen Plätze einzunehmen. –
Ist alles zur Abstimmung vorbereitet? – Das ist der Fall.
Dann eröffne ich die Abstimmung.

Haben alle Kolleginnen und Kollegen, die hier anwe-
send sind, ihre Stimme abgegeben? – Das ist offensicht-
lich der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung. Das
Ergebnis dieser Abstimmung wird Ihnen ebenfalls später
bekannt gegeben.3)

Wir kommen nun zu weiteren Abstimmungen. Dazu
bitte ich Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, sich zu Ih-
ren Plätzen zu begeben.

Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/3704. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschließungs-
antrag ist mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP ge-

1) Anlage 3
2) Ergebnis Seite 7676 C
3) Ergebnis Seite 7678 D
gen die Stimmen der Grünen bei Stimmenthaltung der
SPD und der Linken abgelehnt.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Gesundheit zu dem Ge-
setzentwurf der Bundesregierung auf den Druck-
sachen 17/3116 und 17/3211, Entwurf eines Gesetzes
zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der gesetzli-
chen Krankenversicherung.

Der Ausschuss empfiehlt unter Nr. 2 seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/3698, den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung für erledigt zu erklä-
ren. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist einstimmig angenommen.

Wir setzen die Abstimmungen zu der Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Gesundheit auf Druck-
sache 17/3698 fort. Unter Nr. 3 empfiehlt der Ausschuss
die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/1201 mit dem Titel „Effektivere Arznei-
mittelversorgung“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/
CSU, FDP und Linken gegen die Stimmen der SPD bei
Stimmenthaltung der Grünen angenommen.

Unter Nr. 4 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1768 mit
dem Titel „Öffentlichen Zugang zu Informationen über
klinische Studien umfassend sicherstellen“. Wer stimmt
für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen
von SPD und Grünen bei Stimmenthaltung der Linken
angenommen.

Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Nr. 5 seiner
Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/893 mit dem Titel
„Verpflichtung zur Registrierung aller klinischen Studien
und zur Veröffentlichung aller Studienergebnisse einfüh-
ren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfrak-
tionen gegen die Stimmen der Linken und der Grünen
bei Stimmenthaltung der SPD angenommen.

Unter Nr. 6 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2322
mit dem Titel „Unabhängige Patientenberatung in Regel-
angebot überführen“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von
CDU/CSU, FDP und Grünen gegen die Stimmen der
Linken bei Stimmenthaltung der SPD angenommen.

Des Weiteren empfiehlt der Ausschuss für Gesundheit
unter Nr. 7 seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/2324
mit dem Titel „Für ein modernes Preisbildungssystem
bei Arzneimitteln“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den gleichen Mehrheitsver-
hältnissen wie zuvor angenommen.





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

Unter Nr. 8 empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung
des Antrags der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 17/1418 mit dem Titel „Qualität und Si-
cherheit der Arzneimittelversorgung verbessern – Posi-
tivliste einführen – Arzneimittelpreise begrenzen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
Linken gegen die Stimmen der Grünen bei Stimmenthal-
tung der SPD angenommen.

Unter Nr. 9 seiner Beschlussempfehlung empfiehlt
der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1985 mit
dem Titel „Unabhängige Patientenberatung ausbauen
und in die Regelversorgung überführen“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Grünen bei Stimmenthaltung von SPD und
Linken angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:

Erste Beratung des von den Abgeordneten Klaus
Ernst, Matthias W. Birkwald, Diana Golze, weite-
ren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-
derung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch

(RV-Altersgrenzenanpassungs-Aussetzungsgesetz – RV-AgAG)


– Drucksache 17/3546 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Matthias Birkwald für die Fraktion Die Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707113000

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Es ist kein Geheimnis: Die Linke lehnt die
Rente erst ab 67 ab –


(Beifall bei der LINKEN)


ohne Wenn und Aber. Gemeinsam mit der übergroßen
Mehrheit der Bevölkerung, mit den Sozialverbänden und
mit den Gewerkschaften sagt die Linke als einzige Partei
in diesem Haus Nein zur Rente erst ab 67, und dabei
bleiben wir.


(Beifall bei der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
selbst aus Ihren Reihen kommen Bedenken angesichts
der schlechten Situation Älterer auf dem Arbeitsmarkt.

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Seehofer oder was?)


Diese sollten Sie ernst nehmen. Wir wollen Sie beim
Wort nehmen. Sie sollten den Einstieg in die Rente erst
ab 67 zunächst einmal vier Jahre aussetzen; denn die Vo-
raussetzungen stimmen einfach nicht. Darum lassen Sie
uns gemeinsam ein Stoppzeichen setzen.


(Beifall bei der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen aus CDU/CSU und
SPD, bereits vor vier Jahren, also 2006, wussten Sie,
dass die Rente erst ab 67 nicht mehr Arbeit im Alter,
sondern mehr Armut im Alter bringt. Das haben Sie klar
gesehen. Deswegen haben Sie die Einführung der Rente
erst ab 67 mit Bedingungen verknüpft – ich zitiere aus
dem Gesetzentwurf –:

Die Anhebung der Regelaltersgrenze von 65 auf
67 Jahre ab dem Jahre 2012 setzt eine nachhaltige
Verbesserung der Beschäftigungssituation älterer
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer voraus.

Das steht jetzt auch im Gesetz.

Der CSU-Vorsitzende Horst Seehofer hat kürzlich mit
deutlichen Worten daran erinnert – ich zitiere –:

Ich werde meine Zustimmung zur Rente mit 67 auf-
kündigen, wenn die Wirtschaft Menschen, die über
50 sind, nicht beschäftigt.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Sie müssen es in der Gesamtheit darstellen, Herr Birkwald!)


Auch die SPD hat diese Position wiederentdeckt und
die Einführung der Rente erst ab 67 unter Vorbehalt ge-
stellt.


(Anton Schaaf [SPD]: Wir haben es ins Gesetz geschrieben, Kollege Birkwald!)


Kürzlich haben Sie, lieber Kollege Juratovic, deutlich
gemacht – ich zitiere –:

Viele Arbeitnehmer können unter den heutigen Be-
dingungen nicht bis 65 arbeiten, geschweige denn
bis 67.

Wir Linke sagen: Sie haben vollkommen recht.


(Beifall bei der LINKEN)


Selbst die Grünen – sonst strikte Befürworterinnen
und Befürworter der Rente erst ab 67 – sehen die Gefahr
drohender Altersarmut. Darauf hat Wolfgang
Strengmann-Kuhn vor zwei Wochen in der Aktuellen
Stunde hingewiesen. Recht hat er.


(Beifall bei der LINKEN)


Die FDP hingegen traut sich leider nur in der Opposi-
tion, offen zu reden.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Was?)


Herr Kolb, 2006 haben Sie festgestellt – ich zitiere –:

… dass die Reform der Rente aufgrund mangelnder
begleitender Arbeitsmarktreformen für die aller-





Matthias W. Birkwald


(A) (C)



(D)(B)


1947 geboren sind. Deren Rente wollen Sie kürzen. Ich Gesetzentwurf ist damit angenommen.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 583;
davon

ja: 314
nein: 269

Ja

CDU/CSU

Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck


(Reutlingen)

Manfred Behrens (Börde)

Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen


(Bönstrup)

Norbert Brackmann

Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)


(Karlsruhe Land)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Karl-Theodor Freiherr

zu Guttenberg
Olav Gutting
Florian Hahn
Holger Haibach
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum

Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung (Konstanz)

Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster

(Villingen Schwenningen)

Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Kristina Schröder
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
meisten Versicherten auf
zung hinauslaufen wird.

Wie recht Sie doch haben!


(Beifall bei der LINKE Kolb [FDP]: Das hat da hen! – Anton Schaaf Dr. Heinrich L. Kolb [F druckend, Herr Kolb!)


Doch heute reden Sie sich
behaupten, die Erwerbsbete
habe sich „toll entwickelt“. H
finde es toll, wenn sich die M
Dinge freuen können, aber
unangebracht. Ich sage Ihn
Ende 2006 vor Rentenkürzun
67 gewarnt haben, gingen 17
werbstätigkeit nach; heute si
Steigerung um gerade einm
Zeitraum stieg der Anteil d
sozialversicherungspflichtige
7 Prozent auf knapp 10 Pro
sieht es noch mickriger aus. H
von knapp 5 Prozent im Jahr
Jahr 2009. Das, lieber Herr D
sonders toll.


(Beifall bei de Erklären Sie das doch einma eine verkappte Rentenkür N – Dr. Heinrich L. mals auch so ausgese[SPD], an den Abg. DP] gewandt: Beein die Wirklichkeit schön. Sie iligung älterer Menschen err Kollege Kolb, auch ich enschen auch über kleine hier ist das vollkommen en gerne, warum. Als Sie gen durch die Rente erst ab 9 000 64-Jährige einer Ernd es 185 000. Das ist eine al 3 Prozent. Im gleichen er 64-Jährigen, die einen n Job haben, von knapp zent. Bei den Vollzeitjobs ier erhöhte sich der Anteil 2006 auf rund 6 Prozent im r. Kolb, finde ich nicht be r LINKEN)


l den Menschen, die nach
sage Ihnen: Die werden dies
tieren.


(Beifall bei de Ich komme zum Schluss. W die Bedenken aus Ihren Reih 67 ernst. Jetzt fehlt nur noc selbst beim Wort. Verschaffe und Ihren Bedenken Platz. V in die Rente erst ab 67 um vi in die richtige Richtung ist Ziel klar: Die Linke ist ohne Rente erst ab 67. Vielen Dank. (Beifall bei de Vizepräsident Dr. h. c. W Ich unterbreche die Deb nungspunkt und teile die von Schriftführern ermittelten E mentlichen Abstimmungen Ich komme zunächst zum Abstimmung über den Entwur nung des Arzneimittelmarktes versicherung, AMNOG: abgeg haben gestimmt 314, mit Nei en Sozialraub nicht akzep r LINKEN)


ir Linken nehmen Sie und
en gegen die Rente erst ab
h eines: Nehmen Sie sich
n Sie den Betroffenen Luft
erschieben Sie den Einstieg
er Jahre; denn jeder Schritt
wichtig. Für uns bleibt das
Wenn und Aber gegen die

r LINKEN)

olfgang Thierse:
atte zu diesem Tagesord-
den Schriftführerinnen und
rgebnisse der beiden na-
mit.

Ergebnis der namentlichen
f eines Gesetzes zur Neuord-
in der gesetzlichen Kranken-
ebene Stimmen 583. Mit Ja
n haben gestimmt 269. Der





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers


(Heidelberg)

Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Stefan Müller (Erlangen)

Nadine Schön (St. Wendel)

Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann (Bremen)

Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Daniela Raab
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht (Weiden)

Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt (Fürth)

Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl (Heilbronn)

Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg (Hamburg)

Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Dagmar Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

FDP

Christian Ahrendt
Christine Aschenberg-

Dugnus
Daniel Bahr (Münster)

Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)

Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth (Kyffhäuser)

Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-

Schnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner (Berlin)

Michael Link (Heilbronn)

Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Petra Müller (Aachen)

Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann


(Lausitz)

Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto


(Frankfurt)

Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane Ratjen-

Damerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel


(Lüdenscheid)

Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


Nein

CDU/CSU

Dr. Egon Jüttner
Bernd Siebert

SPD

Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding (Heidelberg)

Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann


(Hildesheim)

Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf (Rosenheim)

Kerstin Griese
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Harald Koch Dr. Anton Hofreiter
Petra Hinz (Essen)

Frank Hofmann (Volkach)

Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe (Leipzig)

Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel (Berlin)

Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth (Esslingen)



(Beifall bei Abgeordnet der F Ich komme zum Ergebnis mung über den Entschließun Marlies Volkmer, Bärbel Bas Ulla Schmidt Silvia Schmidt Carsten Schneider Olaf Scholz Swen Schulz Ewald Schurer Frank Schwabe Rolf Schwanitz Stefan Schwartze Rita Schwarzelühr-Sutter Sonja Steffen Peer Steinbrück Christoph Strässer Kerstin Tack Dr. h. c. Wolfgang Thierse Franz Thönnes Wolfgang Tiefensee Rüdiger Veit Ute Vogt Dr. Marlies Volkmer Heidemarie Wieczorek-Zeul Dr. Dieter Wiefelspütz Waltraud Wolff Uta Zapf Dagmar Ziegler Manfred Zöllmer Brigitte Zypries DIE LINKE Agnes Alpers Dr. Dietmar Bartsch Karin Binder Matthias W. Birkwald Heidrun Bluhm Steffen Bockhahn Eva Bulling-Schröter Dr. Martina Bunge Roland Claus Sevim Dağdelen Dr. Diether Dehm Heidrun Dittrich Werner Dreibus Dr. Dagmar Enkelmann Wolfgang Gehrcke Nicole Gohlke Diana Golze Annette Groth Dr. Gregor Gysi en der CDU/CSU und DP)


(Wolmirstedt)


der namentlichen Abstim-
gsantrag der Abgeordneten
, Elke Ferner und weiterer
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothee Menzner
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer (Köln)

Michael Schlecht
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Jörn Wunderlich

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Cornelia Behm
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke

Abgeordneter und der Fraktio
tung ebendieses Gesetzentwur
CSU und FDP, Drucksachen 1
gebene Stimmen 583. Mit Ja
Nein haben gestimmt 316,
schließungsantrag ist damit a
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth (Quedlinburg)

Monika Lazar
Nicole Maisch
Agnes Malczak
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)

Beate Müller-Gemmeke
Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth (Augsburg)

Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler

n der SPD zur dritten Bera-
fs der Fraktionen der CDU/
7/2413 und 17/3698: abge-
haben gestimmt 203, mit

Enthaltungen 64. Der Ent-
bgelehnt.
Gabriele Hiller-Ohm Werner Schieder (Weiden) Jan Korte Bärbel Höhn
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Hubertus Heil (Peine)

Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog

Michael Roth (Heringen)

Marlene Rupprecht


(Tuchenbach)

Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)

Bernd Scheelen
Marianne Schieder


(Schwandorf)

Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Katja Kipping

Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Winfried Hermann
Priska Hinz (Herborn)

Ulrike Höfken





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 583;
davon

ja: 203
nein: 316
enthalten: 64

Ja

SPD

Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding (Heidelberg)

Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann


(Hildesheim)

Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf (Rosenheim)

Kerstin Griese
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Hubertus Heil (Peine)

Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz (Essen)

Frank Hofmann (Volkach)

Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe (Leipzig)

Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel (Berlin)

Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth (Esslingen)

Michael Roth (Heringen)

Marlene Rupprecht


(Tuchenbach)

Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)

Bernd Scheelen
Marianne Schieder


(Schwandorf)

Werner Schieder (Weiden)

Ulla Schmidt (Aachen)

Silvia Schmidt (Eisleben)

Carsten Schneider (Erfurt)

Olaf Scholz
Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Frank Schwabe
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)

Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Marieluise Beck (Bremen)

Volker Beck (Köln)

Cornelia Behm
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Winfried Hermann
Priska Hinz (Herborn)

Ulrike Höfken
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth (Quedlinburg)

Monika Lazar
Nicole Maisch
Agnes Malczak
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)

Beate Müller-Gemmeke
Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth (Augsburg)

Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler

Nein

CDU/CSU

Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck


(Reutlingen)

Manfred Behrens (Börde)

Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen


(Bönstrup)

Norbert Brackmann
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)


(Karlsruhe Land)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Michael Frieser
Erich G. Fritz





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Karl-Theodor Freiherr

zu Guttenberg
Olav Gutting
Florian Hahn
Holger Haibach
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Jürgen Herrmann
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung (Konstanz)

Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster

(Villingen Schwenningen)

Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Julia Klöckner
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Kristina Schröder
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers


(Heidelberg)

Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Stefan Müller (Erlangen)

Nadine Schön (St. Wendel)

Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann (Bremen)

Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Daniela Raab
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht (Weiden)

Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt (Fürth)

Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl (Heilbronn)

Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg (Hamburg)

Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Dagmar Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

FDP

Christian Ahrendt
Christine Aschenberg-

Dugnus
Daniel Bahr (Münster)

Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)

Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Dr. Werner Hoyer
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth (Kyffhäuser)

Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-

Schnarrenberger
Lars Lindemann
Christian Lindner
Dr. Martin Lindner (Berlin)

Michael Link (Heilbronn)

Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Petra Müller (Aachen)

Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann


(Lausitz)

Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto


(Frankfurt)

Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane Ratjen-

Damerau
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


hinausgeschoben werden. Was gilt jetzt? Sind Sie für die nächst betroffen sind? Wir haben das Ziel: keine Rente
Wenn Herr Birkwald das ern
sagt hat, hätte er den Gese
dürfen.


(Matthias W. Birkwald [ ten dann vier Jahre zum Darum geht es!)


Das zeigt eines: Es gibt nic
diesem Parlament als die Fra


(Beifall bei der CDU/CSU W. Birkwald [DIE L Eine solche Vergackeierung fentlichkeit, nämlich zu erkl aber trotzdem zu beantragen, die Linke – das ist klar – ist k (Beifall bei der CDU/CS Lehrieder [CDU/CSU]: lass!)

st gemeint hätte, was er ge-
tzentwurf nicht einbringen

DIE LINKE]: Sie hät-
Nachdenken gehabt!

hts Unglaubwürdigeres in
ktion Die Linke.

und der FDP – Matthias
INKE]: Unsinn!)

des Parlaments und der Öf-
ären, man sei dagegen, es
gibt es wahrlich selten. Auf
ein Verlass.

U und der FDP – Paul
Es war nie auf sie Ver-
eine Illusion. Hier muss ab
werden. Deshalb haben wir
eingebracht, der Ihnen den O


(Beifall bei de Peter Weiß (Emmendinge Frau Kollegin, wer hier ein tet hat, ist die Linke mit ih zeigt nämlich, dass Sie schlic (Lachen bei d Sie bringen diesen Gesetzen einzigen Grund ein: um die F (Matthias W. Birkwald Wir wollen schon Sie ä der CDU/CSU: Aber Schaaf [SPD]: So leich gern!)

er die Notbremse gezogen
heute einen Gesetzentwurf
ffenbarungseid abnötigt.

r LINKEN)

n) (CDU/CSU):
en Offenbarungseid geleis-

rem Gesetzentwurf. Dieser
htweg prinzipienlos sind.

er LINKEN)

twurf übrigens aus einem
raktion der SPD zu ärgern.

[DIE LINKE]: Nein!
rgern! – Gegenruf von

natürlich! – Anton
t bin ich nicht zu är-
Regelaltersgrenze von 67, oder sind Sie nicht dafür? erst ab 67. Das ist bei dieser Koalitionsregierung sicher
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel


(Lüdenscheid)

Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


Enthalten

DIE LINKE

Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch

Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Dr. Barbara Höll

Wir kehren zu unserem Tagesordnungspunkt zurück.

Ich erteile dem Kollegen Peter Weiß für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1707113100

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Es war schon eine interessante Rede, die Herr Birkwald
von den Linken gehalten hat. Er hat nämlich erklärt, die
Linke sei nach wie vor gegen die Rente mit 67.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Genau!)


Aber die Linke hat einen Gesetzentwurf eingebracht,
über den heute diskutiert wird, mit dem die Rente mit 67
eingeführt werden soll; aber das schrittweise Inkrafttre-
ten soll um vier Jahre gegenüber dem geltenden Gesetz
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothee Menzner
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Wolfgang Nešković
Thomas Nord
Petra Pau

Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer (Köln)

Michael Schlecht
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Jörn Wunderlich


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1707113200

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Bunge?


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1707113300

Ja.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1707113400

Bitte schön.


Dr. Martina Bunge (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707113500

Kollege Weiß, Sie haben eben unsere Zwiespältigkeit

dargelegt. Können Sie nachvollziehen, dass man ver-
sucht, Realpolitik zu machen,


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)


und zwar zugunsten derjenigen, die unmittelbar dem-





Peter Weiß (Emmendingen)



(A) (C)



(D)(B)

Ich muss schon sagen: Wenn man das Mandat, das ei-
nem die Bürgerinnen und Bürger bei der Wahl verliehen
haben, wirklich ernst nimmt, dann stellt man Anträge zur
Sache und nicht, um andere zu ärgern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Fasst euch mal an die eigene Nase! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Der ist zur Sache!)


Aber vielleicht dämmert es langsam auch der Frak-
tion der Linken, dass sie mit ihrer ursprünglich zur Ren-
tenpolitik eingenommenen Position auf dem falschen
Weg ist. Es kommt nämlich nicht darauf an, was heute
ist, sondern es kommt darauf an, wie sich die Entwick-
lung bis zum Jahr 2029 voraussichtlich gestalten wird,
was also in 20 Jahren sein wird, wenn die Regelalters-
grenze von 67 Jahren tatsächlich in Kraft tritt.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sie soll doch 2012 eingeführt werden!)


Haben wir, was die Beschäftigung Älterer anbelangt, ei-
nen negativen oder einen positiven Trend zu verzeich-
nen? Dazu darf ich ein paar Zahlen zur Kenntnis geben,
die man einfach nicht wegreden kann:

Im Dezember des Jahres 2000, also vor zehn Jahren,
waren nur 5,4 Millionen 50- bis 65-Jährige in Arbeit.
Aber heute, im Jahr 2010, sind es bereits 7,28 Millionen
ältere Erwerbstätige, die Arbeit haben und nicht arbeits-
los sind. Das ist ein positiver Trend.


(Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ja, aber noch zu dürftig!)


Wenn man nur die 60- bis 65-Jährigen nimmt, so hat sich
in dem gleichen Zeitraum von zehn Jahren die Erwerbs-
tätigenquote praktisch verdoppelt, und die Entwicklung
des Jahres 2010 zeigt, dass sie auch in diesem Jahr wei-
ter ansteigt.

Übrigens gingen vor zehn Jahren nur 10 Prozent der
versicherungspflichtig Beschäftigten tatsächlich mit
65 Jahren in Rente. Im vergangenen Jahr, 2009, waren es
aber bereits 30 Prozent.

Das ist letztlich alles nicht zufriedenstellend, aber es
zeigt eines: Wir haben Gott sei Dank – das sollte man
auch einmal lobend und anerkennend erwähnen – einen
positiven Trend bei der Beschäftigung älterer Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer in unserem Land zu ver-
zeichnen. Älter zu werden ist kein Grund mehr dafür,
dass jemand entlassen oder in den Vorruhestand ge-
schickt wird, sondern ist für viele Unternehmen erst
recht ein Grund, um den Leuten zu sagen: Wir brauchen
euch; bleibt bei uns in Arbeit. – Diesen Trend wollen wir
weiter verstärken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1707113600

Gestatten Sie eine weitere Zwischenfrage, diesmal

des Herrn Kollegen Birkwald?


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1707113700

Bitte sehr.

Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707113800

Herr Kollege Weiß, da Sie hier Zahlen genannt haben:

Können Sie widerlegen, dass im Jahr 2009 nur 3,7 Pro-
zent aller 64-jährigen Frauen einen sozialversicherungs-
pflichtigen Vollzeitjob hatten? Ich wiederhole: 3,7 Pro-
zent. Das sind in absoluten Zahlen 15 454.


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1707113900

Herr Kollege Birkwald, zur Beurteilung der Frauen-

erwerbstätigkeit


(Elke Ferner [SPD]: Wir sind ja sowieso unwichtig!)


muss man vielleicht zur Kenntnis nehmen, dass sich in
den westlichen Bundesländern im Vergleich zu den östli-
chen Bundesländern in den letzten Jahrzehnten eine et-
was andere Geschichte abgespielt hat.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Isch komm aus Köln!)


– Das heißt noch lange nicht, dass Sie damit die Weisheit
mit Löffeln gefressen haben.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das sehen vielleicht ein paar Rheinländer anders! – Zuruf von der FDP: Die neuen Länder existieren dort trotzdem noch nicht! – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Aber auch in Köln gibt es Frauen! Kölsche Mädchen!)


– Das gibt es in der Tat. Gar keine Frage. Aber wir wol-
len jetzt nicht über die Schönheit von Frauen, sondern
über deren Erwerbstätigkeit diskutieren.


(Elke Ferner [SPD]: Das ist unterste Schublade!)


– Entschuldigung, der Kollege Troost hat das Thema
Schönheit angesprochen. Darauf habe ich jetzt reagiert.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Es war der Kollege Wunderlich, aber es ist egal! – Elke Ferner [SPD]: Aber wie Sie reagiert haben! Daran sieht man, welchen Stellenwert Frauen bei Ihnen haben! – Gegenruf des Abg. Patrick Döring [FDP]: Warum empören Sie sich denn so?)


– Frau Kollegin Ferner, ich will einfach noch einmal das
berichten, was Sie ja auch wissen.


(Zuruf von der LINKEN: Frau Ferner hat keine Frage gestellt!)


Viele Frauen, gerade in den westlichen Bundeslän-
dern, haben in den vergangenen Jahrzehnten ein Fami-
lienmodell praktiziert, bei dem sie, sobald Kinder auf die
Welt kamen, teilweise oder ganz aus dem Erwerbsleben
ausgestiegen sind und anschließend auch nicht wieder
eingestiegen sind.


(Elke Ferner [SPD]: Weil sie nicht mehr konnten!)


Deswegen haben wir bei den rentennahen Jahrgängen
historisch bedingt eine sehr niedrige Erwerbstätigkeits-
quote der Frauen. Allerdings – das sieht man bei den





Peter Weiß (Emmendingen)



(A) (C)



(D)(B)

Jüngeren, die jetzt nachkommen – verändert sich die Er-
werbstätigkeit von Frauen sehr, sodass wir in den kom-
menden Jahrzehnten eine deutlich höhere Zahl von
Frauen im Rentenalter erwarten können, die, Gott sei
Dank, einen eigenen Rentenanspruch erworben haben.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Mit anderen Worten: Sie können die Zahlen nicht widerlegen!)


– Man muss doch den Hintergrund von Zahlen erläutern.

Nun zu dem Verschiebungsvorschlag. Was bedeutet
das? Verehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Mitbür-
gerinnen und Mitbürger, die es betrifft: Wenn wir be-
schließen würden, den schrittweisen und langsamen An-
stieg des Renteneintrittsalters um jeweils einen Monat
pro Jahrgang für vier Jahrgänge auszusetzen, dann be-
deutete das – so lautet der Gesetzentwurf und auch die
Idee der SPD –, dass für die vier nachfolgenden Jahr-
gänge das Renteneintrittsalter umso schneller nach oben
geht.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein, das steht bei uns nicht drin!)


Jetzt frage ich mich: Was ist das für ein Verständnis
von Solidarität unter den Generationen, was ist das für
ein Gerechtigkeitsempfinden, wenn man vier Jahrgängen
sagt: „Für euch bleibt es bei der alten Regelalters-
grenze“, aber den vier nächsten Jahrgängen sagt: „Ihr
müsst umso länger arbeiten, weil wir den anderen das
geschenkt haben“? Das ist doch keine Solidarität. Das
hat doch mit Gerechtigkeit nichts zu tun. Das ist das Ge-
genteil von Solidarität und das Gegenteil von Gerechtig-
keit. Deswegen sind wir gegen diesen unsolidarischen
und ungerechten Vorschlag.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Wer lesen kann, ist klar im Vorteil! – Elke Ferner [SPD]: Schauen Sie in den Spiegel, und sehen Sie, was Sie für eine Politik machen!)


Überall wird jetzt über das Thema Fachkräftemangel
und darüber diskutiert, wie wir ihn beheben wollen. Ich
möchte für unsere Fraktion klar und deutlich sagen:
Denjenigen, die den Fachkräftemangel nur dadurch be-
heben wollen, dass wir die Türen weit aufmachen und
jeder hierherkommen kann, sprich: dass die deutsche
Wirtschaft sich billige Arbeitskräfte aus dem Ausland
sucht, aber denjenigen, die in unserem Land keine Arbeit
haben, immer noch keine Chance geben, werden wir
nicht nachgeben. Wir wollen als Allererstes mehr Quali-
fizierung für die, die heute arbeitslos sind, und mehr Be-
schäftigungschancen für die ältere Generation, damit der
Fachkräftemangel in Deutschland bekämpft werden
kann. Das ist unsere Position.


(Beifall bei der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Gucken Sie mal in den Einzelplan 11! Da machen Sie das Gegenteil!)


Ich möchte zum Schluss – der Präsident zeigt mir,
dass meine Redezeit zu Ende ist – Folgendes sagen:
Wenn man sich selbst als Parlamentarier ernst nimmt
und wenn man die Menschen ernst nimmt, die auf klare
Entscheidungen von uns warten, dann sollte man


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Neuwahlen ansetzen!)


die Worte aus der Bergpredigt ernst nehmen. Ich zitiere
Matthäus 5, 37:

Euer Ja sei ein Ja, euer Nein ein Nein; alles andere
stammt vom Bösen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die Überprüfung steht im Gesetz, nicht die Bergpredigt!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1707114000

Das Wort erteile ich nun Kollegen Anton Schaaf für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Anton Schaaf (SPD):
Rede ID: ID1707114100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bevor ich

das eine oder andere zum Kollegen Peter Weiß sage, Fol-
gendes: Heute ging um 13.36 Uhr eine Meldung über
den Ticker, die sich mit den Ergebnissen des im Rahmen
der Berichterstattungspflicht der Bundesregierung er-
stellten Prüfberichts zum höheren Renteneintrittsalter
befasst, und zwar mit wörtlichen Zitaten und Zahlen.
Das heißt, die Öffentlichkeit hat Informationen bekom-
men,


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die wir noch nicht haben!)


die nach dem Gesetz zunächst einmal dem Parlament
und den Parlamentariern zustehen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Nach dem Gesetz hat die Bundesregierung die Be-
richterstattungspflicht gegenüber dem Parlament. Ent-
weder haben Sie anlässlich der Debatte über diese Pres-
semeldung und das gezielte Durchstechen in der
Bevölkerung Stimmung für die Rente mit 67 machen
wollen, oder Sie haben Indiskretionen im Haus. Ich weiß
nicht, was für Ihre Ministerin schlimmer ist, das Parla-
ment ignoriert zu haben oder ihren Laden nicht im Griff
zu haben. Aber das ist eine Sache, die Sie miteinander
ausmachen müssen. Ich bin der Meinung: Beides ist
schlimm genug.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Nun ja, ich habe dann im Büro des Parlamentarischen
Staatssekretärs Fuchtel nachfragen lassen –


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1707114200

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?






(A) (C)



(D)(B)


Anton Schaaf (SPD):
Rede ID: ID1707114300

– einen Moment –, ob ich als Parlamentarier den Be-

richt, wenn ihn schon die Öffentlichkeit, in diesem Falle
AFP, hat, auch bekommen kann. Da wurde mir mitge-
teilt, dass dieser selbstverständlich bis zum Kabinettsbe-
schluss nächste Woche noch als Verschlusssache behan-
delt wird.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Hört! Hört!)


Meine Damen und Herren, das heißt im Klartext: Die
Ministerin hat ihren Laden definitiv nicht im Griff. Et-
was anderes kann es nicht heißen.


(Beifall bei der SPD)


Jetzt kann Herr Kollege Straubinger natürlich sehr
gerne seine Zwischenfrage stellen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1707114400

Herr Kollege Straubinger, jetzt dürfen Sie ran.


Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1707114500

Herr Kollege Schaaf, wenn Sie schon Zahlen parat

haben, wäre ich Ihnen verbunden, wenn Sie diese Zahlen
auch bekannt geben würden. Ich glaube, das wäre auch
für die Öffentlichkeit interessant.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Damit wir gemeinsam jubeln können!)



Anton Schaaf (SPD):
Rede ID: ID1707114600

Ich bin ja gerade dabei. Ich wollte nur diesen Sach-

verhalt einmal geklärt haben.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Mich würden die Zahlen interessieren!)


Herr Straubinger, Sie hätten sich auch gerne dazu ver-
halten können, wie es eigentlich sein kann, dass eine Be-
richtspflicht gegenüber dem Parlament in einer derarti-
gen Art und Weise verletzt wird. Dazu hätten Sie sich
gerade verhalten können. Ich stelle nur noch einmal fest:
Diese Chance haben Sie nicht wahrgenommen.


(Beifall bei der SPD)


Ich finde, so kann man mit dem Parlament nicht umge-
hen. Aber in den letzten Wochen haben wir ja bei ande-
ren Themen Ähnliches erlebt:


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Genau!)


Bei Atom, bei Gesundheit und bei anderen Themen durf-
ten wir erleben, wie diese Regierung mit dem Parlament
umgeht. Ich halte es für gnadenlos schlecht, was Sie da
veranstalten. Aber gut, ich möchte es nicht weiter wer-
ten. Ich wollte hier nur erwähnt haben, dass es so ist.

Im Pressebericht wird nun beispielsweise gesagt, dass
sich die Beschäftigungsquote der 60- bis 64-Jährigen
sensationellerweise auf 23,4 Prozent erhöht hat. Wört-
lich steht in dem Bericht, dass das Begründung genug
dafür ist, die Rente mit 67, beginnend ab dem Jahr 2012,
einzuführen, weil sich damit ja schließlich die Beschäfti-
gungsquote der über 60-Jährigen in den letzten zehn Jah-
ren verdoppelt hat.


(Zuruf der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD])


Wenn ich richtig gerechnet habe – ich glaube, das habe
ich einigermaßen richtig hinbekommen –, ist es so, dass
zurzeit wohl 76,6 Prozent der über 60-Jährigen nicht so-
zialversicherungspflichtig beschäftigt sind.


(Josip Juratovic [SPD]: So viel dazu!)


Wie man von einer Zahl von 23,4 Prozent ablesen kann,
dass die Rente mit 67 ab 2012 problemlos eingeführt
werden kann, ist mir schlichtweg ein Rätsel, meine Da-
men und Herren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Herr Birkwald hat zwar freundlicherweise erwähnt,
dass wir die Einführung der Rente mit 67 ab 2012 mitbe-
schlossen haben, aber er hat auch sehr deutlich formu-
liert, welche Sicherungen wir im Gesetz eingebaut ha-
ben.


(Josip Juratovic [SPD]: Richtig!)


Die Überprüfungsklausel, auf die wir uns jetzt berufen,
ist eine solche Sicherung und ist Bestandteil des Geset-
zes.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Und nicht die Bergpredigt!)


Genau das ignorieren Sie.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Nein! Wir wollen den Bericht erst einmal lesen!)


Die arbeitsmarktpolitische Situation der Älteren gibt es
eben nicht her, ab 2012 die Rente mit 67 einzuführen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Richtig! Das ist es! – Max Straubinger [CDU/CSU]: Woher stammt die Erkenntnis?)


Darauf berufen wir uns. Sie ignorieren diesen Teil des
Gesetzes in Gänze.

Wie Sie damit jetzt umgehen wollen, habe ich ja gese-
hen. Auf einmal handelt es sich nicht mehr um eine
Überprüfungspflicht, sondern nur noch um eine Bericht-
erstattung, die im Wesentlichen keine Relevanz mehr
habe.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Max Straubinger [CDU/CSU]: So steht es im Gesetz!)


Ich habe all diese Sprüche in den letzten Wochen gehört.
Ich halte sie allesamt für falsch, wie meine Fraktion
auch. Die Rente mit 67 kann vor dem Hintergrund des
Istzustands bei älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmern nicht ab 2012 eingeführt werden. An der Stelle
gebe ich den Linken recht. Die Einführung der Rente mit
67 muss also verschoben werden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE])






Anton Schaaf


(A) (C)



(D)(B)

Welche Klimmzüge man macht, um sie trotzdem ein-
führen zu können, haben Sie, Herr Kollege Weiß, ja ge-
rade wieder dargestellt. Wenn man sich die Zahlen genau
anschaut, dann stellt man fest: Zurzeit gehen von den 64-
Jährigen nur 10 Prozent ohne Abschläge in Rente. Diese
Zahl begründet vor dem Hintergrund dessen, was im Ge-
setz steht, natürlich kein höheres Renteneintrittsalter.
Die Zahl von 23,4 Prozent sozialversicherungspflichtig
Beschäftigter bei den 60- bis 64-Jährigen liefert auch
schwerlich ein Argument für die Einführung der Rente
mit 67 ab 2012.

Jetzt gehen Sie hin und nehmen statt der Zahl der 55- bis
65-Jährigen sogar die Zahl der 50- bis 65-Jährigen. Wa-
rum nehmen Sie nicht gleich die Zahl der 35- bis 65-Jäh-
rigen? Warum tun Sie das nicht?


(Beifall der Abg. Elke Ferner [SPD] – Josip Juratovic [SPD]: Unredlich!)


Sie legen es sich gerade so zurecht, wie Sie es gerne hät-
ten, um Ihr Vorhaben einigermaßen durchhalten zu kön-
nen.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Nein!)


Sie werden aber weder in der öffentlichen Darstellung
noch hier im Parlament die Leute tatsächlich verdumm-
teufeln können. Das schaffen Sie nicht, auch nicht mit
der Zahlenspielerei, die Sie jetzt gerade hier auch wieder
betrieben haben.

Wir haben für ein höheres Renteneintrittsalter ge-
stimmt und es auch nicht negiert. Ich habe auch bei an-
deren Veranstaltungen immer gesagt: Wir werden nicht
darum herumkommen, irgendwann ein höheres Renten-
eintrittsalter einzuführen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das halten wir für falsch!)


Dabei bleibe ich auch; davon bin ich fest überzeugt. Das
hat etwas mit demografischer Entwicklung zu tun, aber
nicht mit finanzieller Entwicklung der Rentenversiche-
rung, die man anders darstellen kann, sondern mit Leis-
tungsfähigkeit der Gesellschaft.

Die Frage ist doch, ob die Voraussetzungen dafür jetzt
gegeben sind. Sie sind nicht gegeben. Man muss den
Menschen, die kaputt sind aufgrund der Arbeit – das
sind die Handwerker, das sind die Schichtarbeiter, das ist
die Krankenschwester, das sind viele andere –, bevor
man ein höheres Renteneintrittsalter einführt, eine Ant-
wort auf die Frage geben, was passiert, wenn sie auf-
grund ihrer Arbeit nicht mehr können. Diese Antwort
verweigern Sie schlichtweg, meine Damen und Herren
von der Koalition.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1707114700

Herr Kollege Schaaf, gestatten Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Weiß?


Anton Schaaf (SPD):
Rede ID: ID1707114800

Aber selbstverständlich.

Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1707114900

Herr Kollege Schaaf, Sie haben soeben vorgetragen,

dass wir, Sozialdemokraten und CDU/CSU gemeinsam,
in der Großen Koalition 2007 das Gesetz zur Erhöhung
der Regelaltersgrenze in der gesetzlichen Rentenver-
sicherung auf 67 Jahre beschlossen haben und ebenso
gemeinsam beschlossen haben, dass die Bundesregie-
rung verpflichtet wird, in diesem Jahr zum ersten Mal ei-
nen Bericht vorzulegen, wie sich die Beschäftigungssitu-
ation Älterer entwickelt, und in den Folgejahren alle vier
Jahre erneut einen solchen Bericht vorzulegen.


(Anton Schaaf [SPD]: Zitieren Sie zu Ende, was darin steht! Sonst mache ich es gleich!)


Nun haben Sie zu Recht darauf hingewiesen, Herr
Kollege Schaaf: Dieser Bericht liegt uns – auch wenn es
offensichtlich entsprechende Pressemeldungen gibt – bis
zur Stunde nicht vor. Vielmehr wird ihn das Kabinett vo-
raussichtlich in der kommenden Woche verabschieden
und dann dem Parlament zuleiten.

Deswegen frage ich Sie einfach: Warum halten Sie
eine solche Rede, wie Sie sie halten, indem Sie bereits
feststellen, dass sich aus Ihrer Sicht die Beschäftigungs-
situation Älterer nicht gut genug entwickelt hat und in
den kommenden Jahren nicht weiter gut entwickeln
wird, wenn der Bericht überhaupt nicht vorliegt? Warum
ist nicht auch die sozialdemokratische Fraktion bereit,
erst einmal den Bericht zu lesen – Sie haben ihn selbst
beschlossen und in Auftrag gegeben – und anschließend
miteinander zu diskutieren?


Anton Schaaf (SPD):
Rede ID: ID1707115000

Ich danke Ihnen sehr herzlich für die Frage. – Zu-

nächst einmal möchte ich das, was im Gesetz steht – das,
was wir Überprüfungsklausel bzw. Berichterstattungs-
klausel nennen –,


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Fälschlicherweise!)


zu Ende zitieren. Darin steht nämlich, dass die Regie-
rung vor dem Hintergrund der erhobenen Daten dem
Parlament eine Empfehlung geben muss, das heißt mit-
teilen muss, ob es geboten ist, dass ab 2012 die Rente
mit 67 eingeführt wird. Das steht ebenfalls in diesem
Gesetzestext; das ist ein eigener Paragraf im Gesetz.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ja!)


Bevor jedoch irgendjemand hier in diesem Hause den
Bericht hat, bevor das Kabinett ihn beschlossen hat, ha-
ben Staatssekretär Brauksiepe und übrigens auch die
Ministerin festgestellt, dass die Rente mit 67 ab 2012 auf
jeden Fall kommen wird. Obwohl der Bericht nieman-
dem vorlag, haben sie das schon festgestellt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das ist BastaPolitik!)


Die Zahlen, die ich gerade genannt habe, stammen
zum Teil von der BA; aber in diesem Fall ist es eine
Pressemitteilung, in der aus dem Bericht zitiert wird und
in dem die 23,4 Prozent als Bestandteil des Berichts ge-





Anton Schaaf


(A) (C)



(D)(B)

nannt werden. Das sind letzten Endes Ihre eigenen Zah-
len, die ich hier zitiert habe, Herr Kollege Weiß; ich
danke Ihnen.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ich dachte, Sie wollten den Bericht lesen!)


Hinsichtlich des Berichts habe ich schon das eine
oder andere gesagt. Sie haben sich gerade hier hinge-
stellt, Herr Kollege Weiß, und haben die Rente mit 67 ab
2012 für möglich und berechtigt erklärt. Ich habe Zwei-
fel daran, und ich habe dies anhand der Erwerbsminde-
rungsrente verdeutlicht: Was machen wir mit denen, die
aus Arbeit nicht mehr können? Was ist mit den Zurech-
nungszeiten? Dazu habe ich bei Kollegen Straubinger
zumindest Verständnis herausgehört, dass man an dieser
Stelle etwas tun muss. Was ist mit dem Zugang in die Er-
werbsminderungsrente? Was ist mit flexiblen Übergän-
gen? Was ist beispielsweise mit der Altersteilzeit? Die
geförderte Altersteilzeit wollten Sie ja nicht weiter fort-
führen. Was ist mit all diesen Fragen?

Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, ha-
ben überhaupt kein Interesse, im Sinne der Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer diese zentralen Fragen zu
beantworten. Nur dann aber, wenn man diese Fragen tat-
sächlich beantwortet, wird man überhaupt jemals eine
Mehrheit bei der Akzeptanz für ein höheres Rentenein-
trittsalter finden. Vor dem Hintergrund dessen, was Sie
da tun, ist dies nicht möglich. Deswegen werden wir
weiter fordern, die Einführung der Rente mit 67 zu-
nächst einmal zu verschieben.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD – Max Straubinger [CDU/ CSU]: Stimmen Sie dem Gesetzentwurf der Linken damit zu?)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1707115100

Das Wort hat nun Heinrich Kolb für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1707115200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu-

nächst einmal stelle ich tatsächliche Bewegung in die-
sem Hause fest; denn wie Kollege Weiß zu Recht gesagt
hat, kann auch ich den Gesetzentwurf der Linken nur so
verstehen, dass auch die Linke ihren Frieden mit der
Rente mit 67 gemacht hat.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das glauben Sie doch im Traum nicht, Herr Kolb!)


– Doch, ich kann lesen und habe das nachgelesen und
sämtliche Zahlenkolonnen in Ihrem Gesetzentwurf nach-
vollzogen. Daraus ergibt sich eindeutig: Die Rente mit
67 stellen Sie nicht infrage, sondern nur ihr Inkrafttreten.
So ist Ihr Gesetzentwurf zu interpretieren. Sie verschie-
ben nur das Inkrafttreten, Sie fordern aber nicht die Aus-
setzung der damaligen Gesetzesänderung. Auch der Kol-
lege Schaaf hat gesagt, wir kämen auf Dauer an der
Anhebung der Altersgrenze nicht vorbei. Es ist aus mei-
ner Sicht eine bemerkenswerte Bewegung, die Sie hier
vollziehen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


In der Tat, Herr Kollege Schaaf, muss man Folgendes
feststellen: Als Franz Müntefering im März 2007 die
Rente mit 67 durchsetzte, waren 728 000 Menschen, die
älter als 60 Jahre waren, sozialversicherungspflichtig be-
schäftigt. Im März 2010 – da war die Krise in diesem
Land noch in vollem Gange – hatten über 1 Million
Menschen im Alter von über 60 Jahren eine sozialversi-
cherungspflichtige Beschäftigung. Das ist ein Zuwachs
von 38 Prozent. Ich frage Sie, Herr Schaaf – Herr
Müntefering ist ja nicht anwesend –: Wie hat sich die
SPD die Entwicklung der Beschäftigtenzahlen vorge-
stellt? Wollten Sie 100 Prozent Zuwachs in drei Jahren?
Ich glaube nicht, dass Sie das als realistisch angesehen
hätten. Wenn man Ihren Ansatz von damals zugrunde
legt, ist es verantwortbar, schon zum jetzigen Zeitpunkt
über eine Anhebung des Renteneintrittsalters nachzu-
denken.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 75 Prozent lassen Sie im Regen stehen!)


Das Regelrenteneintrittsalter von 65 Jahren ist für
Angestellte im Jahr 1911 und für Arbeiter im Jahr 1916
eingeführt worden. Darüber nachzudenken, nach 120
Jahren und einer um mindestens 30 Jahre gestiegenen
Lebenserwartung das Regelrenteneintrittsalter um zwei
Jahre anzuheben, halte ich nicht für vollkommen abwe-
gig. Das will ich an dieser Stelle sagen.

Warum haben sich die Dinge deutlich verändert? Weil
wir auf gesetzlichem Wege gehandelt haben. Sie haben
gesagt, wir hätten nur die beitragsgeförderte Altersteil-
zeit auslaufen lassen. Das war ein notwendiger und rich-
tiger Schritt, Herr Schaaf. Wenn man die Menschen mit
58 Jahren in Altersteilzeit schickt, dann darf man sich
nämlich nicht wundern, dass sie mit 64 Jahren nicht
mehr sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir sind darauf angewiesen, den Sachverstand und die
Kompetenz älterer Arbeitnehmer für unsere Gesellschaft
und auch für unsere Volkswirtschaft zu erhalten. Deswe-
gen war dies ein notwendiger und richtiger Schritt.

Da ich heute nur drei Minuten Redezeit habe und nie-
mand eine Zwischenfrage gestellt hat, komme ich zum
Schluss.


(Heiterkeit bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)


Man darf es sich mit § 154 Abs. 4 SGB VI nicht zu ein-
fach machen. Darin steht nicht, dass nach durchgeführter
Überprüfung mit entsprechendem Ergebnis nichts ge-
macht werden muss. In § 154 Abs. 4 Satz 2 ist vielmehr
festgelegt, dass man über alternative Maßnahmen unter
Wahrung der Beitragsstabilität nachdenken muss.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: So ist es!)






Dr. Heinrich L. Kolb


(A) (C)



(D)(B)

Das vermisse ich in Ihrem Antrag, Herr Birkwald. Sie
sprechen von einer Beitragssatzsteigerung um 0,2 Pro-
zentpunkte. Aber Sie schlagen, entgegen der geltenden
Fassung des SGB VI, keine Maßnahmen vor, wie man
diese Steigerung vermeiden könnte.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das stimmt doch nicht! Das steht im Gesetzentwurf! Das kostet 3 Euro!)


Damit springen Sie zu kurz. Deswegen kann Ihr Gesetz-
entwurf unsere Unterstützung nicht finden.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1707115300

Das Wort hat nun Wolfgang Strengmann-Kuhn für

Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
erleben heute eine historische Debatte; denn die Linke
hat sich von ihrem fundamentalistischen Nein zur Rente
mit 67 verabschiedet und sich zu einer realpolitischen
Position durchgerungen.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist gut!)


Die Kollegin Bunge hat das eben noch einmal betont.

Es ist aus unserer Sicht ausdrücklich zu begrüßen,
dass sich die Linke von diesem fundamentalistischen
Nein zur Rente mit 67 verabschiedet hat. In dem von Ih-
nen vorgelegten Gesetzentwurf plädieren Sie für eine
Rente mit 67 ab dem Jahre 2035.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist schon einmal was!)


Diesen realpolitischen Schritt begrüßen wir. Wir sind
nach wie vor für die Rente mit 67 ab 2031. Wir liegen
also noch vier Jahre auseinander.

Wir stimmen mit der Linken nicht darin überein, dass
die Anhebung der Altersgrenzen ohne Abschlag um
zwei Jahre auch für Erwerbsgeminderte und Schwerbe-
hinderte erfolgen soll. So steht es aber in Ihrem Gesetz-
entwurf. Das halten wir für völlig falsch. Wir haben
diese Anhebung immer für einen großen Fehler gehal-
ten. Das gilt auch für den Fall, dass die Anhebung, wie
im Gesetzentwurf der Linken vorgesehen, vier Jahre spä-
ter stattfinden soll. Schließlich ist Erwerbsminderung
und Schwerbehinderung nichts, was sich die Menschen
aussuchen. Deswegen muss für diese Fälle das Renten-
eintrittsalter da bleiben, wo es heute ist, und darf nicht
gemäß dem Gesetzentwurf der Linken erhöht werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Dazu gibt es einen eigenen Antrag!)


– Lieber Matthias Birkwald, in der Rede kam all das
überhaupt nicht vor. Es stellt sich tatsächlich die Frage:
Wie ernst ist das gemeint? Vielleicht hat es doch etwas
mit dem heutigen Tag zu tun: Wir haben den 11.11., und
Sie kommen aus Köln.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja, aber ich bin hier, weil es um ernsthafte Politik geht!)


– Genau, es geht hier um ernsthafte Politik. Ich habe Ih-
ren Gesetzentwurf sehr ernst genommen. Er bedeutet:
Sie wollen die Rente mit 67 im Jahr 2035; Sie wollen die
Regelaltersgrenze für Schwerbehinderte und Erwerbsge-
minderte erhöhen. Ich habe eben meine Position dazu
gesagt. Zum ersten Punkt sage ich: Das ist ein Schritt in
die richtige Richtung, auch wenn er nicht weit genug
geht; denn wir sind für die Rente mit 67 ab 2031. Zum
zweiten Punkt sage ich: Wir lehnen ihn klar ab. Insofern
nehme ich Ihren Gesetzentwurf ernst, offensichtlich
ernster als Sie selber.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Es geht um vier Jahre zum Nachdenken!)


Ich glaube, es interessiert die Menschen nicht wirk-
lich, ob die Rente mit 67 von 2031 auf 2035 verschoben
wird. Die Menschen interessiert jenseits der Jahreszahl,
ob die Rente zum Leben ausreicht, bis wann sie arbeiten
müssen, ob sie früher in Rente gehen können und, wenn
ja, unter welchen Bedingungen, und welche Arbeitsbe-
dingungen herrschen. Die Menschen wollen gute Arbeit,
die es ermöglicht, länger und gesünder zu arbeiten.

Die Menschen interessiert es aber auch, ob die Rente
bezahlbar bleibt und wie hoch die Rentenversicherungs-
beiträge sein werden. Auch das müssen wir berücksichti-
gen, wenn wir über die Rente mit 67 reden. Dieser As-
pekt ist jetzt besonders wichtig geworden; denn die
Rentenversicherungsbeiträge müssen aufgrund des Spar-
pakets der Bundesregierung erhöht werden. Das hat der
Sachverständigenrat gestern zu Recht kritisiert. So
schreibt der Sachverständigenrat für Wirtschaft in sei-
nem gestern vorgestellten Gutachten:

Dennoch ist anzumerken, dass der Bundeshaushalt
auf Kosten der Beitragszahler der Gesetzlichen
Rentenversicherung entlastet wird. Bei der Strei-
chung der Beiträge für Arbeitslosengeld II-Empfän-
ger handelt es sich … um reine „Verschiebebahn-
höfe“.

Der Sachverständigenrat hat recht. Es ist richtig, auf die
Beitragsstabilität zu achten.

Wir müssen an die Probleme, die ich gerade genannt
habe, unbedingt herangehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Auch der Sachverständigenrat mahnt das an. Wir müssen
tatsächlich erreichen, dass die Menschen gesünder und
länger arbeiten können. Wir brauchen gute Arbeit für
alle. Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen tat-
sächlich früher als mit 67 in Rente gehen können. Dafür
müssen wir mehr flexible Übergangsmöglichkeiten
schaffen. Wir müssen dafür sorgen, dass die Anhebung
der Regelarbeitsgrenze nicht zu zunehmender Armut
führt. Wir müssen eine Untergrenze einführen: Wer sein
Leben lang gearbeitet hat, wer 30 Jahre oder mehr in die





Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn


(A) (C)



(D)(B)

Rentenversicherung einbezahlt hat, der soll nicht darauf
angewiesen sein, erst sein Vermögen zu verbrauchen und
dann zum Sozialamt zu gehen. Wir wollen eine Garan-
tierente für langjährig Versicherte, die über dem Niveau
der Grundsicherung liegt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das sind die Herausforderungen, vor denen wir stehen.
Da hilft kein Herumjonglieren mit irgendwelchen Jah-
reszahlen, wie es die Linke in ihrem Gesetzentwurf
macht.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und an Sie, Herr
Birkwald, Alaaf!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1707115400

Das Wort hat nun Kollege Max Straubinger für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1707115500

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Die

Linke hat einen Gesetzentwurf eingebracht, der darauf
zielt, den Beginn der Rente mit 67 zu verschieben. Da-
raus kann man natürlich ableiten, dass sich die Linke
mittlerweile mit der Rente mit 67 angefreundet hat; denn
sie will die Rente mit 67 nur um vier Jahre verschieben.
Das glaube ich Ihnen aber nicht. Letztendlich geht es Ih-
nen nur darum, die Rente mit 67 insgesamt infrage zu
stellen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja, Herr Straubinger hat verstanden! – Gegenruf des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Der Max ist ein Linkenversteher! Ich merke das schon!)


Ich möchte also nicht glauben, was manche in diesem
Gesetzentwurf erkennen. Die Linke möchte hier eher die
SPD in Bedrängnis bringen. Das ist der wahre Grund für
die Einbringung des Gesetzentwurfes.

Der Gesetzentwurf verstößt eklatant gegen die Gene-
rationengerechtigkeit in unserem Land. Mit der Ver-
schiebung sind nämlich – Herr Kollege Birkwald, Sie
haben das verschämt verschwiegen – Beitragserhöhun-
gen verbunden. Sie schreiben in Ihrem Gesetzentwurf,
dadurch ergebe sich eine Erhöhung der Beiträge um nur
0,2 Prozentpunkte. Aber die Beiträge würden dann na-
türlich viel stärker steigen, und zwar um bis zu 0,5 Pro-
zentpunkte. Es gibt sogar Berechnungen, nach denen es
0,9 Prozentpunkte sein werden. Die gesamte Wahrheit
ist: Sie wollen bei der jüngeren Generation abkassieren,
um bei rentennahen Jahrgängen Eindruck zu schinden.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1707115600

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Birkwald?


Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1707115700

Ja.

Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707115800

Herr Kollege Straubinger, vielen Dank, dass Sie die

Zwischenfrage zugelassen haben. Ich danke auch dafür,
dass Sie deutlich gemacht haben, dass die Linke die
Rente erst ab 67 ablehnt und wir diesen Gesetzentwurf
eingebracht haben, damit Sie überlegen können, ob Ihr
Vorhaben zur Realität passt.

Ich möchte Sie zweierlei fragen:

Erstens. Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen,
dass mit der Verschiebung, die wir vorgeschlagen haben,
für Durchschnittsverdienende eine zusätzliche Belastung
von 3 Euro verbunden wäre? Zeigen Sie mir bitte einmal
einen Menschen, egal ob jung, mittelalt, älter oder alt,
der nicht bereit wäre, 3 Euro zu bezahlen, damit er nicht
bis 67 arbeiten muss oder immense Kürzungen in Höhe
von durchschnittlich 117 Euro hinnehmen muss.


(Beifall des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE])


Zweitens frage ich Sie, ob Sie bereit sind, zur Kennt-
nis zu nehmen, dass eine Partei wie die Ihre, die vorige
Woche in diesem Haus mit der Koalitionsmehrheit be-
schlossen hat, dass die nächsten 40 000 Generationen
strahlenden Atommüll hinnehmen müssen – zum Ver-
gleich: 80 Generationen sind seit der Geburt Jesu Christi
vergangen –, beim Thema Generationengerechtigkeit
besser schweigen sollte?


(Beifall bei der LINKEN)



Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1707115900

Um mit der zweiten Frage zu beginnen: Die Rente mit

67 ist generationengerecht, und sie hat nichts mit irgend-
welchen Beschlüssen zur Energiepolitik zu tun. Zum
Thema Energiepolitik möchte ich sagen: Eigentlich
müssten alle in diesem Hause bereit sein, auch die End-
lagerfrage zu lösen. Sie sind dazu nicht bereit.


(Anton Schaaf [SPD]: Die Bayern doch auch nicht!)


Wir haben erlebt, dass Sie in Gorleben mit gewalttätigen
Demonstranten paktiert haben, um eine Lösung für unser
Land zu verhindern und


(Beifall bei der CDU/CSU)


auch zukünftig Ihr parteipolitisches Süppchen kochen zu
können. Das ist der entscheidende Punkt.

Wir alle stehen in der Verantwortung. Es gibt seit
40 Jahren Atomkraftwerke. Sie wurden mit Unterstüt-
zung der SPD gebaut, von den Grünen zumindest gedul-
det und vor allen Dingen in Ostdeutschland errichtet. Es
gibt eine breite Schicht, die für die Lösung der Frage der
Endlagerung von Abfällen aus der Atomwirtschaft ver-
antwortlich ist.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Dann suchen Sie doch einmal in Bayern! Suchen Sie in Bayern?)


– Das ist keine Frage der Bundesländer. Es geht um den
besten Standort und die besten geologischen Vorausset-
zungen. Diese Frage ist nicht mit irgendeinem Bundes-





Max Straubinger


(A) (C)



(D)(B)

land zu verbinden. Wir brauchen sachgerechte Lösungen
und dürfen das Problem nicht zwischen den Bundeslän-
dern hin- und herschieben. Das wird sachgemäßen Lö-
sungen nicht gerecht.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: 3 Euro mehr Beitrag ist sachgemäß?)


Zweitens. Sie argumentieren, es seien nur 3 Euro, die
mehr zu zahlen seien – das ist eine Durchschnittsrech-
nung –; andernfalls müssten die Rentnerinnen und Rent-
ner enorme Abschläge in Kauf nehmen. Es handelt sich
um prozentuale Abschläge, aber nicht um einen Leis-
tungsabschlag. Wir erwarten, dass diejenigen, die mit 67
in Rente gehen, im Durchschnitt eine drei Jahre höhere
Lebenserwartung haben. Diese Menschen müssen aber
nur zwei Jahre länger arbeiten.

Wir haben das Glück, in einem Land zu leben, in dem
die allgemeine Lebenserwartung der Bevölkerung auf-
grund einer guten medizinischen Versorgung zunimmt.
Die Folgen der höheren Lebenserwartung müssen von
allen in unserer Gesellschaft getragen werden, von den
rentennahen Jahrgängen ebenso wie von den Jungen in
unserer Gesellschaft. Das ist eine Frage der Generatio-
nengerechtigkeit. Die Jungen können nicht ständig über
Gebühr belastet werden.

Herr Kollege Birkwald, der Bericht der Bundesregie-
rung wird hier ständig in Zweifel gezogen. Anton Schaaf
bezieht sich auf Pressemitteilungen, die wir uns nicht er-
klären können, die garantiert nicht vom Ministerium
stammen, sondern einfache Tickermeldungen sind, die
ich nicht kenne. Es wird manchmal von SPD-Kreisen so
dargestellt, als ob es um die Überprüfung bzw. Revi-
sionsklausel ginge. Das geschah auch gestern bei einer
Gewerkschaftsveranstaltung, zu der unter dem Gesichts-
punkt einer Revisionsklausel eingeladen wurde. Inso-
weit wird hier ständig eine Falschinformation in die Be-
völkerung, in die Gewerkschaften und insgesamt auch in
die Betriebsräte hineingetragen. Ich darf, Herr Präsident,
den korrekten Wortlaut zitieren:

Die Bundesregierung hat den gesetzgebenden Kör-
perschaften vom Jahre 2010 an alle vier Jahre über
die Entwicklung der Beschäftigung älterer Arbeit-
nehmer zu berichten und eine Einschätzung darüber
abzugeben, ob die Anhebung der Regelaltersgrenze
unter Berücksichtigung der Entwicklung der Ar-
beitsmarktlage sowie der wirtschaftlichen und so-
zialen Situation älterer Arbeitnehmer weiterhin ver-
tretbar erscheint und die getroffenen gesetzlichen
Regelungen bestehen bleiben können. In diesem
Bericht sind zur Beibehaltung eines Sicherungs-
niveauziels vor Steuern von 46 vom Hundert über
das Jahr 2020 hinaus von der Bundesregierung ent-
sprechende Maßnahmen unter Wahrung der Bei-
tragssatzstabilität vorzuschlagen.

Letzteren Satz vergessen Sie in der politischen Dar-
stellung ständig. Das ist aber mit das Entscheidende. Es
geht um Beitragssatzstabilität. Hier wird das Entlar-
vende des Gesetzentwurfs der Linken offensichtlich. Sie
schreiben ja hinein, dass es eine Beitragserhöhung geben
wird. Hier wird schon wieder kaschiert. Es wird eine
stärkere Beitragserhöhung geben, die zulasten der arbei-
tenden Menschen gehen wird. Deshalb können wir
schon unter diesen Gesichtspunkten nicht zustimmen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ein Weißbier!)


Herr Kollege Birkwald, Sie haben auch ausgeführt,
unser Parteivorsitzender hätte sich für eine Änderung bei
der Rente mit 67 ausgesprochen. Sie haben dies aber aus
dem Zusammenhang gerissen. Es geht nämlich um Fol-
gendes: Die Wirtschaft fordert ständig, ausländische
Facharbeitskräfte – wohlgemerkt aus Drittstaaten – in
Deutschland zuzulassen und ihnen Zugang zu unserem
Arbeitsmarkt zu eröffnen, gleichzeitig möchte sie aber
die Leute früher in Rente schicken. Damit würde auf
wertvolle Arbeitskräfte verzichtet werden, und das darf
nicht sein. Nur in diesem Zusammenhang ist das zu se-
hen. Dann kann man nachher nicht sagen: So kann man
auch die Rente mit 67 hier mit gutem Gewissen vertre-
ten.

Ein Letztes noch. In der gesamten Diskussion wird
ständig dargelegt, dass man nicht so lange arbeiten kann.
Ich komme aus der Landwirtschaft. Mein Vater war zeit-
lebens Landwirt. Ich glaube, Landwirt ist ein Beruf, der
durchaus Kraft erfordert und belastend ist. Mein Vater
hat bis zum 75. Lebensjahr aufgrund guter gesundheitli-
cher Voraussetzungen immer hart gearbeitet. Es ist also
bei guten Voraussetzungen durchaus möglich, bis zum
67. Lebensjahr zu arbeiten.

Es wurde darauf hingewiesen, dass angeblich nur
3 Prozent der Frauen bis zum 65. Lebensjahr in sozialver-
sicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnissen sind.
Daher möchte ich auf das geltende Rentenrecht hinwei-
sen, das es nämlich gestattet, bei einer entsprechenden
Versicherungszeit – ich glaube, 35 Jahre – früher in
Rente gehen zu können. Dies haben eben viele Frauen in
Anspruch genommen. Deshalb kann es auch keinen grö-
ßeren Prozentsatz geben, Herr Kollege Birkwald.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit und auch
Ihnen, Herr Präsident, für die – –


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1707116000

Großzügigkeit.


(Heiterkeit – Beifall bei der CDU/CSU))


Ich erteile das Wort Kollegen Johannes Vogel für die
FDP-Fraktion.


Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1707116100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Vom Kollegen Straubinger habe ich heute wieder etwas
gelernt, und zwar, wie lange man auf Zwischenfragen
antworten kann. Das sollte ich bei nächster Gelegenheit
auch versuchen.


(Anton Schaaf [SPD]: Dafür müsste man erst einmal eine Zwischenfrage bekommen!)


– Über eine Zwischenfrage von Ihnen freue ich mich im-
mer besonders, Herr Kollege Schaaf.





Johannes Vogel (Lüdenscheid)



(A) (C)



(D)(B)

An einer Stelle muss ich Ihnen jedoch widersprechen,
Herr Kollege Straubinger. Auch ich finde, dass der
Antrag der Linken bemerkenswert ist. Lieber Herr
Birkwald, Sie sprechen von einer vierjährigen Denk-
pause. Wenn ich mir vergegenwärtige, was ich mir in ei-
nigen Diskussionen mit Vertretern Ihrer Partei in den
letzten Jahren zur Rentenpolitik anhören musste, beson-
ders zur Rente mit 67, muss ich sagen, dass diese dort
ausschließlich als Rentenkürzungen bezeichnet wurde.
Ich habe sogar den Ausdruck „Demografielüge“ gehört.

Im Gesetzentwurf sind Sie hingegen sehr zurückhal-
tend. Es wird nicht mehr infrage gestellt, dass es richtig
ist, dass die Menschen, wenn sie im Durchschnitt älter
werden und länger fit bleiben, wohl auch länger arbeiten
werden müssen. Sie sagen nur, der Arbeitsmarkt sei da-
für noch nicht so weit. Bitte erlauben Sie mir, dass ich
das als eine gewisse Fortentwicklung Ihrer Position, als
ein gewisses Umdenken, interpretiere, weil Sie wissen,
dass es – eben wurde es Realpolitik genannt – realisti-
sche Politik ist. Es ist weltfremde Politik, zu glauben,
dass das Renteneintrittsalter in den nächsten Jahren nicht
schrittweise steigen muss.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der LINKEN: Schauen Sie in unseren Antrag „Rente ab 67 vollständig zurücknehmen“!)


– Den bringen Sie hier jetzt interessanterweise nicht ein.

Schauen wir uns doch einmal die Situation auf dem
Arbeitsmarkt an. Lieber Kollege Schaaf, Sie haben eben
gesagt, der Arbeitsmarkt sei nach Ihrer Kenntnis derzeit
noch nicht so weit. Wenn ich mir die Beschäftigtenzah-
len der letzten vier Jahre anschaue, sehe ich: 30 Prozent
plus bei den 55- bis 59-Jährigen, 40 Prozent plus bei den
60- bis 65-Jährigen. Insgesamt gibt es bei den Älteren
seit 1999 einen positiven Trend. Dieser ist mit einer Aus-
nahme, dem Krisenjahr, ungebrochen. Lieber Kollege
Schaaf, da muss ich mich fragen: Was haben Sie ge-
dacht? Womit haben Sie gerechnet, als Sie die Rente mit
67 eingeführt haben?


(Anton Schaaf [SPD]: Mit Vernunft!)


Wenn Sie ganz ehrlich sind, konnten Sie eine noch bes-
sere Entwicklung doch gar nicht erwarten.


(Beifall der Abg. Miriam Gruß [FDP])


Wir sollten uns nächste Woche den Bericht anschauen.
Aber alles, was derzeit bekannt ist, die Zahlen von der
Bundesagentur für Arbeit, die uns allen vorliegen, zei-
gen eindeutig, dass die Situation der Älteren auf dem Ar-
beitsmarkt besser wird und dass es deshalb richtig ist,
das Renteneintrittsalter schrittweise zu erhöhen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: 24 Prozent sind beschäftigt!)


– Die Entwicklung können Sie trotzdem nicht in Abrede
stellen.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Wenn nur einer gearbeitet hätte, hätten wir heute Hunderttausende von Prozenten mehr!)

– Lieber Kollege, diese Entwicklung müssen wir natür-
lich fortsetzen; das ist richtig.

Aber es gibt doch auch positive Zeichen. Eine Um-
frage des Instituts der deutschen Wirtschaft zeigt, dass
sich das Bild älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer in den Betrieben – gerade das Bild, das diejenigen
haben, die sie einstellen – erheblich bessert. Natürlich ist
das komplex. Es ist doch aber auch ein Beitrag der Poli-
tik, dass wir klar sagen: Wir wollen eine schrittweise
Anhebung des Renteneintrittsalters. Wir wollen wert-
schätzen, was Ältere auf dem Arbeitsmarkt tun. Liebe
Kolleginnen und Kollegen, Sie tun leider das Gegenteil.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


An einer Stelle, Herr Birkwald – wir wollen ja auch
ein bisschen versöhnlich sein; das ist auch mein letzter
Punkt, Herr Präsident –, denken Sie in die richtige Rich-
tung. Ansonsten habe ich da nicht viel Richtiges gese-
hen. Beim Gesamtkomplex Altersvorsorge geht es zum
Beispiel nicht mehr nur um die gesetzliche Rente, son-
dern wir wollen auch private Altersvorsorge. An einer
Stelle in Ihrer Vorlage geht es jedoch um flexible Über-
gänge. Da gebe ich Ihnen ausdrücklich recht. Über fle-
xible Übergänge – Kollege Kolb führt das gerne bei
anderer Gelegenheit noch ausführlicher aus; das hat er
schon häufiger getan – müssen wir nachdenken. Das ist
richtig; das sage ich für die FDP ausdrücklich.

Wir müssen übrigens auch darüber nachdenken, wa-
rum man bei versicherungsmathematisch korrekten Zu-
und Abschlägen nicht früher in Rente gehen und dann
vielleicht einen anderen Job annehmen darf. Ich weiß
aus meiner eigenen Familie, dass beispielweise mein Va-
ter das als unfair empfindet. Er ist früher in Rente gegan-
gen – er hat ab dem 16. Lebensjahr gearbeitet – und
würde jetzt gern eine andere Tätigkeit ausüben. Dies
wird ihm limitiert, weil er nur 400 Euro hinzuverdienen
darf.

Beim Thema Flexibilität gebe ich Ihnen also recht.
Bei allem anderen muss ich sagen, dass Sie nicht in die
Zukunft denken. Ich habe mir das einmal angesehen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1707116200

Herr Kollege, jetzt nichts mehr ansehen. Sie müssen

wirklich zum Schluss kommen.


Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1707116300

Das ist der letzte Satz. – Das Durchschnittsalter Ihrer

Parteimitglieder liegt 35 Jahre über meinem Lebensalter.
Leider scheint mir das auch die Perspektive Ihrer Ren-
tenpolitik zu sein. Es geht in der Rentenpolitik jedoch
um die Zukunft und auch um die Altersvorsorge kom-
mender Generationen. Da haben Sie leider wenig anzu-
bieten.

Vielen herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1707116400

Ich schließe die Aussprache.





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf Drucksache 17/3546 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? – Das ist offensichtlich nicht
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 7 a und 7 b so-
wie Zusatzpunkt 4 auf:

7 a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP
Mobilität nachhaltig sichern – Elektromobili-
tät fördern
– Drucksache 17/3479 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sabine
Leidig, Dr. Petra Sitte, Dr. Gesine Lötzsch, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Klimaschutz im Verkehr braucht wesentlich
mehr als Elektroautos
– Drucksache 17/2022 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ute
Kumpf, Wolfgang Tiefensee, Uwe Beckmeyer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Nachhaltige Mobilität fördern – Elektromobi-
lität vorantreiben
– Drucksache 17/3647 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
höre keinen Wiederspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Andreas Jung für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.


Andreas Jung (CDU):
Rede ID: ID1707116500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Bundesregierung misst der Förderung der Elektromobili-
tät eine hohe Priorität bei. Dies ist am 3. Mai dieses Jah-
res deutlich geworden, als die Bundeskanzlerin mit
vielen weiteren Beteiligten die „Nationale Plattform
Elektromobilität“ ins Leben gerufen hat. Sie, die Bun-
desregierung, hat das Ziel formuliert, dafür zu sorgen,
dass es bis zum Jahr 2020 in Deutschland 1 Million
Elektrofahrzeuge gibt. Die Koalitionsfraktionen haben
diese Initiative aufgegriffen, sie im Rahmen des Energie-
konzepts konkretisiert und durch das Ziel ergänzt, dass
wir bis zum Jahr 2030 dafür sorgen wollen, dass es in
Deutschland 6 Millionen Elektrofahrzeuge gibt. Das
sind ehrgeizige Ziele. Die CDU/CSU unterstützt diese
Initiativen ausdrücklich.

Wir wollen mit Hochdruck zum Stromauto. Das ist
nicht so, weil wir glauben würden, dass diese Technolo-
gie die einzige Zukunftstechnologie im Bereich der Mo-
bilität ist. Das ist auch nicht so, weil wir glauben wür-
den, dass dieser Weg alternativlos ist oder dieses Ziel
möglicherweise sogar von heute auf morgen zu realisie-
ren ist. Nein, wir wissen: Selbst wenn wir bis 2020 das
ehrgeizige Ziel, für 1 Million Elektrofahrzeuge in
Deutschland zu sorgen, erreichen, wird zu diesem Zeit-
punkt nach wie vor die große Mehrzahl der Autos aus
dem konventionellen Bereich stammen. Deshalb brau-
chen wir selbstverständlich auch im konventionellen Be-
reich Effizienzsteigerungen. Hier sehen wir erhebliche
Potenziale, beispielsweise bei der Dieseltechnologie.
Wir verfolgen ausdrücklich einen Ansatz, der technolo-
gieoffen ist. Wir setzen auch auf die Hybridtechnologie,
die Brennstoffzelle, Biokraftstoffe und Erdgas. All dies
wollen wir mit einbeziehen.

Warum setzen wir gerade beim Thema Elektromobili-
tät eine Priorität? Wir glauben, dass die Elektromobilität
einen wichtigen Beitrag zur Mobilität der Zukunft leis-
ten kann. Wir sind der Überzeugung, dass sie weltweit
eine wichtige und zunehmend wichtiger werdende Rolle
spielen wird. Deshalb wollen wir, dass Deutschland in
diesem Bereich an der Spitze steht. Deutschland soll
nicht nur Leitmarkt, sondern auch Leitanbieter werden.
Die Wertschöpfung dieser Autos soll aus Deutschland
kommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieses Thema stellt eine Herausforderung dar, ist eine
Chance und bietet eine Perspektive für die Wirtschaft
und die Schaffung innovativer Arbeitsplätze. Wir in
Deutschland leben zu einem guten Teil von der Automo-
bilindustrie und dem Zulieferbereich. Das ist nicht
selbstverständlich, sondern hart erarbeitet worden. Heute
geht es darum, die Weichen dafür zu stellen, dass dies
auch morgen noch so sein wird. Wir wollen, dass Chine-





Andreas Jung (Konstanz)



(A) (C)



(D)(B)

sen, Amerikaner und Franzosen unsere Autos kaufen
und nicht umgekehrt. Deshalb schreiten wir auf diesem
Gebiet voran.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Schlüsselbereiche sind Forschung und Entwick-
lung. Deshalb setzen wir in unserem Antrag wie auch in
unserer Politik insgesamt an dieser Stelle einen besonde-
ren Schwerpunkt. Um unsere Ziele zu erreichen und in-
ternational eine führende Position einzunehmen, müssen
wir im Bereich der Forschung klotzen und dürfen nicht
kleckern. Wir glauben, dass es richtig ist, auch von der
Industrie Beiträge zu verlangen. Auch sie muss Investi-
tionen in Forschung und Entwicklung tätigen.

Wir glauben aber auch, dass die Politik die Aufgabe
hat, die richtigen Rahmenbedingungen zu schaffen und
Entwicklungen anzuschieben. Deshalb war es richtig,
dass im Rahmen des Konjunkturpaketes II entschieden
wurde, bis 2012 einen Betrag von 500 Millionen Euro
für Forschung und Entwicklung bzw. für die Elektromo-
bilität zur Verfügung zu stellen. Mit unserem Antrag
bringen wir zum Ausdruck: Das darf nicht das Ende
sein. Diese Förderung darf nicht auslaufen. Diese Auf-
gabe geht über das Jahr 2012 hinaus. Die Förderung die-
ses Bereiches muss in erheblichem Umfang fortgeführt
werden. Wir wollen mit der Fortführung der Forschung
im internationalen Konzert mitspielen, wenn es um die
Forschungsförderung im Bereich der Elektromobilität
geht.

Die zentrale Aufgabe sehen wir dabei in der Beseiti-
gung technologischer Hürden, die heute der Elektromobi-
lität als Massenmarkt noch entgegenstehen. Batterien und
alle Dinge, die damit im Zusammenhang stehen – die
Kosten, die Speicherfähigkeit, die Reichweite und die
Sicherheit –, wollen wir hier besonders in den Fokus
nehmen. Wir sind der Überzeugung: Das sind die The-
men, die wir bearbeiten müssen. Die Batterie ist das
Herz des Elektroautos. Wir wollen mit einem Konzept
von Forschung über Entwicklung bis hin zur Produktion
dafür sorgen, dass dieses Herz in Deutschland schlägt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Damit wollen wir die Weichen hin zu einer nachhalti-
gen und ökologischen Mobilität stellen, zu einer Mobili-
tät, die nicht mehr durch fossile Energie, sondern durch
erneuerbare Energie sichergestellt wird. In unserem An-
trag verknüpfen wir die Elektromobilität explizit mit zu-
sätzlichen erneuerbaren Energien. Damit unterstreichen
wir unser Ziel: Wir wollen, dass der Treibstoff von mor-
gen Ökostrom ist.

Das ist wichtig, um die Klimaziele tatsächlich zu er-
reichen und die Chancen für die Umwelt zu nutzen, die
wir durch die Elektromobilität sehen. Dadurch kann ein
weiterer Beitrag zum energiepolitischen Gesamtkonzept
geleistet werden, in dessen Zusammenhang wir gerade
auch folgende Fragen zu beantworten haben: Wie schaf-
fen wir es, dass Energie speicherfähig wird? Wie schaf-
fen wir es, auf die flexiblen Anforderungen einer immer
mehr auf erneuerbare Energien gestützten Energiever-
sorgung zu reagieren? Hier kann durch Elektrofahrzeuge
als mobile Speicher ein wichtiger Beitrag geleistet wer-
den.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich komme zum Schluss und sage ganz explizit: Wir
wollen die Elektromobilität beim Automobil, aber eben
nicht nur beim Automobil. Es geht auch um die Elektri-
fizierung der Schiene.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir sehen eine verkehrspolitische und ökologische
Chance auch in der Förderung und der weiteren Verbrei-
tung von Elektrofahrrädern, Elektroscootern und Elek-
trorollern, und wir fordern in unserem Antrag auch, ein
Modellprojekt im Bereich der elektrischen Schifffahrt zu
prüfen. Auch dort können Elektromotoren, die mit er-
neuerbaren Energien betrieben werden, eine wichtige
Rolle spielen.


(Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Elektrifizierung der Kanäle haben wir verworfen!)


– Es geht beispielsweise um den Fährverkehr. Nicht nur
bei uns am Bodensee, sondern auch im Wattenmeer gibt
es ja Fährverbindungen, und es gibt ganz konkrete Über-
legungen, den Antrieb der Fähren, die im öffentlichen
Nahverkehr eine wichtige Rolle spielen, auf Elektromo-
toren umzustellen. Wir meinen, dem sollte man nachge-
hen; das sollte man prüfen und weiterverfolgen.

Es zeigt sich: Es gibt viele Fragen. Wir glauben, dass
wir mit unserem Antrag einen wichtigen Beitrag für ei-
nen solch umfassenden Ansatz hin zur Elektromobilität
leisten können.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1707116600

Ich erteile Ute Kumpf für die SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Ute Kumpf (SPD):
Rede ID: ID1707116700

Sehr geehrter Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-

legen! Kollege Jung, es war sehr erfreulich, so viel Be-
kanntes von Ihnen zu hören, da wir das schon in der letz-
ten Legislaturperiode unter der Ägide der Kollegen
Tiefensee und Gabriel auf den Weg gebracht haben. Im
August 2009 wurde ja der Nationale Entwicklungsplan
Elektromobilität der Bundesregierung beschlossen. Ich
vermisse ein wenig Ehrgeiz. Außer dass Sie die Zahlen
ausgetauscht haben – anstatt 2 Millionen Elektrofahr-
zeuge wollen Sie bis 2030 6 Millionen Elektrofahr-
zeuge auf unseren Straßen haben –, haben Sie viele ver-
traute Dinge präsentiert.





Ute Kumpf


(A) (C)



(D)(B)

Es liegen jetzt ja auch mehrere Anträge zu diesem
Thema Elektromobilität vor. Die Titel der Anträge sind
immer ein bisschen anders gewählt. Sie wollen die Mo-
bilität nachhaltig sichern, wir reden von einer nachhalti-
gen Mobilität, die gefördert werden muss. Hier kann die
Elektromobilität eine große Rolle spielen. Das ist schon
ein kleiner anderer Zungenschlag, weil wir der Meinung
sind, dass wir uns auch an den Klimaschutzzielen orien-
tieren müssen, wenn es um die Mobilität geht. Wir müs-
sen genau untersuchen, wie Elektromobilität und Mobi-
lität insgesamt energieeffizienter, klimafreundlicher und
klimaschonender sein können.

Elektromobilität – ich glaube, auch das ist sehr wich-
tig; das ist schon im Nationalen Plan aufgeführt – ist nur
dann sinnvoll, wenn der Strom, der aus der Steckdose
kommt – darum kommen wir wahrscheinlich nicht he-
rum –, aus erneuerbaren Energien erzeugt wird. Wir
müssen alle Anstrengungen unternehmen, Mobilitäts-
und Energiekonzepte sinnvoll miteinander zu verbinden.
Das ist ein sehr wichtiger Aspekt, den ich eingangs her-
vorheben will. Denn wie Sie wissen, stammen 14 Pro-
zent der CO2-Emissionen alleine vom Pkw-Verkehr. An
dieser Schraube müssen wir drehen.

Lassen Sie mich auf einen kleinen Unterschied in
dem eingehen, was uns wichtig ist: Mobilität muss be-
zahlbar und sicher bleiben. In der Frage, was Elektromo-
bilität insgesamt bedeutet, haben wir noch Nachholbe-
darf. Die Autos, die jetzt auf den Markt kommen, sind
noch nicht bezahlbar. Wir führen Modellversuche in Mo-
dellregionen durch, aber wir haben noch keine Produkte,
die tatsächlich einen eminenten Beitrag zur Elektromo-
bilität auf der Straße leisten können. Daher ist eine große
Kraftanstrengung notwendig, um in diesem Bereich zu
forschen und ihn zu fördern und weiterzuentwickeln.
Darin sind wir, glaube ich, ganz an Ihrer Seite.

Es gibt, glaube ich, noch einen weiteren kleinen Un-
terschied zu Ihrer Position. In der Automobilbranche
insgesamt ist ein Strukturwandel zu erwarten. Ich
komme aus einer Automobilregion. Das ist eine Region
der Premiumhersteller. Ich denke, nicht jeder kann sich
diese Autos leisten. Die Automobilindustrie bei uns hat
zum Teil die Elektromobilität verschlafen. Sie hat sich
zu sehr auf den eigenen Markt verlassen. Dieser Markt
existiert aber nicht bei uns, sondern woanders.

Von daher ist es, glaube ich, entscheidend, dass wir
eine Politik gestalten, die unseren Standort für Elektro-
mobilität und die Automobilproduktion fit macht. Dabei
können wir uns nicht allein auf die Industrie verlassen.
Sie hat sich bisher darauf verlassen, dass sie ihre Pro-
dukte für immer und ewig hier verkaufen kann.

Von daher dürfen wir uns nicht darauf beschränken,
einen Elektromobilitätsgipfel durchzuführen und eine
Plattform zu schaffen, die außerdem sehr techniklastig
ist, die Verbraucher nicht mitnimmt und bestimmte As-
pekte nicht berücksichtigt. Es ist sicherlich auch nicht
ratsam, sich allein von den Empfehlungen des Elektro-
mobilitätsgipfels und der Plattform die politischen Wei-
chenstellungen vorgeben zu lassen. Vielmehr sind wir im
Parlament gefordert, uns Gedanken zu machen, welche
politischen Rahmenbedingungen wir schaffen wollen,
statt, wie anscheinend gestern schon durch die Medien
an die Öffentlichkeit gelangte, einfach 4,5 Milliarden
Euro mehr für Forschung zu fordern und zu glauben,
dass das Problem damit behoben wäre. Wir müssen un-
sere Hausaufgaben machen.

Wir haben sie in der Großen Koalition mit dem Er-
neuerbare-Energien-Gesetz, mit NIP und NOW und dem
Konjunkturprogramm für die Modellregionen gemacht.
Wir haben den Nationalen Plan vorgelegt. Jetzt braucht
es eine nationale Kraftanstrengung, um das Ziel, 1 Mil-
lion Elektroautos auf die Straße zu bringen, zu erreichen,
wobei dieses Ziel angesichts der 42 Millionen Pkw, die
bei uns auf der Straße rollen, immer noch sehr klein ist.

Daher haben wir in unserem Antrag deutlich formu-
liert, dass wir einige Fragen zu beantworten haben: Wie
sieht unsere Industriepolitik aus? Welche Weichenstel-
lungen wollen wir vornehmen, um die Elektromobilität
in ein schlüssiges Energiekonzept einzubinden? Wie
sieht die Schwerpunktsetzung zwischen den vier Minis-
terien aus, die bislang noch sehr lose miteinander in Ver-
bindung stehen – so erscheint es zumindest bei Auftrit-
ten in der Öffentlichkeit –, damit die Kooperation
zwischen den Ministerien für Umwelt, Wirtschaft, Ver-
kehr sowie Bildung und Forschung funktioniert? Eigent-
lich müsste ministerienübergreifend eine Task Force
Elektromobilität gebildet werden.

Wir müssen die finanzpolitischen Rahmenbedingun-
gen schaffen, damit sich auch kleine Unternehmen betei-
ligen können und eine Entwicklungschance für sich se-
hen. Die Zulieferindustrie wartet darauf. Dort gibt es
große Unsicherheiten, wo sie ihren Platz finden könnte.

Wir brauchen ein Bündel von Maßnahmen in der Ver-
kehrs- und Klimaschutzpolitik, um den Kommunen Ge-
staltungsspielraum zu geben. Notwendig ist auch eine
Vorbildfunktion der öffentlichen Hand, damit Verwal-
tungen von Bund, Ländern und Kommunen in die Lage
versetzt werden, ihre Fuhrparks auf alternative Antriebe
umzustellen.

Wir brauchen vor allem auch eine Analyse des zu-
künftigen Bedarfs an Fachkräften, die fehlen werden. Es
zeigt sich jetzt schon, dass wir diesbezüglich an Kompe-
tenz verloren haben. Das fängt bei den Hochschulabsol-
venten an und reicht bis zu den Fachkräften am Band.

Außerdem brauchen wir innovative Mobilitätskonzepte
in den Städten. Das betrifft zum Beispiel Carsharing, das
Fuhrparkmanagement im privaten Bereich, den Ausbau
des Bus- und Bahnnetzes sowie die Elektrifizierung im
öffentlichen Sektor.

Das ist eine Fülle von Maßnahmen. Ich freue mich
auf die Debatte in den Ausschüssen und hoffe, dass wir
unsere Anträge vielleicht auch zu einem gemeinsamen
Antrag zusammenfügen können, um diese nationale
Kraftanstrengung auf den Weg zu bringen.

Danke.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1707116800

Das Wort hat nun Werner Simmling für die FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Werner Simmling (FDP):
Rede ID: ID1707116900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Verehrte Frau Kollegin Kumpf, es ist doch äußerst er-
freulich, dass wir bei einem so wichtigen Thema einmal
weitestgehend übereinstimmen. Das kann ich nur begrü-
ßen.

Wir sind dabei, das Automobil nach 125 Jahren neu
zu erfinden. Mit dem Elektromotor geben wir dem Auto
der Zukunft sozusagen ein neues Herz; das wurde schon
angesprochen. Wir wollen mit unserem Antrag die kli-
maschonende, nachhaltige Mobilität voranbringen. Elek-
trisches Fahren soll in Zukunft keine Utopie mehr sein.
Welche Technik sich schlussendlich durchsetzen wird,
entscheidet aber der Markt.

Mit dem Antrag der christlich-liberalen Regierungs-
koalition zeigen wir die Vielfalt und die Breite des The-
mas auf. Elektromobilität ist nicht nur der Einbau eines
Elektromotors oder einer Brennstoffzelle. Eine Vielzahl
von Anpassungen und Veränderungen ist notwendig,
zum Beispiel in der Ordnungspolitik, in der Forschungs-
politik, in der beruflichen und universitären Ausbildung
sowie in Fragen der Standardisierung.

Die Ansprüche, die die Kunden an ein Elektrofahr-
zeug haben werden, sind hoch. Sie werden sich hinsicht-
lich Unfallsicherheit, Kosten, Komfort, Gebrauchsnut-
zen, Zuverlässigkeit und Reichweiten – um nur einige
wenige Aspekte zu nennen – an den heute auf dem
Markt befindlichen Automobilen orientieren. Die Kun-
den werden kein Downsizing, also keinen Elektro-Trabi,
und auch keine Geschwindigkeitsbegrenzung von
120 Kilometern pro Stunde auf Autobahnen, wie es die
Fraktion Die Linke in ihrem Antrag fordert, akzeptieren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Das kann auch nicht das Ziel einer Volkswirtschaft
wie der unsrigen sein, die bisher eine Spitzenstellung in
der Welt des Automobils einnimmt. Daher fordern wir in
unserem Antrag konkret eine Vielzahl von Nutzeranrei-
zen. Wir wollen zum Beispiel erreichen, dass den Kom-
munen im Rahmen von Sonderregelungen die Möglich-
keit gegeben wird, eine bestimmte Anzahl von
Parkflächen für Elektrofahrzeuge zur Verfügung zu stel-
len, dass Elektrofahrzeuge die Busspur nutzen können,
dass die Aufhebung von lärmschutz- und zeitlich be-
dingten Zufahrtsverboten für den elektrischen Lieferver-
kehr vorgenommen wird und dass Kommunen im Rah-
men des Stadtplanungsrechts den raschen Ausbau der
entsprechenden Infrastruktur vorantreiben können.

Aber auch konkrete finanzielle Anreize wollen wir
prüfen, zum Beispiel welche Maßnahmen zur Förderung
der Installation der entsprechenden Tankinfrastruktur auf
Firmen- und Kundenparkplätzen möglich sind. Ebenfalls
gilt es zu prüfen, ob die Befreiung von Elektrofahrzeu-
gen von der Kraftfahrzeugsteuer über die bisher gelten-
den fünf Jahre hinaus darstellbar ist.

Der Erfolg von Elektromobilität hängt in großem
Maße davon ab, ob wir im Bereich der Forschung und
Entwicklung von Energiespeichern erhebliche Fort-
schritte machen. Ich sage bewusst nicht „Batteriespei-
chertechnologie“, da es mir wichtig ist, dass wir techno-
logieoffen forschen. Wir alle wissen heute nämlich nicht,
wie die Automobile der Zukunft angetrieben werden.
Ebenso gehört dazu die Erforschung neuer Werkstoffe,
zum Beispiel der zukünftige Einsatz von Karbon im
Fahrzeugbau.

Insbesondere bei der Grundlagenforschung kann der
Staat die besten Impulse für die weitere Entwicklung set-
zen. Bis 2011 geben wir 500 Millionen Euro dafür aus.
Für die folgenden Jahre sind weitere Mittel in ähnlicher
Höhe vorgesehen. Das ist wirklich sehr gut angelegtes
Geld.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wie Sie sehen, sind wir bei der Elektromobilität gut
aufgestellt.

Wir haben uns ein ehrgeiziges Ziel gesetzt. Es wurde
schon gesagt: Bis zum Jahr 2020 sollen 1 Million Elek-
trofahrzeuge auf unseren Straßen fahren. Wichtig für den
Erfolg wird dabei auch sein, dass wir die Veränderungen
in der Wertschöpfungskette langfristig organisieren.

Mit unserem Antrag nehmen wir die große technolo-
gische Herausforderung an. Elektrisches Fahren wird zur
Realität werden. Unser Antrag leistet einen ersten wich-
tigen Beitrag zur Konkretisierung mit dem Ziel, dass
Deutschland auch in Zukunft das weltweit führende Au-
toland sein wird.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1707117000

Das Wort hat nun Sabine Leidig für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Sabine Leidig (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707117100

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Der

Antrag, den die Koalition hier vorgelegt hat, hat einen
wirklich vielversprechenden Anfang, dem ich aus vol-
lem Herzen zustimmen kann. Ich zitiere:

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ergibt sich die
Chance, unsere Mobilität neu zu denken. Schwin-
dende Ressourcen und die Veränderung des Klimas
werfen die Frage auf, wie wir in Zukunft nachhal-
tige und bezahlbare Mobilität gewährleisten wol-
len.

Die Antwort allerdings, die Sie geben, ist völlig unbe-
friedigend. Konkret schreiben Sie:

Ziel der Bundesregierung ist, dass bis zum
Jahr 2020 mindestens eine Million Elektrofahr-
zeuge auf deutschen Straßen fahren …





Sabine Leidig


(A) (C)



(D)(B)

Als Tiger gesprungen und sogleich als Bettvorleger ge-
landet. Das ist nicht komisch, sondern das ist ziemlich
tragisch; denn tatsächlich wäre ein umfassendes Pro-
gramm notwendig, um die Mobilität nachhaltig zu ge-
stalten. Der Kollege Jung hat vorhin einiges davon ange-
sprochen, aber in dem Antrag findet sich gar nichts. Es
geht nämlich darum, dass auch in Zukunft alle Leute all
die Orte, an denen gesellschaftliches Leben stattfindet,
erreichen können, auch wenn das Benzin erheblich teu-
rer wird und ohne dass sie dabei das Klima und die Um-
welt zerstören.


(Beifall bei der LINKEN)


Es wären vor allen Dingen neue Perspektiven bei der
Raumplanung und bei der regionalen Entwicklung not-
wendig, damit die Wege kürzer werden und der Verkehr
reduziert wird. Wir müssen die Zutaten für einen Joghurt
nicht aus ganz Europa herankarren, es muss auch nicht
sein, dass die Kinder immer weitere Schulwege und die
Eltern immer weitere Wege zur Arbeit haben.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der FDP: Früher ging es auch ohne Bananen!)


Das Schlimme ist aber, dass Sie daran festhalten, dass
immer mehr, immer höher, immer schneller und immer
weiter gefahren werden muss. Wir haben heute Morgen
mit Verkehrsminister Ramsauer in der Sondersitzung zur
Überprüfung der Bedarfspläne für Straßen und Schienen
gesessen. Auf der Grundlage dieser Bedarfspläne wird
entschieden, was mit Bundesmitteln gebaut wird. Sie
stellen fest, dass weitere 5 500 Straßenkilometer beto-
niert werden sollen.


(Beifall des Abg. Dr. Reinhard Brandl [CDU/ CSU])


Sie gehen davon aus, dass unsere Bevölkerung in den
nächsten 15 Jahren zwar schrumpft, dass aber die Zahl
der Autos trotzdem um 13 Prozent zunimmt. Das heißt,
die 1 oder 2 Prozent Elektroautos, die Sie als Klimaretter
preisen, werden glatt überrollt. Es ist nicht einmal ein
Tropfen auf den heißen Stein, was Sie hier anbieten.

Die Bundesregierung muss zügig und konsequent da-
für sorgen, dass die im Straßenverkehr ausgestoßenen
CO2-Mengen reduziert werden, und zwar unabhängig
von der Antriebstechnologie. Das Umweltbundesamt hat
ganz konkrete Maßnahmen vorgeschlagen, wie man den
Spritverbrauch mit der vorhandenen Technik um
30 Prozent reduzieren könnte. Aber Sie machen das Ge-
genteil: Sie verhindern, dass auf europäischer Ebene
harte CO2-Obergrenzen festgelegt werden, damit die
großen deutschen Autos weiter verkauft werden können.
Sie denken überhaupt nicht daran, das Dienstwagenpri-
vileg infrage zu stellen, obwohl damit auf Kosten der
Steuerzahler gerade die großen Maschinen gefördert
werden, die einen hohen Spritverbrauch und einen hohen
CO2-Ausstoß haben. Mit Ihrem Effizienzlabel, das Sie
wollen, bekommt sogar ein Porsche Cayenne, der
12 Liter pro 100 Kilometer verbraucht, die Bestnote.
Das finde ich ausgesprochen traurig. Das hat mit Nach-
haltigkeit überhaupt nichts zu tun.

(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir fordern Sie auf, ein Programm zu entwickeln, wie
diesem Autowahnsinn ein Ende bereitet werden kann.
Die Unternehmen haben hohe Renditen erzielt. Es ist
nicht die Aufgabe des Staates, ihnen Entwicklungskos-
ten abzunehmen oder ihre Produkte zu subventionieren.
Stattdessen müssen die öffentlichen Mittel dorthin ge-
lenkt werden, wo Elektromobilität seit 120 Jahren Stan-
dard ist, wo sie einen viel besseren Beitrag zum Klima-
schutz leisten können: Ich denke an die Bahnen, die
Straßenbahnen und die Busse. Trolleybusse stellen übri-
gens eine hervorragende elektromobile Form dar. Ihr Be-
trieb ist in unseren Städten eingestellt worden, sie erle-
ben aber in anderen Städten eine neue Blüte. Auf diese
Weise würde Steuergeld vernünftig eingesetzt und allen
zugutekommen, nicht nur den Kaufkräftigen, die sich ein
Elektroauto als Zweit- oder Drittwagen leisten können.

Besten Dank.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1707117200

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun

Winfried Hermann das Wort.


Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1707117300

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! In diesen Tagen hat McKinsey ein Ran-
king der Länder beim Thema Elektromobilität vorgelegt.
Darin sind der Markt, das Angebot, die Nutzung, die
staatliche Förderung und die Rahmenbedingungen ver-
gleichend untersucht worden. Für Deutschland ist hier-
bei eines interessant: An erster Stelle stehen eindeutig
die USA, an zweiter Stelle steht Frankreich, deutlich vor
China und Deutschland, die beide auf dem dritten Platz
zu finden sind.

Das muss uns in der Politik, aber auch der Industrie
zu denken geben. Wenn wir vom Leitmarkt Deutschland
sprechen, muss klar sein: Wir sind nicht der Leitmarkt,
sondern wir müssen erheblich mehr tun, damit wir es
werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe bei der heutigen Debatte festgestellt, dass es
einen großen Konsens gibt. Die wichtigsten Punkte will
ich aus meiner Sicht noch einmal zusammenfassen.

Alle haben gesagt: Es geht um Elektromobilität, weil
es um nachhaltige Mobilität geht. Es geht nicht nur um
das Auto, sondern es geht um die Elektrifizierung der
Mobilität auch im ÖPNV, auch beim Fahrrad- oder Rol-
lerfahren. Das ist wichtig. Alle haben auch gesagt: Wir
brauchen dafür erneuerbare Energien, und es soll auch
nicht fossiler Kraftstoff für die Erzeugung der Elektro-
energie eingesetzt werden. Das finde ich richtig. Die Un-
terschiede sind aber ganz deutlich, wenn es darum geht,
was wir tun und wie wir dies konkret umsetzen.

Mit Blick auf den ersten Teil, den Bekenntnisteil, des
Antrags von CDU/CSU und FDP könnte man glatt sa-





Winfried Hermann


(A) (C)



(D)(B)

gen: Das ist ein grüner Antrag; es hat sich gelohnt, dass
wir vor einem halben Jahr hier einen Antrag eingebracht
haben. Sie haben reichlich davon gekostet und sich be-
dient. Wir gönnen Ihnen das. Das ist gut, und wir freuen
uns.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist gütig!)


Was uns allerdings wundert, ist, dass man ein halbes Jahr
braucht, um dann über allgemeine Bekenntnisse nicht
hinauszukommen und in vielen Bereichen nicht konkret
zu sagen, was man vorhat. Herr Simmling, Sie haben ge-
sagt, Sie hätten da und dort Konkretes angesprochen. Ihr
Antrag enthält aber wenig Konkretes. Oftmals tauchen
die Worte „prüfen“ oder „fördern“ auf, wobei ich mit
dem schwäbischen Philosophen fragen würde: Prüfst du
noch, oder fährst du schon?


(Heiterkeit und Beifall beim BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Es reicht nicht aus, dass wir dies oder jenes prüfen.
Wir müssen endlich mehr tun. Ich werde Ihnen auch
gleich sagen, in welcher Richtung man, wie wir Grünen
glauben, mehr tun muss.

Gestatten Sie mir noch ein Wort zu den beiden ande-
ren Anträgen. Den Tenor des SPD-Antrags können wir
weitgehend teilen. Ich finde es auch richtig, auf die so-
zialen Elemente von nachhaltiger und Elektromobilität
hinzuweisen.


(Beifall des Abg. Wolfgang Tiefensee [SPD])


Auch dazu gibt es nachher noch eine Antwort von uns
Grünen.

Zur Linken muss ich sagen: Bei aller berechtigten
Kritik an einer Fokussierung der Elektromobilität auf
das Auto, die tatsächlich im Antrag von CDU/CSU und
FDP im Detail enthalten ist – denn dort hat man etwa die
allgemeine Förderung des ÖPNV vergessen –, unter-
schätzen Sie aber die Wichtigkeit der Transformation der
Automobilindustrie in Deutschland. Dabei geht es um
viele Arbeitsplätze, um viel Wertschöpfung, um Klima-
schutz und um Wirtschaftlichkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Was ist aus grüner Sicht zu tun? Wir haben bekannt-
lich vor einem halben Jahr bereits einen Antrag vorge-
legt. Ich will noch einmal dessen wichtigste Elemente
zusammenfassen.

Wir glauben, dass es in jedem Fall zwingend notwen-
dig ist, die staatliche Forschungsförderung zu verstär-
ken. Das ist auch eine öffentliche Aufgabe und nicht nur
Sache der Automobilindustrie. Diese Transformation zu
erreichen, ist eine gesellschaftliche Aufgabe. Die Indus-
trie muss dann selber noch etwas drauflegen. Wir sagen:
Es müssen zehn Jahre lang 500 Millionen Euro bereitge-
stellt werden, übrigens durch die Abschmelzung des
Dienstwagenprivilegs, also neutral, finanziert. Das ist
ganz wichtig.

Wir glauben auch, dass man diese Elektromobilität
zwingend in ein neues Energie- und Klimaschutzkonzept
integrieren muss, als Speicherpuffer und als Element ei-
nes neuen klimaschonenden Energie- und Mobilitäts-
konzepts.


(Beifall der Abg. Dr. Valerie Wilms [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es ist ebenfalls zwingend notwendig, dass man eine
Reihe von ordnungsrechtlichen Fördermaßnahmen be-
treibt und auch steuerlich etwas bewegt. Da sind Sie sehr
zurückhaltend, indem Sie sagen: Man könnte überlegen
oder prüfen. – Aber wenn wir insofern nicht bessere
Rahmenbedingungen setzen, werden wir nicht weiter-
kommen.

Zu guter Letzt: Wir Grünen haben als Einzige seit ei-
niger Zeit gefordert: Wir brauchen ein Marktanreizpro-
gramm. Wenn man diese Technologie überhaupt in den
Markt bringen und erreichen will, dass es zur Massen-
produktion und damit zur Verbilligung kommt, muss
man in der Anfangsphase fördern – auch das wieder kos-
tenneutral, nämlich durch eine Änderung der Kfz-Steuer,
durch eine Bonus-Malus-Regelung; Spritschlucker zah-
len mehr – und klimafreundliche Autos fördern. Nicht
nur elektromobile, sondern alle Autos mit einem Aus-
stoß von weniger als 60 Gramm CO2 pro Kilometer wol-
len wir fördern, technikneutral. So wollen wir alle klima-
freundlichen Technologien fördern. Das würde wirklich
einen massiven Push geben.

Diese Forderung – das sage ich Ihnen voraus – wird
von der deutschen Automobilindustrie kommen, und Sie
werden sie aufgreifen, und zwar in zwei Jahren, wenn
die Industrie so weit ist; sie will nicht, dass es heute los-
geht. Wenn wir klimaschonende Technologiepolitik vo-
rantreiben wollen, müssen wir aber jetzt ansetzen, jetzt
anreizen und damit auch die deutsche Automobilindus-
trie nach vorn schieben; die hat das Projekt nicht nur
verschlafen, sondern lange bekämpft.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707117400

Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Bilger das

Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Steffen Bilger (CDU):
Rede ID: ID1707117500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In weni-

gen Tagen, Ende dieses Monats, legt die Nationale Platt-
form Elektromobilität ihren Zwischenbericht vor. Daher
bin ich auch davon überzeugt, dass der Zeitpunkt unserer
Debatte kaum besser gewählt sein könnte. Ich möchte
überhaupt feststellen: Die Häufigkeit unserer Diskussio-
nen über Elektromobilität im Deutschen Bundestag und
in den beteiligten Ausschüssen zeigt, dass die Bedeutung
dieses Themas und die damit verbundenen Chancen zu-
mindest von den meisten Fraktionen dieses Hauses er-
kannt wurden.

Im Antrag der Koalitionsfraktionen werden viele die-
ser Diskussionen aufgegriffen. Er ist umfassend, präzise
und realistisch umsetzbar. Er macht dazu unseren Füh-





Steffen Bilger


(A) (C)



(D)(B)

rungsanspruch in diesem Bereich deutlich und reiht sich
nahtlos in die Kette ein: Förderung durch das
Konjunkturpaket II, Nationaler Entwicklungsplan Elek-
tromobilität, Koalitionsvertrag, öffentliches Fraktions-
fachgespräch im April, Kanzlergipfel am 3. Mai und
jetzt diese Debatte im Bundestag.

Als Mitglied des Verkehrsausschusses will ich beson-
ders unterstreichen, welche Bedeutung die Elektromobi-
lität für die Zukunft der Mobilität hat. Eines muss uns al-
len gerade im Autoland Deutschland klar sein: Die
Wende im Automobilbau wird kommen. Das wird dau-
ern – auch der Verbrennungsmotor hat weiterhin Zukunft –,
aber unweigerlich wird die Bedeutung alternativer An-
triebe, nicht nur der Elektromobilität, zunehmen.

Elektromobilität führt zu völlig neuen Möglichkeiten,
beispielsweise zu solchen der Verkehrssteuerung. Schon
jetzt rücken diese Chancen mehr und mehr in den Mittel-
punkt. Eine sinnvolle Koordinierung des Straßenver-
kehrs schont die Umwelt, sorgt für mehr Sicherheit, für
mehr Effizienz und ermöglicht es, dass vorhandene In-
frastruktur sinnvoll genutzt wird.

Der Antrag der Linken gibt mir Gelegenheit, einige
Dinge noch einmal zu verdeutlichen bzw. richtigzustel-
len. Dass auch die Schiene zur Elektromobilität gehört
und Elektromobilität selbstverständlich mehr ist als nur
Elektroautos, dürfte jedem auch so klar sein. Das sind
Banalitäten. Es hat auch niemand behauptet, dass sich
mit unserem Ansatz, wie wir Elektromobilität verstehen,
das Klima komplett schützen ließe. Es ist ein Puzzle-
stein, aber ein für die Umwelt, für die Mobilität und
nicht zuletzt für Arbeitsplätze in Deutschland wichtiger
Puzzlestein. Arbeitsplätze in Deutschland zu erhalten,
auch in diesem Zusammenhang, ist zumindest für uns
ein wichtiges Thema, Frau Leidig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Winfried Hermann [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Darüber hinaus ist es schlichtweg falsch, zu behaup-
ten, dass die Bundesregierung sich bei der umwelt-
gerechten Verkehrspolitik nur auf die Förderung von
Elektroautos beschränken würde. Wer sich das Energie-
konzept der Bundesregierung auch nur grob angeschaut
hat, konnte darin von Wasserstoff, Biokraftstoffen der
sogenannten zweiten Generation, einer neu zu ordnen-
den Lkw-Maut usw. lesen. Auch im Bereich der Nutz-
fahrzeuge wollen wir eine ambitionierte, aber realisti-
sche Ausgestaltung der CO2-Grenzwerte.

Außerdem wird die Bundesregierung die Investitio-
nen in die Schieneninfrastruktur ausbauen. Dazu stehen
wir, auch wenn gerade Sie bei jeder Gelegenheit beim
Protest gegen den Ausbau der Schieneninfrastruktur da-
bei sind, meine Damen und Herren von den Linken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Sabine Leidig [DIE LINKE]: Da haben Sie aber ganz schlecht aufgepasst!)


Wer das aktuelle Interesse an der Elektromobilität mit
dem Hinweis herabwürdigt, schon in früheren Zeiten sei
diese Mobilitätsform beschworen worden und nichts sei
passiert, verkennt internationale Entwicklungen. Alle
großen Automobilnationen und -hersteller investieren
Milliarden in diese Technologie. Alle Experten sehen
diesen Trend und das unaufhaltbare Kommen der Elek-
tromobilität. Diesen Trend zu ignorieren, hieße, die Au-
gen vor der Zukunft zu verschließen.


(Dr. Hermann Ott [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann machen Sie doch etwas Vernünftiges!)


Nicht zuletzt begleiten viele Bürger die Entwicklun-
gen mit großem Interesse und großer Begeisterung. Dass
nun die nötigen Mittel für den Fortbestand der Modellre-
gionen bereitgestellt werden, ist eine gute Nachricht.
Gerade die Modellregionen haben dazu beigetragen,
Schwerpunkte zu setzen und Fortschritte zu erzielen so-
wie die Akzeptanz der Elektromobilität zu erhöhen und
die Menschen daran teilhaben zu lassen. Darum beken-
nen wir uns auch ohne Wenn und Aber zum Fortbestand
der Modellregionen.

Wir als Koalitionsfraktionen sehen in der Elektromo-
bilität eine große Chance für Verkehr, Umwelt und Wirt-
schaft in Deutschland. Darum bleiben wir dran und bit-
ten um Unterstützung für unseren Antrag.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707117600

Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege

Wolfgang Tiefensee.


Wolfgang Tiefensee (SPD):
Rede ID: ID1707117700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Viele der Vor-
redner haben einen Konsens im Bereich der Elektro-
mobilität konstatiert. Kollege Hermann, es ist ein Ver-
gnügen, wieder einmal zu demselben Sachverhalt hier
im Plenum zu sprechen. Ich möchte meine Redezeit nut-
zen, um die Unterschiede herauszuarbeiten. Man kann es
sich nämlich nicht so einfach machen, zu sagen, dass alle
an einem Strang ziehen.

Der Antrag der Koalitionsfraktionen ist danach zu be-
urteilen, ob er den Anforderungen eines gnadenlosen
Wettbewerbs auf dem weltweiten Markt der Elektromo-
bilität gerecht wird und ob die konkreten Maßnahmen,
die im letzten Jahr ergriffen wurden, dem entsprechen.
Hier gibt es – das muss ich deutlich sagen – erhebliche
Defizite, die ich im Einzelnen benennen will.

Wir befinden uns im Jahr 2010. Die USA und die
asiatischen Staaten, insbesondere China, arbeiten an die-
sem Thema mit einem weitaus höheren Tempo, mit
besserer finanzieller Ausstattung, mit einer stärkeren
strategischen Ausrichtung als Deutschland. Wir als SPD-
Fraktion empfinden, dass die Bundesregierung lieblos an
dieses Thema herangeht.


(Beifall bei der SPD – Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Wie bitte?)






Wolfgang Tiefensee


(A) (C)



(D)(B)

Erstens. Was tun Sie strategisch? Es kann doch nicht
sein, dass wir bei dem Ziel, 1 Million Elektrofahrzeuge
bis 2020 auf deutsche Straßen zu bringen, stehen bleiben.
Vielmehr müssen wir gleichzeitig fordern, dass diese Zahl
an Fahrzeugen aus deutscher Produktion stammt und es
mindestens 1 Million Fahrzeuge sind. Es kann nicht
sein, dass wir für das Jahr 2030 nur eine Zahl von 6 Mil-
lionen Fahrzeugen anstreben. Das ist viel zu wenig. So
wird es zu keiner Revolution auf diesem Sektor kom-
men. Ihre Strategie ist also ungenügend.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Hinzu kommt, dass wir uns mit Blick auf den Klima-
schutz überlegen müssen, woher der Strom kommen
soll. Kollege Hermann hat diese Frage angesprochen. Es
ist völlig falsch, in der einen Woche Beschlüsse zur
Atomenergie in der Weise zu fassen, wie Sie es getan ha-
ben, und zwei Wochen später davon zu reden, dass man
mehr Elektromobilität brauche.


(Dr. Reinhard Brandl [CDU/CSU]: Das gehört zusammen!)


Nein, zu dieser Strategie muss auch gehören, auf erneuer-
bare Energien zu setzen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zum Zweiten: Kompetenzgerangel ohne Ende. Seit
einem Jahr streitet sich die Bundesregierung darum, wel-
ches Ressort nun eigentlich die Federführung überneh-
men soll, wo die Nationale Plattform Elektromobilität
anzusiedeln ist. Es handelt sich um Nickligkeiten und
Eifersüchteleien, die ja ganz nett wären; aber wir müssen
in einem Wettbewerb bestehen, in dem wir nicht beste-
hen können, wenn man sich gegenseitig vor die Beine
tritt. Deshalb brauchen wir eine strategische Ausrich-
tung, die auch die Strukturen umfasst.

Zum Dritten. Ganz finster sieht es aus, wenn es um die
Finanzen geht. Darf ich Sie daran erinnern, dass durch den
Deutschland-Plan von Frank-Walter Steinmeier, dass
durch die Brennstoffzelleninitiative und dass durch die
Konjunkturpakete I und II Geld für diese Thematik be-
reitgestellt wurde? Was lesen wir jetzt? Im Wirtschafts-
ausschuss bekommen wir einen Ergebnisbericht zur Na-
tionalen Plattform Elektromobilität vorgelegt, in dem
steht: Es ist anzustreben, die Modellregionen in Zukunft
auf ähnlichem finanziellen Niveau zu fördern. – Nein,
das ist nicht anzustreben. Hier braucht es klare Aussa-
gen, ob wir uns an der Summe der USA von 22,2 Mil-
liarden Euro pro anno oder an der der Chinesen von
3,3 Milliarden Euro pro anno orientieren wollen. Ich for-
dere Sie auf, zu einer finanziellen Verstetigung zu kom-
men


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


und mittelfristig – nicht jetzt, Herr Kollege Hermann,
aber mittelfristig – auch über Tax Credits und Incentives
nachzudenken, die wir setzen müssen, damit diese Autos
gekauft werden. Wir brauchen diese Gelder, um in eine
anwendungsorientierte Forschung und Entwicklung zu
investieren. Ich vermute, meine sehr geehrten Damen
und Herren von der FDP, dass Ihnen Ihr schräges Staats-
verständnis im Wege steht, hier wirklich beherzt vorzu-
gehen.

Schließlich geht es darum, dass wir den Kommunen
Sicherheit geben müssen, wie es mit den Standards und
mit der Infrastruktur – Ladestationen, Induktionsschlei-
fen usw. – weitergeht.

Darüber hinaus – dies als letzter Gedanke – konsta-
tiere ich totale Fehlanzeige, wenn es darum geht, dieses
Projekt als ein europäisches zu begreifen. Wir werden es
alleine nicht schaffen. Wo bleibt neben der vielen Gipfe-
lei ein Pakt Elektromobilität auf europäischer Ebene im
Wettbewerb zu Asien und Amerika?

Überall Fehlanzeige! Deshalb, meine sehr verehrten
Damen und Herren: Die wohlfeilen Aussagen in den An-
trägen haben wir zur Kenntnis genommen. Wichtig ist,
dass jetzt endlich, ähnlich wie in der Zeit zuvor, Nägel
mit Köpfen gemacht werden, damit wir in diesem Wett-
bewerb obsiegen und nicht hintanstehen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707117800

Für die FDP spricht nun der Kollege Michael Kauch.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1707117900

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr

Tiefensee, ich glaube, die FDP hat kein schräges Staats-
verständnis, sondern Sie haben ein schräges Verständnis
von dem, wofür Sie politische Verantwortung tragen.
Wenn Sie fragen, wo dies und das bleibe und warum
man dieses und jenes nicht gemacht habe, dann kann ich
nur sagen: Sie waren der Verkehrsminister, Sie hätten es
machen können. Wir machen jetzt, was Sie nicht ge-
schafft haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ich kann Ihnen nur sagen: Viel Geld hilft nicht immer
viel. Vielmehr haben wir im Interesse kommender Gene-
rationen einen Haushalt zu konsolidieren.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wollt ihr das ohne Geld machen? Das ist ja auch interessant!)


Dabei kommt es darauf an, was hinten herauskommt,
nicht aber darauf, möglichst viel Geld hineinzustecken,
um sich anschließend für die großen Etats abfeiern zu
lassen. Intelligenter Mitteleinsatz, das ist das Gebot der
Stunde auch bei der Elektromobilität.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Produktinnovation von Automobilkonzernen für sich
genommen ist keine staatliche Aufgabe. Dies ist zu-
nächst einmal die Aufgabe der Unternehmen. Warum
also machen wir Politik für Elektromobilität? Wir ma-





Michael Kauch


(A) (C)



(D)(B)

chen dies, weil es unsere Chance ist, in großem Umfang
erneuerbare Energien in die Fahrzeuge zu bringen. Nur
so werden wir die Klimaschutzziele erreichen, die sich
diese Bundesregierung mit dem Energiekonzept gesetzt
hat: Reduktion der Treibhausgasemissionen um 80 bis
95 Prozent bis 2050, 50 Prozent erneuerbare Energien
am Primärenergieverbrauch, 80 Prozent beim Strom.
Das sind ambitionierte Ziele; für deren Erreichung brau-
chen wir Elektromobilität. Allein das ist die Begründung
dafür, dass der Staat an dieser Stelle in den Markt ein-
greifen kann.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir sollten aber auch nicht so tun, als bedeuteten al-
ternative Antriebe und erneuerbare Energien im Verkehr
ausschließlich batteriegetriebene Elektroautos. Viel-
mehr zählen auch Brennstoffzellenfahrzeuge dazu. Wir
werden für Langstreckenfahrzeuge und für Lkw Ver-
brennungsmotoren benötigen. Deshalb brauchen wir
auch bessere und neue Biokraftstoffe. Das gehört zusam-
men. Wir werden noch heute im Deutschen Bundestag
über das Thema Biomethan im Verkehrssektor diskutie-
ren. Es muss eine Gesamtstrategie verfolgt werden. Es
darf kein Kästchendenken geben. Wir müssen insgesamt
eine Politik, die sich für erneuerbare Energien im Ver-
kehr einsetzt, betreiben. Das ist die Strategie der christ-
lich-liberalen Koalition.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir müssen die Grenzen zwischen Stromerzeugung
und Mobilität aufheben. Wir müssen beide Bereiche
gleichermaßen in unsere Überlegungen einbeziehen.
Elektromobilität ist Teil der Netzintegration erneuerba-
rer Energien. Wir können Schwankungen im Stromnetz
aufgrund der Nutzung erneuerbarer Energien abfangen,
indem wir zum einen in intelligenten Netzen die Elektro-
autos zum Bestandteil des Lastmanagements machen.
Zum anderen können wir – das hat die christlich-liberale
Koalition bei der letzten Reform der Solarförderung ge-
macht – Anreize dafür setzen, dass selbstproduzierter
Photovoltaikstrom möglichst für die eigenen Elektro-
autos verwendet wird. Zum Beispiel können die Autos
der Mitarbeiter, die acht Stunden auf dem Parkplatz des
Unternehmens stehen, in dieser Zeit aufgeladen werden.
Die erzeugte Energie sollte nicht einfach dem Netzbe-
treiber sozusagen vor die Füße geworfen werden. Im
Zuge der Reform des Erneuerbare-Energien-Gesetzes im
Jahr 2012 müssen wir diesen Punkt weiterentwickeln.
Daran werden wir arbeiten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707118000

Für die Unionsfraktion spricht nun der Kollege

Dr. Reinhard Brandl.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Reinhard Brandl (CSU):
Rede ID: ID1707118100

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Wir stehen am Beginn eines Zeitenwechsels: weg
von einer Mobilität im Straßenverkehr, die im Wesentli-
chen auf der Verbrennung von fossilen Brennstoffen
basiert, hin zu einer CO2-armen oder gar CO2-freien Mo-
bilität, basierend auf hybriden oder rein elektrischen An-
trieben mit Strom aus erneuerbaren Energien. Das ist
Teil unseres Energiekonzeptes und unseres heutigen An-
trages. Gerade mit Blick auf das Klima und die zur
Neige gehenden fossilen Brennstoffe ist dieser Weg al-
ternativlos. Dieser Zeitenwechsel wird sich über Jahr-
zehnte hinziehen. Er wird uns, das Autoland Deutsch-
land, mehr als die meisten anderen Länder treffen; denn
an seinem Ende wird eine andere Automobilindustrie
mit völlig neuen Wertschöpfungsketten stehen.

Die Industrie hat die Herausforderung bereits ange-
nommen. Jeder deutsche Hersteller arbeitet mit Hoch-
druck an hybriden oder rein elektrischen Antriebskon-
zepten. Gestern hat zum Beispiel die Firma Audi in
Ingolstadt ein neues, 65 Millionen Euro teures Entwick-
lungs- und Prüfzentrum für Elektroantriebe eingeweiht.
Die Bundesregierung hat die Herausforderung ebenfalls
angenommen und die wichtigsten Akteure der Nationa-
len Plattform Elektromobilität an einen Tisch geholt. Der
erste Zwischenbericht wird in Kürze vorliegen.

Wir von der christlich-liberalen Koalition haben diese
Herausforderung auch angenommen und arbeiten seit
Monaten mit Sachverständigen an den richtigen politi-
schen Rahmenbedingungen. Ein Ergebnis dieser Arbeit
liegt heute in Form unseres Antrags dem Deutschen
Bundestag zur Beratung vor. Es kann uns nur gemein-
sam gelingen, unsere führende Weltmarktposition bei
den konventionellen Antrieben in das Zeitalter der Elek-
tromobilität zu übertragen.

Die Karten werden neu gemischt. Wir müssen aner-
kennen, dass im Bereich Forschung und Technologie vor
allem die asiatischen Länder wie Japan, Korea und
China im Moment die Nase vorn haben. Das letzte EFI-
Gutachten zur technologischen Leistungsfähigkeit
Deutschlands hat uns das eindrucksvoll aufgezeigt.

An diesem Punkt stehen wir als Staat in der Verantwor-
tung. Wir müssen die Wissenschaft und die Industrie da-
bei unterstützen, den Rückstand im Bereich der Grundla-
genforschung aufzuholen. Die Bundesregierung macht
dies bereits im großen Umfang. Allein das Bundesminis-
terium für Bildung und Forschung stellt im Rahmen der
Hightech-Strategie jedes Jahr rund 100 Millionen Euro
an Fördermitteln zur Verfügung. Ein Leuchtturmprojekt
ist die groß angelegte Innovationsallianz „Lithium-Ionen-
Batterie“, in der 57 Projektpartner aus 27 Forschungsein-
richtungen sowie 30 Unternehmen gemeinsam an dieser
Schlüsseltechnologie arbeiten. Das Projekt läuft bis
2015. Das BMBF fördert es mit 60 Millionen Euro. Die
Industrie gibt zusätzlich 360 Millionen Euro, sodass al-
lein für dieses Vorhaben insgesamt 420 Millionen Euro
investiert werden. Auch die Hochschulen leisten ihren
Beitrag. Beispielsweise hat die TU München das Wis-
senschaftszentrum Elektromobilität eingerichtet, in dem
36 Lehrstühle aus fünf Fakultäten das Thema interdiszi-





Dr. Reinhard Brandl


(A) (C)



(D)(B)

plinär bearbeiten und in Forschung und Lehre veran-
kern. – Das sind nur zwei Beispiele für Initiativen, die
dazu beitragen, unseren technologischen Rückstand auf-
zuholen. Diesen Weg müssen wir unbedingt fortsetzen.

Nichtsdestotrotz stehen wir erst am Anfang des Zei-
tenwechsels. Unser Ziel ist es, die Zahl der Elektrofahr-
zeuge auf deutschen Straßen von heute praktisch null auf
mindestens 1 Million im Jahr 2020 zu erhöhen. Das ist
ambitioniert. Gemessen an der Zahl von heute circa
50 Millionen Fahrzeugen in Deutschland läge der Anteil
der Elektrofahrzeuge dann trotzdem nur bei 2 Prozent.
Deswegen ist es wichtig, heute keine überzogenen Er-
wartungen in der Bevölkerung zu wecken, die später
vielleicht enttäuscht werden, und vor allem nicht die
weitere Optimierung des Verbrennungsmotors zu ver-
nachlässigen. Der Verbrennungsmotor wird auf abseh-
bare Zeit noch den allergrößten Anteil unserer Fahr-
zeuge antreiben.

Das elektromobile Zeitalter kommt; aber es kommt
nicht von heute auf morgen. Wir brauchen einen langen
Atem und eine langfristige Strategie, die uns auch in der
Phase nach der Euphorie kontinuierlich weiter nach
vorne bringt. Dazu leisten wir heute unseren Beitrag.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707118200

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/3479, 17/2022 und 17/3647 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Dörner, Ekin Deligöz, Kai Gehring, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Vorrang für Kinder – Auch beim Lärmschutz

– Drucksache 17/2925 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Katja Dörner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen.


Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1707118300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Eigentlich ist das Thema, über das wir
jetzt sprechen, ein schönes Thema. Es geht um Geräu-
sche, die Kinder machen, um spielende, lärmende und
kreischende Kinder; es geht um Kinder, die ihre Welt er-
obern und entdecken. Kindergeräusche – man kann es si-
cherlich auch Kinderlärm nennen – sollten eigentlich das
Normalste auf der Welt sein; aber leider ist es nicht so.
Leider mehren sich gerichtliche Auseinandersetzungen
wegen Kinderlärms, und zwar im Zusammenhang mit
dem Ausbau von Ganztagsschulen und Kitas, leider auch
vermehrt im Zusammenhang mit Jugendeinrichtungen.
Diese Entwicklung muss uns sehr große Sorgen bereiten.

Einige von Ihnen kennen vielleicht das Zeit-Magazin
vom Juli dieses Jahres. Darin findet sich eine wirklich
erschreckende Reportage über die Versuche, in Hamburg
neue Kitas zu gründen. Allein im Jahre 2009 sind nur in
Hamburg 20 Kindergartenprojekte verschiedenster Trä-
ger ins Sperrfeuer der Nachbarschaft geraten. Einige die-
ser Projekte wurden gar nicht realisiert, andere wurden
nur unter sehr strengen Auflagen genehmigt; nur manche
konnten tatsächlich wie geplant umgesetzt werden. Ähn-
liche Berichte erreichen uns aus den unterschiedlichsten
Ecken der Republik.

Es ist sehr ärgerlich, wenn derartige gegen Kinder, Ju-
gendliche und Familien gerichtete Auseinandersetzun-
gen auch noch von einigen Politikern befördert werden.
Beispielsweise hat der CDU-Sozialsenator von Hamburg
im Zusammenhang mit dem schon erwähnten Kita-Aus-
bau gesagt, er könne den Ärger der Anwohner verstehen.
Der Vorsitzende der Senioren-Union in Nordrhein-West-
falen sah sogar den sozialen Frieden durch den Lärm von
Kindergärten gefährdet. Ich finde, derartige Äußerungen
müssen ganz entschieden zurückgewiesen werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Ich darf wohl davon ausgehen, dass wir uns in dieser
Runde darüber einig sind – ich zitiere, was im Koali-
tionsvertrag von Schwarz-Gelb festgehalten worden ist –,
dass Kinderlärm „keinen Anlass für gerichtliche Aus-
einandersetzungen geben“ darf.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dieser Konsens ist nicht neu. Die FDP beispielsweise
hat schon im Januar 2009 einen Antrag mit dieser Ziel-
richtung vorgelegt. Die damalige Große Koalition hat im
Juni 2009 einen quasi inhaltsgleichen Antrag im Plenum
beraten lassen. Dann kam der Koalitionsvertrag; das ist
jetzt ungefähr ein Jahr her.

Hinzu kommt: Wir wissen schon lange, was wir ge-
setzgeberisch machen müssten. Vor allem ist § 3 der
Baunutzungsverordnung um die Zulässigkeit von Kin-
dertageseinrichtungen in reinen Wohngebieten zu ergän-
zen. Ferner ist die Privilegierung des Kinderlärms im
Lärmschutzrecht erforderlich. Wichtig ist auch – das
stellen wir in dem Antrag, den wir heute eingebracht ha-
ben, heraus –, eine Möglichkeit zu finden, um bereits be-
stehende Einrichtungen vor gerichtlichen Auseinander-
setzungen wegen Kinderlärms zu schützen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ute Vogt [SPD] und der Abg. Sabine Stüber [DIE LINKE])






Katja Dörner


(A) (C)



(D)(B)

Jetzt haben wir November 2011. Wir müssen konsta-
tieren: Es ist überhaupt noch nichts passiert. Uns läuft
die Zeit davon, insbesondere mit Blick auf den Ausbau
der Kitas, der unbedingt notwendig ist, um dem im Ge-
setz verankerten Rechtsanspruch, der ab 2013 besteht,
entsprechen zu können. Fakt ist: Das Thema Kinderlärm
soll erst im Rahmen einer breit angelegten Novelle zum
Bauplanungsrecht aufgegriffen werden. Die Eckpunkte
sollen im nächsten Sommer vorgelegt werden. Frühes-
tens 2012 werden wir ein Gesetzgebungsverfahren ha-
ben. Das Ganze dauert einfach viel zu lange.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sabine Stüber [DIE LINKE])


Unser Antrag ist nicht nur ein Plädoyer für Kinder-
lärm als Zukunftsmusik, sondern stellt auch einen ganz
konkreten Handlungsauftrag an die Regierung dar, sich
beim Thema Kinderlärm endlich an die Arbeit zu ma-
chen und nicht länger auf Zeit zu spielen. Ich denke, das
ist in unser aller Interesse.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707118400

Für die Union spricht nun der Kollege Dr. Michael

Paul.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Michael Paul (CDU):
Rede ID: ID1707118500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau

Dörner, Sie haben eine Reihe vernünftiger Punkte ge-
nannt. Ich darf Sie trösten: Die Koalition braucht nicht
den Anstoß der Grünen. Wir setzen den Koalitionsver-
trag Punkt für Punkt um.

Kinder müssen in Deutschland spielen können. Das
gehört zu ihrer Entwicklung, und das müssen wir als kin-
derfreundliche Gesellschaft sicherstellen. Natürlich ma-
chen spielende Kinder auch Lärm. Aber dieses Geräusch
ist anders als das, das von Industriemaschinen herrührt.


(Beifall der Abg. Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Natürlich müssen wir feststellen, dass es in den letz-
ten Jahren Urteile gegeben hat, die einiges Aufsehen er-
regt haben. Was war passiert? Nachbarn haben durch
Klagen vor verschiedenen Gerichten durchgesetzt, dass
verschiedene Kindergärten oder Kindertagesstätten we-
gen des von ihnen ausgehenden Lärms schließen muss-
ten bzw. gar nicht erst errichtet werden konnten. Diese
Entwicklung darf man aber nicht dramatisieren. Wenn
man sich die Entscheidungen anschaut, stellt man fest,
dass die Gerichte nur in Einzelfällen zulasten der Kinder
entschieden haben. In der Mehrzahl der Fälle haben die
Gerichte bis heute zugunsten der Kinder entschieden.

Trotzdem zeigen die Verfahren, dass es sich um einen
Konflikt handelt. Diesen Konflikt müssen wir einer Lö-
sung zuführen; denn die Konflikte werden eher zu- als
abnehmen. Dafür sind im Wesentlichen zwei Gründe zu
nennen: Zum einen sind wir eine alternde Gesellschaft.
Daher wird der Lärm von Kindern – leider – immer sel-
tener und deshalb auch nicht mehr als so selbstverständ-
lich angesehen, wie es in früheren Jahren vielleicht der
Fall war. Zum Zweiten haben wir, um die Gesellschaft
kinderfreundlicher zu machen, um die Vereinbarkeit von
Familie und Beruf zu ermöglichen, ehrgeizige Ausbau-
pläne, was Kindertagesstätten und Kindergärten angeht.
Das spricht dafür, dass die Konflikte eher zu- als abneh-
men.

Der Bundestag hat hier bereits in der letzten Legisla-
turperiode Handlungsbedarf festgestellt. Ich darf an die-
ser Stelle übrigens konstatieren – die Kollegen von der
SPD sind ja nicht so zahlreich vertreten –, dass die Um-
setzung dessen natürlich vom damaligen Umweltminis-
ter Sigmar Gabriel hätte erfolgen müssen,


(Ute Vogt [SPD]: Im Juli war der Beschluss!)


der für das Immissionsschutzrecht Verantwortung getra-
gen hat. Ich kann feststellen: Das ist nicht geschehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die christlich-liberale Koalition hat in ihrem Koali-
tionsvertrag eine Rechtsänderung zugunsten der Kinder
verabredet. Wir werden dies auch umsetzen; dafür brau-
chen wir den Antrag der Grünen nicht. Der Antrag der
Grünen ist insofern weder besonders kreativ noch beson-
ders fantasievoll.


(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: An Ihren Taten werden Sie gemessen!)


Wie wird der Rechtsrahmen neu gestaltet werden
müssen? Zwei Punkte sind in diesem Zusammenhang
hervorzuheben. Zum einen brauchen wir die Klarstel-
lung im Bundes-Immissionsschutzgesetz, dass Kinder-
lärm – anders als der Lärm, der von Industriemaschinen
ausgeht – im Regelfall keine schädliche Umwelteinwir-
kung darstellt. Dadurch können wir den Klagen, die von
Nachbarn im Wege des Zivilrechts erhoben werden, den
Boden entziehen; denn das Immissionsschutzrecht hat
auch Ausstrahlungswirkung auf das Zivilrecht. Ebenso
wird dadurch die Zahl der Klagen im öffentlichen Recht
abnehmen. Wir müssen aber die weitere Entwicklung in
der Rechtsprechung sehr genau daraufhin beobachten,
ob es weiteren Klarstellungsbedarf gibt. Klar ist – das
will ich an dieser Stelle ebenfalls sagen –, dass auch in
Zukunft eine gerichtliche Überprüfung im Einzelfall
möglich sein muss; denn schließlich leben wir in einem
Rechtsstaat. Die neue Regelung wird aber Rechtssicher-
heit schaffen.

Zum anderen werden wir sicherstellen, dass Kinder-
gärten und Kindertagesstätten dort sein werden, wo Kin-
der sind. Bisher haben wir das Problem im Baurecht,
dass in reinen Wohngebieten grundsätzlich keine Kitas
zulässig sind.


(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt nicht)






Dr. Michael Paul


(A) (C)



(D)(B)

Wir werden im Rahmen der anstehenden Bauplanungs-
rechtsnovelle die Baunutzungsverordnung an dieser
Stelle ändern, sodass dies auch in reinen Wohngebieten
grundsätzlich möglich wird. Wir werden uns auch nicht
darauf beschränken, dies auf zukünftig ausgewiesene
Wohngebiete zu beziehen; vielmehr sollen auch beste-
hende Bebauungspläne erfasst werden. Dazu wird das
Baurecht entsprechend geändert werden.


(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Gestatten Sie mir eine persönliche Anmerkung. Seit
meine Frau und ich vor sieben Wochen eine Tochter be-
kamen, ist unser Verständnis für beide Positionen – die
Eltern auf der einen Seite und die Nachbarn auf der an-
deren Seite – deutlich gewachsen. Es gibt hier keine
reine Schwarz-Weiß-Situation. Wir brauchen vielmehr
eine ausgewogene Lösung, die auf die Interessen beider
Seiten Rücksicht nimmt. Das Maßnahmenbündel, das
ich Ihnen gerade vorgestellt habe und das die Koalition
auf den Weg bringen wird, wird genau diesen Interessen-
ausgleich sicherstellen. Deshalb freue ich mich schon
auf die weiteren Beratungen in den Ausschüssen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707118600

Herzlichen Glückwunsch, Kollege Paul!

Das Wort hat die Kollegin Ute Vogt für die SPD-Frak-
tion.


(Beifall bei der SPD)



Ute Vogt (SPD):
Rede ID: ID1707118700

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrter Herr Kollege Paul, ich glaube,
es geht hier nicht darum, in einen Wettbewerb um die
kreativsten Anträge einzutreten, sondern schlicht darum,
ein drängendes Problem zu lösen, und das hat Ihre Re-
gierung bis zum heutigen Tag trotz vieler wohlfeiler
Worte zu diesem Thema schlicht versäumt. Sie haben
sich außer dem einen Satz im Koalitionsvertrag noch
nicht einmal im Ansatz diesem Problem genähert.

Wir beschäftigen uns heute bereits mit der dritten Ini-
tiative zu diesem Thema in diesem Parlament, und alle
drei Initiativen stammen aus den Reihen der Opposition.
Es gab im März einen Antrag der Sozialdemokratischen
Partei. Im Mai gab es einen Antrag der Partei Die Linke
mit dem Schwerpunkt auf Sportstätten. Heute liegt ein
Antrag der Grünen vor. In dem Anliegen sind wir uns
alle einig. Auch Sie haben dem Anliegen nicht wider-
sprochen.

Es ist richtig: Bereits Ende der letzten Legislatur-
periode hat dieses Haus der Bundesregierung den ganz
klaren Auftrag gegeben, die Bewegungsräume für Kin-
der und Jugendliche auszuweiten und die Zahl der Ge-
richtsverfahren zu verringern. Herr Kollege Paul, wir
hätten damals sehr gerne diesen Auftrag des ganzen
Hauses umgesetzt. Die Wählerinnen und Wähler haben
dann aber anders entschieden. Daher konnten wir dies
leider nicht weiterverfolgen und nicht tätig werden. Sie
waren letztes Mal in der Regierung und sind es jetzt er-
neut seit einigen Monaten. Sie haben sich diesem Thema
aber bislang nicht genähert und noch nicht einmal einen
Gesetzentwurf vorgelegt.

Aus meiner Sicht drängt die Zeit; denn nach dem Kin-
derförderungsgesetz müssen bis 2013 35 Prozent aller
Kleinkinder einen Platz in einer Kindertagesstätte be-
kommen können. Das ist gut so. Wir sind stolz darauf,
dass wir dieses Gesetz auf den Weg gebracht haben.


(Beifall bei der SPD)


Dieses Gesetz bedeutet, bundesweit 750 000 Plätze in
Kindertagesstätten zu schaffen. Das bedeutet in der Kon-
sequenz die Verdoppelung der Zahl der heute bestehen-
den Betreuungsplätze. Die Bundesregierung nimmt nun
den Kommunen das Geld aus der Tasche. Nach Aussa-
gen des Städte- und Gemeindebundes werden in diesem
Jahr etwa 14 Milliarden Euro fehlen, die dringend not-
wendig wären, um etwas für die Kinderbetreuung zu tun.

Nicht einmal das, was Sie kein Geld kosten würde,
bringen Sie auf den Weg. Stellen Sie sich einmal die Si-
tuation vor: Die Kommunen müssen bauen, müssen zu-
sätzliche Plätze schaffen. Wenn allerorten geklagt wird,
Gerichtsverfahren drohen, Kindertagesstätten gar nicht
entstehen dürfen oder dort, wo sie schon vorhanden sind,
nicht vernünftig betrieben werden können, weil die
Rechtslage relativ viele Klagemöglichkeiten bietet, wird
die Schaffung der zusätzlichen Betreuungsplätze nicht
nur finanziell, sondern auch durch die praktischen Rah-
menbedingungen erschwert. Dafür trägt Ihre Bundesre-
gierung die Verantwortung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Mit Baurecht allein kann man diese Probleme sicher-
lich nicht lösen. Es geht auch um gesellschaftliche Ak-
zeptanz. Die Gesellschaft wird älter. Es gibt mehr Kin-
derlose, die vielleicht weniger Bezug zu Kindern haben
und es nicht so sehen, dass Kinderlärm Zukunft bedeu-
tet. Daher muss man politisch umso stärker Signale set-
zen, dass Platz für Kinder in der Gesellschaft gewollt ist.

An dieser Stelle möchte ich ausdrücklich sagen – hier
gehen wir sogar weiter als die Grünen in ihrem Antrag;
aber auch da gibt es eine Übereinstimmung –, dass es
nicht nur darum geht, etwas für Kindertagesstätten und
Kinderbetreuungseinrichtungen zu tun, sondern auch da-
rum, etwas für eine Gruppe zu tun, die noch weniger
Lobby hat als Kinder, nämlich die Jugendlichen. Das be-
trifft nicht nur die Jugendlichen in Sportvereinen, son-
dern zum Beispiel auch die, die auf Bolzplätzen spielen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Judith Skudelny [FDP])


Vor allem in größeren Städten erleben wir, dass dort, wo
sich die Bebauung Bolzplätzen nähert, die Anwohner
klagen und recht bekommen. Bei uns in Stuttgart gibt es
Bolzplätze, die um 18 Uhr geschlossen werden müssen,
obwohl die Kinder aufgrund der Schulorganisation
manchmal erst um 17.30 Uhr die Chance haben, auf die





Ute Vogt


(A) (C)



(D)(B)

Straße zu gehen. Das können wir auf Dauer nicht zulas-
sen. Deshalb wünschen wir, dass Sie hier nicht nur
freundliche Worte finden, sondern dass Sie dem Ganzen
auch Taten folgen lassen. Wir sollten die nächste Debatte
nicht wieder über eine weitere Initiative aus den Reihen
der Opposition führen müssen. Wir werden in der nächs-
ten Sitzung des Umweltausschusses beantragen, eine
Anhörung durchzuführen, um uns diesem Thema ge-
meinsam zu nähern.

Ich hoffe, dass Sie dabei sind, wenn wir jetzt in
schnellen Schritten vorangehen, und dass wir die nächste
Debatte eben nicht mehr über schöne Anträge, die den
Kindern und den Eltern am Ende nicht helfen, sondern
zeitnah über einen Gesetzentwurf der Bundesregierung
führen. Dann sind wir gerne bereit, Ihnen zu applaudie-
ren. Machen Sie aber bitte vorher Ihre Hausaufgaben zu
diesem Thema.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1707118800

Für die FDP-Fraktion hat Judith Skudelny jetzt das

Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Judith Skudelny (FDP):
Rede ID: ID1707118900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Frau Vogt, Sie sollten mir zuhören.


(Ute Vogt [SPD]: Ich höre!)


Denn ich werde gleich ganz viele der Punkte, die Sie
heute angesprochen haben, erklären.

Mit dem heute vorliegenden Antrag der Grünen ist
der Kinderlärm nun auch bei dieser Partei als Thema an-
gekommen.


(Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Ich darf Ihnen gratulieren: Ihr Antrag ist in einem Punkt
besser als der, den die SPD im März dieses Jahres vorge-
legt hat; denn er ist zumindest verfassungskonform.


(Beifall des Abg. Dr. Michael Paul [CDU/ CSU])


Da Sie aus unserem Koalitionsvertrag zitiert haben,
gehe ich stark davon aus, dass Sie meinen, uns ein wenig
vor sich hertreiben zu müssen.


(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch ganz offensichtlich so! – Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Laufen Sie doch erst mal los! Wir holen Sie schon ein!)


Das wird Ihnen auch heute leider nicht gelingen, weil
wir Ihnen wieder einen Schritt voraus sind.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)

Erst einmal zum Inhalt Ihres Antrags, zur Neurege-
lung der Baunutzungsverordnung. Die Baunutzungsver-
ordnung stellt beim Ausbau einer Kindertagesstätte ei-
gentlich gar nicht so sehr ein Problem dar. Es ist richtig:
In Wohngebieten können nur ausnahmsweise Genehmi-
gungen erteilt werden. In aller Regel werden sie erteilt.
Wenn man Prävention betreibt, muss in allen Gebieten
auch ein Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern ge-
führt werden; aktuell wird er übrigens geführt. Deswe-
gen ist die Änderung der BauNVO eigentlich gar nicht
das vorrangige Problem.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1707119000

Frau Skudelny, der Kollege Liebich hat den Wunsch

nach einer Zwischenfrage. Möchten Sie sie zulassen?


Judith Skudelny (FDP):
Rede ID: ID1707119100

Gerne.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1707119200

Bitte schön.


Stefan Liebich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707119300

Sehr geehrte Frau Skudelny, Sie sagten, dass Sie uns

immer einen Schritt voraus sind. Es ist mittlerweile neun
Monate her, dass im Bundesland Berlin das geänderte
Landes-Immissionsschutzgesetz in Kraft getreten ist. All
das, worüber wir heute reden, gilt im Land Berlin be-
reits. Sie haben das Land Berlin damals kritisiert, weil es
das im Alleingang gemacht hat, und gesagt, das sei eine
Bundeskompetenz. Wann dürfen wir denn damit rech-
nen, dass Sie im Rahmen der Bundeskompetenz han-
deln?


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Judith Skudelny (FDP):
Rede ID: ID1707119400

Sehr geehrter Herr Kollege, hätten Sie bis zum Ende

meiner Rede gewartet, hätten Sie eine Antwort auf diese
Frage bekommen – diesen Teil meiner Rede kann ich
jetzt streichen –: Wir planen, das bis Ende dieses Jahres
zu tun.


(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ende dieses Jahres? Oh! – Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie meinen wohl: bis Ende nächsten Jahres!)


– Lassen Sie mich doch in Ruhe weiterreden. Im An-
schluss können Sie Fragen stellen.

Das Problem im Zusammenhang mit der Baunut-
zungsverordnung ist im Moment Folgendes – das wer-
den Ihnen alle Baurechtler bestätigen –: Wenn eine Än-
derung der Baunutzungsverordnung erfolgt, müssen die
Gemeinden, Städte, Anwälte und Gerichte jeweils die
aktuelle Form und alle alten Fassungen behalten.


(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, genau!)






Judith Skudelny


(A) (C)



(D)(B)

Einzeländerungen sollte man also nur dann vornehmen,
wenn ein wahnsinnig großes Problem besteht. Wie ich
bereits dargelegt habe, ist das Hauptproblem nicht die
Baunutzungsverordnung. Deswegen werden wir die da-
rin vorgesehenen Änderungen, nämlich die Klarstellung,
dass kurze Wege und kurze Beine zusammengehören,
dass Kinder also in Wohngebiete gehören, im Rahmen
der Gesamtnovellierung der Baunutzungsverordnung im
Jahre 2011 vornehmen, damit das nicht zu kompliziert
und zu formalistisch wird.

Das zweite Problem, das Sie angesprochen haben, ist
die Bürgerbeteiligung. Hier unterschätzen Sie unsere
Städte und Gemeinden. Jeder Stadtrat und jeder Gemein-
derat weiß, dass ein Projekt wie der Bau eines Kinder-
gartens nur dann verwirklicht werden kann, wenn die
Anwohner und die Bevölkerung in der Gegend einbezo-
gen werden. Die Art und Weise, in der sie über das schon
bekannte Planungsrecht hinaus einbezogen werden, ist
Angelegenheit der Städte und Gemeinden. Das muss aus
meiner Sicht nicht im Bundesrecht geregelt werden.
Hierzu hat jede Stadt und jede Gemeinde eigene Wege,
eigene Foren und eigene Ideen. Die Beteiligung der Bür-
gerinnen und Bürger befürworte ich. Eine diesbezügli-
che Gesetzgebung des Bundes halte ich aber für nicht
notwendig, zumal die Städte und Gemeinden dies schon
heute sehr gut machen.

Die Intention Ihres Antrags ist durchaus richtig. Es
wird deutlich: Kinderlärm ist gewollt, Kinderlärm ist ge-
wünscht, Kinderlärm ist richtig. Aber in diesem Zusam-
menhang muss man auch den Anwohnern, der älter wer-
denden Generation und allen anderen Menschen, gerecht
werden. Richtig ist, dass Kinderlärm nicht mit Baulärm,
nicht mit Maschinenlärm und nicht mit Straßenlärm ver-
glichen werden kann. Kinderlärm kann auch nicht in
dB(A) gemessen und in Durchschnittswerten angegeben
werden. Die Stärke des Kinderlärms ist jeweils vor Ort,
also dort, wo er entsteht – jetzt bitte Achtung –, in Kin-
dertagesstätten, auf Kinderspielplätzen und, Frau Vogt,
auf Ballspielplätzen, zu prüfen.

Gestern haben wir uns mit der Union auf Rahmenbe-
dingungen geeinigt. Im März dieses Jahres haben wir
das noch nicht geschafft. Wir haben nicht schnell gehan-
delt, weil wir eine Regelung treffen wollten, die verfas-
sungskonform, ausgewogen und für die gesamte Gesell-
schaft tragbar ist. Deswegen haben wir uns vielleicht die
eine oder andere Woche länger Zeit gelassen. Wir woll-
ten nämlich eine Regelung treffen, die sicherstellt, dass
es so wenige Klagen wie möglich gibt.

Der Vorschlag der SPD, Klagen gegen Kinderlärm
grundsätzlich auszuschließen, ist nicht verfassungskon-
form. Kinderlärm kann nämlich auch mitten in der Nacht
auftreten, weil Eltern ihre Kinder einfach brüllen lassen.
Wir wollten keine Regelung treffen, die auch einen sol-
chen Fall umfasst. In diesem Fall muss nach wie vor der
Klageweg möglich sein. Im Hinblick auf Kindertages-
stätten gilt dies natürlich nicht. Es muss aber nach wie
vor eine Ausgewogenheit in der Gesellschaft vorhanden
sein.

Wir planen, bis Ende dieses Jahres einen entsprechen-
den Gesetzentwurf zur Diskussion zu stellen.

(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind ja schnell!)


– Sie können gerne eine Zwischenfrage stellen. – Ich
freue mich, dass sie schon jetzt ankündigen, konstruktiv
mitzuarbeiten.


(Ute Vogt [SPD]: Das machen wir immer!)


Deswegen freue ich mich auch auf den Dialog.

Bei den Demonstrationen gegen Stuttgart 21 und Gor-
leben haben Sie versucht, einen Zug aufzuhalten. Dieses
Mal sind Sie hinter einen fahrenden Zug gesprungen


(Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir schieben den Zug von hinten an!)


und wieder auf den Schienen gelandet.

Wir werden bis Ende des Jahres den Gesetzentwurf
– ganz in Ihrem Sinne – auf den Weg bringen. Sie haben
recht: Kinder sind ein Zukunftsthema. Dieses Zukunfts-
thema besetzt die Koalition hervorragend, und sie
braucht dabei nicht Ihre Hilfestellung.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Christian Lange [Backnang] [SPD]: War das eine schlechte Rede! – Bettina Herlitzius [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das begeistert uns nicht!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1707119500

Jetzt hat Sabine Stüber das Wort, die es vorzieht, mit

uns gemeinsam ihren Geburtstag zu feiern. Dazu gratu-
lieren wir herzlich.


(Beifall)



Sabine Stüber (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707119600

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Kinder brauchen einen Freiraum, in dem sie spie-
len, rennen und toben können. Das gehört zu einer ge-
sunden Entwicklung. Es kann auch laut sein. Bei dem
französischen Philosophen und Pädagogen Rousseau
hörte sich das im 18. Jahrhundert so an: „Die Natur will,
dass Kinder Kinder seien, ehe sie erwachsen werden.“ In
einem japanischen Sprichwort heißt es: „Kinder, die
schreien, werden groß.“ Vergangene Zeiten, verschie-
dene Kulturkreise – und doch wusste man, was Kinder
brauchen.

Bei uns hingegen bedarf es einer gesetzlichen Klä-
rung, damit Kinderlärm nicht mehr als schädliche Um-
weltauswirkung für Nachbarn bewertet werden darf. Ei-
nen Beschluss des Bundestages dazu gibt es seit über
einem Jahr. Für Anwohner sollen Klagen gegen Kitas
oder Spielplätze schwieriger werden. Betreiber von Kin-
dereinrichtungen brauchen dringend Rechtssicherheit.
Noch ist aber nichts passiert. Noch erhalten Kitas in
Wohngebieten jede Menge Auflagen. Bis hin zur Schlie-
ßung ist alles möglich, wenn sich Anwohner belästigt
fühlen. Mit dem Kinderfördergesetz sollen bis 2013 fa-
milienfreundlichere Bedingungen geschaffen werden.
Dazu sind mehr Betreuungsplätze die Voraussetzung.





Sabine Stüber


(A) (C)



(D)(B)

Eine Kindertagesstätte, ein Spielplatz vor der Haustür:
Wie würde dadurch der Alltag für Kinder und Eltern er-
leichtert werden?

In dem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen werden
alle guten Ansätze der verschiedenen Fraktionen, die in
den letzten zwei Jahren zum Thema Kinderlärm einge-
bracht wurden, zusammengefasst. Ergänzend sollen
Spielflächen schon bei der Planung berücksichtigt wer-
den. Das befürworten wir als Linke voll und ganz.


(Beifall bei der LINKEN)


Mögliche Konflikte sollen durch die Beteiligung der Be-
troffenen im Vorfeld geklärt werden. Auch das unterstüt-
zen wir. Trotzdem frage ich mich, warum Kinderlärm
eine so große Belastung ist. Verkehrslärm ist mit Ab-
stand unerträglicher. Was ist los in diesem Land? Warum
wird es Familien immer noch so schwer gemacht? Die
überalterte Gesellschaft fühlt sich von den Kindern, die
später die Rente erarbeiten sollen, belästigt? Das ist doch
eine verkehrte Welt.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Daniela Raab [CDU/CSU])


Natürlich nerven Kinder auch einmal, aber sie sind die
Zukunft unserer Gesellschaft. Viele Menschen in unse-
rem Land sehen das genauso. Belästigt fühlen sich nur
einige.

Im Auftrag des Onlineportals Immowelt wurden
kürzlich 1 042 Personen befragt. Die Toleranz gegen-
über tobenden Kindern ist größer als man denkt: Für
86 Prozent der Befragten gehört Lärm, der durch Kinder
entsteht, zum Leben einfach dazu. Ein weiteres Ergebnis
ist allerdings, dass 19 Prozent der sogenannten Besser-
verdienenden kein Verständnis dafür haben. Rund ein
Drittel davon lebt in kinderlosen Haushalten. Genau für
diese Klientel sind dann auch solche Inserate gedacht:
Kinderlärm? Anwälte leisten telefonische Rechtsbera-
tung sofort: 8 bis 24 Uhr! – Lassen Sie uns dafür sorgen,
dass sich solche Angebote bald erübrigen.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Ute Vogt [SPD])



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1707119700

Das Wort hat Daniela Raab für die CDU/CSU-Frak-

tion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Daniela Raab (CSU):
Rede ID: ID1707119800

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Kinder machen natürlich Geräusche. Sie machen
manchmal auch Lärm. Das ist gewollt. Ich glaube, das
wird auch in dieser Debatte deutlich. Zu viel Konfronta-
tion bei diesem konsensualen Thema schadet deshalb
nur. Es ist von uns allen gesagt worden: Es ist gewollt,
dass Kinder toben, kreischen, schreien, weinen und auch
mal zur Unzeit brüllen dürfen. Die Uhrzeit interessiert
ein Kind eher selten. Es sind schließlich Kinder, und Sie
haben zu Recht gesagt, liebe Kollegin: Wenn sie
schreien, werden sie groß.

Dass sich dennoch immer wieder Menschen finden,
die gegen und wegen Kinderlärm klagen, ist, vorsichtig
ausgedrückt, bemerkenswert. Dass es dann aber auch
noch Richter gibt, die diesen Menschen recht geben,
kann einen, gelinde gesagt, nur wütend machen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Auch deshalb findet sich in unserem Koalitionsvertrag
der schon viel zitierte Satz:

Kinderlärm darf keinen Anlass für gerichtliche
Auseinandersetzungen geben. Wir werden die Ge-
setzeslage entsprechend ändern.

Dafür bedarf des Änderungen im Baurecht, Lärmschutz-
recht und auch ganz allgemein im Zivilrecht. Ich kann
Ihnen mitteilen – so der Stand von heute Mittag –: Die
baurechtlichen Gesetzesänderungen sind geklärt. Das fe-
derführende Ministerium für Verkehr, Bau und Stadtent-
wicklung wird bereits Anfang 2011 das Gesetzgebungs-
verfahren einleiten, um das gesamte Bauplanungsrecht
zu novellieren. Ein Bestandteil dieser Novelle ist auch
die Regelung zum Kinderlärm.


(Marie-Luise Dött [CDU/CSU]: Wunderbar!)


Ich bin froh, dass wir das Verfahren beschleunigen
konnten. Das alleine reicht aber nicht; auch das ist schon
gesagt worden. Notwendig ist eine absolute Toleranz ge-
genüber Kindergeräuschen, und zwar nicht nur im Bun-
des-Immissionsschutzgesetz, sondern auch im Bürgerli-
chen Gesetzbuch.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Bei der von mir schon angesprochenen Änderung des
Bundes-Immissionsschutzgesetzes wird deshalb aus-
drücklich eine entsprechende Ausstrahlwirkung für das
Bürgerliche Gesetzbuch festgeschrieben. Denn – ich
glaube, darin sind wir uns alle einig – es darf kein Hin-
tertürchen offen bleiben, um den Bau von Kindertages-
stätten, Spielplätzen, Bolzplätzen oder ähnlichen Ju-
gendeinrichtungen zu verhindern.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Kitas und Kindergärten müssen selbstverständlich
auch in reinen Wohngebieten gebaut werden dürfen. Wo
sind wir denn? Kinder gehören nicht in Gewerbegebiete,
sondern in unsere Mitte. Es darf nicht der Eindruck ent-
stehen, dass wir sie abschieben, um so wenig wie mög-
lich von ihnen mitzubekommen. Deswegen arbeitet das
Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
lung daran, das Bauplanungsrecht dahin gehend zu än-
dern, dass eine generelle Zulässigkeit von Kindertages-
stätten in reinen Wohngebieten ermöglicht wird. An
dieser Stelle möchte ich ausdrücklich den Ministerien
für Umwelt, Justiz und Verkehr – einer der Minister ist
anwesend – für die konstruktive Zusammenarbeit in die-
sem Punkt danken.





Daniela Raab


(A) (C)



(D)(B)

Weil die einzelnen Bundesländer angesprochen wur-
den, darf ich mein Bundesland Bayern erwähnen. Das
bayerische Kabinett hat am 26. Oktober einem Gesetz-
entwurf zugestimmt, nach dem Kinderlärm künftig
grundsätzlich als sozial angemessen hingenommen wer-
den muss. Dadurch sollen Einrichtungen für Kinder
schneller gebaut werden können. Nachbarn dürfen in
Zukunft nicht mehr darauf vertrauen, dass der Freistaat
aus Lärmschutzgründen gegen Kindereinrichtungen vor-
geht. Das betrifft ausdrücklich auch Freizeiteinrichtun-
gen für Jugendliche wie Bolzplätze, Skateranlagen und
BMX-Bahnen; Sie kennen das alles genauso gut wie ich.
Auch diese Anlagen sollen nach dem Gesetzentwurf im
Hinblick auf Lärm bevorzugt behandelt werden.

Ich denke, auch hierbei wird klar, dass wir nicht nur
über Kinderinteressen, sondern selbstverständlich auch
über Jugendinteressen reden. Sie müssen bei dieser
gesetzgeberischen Regelung immer Vorrang vor allem
anderen haben. In Bayern bedeutet das konkret, dass wir
bei der Berechnung von Abständen zum Beispiel zwi-
schen einer neu zu bauenden Jugendeinrichtung und der
Wohnbebauung direkt daneben die besonderen Regelun-
gen für Ruhezeiten komplett aussetzen. Die Bebauungs-
abstände können künftig fast halbiert werden. Ich finde
es schön, dass es Bundesländer gibt, die das machen.
Dabei ist es mir völlig egal, welche Bundesländer das
sind und von wem sie regiert werden. Hauptsache, es
wird gemacht. Sie haben die Berliner Brille erwähnt,
Herr Kollege. In diesem Sinne möchte ich Ihnen auch
gerne die bayerische Brille mit auf den Weg geben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Auf allen Ebenen einen Ausgleich zu schaffen, be-
deutet aber nicht nur – lassen Sie mich das abschließend
feststellen –, politische Beschlüsse zu fassen, schöne Re-
den zu halten und gegebenenfalls die Gesetze zu ändern,
wo dies nötig ist; vielmehr muss jeder Einzelne von uns
Kinder als solche statt als kleine Erwachsene sehen. Wir
müssen ihnen ohne Vorurteile begegnen und sie Kinder
sein lassen. Vor allem dürfen wir nicht gegen sie klagen.
Denn ich denke, es gilt immer noch: Kinderlärm ist Zu-
kunftsmusik.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1707119900

Es ist verabredet, die Vorlage auf Drucksache 17/2925

an die Ausschüsse zu überweisen, die in der Tagesord-
nung aufgeführt sind. Sind Sie damit einverstanden? –
Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Stärkung des Schutzes von Vertrauensver-
hältnissen zu Rechtsanwälten im Strafprozess-
recht

– Drucksache 17/2637 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 17/3693 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Patrick Sensburg
Dr. Peter Danckert
Christian Ahrendt
Halina Wawzyniak
Jerzy Montag

Hierzu liegen ein Änderungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen sowie ein Entschließungsantrag
der Fraktion Die Linke vor. Verabredet ist, eine halbe
Stunde dazu zu debattieren. – Dazu sehe und höre ich
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe der Bundes-
ministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger das
Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-
ministerin der Justiz:

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
legen! Damit Bürgerinnen und Bürger nicht nur recht ha-
ben, sondern auch zu ihrem Recht kommen können, ist
eines unverzichtbar: eine unabhängige, die Mandanten
und damit die Bürgerinnen und Bürger beratende An-
waltschaft. Anwältinnen und Anwälte können ihre wich-
tige Aufgabe als Organ der Rechtspflege nur dann erfül-
len, wenn die Mandanten ihnen auch vertrauen können.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Der Bürger, der einen Anwalt um Rat bittet, muss sicher
sein, dass das, was er dem Anwalt erzählt, auch wirklich
nur zwischen ihm und dem Anwalt bleibt und Informa-
tionen, Erkenntnisse, Aussagen sowie Anvertrautes bei
diesem vertraulich behandelt werden.


(Beifall bei der FDP)


Wenn ein Mandant nicht die Gewähr hat, dass er mit
seinem Anwalt frei und unbelauscht sprechen kann,
wenn er befürchten muss, dass etwa bei einem Telefonat
der Staat in der Leitung mithört, dann ist das Entstehen
von Vertrauen gefährdet und dann ist auch nicht gesi-
chert, dass ein Anwalt seiner Funktion im Rechtsstaat in
vollem Umfang nachkommen kann. Deshalb muss der
Rechtsstaat um seiner selbst willen die freie und unge-
hinderte Kommunikation zwischen Mandant und Anwalt
respektieren und garantieren. Genau das ist das Ziel des
Gesetzentwurfes, der heute in zweiter und dritter Lesung
verabschiedet werden soll.


(Beifall bei der FDP)


Dieser Gesetzentwurf nimmt eine Korrektur früherer
Gesetzgebung vor. Nach dem durch den Gesetzentwurf
geänderten § 160 a der Strafprozessordnung sollen alle
Rechtsanwälte und nicht allein Strafverteidiger vor Er-
mittlungsmaßnahmen des Staates geschützt sein, soweit
es um Erkenntnisse geht, hinsichtlich derer sie das Zeug-





Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger


(A) (C)



(D)(B)

nis verweigern dürfen. Damit kein Missverständnis ent-
steht: Wenn es um den konkreten Verdacht geht, dass der
Anwalt selbst eine Straftat begangen hat – das ist nicht der
Bereich, den wir mit dem geänderten Gesetz regeln –,
dann kann natürlich ermittelt werden.

Mit dieser Änderung schaffen wir wieder eine gute
Balance zwischen den Rechten von Anwälten, die ver-
teidigen und beraten, auf der einen Seite und der Effekti-
vität der Strafrechtspflege auf der anderen Seite.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Die Arbeit von Justiz und Polizei wird durch diese maß-
volle Erweiterung des absoluten Schutzes vor Ermitt-
lungsmaßnahmen wirklich nicht nennenswert beein-
trächtigt. Dies haben die Sachverständigen sowie die
Länder und Verbände bestätigt.

Wichtig ist, dass wir mit diesem Schritt die bisherige
künstliche Aufspaltung zwischen Strafverteidigern und
anderen Anwälten beenden. Diese Abgrenzung lässt sich
in der Realität sowieso nicht punktgenau treffen. Gerade
bei komplexen Beratungsmandaten bestehen häufig enge
Verflechtungen zu strafrechtlichen Fragen.

Der Übergang von beratender zu verteidigender Tä-
tigkeit ist oft fließend. Künftig gilt daher, bezogen auf
alle Anwälte, ein absolutes Verbot der Erhebung und
Verwertung von Informationen. Gegen Anwälte dürfen
sich deshalb keine strafrechtlichen Ermittlungsmaßnah-
men mehr richten, wenn damit Informationen erfasst
würden, die vom Zeugnisverweigerungsrecht des An-
walts umfasst wären. Schutz vor Durchsuchungen oder
Beschlagnahmen in Kanzleien gibt es bereits. Aber wir
müssen sicherstellen, dass Telefone oder die E-Mail-
Kommunikation nicht überwacht werden. Wir tragen da-
mit natürlich auch dem Wandel Rechnung, der das an-
waltliche Berufsbild betrifft; denn zum einen wird elek-
tronische Kommunikation immer wichtiger, zum
anderen gibt es immer mehr Sozietäten, in denen Straf-
verteidiger mit Anwälten anderer Fachrichtungen zu-
sammenarbeiten. Auch dieser Realität wird mit der Ge-
setzesänderung Rechnung getragen.

Wir setzen mit diesem Gesetzentwurf ein wichtiges
Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag um. Ich bin froh,
dass die Beratungen gezeigt haben, dass es dafür inner-
halb und außerhalb des Parlaments eine breite Unterstüt-
zung gibt. Ich verstehe das nicht nur als ein gutes Zei-
chen, sondern auch als Rückenwind für die
Bemühungen, weiterzuarbeiten. Im Koalitionsvertrag
war nur ein Prüfungsauftrag vorgesehen, um zu sehen,
wie man weitergehen kann. Dazu gibt es die Anträge
von Bündnis 90/Die Grünen, über die beraten wird und
die natürlich die Sympathien der FDP haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Lieber Herr Montag, wir sind froh, dass wir bei diesem
Vorhaben den richtigen Schritt gehen, auf den wir uns in
der Koalitionsvereinbarung verständigt haben. Es ist
eine Korrektur. Für die gab es auch damals eine Mehr-
heit. Es ist gut, dass wir uns in dieser sachlichen Atmo-
sphäre damit befassen. Natürlich prüfen wir weiter auch
im Hinblick darauf, wie die Auswirkungen der dann gel-
tenden Regelung auf andere beratende Berufe sind. Ich
hoffe, dass wir in dieser Legislaturperiode einen weite-
ren Schritt gehen können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie des Abg. Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1707120000

Der Kollege Dr. Peter Danckert hat seine Rede zu

Protokoll gegeben, weil er im Haushaltsausschuss ist.1)

Ich gebe das Wort dem Kollegen Patrick Sensburg für
die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Patrick Sensburg (CDU):
Rede ID: ID1707120100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Ich kann der Justizministerin nur
zustimmen: Es ist gut, dass wir mit der Neuregelung des
§ 160 a eine Regelung gefunden haben, die einen erwei-
terten Schutz des Vertrauensverhältnisses von Rechtsan-
wälten zu ihren Mandanten gewährleistet, und wir damit
eine Regelungslücke schließen, die im Kern nicht zu
rechtfertigen war. Das betrifft die Fälle, in denen es ei-
nen Übergang vom Anwaltsmandat zum Strafverteidi-
germandat gibt. Es ist gerade aus Sicht der Mandanten
nicht nachvollziehbar, wann der Zeitpunkt eintritt, ab
dem das Anwaltsmandat zum Strafverteidigermandat
wird. Daher ist es eine richtige Entscheidung gewesen,
Klarheit zu schaffen, den absoluten Schutz einzuführen
und damit insbesondere für den Mandanten sicherzustel-
len, dass das Vertrauensverhältnis umfänglich geschützt
ist.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Man muss nämlich wissen, dass § 160 a ein gestuftes
Schutzverhältnis vorsieht. Es gibt einen absoluten
Schutz und einen relativen Schutz. Alle Berufsgeheim-
nisträger genießen bereits den relativen Schutz des
§ 160 a Abs. 2. Es fällt also niemand durch das Raster.
Es gibt bestimmte Bereiche mit einem absoluten Schutz.
Es war folgerichtig, keine Trennung zwischen Verteidi-
germandat und Anwaltsmandat zu schaffen. Das hat die
christlich-liberale Koalition richtig entschieden. Ich
freue mich, dass über die Fraktionsgrenzen hinweg da-
rüber Konsens herrscht, den Schritt gemeinsam zu ge-
hen, und ich freue mich über das Signal der anderen
Fraktionen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Was mich nicht gefreut hat, war das Verfahren. Das
muss ich ganz ehrlich sagen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


1) Anlage 5





Dr. Patrick Sensburg


(A) (C)



(D)(B)

– Warten Sie ab, es kommt noch etwas. Herr Kollege
Montag, wir wollen einmal sehen, ob auch Sie gleich
klatschen. –

Wir haben im Ausschuss ein erweitertes Bericht-
erstattergespräch organisiert und auch vorbereitet.
Schauen wir uns einmal den Zeitablauf an.

Am 30. September fand die erste Lesung im Plenum
statt. Am 6. Oktober haben wir im Rechtsausschuss be-
raten. Am 18. Oktober wurden dann alle Berichterstatter
unterrichtet. Im Vorfeld habe ich bereits den einen oder
anderen Berichterstatter bezüglich des erweiterten Be-
richterstattungsgesprächs angesprochen. Erst am 26. Ok-
tober, also mit ausreichend Vorlauf, erfolgte dann das er-
weiterte Berichterstattergespräch, an dem leider nicht
alle Fraktionen teilgenommen haben.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Aber die Linke!)


Ganz im Gegenteil: Es wurde gesagt, die Vorbereitungs-
zeit sei zu kurz gewesen – und das bei einem Thema, das
schon in der letzten Wahlperiode zu Diskussionen ge-
führt hatte und auch jetzt breit diskutiert worden war.
Aber diese Vorbereitungszeit reichte anscheinend eini-
gen Fraktionen nicht, und es wurden dementsprechend
Anträge gestellt, das erweiterte Berichterstattergespräch
zu diesem Thema abzusetzen.

Ich kann nur sagen: In dieser Woche sind offensicht-
lich das Anträgestellen und der Formalismus etwas mit
Ihnen durchgegangen. Den Umweltausschuss torpedier-
ten Sie in dieser Woche mit Geschäftsordnungsanträgen
und 21 Änderungsanträgen, und bei diesem Thema ver-
suchten Sie es dann auch.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach!)


Ich glaube, das war nicht das richtige Verfahren. Wir
sollten bei einem solchen Thema doch eine gemeinsame
Entscheidung in der Sache treffen können. Das war nicht
besonders kooperativ, muss ich sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Koalition klatscht gegen den Bundestagspräsidenten!)


Herr Kollege Montag, obwohl ich Sie sehr schätze,
muss ich sagen: Inhaltlich ist Ihr Antrag mager. Ich
glaube, Sie haben den Unterschied zwischen präventiven
und repressiven Rechten nicht erkannt.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na, so was! Habe ich das wirklich übersehen? Das gibt es doch nicht! – Christoph Strässer [SPD]: Das geht doch gar nicht!)


Ihnen geht es um präventive Rechte, nämlich um die
§§ 20 a ff., um die präventive Abwehr von Gefahren ge-
gen den internationalen Terrorismus, nicht um Repres-
sion.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bitte, Herr Professor!)

Mir scheint, dass Sie hier Prävention mit Repression
gleichsetzen wollen. Bei der Prävention haben Sie mehr
Rechte, und diese Rechte haben wir auch in § 20 u des
Bundeskriminalamtgesetzes statuiert. In der Prävention
kann ich ganz anders vorgehen.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum eigentlich? Da ist doch nicht einmal eine Straftat passiert!)


Wenn ich solche Beispiele wie jetzt aktuell die Brief-
bomben diskutiere, so geht es darum, Gefahren für Bür-
ger möglichst effektiv und schnell abzuwehren. Dabei
muss ich anders vorgehen, als wenn ich im Nachhinein
ermittle. Das müsste Ihnen bekannt sein.

Nun hat jemand gefragt: Warum eigentlich? Ich
denke, wir haben heute nicht die Zeit, das ausgiebig zu
diskutieren.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sonst erzählen Sie hier doch auch jeden Unsinn! – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch, Sie haben die Zeit!)


Dann führen Sie auch noch § 23 a des Zollfahndungs-
dienstgesetzes ein, in dem es um Militärwaffen, Kriegs-
waffen bis hin zu Flugkörpern für Atomwaffen geht.
Wenn Sie diese Gefahren auch noch herausnehmen wol-
len, dann frage ich mich schon: Haben Sie den Unter-
schied nicht verstanden?

Der Rechtsausschuss hat Ihren Antrag zu Recht abge-
lehnt. Schauen Sie einmal in § 161 Abs. 2 der StPO.
Dann wird Ihnen diese Unterscheidung ganz deutlich,
und Sie erkennen, dass die Maßnahmen, die präventiv
stattgefunden haben, gar nicht ohne Weiteres repressiv
eingebracht werden können. Da wird ja hinterher die
Unterscheidung zum Schutz des Beschuldigten getrof-
fen. Dieses fein austarierte System scheint Ihnen egal zu
sein. Das wiederum scheint mir einer gewissen Richtung
verhaftet zu sein.

Wir schaffen ein System, fein austariert zwischen prä-
ventiven und repressiven Rechten. Damit stärken wir das
Vertrauensverhältnis zu Anwälten. Aber wir sehen
gleichzeitig die Aufgabe des Staates, Gefahren effektiv
zu bekämpfen. Das ist uns mindestens genauso wichtig.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Auch die Ausdehnung auf sonstige Berufsgruppen ist
falsch.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Nein!)


– Ich erkläre es Ihnen ja gerade. –


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Und danach erkläre ich es!)


Die Ausdehnung auf Ärzte und Journalisten ist abzuleh-
nen. Das hat das Expertengespräch, das erweiterte Be-
richterstattergespräch, gezeigt. Beide Berichterstatter ha-
ben gesagt: Das Ausdehnen über Berufsgruppen, die vor
Gericht auftreten, hinaus ist nicht angezeigt. Ich habe
schon am 30. September das Verfassungsgericht zitiert.
Ich zitiere es noch einmal; denn dies ist eine ganz ent-





Dr. Patrick Sensburg


(A) (C)



(D)(B)

scheidende Passage. Auch das Bundesverfassungsge-
richt hat gesagt:

Der Gesetzgeber ist weder gehalten noch steht es
ihm frei, der Presse- und Rundfunkfreiheit absolu-
ten Vorrang vor anderen wichtigen Gemeinschafts-
gütern einzuräumen. Er hat insbesondere auch den
Erfordernissen der Rechtspflege Rechnung zu tra-
gen.

Man kann also nicht einfach sagen: Da wollen wir ei-
nen absoluten Schutz haben. Wir haben den relativen
Schutz, und das ist genau das, was uns das Bundesver-
fassungsgericht vorgibt.

Zur Frage der Steuerberater kann ich nur sagen: Hier
unterstütze ich das, was die Bundesjustizministerin ge-
sagt hat. Wir müssen uns fragen, ob wir weitere Berufs-
gruppen mit einbeziehen. Das werden wir untersuchen;
denn auch für Steuerberater gibt es die Möglichkeit, dass
sie strafverteidigend vor Gericht auftreten. Dann lassen
Sie uns doch einmal schauen, ob es in den nächsten Jah-
ren wirklich Anwendungsfälle auch bei Steuerberatern
gibt. Derzeit ist mir kein einziger Fall bekannt. Von da-
her würde ich mich schon fragen: Warum sollen wir die
Steuerberater einbeziehen?

Lassen Sie uns das untersuchen, lassen Sie uns
schauen, ob es Anwendungsfälle auch für Steuerberater
gibt, und dann können wir darüber diskutieren, ob es
notwendig ist, den absoluten Schutz auch auf die Steuer-
berater auszudehnen, die strafverteidigend tätig sein
können. Wenn es aber keine Anwendungsfälle gibt, dann
müssen wir anerkennen, dass der Schutz des Staates für
seine Bürger und damit das Strafverfolgungsinteresse
vorgehen.

Unsere Rechtspolitik orientiert sich an der Praxis.
Deswegen ist es folgerichtig, diesen Entwurf heute zur
zweiten und dritten Lesung vorzulegen. Ich würde mich
freuen, wenn Sie diesen Entwurf heute mit uns beschlie-
ßen könnten. Ich glaube, er ist ausgewogen, was die
Schutzrechte und das Strafverfolgungsinteresse des
Staates angeht, aber auch was das Vertrauensverhältnis
angeht, das wir zwischen Mandant und Anwalt brau-
chen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1707120200

Halina Wawzyniak hat jetzt das Wort für die Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Halina Wawzyniak (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707120300

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Frau Justizministerin, der Entwurf geht in die
richtige Richtung; er greift aber zu kurz. Die Linke wird
sich enthalten, Ihnen aber den Rücken stärken, wenn Sie
die Union davon überzeugen wollen, dass der Koali-
tionsvertrag umgesetzt werden soll.


(Beifall bei der LINKEN)

Herr Sensburg, Sie haben das Verfahren angesprochen.
Ich war bei dem Berichterstattergespräch. Sie haben aber
leider vergessen, zu erwähnen, dass Sie eigentlich vorhat-
ten, unmittelbar nach dem Berichterstattergespräch im
Rechtsausschuss darüber zu entscheiden, also binnen
24 Stunden. Vielleicht bekommen Sie das mit mehreren
Hundert Abgeordneten hin; für kleinere Fraktionen ist
das eher etwas, was man auch unter den Begriff „Mob-
bing“ fassen könnte.


(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Machen wir nicht!)


Im Berichterstattergespräch, bei dem ich, wie gesagt,
war, ist nicht einleuchtend erklärt worden, zumindest für
mich nicht, weshalb in der vorgesehenen Fassung des
§ 160 a StPO nicht alle in § 53 StPO genannten Gruppen
in den Anwendungsbereich einbezogen werden.

Die Unterteilung in absolute und relative Verbote von
Ermittlungsmaßnahmen ist nicht nachvollziehbar.

Wir begrüßen die Erweiterung auf Rechtsanwälte,
aber wir finden, dass auch andere Vertrauensverhältnisse
schützenswert sind. Jetzt gilt das absolute Verbot für
Geistliche, Rechtsanwälte, Verteidiger und Abgeordnete.


(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Geistliche, das ist gut!)


Das ist eine Unterteilung in Berufsgeheimnisträger erster
und zweiter Klasse. Den Unterschied zwischen erster
und zweiter Klasse können Sie nicht erklären.


(Beifall bei der LINKEN)


Nennen Sie mir nur einen Grund dafür, dass beispiels-
weise Geistliche und Abgeordnete unter den absoluten
Schutz fallen, aber Ärztinnen und Ärzte sowie Thera-
peutinnen und Therapeuten nicht. Im Rahmen einer plu-
ralistischen Gesellschaft, in der Menschen wie ich viel-
leicht eher zu einem Therapeuten als zu einem
Seelsorger gehen, ist dies nicht nachvollziehbar.


(Beifall bei der LINKEN)


Wieso erfassen Sie Journalistinnen und Journalisten
nicht? Ein absoluter Vertrauensschutz dient der Gewähr-
leistung der in einer freien Gesellschaft notwendigen kri-
tischen, mutigen und aufklärerischen Berichterstattung.
Dieser Schutz ist durch das relative Verbot nicht gege-
ben.

§ 53 StPO dient dem Schutz des Vertrauensverhältnis-
ses. Das meint eine angstfreie Inanspruchnahme von Rat
und Hilfe bei bestimmten Berufsgruppen durch diejeni-
gen, die sich an diese Berufsgruppen wenden. Die Norm
folgt der Erkenntnis, dass bestimmte Berufsgruppen in
einem besonders sensiblen Bereich agieren. Deshalb
wäre es logisch, den § 160 a StPO spiegelbildlich zum
Zeugnisverweigerungsrecht auszugestalten. Wie soll
Ärztinnen und Ärzten gegenüber, Therapeutinnen und
Therapeuten gegenüber, Journalistinnen und Journalis-
ten gegenüber Vertrauen aufgebaut werden, wenn die
Gefahr besteht, dass Ermittlungsmaßnahmen stattfin-
den?


(Beifall bei der LINKEN)






Halina Wawzyniak


(A) (C)



(D)(B)

Wie soll ich mich auf das Zeugnisverweigerungsrecht
verlassen, wenn die Gefahr besteht, dass Ermittlungs-
maßnahmen stattfinden?


(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Dann muss doch ein Anfangsverdacht da sein! Sonst geht es doch gar nicht!)


– Zum Anfangsverdacht komme ich noch.

Ist durch das relative Verbot nicht die Gefahr gege-
ben, dass Zeugnisverweigerungsrechte umgangen wer-
den? Solange eine Abwägung möglich ist, besteht die
Gefahr, dass erst einmal alles ermittelt wird, um die ge-
wünschten Informationen zu bekommen. Ein Rechts-
staat ist aber auf Freiräume angewiesen, in denen Betrof-
fene und Berufsgeheimnisträger völlig frei miteinander
reden können.

Kommen wir zu einem letzten Kritikpunkt. Der
§ 160 a Abs. 4 StPO bleibt so, wie er ist, bestehen. Darin
heißt es, dass der Schutz, auch der absolute Schutz, nicht
gilt, wenn bestimmte Tatsachen den Verdacht begrün-
den, dass eine Beteiligung der Betroffenen vorliegt. Ich
finde, wir sollten hier noch einmal intensiv darüber
nachdenken, ob es nicht angebrachter ist, zu schreiben,
dass es eines dringenden Tatverdachtes bedarf, und nicht
einfach eines Verdachtes.

Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und
Herren, der Entschließungsantrag der Linken berück-
sichtigt all diese Kritikpunkte. Deswegen kann zumin-
dest auch die FDP diesem Antrag zustimmen.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1707120400

Jerzy Montag hat das Wort für Bündnis 90/Die Grü-

nen.


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1707120500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Der vorgelegte Gesetzentwurf regelt die entsprechende
Materie richtig. Es ist überhaupt keine Frage: Das ist et-
was, was wir schon seit Jahren wollen. Deswegen wer-
den wir dem Gesetzentwurf zustimmen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Wir wollten aber schon immer mehr. Wir wollen es
auch heute. Ich werde auch begründen, warum. Aber be-
vor ich dazu komme, will ich an etwas erinnern: Es ist
keine zwei Jahre her – es war am 21. Januar 2009 –, da
wurde hier in diesem Hause über einen Antrag der FDP
diskutiert. Darin beantragte die FDP den Schutz der
Rechtsanwälte, aber auch der Ärzte und noch weiterer
Berufsgeheimnisträger. Herr Sensburg, da waren Sie
noch nicht dabei. Deswegen ist es wichtig, dass man Ih-
nen vorliest, was Ihr Kollege Kauder zu diesem Antrag
der FDP bezüglich der Materie „Einbeziehung der
Rechtsanwälte“ sagte – ich zitiere –:


(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Ich habe es mir durchgelesen!)


Journalisten stehen nicht Abgeordneten gleich,
Ärzte stehen nicht Geistlichen gleich, und zivil-
rechtlich tätige Anwälte stehen nicht dem Strafver-
teidiger gleich.

Vor zwei Jahren also hat die CDU/CSU etwas abge-
lehnt, was sie jetzt für vernünftig und richtig hält.


(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Nur teilweise!)


– Ja, bezüglich der Rechtsanwälte.- Sie stellen sich heute
hin und sagen, es sei vorzüglich, was nun gemacht
werde. Das habe man schon immer so gewollt. Es ist
keine zwei Jahre her, da wollten Sie das Gegenteil. Das
trifft im Übrigen auch auf die SPD zu. Da hat ihr damali-
ger rechtspolitischer Sprecher Stünker gesprochen.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oje!)


Ich erspare mir, das entsprechende Zitat zu verlesen. Ich
habe es allerdings dabei. Auch die SPD war damals da-
gegen.


(Christoph Strässer [SPD]: Kann gar nicht sein!)


Sie wechseln also Ihre Positionen zu dem Thema nach
der jeweiligen Koalitionssituation, in der Sie sich befin-
den.


(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Nach der Praxis!)


Sie verhalten sich in dieser Debatte nicht kohärent, Sie
bleiben nicht kohärent bei Ihren Argumenten und haben
damit auch nicht die richtigen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zu der Frage, meine Damen und Herren, warum es
richtig ist, alle Berufsgeheimnisträger gleichzustellen.
Die Polizei ermittelt im Grundsatz in einem offenen Er-
mittlungsverfahren. Wir haben zum Glück immer noch
die Situation, dass geheime Ermittlungstätigkeiten die
Ausnahme sind. Wenn die Ermittlungsbehörden bei ihrer
offenen generellen Ermittlungstätigkeit an die Berufsge-
heimnisträger herantreten und sie fragen, haben alle
diese ein absolutes Recht, die Aussage über die Angele-
genheiten zu verweigern, von denen sie in Ausübung ih-
res Berufes Kenntnis erhalten haben.

Jetzt will die Polizei Kenntnis über das, was sie wis-
sen will – das ist ja berechtigt –, durch Beschlagnahme
erlangen. Wenn sie eine Beschlagnahme durchführt, darf
sie aber all das, was sie nicht erfragen kann, auch nicht
beschlagnahmen – § 97 StPO. Nun sagt sich die Polizei:
Beschlagnahmen kann ich es auch nicht, dann installiere
ich eben ein paar Wanzen. Wie steht es um die Abhörung
des gesprochenen Wortes auf diese Weise? Auch in die-
sem Fall sind alle Berufsgeheimnisträger gleichgestellt.
Die Polizei kommt immer noch nicht weiter.

Nun beschließt sie, das Telefon abzuhören. In diesem
Fall, sagen Sie, meine Damen und Herren, soll es Unter-
schiede geben. Das ist von der Systematik des Rechts
her nicht nachzuvollziehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)






Jerzy Montag


(A) (C)



(D)(B)

Es gibt keinen qualitativen Unterschied – es handelt sich
lediglich um eine andere Materie – zwischen dem Ver-
trauensverhältnis des Rechtsanwalts zu seinem Mandan-
ten und dem Vertrauensverhältnis, das ein Arzt zu sei-
nem Patienten hat. Sie, Herr Sensburg, können auch
einmal Patient werden. Stellen Sie sich einmal vor, was
es bedeutet, wenn Ihr Arzt über Ihre Angelegenheiten
kein absolutes Aussageverweigerungsrecht mehr hat.
Deswegen sage ich Ihnen: Der Antrag ist richtig, den wir
als Grüne gestellt haben. Wir werden diesen Antrag hier
im Hause auch wieder und wieder stellen und schauen,
inwieweit Sie sich belehren lassen. Heute jedenfalls wer-
den wir die Rechtsanwälte den Strafverteidigern gleich-
stellen.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1707120600

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-

desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Stärkung des Schutzes von Vertrauensverhältnissen zu
Rechtsanwälten im Strafprozessrecht. Der Rechtsaus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/3693, den Gesetzentwurf der Bundes-
regierung auf Drucksache 17/2637 anzunehmen.

Es gibt einen Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen, über den wir zuerst abstimmen. Wer stimmt
für den Änderungsantrag auf Drucksache 17/3705? – Ge-
genstimmen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag
ist abgelehnt. Dafür haben die einbringende Fraktion
und Die Linke gestimmt, die SPD-Fraktion hat sich ent-
halten, dagegen haben CDU/CSU und FDP gestimmt.

Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt da-
gegen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf
bei Zustimmung von CDU/CSU, SPD, FDP und Bünd-
nis 90/Die Grünen angenommen. Die Fraktion Die
Linke hat sich enthalten.

Ich komme zur

dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetz-
entwurf in dritter Beratung mit demselben Stimmenver-
hältnis wie vorher angenommen.

Wir kommen nunmehr zum Entschließungsantrag der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3706. Wer stimmt
für diesen Entschließungsantrag? – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Damit ist der Entschließungsantrag bei
Zustimmung durch die einbringende Fraktion abgelehnt.
Dagegen haben die Koalitionsfraktionen gestimmt; SPD
und Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthalten.

Ich rufe nunmehr Tagesordnungspunkt 10 auf:

Erste Beratung des von den Abgeordneten
Christine Lambrecht, Olaf Scholz, Bärbel Bas,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ver-
längerung der straf- und zivilrechtlichen Ver-
jährungsfristen bei sexuellem Missbrauch von
Kindern und minderjährigen Schutzbefohle-
nen

– Drucksache 17/3646 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit

Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debat-
tieren. – Dazu höre und sehe ich keinen Widerspruch.
Dann ist es so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Christine Lambrecht für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Christine Lambrecht (SPD):
Rede ID: ID1707120700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir bringen heute einen Gesetzentwurf zu einem Thema
ein, das – dessen bin ich mir sicher – uns alle berührt.
Wir alle machen uns darüber Gedanken, wie wir mit die-
sem Thema sinnvoll und vor allen Dingen im Interesse
der Opfer umgehen können. Als zahlreiche Miss-
brauchsfälle aus den letzten Jahrzehnten, aber auch bis
in die heutige Zeit hinein insbesondere sowohl in kon-
fessionellen als auch in nichtkonfessionellen Einrichtun-
gen zu Anfang dieses Jahres bekannt wurden, ist ein
Tabu gebrochen, und das ist auch gut so.

Ich möchte an dieser Stelle nicht darüber reden, was
in den Institutionen falsch gemacht wurde und was man
hätte anders machen können, weil wir alle wissen, dass
es nicht nur um Institutionen geht. Tatort für sexuellen
Missbrauch können auch die Familie und das nähere
Umfeld sein. Heute geht es eher darum – dies ist in
rechtspolitischen Debatten nicht immer so –, dass wir
uns fragen, wie wir dem Opfer helfen können. Meistens
beschäftigen wir uns eher damit, was wir mit den Tätern
machen. Heute sollten wir uns damit beschäftigen, wie
wir dafür sorgen können, dass den Opfern solcher Fälle
Gerechtigkeit widerfährt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, in der SPD-
Fraktion haben wir uns lange über diese Probleme unter-
halten und uns überlegt, was man denn tun könne. Es
gibt nicht allzu viele Möglichkeiten. In all den Diskus-
sionen sind wir aber auf ein Problem gestoßen, das sich
ständig wiederholt: die Frage der Verjährungsfristen. Sie
machen es vielen Opfern unmöglich, die Täter juristisch
zur Rechenschaft zu ziehen, weil die Taten eben oft Jahr-
zehnte zurückliegen. Die Gründe dafür sind vielfältig:
Die Opfer sind traumatisiert und haben das Geschehene
verdrängt. Sie leiden Jahrzehnte physisch und psychisch
und wissen zum Teil überhaupt nicht, warum. Zum Teil
bringen erst Therapien das, was in der Kindheit passiert
ist, wieder in das Bewusstsein zurück. Dieser Schock
muss meistens mit professioneller Hilfe verarbeitet wer-
den. Andere schweigen jahrzehntelang, weil sie sich





Christine Lambrecht


(A) (C)



(D)(B)

schämen, die Folgen fürchten oder die Erfahrung ge-
macht haben, dass ihnen ohnehin niemand glaubt.

Wenn dann das Schweigen gebrochen ist, ist es ein er-
neuter Schock für jedes Opfer, erfahren zu müssen, dass
der Täter in keiner Weise mehr zur Rechenschaft gezo-
gen werden kann, weil die Tat verjährt ist. Die Verjäh-
rung hat in unserem Rechtssystem die Funktion, Rechts-
sicherheit und Rechtsfrieden herzustellen; das ist richtig.
Aber in diesen Fällen und Konstellationen schafft sie nur
noch Rechtssicherheit und Frieden für einen, nämlich für
den Täter. Ich glaube, wir können das nicht länger hin-
nehmen.

Ich möchte Ihnen zwei Fälle darstellen, die sehr deut-
lich machen, dass wir entsprechend handeln müssen.

Der erste Fall betrifft einen Mann, der heute 41 Jahre alt
ist, verheiratet ist und ein Kind hat. Im Alter von 37 Jahren
wurde er regelmäßig von Albträumen geplagt. Diese ha-
ben zu Schreianfällen, Angstzuständen und Herzrasen
geführt. Ärztliche Untersuchungen haben kein Ergebnis
erbracht. Körperlich war alles in Ordnung. Erst eine
Hypnosebehandlung hat zutage gefördert, was der ei-
gentliche Grund für seine Albträume ist: Er wurde als
Kind jahrelang von seinem Vater sexuell missbraucht. In
einer Therapie arbeitet er jetzt das Geschehene auf. Es
war völlig belanglos, ob er gegen den Vater juristisch
vorgehen wollte oder nicht; denn nach der jetzigen
Rechtslage ist ihm jede Möglichkeit dazu verwehrt.

Der zweite Fall betrifft eine damals 36-jährige Frau,
die ebenfalls regelmäßig von ihrem Vater missbraucht
wurde und eine Schwangerschaft vertuschen musste.
Nach einer langen Zeit der Auseinandersetzung mit sich
selbst und Therapien hat sie sich 2007 doch dazu ent-
schieden, ihren Vater anzuzeigen. Aber es war nach der
geltenden Rechtslage zu spät.

Die Opferverbände haben in den Diskussionen, die
wir in den verschiedensten Konstellationen – beispiels-
weise an einem runden Tisch – geführt haben, gefordert,
dass die Verjährungsfristen verlängert werden sollten.

Wir müssen uns die momentan geltenden Verjäh-
rungsfristen einmal genauer anschauen. Im Falle von
Vergewaltigungen und sexueller Nötigung betragen sie
derzeit 20 Jahre. Dagegen verjährt der sexuelle Miss-
brauch von Kindern bereits nach 10 Jahren und der sexu-
elle Missbrauch von minderjährigen Schutzbefohlenen
verjährt sogar schon nach 5 Jahren. Zwar ruht im Straf-
recht die Verjährung bis zur Vollendung des 18. Lebens-
jahres – damit soll zu Recht dem Umstand Rechnung ge-
tragen werden, dass der Entschluss zur Anzeige solcher
Straftaten erst nach dem Ende der altersbedingten und
familiären Abhängigkeit gefasst werden kann –, aber die
konkreten Einzelfälle, die ich Ihnen beschrieben habe,
können auch mit dieser Regelung nicht mehr erfasst wer-
den. Es gibt dann keine Möglichkeit mehr zur rechtli-
chen Verfolgung.

Zivilrechtliche Ansprüche von Opfern sexuellen
Missbrauchs auf Schadensersatz und Schmerzensgeld
verjähren regelmäßig nach nur 3 Jahren. Die Verjäh-
rungsfrist beginnt bei Sexualdelikten zwar mit Vollen-
dung des 21. Lebensjahres. Aber das kann zur Folge ha-
ben, dass es im Alter von 24 Jahren keine Möglichkeit
mehr gibt, Ansprüche geltend zu machen.

Mit dem Gesetzentwurf, den wir heute vorlegen, wol-
len wir die strafrechtliche Verjährungsfrist bei sexuellem
Missbrauch von Kindern und minderjährigen Schutzbe-
fohlenen auf 20 Jahre erhöhen. Die zivilrechtliche Ver-
jährungsfrist soll auf 30 Jahre angehoben werden. Es
geht nicht um die Erhöhung des Strafmaßes, sondern um
die Möglichkeit, Ansprüche länger geltend zu machen.

Ich weiß, dass die Frau Ministerin – sie ist nicht an-
wesend; Herr Stadler, Sie werden diese Punkte sicherlich
an sie weiterleiten – Bedenken gegen diesen Gesetzent-
wurf hat. Diese Bedenken hat sie in einer Zeitschrift aus-
geführt. Ich weiß auch, dass die Beweisführung nach ei-
ner solch langen Zeit ein Problem sein wird. Aber dieses
Problem gibt es auch schon heute, wenn es sich um eine
Vergewaltigung handelt, für die eine 20-jährige Verjäh-
rungsfrist gilt. Wir sehen an einem ganz aktuellen Fall,
dass die Beweislage selbst dann sehr schwierig sein
kann, wenn die Vorgänge noch nicht allzu lange zurück-
liegen. Es ist eine Frage, die im Einzelfall von einem
Gericht geklärt werden muss.

Es geht darum, den Opfern die Möglichkeit zu eröff-
nen, sich für eine Strafverfolgung zu entscheiden. Ich
weiß, die Frau Ministerin hält das zeitnahe Nachgehen
von Missbrauchsvorwürfen für die sinnvollere Möglich-
keit. Ich sage Ihnen: Wir sollten das eine tun, ohne das
andere zu lassen. Selbstverständlich ist es wichtig und
sinnvoll, zeitnah auf Missbrauchsvorwürfe zu reagieren.
Wir sollten aber für all die Menschen, die sich im Zuge
der Debatte, die in den letzten Monaten stattgefunden
hat, endlich getraut haben, sich zu outen, ein Signal set-
zen. Schauen Sie sich einmal die Aufzeichnungen von
Frau Bergmann dazu an, wie viele sich jetzt geoutet ha-
ben, wie viele im Zuge dieser Welle das Gefühl hatten:
Ich bin kein Einzelfall; ich bin nicht schuld; anderen
ging es genauso. Wir sollten diesen Menschen zeigen,
dass wir bereit sind, ihnen die Möglichkeit zu eröffnen,
ihre Ansprüche geltend zu machen.


(Beifall bei der SPD)


Ich kann Sie nur auffordern, in dieser Frage nicht dem
Parteiengezänk zu verfallen; ich möchte hier nicht von
juristischem Fundamentalismus sprechen. Lassen Sie
uns wirklich darüber nachdenken, wie wir diesen Men-
schen sinnvollerweise helfen können. Wir haben dazu ei-
nen Vorschlag unterbreitet. Ich finde, wir sollten die an-
stehende Diskussion dafür nutzen, unser aller Anliegen,
Opfern von sexuellem Missbrauch unterstützend zur
Seite zu stehen, gerecht zu werden.

Ich danke Ihnen und freue mich auf angeregte Dis-
kussionen im Rechtsausschuss.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1707120800

Ansgar Heveling hat jetzt für die CDU/CSU-Fraktion

das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)


Ansgar Heveling (CDU):
Rede ID: ID1707120900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Keine Frage: Die SPD-Fraktion hat mit ihrem Entwurf ei-
nes Gesetzes zur Verlängerung der straf- und zivilrechtli-
chen Verjährungsfristen bei sexuellem Missbrauch von
Kindern und minderjährigen Schutzbefohlenen ein ernstes
Thema aufgegriffen. Ohne Zweifel: Wir sollten eine ernst-
hafte Debatte darüber führen; denn das Anliegen ist insbe-
sondere aus dem Blickwinkel der Opfer zu wichtig, als
dass wir es für parteipolitische Spielchen nutzen sollten.
Da gebe ich Ihnen, Frau Kollegin Lambrecht, vollkom-
men recht. Ich habe das Gefühl, dass Ihnen der Gesetzent-
wurf ein ernsthaftes Anliegen ist.

Ich stelle mir allerdings – bevor ich zur Sache komme –
trotzdem die Frage, ob der heutige Tag der richtige Zeit-
punkt für die Einbringung des Gesetzentwurfs und für
die ohne Zweifel notwendige Debatte ist. Der Gesetzent-
wurf befasst sich mit einem Problemkreis, der auch zen-
traler Gegenstand der Diskussionen des runden Tisches
„Sexueller Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und
Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrich-
tungen und im familiären Bereich“ ist. Seit Ende April
befasst sich der runde Tisch mit sämtlichen Facetten des
Problemkreises des sexuellen Missbrauchs. Er ist aufge-
fordert, Handlungsoptionen für Regierung und Politik zu
erarbeiten. Die Fragen der zivil- und strafrechtlichen
Verjährung spielen dabei eine zentrale Rolle. Von allen
Beteiligten des runden Tisches und auch von der Politik
wurde von Beginn an betont, dass es wichtig sei, die Be-
troffenen ins Zentrum zu rücken. Auch Sie von der SPD-
Fraktion haben in einem Positionspapier darauf hinge-
wiesen – ich darf zitieren –:

Die Arbeit des runden Tisches wird nur erfolgreich
sein können, wenn vor allem auch die Betroffenen
sexueller Gewalt am runden Tisch umfassend Ge-
hör finden.

Das ist absolut richtig; das war und ist das Ziel des run-
den Tisches. Es ist auch ein wesentlicher Teil der Aufga-
ben der Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung
des sexuellen Kindesmissbrauchs.

Wenn es aber darauf ankommt, den Betroffenen am
runden Tisch umfassend Gehör zu verschaffen und sie
ins Zentrum zu rücken, dann sollten wir das aus meiner
Sicht insofern respektieren, dass wir den runden Tisch
erst einmal in Ruhe zu Ende arbeiten lassen, bevor wir
hier im Deutschen Bundestag anfangen, aus dem Ge-
samtkontext herausgelöst über Einzelthemen zu debat-
tieren. Ich meine, das hätte der Respekt vor dem runden
Tisch durchaus geboten.

Soweit es mir bekannt ist, ist die nächste Sitzung des
runden Tisches für den 1. Dezember angesetzt. In dieser
Sitzung soll ein Zwischenbericht an die Bundesregie-
rung verabschiedet werden. Ich bin mir sicher, dass ein
Zuwarten von einigen Tagen dem nachvollziehbaren An-
liegen der SPD nicht geschadet hätte.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gute Bemerkung!)


Das hätte schon deswegen nicht geschadet, weil wir,
so glaube ich, in allen Fraktionen anerkennen, dass wir
über den strafrechtlichen und strafgesetzlichen Umgang
mit sexuellem Missbrauch ebenso reden müssen wie
über die zivilrechtlichen, insbesondere die schadenser-
satzrechtlichen Fragen. Die schrecklichen Vorkomm-
nisse, die landauf, landab Ende des vergangenen Jahres
und zu Beginn dieses Jahres bekannt geworden sind, ma-
chen es erforderlich, den Dreizehnten Abschnitt des Be-
sonderen Teils des Strafgesetzbuchs, die Straftaten ge-
gen die sexuelle Selbstbestimmung, aus einem neuen
Blickwinkel zu betrachten. Der sexuelle Kindesmiss-
brauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in pri-
vaten und öffentlichen Einrichtungen ist zwar schon
lange Gegenstand der strafrechtlichen Schutznorm – das
steht außer Frage –, die Dimension langjährig unent-
deckter Straftaten hat den Rahmen des für uns Vorstell-
baren indes gesprengt. Das zeigt, dass Handlungsbedarf
besteht.

Bei aller Handlungsnotwendigkeit sollten wir aber ei-
nes bedenken: Das Strafgesetzbuch ist ein vielfältig in-
einandergreifendes Räderwerk von aufeinander abge-
stimmten Normen, dessen gesellschaftliche Akzeptanz
nicht zuletzt wesentlich darauf beruht, dass jedermann
seine Systematik durchschauen kann, wenn er es denn
will. Das gilt nicht zuletzt für die Opfer. Auch sie müs-
sen auf das System vertrauen können. Ständige Durch-
brechungen systematischer Linien sind nicht hilfreich.
Das sollten wir bei der Diskussion zumindest bedenken.
Wir wollen schließlich nicht nur debattieren und irgend-
welche Regelungen beschließen, sondern wir wollen Re-
gelungen beschließen, die möglichst effektiv und nach-
vollziehbar sind.

Die Debatte heute kann verständlicherweise nur dazu
dienen, den gesamten Problemkomplex anzureißen und
aufzuzeigen, dass mit dem Gesetzentwurf mehr grundle-
gende Fragen verbunden sind, als der siebenseitige Ge-
setzentwurf und die fünf relativ kompakt erscheinenden
Artikel vermuten lassen.

Zu dem Gesetzentwurf im Einzelnen. Die Perspek-
tive des Gesetzentwurfs ist grundsätzlich richtig. Der
strafrechtliche Umgang mit sexuellem Missbrauch von
Kindern und minderjährigen Schutzbefohlenen ist in
den vergangenen 15, 20 Jahren mehrfach Gegenstand
der rechtspolitischen Debatte gewesen, auch hier im
Deutschen Bundestag. Es hat dazu eine ganze Reihe Ent-
scheidungen gegeben. Wenn man sich die Gesetzesbe-
gründungen und Plenarprotokolle aus dieser Zeit an-
schaut, lässt sich feststellen, dass der Blickwinkel stets
auf die Tatumstände gerichtet war, bei denen von einer
familiären und sozialen Nähebeziehung zwischen Opfer
und Täter und daraus resultierenden Abhängigkeiten
ausgegangen wurde.

Institutionenbedingte Abhängigkeiten haben in der
Diskussion der vergangenen Jahre eher eine untergeord-
nete Rolle gespielt. Zum Beispiel bei der Neufassung
von § 78 b des Strafgesetzbuchs durch das 30. Straf-
rechtsänderungsgesetz im Jahr 1994 wurde als Begrün-
dung für das Ruhen der Verjährung bis zur Vollendung
des 18. Lebensjahres insbesondere darauf abgestellt,
dass – ich zitiere aus der Begründung – die Täter, die
überwiegend der Familie des Opfers oder dem Bekann-





Ansgar Heveling


(A) (C)



(D)(B)

tenkreis der Familie angehören, die Opfer unter Druck
setzten und daher eine Verfolgung der Straftat erst er-
möglicht werde, wenn sich das Opfer aus der Nähebezie-
hung in tatsächlicher Hinsicht herauslöse.

Angesichts der jetzt im Fokus stehenden Fälle, insbe-
sondere in Schulen, müssen wir einsehen, dass die Taten
im familiären und sozialen Nahfeld sicherlich immer
noch die größte Gruppe ausmachen, die Fälle in Institu-
tionen aber nicht aus dem Blick gelassen werden dürfen.
Auch hier wirken Abhängigkeits- und Machtverhält-
nisse, die von den Tätern ausgenutzt werden. Aber sie
wirken anders als im familiären und sozialen Nahfeld.

Wir müssen auch einsehen, dass sich unsere Erkennt-
nisse verändert haben. Sie haben sich dahin gehend wei-
terentwickelt, dass es nicht nur auf das Herauslösen des
Opfers aus der Nähebeziehung zwischen Täter und Op-
fer ankommt, sondern dass es oftmals so ist – Frau Kol-
legin Lambrecht, Sie haben zwei Fälle aufgezeigt; inso-
fern ist die Grundannahme Ihres Gesetzentwurfs
vollkommen richtig –, dass die Opfer durch das Gesche-
hen oftmals so schwer traumatisiert sind, dass sie erst im
fortgeschrittenen Erwachsenenalter in der Lage sind, ihr
Schweigen zu brechen. Insofern ist der Ausgangspunkt
des Gesetzentwurfs richtig; das erkennen wir an. Wir
müssen in der Tat überlegen, ob aus den neuen Erkennt-
nissen die Handlungsnotwendigkeit erwächst, neue
strafrechtliche Regelungen im Strafgesetzbuch zu tref-
fen.

Wenn wir die Notwendigkeit sehen, im Strafgesetz-
buch Änderungen vorzunehmen, sollten wir uns genau
überlegen, welche Lösung systematisch vorzugswürdig
ist. Sie schlagen die Einführung einer neuen, bisher nicht
bekannten Sonderverjährungsvorschrift für die Strafta-
ten nach §§ 174 bis 174 c und § 176 Strafgesetzbuch vor.
Das ist ein denkbarer Lösungsansatz.

Aber wir müssen sehen: Durch eine Sonderverjäh-
rungsvorschrift wird die Systematik der Verjährungsvor-
schriften nach § 78 Abs. 3 Strafgesetzbuch durchbro-
chen. Das kann man durch eine Spezialvorschrift
sicherlich einmal tun. Das kann man auch zweimal tun.
Der Druck, es zu tun, wächst natürlich. Wenn man es
mehrmals tut und es zur x-ten Durchbrechung kommt,
wird es unsystematisch. Das sollte zumindest sehr wohl
abgewogen sein.

Wir sollten uns aber auch mit der Frage befassen, ob
es nicht andere Möglichkeiten gibt, dem Anliegen ge-
recht zu werden. Da ist aus meiner Sicht an die Rechts-
folgenseite und damit an den Strafrahmen zu denken.
Auch das ist keine neue Diskussion; diese Debatte ist
hier im Bundestag schon häufiger geführt worden. Das
Ganze hat schon bei den früheren Debatten um den Drei-
zehnten Abschnitt des Besonderen Teils des Strafgesetz-
buchs eine Rolle gespielt, so bei der Diskussion über das
Gesetz zur Änderung der Vorschriften über die Straftaten
gegen die sexuelle Selbstbestimmung und zur Änderung
anderer Vorschriften im Jahr 2003. Auf diesen Gesetz-
entwurf nehmen Sie in Ihrem jetzigen Gesetzentwurf
ausdrücklich Bezug.
Keine Frage: Wenn wir in eine Debatte über den
Strafrahmen einsteigen sollten und damit in die Diskus-
sion um die Aufstufung von Straftatbeständen zu Verbre-
chen, etwa beim § 176 Strafgesetzbuch, dann reden wir
über eine größere Dimension als bloß über die Neufas-
sung von Verjährungsfristen. Systematisch ist es aber
vielleicht die bessere Stelle, darüber nachzudenken.
Denn bei der Diskussion über den Strafrahmen geht es
materiell um die Schuldbewertung und nicht um im Kern
prozessuale Regelungen wie bei den Verjährungsvor-
schriften.

Sollten wir bei der Diskussion um die Verlängerung
von Verjährungsfristen bleiben, dann müssen wir aber
auch abwägen und uns die Frage stellen: Wird den Op-
fern wirklich geholfen, wenn die Verjährung auf einen
langen Zeitraum verlängert wird? Es gehört zur Typik
der Tatumstände in besonderen Näheverhältnissen und
in den betroffenen Institutionen, dass Beweisschwierig-
keiten auftreten können. Das mag nach der langen Zeit
die Beweisführung erschweren. Am Ende kann dann
zwar stehen, dass ein Verfahren eingeleitet wird, es aber
nicht mehr mit dem vom Opfer erhofften Abschluss, den
Täter seiner gerechten Strafe überantwortet zu sehen, en-
det. Hier müssen wir sehr genau hinschauen und überle-
gen.

Das heißt nicht von vornherein, dass der Weg nicht
trotz der Beweiserschwerung richtig sein mag. Mögli-
cherweise geben uns hier die Ergebnisse des runden Ti-
sches oder die Arbeit des Unabhängigen Beauftragten
hilfreiche Hinweise. Genauso ist es nicht auszuschlie-
ßen, dass es den Opfern hilft, wenn sie sehen, dass sich
die Staatsanwaltschaft oder ein Gericht inhaltlich mit der
Sache befassen, dass es nicht aus formalen Gründen
scheitert und dass das Verfahren abgeschlossen wird.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Fazit: Der Gesetzentwurf der SPD greift ein wichtiges
Anliegen auf. Darüber sind wir uns einig. Wir müssen
über den strafrechtlichen Umgang mit sexuellem Miss-
brauch von Kindern und minderjährigen Schutzbefohle-
nen beraten. Aber das Diskussionsfeld ist aus unserer
Sicht weiter, als der vorliegende Gesetzentwurf es zeigt.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1707121000

Halina Wawzyniak hat das Wort für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Halina Wawzyniak (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707121100

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Der Gesetzentwurf der SPD zur Verlängerung
der straf- und zivilrechtlichen Verjährungsvorschriften
bei sexuellem Missbrauch von Kindern und minderjähri-
gen Schutzbefohlenen ist gut gemeint. Wir tendieren
dazu, ihm zuzustimmen. Wir tun dies, weil wir die Situa-
tion von Opfern ernst nehmen. Wir tun dies, weil wir
insbesondere den Anspruch der Opfer auf zivilrechtli-





Halina Wawzyniak


(A) (C)



(D)(B)

chen Schadensersatz unterstützen wollen. Ich bin sehr
froh, dass im Gesetzentwurf deutlich formuliert wird,
dass den Opfern mit weiteren Straftatbeständen und ei-
ner Verschärfung von Strafandrohungen nicht geholfen
ist.


(Beifall bei der LINKEN)


Tatsächlich – das zeigte auch die Debatte am runden
Tisch der Justizministerin, die Herr Heveling schon er-
wähnt hat – muss es im Interesse der Opfer um mehr ge-
hen als um Verjährungsfristen und deren Verlängerung.

Bevor ich darauf zu sprechen komme, möchte ich
eine Bitte äußern: Lassen Sie uns in Zukunft nicht von
sexuellem Missbrauch an Kindern und Schutzbefohle-
nen sprechen, sondern von sexualisierter Gewalt.


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Richtig! Genau!)


Denn das Wort „Missbrauch“ impliziert immer, es gebe
auch einen „richtigen“ sexuellen Gebrauch an Kindern.

Wir stimmen dem vorliegenden Gesetzentwurf, zu-
mindest in seiner Tendenz, zu, weil wir dieses Thema
dadurch so in die Öffentlichkeit bringen wollen, dass
eine angemessene öffentliche Diskussion stattfindet und
potenziellen Tätern weiter gehende, vor allem präven-
tive Angebote unterbreitet werden können.

Aus unserer Sicht sind dabei zwei Richtungen zu un-
terscheiden:

Zum einen muss den Opfern geholfen werden. Aber
nachsorgende Opferhilfe hilft den Opfern nur bei der Be-
wältigung dieser traumatisierenden Erfahrungen. Sie
hilft nicht beim Schutz vor einer solchen Erfahrung.

Zum anderen muss man dafür sorgen, dass es gar
nicht erst zu einer solchen Straftat kommt. Wichtig ist
also präventive Opferhilfe. Diese erreicht man nur durch
präventive Täterhilfe. Wenn wir verhindern, dass Men-
schen zu Tätern werden, bewahren wir andere Menschen
davor, Opfer zu werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Es geht darum, dieses Thema aus sozialpsychologi-
scher Sicht zu beleuchten und Vorschläge zur Prävention
zu entwickeln. Deshalb ist es gut, dass die Mittel für das
Projekt „Kein Täter werden“ von Professor Beier von
der Berliner Charité aufgestockt werden.

Ein Blick auf die Ursachen sexualisierter Gewalt
könnte für die Entwicklung von Therapieangeboten hilf-
reich sein. Zu 60 Prozent handelt es sich um sogenannte
Ersatzhandlungen nicht kernpädophiler Männer. 90 Pro-
zent der Taten finden im familiären und bekannten Nah-
bereich statt. Und: Es sind alle sozialen Schichten be-
troffen.

Entgegen allgemein vorherrschenden Vorstellungen
ist der Täter eines sexualisierten Übergriffs nicht der
fremde Psychopath, der einem nachts im Park auflauert,
sondern – im Gegenteil – es handelt sich bei den Tätern
meist um Personen, die den Betroffenen bekannt oder
mit ihnen verwandt sind. Die Tat findet also häufig zu
Hause statt, wo sich die Betroffenen sicher fühlen. Diese
Tatsache verschlimmert häufig noch das Gefühl des
Ausgeliefertseins. Die vornehmliche Frage lautet also:
Wie können wir potenzielle Täter, im Regelfall Männer,
erreichen und motivieren, keine Übergriffe zu begehen?
Es geht darum, zu begreifen, was erwachsene Männer zu
Tätern werden lässt und wie wir darauf reagieren kön-
nen.

Hier kann ein bewusster Blick auf unsere noch immer
patriarchal strukturierte Gesellschaft hilfreich sein, eine
Gesellschaft, in der immer noch männlich dominierte
Rollenbilder existieren und das Aufwachsen der Jungen
bestimmen. Auch antiquierte Rollenbilder fördern sol-
che Taten. An dieser Stelle möchte ich auf die ausge-
zeichnete Studie von Professor Volker Linneweber aus
dem Jahr 1998 hinweisen, in der er unter anderem diese
Rollenbilder als tatfördernd bezeichnet hat.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Jungen-
arbeit muss gezielt ausgebaut werden. Der Bereich Män-
nerforschung sollte gezielt gefördert werden, an Schu-
len, Kitas und Universitäten. All dies kostet Geld. Aber
dieses Geld sollten wir ausgeben, um einen wirklichen
Opferschutz zu erreichen.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1707121200

Christian Ahrendt spricht für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Christian Ahrendt (FDP):
Rede ID: ID1707121300

Frau Präsidentin! Meine verehrten Kolleginnen und

Kollegen! Wir sind uns in einem Punkt einig: Der Miss-
brauch, dessen Ausmaß wir Anfang dieses Jahres zur
Kenntnis nehmen mussten, hat uns alle schockiert. Wir
haben festgestellt, dass dieses Thema in kirchlichen und
nichtkirchlichen Einrichtungen relevant ist. Wir haben
auch festgestellt, dass Missbrauch von Kindern überall,
in jeder gesellschaftlichen Gruppe, stattfinden kann. Wir
wissen, wie beklemmend diese Situation ist. Überall
dort, wo sich ein Kind eigentlich Geborgenheit und
Schutz erhofft, wird es in seiner Integrität zutiefst ver-
letzt.

Die Bundesregierung hat klug reagiert. Sie hat einen
runden Tisch eingesetzt und alle gesellschaftlich rele-
vanten Gruppen an der Diskussion beteiligt, wie man mit
diesem Thema umgeht, wie man sich den Problemen, die
mit diesem Thema verbunden sind, nähert und welche
Erkenntnisse wichtig sind, um die richtigen Schlüsse zu
ziehen.

An einer Stelle möchte ich Ihnen widersprechen. Ich
glaube, in Bezug auf die Frage, was zu tun ist, hat der
runde Tisch bereits viele Vorschläge erarbeitet. Hierzu
gehört – dies ist ein entscheidender Aspekt, um den Op-
fern einen Ausweg aus der Situation, in der sie gefangen
sind, zu ermöglichen –, Mehrfachvernehmungen von
Opfern, die sich getraut haben, eine Tat anzuzeigen, zu
vermeiden. Wenn Opfer sich zu einer Anzeige entschlos-
sen haben, müssen sie zunächst einmal die dadurch auf-
tretenden Probleme überwinden.






(A) (C)



(D)(B)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1707121400

Lassen Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Olaf

Scholz zu?


Christian Ahrendt (FDP):
Rede ID: ID1707121500

Gerne.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1707121600

Bitte schön.


Olaf Scholz (SPD):
Rede ID: ID1707121700

Herr Kollege, ich habe ein paar kurze Fragen: Stim-

men Sie mir zu, dass die Gesetze im Deutschen Bundes-
tag gemacht werden? Stimmen Sie mir zu, dass es sich
bei dem runden Tisch um eine Regierungskommission
handelt? Stimmen Sie mir auch zu, dass ursprünglich gar
nicht geplant war, Vertreter des Deutschen Bundestages
hinzuzuziehen, und dass dies erst passiert ist, nachdem
die Justizministerin einem Vorschlag von mir in einer
Debatte in diesem Haus gefolgt ist?


Christian Ahrendt (FDP):
Rede ID: ID1707121800

Ich stimme Ihnen zu, dass die Gesetze im Deutschen

Bundestag gemacht werden.


(Beifall des Abg. Frank Tempel [DIE LINKE])


Ich stimme Ihnen auch zu, dass der runde Tisch eine
sinnvolle Einrichtung ist. Selbstverständlich hat die Jus-
tizministerin, die den runden Tisch als Erste ins Ge-
spräch gebracht hat, auch Sorge dafür getragen, dass alle
Abgeordneten dieses Hauses gemeinsam beteiligt wer-
den. Ich glaube, es gab am runden Tisch gute Beratun-
gen, und wir sollten uns jetzt an dieser Stelle des Verfah-
rens nicht kleinlich über Einzelheiten streiten.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dieser Wettbewerb zwischen den Ministerinnen ist doch unsäglich!)


Lassen Sie mich noch einmal auf die entscheidende
Frage zurückkommen, welche Erkenntnisse wir durch
die Arbeit des runden Tischs gewonnen haben. Neben
der Lösung des Problems der Mehrfachvernehmung ha-
ben wir auch erarbeitet, dass wir den Opferschutz bei-
spielsweise dadurch verbessern müssen, dass den Be-
troffenen früh ein Opferanwalt zur Verfügung gestellt
wird. Wir haben auch gesagt, dass wir die Rechte der
Nebenkläger stärken müssen.

Es ist unbestritten, dass Sie mit Ihrem Antrag, auch
wenn Sie an dieser Stelle wirklich nur ein ganz kleines
Feld dessen bearbeiten, was man tun muss, ein richtiges
Anliegen verfolgen. Ich glaube, wir sind uns darin einig,
dass eine Verjährungsfrist von drei Jahren für die Gel-
tendmachung von Schadensersatzansprüchen im Zivil-
recht mitnichten ausreicht. Die Koalitionsfraktionen
haben sich schon sehr früh, im März, in einem gemeinsa-
men Papier darauf geeinigt, diese Verjährungsfrist zu
verlängern.

Wir haben uns auch auf Folgendes geeinigt: Die Ver-
jährungsfristen müssen vom gleichen Zeitpunkt an gel-
ten. Im Zivilrecht gibt es eine Hemmung bis zum
21. Lebensjahr, während es im Strafrecht nur ein Ruhen
bis zum 18. Lebensjahr gibt. Auch hier kann man etwas
tun.

Wir werden auch darüber nachdenken, ob es sinnvoll
ist, die Verjährungsvorschriften im Strafrecht auszuwei-
ten. Bei schwerem Missbrauch beträgt die Verjährungs-
frist bereits 20 Jahre. Ob das am Ende des Tages die
richtige Lösung ist, muss sich während der Beratungen
zeigen. Sie selber haben es in Ihrer Rede angesprochen,
Frau Lambrecht: Je länger eine Tat zurückliegt, umso
schwieriger wird die Beweiswürdigung. Deswegen ist es
ganz entscheidend, erst einmal die Mittel zu stärken,
durch die den Opfern aus ihrer Gefangenensituation he-
rausgeholfen wird, was dazu führt, dass die Tat früh an-
gezeigt und aufgeklärt wird und dass das Opfer durch
eine Bestrafung des Täters früh Gerechtigkeit erfährt.

Ich denke, dass die Regierung aufgrund der Erkennt-
nisse, die sie durch die Arbeit des runden Tischs gewon-
nen hat, ein gutes Gesamtkonzept vorlegen wird. Ihre
Vorschläge werden wir in den Beratungen gerne aufneh-
men.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1707121900

Das Wort hat Jerzy Montag für Bündnis 90/Die Grü-

nen.


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1707122000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Das ist wahrhaftig ein ernstes Thema. Ich will an dieser
Stelle sagen: Ich war ebenfalls entsetzt, als ich Anfang
dieses Jahres immer wieder lesen musste, zu welchen se-
xuellen Übergriffen und zu welchem sexuellen Miss-
brauch es vor langer Zeit in den unterschiedlichsten In-
stitutionen in Deutschland gekommen ist.

Ich war nicht so sehr entsetzt über die Straftaten – ich
bin Strafverteidiger und habe in meinem beruflichen Le-
ben erlebt, wozu Menschen fähig sind –, sondern ich war
vor allem entsetzt darüber, in welchem Ausmaß diese
Sexualstraftaten über Jahrzehnte hinweg verniedlicht
und vertuscht worden sind. Das fängt damit an, dass es
ein Tabu gab und gibt, darüber nicht zu reden, auch nicht
in der Familie, mit niemandem. Man musste sich als Op-
fer schämen. Es gab aber auch die manchmal sogar per-
fide Perfektion, mit der in den unterschiedlichsten Insti-
tutionen die Täter geschützt und gedeckt worden sind
und auf Opfer und ihre Familien Druck ausgeübt worden
ist, nichts preiszugeben.

Ich glaube, der richtige Ansatz, um zu verhindern,
dass sich so etwas in Zukunft bei uns wiederholt, besteht
darin, in allen gesellschaftlichen Bereichen dafür zu sor-
gen, dass über solche Straftaten gesprochen wird, dass
Opfer und ihre Familien das Gefühl bekommen, sie müs-
sen sich nicht schämen, wenn sie etwas offenlegen, und
dass die Institutionen von den Kirchen bis zu den Schu-
len und den freien Trägern ein entsprechendes Klima
schaffen und sich in ihren organisatorischen Zusammen-
hängen verpflichten, mit der Polizei und der Staats-





Jerzy Montag


(A) (C)



(D)(B)

anwaltschaft zusammenzuarbeiten und diese Dinge von
Anfang an zu klären, statt sie zu vertuschen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


In den allermeisten Fällen war es nicht so, als ob man
zum Zeitpunkt der Tatbegehung in den 60er- und 70er-
Jahren davon nichts gewusst hätte. Es gab auch damals
Fälle, in denen die Tat nur Tätern und Opfern bekannt
war. Doch in den allermeisten Fällen war es in den Schu-
len, Kollegs oder wo auch immer bekannt; aber es wurde
vertuscht. Ich halte den eingangs beschriebenen Weg,
wie wir in Zukunft mit diesem Thema umgehen sollen,
für richtig.

Ich warne ausdrücklich davor, das Pferd von hinten
aufzuzäumen und bei der Verlängerung der Verjährungs-
fristen anzusetzen. Ich habe heute nicht genug Zeit,
werde in den Beratungen im Rechtsausschuss aber noch
erläutern, aus welchen fachlichen Gründen ich der Auf-
fassung bin, dass die Kolleginnen und Kollegen von der
SPD mit ihren Vorschlägen nicht richtig liegen.

An dieser Stelle will ich auch als Praktiker vor Ge-
richt eines sagen: Wir geben den Opfern Steine statt
Brot, wenn wir ihnen noch nach 20 oder 25 Jahren er-
möglichen, einen Zivilprozess anzustrengen und bei der
Polizei Anzeige zu erstatten. Diese Opfer werden wegen
der unglaublich schwierigen und schlechten Beweis-
situation in den allermeisten Fällen nur eine Klageab-
weisung im Zivilverfahren oder einen Freispruch für den
Beschuldigten erreichen. Was haben die Opfer davon,
wenn man ihnen suggeriert, sie könnten mit den Mitteln
der Justiz zu ihrem Recht kommen, obwohl wir genau
wissen, dass das nach 20, 25 oder 30 Jahren so gut wie
nicht mehr möglich ist?

Es gibt Vorschläge – auch wir werden welche vorle-
gen –, wie man am geltenden Recht Verbesserungen vor-
nehmen kann. Wir sind der festen Überzeugung, dass
wir uns zuallerletzt mit der Verlängerung der Verjäh-
rungsfristen befassen sollten.

Danke schön.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1707122100

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/3646 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu andere Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 11 a und 11 b auf:

a) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Freiheit für Gilad Schalit

– Drucksache 17/3422 –
b) Beratung des Antrags der Fraktion DIE LINKE

Durch einen humanitären Akt Frieden beför-
dern – Gilad Schalit freilassen

– Drucksache 17/3431 –

Verabredet ist, hierzu eine halbe Stunde zu debattie-
ren.

Der erste Redner in der Debatte ist Philipp Mißfelder
für die CDU/CSU-Fraktion.


Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1707122200

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wir beraten heute einen Antrag, der dem Aus-
wärtigen Ausschuss insgesamt sehr am Herzen liegt und
von dem wir uns eine Wirkung in Richtung Israel sowie
in Richtung all derjenigen versprechen, die weltweit das
dramatische Schicksal des jungen Soldaten Gilad Schalit
verfolgen.

Verschiedene andere Parlamente auf der Welt haben
sich dieses Themas schon angenommen und deutlich ge-
macht, dass sie sich für die Freilassung von Gilad Schalit
einsetzen. Das wollen wir heute mit der Verabschiedung
des vorliegenden Antrags ebenfalls tun. Ich danke des-
halb allen Fraktionen, dass sie sich dieses Themas ange-
nommen haben. Ich bedanke mich außerdem bei den
Obleuten und bei allen anderen Beteiligten für die große
Ernsthaftigkeit, mit der wir dieses Zeichen heute in die-
sem Haus gemeinsam setzen wollen. Ich rufe all denjeni-
gen, die sich diesem Thema verpflichtet fühlen oder
diese Debatte aus Interesse verfolgen, zu, dass wir ein-
mütig für die Freiheit von Gilad Schalit einstehen sowie
dafür werben und kämpfen wollen, dass er freigelassen
wird.


(Beifall im ganzen Hause)


Gilad Schalit ist als junger Soldat in die Gefangen-
schaft der Hamas geraten. Die Hamas ist eine Terror-
organisation; dies gilt es anlässlich dieser Debatte deut-
lich zu machen. Es ist vor dem Hintergrund der
Bedrängnis, in der sich das Volk Israel und der jüdische
Staat befinden, eine besondere Form der Kriegsführung,
wenn das Leid von Gilad Schalit in Videos öffentlich zur
Schau gestellt wird. Es ist inhuman, dass seit Jahren kein
Zugang des Roten Kreuzes möglich ist und dass die El-
tern in trauriger Ungewissheit über das Wohl ihres Soh-
nes leben müssen. Sie wissen nicht, ob er lebt und, wenn
ja, unter welchen Bedingungen. Wir fordern heute als
humanen Akt einen uneingeschränkten Zugang des Ro-
ten Kreuzes.

Ich bitte diejenigen, die der Hamas nahestehen und
die heutige Debatte verfolgen, sowie diejenigen, die in-
nerhalb der Hamas politische Verantwortung wahrneh-
men und immer sehr genau beobachten, was wir in die-
sem Hause diskutieren, um diesen humanen Akt: Setzen
Sie sich für Gilad Schalit ein und ermöglichen Sie zu-
mindest den Zugang des Roten Kreuzes, um seinen El-
tern zumindest ein Stück weit Gewissheit zurückzuge-
ben.





Philipp Mißfelder


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Das ganze israelische Volk wartet auf die Heimkehr
von Gilad Schalit. Um dies auch denjenigen nahezubrin-
gen, die heute das erste Mal den Namen dieses im Alter
von 19 Jahren entführten israelischen Soldaten hören:
Das gesamte israelische Volk diskutiert diese Frage mit
sehr großer Aufmerksamkeit und emotionaler Betroffen-
heit. Wir alle können uns das nicht wirklich vorstellen,
weil wir als Deutsche nicht in einer solchen Situation le-
ben müssen. Die Umstände, unter denen junge Rekruten
in Deutschland zur Bundeswehr kommen, sind ganz an-
dere als diejenigen, unter denen junge israelische Män-
ner zur Armee kommen. Gilad Schalit hat sich in einem
tapferen Kampf der Sache seines Landes und der Sicher-
heit der Bürger in Israel verpflichtet gefühlt. Er hat dafür
ein großes persönliches Risiko auf sich genommen und
bislang bitter dafür bezahlt. Deshalb nimmt sich das is-
raelische Volk dieses einzelnen Soldaten so engagiert an.

Mancher mag sagen, dass es doch nur ein Soldat ist.
Aber von Anfang an ging es nicht nur um einen Solda-
ten, sondern auch um die große Symbolik dahinter.
Wenn man sich anschaut, wie in der Gedenktradition Is-
raels mit toten Soldaten umgegangen wird, erkennt man,
dass der Umgang mit diesem einzelnen Soldaten auch
kulturell eine besonders wichtige Frage ist.

Das setzt die Terrororganisation Hamas bewusst ein,
um die israelische Gesellschaft in Angst und Schrecken
zu versetzen, um die Soldaten zu demoralisieren und da-
mit die Wehrhaftigkeit der israelischen Gesellschaft in-
frage zu stellen. Das lassen wir nicht zu. Wir, die Bun-
desrepublik Deutschland und der Deutsche Bundestag,
setzen uns nicht nur heute, sondern auch bei vielen ande-
ren Gelegenheiten für die Freilassung von Gilad Schalit
und darüber hinaus für die Anerkennung des Existenz-
rechts Israels als jüdischer Staat sowie dafür ein, dass
der Friedensprozess in Gang kommt. Auch unser Bun-
desaußenminister hat das vor wenigen Tagen getan, als
er den Vater von Gilad Schalit in Israel besucht hat.

Diese Themen haben wir in diesem Hause schon oft
beraten, und das wollen wir auch in Zukunft tun. Das
Ganze geschieht vor dem Hintergrund, dass Deutschland
aufgrund seiner geschichtlichen Erfahrung sowie der
Verantwortung, die sich daraus ableitet, eine besondere
Rolle einnimmt.

Wir können zumindest aus meiner Sicht keine neu-
trale Position einnehmen. Wir stehen vielmehr fest an
der Seite Israels. Die Bundeskanzlerin hat am 18. März
2008 in ihrer bemerkenswerten Rede vor der Knesset
zum 60. Jahrestag der Gründung des Staates Israel ge-
sagt:

… das Bewusstsein für die historische Verantwor-
tung und das Eintreten für unsere gemeinsamen
Werte – das bildet das Fundament der deutsch-is-
raelischen Beziehungen von ihren Anfängen bis
heute.

Das hat sich seit 2008 nicht geändert, ganz im Gegenteil:
Die Bande sind sogar noch enger geworden, gerade an-
gesichts der Tatsache, dass in anderen Ländern größere
Zweifel an der Politik Israels geäußert werden. Auch wir
sind nicht frei von Kritik, und unter Freunden ist es auch
möglich, offen und kritisch zu diskutieren. Ich sage aber
auch: Die Erwartungshaltung der israelischen Gesell-
schaft und der israelischen Politik gegenüber der deut-
schen Politik ist riesig groß. Sie ist wahrscheinlich viel
größer, als die Erwartungshaltung früher gegenüber den
Vereinigten Staaten war; denn Israel hat gemerkt, dass es
voller Sorge die Entwicklung in Amerika beobachten
muss. Vor diesem Hintergrund müssen wir hier sehr
ernsthaft und aufrichtig diskutieren. Ich kann für mich
persönlich sagen – ich weiß, dass ich nicht für alle in
diesem Haus spreche –, dass Deutschland nicht einfach
ein neutraler Vermittler ist, sondern dass Deutschland in
diesem Konflikt Partei ist, nämlich Partei Israels.

Heute geht es nicht nur darum, für eine Zwei-Staaten-
Lösung und ein friedliches Miteinander im Nahen Osten
zu werben, sondern es geht vor allem darum, ein Zeichen
für einen jungen Mann zu setzen, der sich für sein
Staatswesen eingesetzt hat, für Gilad Schalit, dessen
Freilassung wir heute hier fordern.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. h. c. Gernot Erler [SPD] und Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE])



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1707122300

Nächster Redner ist der Kollege Christian Lange für

die SPD-Fraktion.


Christian Lange (SPD):
Rede ID: ID1707122400

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Seit über vier Jahren ist Gilad Schalit in den
Händen von Terroristen; besser gesagt: genau seit
1 600 Tagen. Er wurde bei einem Angriff der Hamas und
weiterer radikaler palästinensischer Terrorgruppen auf
einen Posten der israelischen Armee am 25. Juni 2006
bei Kerem Schalom entführt. Zwei Kameraden von
Gilad Schalit wurden bei dem Angriff getötet. Der da-
mals 19-jährige Schalit wurde verletzt und entführt.

Zur Erinnerung: Schalit befand sich auf israelischem
Territorium, als er entführt wurde, nicht auf palästinensi-
schem Gebiet. Der Entführte ist israelischer Staatsbürger
und besitzt auch die französische Staatsangehörigkeit.
Auch wir Europäer sind also zumindest mittelbar davon
betroffen. Wir erinnern uns alle an die unmittelbaren
Folgen der Entführung, als Israel 2006 mit verschiede-
nen Militäraktionen versuchte, die Hamas zu besiegen
und Schalit zu befreien. Ohne Erfolg. Tote und Verletzte
auf beiden Seiten waren die Folge. Der Friedensprozess
war erneut unterminiert, und Hass und Gewalt waren er-
neut erzeugt.

Wir alle wissen, dass normalerweise individuelle
Fälle nicht Gegenstand eines Antrags im Deutschen
Bundestag sind. Ansonsten hätten wir vermutlich wö-
chentlich Anträge über aus politischen Gründen ent-
führte Menschen zu behandeln. Doch diese menschliche





Christian Lange (Backnang)



(A) (C)



(D)(B)

Katastrophe können wir als Deutscher Bundestag wie
auch viele andere Parlamente der Welt – mein Vorredner
hat es erwähnt – nicht einfach ignorieren. Deshalb mel-
den wir uns heute hier zu Wort.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Deshalb sage ich auch ganz deutlich: Die Freilassung
von Gilad Schalit muss bedingungslos erfolgen. Seit über
vier Jahren ist Gilad Schalit in den Händen von Terroris-
ten. Nicht einmal das Internationale Rote Kreuz erhält
Zugang zu ihm. Die Hamas unterbindet sogar entgegen
der dritten Genfer Konvention von 1949 jegliche Kom-
munikation mit seiner Familie. Das letzte Lebenszeichen
– wir erinnern uns alle – war ein ziemlich genau vor ei-
nem Jahr veröffentlichtes, etwa zweiminütiges Video, auf
dem der verzweifelte Schalit um seine Freilassung bat.
Im Gegenzug für das Lebenszeichen ließ die israelische
Regierung insgesamt 20 Palästinenserinnen aus dem Ge-
fängnis frei. Zuvor konnte im Oktober 2008 über den
französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy, den syri-
schen Präsidenten Assad und den katarischen Emir ein
Brief der Familie an Schalit übermittelt werden.

Seit etlichen Jahren bin ich selbst oft mehrmals im
Jahr in Israel und in den palästinensischen Gebieten und
stehe in vielerlei Kontakt zu israelischen Vertretern aus
Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft. Jeder, der in
den vergangenen Jahren in Israel gewesen ist, weiß, wie
groß die Solidarität mit dem entführten Gilad Schalit ist.
An Autoantennen, an Koffern, an Rucksäcken oder
Handtaschen sieht man gelbe Bänder, die an Schalit erin-
nern sollen; an Häusern und an Stellwänden kleben Pos-
ter mit dem Foto Schalits und den Schriftzügen, dass
man ihn nicht vergesse. Das Schicksal Schalits eint in
der Tat alle Israelis, egal ob sie säkular oder religiös
sind, ob sie sich politisch links oder rechts verorten.

Heute konnten wir in der israelischen Onlinezeitung
Ynet einen Brief der Mutter, Aviva Schalit, an Premier-
minister Netanjahu lesen. Ich will die dort zitierten
Worte einfach wiederholen. Sie schrieb an den israeli-
schen Premierminister:

Gilad ist am Leben, in Gaza. Ich weiß nicht, ob er
morgen noch am Leben sein wird. Sie und nur Sie
sind für sein Leben verantwortlich. Bitte geben Sie
diese Verantwortung nicht an Kabinette oder Gene-
räle ab, nur um sie selbst los zu sein.

Ich denke, wir können diese Worte einer verzweifel-
ten Mutter gut nachvollziehen.

Ich will ebenso sagen: Auch viele Palästinenser, mit
denen ich gesprochen habe, verurteilen die Entführung
Schalits und das Verhalten der Hamas aufs Schärfste und
haben Mitgefühl mit der Familie Schalits.

Aber nicht nur in Israel, sondern auch bei uns in
Europa solidarisieren sich Tausende von Menschen mit
dem entführten jungen Mann, und das nicht „nur“ in der
jüdischen Gemeinde. Auch in meinem Wahlkreis, in
meiner Heimatgemeinde Backnang zum Beispiel, haben
Bürgerinnen und Bürger Unterschriften gesammelt und
sie sogar persönlich in Israel dem Vater Schalits über-
reicht.

Trotz des traurigen Anlasses ist diese Solidarität je-
doch auch ein Zeichen dafür, dass die deutsch-israeli-
schen Beziehungen weiterhin intensiv und lebendig sind,
nicht nur auf politischer Ebene, sondern eben auch vor
Ort. Ich denke, dass man unseren Bürgerinnen und Bür-
gern für ihr Engagement und ihre Solidarität für Gilad
Schalit an dieser Stelle von ganzem Herzen danken
sollte.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Meine Damen und Herren, ich möchte mich der Reso-
lution des US-Kongresses anschließen, die eine bedin-
gungslose Freilassung von Schalit fordert. Auch das
Nahostquartett hat am 30. Mai 2007 in Berlin eine um-
gehende Freilassung des israelischen Stabsgefreiten
ohne Vorbedingungen gefordert.

Ich begrüße auch die Reise des Bundesaußenminis-
ters Westerwelle in den Gazastreifen. Mit seinem Besuch
hat er die moderaten Kräfte in Gaza unterstützt, ohne mit
der Hamas zu sprechen, und zugleich deutlich gemacht,
dass sich Deutschland für eine Verbesserung der wirt-
schaftlichen und sozialen Situation Gazas einsetzt. Er
war auch, was ich für wichtig halte, in Sderot. Ich bin im
Frühjahr ebenfalls dort gewesen. Seit Jahren wird die
Bevölkerung Sderots durch die Raketenangriffe aus dem
Gazastreifen terrorisiert.

Wir sagen Ja zu Israel, wir sagen Ja zum Existenz-
recht Israels, und wir sagen Ja zur Zwei-Staaten-Rege-
lung. Ich meine, das gehört zusammen. Deshalb will ich
es an dieser Stelle auch erwähnt haben.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Heute freilich geht es um einen jungen israelischen
Mann, der seit über vier Jahren von Terroristen gefangen
gehalten wird, ohne Kontakte zur Außenwelt, ohne Kon-
takte zur seiner Familie, ohne Zugang zum Internationa-
len Roten Kreuz.

Deshalb ist unser gemeinsamer Antrag auch so wich-
tig, dem jeder hier im Bundestag zustimmen kann und
sollte. Die Bundesregierung soll sich auch weiterhin ge-
meinsam mit ihren Partnern mit größtem Nachdruck für
die Freilassung Schalits einsetzen, und ich bin mir si-
cher, sie wird dies auch tun. Schalit muss endlich, nach
1 600 Tagen, zu seiner Familie und in die Freiheit zu-
rückkehren dürfen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1707122500

Der Kollege Dr. Rainer Stinner ist nun der nächste

Redner für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Rainer Stinner (FDP):
Rede ID: ID1707122600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir behandeln heute ein Thema mit hoher Symbolkraft
und großer politischer Sprengkraft. Wir reden über eine
einzelne Person. Jawohl. Aber diese Person steht für ein
persönliches Schicksal in einem furchtbaren Konflikt,
der seit Jahren auf beiden Seiten viele Opfer fordert.
Diese Person steht für die Unmenschlichkeit der Hamas,
die sich weigert, das Überlebens- und Menschenrecht
des israelischen Volkes, das über 2 000 Jahre geschun-
den worden ist, anzuerkennen. Dieses Thema steht für
die unmenschliche Hamas, die Menschenrechte mit Fü-
ßen tritt, der das Leben von anderen Menschen nichts
wert ist und die dennoch glaubt, dafür internationale Zu-
stimmung zu bekommen.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, auch von
meiner Fraktion sagen wir der Hamas ganz deutlich: Sie
kann von uns für ihre Belange, für die Belange des pa-
lästinensischen Volkes, keine Unterstützung verlangen,
solange sie in dieser Weise Politik gegen Israel betreibt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die Hamas muss wissen – das sage ich auch sehr
deutlich –, dass sie eigentlich gegen die eigenen Interes-
sen der Palästinenser verstößt. Was sind die Interessen
der Palästinenser? Die Interessen der Palästinenser be-
stehen darin – dem stimmen wir alle zu –, dass auch Pa-
lästina hoffentlich eines nicht zu fernen Tages in einem
eigenen Staatswesen in sicheren Grenzen leben und sein
Schicksal selbst bestimmen kann. Das wird aber nur ge-
lingen können – das rufen wir der Hamas von hier aus
heute Abend gemeinsam zu –, wenn die Hamas ihre Ein-
stellung, ihre Position zur Existenz Israels deutlich än-
dert.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir nehmen die heutige Debatte zum Anlass, um dies
deutlich zum Ausdruck zu bringen. Ich bin Ihnen, liebe
Kolleginnen und Kollegen, Herr Lange, Herr Mißfelder,
sehr dankbar dafür, dass wir das hier gemeinsam in der-
selben Tonalität, im selben Geist vortragen. Ich finde es
sehr gut, dass wir im Deutschen Bundestag gegenüber
der Öffentlichkeit in unserem Land, gegenüber der Öf-
fentlichkeit in Israel, aber natürlich auch gegenüber der
Öffentlichkeit in Palästina deutlich machen, auf welcher
Seite wir stehen: auf der Seite der Menschlichkeit und
auf der Seite einer zukunftsfähigen gemeinsamen Zwei-
Staaten-Lösung.


(Mechthild Rawert [SPD]: Das ist nur recht einseitig!)


Die Behandlung des Antrags erfolgt in einer, wie wir
alle wissen, sehr komplizierten und konfliktbeladenen
Zeit in dieser Region. Ich darf mich dem Dank von Ih-
nen, lieber Herr Lange, an unseren Außenminister an-
schließen, der eine, wie ich finde, sehr erfolgreiche
Reise im Nahen Osten durchgeführt hat und der genau
das Richtige getan hat. Er hat nämlich im Gazastreifen
gegenüber der Hamas eine deutliche Sprache gespro-
chen, und er hat in Israel deutlich gesagt, was unsere An-
forderungen an die israelische Politik sind. Wir sehen
natürlich, dass eine Friedenslösung nur erreicht werden
kann, wenn beide Seiten die für beide Seiten, wie wir
alle wissen, bitteren Kompromisse eingehen werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir wissen uns als
Deutscher Bundestag in guter Gesellschaft, in Gesell-
schaft von Kolleginnen und Kollegen Parlamentariern in
vielen Ländern der Welt, in den Vereinigten Staaten, in
beiden Häusern des Kongresses, aber auch im Europäi-
schen Parlament. Wir fordern gemeinsam, dass Gilad
Schalit freigelassen wird, dass Gilad Schalit die Basis-
menschenrechte, auf die jeder Mensch auf dieser Erde
ein Recht hat, zugestanden werden und dass die Hamas
von ihrem schändlichen Handeln – sie verweigert ihm
diese Menschenrechte – ablässt.

Wir wissen, dass wir hier nicht aufrechnen können
und sollen. Deshalb sage ich Ihnen auch, meine Damen
und Herren: Es bringt überhaupt nichts, diesen Fall mit
anderen Situationen zu vergleichen. Gilad Schalit ist ein
Fall für sich, und diesen Fall behandeln wir heute in die-
sem Antrag. Das tun wir fraktionsübergreifend. Ich be-
danke mich dafür. Ich hoffe, dass diese Botschaft, die
einvernehmliche Botschaft des Deutschen Bundestages,
gehört wird: von der Hamas, in Israel, von all denjenigen
in dieser Welt, die guten Willens sind, diesen Konflikt
einer Lösung nahe zu bringen. Dazu wollen wir auch un-
seren deutschen Beitrag leisten.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE])



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1707122700

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gregor Gysi für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707122800

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der is-

raelische Soldat Gilad Schalit ist seit dem 25. Juni 2006
Gefangener der Hamas im Gazastreifen. Keine Angehö-
rigen, kein internationaler Beobachter konnten ihn seit
über vier Jahren sehen oder sprechen. Wir fordern die
bedingungslose Freilassung von Gilad Schalit als einen
wichtigen Akt der Humanität.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Bis zur Freilassung muss die Hamas unverzüglich einen
Zugang für Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes
und für Familienangehörige gewähren. Dies ist ein ge-
meinsames Anliegen aller Bundestagsfraktionen, das auf
Initiative der Linken zustande kam.

Die Union hat sich aber entschieden, zwar die Initia-
tive der Linken aufzugreifen, aber den Antrag nur mit





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)

FDP, SPD und Grünen ohne uns vorzulegen. Wir wurden
auch an der Beratung des Textes nicht beteiligt. Letzte-
res merkt man; denn der Antrag ist laienhaft und falsch
formuliert.


(Lachen des Abg. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN] – Karl-Georg Wellmann [CDU/CSU]: Überheblich!)


– Hören Sie mir zu! – Sie sprechen von einer Entführung
des israelischen Soldaten durch die Hamas, die Sie
selbstverständlich auch verurteilen. Danach handelte es
sich also um einen kriminellen Akt. Geiselnehmer lassen
nirgendwo auf der Welt das Rote Kreuz oder Familien-
angehörige ihre Geiseln besuchen. Für sie gilt auch kein
Völkerrecht, mithin auch nicht die dritte Genfer Kon-
vention, auf die Sie sich berufen. Geiselnehmer kann
man höchstens mit geringerer späterer Strafzumessung
locken, wobei wir darauf nicht den geringsten Einfluss
hätten.

In Wirklichkeit ist es so, dass die Hamas Israel den
Krieg erklärt hat. Israel begründet damit seine militäri-
schen Schritte gegen den Gazastreifen. Nach dem militä-
rischen Überfall Israels auf den Gazastreifen stellte die
UNO Völkerrechtsverletzungen vor allem durch Israel,
aber auch durch die Hamas fest. Letzteres konnte die
UNO nur feststellen, weil sie die Hamas als Kriegspartei
anerkannte. Anderenfalls gälte für diese nicht das Völ-
kerrecht, wären ihr mithin auch keine Völkerrechtsver-
letzungen vorzuwerfen. Im Krieg werden leider Soldaten
erschossen und andere Soldaten gefangen genommen.
Dann und nur dann gilt die von Ihnen und uns genannte
dritte Genfer Konvention auch für die Hamas. Dann und
nur dann sind Ihre und unsere Forderungen berechtigt,
dem Internationalen Roten Kreuz und Familienangehöri-
gen endlich Zugang zu dem israelischen Soldaten zu ge-
währen und schnellstens die Beendigung der Gefangen-
schaft einzuleiten.

Sie müssten Ihren Antrag korrigieren. Sie könnten
auch unserem zustimmen. Bleibt Ihr Antrag, wie er ist,
können wir uns bei ihm nur enthalten.

Noch etwas zum Ausschluss der Linken durch die
Union und die anderen Fraktionen. Die CDU/CSU-Frak-
tion setzt den Kalten Krieg fort, hat noch nicht mitbe-
kommen, dass es den Staatssozialismus in Europa und
die DDR seit über 20 Jahren nicht mehr gibt. Unser Aus-
schluss ist eine besondere Unverschämtheit, weil es um
das Leben, die Gesundheit und die Freiheit eines jungen
Menschen geht.


(Beifall bei der LINKEN)


Das ist der ungeeignetste Fall für die alten, überkomme-
nen kalten Kriegsspiele der Union.

Die FDP meint, wegen der Koalition mitmachen zu
müssen.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Nicht nur deshalb!)


Die SPD und die Grünen haben nicht einmal dieses Pro-
blem. Sie verhalten sich aber gegenüber der Union un-
terwürfig und willfährig. Wenn diese befiehlt: „Ohne die
Linke!“, dann reihen Sie sich bei ihr ein. Es trifft Sie so-
mit dieselbe Verantwortung.

Anlässlich des 60. Jahrestages der Gründung Israels
bin ich auf Einladung von Präsident Schimon Peres zu-
sammen mit dem Abgeordneten Jerzy Montag dort ge-
wesen und habe auch mit der Lebenspartnerin von Gilad
Schalit gesprochen und ihr versprochen, etwas zu unter-
nehmen.

Wenn Sie darüber hinaus nur eine Minute – nur eine
Minute! – über das Schicksal meiner Familie nachge-
dacht hätten, verstünden Sie, weshalb ich ausnahms-
weise diese Ausgrenzung auch persönlich als besonders
unverfroren ansehe und ansehen muss.


(Beifall bei der LINKEN)


Aber ich habe wohl zu akzeptieren, dass das bei Union,
SPD, FDP und Grünen, das heißt, in der deutschen Poli-
tik, so ist.

Das Wichtigste aber bleibt: Gilad Schalit muss unver-
züglich freigelassen werden, ohne Wenn und Aber, ohne
Bedingungen. Und wir sagen klar: Das wäre auch ein
wichtiges humanitäres Zeichen für die notwendige Frei-
lassung vieler palästinensischer politischer Gefangener
durch Israel.

Wer Frieden im Nahen Osten will, muss solche huma-
nitären Schritte gehen,


(Beifall bei der LINKEN)


muss mit allen gewählten Vertreterinnen und Vertretern
in Israel, im Westjordanland und im Gazastreifen reden,
muss den jüdischen Staat Israel und seine Sicherheitsbe-
dürfnisse anerkennen und respektieren, den Siedlungs-
bau im künftigen Palästina unverzüglich einstellen, die
Blockade des Gazastreifens aufgeben und Palästina end-
lich in den Grenzen von 1967 lebensfähig gründen und
anerkennen, muss also nicht nur seine Interessen, son-
dern auch die Interessen des anderen sehen und berück-
sichtigen.

Danke.


(Lebhafter Beifall bei der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1707122900

Das Wort hat nun die Kollegin Kerstin Müller für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Verehrter Herr Gysi, ich finde es auch falsch – meine
Fraktion hat dies sehr deutlich gesagt, ich glaube, auch
die Kolleginnen und Kollegen von der SPD –, dass die
Linke bei diesen Beratungen wieder einmal ausgeschlos-
sen wurde. Dies sind absolut überflüssige Spielchen, die
hier leider vor allen Dingen der Unionsfraktion anzulas-
ten sind. Sie sind der Sache nicht angemessen; das war
ein großer Fehler.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)






Kerstin Müller (Köln)



(A) (C)



(D)(B)

Da Herr Polenz, der Vorsitzende des Auswärtigen
Ausschusses, gleich auch noch sprechen wird, nehme ich
eines vorweg: Herr Polenz hat anlässlich des Gaza-An-
trages, den wir hier gemeinsam beschlossen haben – da
haben Sie sich klüger verhalten; Sie haben dem nämlich
zugestimmt –, im Ausschuss noch einmal angemahnt,
dass man bei Anträgen, bei denen es eine große Überein-
stimmung gibt, bitte auch zu einem gemeinsamen An-
trag im Deutschen Bundestag kommen sollte, weil man
– so haben Sie es wahrscheinlich gemeint – so dem An-
liegen mehr Gewicht verleiht. Schade, schade, Herr
Polenz, dass die Kolleginnen und Kollegen Ihrer Frak-
tion diesem Rat, diesem Appell hier nicht gefolgt sind.
Ich hoffe, dass sich das in Zukunft ändern wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Ich will aber auch zu Ihnen – Sie haben schon vorab
in der Presse einen ziemlichen Wirbel um diese ganze
Geschichte gemacht –, Herr Gysi, Folgendes sagen: Ihre
eigene Partei und Fraktion ist in der Nahostfrage sehr
zerstritten, und Ihr Verhältnis zu Israel ist nicht geklärt.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Sehr richtig!)


Sie haben, glaube ich, zwei Stunden in geschlossener
Sitzung darüber beraten, ob der Antrag Ihrer eigenen
Kollegen überhaupt eine Mehrheit in der Fraktion findet.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Spielen Sie Mäuschen bei uns?)


Er musste nachher auch noch geändert werden, damit er
eine Mehrheit findet.


(Katja Kipping [DIE LINKE]: Falsche Behauptung!)


Man musste die Konstruktion mit den Kriegsgefangenen
wählen, damit er eine Mehrheit findet.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wie kommen Sie denn darauf? – Gegenruf des Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Habe ich aber auch gehört!)


Angesichts solcher Konflikte halte ich es für ziemlich
unangemessen, wie Sie hier aufgetreten sind und wel-
chen Wirbel Sie in den Medien um diese Geschichte ge-
macht haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es wäre nämlich eigentlich ganz einfach. Wir sind
uns in der Sache hier einig – auch das haben Sie zu An-
fang Ihrer Rede gesagt, und dafür haben Sie von allen
Beifall bekommen –, dass der von der Hamas vor vier
Jahren von israelischem Boden entführte und seither ge-
fangen gehaltene junge Soldat Gilad Schalit umgehend
und ohne Wenn und Aber freizulassen ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Es ist inakzeptabel und scharf zu verurteilen, dass die
Hamas sogar dem Internationalen Roten Kreuz den Zu-
gang zu ihm verweigert. Das heißt, dass die Hamas
Gilad Schalit sogar die rudimentärsten Rechte verwei-
gert, die ihm nach dem humanitären Völkerrecht zuste-
hen, also die Sicherstellung der medizinischen Versor-
gung, und selbst den ungehinderten Kontakt zur Familie,
die seit 2009 kein Lebenszeichen von ihm bekommen
hat. Das ist, liebe Kolleginnen und Kollegen, ungeheuer-
lich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Für diese klaren Aussagen, Herr Gysi, braucht man
Schalit nicht zum Kriegsgefangenen zu machen, womit
man auch die Hamas als legitime Kriegspartei aufwertet,
was diese übrigens gar nicht will. Wenn es darum geht,
Schalit die rudimentärsten Rechte zu gewähren, gilt die
dritte Genfer Konvention ganz klar: Sie verbietet Geisel-
nahmen und gesteht Gefangenen unabhängig von ihrem
Rechtsstatus alle Rechte nach Art. 3 dieser Konvention
zu. Was soll das also? Man braucht das nicht. Ich glaube,
die Debatte, die Sie hier führen, und der Wirbel, den Sie
vorher gemacht haben, haben leider sehr wenig mit
Schalit und viel mehr mit den Problemen zu tun, die Sie
in Ihrer Fraktion und Ihrer Partei zu regeln haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Christian Lange [Backnang] [SPD])


Ich wünsche mir, dass von hier heute eine möglichst
geschlossene Botschaft ausgeht, wie wir es beim Gaza-
Antrag auch gemacht haben. Ich glaube, dass sich dieses
Thema überhaupt nicht für Parteienstreit zwischen Op-
position und Regierung eignet, auch nicht für rot-grün-
rote Anträge. Letzteres ist nicht nötig, weil wir uns in
den Forderungen einig sind. Das ist dafür ein ungeeigne-
tes Thema. Wenn hier alle der gleichen Meinung sind
– liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, das
war ja auch Ihr Vorschlag in der PGF-Runde, wenn ich
mich richtig erinnere –, dann hätten Sie doch einfach ei-
nen gleichlautenden Antrag einbringen können und hät-
ten unserem zugestimmt, und SPD und Grüne hätten Ih-
rem zugestimmt. Dann wäre völlig klar gewesen, wer
hier – nämlich Teile der Union – wen unnötigerweise
ausgrenzt. Aber leider haben Sie sich nicht so geschickt
verhalten. Das bedaure ich sehr. Ich finde, dieses Thema
ist wirklich ungeeignet, einen solchen Wirbel zu ma-
chen.

Ich hoffe für Gilad Schalit und für seine Familie, dass
nicht nur die Nahostverhandlungen, sondern auch die
Verhandlungen zu seiner Freilassung – vielleicht sogar
mit deutscher Hilfe und unserer Unterstützung – bald zu
einem Erfolg führen werden.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1707123000

Nächster Redner ist der Kollege Ruprecht Polenz für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Ruprecht Polenz (CDU):
Rede ID: ID1707123100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Freiheit für Gilad Schalit – ich denke, diese Forderung
eint uns, die wir heute Abend im Plenum des Deutschen
Bundestages sitzen. Deshalb möchte ich zur Sache spre-
chen.

Als ich vor wenigen Wochen das letzte Mal in Jerusa-
lem war, habe ich vor dem Amtssitz von Ministerpräsi-
dent Netanjahu mehrere Zelte gesehen, in denen die Fa-
milie von Gilad Schalit mit Plakaten und Transparenten
auf das Schicksal ihres Angehörigen aufmerksam macht.
Es ist gerade noch einmal darauf hingewiesen worden,
wie viele Israelis durch Poster, Buttons und Ähnliches an
sein Schicksal erinnern. Ich glaube, dass dies der
Hauptzweck unserer heutigen Debatte und der Entschlie-
ßung ist, die wir verabschieden. Wir wollen deutlich ma-
chen: Sein Schicksal gerät auch nach über vier Jahren
nicht in Vergessenheit. Wir schauen auf das, was in der
Region passiert, und auch auf das, was mit einzelnen
Personen geschieht. Wir schauen aber auch sehr genau
auf die Praxis der Hamas.

Wir haben schon bei anderer Gelegenheit über die
Frage diskutiert, wie wir mit der Hamas umgehen wol-
len. Da gab es relativ weitgehende Empfehlungen, sie
quasi als Gesprächspartner wie jeden anderen zu behan-
deln, weil ohne die Hamas in der Region letztlich nichts
zu erreichen sei. Deshalb möchte ich aus Anlass dieser
Debatte schlaglichtartig beleuchten, wie es 2007 nach
der gewaltsamen Machtergreifung durch die Hamas im
Gazastreifen weitergegangen ist.

Es gab zunächst eine bürgerkriegsartige Auseinander-
setzung mit den konkurrierenden Kräften von Fatah und
anderen. Als sich Hamas dann durchgesetzt hatte, hat sie
– das gilt bis heute – eine sehr konsequente Gleichschal-
tungspolitik, so muss man es nennen, im Gazastreifen
betrieben. Die palästinensische Nachrichtenagentur
WAFA, die noch den Mut hatte, über Korruptionsvor-
würfe gegen die Hamas und gegen Hamas-Politiker zu
berichten, wurde eingeschüchtert und unter Druck ge-
setzt.

Es gab eine schleichende Islamisierung. Hamas ist ja
eine islamistische Organisation, die den Muslimbrüdern
aus Ägypten entstammt. Die Bekleidungsvorschriften
werden zunehmend rigoros durchgesetzt. In den Schu-
len, wo die Hamas Einfluss hat, aber auch in den UN-
Schulen wird versucht, sicherzustellen, dass über den
Holocaust nicht berichtet, darüber nicht gelehrt und
nicht informiert wird. Die Organisationen der Zivilge-
sellschaft, die noch nicht unter der Kontrolle der Hamas
stehen, werden gezwungen, so lange neue Mitglieder,
die der Hamas angehören, aufzunehmen, bis man in der
Lage ist, durch Mehrheitsbeschlüsse diese Gesellschaft
zu übernehmen.
Generell basiert das Herrschaftssystem darauf, dass
man die eigenen Anhänger hemmungslos begünstigt und
alle anderen Palästinenser im Gazastreifen benachteiligt.
Gewalt und Menschenrechtsverletzungen haben deshalb
die Popularität der Hamas, die stolz verkündet hatte,
dass sie bei den Wahlen gewonnen hat, sehr stark gemin-
dert. Wie sie heute bei Wahlen abschneiden würde, ist
die entscheidende Frage.

Nun will die Hamas eine Rolle spielen. Es ist auch
klar, unter welchen Bedingungen das möglich ist: keine
Gewaltanwendung, Anerkennung der bisherigen Ab-
kommen der PLO mit Israel und – das ist damit einge-
schlossen – prinzipielle Anerkennung Israels staatlicher
Existenz. Der Fall Schalit ist so etwas wie ein Lackmus-
test für die Anerkennung von Recht und Gesetz und des
Völkerrechts – auch des humanitären Völkerrechts –
durch die Hamas sowie für das Rechtsverständnis der
Hamas und ihre Bereitschaft, sich internationalen Re-
geln zu unterwerfen.

Ich möchte in dieser Debatte aber nicht nur auf das
Schicksal von Gilad Schalit hinweisen. Ich möchte auch
an Ron Arad erinnern, der bereits seit 1986 verschollen,
verschwunden ist. Man weiß nicht genau, ob er noch
lebt; es gibt Vermutungen, dass er noch lebt. Auch das
ist ein Schicksal, an das man in dieser Debatte erinnern
sollte.

Ein letztes Wort zu den Unterstützern der Hamas. Ich
war bei meinem Besuch in Syrien mit der Nachricht
– dem Wunsch – konfrontiert, dass Syrien sehr daran in-
teressiert ist, auch auf höherer Ebene wieder diploma-
tisch mit Deutschland zu kommunizieren. Wahrschein-
lich kommt der syrische Außenminister in Kürze nach
Berlin. Ich will nur sagen: Syrien hätte eine Möglichkeit,
hier beispielsweise durch Einflussnahme auf die Hamas
ein Signal zu setzen und zu zeigen, dass es versteht, wel-
che symbolische Bedeutung diese Frage hat, die mit dem
einzelnen Schicksal dieses armen jungen Mannes ver-
bunden ist. Ich möchte deshalb an dieser Stelle nicht nur
die Hamas mit dem Appell „Freiheit für Gilad Schalit“
konfrontieren, sondern auch Syrien.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1707123200

Bevor wir nun zur Abstimmung kommen, erteile ich

das Wort für eine persönliche Erklärung nach § 31 unse-
rer Geschäftsordnung der Kollegin Bettina Kudla.


Bettina Kudla (CDU):
Rede ID: ID1707123300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Ich stimme dem Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU, SPD, FDP und des Bündnisses 90/Die Grü-
nen mit dem Titel „Freiheit für Gilad Schalit“ auf Druck-
sache 17/3422 wegen Punkt I.3 des Antrages nicht zu.

Punkt I.3 des Antrages begrüßt die „die Entschlie-
ßung des Europäischen Parlaments vom 11. März 2010,
die die Freilassung von Gilad Schalit“ fordert. Ich er-





Bettina Kudla


(A) (C)



(D)(B)

achte insbesondere Punkt G.5 des gemeinsamen Ent-
schließungsantrags des Europäischen Parlamentes für
kritikwürdig. Dieser Punkt des gemeinsamen Entschlie-
ßungsantrages des Europäischen Parlamentes zur Frei-
lassung von Gilad Schalit vom 11. März 2010

… hebt hervor, dass beiderseitige vertrauensbil-
dende Maßnahmen aller Parteien, einschließlich der
Freilassung einer bedeutenden Anzahl von palästi-
nensischen Gefangenen, dazu beitragen könnten,
eine konstruktive Atmosphäre zu schaffen, die zur
Freilassung von Unteroffizier Schalit führt …

Diesen Punkt der EU-Entschließung lehne ich entschie-
den ab. Die Freilassung des Soldaten ist ohne jegliche
Vorbedingungen zu fordern.


(Kerstin Müller [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist in der Entschließung des Parlaments nicht als Bedingung formuliert! Ganz eindeutig nicht!)


Der Antrag des Bundestages ist daher nicht eindeutig.
Es besteht folglich das Risiko, dass die an dem Antrag
beteiligten Fraktionen den Antrag unterschiedlich inter-
pretieren. Auch die öffentliche Diskussion in den letzten
Monaten über die Annahme des fraktionsübergreifenden
Bundestagsantrags „Ereignisse um die Gaza-Flottille
aufklären – Lage der Menschen in Gaza verbessern –
Nahost-Friedensprozess unterstützen“ hat dies gezeigt.
Ich sehe keine Basis für den heutigen fraktionsübergrei-
fenden Antrag.

Meine Erklärung erfolgt auch vor dem Hintergrund,
dass bekannt ist – das geht auch aus Punkt II des Antrags
„Freiheit für Gilad Schalit“ auf Drucksache 17/3422 her-
vor –, dass sich die Bundesregierung bereits seit länge-
rem für die Freilassung des Soldaten Gilad Schalit ein-
setzt und weiterhin einsetzen wird.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1707123400

Es liegt eine schriftliche Erklärung zur Abstimmung

nach § 31 unserer Geschäftsordnung von der Kollegin
Marie-Luise Beck vor.1)

Nun kommen wir zur Abstimmung über Tagesord-
nungspunkt 11 a, über den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU, der SPD, der FDP und des Bündnisses 90/
Die Grünen auf Drucksache 17/3422 mit dem Titel
„Freiheit für Gilad Schalit“. Wer stimmt für diesen An-
trag? – Wer ist dagegen? – Wer enthält sich? – Der An-
trag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen – bei
einer Ausnahme –, mit den Stimmen der SPD-Fraktion
und den Stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
bei Enthaltung der Fraktion Die Linke und einer Gegen-
stimme angenommen.

Tagesordnungspunkt 11 b. Hier geht es um den An-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3431 mit
dem Titel „Durch einen humanitären Akt Frieden beför-
dern – Gilad Schalit freilassen“. Wer stimmt für diesen
Antrag? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der An-

1) Anlage 4
trag ist abgelehnt. Dafür gestimmt hat die Fraktion Die
Linke. Dagegen gestimmt haben die Koalitionsfraktio-
nen. Enthalten haben sich die Fraktion der SPD und die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Gabriele
Hiller-Ohm, Anette Kramme, Elke Ferner, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes
durch eine transparente Bemessung der Regel-
sätze und eine Förderung der Teilhabe von
Kindern umsetzen

– Drucksache 17/3648 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Sportausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe,
Sie sind damit einverstanden. Diejenigen, die der weite-
ren Debatte folgen wollen, bitte ich, Platz zu nehmen.

Ich eröffne die Aussprache. Wir wollen uns auf die
erste Rede konzentrieren, die von der Kollegin Gabriele
Hiller-Ohm aus der SPD-Fraktion gehalten wird.


(Beifall bei der SPD)



Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Rede ID: ID1707123500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Heute haben wir aufgrund unseres Antrags erneut Gele-
genheit, über die Regelsätze zu debattieren. Viele Forde-
rungen haben wir schon im März gestellt. Leider haben
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und
FDP, bisher nichts davon aufgegriffen.

Die Fraktionsspitzen von SPD und Bündnis 90/Die
Grünen haben in einem gemeinsamen Brief vom
22. Oktober 2010 die Kanzlerin um ein Gespräch über
den Gesetzentwurf zu den Regelsätzen gebeten – bisher
ohne Erfolg. Das ist nicht zu verstehen; denn die Bun-
desregierung braucht die Zustimmung der SPD im Bun-
desrat.

Es geht immerhin um mehr als 7,7 Millionen Men-
schen, die auf Grundsicherung angewiesen sind, und um
2 Millionen arme Kinder, denen die Karlsruher Richter
ein individuelles Recht auf Teilhabe an Bildung und
Kultur zugestanden haben. Wo, so frage ich Sie, bleibt
die Kanzlerin? Wir sehen einmal mehr, welch geringen
Stellenwert die Sozialpolitik für diese Bundesregierung
hat.


(Beifall bei der SPD)






Gabriele Hiller-Ohm


(A) (C)



(D)(B)

Im Gegensatz zu Bankern, der Pharmaindustrie, Ener-
giekonzernen und Hoteliers haben arme Kinder und de-
ren Eltern keine Lobby.

Der Gesetzentwurf muss dringend überarbeitet wer-
den. Wir sind dazu bereit.


(Beifall bei der SPD)


Es gibt einiges zu besprechen. Im Gegensatz zu Ihnen
sind wir nicht der Überzeugung, dass Ihre Berechnung
der Regelsätze verfassungsfest ist. Warum legen Sie bei
der Berechnung der Erwachsenenregelsätze nicht, wie
bisher, die unteren 20 Prozent der Einkommen zugrunde,
und warum beziehen Sie Menschen, die aufstockende
Sozialleistungen erhalten, in die Referenzgruppe ein?
Wir halten das für falsch.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass es dem Urteil
der Verfassungsrichter entspricht, wenn Sie bei Ver-
brauchspositionen willkürlich Abschläge oder Strei-
chungen vornehmen.

Wir kritisieren ferner Ihre Berechnung der Kinder-
regelsätze. Wir fordern einen Expertenkreis und Vor-
schläge für eine bessere Berechnungsmethode.


(Beifall bei der SPD)


Es ist ein Fortschritt und eine Riesenchance für unser
Land, dass Kinder aufgrund ihrer Armut nicht länger
von einer gerechten Teilhabe an Bildung, Sport und Kul-
tur ausgeschlossen werden dürfen. Wir Bundestagsabge-
ordnete haben jetzt die Verantwortung, gleiche Bil-
dungschancen sicherzustellen. Bisher war dies allein
Aufgabe der Länder. Wir fordern eine gemeinsame Bil-
dungsoffensive von Bund, Ländern und Kommunen.


(Beifall bei der SPD)


Wir dürfen es uns nicht leisten, auf das Können und
die Begabung auch nur eines unserer Kinder zu verzich-
ten. Das dürfen wir nicht zulassen. Deutschland gibt ins-
gesamt nur 4,7 Prozent des Bruttoinlandproduktes für
Bildung aus. Wir liegen damit deutlich unter dem
OECD-Durchschnitt. Island und die USA investieren
fast 8 Prozent. Nur mit mehr und besserer Bildung und
Ausbildung können wir das ändern und dem drohenden
Fachkräftemangel begegnen.


(Beifall bei der SPD)


Dies gelingt nur, wenn wir alle Kinder und Jugendli-
che mitnehmen. Deshalb fordern wir dazu auf, dass auch
Kinder von Geringverdienenden in das Bildungspaket
und die Versorgung mit warmen Mittagessen einbezogen
werden. Gerechte Teilhabe ist nur möglich, wenn Ganz-
tagsschulen und Kitas bedarfsdeckend ausgebaut wer-
den. Kinder und Angebote müssen zusammengebracht
werden. Mit einem Ausbau der Sozialarbeit an Schulen
und Kitas kann das gelingen.

In unserem Antrag geht es aber nicht nur darum, Be-
dürftigen eine verfassungsfeste und menschenwürdige
Grundsicherung zu gewährleisten. Wir müssen verhin-
dern, dass Menschen überhaupt auf Sozialleistungen an-
gewiesen sind.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das erreichen wir mit existenzsichernder guter Arbeit.
Nur ein gesetzlicher Mindestlohn kann hier helfen. Ab
1. Mai 2011 werden wir in der EU vollständige Arbeit-
nehmerfreizügigkeit haben.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1707123600

Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.


Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Rede ID: ID1707123700

Ja. – Spätestens dann wird sich der Druck auf den

Niedriglohnbereich weiter erhöhen. Hoffentlich begrei-
fen Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU
und FDP, schon vorher, dass es ohne den Mindestlohn
nicht gehen wird.


(Beifall bei der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1707123800

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Carsten

Linnemann für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Carsten Linnemann (CDU):
Rede ID: ID1707123900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen,

vor allen Dingen liebe Kolleginnen und Kollegen von
der SPD! Herzlichen Dank für den Antrag. Er ist diesmal
15 Seiten lang. Der Antrag ist – das muss ich zugeben –
eine gute Basis für eine sachliche Auseinandersetzung.
Sie loben uns zuweilen, Sie kritisieren uns zuweilen, und
am Ende legen Sie konkrete Vorschläge auf den Tisch.

Wir sollten uns hier jetzt aber nicht nur über Gemein-
samkeiten austauschen, sondern wir sollten auch, weil
Sie die Themen – Mindestlohn und andere – so ange-
sprochen haben, wie Sie es getan haben, die fundamenta-
len Unterschiede herausstellen. Frau Hiller-Ohm, ich
kann jetzt natürlich nicht auf jeden Punkt eingehen, aber
es gibt auf der ersten Seite des Antrags eine schöne Prä-
ambel, in der Sie die drei großen Punkte zum Ausdruck
bringen. Sie schreiben erstens, dass Sie daran zweifeln,
dass das, was berechnet wird, verfassungsgemäß ist.
Zweitens fordern Sie die Einführung eines Mindest-
lohns, auch um – das hatten Sie gesagt – dem Problem
der Aufstocker zu begegnen. Der dritte Punkt bezieht
sich auf das Bildungs- und Teilhabepaket.

Ich möchte gerne auf diese Punkte eingehen. Der
erste Punkt betrifft das Existenzminimum. Wir haben bei
der Berechnung nicht viel anders gemacht als Sie da-
mals. Wir haben die existenzsichernden Positionen ge-
nommen, die neuen Positionen, und – jetzt kommt es –
wir haben Wertentscheidungen getroffen. Wenn Sie jetzt
in diesem Antrag fordern, dass wir für diese Wertent-
scheidung eine Sonderauswertung brauchen, haben Sie,
glaube ich, das Urteil aus Karlsruhe nicht richtig ver-
standen. Denn die Karlsruher Richter haben gesagt, dass
diese Wertentscheidung eine politische Entscheidung ist.





Dr. Carsten Linnemann


(A) (C)



(D)(B)

Genauso wie Sie damals entschieden haben, dass
Glücksspiel und Flugreisen nicht zum Regelsatz gehö-
ren, haben wir jetzt entschieden, dass auch Alkohol und
Zigaretten nicht dazugehören. Das sind Wertentschei-
dungen; da bedarf es keiner Sonderauswertung.


(Elke Ferner [SPD]: Sie rechnen sie aber falsch heraus!)


Diese Wertentscheidung war vielmehr eine politische
Entscheidung. Es war richtig, dass wir sie getroffen ha-
ben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Zum Mindestlohn und zur Aufstockerdebatte. Ich bin
Ihnen ein bisschen dankbar, dass Sie das ansprechen. In
meiner Zeit als Abgeordneter gibt es kaum ein Thema in
der Arbeitsmarktpolitik, bei dem die veröffentlichte
Meinung bzw. die öffentliche Meinung und die tatsächli-
che Gemengelage so weit auseinanderliegen wie bei der
Aufstockerproblematik, die Sie gerne mit einem Min-
destlohn beheben wollen.

Ich habe hier die druckfrischen Zahlen der Bundes-
agentur für Arbeit, den Monatsbericht Oktober.


(Elke Ferner [SPD]: Oh! Wie beeindruckend! – Weiterer Zuruf von der SPD: Sie sind ja der Klassenprimus!)


– Ja, ich bin gut vorbereitet. – Demnach gibt es in
Deutschland 1,37 Millionen Aufstocker. Rund 684 000,
also knapp 700 000 der Aufstocker haben einen Job, in
dem sie bis zu 400 Euro pro Monat verdienen. 225 000
von ihnen haben einen sogenannten Midijob und verdie-
nen zwischen 400 und 800 Euro im Monat. Zusammen
machen sie rund 75 Prozent aller Aufstocker aus.

Diese Menschen können von ihrem Lohn nicht leben,
weil sie zu wenige Stunden arbeiten. Bei den restlichen
334 000 Menschen, die einen Vollzeitjob haben, handelt
es sich in der Regel um Menschen mit Familien. Da Sie
sich auf die Ergebnisse der Studien des IAB und des IZA
berufen, müssten Sie so redlich sein, diese Personen he-
rauszurechnen. Das geht. Würden Sie das tun, müssten
Sie allerdings nicht einen Mindestlohn von 8,50 Euro
pro Stunde, sondern einen Mindestlohn von 12 oder
13 Euro pro Stunde fordern. Dann wären die Aufstocker
herausgerechnet.


(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der LINKEN – Anette Kramme [SPD]: Aber Sie werden doch wohl nicht bestreiten, dass das eine Entlastung bringt!)


– Frau Kramme, das waren die Zahlen der Bundesagen-
tur für Arbeit. Diese Zahlen sind seriös und aktuell. Ich
wollte sie Ihnen nur ganz sachlich präsentieren, damit
wir diese Debatte auf der richtigen Grundlage führen.


(Anette Kramme [SPD]: Leider erklären Sie aber immer wieder den gleichen Mist!)


– Frau Kramme, ich kann Ihnen gerne entgegenkom-
men. Wenn Sie das wollen, kann ich auch einen versöhn-
lichen Abschluss finden.


(Anette Kramme [SPD]: Oh ja! Unbedingt!)

Frau Hiller-Ohm, Sie haben es angesprochen: Die
kommunalen Strukturen bzw. die Kommunen müssen
eingebunden werden. Das ist ein konstruktiver Vor-
schlag. Wir sehen das genauso.


(Elke Ferner [SPD]: Aha! Das Ministerium sah das aber anders!)


Man muss Gespräche mit der Bundesagentur für Arbeit
und mit dem Ministerium führen. Man muss aber auch
Gespräche mit den kommunalen Spitzenverbänden füh-
ren, um sie einzubinden; das sehen wir genauso. Wenn
wir die Zeit nutzen, auch im Rahmen der Anhörung,
werden wir zu einem vernünftigen Ergebnis kommen.
Will man konstruktiv zusammenarbeiten, muss man über
diese Themen sprechen.


(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Dann laden Sie uns doch mal ein!)


Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1707124000

Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Katja

Kipping das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Katja Kipping (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707124100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Im Fe-

bruar dieses Jahres hat das Bundesverfassungsgericht
geurteilt, dass die Hartz-IV-Regelsätze nicht der Men-
schenwürde entsprechen


(Thomas Dörflinger [CDU/CSU]: Das hat in Karlsruhe niemand entschieden!)


und transparent neu zu berechnen sind. Der Gesetzent-
wurf von Schwarz-Gelb wird dem nicht gerecht. Ich
finde, daran muss noch vieles geändert werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Alle drei Oppositionsfraktionen – Sie werden wahr-
scheinlich sagen, dass das zu erwarten war –, aber auch
alle Sozialverbände kritisieren, dass sich die Regierung
gegenüber dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts
sehr ignorant verhält. Oder können Sie mir auch nur ei-
nen Sozialverband nennen, der den vorliegenden Gesetz-
entwurf als mit dem Urteil des Bundesverfassungsge-
richts völlig übereinstimmend bezeichnet? Sollte Ihnen
nicht zu denken geben, dass Sie nicht einen einzigen So-
zialverband, der sich unterstützend an Ihre Seite stellt,
nennen können?

Klar ist: Die Herangehensweise von Schwarz-Gelb ist
voller Tricks und voller Abschläge. Die vier Minuten
Redezeit, die ich habe, reichen nicht aus, um alle Tricks
auch nur zu nennen.

Um eine Ungereimtheit zu erläutern: Die Regelsatz-
höhe wird auf Grundlage der Einkommens- und Ver-
brauchsstichprobe errechnet. Zur Erläuterung: Einkom-
mens- und Verbrauchsstichprobe meint, dass viele
Haushalte drei Monate lang ihre Ausgaben in einem
Haushaltsbuch festhalten, und daraus wird dann der Re-





Katja Kipping


(A) (C)



(D)(B)

gelsatz abgeleitet. Interessanterweise sind in die jetzige
Einkommens- und Verbrauchsstichprobe vier Personen
eingeflossen, die für Ernährung bzw. Nahrungsmittel
0 Cent ausgegeben haben. Nur zur Erinnerung: Wir re-
den über einen Zeitraum von drei Monaten.

Als ich diesen Umstand im Ausschuss ansprach, war
der Staatssekretär ganz überrascht, weil er ihm selbst of-
fensichtlich nicht aufgefallen war.


(Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Wie signifikant ist denn das?)


Seine Mitarbeiter haben dann bestätigt: Ja, es gibt vier
Haushalte, die über drei Monate hinweg 0 Cent für Nah-
rungsmittel ausgegeben haben. Meine Damen und Her-
ren, ich kenne einige Leute, die ab und zu fasten. Aber
ich kenne niemanden, der es ausgehalten hat, drei Mo-
nate lang nur von Luft und Liebe zu leben. Hier müssten
auch Sie stutzig werden und sagen: In der EVS gibt es
Ungereimtheiten. – Diese Zahlen kann man doch nicht
blind übernehmen!


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Das ist Ihnen doch im Ausschuss erklärt worden! Warum wiederholen Sie das hier?)


– Im Ausschuss ist mir recht gegeben worden, Herr
Zimmer.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Oh nein!)


Sie berufen sich auf die Abschläge für Alkohol und
spielen dabei mit Vorurteilen, die gegenüber Erwerbslo-
sen bestehen. Ich will in Erinnerung rufen, dass man
dazu auch eine andere Meinung haben kann. Herr
Straubinger von der CSU zum Beispiel hat im Ausschuss
gesagt: In Bayern gehört Bier zu den Grundnahrungsmit-
teln. Ich würde nicht so weit gehen, Bier als Grundnah-
rungsmittel zu bezeichnen. Aber ich finde, zum kulturel-
len Standard unserer Gesellschaft gehört, dass man bei
einer Familienfeier ein Glas Wein ausgeben oder bei ei-
nem Treffen mit Freunden ein Bier trinken darf.


(Beifall bei der LINKEN – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das verbietet niemand!)


Im Übrigen: Durch die Kürzung des Regelsatzes um
16 Euro werden eben nicht nur die Menschen getroffen,
die trinken und rauchen, sondern auch die Menschen, die
sich mit dem Geld einfach richtig gesund ernähren oder
Spielsachen für Kinder kaufen wollen.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie tun hier so, als ob es bei den Abschlägen immer
nur um Zigaretten und Alkohol geht. Man muss hier
doch noch einmal in Erinnerung rufen, dass es in sehr
vielen Bereichen Abschläge gibt. Sie sind zum Beispiel
der Meinung, wer auf Hartz IV angewiesen sei, der habe
kein Anrecht auf eine Hausratversicherung, der müsse
kein Geld für Blumen ausgeben usw. Diese Herange-
hensweise und dieses Menschenbild teilen wir Linke
nicht.

(Beifall bei der LINKEN)


In dem vorliegenden Antrag wird das schwarz-gelbe
Herangehen zu Recht kritisiert; denn der Gesetzentwurf
von Schwarz-Gelb enthält auch jede Menge Verschlech-
terungen. Sie führen zum Beispiel eine neue Regelbe-
darfsstufe 3 ein, das heißt, für Erwachsene, die mit ande-
ren Erwachsenen zusammen im Haushalt leben, sollen
nur noch 80 Prozent des Regelsatzes gezahlt werden.
Hinter diesem spröden Begriff „Regelbedarfsstufe 3“
verstecken sich womöglich schlimme Verschlechterun-
gen, zum Beispiel für Menschen mit Behinderung. Be-
hindertenverbände befürchten, dass erwachsene Behin-
derte, wenn sie aufgrund ihrer Behinderung weiter bei
ihren Eltern leben, in Zukunft nicht mehr 100 Prozent
des Regelsatzes bekommen, sondern nur noch 80 Pro-
zent. Das wären immerhin 73 Euro im Monat weniger.

Ich habe im Ausschuss dreimal nachgefragt, ob Sie
ausschließen können, dass es zu Verschlechterungen
kommt.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das sind nichtöffentliche Ausschusssitzungen!)


Ich habe ausschweifende Antworten gehört, aber Sie ha-
ben nicht klar gesagt: Ja, das können wir ausschließen.
Deswegen fordere ich Sie auf: Stellen Sie hier eindeutig
fest, dass nicht geplant ist, dass es zu Verschlechterun-
gen für Behinderte kommt, die auf Hartz IV angewiesen
sind. Diese Menschen haben es ohnehin nicht leicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Um das zusammenzufassen und zum Abschluss zu
kommen, kann ich nur sagen: Wir sagen Nein zu den
schwarz-gelben Rechentricks, damit wir Ja zu dem
Grundrecht auf gesellschaftliche Teilhabe sagen können.
Die Linke meint: Wenn man das Urteil ernst nimmt,
dann muss man erstens die Sanktionen abschaffen, zwei-
tens die Bedarfsgemeinschaft auf den Prüfstand stellen
und drittens den Regelsatz deutlich erhöhen;


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das steht aber nicht im Urteil!)


denn ein Regelsatz, der ohne Rechentricks berechnet
worden ist und der sowohl für gesunde Ernährung als
auch für ein Monatsticket ausreicht, muss deutlich höher
sein.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1707124200

Nächster Redner ist der Kollege Pascal Kober für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1707124300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD, es freut mich,
dass Sie sich nun auch konkret in die Debatte einbrin-
gen. Allein das Wie überzeugt mich nicht.





Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)


(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das haben wir schon immer gemacht!)


Sie werfen der Regierungskoalition Fehler bei der Be-
rechnung der Regelsätze vor und sprechen davon, dass
die Regelbedarfe nicht transparent und nicht in einem
methodisch schlüssigen Verfahren ermittelt worden sind.


(Anette Kramme [SPD]: Sie könnten eigentlich einen Kassettenrekorder laufen lassen! Das erzählen Sie jedes Mal!)


Diese Aussage ist schlichtweg falsch, liebe Frau
Kramme.

Innerhalb der vom Bundesverfassungsgericht ge-
währten Zeit haben wir die Vorgaben des Bundesverfas-
sungsgerichts mithilfe der Einkommens- und Ver-
brauchsstichprobe aus dem Jahr 2008 umgesetzt. Noch
nie wurden in der Politik die Regelsätze so nachvollzieh-
bar und transparent ermittelt, wie dies nun die Regie-
rungskoalition getan hat.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Das ist ja lächerlich!)


Sie kritisieren die Einkommens- und Verbrauchsstich-
probe als Berechnungsgrundlage für die Referenz-
gruppe.


(Elke Ferner [SPD]: Ja!)


Bei den Paarhaushalten mit Kind bleiben nach dem He-
rausrechnen derjenigen, die komplett von Transferleis-
tungen leben, die untersten 20 Prozent der Haushaltsnet-
toeinkommen übrig. Dabei kommen wir beim
Nettoeinkommen auf einen Grenzwert von über 2 500
Euro. Ich finde, dass wir diese Zahl ruhig mehr in den
Mittelpunkt der Debatte stellen sollten. Für die Berech-
nung des Regelsatzes orientieren wir uns an den Ausga-
ben, die Haushalte tätigen, die über ein Nettoeinkommen
von bis zu 2 500 Euro verfügen.

Bei den Einpersonenhaushalten haben wir zur Ermitt-
lung des Grenzwertes der Nettoeinkommen die unteren
23,6 Prozent der Nettoeinkommen berücksichtigt. Rech-
net man hier die Empfänger heraus, die vollständig von
Transferleistungen leben, dann wird die Referenzgruppe
in der Tat kleiner. Der für die Höhe des Regelsatzes aber
im Besonderen maßgebliche Grenzwert der Nettoein-
kommen bleibt dadurch hingegen unverändert.


(Anette Kramme [SPD]: Das stimmt doch gar nicht! – Elke Ferner [SPD]: Warum haben Sie ausgerechnet 23,6 Prozent genommen?)


Das ist nicht willkürlich festgelegt, sondern das steht
vollkommen in Einklang mit dem Urteil des Bundesver-
fassungsgerichts.

Des Weiteren kritisieren Sie, dass das Phänomen der
sogenannten verschämten Armut – dabei geht es um die-
jenigen, die eigentlich Sozialleistungen erhalten könnten,
dies aber aus unterschiedlichsten Gründen nicht tun –
nicht berücksichtigt wird. Das ist zunächst richtig. Aber
Sie übersehen oder verschweigen wieder einmal den
Hintergrund. Denn es gibt eine nachvollziehbare Be-
gründung dafür, die sich auch im Gesetzentwurf der Ko-
alitionsfraktionen findet.


(Elke Ferner [SPD]: Das wusste auch das Verfassungsgericht und hat es trotzdem angemahnt!)


Ich zitiere aus der Begründung:

Hinzu kommt, dass aufgrund der Vielgestaltigkeit
der Einkünfte von Haushalten eine Einzelfallaus-
wertung der Haushalte erfolgen müsste, die weder
durch Wissenschaft noch durch das Statistische
Bundesamt zu leisten wäre.


(Anette Kramme [SPD]: Sie haben das Gegenteil gesagt! Sie haben gesagt, Sie können es!)


In Verdachtsfällen müssten die zuständigen Träger
nach dem SGB II oder dem SGB XII eine Einkom-
mens- und Vermögensprüfung durchführen, um
festzustellen, ob eine Person beziehungsweise ein
Haushalt hilfebedürftig ist.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition, man
kann zwar vieles für wünschenswert erachten, dabei
sollte man jedoch auch versuchen, seinen Wunsch und
die gestaltbare Wirklichkeit in Einklang zu bringen.


(Elke Ferner [SPD]: Es geht nicht um Wünsche! Es geht um Verfassungskonformität! – Gegenruf des Abg. Dr. Matthias Zimmer [CDU/CSU]: Sie ist verfassungskonform!)


Dies gelingt Ihnen mit Ihren Forderungen zum jetzigen
Zeitpunkt aber noch nicht.


(Beifall bei der FDP)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, sodann kritisieren
Sie die Fortschreibung der Regelsätze, wie sie die Koali-
tion plant, nämlich die Orientierung an der Nettolohn-
entwicklung zu 30 Prozent und an der regelsatzrelevan-
ten Preisentwicklung zu 70 Prozent. Sie halten die
teilweise Koppelung an die Nettolöhne für falsch.

Doch wie war die Regelung in den letzten Jahren?


(Elke Ferner [SPD]: Sie ist ja vom Verfassungsgericht verworfen worden!)


Es war eine Koppelung an die Rentenentwicklung, die
wiederum von den Nettolöhnen abhängt. Eine Koppe-
lung über das Vehikel der Rentenentwicklung fanden Sie
die letzten Jahre über in Ordnung. Einen Mischindex
halten Sie jetzt für falsch.


(Elke Ferner [SPD]: Das ist der Unterschied zwischen Rentenanpassung und Nettolöhnen!)


Das glauben Ihnen die Menschen nicht, zumal wir ge-
genwärtig auch nur eine Übergangslösung brauchen, bis
die laufende Wirtschaftsrechnung die Grundlage für die
Anpassung sein kann.


(Zuruf der Abg. Anette Kramme [SPD])


– Anscheinend treffen Sie meine Worte, Frau Kramme,
so aufgeregt wie Sie heute sind. –


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)






Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)

Sie wird in den kommenden Jahren breiter und differen-
zierter aufgestellt und schneller ausgewertet werden
können. Dann werden wir sie für die Fortschreibung des
Regelsatzes nutzen. Zurzeit geht es um eine Übergangs-
lösung.

Abschließend möchte ich noch zu den Bildungs- und
Teilhabechancen von Kindern kommen. Die Koalition
hat jetzt zum ersten Mal den Regelbedarf von Kindern
eigenständig und transparent berechnet.


(Caren Marks [SPD]: Das stimmt ja gar nicht!)


Wir schnüren das Bildungspaket von 620 Millionen
Euro pro Jahr. Wir sorgen dafür, dass Kinder dort, wo es
gemeinsames Schulmittagessen gibt, daran teilnehmen
können. Sie werden am kulturellen und sportlichen Le-
ben teilhaben können, und sie haben in Zukunft die
Möglichkeit, auch an eintägigen Klassenfahrten teilneh-
men zu können.

Im Sinne der Bildungsgerechtigkeit geben wir jedem
Kind die Möglichkeit zur Entwicklung seiner Fähigkei-
ten. Es darf nicht durch die persönliche Lebenssituation
seiner Eltern beeinträchtigt werden.

Aber was haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
der SPD, in den Jahren Ihrer Regierungszeit für die Kin-
der getan?


(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Da waren die Länder zuständig!)


Sie kritisieren heute, dass nicht jedes Kind von den zu-
sätzlich zur Verfügung stehenden Geldern ein Musikin-
strument kaufen kann. Das ist richtig: zumindest nicht
jedes Musikinstrument.


(Elke Ferner [SPD]: Welches denn? Eine Maultrommel vielleicht?)


Aber was haben Sie in den letzten Jahren in dieser Rich-
tung gemacht? Nichts haben Sie gemacht.


(Elke Ferner [SPD]: Das ist eine Lüge, und das wissen Sie auch!)


Sie kritisieren hier, dass die Koalition nicht genug ge-
macht hat. Aber Sie müssen dann auch offen sagen, dass
Sie das Thema der Chancen von Kindern im Rechtskreis
des SGB II in den letzten Jahren überhaupt nicht interes-
siert hat.

Diese Koalition handelt für die Kinder. Ihr Antrag
hingegen will nur von Ihren Fehlern in der Vergangen-
heit ablenken. Das aber gelingt Ihnen nicht.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Wenn es nach Ihnen gegangen wäre, hätten sie gar nichts gekriegt!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1707124400

Das Wort hat nun der Kollege Markus Kurth für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1707124500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr

Kober, ich glaube nicht, dass es Ihnen zusteht, hier mit
dem Finger auf andere zu zeigen. Die Verantwortlichkei-
ten und Fehler, die sicherlich gemacht worden sind, sind
von fast allen Fraktionen im Hause gemeinsam gemacht
worden. Denn die Regelsatzverordnung ist von der Bun-
desregierung und den Landesregierungen verabschiedet
worden. So viel zur historischen Wahrheit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wenn an dem von Ihnen vorgelegten Gesetzentwurf
eines transparent und nachvollziehbar ist, Herr Kober,
dann ist es Ihre Absicht, die Bezieherinnen und Bezieher
von Arbeitslosengeld II zu diskriminieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das wird an verschiedenen Stellen in dem Gesetzent-
wurf deutlich, zuvörderst im Bereich der Regelleistun-
gen, indem Sie zum Beispiel eine vollkommen aner-
kannte und übliche Kulturdroge, nämlich den Alkohol,
aus der Regelleistung herausnehmen. Es ist schon ein
starkes Stück, Herr Linnemann, das mit Flugreisen zu
vergleichen.

Diskriminierend ist auch, dass Sie etwa Arbeitslosen-
geld II beziehenden Eltern nicht zugestehen wollen, mit
ihrem Kind in die Eisdiele zu gehen und sich ein Eis zu
kaufen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der SPD)


Es gibt noch eine Reihe von Regelungen, die einem
zwar nicht direkt ins Auge stechen, die aber auch zeigen,
dass Sie im Sozialrecht jetzt mit zweierlei Maß messen.
Zum Beispiel wollen Sie laut Ihrem Gesetzentwurf Dar-
lehen als Einkommen anrechnen.


(Anette Kramme [SPD]: Pfui!)


Das ist ein glatter Bruch mit den bisherigen Prinzipien
der Einkommensanrechnung in bedürftigkeitsabhängi-
gen Sozialsystemen. Wissen Sie, was das zur Folge ha-
ben wird? Der Bezieher von Arbeitslosgengeld II, des-
sen Kühlschrank kaputtgeht und der die Gelegenheit hat,
sich von einem Freund 100 Euro zu leihen, um einen ge-
brauchten Kühlschrank zu kaufen, wird diese Gelegen-
heit in Zukunft nicht mehr wahrnehmen können. Er wird
zur Bundesagentur für Arbeit gehen, einen umfänglichen
Streit darüber führen, ob der entsprechende Bedarf unab-
weisbar ist oder nicht, und sein Darlehen schließlich von
der Bundesagentur für Arbeit bekommen. Möglicher-
weise gibt es obendrein noch ein Sozialgerichtsverfah-
ren.

Was wollen Sie denn eigentlich? Reichen Ihnen die
1,1 Millionen Darlehen, die die BA jetzt schon verwal-
ten muss, nicht aus? Wollen Sie sie noch weiter zur
größten Bad Bank für Arme machen? Das ist doch ab-
surd!





Markus Kurth


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Pascal Kober [FDP]: Von der falschen Annahme ausgehend, dass die Menschen dauerhaft in Bezug von ALG II sind!)


Eine weitere diskriminierende Regelung ist die Ver-
kürzung der Nachzahlungspflicht bei falschen Beschei-
den von vier Jahren auf ein Jahr. Allen anderen Sozial-
leistungsbeziehern – etwa Rentnerinnen und Rentnern –
werden bei einem falschen Bescheid die Leistungen für
vier Jahre nachgezahlt. Nur bei Beziehern von Arbeitslo-
sengeld II soll das jetzt nur noch für ein Jahr gelten.
Auch das ist eine Diskriminierung, ebenso wie der Ver-
zicht auf die Rechtsfolgenbelehrung bei der Verhängung
von Sanktionen. Es ist vollkommen unerheblich, ob es
sich um sogenannte Wiederholungstäter handelt oder
nicht. Es wird ein Spezialrecht für Bezieher von Arbeits-
losengeld II eingeführt. Wie kann man das anders als
Diskriminierung bezeichnen?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Den größten Fehler drohen Sie zu begehen, indem Sie
Sachleistungen und Gutscheine für Kinder einführen. Es
zeichnet sich immer offensichtlicher ab, dass dies in Wi-
derspruch zu den vorhandenen Strukturen der Kinder-
und Jugendhilfe steht. Möglicherweise erzielen Sie so-
gar kontraproduktive Effekte, wenn derzeit ermäßigte
oder kostenfreie Regelangebote der Kinder- und Jugend-
hilfe einfach mit dem Gutschein verrechnet werden und
unter dem Strich kein Ausbau von Infrastruktur und För-
derangeboten erfolgt.

Das alles ist überhaupt nicht durchdacht. Sie haben in
der Sommerpause überlegt, wie Sie glänzen können. Die
Ministerin hielt dann die Chipkarte für eine gute Idee.
Im harten Licht der Praxis zeigt sich jetzt aber, wie
schwierig das ist. Vor allen Dingen zeigt sich jetzt die fa-
tale Wirkung des Kooperationsverbots, das die Große
Koalition mit der Föderalismusreform beschlossen hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Katja Kipping [DIE LINKE] – Gabriele HillerOhm [SPD]: Leider! Leider!)


Anstelle eines möglicherweise diskriminierenden Ein-
zelgutscheins wäre das Zusammenwirken von Kommu-
nen, Ländern und Bund im Bereich von Bildung und
Kinderförderung außerordentlich dringend notwendig.
Ich hoffe, dass Sie diesbezüglich noch einmal in sich ge-
hen und zu Einsicht gelangen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1707124600

Nächster Redner ist der Kollege Paul Lehrieder für

die Fraktion der CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1707124700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

liebe Kollegen! Lieber Herr Kurth, liebe Frau Kollegin
Hiller-Ohm, wenn man Sie reden hört, hält man es nicht
für möglich, dass Sie bei Einführung der SGB-II-Rege-
lungen in der bis vor kurzer Zeit geltenden Form tatsäch-
lich an der Regierung waren.


(Anette Kramme [SPD]: Wir lernen im Gegensatz zu Ihnen dazu!)


Sie, Herr Kurth, rufen: „Haltet den Dieb!“, haben uns
das aber selbst mit eingebrockt. Es stünde uns allen gut
an, liebe Frau Kollegin Hiller-Ohm, einfach zu sagen:
Wir haben es nicht richtig gemacht, wir sind jetzt aber
auf dem Weg, es besser zu machen.


(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das brauchen wir nicht! Das gibt doch das Verfassungsgerichtsurteil vor!)


In Ihrem Antrag vom 10. November 2010 heißt es –
ich zitiere –:

Der Bundestag wolle beschließen:

I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:

Der Bundestag bedauert …

Sie wünschen, dass wir beschließen, dass wir feststellen,
dass wir bedauern sollen. Ist das richtig?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Pascal Kober [FDP])


Ich glaube, dass diesem Antrag zu Recht keine Mehrheit
beschieden sein wird.

Zum Inhalt. In Ihrem Antrag steht – ich zitiere –:

Die Regelbedarfe werden nicht transparent und in
einem methodisch schlüssigen Verfahren ermittelt.

Sie werden auf Grundlage der EVS transparent ermit-
telt; das wissen Sie doch. Sie werden in einem metho-
disch schlüssigen Verfahren ermittelt. Entsprechend der
zutreffenden Kritik des Bundesverfassungsgerichts an
der Pauschalierung der Regelsätze für Kinder werden die
Abschläge für Kinder erstmalig transparent gemacht;
dies wird mit eigenen Bedarfssätzen für Kinder unter-
legt.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1707124800

Herr Kollege, darf ich Sie unterbrechen? Die Kollegin

Kipping möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1707124900

Ja, selbstverständlich. – Ich wäre ohnehin noch zu Ih-

nen gekommen – rhetorisch natürlich.


Katja Kipping (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707125000

Herr Lehrieder, Sie haben unterstrichen, dass die Re-

gelsätze transparent berechnet werden. Können Sie er-
läutern, warum Ihre Fraktion und die FDP-Fraktion im
Ausschuss allen Oppositionsfraktionen verwehrt haben,
alternative Berechnungen in Auftrag zu geben? Es ging
uns nur um alternative Berechnungen, die erst einmal In-





Katja Kipping


(A) (C)



(D)(B)

formationen darüber geliefert hätten, was es überhaupt
bedeutet, wenn verdeckt Arme herausgerechnet werden.
Sie können sich nicht wie der Kollege Kober hinter dem
Statistischen Bundesamt verstecken; denn wir wissen
sehr wohl, dass das Statistische Bundesamt in der Lage
wäre, Haushalte aus der Referenzgruppe herauszurech-
nen, die nur einen minimalen Hinzuverdienst haben. Sie
wollten das nicht. Jetzt sagen Sie mir einmal bitte, wie
das Verweigern von alternativen Berechnungen mit
Transparenz zu vereinbaren ist.


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1707125100

Frau Kollegin Kipping, Sie selber wissen, dass zur

Vermeidung von Zirkelschlüssen die Betroffenen ohne-
hin herausgerechnet worden sind.


(Elke Ferner [SPD]: Aber nicht alle!)


– Über die 13 Prozent bzw. die 20 Prozent kann man
sich trefflich streiten. – Wir können natürlich die Be-
rechnungsmethoden infrage stellen und für alternative
Berechnungen plädieren. Es handelt sich um Kohorten,
die bis zu einem gewissen Grad auf kleine Gruppen be-
schränkt werden können. Sie werden aber nicht jeden in-
dividuellen Fall in der Berechnung abbilden können,
Frau Kollegin Kipping.


(Katja Kipping [DIE LINKE]: Das Statistische Bundesamt kann das! Sie lassen das nicht zu!)


Sie müssten versuchen, für jeden Einzelfall eine ge-
rechte Lösung zu finden, was mit einem nicht mehr zu
rechtfertigenden Verwaltungsaufwand verbunden wäre.
Die EVS ist zugrunde gelegt worden, die im Übrigen
nicht wir erfunden haben, sondern die wir fortentwickelt
haben. Sie hat in der letzten Zeit zutreffende Ergebnisse
geliefert. Der von Ihnen in der Frage aufgeworfene
Sachverhalt, warum die Angaben der Haushalte mehrere
Monate keinen Betrag für Lebensmittel enthalten haben,
erschließt sich mir auch nicht.


(Elke Ferner [SPD]: Langsamer! Sprechen Sie deutlicher! Denken Sie doch mal an die Stenografen!)


Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass man hier eine
größere Menge eingekauft hat, die vielleicht noch im
Keller liegt. Man kann natürlich Alternativberechnungen
durchführen bis zum Gehtnichtmehr. Es ist das Vorrecht
der Opposition, das zu fordern und pauschal auf Alterna-
tiven hinzuweisen. Wir haben aber ein schlüssiges, vom
Bundesverfassungsgericht nicht beanstandetes Verfahren
zur Ermittlung der Regelsätze angewandt. Das wird auch
in Zukunft vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand
haben. Damit habe ich kein Problem.


(Elke Ferner [SPD]: Die Stenografen können einem nur leidtun!)


Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts steht da-
rüber hinaus, dass nicht festgestellt werden kann, dass
der für Kinder bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres
geltende Betrag von 207 Euro – das war der damals
einheitlich geltende Betrag – ein menschenwürdiges
Existenzminimum nicht ermöglicht. Sie sagen, das Bun-
desverfassungsgericht habe höhere Bedarfssätze vorge-
schrieben. Das stimmt schlichtweg nicht. Ich habe das
schon einmal in einer Rede vor diesem Hause vorgetra-
gen.


(Elke Ferner [SPD]: Sie wollen doch nicht bestreiten, dass die Datensätze, die Sie jetzt ermittelt haben, auf statistisch sehr invalider Datenbasis beruhen!)


– Stellen Sie mir eine Zwischenfrage. Ich verstehe Sie so
schlecht.


(Elke Ferner [SPD]: Ich verstehe Sie trotzdem! – Anette Kramme [SPD]: Keine zusätzliche Redezeit für Herrn Lehrieder!)


Im Übrigen hätte die Neuberechnung zu einer geringfü-
gigen Senkung der Regelsätze für Kinder und Jugendli-
che führen müssen. Auch das wissen Sie. Darüber haben
wir im Ausschuss gesprochen. Ausgerechnet worden
sind für Kinder von 0 bis 6 Jahren 213 Euro – das wären
2 Euro weniger als heute –, für Kinder von 6 bis 14 Jah-
ren 242 Euro – das wären 9 Euro weniger als heute – und
für Jugendliche von 14 bis 18 Jahren – das ist die neu
eingeführte Gruppe – 275 Euro, also 12 Euro weniger
als derzeit. Wir haben die Beträge natürlich nicht redu-
ziert, weil wir die Kinder und Jugendlichen in der Ge-
sellschaft stärker unterstützen wollen. Die betroffenen
Familien genießen Vertrauensschutz.

Herr Kollege Strengmann-Kuhn möchte mich etwas
fragen.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1707125200

Ich habe es gerade gesehen. – Bitte.


(Anette Kramme [SPD]: Muss das sein, die zusätzliche Redezeit?)



(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Kollege Lehrieder, Sie haben gesagt, dass es un-
weigerlich so war, dass die Regelsätze für die Kinder ge-
ringer ausfallen als bisher. Können Sie mir Folgendes er-
klären? Bei den 14- bis 18-Jährigen sind Sie in Ihren
Berechnungen davon ausgegangen, dass sie genauso viel
Alkohol und Tabak konsumieren wie Erwachsene. Bei
den jüngeren Kindern wurden diese Posten durch ent-
sprechende Beträge für Nahrungsmittel ersetzt. Ansätze
für Alkohol und Tabak gab es nur für die Eltern. Mit
welcher Begründung gehen Sie davon aus, dass 14- bis
18-Jährige genauso viel Tabak und Alkohol konsumie-
ren wie Erwachsene?


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1707125300

Herr Strengmann-Kuhn, Sie wissen so gut wie ich,

dass wir bisher in den Pauschalbeträgen – ob 60, 70 oder
80 Prozent des Erwachsenenbedarfssatzes – auch für
Kleinkinder bis sechs Jahre immer einen anteiligen Satz
für Tabak und Alkohol gehabt haben. Ich kenne kein
fünfjähriges Kind, das mit der Kippe durch die Gegend
läuft.





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)


(Elke Ferner [SPD]: Wir sind uns aber schon einig, dass sie unter 18 Jahren gar keine Zigarette rauchen sollen?)


Es waren also Bedarfssätze dabei, die einfach nicht ge-
passt haben. Diese sind jetzt nicht mehr dabei.

Wir haben insgesamt eine Wertung getroffen – Kol-
lege Linnemann hat darauf hingewiesen –, die uns vom
Verfassungsgericht auch zugestanden wurde, und haben
gesagt: Zur Existenzsicherung gehören Genussmittel
eben nicht in diesem Umfang.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie machen 14-Jährige zu Rauchern und zu Trinkern!)


Als Franke aus einer Weinbauregion sehe ich das na-
türlich mit gemischten Gefühlen. Ich bin froh, wenn un-
ser Silvaner und die guten Schoppen aus Franken ver-
kauft werden können. Aber Wein ist nicht existenziell
notwendig. Ich kann mich auch von Mineralwasser, von
Grundnahrungsmitteln ernähren.


(Katja Kipping [DIE LINKE]: Aber es ging um das soziokulturelle Existenzminimum und nicht um das physische! – Zuruf der Abg. Elke Ferner [SPD])


Deshalb ist das, wie ich es gesagt habe, herausgerech-
net worden; deshalb haben wir den Tabak und den Alko-
hol komplett herausgerechnet. Sie werden die EVS
durchschauen können, wie Sie wollen, dort findet sich
auch kein eigener Bedarfssatz für Schokolade oder für
Pralinés. Der eine mag es und gibt sein Geld dafür aus.
Die individuelle Kaufentscheidung des einzelnen Emp-
fängers können, wollen und werden wir nicht beeinflus-
sen. Das heißt, ob er sich Schnaps dafür kauft oder eine
Urlaubsreise davon finanziert, ob er sich Pralinés kauft,
kann er doch selbst entscheiden.


(Elke Ferner [SPD]: Deshalb nehmen Sie das Geld für Tabak und Alkohol weg!)


– Das ist eine Entscheidung, die jeder für sich treffen
muss.

Die Altersstufe zwischen 6 und 14 Jahren haben wir
kürzlich neu eingeführt und hier nun 70 Prozent des Re-
gelsatzes eines alleinstehenden Erwachsenen – bisher
60 Prozent – vorgesehen. Das bedeutet immerhin pro
Kind 35 Euro mehr.

Etwa 1,6 Millionen Kinder leben von den Regelleis-
tungen des SGB II. Darunter sind viele Kinder, deren Fa-
milien bereits in der dritten oder vierten Generation von
staatlicher Unterstützung leben. Auch das ist Ihnen be-
kannt. Das soll nicht so bleiben. Deshalb sehe ich unsere
zentrale Aufgabe darin, Menschen wieder in Beschäfti-
gung zu bringen und Kindern aus diesen Familien eine
Perspektive zu geben. Das sollte unser vorrangiges Ziel
sein.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, inso-
weit muss ich der Seite 1 Ihres Antrags widersprechen.
Die Bundesregierung begreift die Vorgabe des Bundes-
verfassungsgerichts eben doch als Chance, allen Kindern
und Jugendlichen gleiche Bedingungen für die beste Bil-
dung zu ermöglichen. Deshalb müssen wir die Grund-
sicherung künftig so ausrichten, dass Kinder von Lang-
zeitarbeitslosen bessere Bildungschancen und mehr
Aussicht auf ein Leben in Arbeit haben als ihre Eltern.

Es ist richtig: Erstmalig ist künftig ein Bildungsansatz
mit Bildungsangeboten enthalten. Es geht nicht nur um
die Absicherung der materiellen Bedürfnisse, sondern es
geht vielmehr auch um die Absicherung der immateriel-
len Bedürfnisse, es geht, wie das Verfassungsgericht so
schön schreibt, um die Teilhabe an der Gesellschaft. Da-
bei geht es nicht nur um Kinder, deren Eltern Hartz IV
beziehen, sondern auch um die Kinder der Geringverdie-
ner, der Aufstocker. Bei unseren Berechnungen dürfen
wir auch diese nicht aus dem Blick verlieren. Auch ih-
nen müssen wir Perspektiven eröffnen; denn in jedem
Kind stecken Hoffnungen, Begabungen und Fähigkeiten.

Wir werden die jetzt laufende Diskussion über den
sich abzeichnenden Facharbeitermangel auch dazu nut-
zen müssen, um zu fragen: Wie können wir das errei-
chen, was unsere Arbeitsministerin in ihrer Zeit als Fa-
milienministerin immer gesagt hat? Sie hat gesagt: Kein
Kind darf verloren gehen. Wir sollten uns gemeinsam
anstrengen – das gilt auch für die Kollegen von der SPD –,
dass wir die Kinder bestmöglich fördern. Wir brauchen
sie in den nächsten Jahren in unserer Gesellschaft.


(Elke Ferner [SPD]: „Bestmöglich“ ist aber etwas anderes!)


Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die Große
Koalition hatte schon das Schulstarterpaket eingeführt.


(Elke Ferner [SPD]: Gegen Ihren Widerstand!)


– Darauf können Sie doch ein bisschen stolz sein. Jetzt
tun Sie so, als sei das, was wir damals zusammen ge-
macht haben, alles falsch gewesen. Seien Sie froh. Das
haben wir doch gut gemacht.


(Elke Ferner [SPD]: Sie wollten es doch zuerst gar nicht! Geben Sie es doch wenigstens zu! – Gegenruf von der CDU/CSU: Es war Ihr Finanzminister, der dagegen war! – Gegenruf der Abg. Elke Ferner [SPD]: Das stimmt überhaupt nicht!)


– Wir haben uns eben von Ihnen ein Stück weit begeis-
tern lassen.


(Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Die Kollegin Müller-Gemmeke möchte gerne etwas
fragen. Ich würde die Zwischenfrage zulassen.


(Katja Kipping [DIE LINKE]: Herr Kollege Lehrieder, könnten Sie bitte bei Ihrer Antwort langsamer reden? Man versteht Sie so schlecht! – Elke Ferner [SPD]: Langsamer und deutlicher!)


– Ich wollte nur im Hinblick auf die fortgeschrittene Zeit
nicht allzu lange reden.






(A) (C)



(D)(B)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1707125400

Bitte sehr, Frau Müller-Gemmeke.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Kollege Lehrieder, ich muss einmal nachfragen,
weil Sie gerade gesagt haben, es solle kein Kind verloren
gehen. Nun gibt es aber doch die Anweisung, dass für
Kinder aus dem SGB-II-Bereich gelten soll: Wenn ein
Kind die Prognose hat, dass es die nächste Klassenstufe
nicht erreicht, wird die Lernförderung nicht genehmigt.
Wenn ein Kind Lernförderung erhalten soll, damit es auf
eine höhere Schule gehen kann, gibt es auch keine Lern-
förderung. Wie passt das mit dem zusammen, was Sie
eben gesagt haben, dass nämlich speziell diese Kinder
eine besondere Lernförderung erhalten und dass sie
wirklich bessere Chancen haben sollen?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1707125500

Frau Kollegin, Sie wissen so gut wie ich, dass es

Nachhilfe in verschiedenen Situationen gibt. Einmal gibt
es Nachhilfe, wenn das Kind Hilfe braucht, um über-
haupt im laufenden Unterricht mitzukommen. Auf der
anderen Seite ist es oft genug so, dass die Eltern sagen:
Mein Kind muss unbedingt auf die und die Schule kom-
men. – Da muss man also in Absprache mit der Lehrer-
schaft differenzieren und schauen: Wo ist der Bedarf?
Wo kann eine Lernförderung gewährt werden?

Dass die Entscheidung darüber, wo eine Lernförde-
rung zu gewähren ist, nicht im Jobcenter getroffen wer-
den kann, sollte uns klar sein. Da gilt das, was der Kol-
lege Linnemann vorhin gesagt hat und was, wie ich
annehme, Kollegin Lösekrug-Möller am Schluss harmo-
nisierend darstellen wird: Wir sind gut beraten, hier mit
den bestehenden Einrichtungen der Jugendhilfe, der
Kommunen, aber auch mit den Schulen in Kontakt zu
treten, um zu erreichen, dass unsere Gelder zielgenau an-
kommen.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht um die Anweisung! Wer kriegt es und wer nicht?)


– Welche Kinder welche Förderung brauchen, muss he-
rausgearbeitet werden. Wir müssen sehen, wo hier pass-
genau eine Chance für das Kind besteht, sodass es nicht
durchs Raster fallen kann.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie weichen der Frage aus! – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie weichen der Frage tatsächlich aus! Das war keine Antwort!)


– Ein Kind, das das Gymnasium vielleicht ohnehin nicht
schafft, für das die Eltern, auch wenn sie normal verdie-
nen würden, keine Nachhilfe bezahlen würden, kann ich
nicht auf Staatskosten durchzuboxen versuchen.


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht um die Kinder, wo es möglich ist!)

– Natürlich, wo es nötig ist. Das müssen wir herausarbei-
ten. Das wird sich finden. Das werden wir definieren
können.

Herr Kollege Kurth hat in seinem Beitrag vorhin ge-
sagt, er habe große Bedenken, weil bestehende Angebote
zurückgefahren werden könnten. Ich habe mir das extra
einmal von meiner Sing- und Musikschule in Würzburg
herausgesucht.


(Iris Gleicke [SPD]: Das sind lange sechs Minuten!)


– Das waren mehrere Fragen, Frau Kollegin. Wenn Sie
noch eine Frage stellen, können es noch längere sechs
Minuten werden. – Da gibt es schon Sozialtarife. Bei ei-
nem bestimmten Einkommen zahlt das Kind bereits
heute nicht für den Unterricht in der Sing- und Musik-
schule. Das ist aber noch nicht flächendeckend so. Auch
beim warmen Mittagessen ist das noch nicht flächende-
ckend so.

Ich kann mir gut vorstellen, dass ein Schulaufwands-
träger sich leichter tut, ein warmes Schulmittagessen an-
zubieten, wenn eine bestimmte Nachfrage realistisch zu
erwarten ist. Von daher tun wir damit etwas für die be-
dürftigen Kinder, helfen darüber hinaus aber auch den
Schulen ein Stück weit, das entsprechend zu planen.

Ich glaube, wir sind auf einem guten Weg. Lassen Sie
uns das gemeinsam konstruktiv weiterentwickeln!


(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müssen Sie auch mal etwas annehmen, sonst ist das nicht konstruktiv!)


Wir haben Fehler der Vergangenheit ausgemerzt. Die
Fehler haben wir auf unsere gemeinsame Kappe zu neh-
men. Deshalb sage ich: Lassen Sie uns an die Betroffe-
nen denken, an die bedürftigen Familien, an die bedürfti-
gen Kinder! Wir sollten uns hier nicht nur streiten,
sondern das so fortentwickeln, dass die wirklich etwas
davon haben.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1707125600

Letzte Rednerin in dieser Debatte ist nun die Kollegin

Gabriele Lösekrug-Möller für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Gabriele Lösekrug-Möller (SPD):
Rede ID: ID1707125700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir wa-

ren gerade Zuhörer einer kleinen Deutschstunde. Paul
Lehrieder, wo liegt der Unterschied zwischen „Wir las-
sen kein Kind zurück“ und „Das Kind kommt eben nicht
mit“? In der Differenz liegt eine Menge Politik.


(Zuruf von der SPD: Allerdings!)


Mein Eindruck ist, dass es Schwarz-Gelb mit dem
Gesetzentwurf gelungen ist, ein bestehendes Gesetz
nach einem Verfassungsgerichtsurteil zu verändern, lei-
der zu verschlimmbessern. Das ist meine Einschätzung
von dem, was vorliegt.





Gabriele Lösekrug-Möller


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Lachen bei der CDU/CSU – Max Straubinger [CDU/ CSU]: Wir brauchen die Reparatur von RotGrün!)


Lassen Sie uns zu so später Stunde doch noch einmal
einen kleinen Rückblick wagen! Gehen wir zurück in
den Februar 2010. Da hat nämlich Karlsruhe entschie-
den, dass wir bestimmte Sachen deutlich anders und bes-
ser machen müssen. Dann kam das Frühjahr. Dann ging
das Frühjahr. Es passierte gar nichts. Im Juni war die
ganze Republik gerührt. Warum? Weil unsere Ministerin
sich für ein warmes Mittagessen für Kinder aussprach.
Im Juli stand die Zukunft kurz bevor; dank einer elektro-
nischen Karte sollte nämlich Mehmet im Fußballverein
klarkommen und Maria Klavier spielen. Dann kamen die
Sommerferien, und die Spannung wuchs: Wird es denn
mit der Nachhilfe für die, die das brauchen, klappen?
Werden Jobcenter Erziehungslotsen haben? Das hat die
Nation bewegt. Dann kam der Herbst; Sie sagen ja: der
Herbst der Entscheidungen. In der Tat! Da kam der Ge-
setzentwurf, und die Mehrheit war enttäuscht, nicht Sie
als Mehrheit im Parlament, aber die Mehrheit in der Ge-
sellschaft. Die Kirchen waren entsetzt. Die Wohlfahrts-
verbände haben nicht verstanden, was das sein sollte.
Die Sozialverbände standen kopf. Auch die SPD-Frak-
tion wurde beinahe ratlos – beinahe.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das ist nicht neu! Das kommt öfter vor! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Sie blieb es!)


Der Traum war kurz. Er dauerte nur einen Sommer lang.
Für mehr hat es nicht gereicht.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Ich will das am Beispiel des warmen Mittagessens er-
klären. Wie viele Schulen bieten es eigentlich an? We-
nige; denn nur wenige Schulen in Deutschland sind
Ganztagsschulen. Statt einen großen Aufschlag zur Ver-
besserung der Bildungsinfrastruktur zu machen, begnü-
gen Sie sich damit, Kindern im Sozialgeldbezug, natür-
lich nicht bar ausgezahlt, einen Zuschuss zu gewähren.
Wie vielen Kindern werden Sie am Ende wirklich damit
helfen können? Gehen wir von 1 Million schulpflichtiger
Kinder im Sozialgeldbezug aus und nehmen wir an,
wenigstens jede fünfte Schule bietet warmes Mittag-
essen an, dann beschränkt sich der „große Wurf“ auf
200 000 Kinder. Und die übrigen 800 000? Die haben
eben Pech gehabt, weil unsere Betreuungsinfrastruktur
für sie nicht das bietet, was sie brauchen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das ist nicht Teilhabe; das ist Teilchenhabe. Deshalb
sind wir damit überhaupt nicht einverstanden. Deshalb
verknüpfen wir in unserem Antrag die notwendigen Ver-
besserungsvorschläge zu den Regelsätzen mit Leistun-
gen für Bildung und Teilhabe von Kindern und Jugendli-
chen. Deshalb streben wir einen nationalen Bildungspakt
an, der konkrete Ziele festschreibt. Die Einzelheiten
dazu finden Sie in unserem Antrag. Sie könnten sie glatt
übernehmen. In diesem Fall wäre Abschreiben eine gute
Leistung.

Im Übrigen, meine Damen und Herren, haben wir
gestern Schützenhilfe vom Sachverständigenrat zur Be-
gutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung er-
halten. Man höre und staune! Das Gutachten trägt den
Titel „Chancen für einen stabilen Aufschwung“. Man
muss nur bis Seite 5 lesen, um Folgendes zu finden – ich
zitiere –:

Eine Bildungsoffensive muss zum einen das allge-
meine Bildungsniveau in Deutschland … anheben.
Zum anderen besteht die Notwendigkeit, Chancen-
gleichheit, insbesondere für Kinder und Jugendli-
che aus bildungsfernen Elternhäusern, bei der Er-
langung höherer Bildungsabschlüsse herzustellen.


(Uwe Schummer [CDU/CSU]: Genau das machen wir! Bildungspaket!)


Recht hat der Sachverständigenrat. Zu Recht fordert er
mehr als diese zaghafte Teilchenhabe.


(Beifall bei der SPD)


Meine Damen und Herren, ich will Ihnen nur sagen:
Wenn es schon sozialpolitisch nicht reicht, dann müsste
es doch wenigstens volkswirtschaftlich ein Einsehen ge-
ben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Katja Kipping [DIE LINKE])



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1707125800

Ich schließe die Aussprache.

Die Fraktionen haben vereinbart, dass die Vorlage auf
Drucksache 17/3648 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse überwiesen werden soll. – Sie sind
damit einverstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 13 a und 13 b
auf:

a) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

60 Jahre Europäische Menschenrechtskonven-
tion

– Drucksache 17/3423 –

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Andrej
Hunko, Dr. Diether Dehm, Annette Groth, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

60 Jahre Europäische Menschenrechtskonven-
tion – Menschenrechte stärken, schützen und
durchsetzen

– Drucksache 17/3658 –

Die Fraktionen haben vereinbart, dass darüber etwa
eine halbe Stunde diskutiert wird. – Dazu höre ich kei-
nen Widerspruch. Dann werden wir so verfahren.





Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Joachim Hörster für die CDU/CSU-
Fraktion das Wort.


Joachim Hörster (CDU):
Rede ID: ID1707125900

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Die Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und
Bündnis 90/Die Grünen haben einen gemeinsamen An-
trag aus Anlass von 60 Jahren Existenz der Europäischen
Menschenrechtskonvention eingebracht.

Der Antrag ist so gut abgefasst, dass ich auf die Histo-
rie nur noch kurz eingehen muss. Ein paar wenige Dinge
will ich aber doch dazu sagen; denn der Europarat ist die
älteste europäische Institution von allen Organisationen,
die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen worden
sind. Sein Statut ist infolge einer visionären Entschei-
dung von europäischen Regierungschefs am 5. Mai 1949
unterzeichnet worden, und die Konvention der Gründer-
staaten zum Schutz der Menschenrechte und der Grund-
rechte ist im November 1950 unterzeichnet worden. So
alt ist also dieses Vertragswerk.

Dieses Vertragswerk hat im Laufe der Jahre einige
Veränderungen erfahren. Am 3. September 1953 trat die
Konvention in Kraft, weil die Abwicklung all dessen
auch eine gewisse Zeit benötigte. Seitdem wurden
14 Protokollergänzungen vorgenommen. Heute gehören
47 Staaten dem Europarat an.

Die wichtigste Ergänzung der Europaratsvereinba-
rung war das Zusatzprotokoll Nr. 11 von 1992, weil da-
rin der Grundstein für den Europäischen Menschen-
rechtsgerichtshof gelegt wurde, die wohl wichtigste
Einrichtung, die der Europarat neben seiner Parlamenta-
rischen Versammlung hat. Für die Menschen ist dieser
Gerichtshof aber viel wichtiger als die Parlamentarische
Versammlung, weil sich jeder an diesen Europäischen
Menschenrechtsgerichtshof wenden kann. Er nahm 1998
seine Arbeit auf, und er ist aus der europäischen politi-
schen Landschaft überhaupt nicht mehr wegzudenken.

Die Gründung des Europarates war auch in Deutsch-
land kein Selbstläufer. Sie war ziemlich umstritten, und
es gab heftige Diskussionen darüber, ob der Beitritt der
Bundesrepublik Deutschland zum Europarat nicht die
Wiedervereinigung behindern könnte. Deswegen gab es
nicht nur Befürworter wie Konrad Adenauer, der massiv
für den Beitritt zum Europarat eintrat, sondern auch Kri-
tiker, beispielsweise Jakob Kaiser aus der CDU oder die
Sozialdemokratische Partei, die Befürchtungen in ähnli-
cher Richtung hatte. Über die Grünen kann ich in diesem
Zusammenhang nichts sagen; sie waren noch nicht in
Sicht.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir waren damals schon dafür! – Heiterkeit)


Der Europarat wurde gegründet, um die Menschen-
rechte und die parlamentarische Demokratie zu schüt-
zen. Er wurde als europaweites Abkommen zur Harmo-
nisierung der sozialen und rechtlichen Praktiken der
Mitgliedstaaten gegründet, und er wurde in dem Be-
wusstsein begründet, eine europäische Identität zu we-
cken, die sich auf gemeinsame und über Kulturunter-
schiede hinausgehende Werte gründete. Wenn Sie so
wollen, war er eine Art Vorläufer der Europäischen
Union.

Der Europarat hat eine sehr wichtige Rolle beim Bei-
tritt der mittel- und osteuropäischen Staaten gespielt;
denn er hat diesen Staaten mit deren Aufnahme Hilfe-
stellung bei der Transformation von früher kommunis-
tisch organisierten hin zu marktwirtschaftlich organisier-
ten Staaten gegeben, Staaten, die ein Justizsystem
einführen, das diesen Namen verdient, und die den Ver-
such unternehmen, die Menschenrechte zu achten, ob-
wohl dies in diesen Beitrittsländern so selbstverständlich
nicht war. 21 mittel- und osteuropäische Staaten sind
dem Europarat seit dem Fall der Mauer beigetreten. Un-
garn war das erste Land des ehemaligen Ostblocks, das
am 6. November 1990 beitrat.

Heute gehören zum Beispiel Aserbaidschan, Arme-
nien und Georgien zum Europarat, sehr konfliktbeladene
Länder, die große Minderheitenprobleme haben, in de-
nen es Besetzungen und Vertreibungen gegeben hat, in
denen auch die russische Großmacht noch überall die
Finger im Spiel hat und eine besondere Rolle spielt.
Dem Europarat gehören auch Länder wie Zypern an, das
geteilt und dessen nördlicher Teil durch die türkische Ar-
mee besetzt ist. Es gibt also fortdauernde Baustellen, die
sorgfältig beobachtet und bearbeitet werden müssen, um
die damit verbundenen Verletzungen der Europaratskon-
vention zu beseitigen, sodass die Staaten zur Normalität
zurückkehren können.

Aber auch für die praktische Arbeit, für praktische
Entscheidungen, die wir zu treffen haben, spielen die Er-
kenntnisse des Europarates eine erhebliche Rolle. Die
Türkei gehört zu denjenigen Mitgliedern des Europarats,
die die Menschenrechtskonvention schon am längsten
unterschrieben haben; aber zu dem, wozu sie verpflichtet
ist – die Achtung der Menschenrechte und der religiösen
Grundfreiheiten sowie anderes mehr –, ist sie bis heute
nicht gelangt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wenn wir angesichts dessen, dass die Türkei Mitglied
der Europäischen Union werden will, betrachten, welche
Entwicklung sie seit 1950 genommen hat, dann kann die
Hoffnung nicht allzu groß sein, dass sie rechtzeitig zu ei-
nem Beitritt zur Europäischen Union all die Schwierig-
keiten beseitigt hat, die gegenwärtig vorhanden sind.


(Beifall der Abg. Erika Steinbach [CDU/ CSU])


Ich will darauf aufmerksam machen, dass es – obwohl
doch angeblich die Menschenrechte in der Türkei einge-
halten werden – nicht ganz verständlich ist, dass noch
heute der größte Teil der Asylbewerber in der Bundesre-
publik Deutschland aus der Türkei stammt. Diese kön-
nen nicht in ihr Land zurückgebracht werden, weil zu
befürchten ist, dass mit ihnen dort nicht menschenrechts-
würdig umgegangen wird und dass sie vor Gericht nicht
fair behandelt werden. Auch in Bezug auf diese Ent-
scheidungen kann man den Europarat befragen.





Joachim Hörster


(A) (C)



(D)(B)

Ich will noch darauf hinweisen, dass wir auch mit an-
deren Ländern Probleme haben. Die kleinen Länder
lasse ich einmal außen vor; ich greife nur ein großes
Land wie Russland heraus. In diesem Zusammenhang
hat es verdienstvolle Berichte von deutschen Mitgliedern
in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates
mit dem Ziel gegeben, die Einhaltung der Menschen-
rechte und die Beachtung der Pressefreiheit und der poli-
tischen Freiheiten in Russland zu erreichen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wäre Ihnen als
Leiter der deutschen Delegation in der Parlamentari-
schen Versammlung des Europarates von Herzen dank-
bar, wenn Sie die Kolleginnen und Kollegen, die in der
Parlamentarischen Versammlung des Europarates auch
für unser Land ihren Dienst leisten, in ihrer Arbeit unter-
stützen würden. Wir waren sehr dankbar, als die Bundes-
kanzlerin am 15. April 2008 den Europarat besucht hat,
vor der Parlamentarischen Versammlung geredet hat und
auch mit den Kolleginnen und Kollegen, die die Europa-
ratsdelegation bilden, gesprochen hat. Wir haben uns da-
rüber gefreut, dass Bundesaußenminister Dr. Westerwelle
am 4. Oktober 2010 in Straßburg gewesen ist und zu den
Mitgliedern der Parlamentarischen Versammlung des
Europarates gesprochen hat. Das sind Zeichen, die Mut
machen und die unterstreichen, dass der Europarat und
seine Einrichtungen, insbesondere der Europäische Ge-
richtshof für Menschenrechte, auch von den regierungs-
amtlichen Stellen geachtet und geschätzt werden. Wenn
sich diese Anerkennung etwas mehr verbreitet und wir
uns nicht nur Neid ausgesetzt sehen, weil wir ab und zu
in Straßburg und nicht in Berlin tagen, dann wäre das für
die Entwicklung der gesamten Institution hilfreich.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1707126000

Das Wort hat der Kollege Christoph Strässer für die

SPD-Fraktion.


Christoph Strässer (SPD):
Rede ID: ID1707126100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich glaube, es ist ein guter Brauch, dass im Deutschen
Bundestag öfter als anderswo über den Europarat und
über die Europäische Menschenrechtskonvention ge-
sprochen wird.

60 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention ist
– man kann es nachvollziehen – eine große Tradition, die
auf der ganzen Welt einmalig ist. Das kann man mit Fug
und Recht behaupten. Es tut manchmal ein wenig weh,
wenn man in Debatten über den Europarat und über den
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte hört:
„Ach, der Europäische Rat“ und „Ach, der EuGH“. Das
haben der Europarat und auch diejenigen, die sich in die-
ser Institution engagieren, nicht verdient. Europa mit sei-
nen 47 Mitgliedstaaten des Europarates würde heute
ganz anders aussehen, wenn es die Institution Europarat
und die EMRK nicht geben würde. Das sollten wir ganz
deutlich nach außen kommunizieren.

(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Kollege Hörster, ich möchte Ihre Stellungnahme
kurz ergänzen und auch eine kritische Anmerkung an-
bringen. Die Unterzeichnung der Europäischen Men-
schenrechtskonvention wurde kurz nach der Gründung
des Europarates von seinen Gründungsmitgliedern voll-
zogen. Das waren zehn Länder. Es gab zwei Länder, die
noch nicht Mitglied des Europarates waren, die aber die
Europäische Menschenrechtskonvention gezeichnet ha-
ben. Das waren interessanterweise die Bundesrepublik
Deutschland und die Türkei. Sie haben gesagt – dem
kann man nicht ernsthaft widersprechen –, dass die Ent-
wicklung in der Türkei anders verlaufen ist als in
Deutschland. Aber ich glaube – das ist die für mich
wichtigere Erkenntnis –, dass die Entwicklung in der
Türkei ohne den Europarat noch einmal anders verlaufen
wäre. Ohne damit die Frage zu entscheiden, ob die Ko-
penhagener Kriterien für den Beitritt der Türkei zur EU
erfüllt sind, muss man darüber reden, dass in der Türkei
im Bereich der Demokratie und der Menschenrechte in
den letzten 60 Jahren Fortschritte erzielt worden sind.
Auch das gehört zur Wahrheit, wenn wir über diese
Dinge reden. Das ist ein Verdienst der Kontrollen, die es
in Bezug auf die Europäische Menschenrechtskonven-
tion gegeben hat.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn wir uns schon mit den Erweiterungen der letz-
ten 20 Jahre befassen, möchte ich ein zweites Beispiel
nennen – auch das ist wichtig –: Russland. Was im Mo-
ment in Russland im Bereich der Rechtsstaatlichkeit ab-
läuft – wir haben das gerade noch einmal intern bespro-
chen –, ist auch 20 Jahre nach der Transformation weiß
Gott nicht das, was man sich vorstellen könnte. Die Pro-
zesse, die wir verfolgen – nicht nur die prominenten
Prozesse –, entbehren jeder rechtsstaatlichen Grundlage,
unabhängig von der Tatsache, dass wir nicht mit dem
Finger auf diese Länder zeigen. Es ist auch ein großes
Verdienst der Parlamentarischen Versammlung des Eu-
roparates – und dabei sollte es bleiben –, dass wir wis-
sen, unter welchen Bedingungen Menschen auch in
Russland inhaftiert sind, dass wir das aufdecken und da-
rüber reden können.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Auf der anderen Seite – auch das möchte ich anführen –
ist es gut und richtig, dass Russland Mitglied des Euro-
parats ist. Wir haben anzuerkennen, dass der langwierige
Prozess der Ratifizierung des Protokolls Nr. 14 zur Kon-
vention zum Schutze der Menschenrechte und Grund-
freiheiten letztendlich in der Duma vollzogen worden
ist. Man sollte dem einen oder anderen Kollegen aus der
Duma sagen: Das habt ihr gut gemacht; denn damit ist
ein Hindernis für die Arbeit des Europäischen Gerichts-
hofs für Menschenrechte beseitigt worden, der – Kollege
Hörster hat darauf hingewiesen – das Kernstück des
Europarates und seiner Arbeit ist.





Christoph Strässer


(A) (C)



(D)(B)

Ich möchte auf den Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte eingehen. Sie haben die Zahlen ge-
nannt. Es gibt bei uns in Deutschland ein Sprichwort: Es
gibt Institutionen, Menschen und Gruppen, die an ihrem
Erfolg zu ersticken drohen. Ich meine, man muss sich
das einmal vor Augen führen: Der Europäische Gerichts-
hof für Menschenrechte erhält pro Jahr 50 000 Eingaben.
Insgesamt gibt es 90 000 unerledigte Fälle.

Die Einrichtung des Gerichtshofs ist für die betroffe-
nen Menschen eine positive Entwicklung. Sie haben die
Möglichkeit, sich zu beschweren, was gegebenenfalls in
den nationalen Parlamenten und auf den nationalen
Rechtswegen nicht möglich ist. Sie können sich als Indi-
viduen auf die Grundrechte beziehen, die in der Europäi-
schen Menschenrechtskonvention niedergelegt sind. Ich
glaube, das ist ein Quantensprung für den Menschen-
rechtsschutz in Europa; der Gerichtshof ist ein Vorbild
für viele andere Regionen. Ich denke, man muss den Ge-
richtshof unterstützen. Da muss die Bundesregierung
Poahl halten – das haben alle Bundesregierungen getan,
auch die jetzige –, also diese Institution stärken und ihr
den Stellenwert geben, den sie verdient. Das ist die erste
Botschaft zu diesem Straßburger Gerichtshof.

Sie haben gesagt, dass fast die Hälfte der Eingaben
aus vier großen Ländern stammt, aus Russland, Rumä-
nien, der Ukraine und der Türkei. Das ist richtig. Ich
möchte an dieser Stelle aber einmal darauf hinweisen,
dass auch wir in Deutschland vom Europäischen Ge-
richtshof für Menschenrechte verurteilt werden, zum
Beispiel aufgrund zu langer Verfahren.


(Andrej Hunko [DIE LINKE]: Sehr richtig!)


Ich möchte eine Entwicklung darstellen, die hier in der
letzten Sitzungswoche bei der Debatte über die Verände-
rung der Rechtsgrundlagen für die Sicherungsverwah-
rung eine Rolle gespielt hat. Da hat es ein Urteil des Eu-
ropäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegeben,
das ich persönlich für richtig halte. Natürlich kann und
muss man – davor ist auch dieser Gerichtshof nicht ge-
feit – Kritik an Entscheidungen dieses Gerichtes üben
können. Ich bedauere, dass der Kollege Dr. Krings, der
hier in der letzten Woche gesprochen hat und ausdrück-
lich bedauert hat, dass es nicht möglich war, in der letz-
ten Sitzungswoche zu prominenter Zeit über diese The-
men zu sprechen, nicht hier ist. Ich finde, seine Kritik
am Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschen-
rechte gründet auf einem fundamentalen Missverständ-
nis der Arbeit des Gerichtshofs. Er hat gesagt – ich
zitiere das mit Erlaubnis aus dem Protokoll –:

Die Gleichsetzung von Sicherungsverwahrung mit
Strafhaft hat aus meiner Sicht ganz zentral damit zu
tun, dass sich das Gericht in Bezug auf die Fakten
nicht ausreichend mit der Praxis und dem System
des deutschen Strafrechts befasst hat.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Gegenteil ist richtig!)


Das ist bei der Bewertung des Umstandes genau der fal-
sche Ansatz.
Ich sage es noch einmal: Kritik ist völlig in Ordnung.
Mit dieser Äußerung wird aber aus meiner Sicht die
Funktionsweise des Europäischen Gerichtshofs für Men-
schenrechte missachtet; denn es geht gerade nicht da-
rum, auf das nationale Recht Bezug zu nehmen. Stellen
Sie sich vor, wie wir argumentieren würden, wenn die
Russen oder die Türken ein Urteil mit der Begründung
ablehnen würden, dass sich der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte nicht ausreichend mit den Grundla-
gen des jeweiligen materiellen Strafrechts befasst habe.
Ich sage: Es geht bei der Rechtsprechung des Europäi-
schen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht um be-
stimmte nationale Rechtssysteme – wo auch immer sie
sind –, sondern um die Ergebnisse der nationalen Recht-
sprechung. Wenn Menschen ohne ausreichende entspre-
chende Rechtsgrundlage ihrer Freiheit beraubt werden,
dann ist das ein Verstoß gegen die Menschenrechte. Das
muss der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
rügen, wenn er seine Glaubwürdigkeit bewahren will.
Deshalb ist dieses Urteil aus meiner Sicht richtig.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich komme mit einer Bemerkung, die für unsere zu-
künftigen Debatten vielleicht wichtig ist, zum Schluss.
Es geht um den Beitritt der Europäischen Union zur Eu-
ropäischen Menschenrechtskonvention. Ich bitte all die-
jenigen, die damit befasst sind, insbesondere all diejeni-
gen, die bei den Verhandlungen aktiv sind, ganz
herzlich: Bei diesen Debatten darf es nicht zu einem un-
nötigen Konkurrenzkampf kommen. Es darf nicht dazu
kommen, dass Institutionen ohne Mehrwert für die Men-
schenrechtsarbeit geschaffen werden. Wenn der Prozess
erfolgreich sein soll und wir einen lückenlosen, guten
Menschenrechtsschutz in Europa etablieren wollen, auch
in der EU, dann müssen wir – nur dadurch kann das ge-
schehen – die Institutionen des Europarates, den Euro-
päischen Gerichtshof für Menschenrechte und den Kom-
missar für Menschenrechte, stärken und nicht schwä-
chen. So werden wir für den Bereich, für den die EU
bzw. der Europarat zuständig ist, ein gutes Ergebnis im
Sinne der Menschen erreichen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1707126200

Nächste Rednerin ist die Kollegin Marina Schuster

für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Marina Schuster (FDP):
Rede ID: ID1707126300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Am 4. November 1950 wurde Geschichte ge-
schrieben. Damals haben die zehn Gründungsstaaten des
Europarates die Europäische Menschenrechtskonven-
tion, die EMRK, unterzeichnet. Damit wurden im Völ-
kerrecht erstmals Grund- und Freiheitsrechte als einklag-
bare individuelle Rechte kodifiziert: das Verbot der





Marina Schuster


(A) (C)



(D)(B)

Folter und der unmenschlichen Behandlung, das Recht
auf Freiheit und Sicherheit, aber auch politische Rechte
wie das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Reli-
gionsfreiheit, das Recht auf freie Meinungsäußerung und
auf Versammlungsfreiheit. Aber auch umfangreiche jus-
tizielle Grundrechte sowie ein Diskriminierungsverbot
wurden festgeschrieben. Daran zeigt sich der besondere
Wert der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Sie ist heute in 47 Staaten gültig. Für fast 1 Milliarde
Menschen ist die EMRK somit ein ganz wichtiger Pfei-
ler des Menschenrechtssystems. Wir haben nach wie vor
die Aufgabe, die EMRK insbesondere in den Ländern zu
stärken, in denen sie keine Geltung entfaltet, in denen sie
vernachlässigt wird. Deswegen dürfen wir bei Gesprä-
chen, die wir mit Abgeordneten der jeweiligen Länder
führen, nicht nachlassen, darauf zu drängen, dass die
EMRK eingehalten wird. Deshalb war es wichtig und
richtig, dass Guido Westerwelle bei seiner Rede vor der
Parlamentarischen Versammlung des Europarates am
4. Oktober 2010 die Menschenrechtsschutzsysteme und
die Menschenrechtspolitik erwähnt und herausgestellt
hat. Es ist wichtig, dass den Worten Taten folgen. Gerade
diejenigen, die Teil der Parlamentarischen Versammlung
sind, müssen sich mit der Kritik auseinandersetzen.

Für uns ist die ERMK auch Verpflichtung, jeden Tag
für die kodifizierten Rechte einzutreten und dafür zu sor-
gen, dass zum Beispiel der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte seine Arbeit auch wirklich machen
kann.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Kollege Strässer hat zu Recht die Beschwerdeflut und
die entsprechenden Zahlen erwähnt. Bei der Reform des
Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte muss es
jetzt darum gehen, das Prozedere so zu gestalten, dass
die Verfahren handhabbar sind, dass Urteile gesprochen
werden und die Menschen nicht zu lange auf das Urteil
warten müssen. Unsere Justizministerin, Frau Leutheusser-
Schnarrenberger, hat im Zusammenhang mit dem soge-
nannten Interlaken-Prozess eigene Vorschläge dazu ein-
gebracht.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Christoph Strässer [SPD])


Ich bin sehr zuversichtlich, dass mit den Vorschlägen,
die Sabine Leutheusser-Schnarrenberger eingebracht hat,
der Weg zu mehr Rechtsschutz gut beschritten werden
kann.

Auch der Kollege Strässer hat einen Punkt angespro-
chen, über den wir im Ausschuss mehrmals debattiert
haben, nämlich den Beitritt der EU zur EMRK. Wir ha-
ben es hier mit einem juristisch nicht einfachen Fahrwas-
ser zu tun.


(Christoph Strässer [SPD]: Schaffen wir aber!)


Deswegen ist es mir ganz wichtig, im Namen meiner
Fraktion zu sagen: Hier muss der Grundsatz „Gründlich-
keit vor Schnelligkeit“ gelten. Es fanden mehrmals Un-
terrichtungen dazu statt; denn das ist ein wirklich kom-
plexes Thema. Wir sind der Meinung, dass wir das
hinbekommen, man aber sehr genau auf das Vertrags-
werk achten muss. Deswegen hat das Justizministerium
unsere volle Unterstützung.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich freue mich sehr, dass wir anlässlich des Jubiläums
„60 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention“ ei-
nen interfraktionellen Antrag vorliegen haben. Das ist
ein starkes Signal der Geschlossenheit, vor allem an die
Mitunterzeichner der Konvention, aber auch an die Staa-
ten, die Defizite haben, die das Niveau der EMRK noch
nicht erreicht haben.

Russland wurde schon erwähnt. Allein 38 000 Ver-
fahren gegen Russland sind anhängig. Das zeigt, dass
das Justizsystem in Russland nach wie vor von erschre-
ckenden Defiziten geprägt ist. Es ist durchzogen von
politischer Einflussnahme, von Korruption und Willkür.
Die Prozesse gegen Chodorkowski und Lebedew sind
natürlich sehr prominente Fälle, aber bei weitem nicht
die einzigen. Es gibt eine Vielzahl von Fällen, über die
gar nicht berichtet wird. Wir dürfen bei unserer Arbeit
nicht lockerlassen und müssen solche Verfahren aufde-
cken und Rechtsstaatlichkeit einfordern.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Vor diesem Hintergrund möchte ich ganz besonders
auf das Schicksal des russischen Rechtsanwalts Sergej
Magnitskij hinweisen, der im Alter von 37 Jahren im
Gefängnis gestorben ist, weil ihm medizinische Hilfe
verwehrt wurde. Er wurde aufgrund konstruierter Vor-
würfe in Untersuchungshaft genommen, weil er den
größten Steuerbetrug in der russischen Geschichte auf-
gedeckt und publik gemacht hat. Er hat sich nicht von
Repressalien beugen lassen. Das hat er mit seinem Le-
ben bezahlt. Medwedew hat eine Untersuchung des Falls
versprochen. Bisher ist es nicht zu einer Anklage ge-
kommen. Auch da sieht man, wie wichtig es ist, dass die
EMRK Geltung erlangt, dass wir weiterhin Druck ma-
chen. Sie ist vor allem für die Menschen in der Zivilge-
sellschaft ein ganz wichtiger Hoffnungsanker. Die
EMRK ist aktueller denn je. Wir müssen unsere Bemü-
hungen fortsetzen. Deswegen ist unser Antrag so wichtig
und richtig.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1707126400

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege

Andrej Hunko.


(Beifall bei der LINKEN)



Andrej Hunko (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707126500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Frau

Schuster, Sie sprachen eben von einem interfraktionellen





Andrej Hunko


(A) (C)



(D)(B)

Antrag. Darunter verstehe ich einen Antrag aller Fraktio-
nen. Das ist nicht der Fall. Die Linke ist wieder einmal
außen vor gelassen worden. Wir haben einen eigenen
Antrag eingebracht; diesen möchte ich jetzt begründen.

Die Europäische Menschenrechtskonvention wurde
vor 60 Jahren vor dem Hintergrund der Verbrechen des
Holocaust und zweier Weltkriege entwickelt. Die mitt-
lerweile 47 Staaten des Europarates haben die Konven-
tion unterzeichnet. Auch wenn die Rechte an vielen Or-
ten nur unvollständig umgesetzt wurden, verdient die
Europäische Menschenrechtskonvention jede Unterstüt-
zung und Bekräftigung.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie garantiert negative Abwehrrechte wie das Verbot von
Folter, politische Rechte wie die Versammlungs- und
Vereinigungsfreiheit und auch justizielle Grundrechte
wie das Recht auf ein faires Verfahren. Die Europäische
Menschenrechtskonvention wurde durch 14 Zusatzpro-
tokolle weiterentwickelt. Es ist mit Menschenrechten
ähnlich wie mit der Demokratie. Das wird nicht einmal
festgelegt und ist dann für alle Zeit so, sondern es ist
eher ein Prozess, der sich immer weiter entfalten sollte.

Hier liegen jetzt zwei Anträge vor: einer der Linken
und einer der anderen vier Fraktionen. Lassen Sie mich
kurz die drei Hauptgründe nennen, warum wir dem An-
trag der anderen Fraktionen nicht zustimmen können,
auch wenn er einige richtige Aspekte enthält.

Erstens. In der ersten Forderung im Antrag verlangen
die vier Fraktionen von der Bundesregierung

alles in ihren Kräften Stehende zu tun, um durch
Maßnahmen der Konfliktverhütung und -regelung
die Gefahr von Menschenrechtsverletzungen früh-
zeitig zu bannen …

Nach dem Jugoslawien-Krieg 1999, dem Afghanistan-
Krieg seit 2001 und weiteren Kriegen zur angeblichen
Verteidigung von Menschenrechten kann ich die Forde-
rung nur so lesen, dass der Einsatz militärischer Mittel
als Möglichkeit angesehen wird.


(Christoph Strässer [SPD]: Ja!)


Den Missbrauch der Menschenrechte zur Legitimation
von Kriegen lehnt die Linke ab.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir fordern in unserem Antrag explizit zivile Konflikt-
prävention; denn Krieg ist immer eine der schlimmsten
Menschenrechtsverletzungen.


(Beifall bei der LINKEN – Christoph Strässer [SPD]: Ja, die Leute, die bei der zivilen Konfliktprävention über die Wupper gehen, interessieren uns nicht!)


Zweitens. Der angestrebte Beitritt der EU zur Euro-
päischen Menschenrechtskonvention – Herr Strässer, Sie
haben ihn angesprochen – wird in Ihrem Antrag leider
gar nicht behandelt. Wie soll zum Beispiel das Verhältnis
zwischen dem Europäischen Gerichtshof, also der EU,
und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte,
also dem Europarat, gestaltet werden?

Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1707126600

Herr Kollege Haibach würde Ihnen gerne eine Zwi-

schenfrage stellen. Gestatten Sie diese?


Andrej Hunko (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707126700

Ja.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1707126800

Bitte.


Holger Haibach (CDU):
Rede ID: ID1707126900

Sehr geehrter Herr Kollege Hunko, auch wenn die

Zeit schon fortgeschritten ist: Sie haben gerade gesagt,
der Beitritt der Europäischen Union zur EMRK werde
im Antrag der vier Fraktionen nicht erwähnt. Ich darf Sie
fragen, welche Bedeutung dann Punkt 10, den ich mit
Erlaubnis der Präsidentin gerne zitieren würde, hat. Dort
steht:

… den Prozess des Beitritts der Europäischen
Union zur Europäischen Menschenrechtskonven-
tion unterstützend zu begleiten, dabei dafür Sorge
zu tragen, dass die Rechte der Parlamentarischen
Versammlung des Europarates in vollem Umfang
Berücksichtigung finden, und diesen Prozess für
menschenrechtliche Bildungsarbeit zu nutzen, ins-
besondere durch Informationsmaßnahmen in Zu-
sammenarbeit mit Universitäten und der Zivilge-
sellschaft …

Ich glaube, viel deutlicher kann man auf den Beitritt der
Europäischen Union zur EMRK nicht Bezug nehmen.
Würden Sie mir da zustimmen?


Andrej Hunko (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707127000

Was Sie gesagt haben ist richtig. Aber der eigentliche

Punkt ist: Die Kompetenzen im Hinblick auf das Ver-
hältnis zwischen Europäischem Gerichtshof für Men-
schenrechte und Europäischem Gerichtshof werden
nicht benannt. Ich denke, sie sollten genannt werden.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ziemlich hilflos, Herr Kollege!)


– Das mag Ihnen so erscheinen. – Wir jedenfalls wollen
nicht, dass soziale Grundrechte, wie in den EuGH-Urtei-
len in den Fällen Viking, Laval, Rüffert und Luxem-
bourg, auf dem Altar der wirtschaftlichen Grundfreihei-
ten geopfert werden.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach! Der Europarat tritt doch nicht der EU bei!)


Dieses Konfliktpotenzial bleibt bestehen. Die EU tritt
der Europäischen Menschenrechtskonvention bei. Es
wird eine Kompetenzauseinandersetzung zwischen dem
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und dem
EuGH geben.


(Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Urteile des EuGH haben Sie gar nicht verstanden!)






Andrej Hunko


(A) (C)



(D)(B)

Drittens. Im Antrag der vier Fraktionen wird gefor-
dert, dass neue Mitgliedstaaten des Europarates die Euro-
päische Menschenrechtskonvention und die Zusatzproto-
kolle umfassend ratifizieren. Dabei hat Deutschland die
Zusatzprotokolle 7 und 12 selbst nicht ratifiziert;


(Christoph Strässer [SPD]: Stimmt!)


das wird in Ihrem Antrag überhaupt nicht erwähnt. Da-
bei geht es unter anderem um verfahrensrechtliche
Schutzvorschriften im Fall der Abschiebung von Mi-
granten und um das Diskriminierungsverbot. Wir for-
dern in unserem Antrag, dass auch Deutschland endlich
alle Zusatzprotokolle ratifiziert.

Meine Damen und Herren, die Europäische Men-
schenrechtskonvention und der Europarat dürfen nicht
nur Gegenstand schöner Sonntagsreden sein. Sie dürfen
niemals zu einer Hülse oder gar zu einem beliebigen In-
strument außenpolitischer Interessen verkommen. Ob-
gleich ich kein Christ bin, fällt mir beim Umgang der
Bundesregierung mit dem Thema Menschenrechte oft
das Neue Testament, Matthäus 7,3 und 7,5, ein:

Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bru-
ders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du
nicht? … Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus
deinem Auge, dann kannst du versuchen, den Split-
ter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN – Iris Gleicke [SPD]: Christen können das auswendig!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1707127100

Nächster Redner ist der Kollege Volker Beck für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1707127200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wenn

man vom letzten Redebeitrag absieht, ist in dieser De-
batte viel Richtiges gesagt worden. Trotzdem möchte ich
einige weitere Aspekte, auch wenn sie nicht ganz so fei-
erlich sind, betonen, um die weitere Arbeit zur Vertie-
fung der Prinzipien, die die Europäische Menschen-
rechtskonvention formuliert hat, voranzubringen.

Von Ihnen wurden zu Recht die Initiativen der Justiz-
ministerin in Interlaken erwähnt. Sie sagen, dass Sie den
Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straß-
burg und den Europarat und seine Parlamentarische Ver-
sammlung stärken wollen. Dazu passt aber nicht, dass im
Haushalt – die Bereinigungssitzung des Haushaltsaus-
schusses findet gerade statt – die Mittel für den Europa-
rat gesenkt werden.


(Christoph Strässer [SPD]: Was?)


Reden und Handeln sollten zusammenpassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich sage Ihnen eines: Der Europäische Gerichtshof
für Menschenrechte und das Verfahren der Individualbe-
schwerde nach der EMRK waren entscheidende Instru-
mente, um die Länder, die dem Europarat und der
EMRK neu beigetreten sind, auf dem Weg in Richtung
Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Respektierung der
Menschenrechte voranzubringen. Auf die Frage: „Wel-
cher ist der einzige Gerichtshof in Russland, vor dem
man recht bekommen kann?“ antworten meine Freunde
in Russland immer: der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte in Straßburg. Deshalb werden in Straß-
burg auch so viele Fälle aus Russland verhandelt. Für die
Freunde, die für die gleichen Werte und Ziele wie wir in
diesem Hohen Hause eintreten, ist dies die einzige
Chance auf Rechtsgewährung. Für diejenigen, die sich in
persönlich gefährlichen Auseinandersetzungen befinden,
ist es wirklich fatal, dass die Verfahren so bitter lange
dauern,


(Marieluise Beck [Bremen] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: So ist es!)


obwohl der Europäische Gerichtshof gerade dies bei den
nationalen Gerichten immer wieder zu Recht rügt. Trotz
der Ratifizierung des 14. Zusatzprotokolls zur EMRK
durch Russland schaffen wir nicht die Voraussetzungen
dafür, dass er diese Arbeit bewältigen kann.

Wir müssen ihn besser ausstatten und wahrscheinlich
auch noch über bestimmte Verfahrensvereinfachungen
reden. Das allein wird aber nicht reichen, weil aufgrund
der Masse der Menschenrechtsverletzungen in den Län-
dern viele Fälle dort verhandelt werden. Dass sie dort
verhandelt werden, ist natürlich gut für die Menschen,
deren Menschenrechte verletzt wurden, weil sie dadurch
wenigstens die Chance haben, sich zur Wehr zu setzen.
Das sollten wir unterstützen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Einen Gedanken in Ihrer Rede fand ich richtig, Herr
Hunko, nämlich das Bibelwort zum Schluss. Es ist nie
falsch, im Deutschen Bundestag die Bibel zu zitieren.
Das kann ich als Christ nur unterstützen.

Ich finde, wir sollten uns auch die Urteile zu Herzen
nehmen, die gegen uns ergehen, wie das Urteil zur Si-
cherungsverwahrung, und sie nicht zerpflücken und
nicht dagegen opponieren. Wir sollten die Überlegungen
zu den Menschenrechten, die dahinterstehen, ernst neh-
men und anerkennen, dass die Sicherungsverwahrung
keine Strafe ist, und für eine andere Ausgestaltung sor-
gen.

Wir müssen uns aber auch die Urteile gegen andere
Länder genau anschauen, die für Probleme verurteilt
worden sind, die wir auch haben, ohne dass dazu bisher
ein Urteil ergangen ist. Dabei müssen wir prüfen, ob sich
unsere Rechtspraxis an den Standards messen lassen
kann. Schauen Sie sich zum Beispiel das Urteil gegen
die Republik Italien zu den Kruzifixen an. Das Gericht
hat sehr klar definiert, was negative Glaubensfreiheit be-
deutet. Man muss sich einem fremden Glauben nicht
aussetzen – man muss also sozusagen nicht gehorchen –,
sondern man kann selber wählen, was man glaubt, und
sich von fremden Vorstellungen freihalten. Das hat das





Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)

Gericht gut formuliert. Diese Prinzipien gelten nicht nur
für Italien, sondern auch im katholischen Bayern, in der
islamisch geprägten Republik Türkei und im laizisti-
schen Frankreich.


(Holger Haibach [CDU/CSU]: Was ist denn mit dem evangelischen Bayern?)


Wir müssen uns hier an die Brust fassen und uns fra-
gen, ob wir das auch immer so ernst nehmen.

Ich nenne ein weiteres Beispiel. In einem Sorge-
rechtsverfahren gegen die Republik Portugal, bei dem es
um die Themen Familienrecht und Homosexualität ging,
hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass Ho-
mosexuelle im Familienrecht – dabei geht es um Adop-
tionen, um das Sorgerecht usw. – nicht diskriminiert
werden dürfen. Deshalb wird das Adoptionsverbot in
Deutschland keinen Bestand haben.

Wenn wir die Prinzipien ernst nehmen, die die Straß-
burger Judikatur formuliert, dann müssen wir uns auf
unseren Hosenboden setzen und unsere Defizite aufar-
beiten und dürfen nicht nur auf andere zeigen. Zu an-
ständiger Menschenrechtsarbeit gehört aber auch, uns
gegenüber den Menschen, die in anderen Ländern ver-
folgt werden, solidarisch zu verhalten und mit der Kritik
nicht hinter dem Berg zu halten.

Zum Beitritt der Europäischen Union zur EMRK. Ich
finde es ganz wichtig, dass wir diesen Beitritt vorantrei-
ben und das nicht so kritisch sehen wie Sie, nach dem
Motto: Das wollen wir eigentlich lieber nicht. – Schauen
Sie sich an, was FRONTEX an den Grenzen der Euro-
päischen Union veranstaltet. Dort werden die Menschen-
rechte von Drittstaatsbürgern massenhaft missachtet.
Wenn wir der EMRK beitreten, dann muss dies abge-
stellt werden. Die Menschen, die von diesen Menschen-
rechtsverletzungen betroffen sind, haben dann die recht-
liche Möglichkeit, in Straßburg gegen FRONTEX
vorzugehen. Dadurch wird der Flüchtlingsschutz ge-
stärkt.


(Beifall des Abg. Andrej Hunko [DIE LINKE])


Deshalb bin ich ganz energisch für das, was die Union
gemeinsam mit uns in diesem Antrag formuliert hat. Wir
wollen diesen Beitritt voranbringen, weil wir dann in
Bezug auf das Flüchtlingsrecht manches klarstellen kön-
nen, was uns in Brüssel über die Bundesregierung nicht
gelingt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1707127300

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Michael Frieser für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Michael Frieser (CSU):
Rede ID: ID1707127400

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren Kollegen! 60 Jahre MRK bieten die Möglichkeit
zu einer Tour d’Horizon über sehr viele Themen, die uns
allen am Herzen liegen. Ich freue mich in jeder Debatte,
wenn auch Nichtchristen die Bibel zitieren. Das nährt
die Hoffnung, dass der richtige Weg gefunden und gege-
benenfalls auch eingeschlagen werden kann. Es gehört
sicherlich auch zur Glaubensfreiheit, sich zu den Grund-
sätzen dieses Buches zu bekennen, wie ich es tue, aber
nicht unbedingt zu dem, was noch dahinter steht. Viel-
leicht können wir auch etwas anderes machen.

Wir haben sehr viel gehört. Ich versuche als letzter
Redner, einen ganz anderen Gedanken zu verfolgen. Er-
lauben Sie mir das als direkt gewähltem Abgeordneten
der Stadt Nürnberg. Diese Stadt trägt nicht umsonst den
Titel „Stadt des Friedens und der Menschenrechte“. In-
sofern verheben wir uns nicht, wenn wir sagen, dass es
an dieser Stelle geschichtlich zu einer Art Katalysatoren-
funktion gekommen ist. Vielleicht war dies nicht ge-
wollt, aber es ist passiert.

In einem Europa, das aus den Trümmern des Zweiten
Weltkrieges entstanden ist, war es eine unglaubliche
Frage, wie es dazu kommen konnte. Im September 1935
wurden in der dunkelsten Epoche die Nürnberger Rasse-
gesetze und damit die Gesetze beschlossen, die als juris-
tische Untermauerung eines Systems gegolten haben.
Man kann heute fast sagen: Sie waren das ins Wort ge-
gossene Menschenunrecht. Auch solche Jahrestage bren-
nen sich ins Gedächtnis; das ist vielleicht auch sinnvoll.
Das ist eine Folge der Nürnberger Rassegesetze, die
letztendlich zu einer verheerenden Entwicklung geführt
haben. Daraus ist das Bewusstsein entstanden, gerade
was die Suche nach Menschenrechten und allgemeinen
unverbrüchlichen Rechten betrifft, einen europäischen
Grundkonsens einzugehen. Insofern musste man einen
Weg finden, wie die Vergangenheit, die Deutschland und
darüber hinaus weite Teile der Welt ins Verderben ge-
stürzt hat, judiziert werden konnte. Deshalb ist es in dem
weltberühmten Saal 600 des Nürnberger Landgerichtes
zu den Nürnberger Prozessen gekommen. Auch an die-
ser Stelle gab es eine Katalysatorenfunktion, weil dort
die Wiege eines modernen Völkerstrafrechts lag. Daraus
folgt wieder ein Gedenktag zu 65 Jahren Nürnberger
Prinzipien. Man hat nämlich, wenn schon keinen rechts-
staatlichen Prozess, dann zumindest einen Prozess nach
rechtsstaatlichen Prinzipien durchzuführen versucht, um
Recht durchzusetzen – unverbrüchliche Rechte für alle
bedeuten Frieden –, ohne Ansehen der Tatsache, dass es
einst staatliche Repräsentanten waren. Europa gab sich
die Nürnberger Prinzipien. Auch dabei sollte man sich
nicht verheben. Es gibt genug Beweggründe für die Eu-
ropäische Menschenrechtskonvention, aber gerade die
Nürnberger Prinzipien haben dazu geführt, dass es zu
keiner Verletzung der Menschenrechte mehr kommen
sollte.

Interessant ist, dass wir die entsprechende Passage in
der Europäischen Menschenrechtskonvention wenige
Jahre später wiederfinden. Der Gedanke des Art. 7
Abs. 2 geht genau davon aus. Nulla poene sine lege ist
einer der bedeutendsten Rechtsgrundsätze. Das heißt,
dass niemand bestraft werden soll, wenn es zum Tatzeit-
punkt kein entsprechendes Gesetz gab. Bei den Nürnber-
ger Prozessen musste ein schwieriger juristischer Kniff
angewandt werden. Heute finden wir diesen Gedanken





Michael Frieser


(A) (C)



(D)(B)

in Art. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention
wieder. Denn nun müssen sich auch Potentaten bzw. Re-
präsentanten von Staaten daran messen lassen, wenn zu
dem Tatzeitpunkt, der vorwerfbar ist, etwas weltweit als
Menschenrechtsverletzung anzusehen ist.


(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Mir ist es wichtig, diesen Weg aufzuzeigen und deut-
lich zu machen, dass es wieder eine ganze Zeit gedauert
hat, bis wir diesen Rechtsgedanken bei der Gründung
des Internationalen Strafgerichtshofes wiedergefunden
haben. Mit der Kollegin Schuster hatte ich das Vergnü-
gen, dort wenigstens eineinhalb Tage zu verweilen, um
uns über eine schwierige Frage zu unterhalten. Beim Eu-
ropäischen Menschenrechtsgerichtshof gibt es so viele
Eingaben, dass es manchmal ein Problem ist, sie abzuar-
beiten. Beim Internationalen Strafgerichtshof möchte
man auch gerne mehr tun. Dort allerdings sind es einige
wenige Prozesse. Auch dort ist es nur die Spitze des Eis-
berges.

Insofern kann man nur sagen, dass diese Trias – die
nicht nur bedauernswerten, sondern tragischen Nürnber-
ger Rassegesetze, das Aufstellen und Erkämpfen der
Nürnberger Prinzipien und das Ratifizieren der Europäi-
schen Menschenrechtskonvention – zu einem europäi-
schen Grundkonsens geführt hat, der uns dazu verpflich-
tet, über Europa hinaus maßgeblich eine neue Rolle zu
spielen – und zwar ohne eurozentristischen Führungsan-
spruch –, an der man sich ein Beispiel nehmen soll. Das
ist die Aufgabe der nächsten Jahre. Es geht darum, dass
man durchsetzbare Ansprüche weltweit erkämpfen muss
und dass wir immer mit Augenmaß und ohne Ermüdung
für die Menschenrechtspolitik kämpfen. Dann können
wir am Ende auch sagen, dass wir das in unserer Macht
Stehende getan haben. Deshalb ist unser Antrag so sinn-
voll.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1707127500

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 17/3423 mit dem Titel
„60 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention“.
Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer ist dagegen? –
Enthaltungen? – Der Antrag ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen, der Fraktionen von
SPD und Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke.

Nun zum Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksa-
che 17/3658 mit dem Titel „60 Jahre Europäische Men-
schenrechtskonvention – Menschenrechte stärken,
schützen und durchsetzen“. Wer stimmt für diesen An-
trag? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag
ist abgelehnt. Dafür haben gestimmt die Kollegen von
der Fraktion Die Linke, dagegen die Fraktionen der
CDU/CSU, FDP und SPD. Enthalten hat sich die Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.

Wir haben jetzt eine Reihe von Abstimmungen zu Ta-
gesordnungspunkten, zu denen die Reden zu Protokoll
gegeben wurden. Es wurde interfraktionell vereinbart,
dass auf die Nennung der Namen dieser Redner verzich-
tet wird; das beschleunigt die ganze Angelegenheit. Ich
gehe davon aus, dass ich nicht bei jedem Tagesord-
nungspunkt darauf hinweisen muss, dass eine interfrak-
tionelle Vereinbarung über die zu Protokoll gegebenen
Reden vorliegt.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 14 auf:1)

Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Korte, Wolfgang Nešković, Petra Pau, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Widerstand von Kommunistinnen und Kom-
munisten gegen das NS-Regime anerkennen
– Drucksache 17/2201 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/2201 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung
soll beim Innenausschuss liegen. – Sie sind damit ein-
verstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 15 auf:2)

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Anette
Hübinger, Holger Haibach, Dr. Christian Ruck,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Harald
Leibrecht, Helga Daub, Joachim Günther

(Plauen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion

der FDP

Bildung in Entwicklungs- und Schwellenlän-
dern stärken – Bildungsmaßnahmen anpassen
und wirksamer gestalten
– Drucksachen 17/2134, 17/3622 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Anette Hübinger
Dr. Bärbel Kofler
Harald Leibrecht
Niema Movassat
Ute Koczy

Der Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/3622, den Antrag der Fraktio-

1) Anlage 6
2) Anlage 7





Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

nen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/2134
anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist damit angenommen mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der
SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke und Enthal-
tung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 16 auf: 1)

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Valerie Wilms, Markus Kurth, Cornelia
Behm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Rohstoffförderung im Meer – Aus der Kata-
strophe lernen

– Drucksache 17/3662 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3662 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie ein-
verstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 sowie Zusatzpunkt 5
auf: 2)

17 Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung

Bericht der Bundesregierung über den Stand des
Ausbaus für ein bedarfsgerechtes Angebot an
Kindertagesbetreuung für Kinder unter drei Jah-
ren für das Berichtsjahr 2009


(Erster Zwischenbericht zur Evaluation des Kinderförderungsgesetzes)


– Drucksache 17/2621 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Haushaltsausschuss

ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dorothee Bär, Markus Grübel, Marcus Weinberg

(Hamburg), weiterer Abgeordneter und der Frak-

tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Miriam Gruß, Nicole Bracht-Bendt, Patrick
Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der FDP

Faire Teilhabechancen von Anfang an – Früh-
kindliche Betreuung und Bildung fördern

– Drucksache 17/3663 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss

1) Anlage 8
2) Anlage 9
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/2621 und 17/3663 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –
Sie sind damit einverstanden. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 20 auf: 3)

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Heinz Riesenhuber, Dr. Philipp Murmann,
Dr. Joachim Pfeiffer, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeord-
neten Paul K. Friedhoff, Patrick Meinhardt,
Dr. Martin Neumann (Lausitz), weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der FDP

Existenzgründungen aus Forschung und Wis-
senschaft fördern – Für einen starken deut-
schen Innovationsstandort

– Drucksache 17/3480 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3480 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein-
verstanden, wie ich sehe. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 19 auf: 4)

Beratung des Antrags der Abgeordneten René
Röspel, Dr. Matthias Miersch, Dr. Ernst Dieter
Rossmann, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD

Schutz der biologischen Vielfalt – Die Taxono-
mie in der Biologie stärken

– Drucksache 17/3484 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/3484 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Auch damit sind
Sie einverstanden. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.

3) Anlage 10
4) Anlage 11





Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

Ich rufe Tagesordnungspunkt 22 auf: 1)

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
zung der Richtlinie 2009/28/EG zur Förderung
der Nutzung von Energie aus erneuerbaren

(Europarechtsanpassungsgesetz Erneuerbare Energien – EAG EE)


– Drucksache 17/3629 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/3629 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Auch
darüber besteht Einverständnis. Die Überweisung ist so
beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Hubertus Heil (Peine), Ulrich
Kelber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD

Die Energieversorgung in kommunaler Hand

– Drucksache 17/3649 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Innenausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Lötzer, Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Energienetze in die öffentliche Hand – Kom-
munalisierung der Energieversorgung erleich-
tern – Transparenz und demokratische Kon-
trolle stärken

– Drucksache 17/3671 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit


Thomas Bareiß (CDU):
Rede ID: ID1707127600

Heute beraten wir über zwei Anträge der Opposition,

die sich beide im Kern mit der Bedeutung der Kommu-
nen für unsere Energieversorgung befassen.

Vorab möchte ich klarstellen, dass aus meiner Sicht
die Städte und Gemeinden bei der Energieversorgung
eine ganz besondere Rolle übernehmen müssen. Aus die-
sem Grund haben wir in unserem Energiekonzept den

1) Anlage 12
kommunalen Anliegen besondere Aufmerksamkeit ge-
schenkt.

Lassen Sie mich aus aktuellem Anlass gleich eines
vorneweg sagen: Die derzeit häufig geäußerten Sorgen,
die im Bundestag beschlossene Laufzeitverlängerung
der Kernkraftwerke habe nachteilige Auswirkungen auf
den Wettbewerb im Energiesektor und schade damit den
Stadtwerken, sind unbegründet. Durch die neue Kern-
brennstoffsteuer und weitere Zahlungen der Kernkraft-
werksbetreiber für den Energie- und Klimafonds wird
der überwiegende Teil der Zusatzgewinne abgeschöpft.
Das sind mehr als 30 Milliarden Euro. Damit wird einer
wirtschaftlichen Besserstellung dieser Energieunter-
nehmen durch die Laufzeitverlängerung vorgebeugt.
Darüber hinaus wird das Bundesministerium für Wirt-
schaft und Technologie regelmäßig zur Entwicklung des
Wettbewerbs im Energiesektor unter besonderer Berück-
sichtigung der Laufzeitverlängerung berichten und ge-
gebenenfalls geeignete Maßnahmen vorschlagen.

Als weitere Maßnahme ist im Energiekonzept festge-
legt, die im europäischen Energie- und Klimapaket ver-
einbarte Möglichkeit zu nutzen, den Neubau hoch effi-
zienter und flexibel einsetzbarer fossiler Kraftwerke zu
fördern. Die Förderung wird schwerpunktmäßig für
KWK-Anlagen und nur für Kraftwerksbetreiber mit ei-
nem Anteil an den deutschen Erzeugungskapazitäten
von weniger als 5 Prozent gewährt. Dies kommt vor al-
lem den Stadtwerken zugute und leistet einen Beitrag,
den Wettbewerb auf dem Erzeugungsmarkt weiter zu in-
tensivieren. Nicht zuletzt wird im Rahmen des Zehn-
Punkte-Sofortprogramms eine neue Markttransparenz-
stelle für den Großhandel mit Strom und Gas eingerichtet,
die beim Bundeskartellamt angesiedelt und von den Kom-
munen ausdrücklich gelobt wird. Sie soll laufend marktre-
levante Daten erheben, sammeln und analysieren, was
der effektiveren Aufdeckung möglichen Fehlverhaltens
bei der Preisbildung dient. Dadurch werden das Ver-
trauen der Marktteilnehmer in die Großhandelsmärkte,
der Wettbewerb und Energieverbraucherinteressen ge-
stärkt.

Beim Thema Wettbewerb ist abschließend noch zu er-
gänzen, dass kommunale Versorger sich bereits heute im
Bereich der erneuerbaren Energien stark engagieren.
Deshalb sind auch die kommunalen Versorger die
Adressaten der Ausbaupläne der erneuerbaren Ener-
gien. Für bestehende und neue Investitionen in erneuer-
bare Energien ist die bevorzugte Einspeisung durch das
Erneuerbare-Energien-Gesetz garantiert. Für Investitio-
nen in KWK-Anlagen, die für Stadtwerke besonders rele-
vant sind, besteht ebenfalls ein Einspeisevorrang. Daher
besteht hier in keinster Weise die Gefahr einer wettbe-
werblichen Schlechterstellung.

Die Stadtwerke werden daher als Marktteilnehmer im
Wettbewerb auch zukünftig ihren festen Platz in der Ener-
giebranche in Deutschland haben. Zu bedenken ist im
Übrigen, dass nur etwa ein Drittel aller Stadtwerke über-
haupt eine eigene Stromerzeugung haben. Die anderen
zwei Drittel sind sehr daran interessiert, an der Börse
günstigen Strom für die Belieferung ihrer Endkunden
einzukaufen. Die Laufzeitverlängerung, die auch zu

Thomas Bareiß


(A) (C)



(D)(B)

günstigeren Strompreisen führt, kommt den Stadtwerken
daher durchaus entgegen.

Darüber hinaus profitieren kommunale Stadtwerke
besonders von Förderprogrammen, die wir beschlossen
haben. Der neu geschaffene „Energie- und Klimafonds“
wird aus der Gewinnabschöpfung der Laufzeitverlänge-
rung und den Erlösen aus der Versteigerung der CO2-
Zertifikate gespeist und hat damit, wie gesagt, ein Volu-
men von über 30 Milliarden Euro. Damit wird unter an-
derem der Energieeffizienzfonds finanziert, der explizit
der Förderung kommunaler Belange in den Aktionsfel-
dern Energieeffizienz und erneuerbare Energien zugute-
kommt. Die Bundesregierung wird auf diesem Wege bei-
spielsweise anspruchsvolle und innovative kommunale
Effizienzmaßnahmen, die Entwicklung von Modellpro-
jekten und die Information und Fortbildung in allen re-
levanten Bereichen unterstützen. Außerdem werden zu-
sätzlich Mittel für die Nationale Klimaschutzinitiative
bereitgestellt, die die erfolgreiche Finanzierung von
Maßnahmen von Stadtwerken auf eine bessere und vor
allem auch verlässliche Basis stellen.

Die Nationale Klimaschutzinitiative wird Stadtwerke
bei der Planung und Durchführung von ambitionierten
Klimaschutzkonzepten unterstützen. Auch die Aufsto-
ckung des Marktanreizprogramms für erneuerbare Ener-
gien und teilweise auch des CO2-Gebäudesanierungs-
programms der KfW liegt sehr stark im Interesse der
Stadtwerke. Schließlich wird die KfW ein Programm
„Energetische Stadtsanierung“ auflegen, von dem auch
Stadtwerke besonders profitieren können.

In dem SPD-Antrag wird eine Reihe von Forderungen
formuliert, wie den Kommunen verstärkt unter die Arme
gegriffen werden müsste. So sprechen Sie unter anderem
die auslaufenden Konzessionsverträge und die damit
einhergehenden Probleme, aber auch andere Bereiche
wie den Zugang von Speicheranlagen zum Regelener-
giemarkt an. Gerne würde ich alle Punkte im Einzelnen
aufgreifen, was meine Redezeit aber nicht zulässt. Daher
möchte ich Ihnen anhand des letzten Punkts exempla-
risch darlegen, warum Ihr Antrag überflüssig ist.

Lesen Sie unser Energiekonzept einmal genau durch,
dann werden Sie feststellen, dass Punkte wie dieser von
uns längst berücksichtigt sind. So werden wir den Zu-
gang von Batteriespeichern zum Regelenergiemarkt im
Zuge der im nächsten Jahr anstehenden Novelle des Ener-
giewirtschaftsgesetzes ermöglichen. In derselben Novelle
werden wir auch Ihre Bedenken bei den auslaufenden
Konzessionsverträgen aufgreifen. Des Weiteren werden
wir im nächsten Jahr unter anderem das Erneuerbare-
Energien-Gesetz novellieren. Auch hierbei werden wir
den Bedürfnissen der Kommunen stets hohe Priorität
einräumen.

Der Punkt der auslaufenden Konzessionsverträge
wird auch in dem Antrag der Fraktion Die Linke ange-
sprochen. Grundsätzlich plädiere auch ich dafür, die Si-
tuation vor dem Hintergrund der rund 2 000 auslaufen-
den Konzessionsverträge kritisch zu prüfen. Lassen Sie
mich dazu aber Folgendes ergänzen. Zunächst einmal
möchte ich grundsätzlich die Kommunen davor warnen,
mit den Netzen „Energiepolitik zu machen“. Hier be-
Zu Protokoll
steht die Gefahr, dass weitreichende finanzielle Belas-
tungen nicht in vollem Umfang gesehen werden. Es darf
nicht zu der Situation kommen, dass sich die Kommunen
mit dieser Aufgabe übernehmen. Grundsätzlich bin ich
zudem der Meinung, dass bestehende vertragliche Rege-
lungen zu achten sind. Die Politik sollte nur eingreifen,
wenn dies zwingend notwendig ist. Daher müssen wir si-
cherlich genau prüfen, in welcher Weise dies notwendig
sein wird. Dabei denke ich zum Beispiel an die Informa-
tionspflicht über Zustand und Wert der Netze und nenne
das Stichwort Transparenz.

Wir haben aber ohnehin vor, im nächsten Jahr im Zuge
der Umsetzung des 3. Binnenmarktpakets das Energie-
wirtschaftsgesetz zu novellieren. In diesem Zusammen-
hang werden wir in aller Ruhe über die Notwendigkeit
gesetzgeberischen Handels entscheiden. Wirklich erfor-
derliche Änderungen des dafür relevanten § 46 des
Energiewirtschaftsgesetzes werden dann auch vorge-
nommen. Zum jetzigen Zeitpunkt hier vorschnell zu
agieren, halte ich aber für überflüssig.

Ich will die Gelegenheit nutzen, um noch etwas
Grundsätzliches zur aktuellen Energiepolitik in
Deutschland zu sagen. Die Opposition lässt keine Gele-
genheit ungenutzt, um unsere energiepolitischen Maß-
nahmen anzuprangern. Dabei sind wir die Ersten, die
seit nunmehr 20 Jahren ein energiepolitisches Gesamt-
konzept vorgelegt haben, in welchem wir die Maßnah-
men aufzeigen, wie wir den Umstieg auf regenerative
Energien schaffen können. Ein solches Konzept hat Rot-
Grün trotz aller klimapolitischer Predigten niemals in
Angriff genommen. Unter Rot-Grün gab es energiepoli-
tischen Stillstand. Wir sind es, die nun die Verantwor-
tung übernehmen. Wir haben ein Gesamtkonzept, dass
alle Stellschrauben darstellt und gleichzeitig sogar Fi-
nanzierungswege aufzeigt – sei es beim notwendigen
Ausbau unseres Stromnetzes oder der Nutzung unserer
Energieeffizienzpotenziale, vor allem im Bereich der
energetischen Gebäudesanierung.

Gerade beim Stromnetzausbau haben wir enormen
Handlungsbedarf. Die in Kürze erscheinende dena-
Netzstudie II wird aufzeigen, dass wir einen zusätzlichen
Ausbaubedarf von 3 500 Kilometern in Deutschland ha-
ben. Zusammen mit dem jetzt schon bestehenden Aus-
baubedarf kommen wir damit auf etwa 4 300 Kilometer.
Hintergrund ist die deutliche Zunahme der Stromerzeu-
gung auf See und in den Küstenregionen. Der Bau von
leistungsfähigen Nord-Süd-Verbindungen wird daher
immer wichtiger werden. Darüber hinaus werden viele
dezentrale Erzeugungsanlagen, wie Photovoltaik und
Biomasse, Strom in das Netz einspeisen. Auch den Aus-
bau der Verteilnetze dürfen wir daher nicht aus den Au-
gen verlieren. Die Tatsache, dass in den letzten fünf Jah-
ren gerade einmal rund 90 Kilometer Stromnetzausbau
in Deutschland realisiert wurden, sollte uns, wie ich
finde, Warnung genug sein.

Überdies wird Deutschland aufgrund seiner geogra-
fischen Lage zunehmend am Stromaustausch in Europa
teilnehmen. In diesem Zusammenhang spielt die in die-
ser Woche von EU-Kommissar Günther H. Oettinger
vorgestellte Energiestrategie 2020 eine wichtige Rolle.



gegebene Reden

Thomas Bareiß


(A) (C)



(D)(B)

Darin wird für die nächsten zehn Jahre ein notwendiges
Investitionsvolumen von rund 1 Billion Euro dargestellt.
Dies zeigt, vor welch großen Herausforderungen wir vor
allem im Bereich der Energieinfrastrukturen stehen. Das
gilt für die EU-Ebene ebenso wie für die kommunale
Ebene. Ich will es an dieser Stelle nochmals deutlich sa-
gen: Ohne Netzausbau kein Ausbau erneuerbarer Ener-
gien. Das muss uns allen bewusst sein. Damit einher ge-
hen natürlich massive Kosten, die auf uns zukommen.
Daher stehen die Politik und die Wirtschaft gleicherma-
ßen in der Verantwortung, für mehr Akzeptanz in der Be-
völkerung zu sorgen. Mit unserem Energiekonzept stel-
len wir uns dieser Verantwortung.

Einen Bärendienst erweisen uns in diesem Zusam-
menhang Politiker der Oppositionsparteien, die bewusst
Ängste schüren und sich Protestbewegungen anschlie-
ßen, um notwendige Infrastrukturprojekte vor Ort zu
torpedieren. Dies ist ein unverantwortliches Verhalten
und beweist die energiepolitische Planlosigkeit der Op-
position.

Ich sehe keine Gründe, weshalb dem Antrag der SPD-
Fraktion zugestimmt werden sollte. Gleiches gilt für den
Antrag der Fraktion Die Linke. Mit dem von uns jüngst
beschlossenen energiepolitischen Gesamtkonzept haben
wir einen Fahrplan aufgestellt, der uns den Umstieg auf
regenerative Energien ermöglicht. Wir werden nun Stück
für Stück die einzelnen Maßnahmen in den anstehenden
Gesetzen wie zum Beispiel der Novelle des Energiewirt-
schaftsgesetztes oder der Novelle des Erneuerbare-
Energien-Gesetzes abarbeiten. Dabei achten wir stets
auf ein Gleichgewicht zwischen einer sauberen, sicheren
und bezahlbaren Energieversorgung unter besonderer
Berücksichtigung der kommunalen Anliegen.


Rolf Hempelmann (SPD):
Rede ID: ID1707127700

Bei der heutigen Debatte zum Antrag der SPD-Bun-

destagsfraktion reden wir über eine tragende Säule un-
serer zukünftigen Energieversorgung. Die kommunalen
Unternehmen sind der Motor des Umbaus unseres Ener-
giesystems von einem reinen Versorgungs- hin zu einem
Energiedienstleistungssystem. Denn dieser notwendige
Umbau wird von den Energieunternehmen in den Städ-
ten und Gemeinden getragen und organisiert und nicht
von jenen, die unbedingt am Status quo festhalten wollen
und darauf auch in der Politik drängen, zum Beispiel
durch eine Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke.

Die kommunalen Unternehmen sind es, die einen we-
sentlichen Beitrag zur öffentlichen Daseinsvorsorge
leisten und durch ihre Nähe zum Kunden am ehesten in
der Lage und willens sind, die notwendigen Energie-
dienstleistungen anzubieten und die Effizienz zu erhö-
hen. Eher als große, zentral organisierte Konzerne kön-
nen und müssen sie den Gemeinwohlinteressen den
Vorrang vor Gewinnmaximierungsstrategien einräu-
men. Denn um einen zukunftsfähigen Umbau der Ener-
gieinfrastruktur zu ermöglichen, muss eine nachhaltige
Nutzung im Vordergrund stehen. Zudem kann eine Re-
kommunalisierung der Netze auch einen wichtigen Bei-
trag zur regionalen Wertschöpfung und Stärkung der
kommunalen Haushalte bedeuten. Denn die Gewinne
aus dem Netzbetrieb bleiben in der Region.
Zu Protokoll
In den kommenden Jahren laufen in der Bundesrepu-
blik viele Konzessionsverträge aus. Dies ist für die Kom-
munen eine Chance, wieder Einfluss auf ihre örtliche
Energieinfrastruktur zu gewinnen. Deshalb setzt sich die
SPD-Bundestagsfraktion mit diesem Antrag dafür ein,
dass die kommunalen Unternehmen die gleichen Aus-
gangsbedingungen haben wie die großen Energieversor-
ger. Hierzu bedarf es einer Novellierung des Energie-
wirtschaftsgesetzes sowie einer Reform der Netzzu-
gangs- bzw. Netzentgeltverordnungen für Strom und
Gas. Unserer Überzeugung nach ist es notwendig und
auch fair, dass die Kommune darüber entscheidet, ob
das Netz nach Auslaufen eines Konzessionsvertrages
rückerworben wird. Damit die Kommunen ihre Ent-
scheidungen auf der Basis von Fakten treffen können,
fordern wir, dass der kaufinteressierten Kommune alle
maßgeblichen Informationen über die technische und
wirtschaftliche Situation der Netze rechtzeitig zur Verfü-
gung gestellt werden.

Ein großes Hindernis für einen Rückkauf des Netzes
durch die Kommune ist die Tatsache, dass sich Verkäufer
und Kommunen nicht auf einen angemessenen Kaufpreis
einigen können. Deshalb muss der Gesetzgeber dafür
sorgen, dass der Netzkaufpreis im Rahmen eines Er-
tragswertverfahrens unter Berücksichtigung des Tages-
neuwerts gerichtsfest bestimmt wird. Gleichzeitig sollen
beide Seiten dazu verpflichtet werden, bei verzögerter
Verfahrensdauer eine Schlichtungsstelle anzurufen.

Wir stehen vor großen Herausforderungen, wenn wir
auch morgen noch eine Energieversorgung haben möch-
ten, die sicher, bezahlbar und klimaverträglich ist. Zu
diesen Herausforderungen zählt unter anderen die
Markt- und Netzintegration der erneuerbaren Energien.
Diese gelingt einerseits mit der Entwicklung und dem
Einsatz leistungsfähiger und flexibler Speicher, anderer-
seits mit einer Zusammenführung der Einspeisung der
volatilen Wind- und Sonnenenergie und der Nachfrage
durch die Kunden. Hierzu bedarf es des Aufbaus intelli-
genter Netze, die eine flexible Ein- und Ausspeisung des
Stroms ermöglichen und somit die Erzeugung mit der
Verbrauchskurve verbinden und die Speicherung steu-
ern.

Zu dem notwendigen Umbau unseres Energiesystems
gehören auch Investitionen in dezentrale Energieversor-
gungsstrukturen wie flexible Kraftwerke und den Aus-
bau der Kraft-Wärme-Kopplung, KWK. Denn die Kraft-
Wärme-Kopplung ist die effizienteste Form der Energie-
umwandlung und kann deshalb einen beachtlichen
Beitrag zur Erreichung der deutschen und europäischen
Energieeffizienzziele leisten. Insbesondere der Ausbau
der KWK in Blockheizkraftwerken, eingebettet in eine
regionale Konzeption aus Energieeinsparung und Nahwär-
meversorgung, kann dezentral die Stromnetze entlasten
und ausreichend Stromreserven bereitstellen.

All dies können wir nur durch den Aufbau intelligen-
ter Netze, der sogenannten Smart Grids, erreichen.
Hierzu bedarf es erheblicher Investitionen, die aus unse-
rer Sicht durch den Regulierer ermöglicht und als nicht
beeinflussbare Kosten anerkannt werden müssen. Auch
für den von mir angeführten notwendigen Ausbau der



gegebene Reden

Rolf Hempelmann


(A) (C)



(D)(B)

Kraft-Wärme-Kopplung muss der Gesetzgeber den ent-
sprechenden Rahmen setzen. Hierzu zählt eine Verlänge-
rung der Förderung von KWK-Anlagen bis zum Jahr
2020, analog zu den Regeln für die Wärmenetze. Zudem
ist die Ausweitung von Nahwärmenetzen zu erleichtern.

Bei der Umsetzung der in unserem Antrag formulier-
ten Maßnahmen dürfen wir im Sinne der Kommunen in
diesem Land keine Zeit verlieren. Denn bereits heute hat
in vielen Städten und Gemeinden die Diskussion über
die Zukunft der Verteilnetze begonnen. So überlegen in
Baden-Württemberg einige der 9 Landkreise und 167 Ge-
meinden im Neckarraum, die regionalen Stromnetze, die
bisher vom Neckar-Elektrizitätsverband betrieben wer-
den, wieder in kommunale Hand zu überführen. Auch in
Berlin ist die Diskussion über den zukünftigen Eigentü-
mer der Strom- und Gasnetze in vollem Gange.

Deshalb appelliere ich an Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen, stimmen Sie unserem Antrag zu und schaffen
Sie für die Kommunen in diesem Land faire Bedingun-
gen, damit diese ihre wichtige Aufgabe auf dem Weg zu
einem modernen und nachhaltigen Energiesystem wahr-
nehmen können.


Klaus Breil (FDP):
Rede ID: ID1707127800

Die hier zu beratenden Anträge der SPD und der Lin-

ken nehmen vieles dessen auf, was die Grünen vor gut
einem Monat schon als Gesetzentwurf vorgelegt haben.
Daher lehnen wir auch diese Anträge ab.

Fakt ist, dass in den kommenden Monaten Tausende
von Konzessionsverträgen im Strom- und Gasnetzbe-
reich auslaufen werden. Wenn Kommunen durch Über-
nahme von Netzen Effizienzvorteile durch Vergrößerung
des Gebietes oder Synergieeffekte durch Betrieb eines
zusätzlichen Netzes realisieren wollen, kann das im Zeit-
alter der Anreizregulierung sicher sinnvoll sein. Auch
für die Durchführung von Investitionen kann der Zusam-
menschluss von Netzen oder die gemeinsame Betriebs-
führung Vorteile bringen. Pauschal aber einer Rekom-
munalisierung das Wort zu reden, wie es die Anträge
tun, liegt nicht im Interesse der Allgemeinheit und oft-
mals auch nicht im Interesse der Kommunen.

Ich bin ziemlich sicher, dass der Drang zum eigenen
Stadtwerk gerade bei kleineren Kommunen vielfach dem
Wunsch entspringt, endlich die in der Vergangenheit
versäumte Stadtwerkshoheit nachzuholen. Dabei werden
die heutigen komplexen Regulierungsmechanismen und
deutlich gestiegenen Geschäftsrisiken gerader kleiner
Versorgungsunternehmen verkannt. Wenn die Kommune
die Kosten und die künftig anstehenden Aufrüstungen
gerade der Verteilnetze mit intelligenter Regelungstech-
nik unterschätzt, tut sie weder den Bürgern noch sich
selbst einen Gefallen.

Ebenso wenig legitim ist der Wunsch, durch den Netz-
erwerb einen größeren Einfluss auf das Energieportfolio
auszuüben – auf dass dieses umweltfreundlicher werde,
ganz im Sinne des ökologischen Zeitgeistes. Aber das ist
ein Trugschluss: Kommunen haben auch so schon die
Möglichkeit, in dezentrale Erzeugungslösungen und er-
neuerbare Energien zu investieren, und das machen sie
Zu Protokoll
auch, und zwar im Sinne des Fortschritts. Ihr Anteil an
der selbst erzeugten Stromversorgung liegt bei 8 Pro-
zent, Tendenz steigend. Dabei haben sie die Unterstüt-
zung der bürgerlichen Koalition aus CDU/CSU und
FDP. Das Zehn-Punkte-Sofortprogramm des Energie-
konzeptes macht es den Stadtwerken einfacher, sich an
Offshore-Windparks zu beteiligen. Zudem wird für sie
der Bau CCS-fähiger fossiler Kraftwerke unterstützt

Ein auslaufender Konzessionsvertrag, der nicht ver-
längert wird, und eine Kommune, die ihr Netz selbst wie-
der betreiben kann – beide Faktoren ändern nichts an
den Regeln für den Wettbewerb auf dem Energiemarkt.
Netz und Vertrieb ist dabei strikt zu trennen. Die Ge-
winne im Netz sind streng reguliert. Über den Erfolg des
Stromvertriebs entscheidet hingegen der Wettbewerb.
Jeder Kunde kann schon heute seinen Energielieferan-
ten frei wählen. Wer das Netz betreibt, ist dabei vollkom-
men irrelevant. In Ihrem Antrag aber loben Sie, dass
kommunale Unternehmen das Gemeinwohl vor Gewinn-
maximierungsstrategien stellen. Dass man dann ein
schlechteres Standing im Wettbewerb hat, ist klar.

Blicken wir einmal zurück. Weshalb haben die Kom-
munen in der Vergangenheit ihre Netze privatisiert? Aus
Geldnot! Cash wurde in die Kassen gespült und man
leaste die Netze von einem Investor zurück. Wovon wol-
len die Kommunen ihre Rückkäufe denn bezahlen? Ich
fürchte, dass man sich hier kräftig überschätzt. Von den
Verbänden hören wir nämlich zeitgleich, dass die
Netzentgelte zu niedrig sind.

Fassen wir zusammen: Rot und Dunkelrot möchten,
dass die Kommunen wieder Eigentümer der Netze wer-
den. Wir möchten einen echten Wettbewerb um die Kon-
zessionen. Die Gemeinde ist auf der Grundlage europäi-
schen Rechts an die allgemeinen Grundsätze der
Gleichbehandlung und Transparenz gebunden, die im
EU-Vertrag festgeschrieben sind. Auch das nationale
Kartellrecht verpflichtet sie, ihre marktbeherrschende
Stellung bei der Vergabe des Wegenutzungsrechts nicht
zu missbrauchen.

Das Energiewirtschaftsgesetz darf kein Schutzgesetz
für die Kommunen werden. Effizienz ist das Stichwort:
Der effizienteste Netzbetreiber soll sich im Wettbewerb
um die Konzessionen durchsetzen. Das setzt Transpa-
renz und Gleichbehandlung gleichermaßen für alle
Bewerber voraus. Kommunen dürfen sich bei einer Neu-
ausschreibung nicht bevorzugen. Übrigens: Die Kom-
munen können selbst etwas zur Besserung der Situation
beitragen, denn sie sind die Herren des Verfahrens. Jede
Kommune kann die Konzessionäre vertraglich verpflich-
ten, bei Auslaufen der alten Konzession alle potenziellen
Mitbewerber mit Informationen zu versorgen.

Noch etwas zum Thema Eigentum: Beim Wechsel des
Betreibers eines „Netzes zur allgemeinen Versorgung“
gibt es im EnWG eine Überlassungspflicht. Entgegen Ih-
rer Argumentation gibt es darin sehr wohl eine eindeu-
tige Regelung zur Übertragung der Anlagen an einen
Neukonzessionär. Allerdings sieht man davon ab, eine
ausdrückliche Verpflichtung zur Eigentumsübertragung
aufzunehmen.



gegebene Reden

Klaus Breil


(A) (C)



(D)(B)

Die FDP will keine Staatsnetze. Eine Verpflichtung
zur Gebrauchsüberlassung ist ein ebenso geeignetes,
aber weitaus milderes Mittel. Wir lehnen beide Anträge
ab.


Ursula Lötzer (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707127900

Was wir derzeit erleben, ist an Dreistigkeit kaum noch

zu überbieten. Die vier großen Energiekonzerne E.ON,
RWE, EnBW und Vattenfall bestimmen die Energiepoli-
tik in unserem Land nach ihrem Gutdünken und ihren
Profitinteressen, und Sie von der Bundesregierung las-
sen sich zu ihrem Büttel machen. Wenn wir die
Machtstrukturen nicht ändern, stecken wir in einer
Sackgasse fest, in der Atomkraft und Kohle weiterhin die
Energieversorgung dominieren und der Ausbau erneu-
erbaren Energien behindert wird. Das Ziel einer Ener-
giepolitik im Dienste der Gesellschaft muss eine
effiziente, umweltfreundliche und bezahlbare Energie-
versorgung auf Basis von Energieeinsparung, erneuer-
baren Energien und Kraft-Wärme-Kopplung sein. Dies
kann nur gelingen, wenn die vier Energiekonzerne ent-
machtet und die Energieversorgung in die öffentliche
und kommunale Hand gegeben wird. Deshalb wollen
wir einerseits die Übertragungsnetze vergesellschaften
und andererseits die Rekommunalisierung vereinfachen.

Auf Druck der EU-Kommission haben E.ON und
Vattenfall ihre Höchstspannungsnetze verkauft. RWE
will sich von seinem Gasnetz und von 75 Prozent des
Übertragungsnetzes trennen. Es kann nur als höchst
fahrlässig bezeichnet werden, dass die Bundesregierung
diese Chance nicht genutzt und eine Netzgesellschaft in
öffentlicher Hand gegründet hat. Unisono wird derzeit
– auch von Ihnen von der Regierungsbank – die Bedeu-
tung der Netze und ihres Aus- und Umbaus betont. Doch
steuernd eingreifen wollen Sie nicht. Stattdessen über-
lassen Sie die Netze Staatsunternehmen aus dem Aus-
land und Finanzinvestoren, deren einziges Interesse die
größtmögliche Rendite ist. Die Netze sind jedoch die Le-
bensadern einer sicheren und ökologischen Energiever-
sorgung. Sie sind ein natürliches Monopol, dessen Miss-
brauch viel Schaden anrichten kann. Deshalb müssen
sie vergesellschaftet werden.

Darüber hinaus müssen wir die Energieversorgung
zurück in die Kommunen holen. Die Kommune ist dem
Gemeinwohl und der Daseinsvorsorge verpflichtet. Des-
halb sind Stadtwerke auch der richtige Ort für eine so-
ziale und ökologische Energieversorgung. Ich will nur
ein Beispiel nennen. Jedem vernünftigen Menschen
leuchtet ein, dass es ein Irrsinn ist, auf der einen Seite
Erzeugungsanlagen für Strom und auf der anderen für
Wärme zu betreiben. Wo immer es geht, müssen kombi-
nierte Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen betrieben wer-
den. Hier sind die Stadtwerke heute schon Vorreiter.
Während die KWK in Deutschland nur 12 Prozent aus-
macht, werden Dreiviertel der Erzeugungsanlagen der
Stadtwerke in Kraft-Wärme-Kopplung betrieben.

Die Kommunen haben spätestens bei Ablauf der Kon-
zessionsverträge die Möglichkeit, die Energieversor-
gung in ihre Hand zu nehmen. Die Erfahrungen zeigen
aber, dass sie dabei immer wieder auf Widerstand der
Zu Protokoll
großen Energiekonzerne und ihrer Tochterunternehmen
stoßen. Mit großem juristischem Aufwand versuchen
diese, Ungenauigkeiten im Gesetz zu nutzen, um die Re-
kommunalisierung zu verzögern, zu verteuern und zu
verhindern. Man denke nur an die jahrelangen Aus-
einandersetzungen um die Rückkaufkosten für die Ener-
gieverteilnetze. Da stehen sich oft David und Goliath ge-
genüber, wobei – wie sollte es auch anders sein – David
gewinnt, wenn ihm nicht vorher die Puste ausgeht. Mit
den vorgelegten Änderungen des Energiewirtschaftsge-
setzes werden die Unklarheiten beseitigt und die Rekom-
munalisierung wird erleichtert.

Doch öffentliches Eigentum alleine ist noch keine Ga-
rantie für eine bürgernahe Energieversorgung. Jede und
jeder von uns kennt Beispiele von schlechten Entschei-
dungen von Stadtwerken über die Köpfe der Bürgerinnen
und Bürger hinweg. Deshalb ist es dringend notwendig,
die Transparenz und demokratische Kontrolle öffentli-
cher und gemischtwirtschaftlicher Unternehmen deut-
lich zu verbessern. Die Gemeinwohlverpflichtung muss
Priorität erhalten, die Bürgerinnen und Bürger müssen
über Beiräte Informationen erhalten und mitgestalten
können. Es geht schließlich um ihren Strom und um ihre
Wärme, um ihre Lebensqualität und um ihre Umwelt.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1707128000

Ich begrüße es sehr, dass wir nur wenige Wochen,

nachdem wir unseren Entwurf zur Änderung des Ener-
giewirtschaftsgesetzes in den Bundestag eingebracht
haben, uns erneut mit dem aus meiner Sicht wichtigen
Thema der Rekommunalisierung hier befassen. Wir tun
dies, da auch SPD und Linke Anträge zu diesem Thema
vorgelegt haben. Ich begrüße es im Interesse der vielen
Kommunen in Deutschland, deren Konzessionsverträge
in den kommenden Jahren auslaufen werden. Es besteht
ganz offensichtlich ein großer Handlungsdruck, die
Rahmenbedingungen für die Neuvergabe der Konzes-
sionen so zu setzen, dass Kommunen in die Lage versetzt
werden, ihre Netze selbst betreiben zu können. Hier müs-
sen wir handeln!

Angesichts der gültigen Gesetzeslage können sie
heute die Netze nämlich praktisch nicht selbst überneh-
men oder einen anderen Netzbetreiber wählen, ohne sich
gerichtlich mit dem bisherigen Netzbetreiber – in der
Regel einem der bekannten Energiekonzerne – aus-
einandersetzen zu müssen. Dies ist eine Auseinanderset-
zung, die natürlich gerade kleinere Kommunen scheuen.
Selbst elementare, notwenige Informationen über den
Zustand des Netzes muss der bisherige Netzbetreiber der
Kommune nach der heutigen Rechtslage nicht liefern,
und er tut es in aller Regel auch nicht. Ursache sind die
unklaren Formulierungen in § 46 des Energiewirt-
schaftsgesetzes und die daraus resultierende Rechtsun-
sicherheit.

Wir müssen uns bewusst machen, dass ein Großteil
der Konzessionen in Deutschland in den nächsten Jah-
ren neu vergeben wird. Das bedeutet, es gilt jetzt, bes-
sere Rahmenbedingungen für die Netzübernahmen
durch Kommunen zu schaffen und den Wettbewerb um
die Netze im Sinne der Kommunen und der Verbrauche-



gegebene Reden





Oliver Krischer


(A) (C)



(D)(B)

rinnen und Verbraucher zu ermöglichen, bevor viele
Kommunen angesichts der Rechtsunsicherheiten am
Ende doch wieder die Konzession an den Energiekon-
zern vergeben müssen.

Wir wollen jetzt handeln und haben deshalb einen
konkreten Gesetzentwurf eingebracht, da wir davon
überzeugt sind, dass die Kommunen beim dringend not-
wendigen Umbau der Energieversorgung ein wichtiger
Akteur sein werden und vor allem auch die Verbrauche-
rinnen und Verbraucher in diesem Land davon profitie-
ren werden. Den Kommunen werden dadurch neue
Handlungsmöglichkeiten im Rahmen der Daseinsvor-
sorge und Wertschöpfung vor Ort ermöglicht.

Die energiewirtschaftliche Herausforderung wird in
den kommenden Jahren darin bestehen, zentrale Erzeu-
gungsstrukturen mit Kohle- und Atomkraftwerken durch
dezentrale Strukturen mit erneuerbaren Energien und
Kraft-Wärme-Kopplung zu ersetzen. Dies stellt auch die
Verteilnetze vor große Herausforderungen: Smart Grids,
Kombikraftwerke, Speichertechnologien, ein Bedarfs-
management, das der fluktuierenden Einspeisung aus
Wind und Sonne Rechnung trägt, wird auch hier zu gro-
ßen Veränderungen führen. Den Anträgen von SPD und
Linken entnehme ich, dass diese Auffassung auch von
den Kolleginnen und Kollegen im Grundsatz geteilt
wird. Und genau wie sie halten auch wir die Kommunen
für die richtigen Akteure, diese Aufgaben anzugehen.

Es gibt bereits etliche Positivbeispiele in Deutschland
für erfolgreiche Netzübernahmen durch Kommunen –
trotz der bis heute geltenden Widrigkeiten des Energie-
wirtschaftsgesetzes.

Allein die Bundesregierung interessiert das alles bis-
her offenbar wenig. Sie hat auf eine Anfrage von mir ge-
antwortet, dass sie keinen Veränderungsbedarf in § 46
Energiewirtschaftsgesetz im Sinne der Kommunen sieht.
Auf diese Bundesregierung können die Kommunen also
wieder einmal nicht zählen. Die Interessen der Energie-
konzerne haben offensichtlich einen höheren Stellen-
wert. Das kennen wir auch von anderen, hinlänglich be-
kannten Entscheidungen dieser Regierung.

Die Koalitionsfraktionen wollen sich – wenn über-
haupt – erst im Rahmen der Umsetzung der europäi-
schen Binnenmarktrichtlinie mit diesem Thema beschäf-
tigen – wohl wissend, dass sie damit den Zustand der
Rechtsunsicherheit für die Kommunen auf lange Zeit
nicht beseitigen. Wir hoffen, dass die Diskussion im Aus-
schuss und vielleicht auch eine Anhörung über unseren
Gesetzentwurf und die heute hier vorliegenden Anträge
den Handlungsbedarf noch einmal deutlich machen.

Dort können wir dann auch Detailfragen klären: So
liegen zum Beispiel für die Bestimmung des Netzkauf-
preises mittlerweile mehrere ähnliche, im Detail aber
unterschiedliche Vorschläge auf dem Tisch. Hier bedarf
es aus meiner Sicht noch einer detaillierten Diskussion
unter Einbeziehung externer Expertise. Wir sind hier of-
fen und werden die angemessenste Lösung im Sinne der
Kommunen unterstützen.

Unser gemeinsames Ziel – und ich bin erfreut, dass
zumindest die Kolleginnen und Kollegen der SPD und
der Linken das auch so sehen – sollte es sein, den Kom-
munen die Rechtssicherheit zu geben, damit sie ein star-
ker Akteur bei der nachhaltigen Umgestaltung der Ener-
gieversorgung sein können. Dass sie dies sein wollen
und können, zeigen Hunderte kommunaler Stadtwerke
überall in der Republik. Sie haben das Know-how, sind
nah am Kunden und stehen vor allem für eine dezent-
rale, klimaschonende und nachhaltige Energieerzeu-
gung mit erneuerbaren Energien und KWK, aber nicht
für kurzfristige Renditeerwartungen oder die Sicherung
einer Monopolstellung. Meine Damen und Herren, las-
sen Sie uns handeln und diese dringend notwendigen
Gesetzesänderungen nicht auf die lange Bank schieben.
Ich freue mich auf eine konstruktive Diskussion in den
Ausschüssen.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1707128100

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen

auf Drucksache 17/3649 und 17/3671 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. –
Damit sind Sie einverstanden. Die Überweisung ist so
beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 24 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Vormundschafts- und Betreuungs-
rechts

– Drucksache 17/3617 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend


Andrea Astrid Voßhoff (CDU):
Rede ID: ID1707128200

Wir beraten heute in erster Lesung die Reform des

Vormundschafts- und Betreuungsrechts.

Unter Vormundschaft versteht man die gesetzlich ge-
regelte Fürsorge für eine minderjährige, unmündige
Person, die vom Gericht angeordnet werden kann, wenn
beispielsweise die Eltern des betroffenen Kindes ver-
storben sind oder ihnen das Sorgerecht entzogen wurde.
In der Praxis werden Vormundschaften daher vor allem
dann angeordnet, wenn Eltern nicht in der Lage oder
willens sind, ihrer elterlichen Verantwortung und Erzie-
hungspflicht gerecht zu werden. Was auf den ersten Blick
eher technisch klingt, hat für das betroffene Kind weit-
reichende Folgen. In rechtlicher Hinsicht übernimmt
der staatliche Vormund die Aufgaben und Pflichten der
leiblichen Eltern. Das Kind ist damit in besonderer
Weise auf den Schutz und die Fürsorge des Staates im
Allgemeinen und des Vormunds im Besonderen angewie-
sen.

Leider wird die geltende Praxis diesem Anspruch
nicht immer gerecht. Die erschütternden und bestürzen-
den Berichte über Eltern, die ihre Kinder misshandeln
oder vernachlässigen, haben in den vergangenen Jahren
signifikant zugenommen. Nicht zuletzt der schreckliche
Tod des kleinen Kevin aus Bremen hat uns sehr deutlich
unsere Verantwortung als Gemeinschaft und Staat für
diese Kinder vor Augen geführt. Ohne die Ergebnisse

Andrea Astrid Voßhoff


(A) (C)



(D)(B)

entsprechender gerichtlicher Untersuchungen vorweg-
nehmen zu wollen, können wir doch davon ausgehen,
dass ein intensiverer und persönlicher Kontakt zwischen
Amtsvormund und Kind zumindest einige dieser tragi-
schen Fälle hätten vermeiden können.

An dieser Stelle knüpft der Regierungsentwurf an:
Durch einen häufigeren persönlichen Kontakt zwischen
Vormund und Mündel soll der Schutz der betroffenen
Kinder nachhaltig verbessert werden – eine Forderung,
die insbesondere auch von Experten wiederholt an den
Gesetzgeber herangetragen wurde.

Das Bundesjustizministerium hat im Jahr 2006 vor
dem Hintergrund der zunehmenden Zahl von Fällen des
Kindesmissbrauchs- und der Kindesvernachlässigung
die Expertengruppe „Familiengerichtliche Maßnahmen
bei Gefährdung des Kindeswohls“ eingesetzt, die im No-
vember 2006 eine Reihe von Vorschlägen zur Optimie-
rung der familienrechtlichen Praxis vorgelegt hat.

Auf Grundlage dieser Empfehlungen hat bereits die
damalige schwarz-rote Koalition im Jahr 2008 das Ge-
setz zur Erleichterung familiengerichtlicher Maßnah-
men bei Gefährdung des Kindeswohls verabschiedet,
das in Fällen des Kindesmissbrauchs und der Vernach-
lässigung von Kindern ein frühzeitigeres und niedrig-
schwelligeres Eingreifen der Familiengerichte ermög-
licht und so den Kinderschutz deutlich effektiver
gemacht hat.

Damals ging es uns lediglich um eine erste schnelle
Maßnahme, wobei uns allerdings bewusst war, dass zeit-
nah weitere Schritte folgen müssen. Die Expertengruppe
ist daraufhin erneut zusammengetreten, um sich nun vor
allem mit der Frage der Zusammenarbeit zwischen Fa-
miliengerichten und Jugendämtern zu befassen und zu
klären, ob und wie gesetzgeberische Maßnahmen diese
Zusammenarbeit optimieren können.

Der Bericht der Arbeitsgruppe enthält folglich eine
Reihe weiterer Empfehlungen an den Gesetzgeber. Diese
betreffen die Themenkomplexe Fortbildung, interdiszi-
plinäre Zusammenarbeit und Pflegefamilien. Darüber
hinaus hat sich eine eigene Unterarbeitsgruppe mit dem
besonders wichtigen Komplex der Vormundschaft be-
fasst und auch hierzu zahlreiche Empfehlungen an den
Gesetzgeber gerichtet, die jetzt von der Koalition aufge-
griffen wurden.

Bereits die geltende Rechtslage setzt eigentlich den
persönlichen Kontakt des Vormunds mit dem Mündel vo-
raus. Denn ohne diesen Kontakt kann der Vormund das
Kind weder im erforderlichen Maße beaufsichtigen und
beobachten noch hat er die Möglichkeit, die für eine ge-
deihliche Entwicklung erforderlichen erzieherischen
Maßnahmen zu ergreifen. So weit zumindest die Theorie.
Leider ist die Praxis – wie so oft – eine gänzlich andere.

Wir alle wissen, dass es in den Jugendämtern zum Teil
erhebliche finanzielle und personelle Engpässe gibt, die
eine ausreichende, den gesetzlichen Vorgaben entspre-
chende Betreuung durch den Vormund nicht zulassen.
Ein Amtsvormund ist zuweilen – so auch im Fall des
kleinen Kevin – für über 200 Mündel zuständig und ver-
antwortlich. Es ist klar, dass es unter solchen Bedingun-
Zu Protokoll
gen dem Vormund so gut wie unmöglich ist, sich dem
einzelnen Mündel in ausreichendem Umfang persönlich
zuzuwenden. Allein rein rechnerisch kann sich ein sol-
cher Vormund nicht einmal eine Stunde pro Monat um
sein Mündel kümmern. Rechnet man die Verwaltungstä-
tigkeit und Fahrtzeit ab, wird einem schnell klar, wie we-
nig Zeit am Ende wirklich bleibt, um sich nur ansatz-
weise von der Lebenssituation und den Bedürfnissen der
Kinder ein realistisches Bild zu verschaffen.

Sofern wir den Anspruch ernst nehmen, dass der Vor-
mund entsprechend der gesetzlichen Vorgaben in der
Lage sein muss, frühzeitig Fehlentwicklungen entgegen-
zuwirken, muss er einen realistischen und kontinuier-
lichen Einblick in die Lebenssituation des Mündels
haben. Nur so kann er Probleme erkennen, geeignete
Maßnahmen im Interesse des Mündels veranlassen und
diese auf ihre Wirksamkeit hin überprüfen. Das ist in der
Praxis der entscheidende Punkt, und genau hier setzt
der Regierungsentwurf an.

Wie von den Experten empfohlen, sollen nun gesetz-
lich verbindliche Regelungen zum persönlichen Kontakt
zwischen Vormund und Mündel vorgegeben sowie Vor-
gaben zur persönlichen Überwachung von Pflege und
Erziehung des Mündels gemacht werden. Zudem sollen
Berichtspflichten des Vormunds gegenüber dem Fami-
liengericht festgelegt und Letztere ihrerseits verpflichtet
werden, ausdrücklich auch den persönlichen Kontakt
zwischen Vormund und Mündel zu überwachen. Wegen
der Parallelen zwischen Vormundschafts- und Betreu-
ungsrecht sieht der Regierungsentwurf zudem vor, die
geplanten Neuregelungen zur Berichtspflicht sowie zur
Aufsichtspflicht des Gerichts auch entsprechend auf die
persönlichen Kontakte zwischen Betreuter und Betreu-
tem anzuwenden.

Die zentrale und wichtigste Neuregelung besteht aber
darin, die Zahl der Amtsvormundschaften – ausgehend
von einer Vollzeitstelle – auf höchstens 50 pro Vormund
zu begrenzen. Das würde im Vergleich zur geltenden
Praxis, in der, wie gesagt, ein Amtsvormund bis zu
200 Mündel zu betreuen hat, eine deutliche und spür-
bare Verbesserung darstellen. Bei maximal 50 Mündeln
könnte der Vormund dann einen regelmäßigen und aus-
reichenden Kontakt zu dem Kind aufbauen und seine Er-
ziehungsaufgabe wahrnehmen, sodass Pflege und Erzie-
hung des Kindes im gesetzlichen Maße gewährleistet
wären.

Lediglich der Vollständigkeit halber weise ich darauf
hin, dass der jetzt zur Beratung stehende Gesetzentwurf
die Expertenempfehlungen noch nicht abschließend auf-
greift. Mittelfristig soll eine grundlegende Modernisie-
rung des Vormundschaftsrechts folgen. Bekanntlich
stammt die Grundkonzeption des Vormundschaftsrechts
noch aus dem 19. Jahrhundert und bedarf daher in vie-
len Bereichen struktureller Anpassungen an die geän-
derten Rechts- und Lebensverhältnisse. Wir planen,
einen entsprechenden Gesetzentwurf noch in der laufen-
den Legislaturperiode zu erarbeiten und auf den Weg zu
bringen. Für den Moment beschränken wir uns aber auf
die dringendsten Probleme und zeitnah realisierbaren
Maßnahmen. Unser Ansatz lautet also: kurzfristig in ei-



gegebene Reden

Andrea Astrid Voßhoff


(A) (C)



(D)(B)

nem ersten Schritt sicherstellen, dass die gesetzlichen
Qualitätsvorgaben für die Vormundschaft gewährleistet
sind, und dann in einem zweiten Schritt die Strukturen
anpassen.

Was die Einzelheiten angeht, so sehen auch wir noch
eine Reihe von Punkten, über die in den kommenden Wo-
chen zu diskutieren sein wird. Die zentrale politische
Frage ist dabei sicherlich die neue Obergrenze für Vor-
mundschaften. Die Forderungen reichen hier von einer
flexibleren, das heißt weniger starren Obergrenze bis zu
einer noch niedrigeren Obergrenze.

Natürlich dürfen wir uns hier keinen Illusionen hin-
geben. Die allgemeine Haushaltslage in Deutschland ist
äußerst angespannt und dürfte sich in den nächsten Jah-
ren eher noch weiter verschärfen. Vor allem Städte mit
sozialen Brennpunkten, in denen überdurchschnittlich
viele der gefährdeten Kinder leben, stehen finanziell mit
dem Rücken zur Wand und haben kaum Spielräume. Da-
her kann die Forderung nach einer flexibleren Ober-
grenze seitens des Bundesrates kaum überraschen.

Als Parlament und Gesetzgeber müssen wir uns aber
stets bewusst sein, dass gerade diese Kinder, die im be-
sonderen Maße unseres Schutzes bedürfen, eine schwa-
che Lobby haben. Daher stehen gerade wir in besonde-
rer Verantwortung, im Interesse der betroffenen Kinder
die richtigen Prioritäten zu setzen. Wir reden oft davon,
dass das Kindeswohl im Mittelpunkt unserer politischen
Bemühungen steht. Wir haben jetzt die Gelegenheit und
Pflicht, zu beweisen, dass es sich hierbei nicht um bloße
Lippenbekenntnisse handelt.

Der Regierungsentwurf ist eine gute Grundlage für
die weiteren Beratungen. Soweit es hier auch um ganz
praktische Fragen – etwa die Obergrenze für Amtsvor-
mundschaften – geht, werden wir auch in Erwägung zie-
hen, im Rahmen einer öffentlichen Anhörung externes
Fachwissen in unsere Meinungsbildung einzubeziehen.
Wir werden in diesem Zusammenhang selbstverständ-
lich auch die Sorgen und Argumente der Bundesländer
sorgfältig prüfen.

Ich lade Sie daher alle ein, gemeinsam mit uns nach
Lösungen zu suchen, und freue mich auf offene und kon-
struktive Beratungen.


Sonja Steffen (SPD):
Rede ID: ID1707128300

Wir befassen uns heute mit dem Regierungsentwurf

der Reform des Vormundschaftsrechts, der einen verbes-
serten Kinderschutz zum Ziel hat.

Unsere Kinder sind die schwächsten Mitglieder unse-
rer Gesellschaft, und nicht jedes Kind wächst behütet in
der eigenen Familie auf. Schlimme Fälle von Kindesver-
nachlässigung sind uns allen in schrecklicher Erinne-
rung. Wir alle hoffen, dass Änderungen im Vormund-
schaftsrecht dazu beitragen können, Missbrauch und
Vernachlässigung von Kindern zu verhindern.

Wird Eltern das Sorgerecht entzogen, übernimmt ein
Vormund die volle Verantwortung für das Kind. In drei
von vier Fällen liegt die Vormundschaft bei den Jugend-
ämtern als „Amtsvormund“. Wer Verantwortung für
Zu Protokoll
Kinder trägt, darf seine Schützlinge nicht nur aus Akten
kennen. Ein direkter Kontakt zum Kind und Einblicke in
das persönliche Umfeld sind unverzichtbar, um Gefah-
ren frühzeitig zu erkennen und abzuwenden. In der Pra-
xis muss ein Amtsvormund gegenwärtig in vielen Fällen
bis zu 120 Kinder gleichzeitig im Blick haben, bei
Kevins Vormund in Bremen waren es mehr als 200. Der
persönliche Kontakt ist dadurch oft nicht mehr möglich.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat bereits im Sommer die-
ses Jahres einen Antrag zur Änderung des Vormund-
schaftsrechts eingebracht, dessen Inhalte erfreulicher-
weise teilweise in dem Entwurf der Bundesregierung
ihren Niederschlag gefunden haben. Der Entwurf sieht
vor, die Zahl der Amtsvormünder auf 50 Vormundschaf-
ten zu begrenzen. Aus unserer Sicht sollte jedoch die von
einer Vollzeitkraft zu bearbeitenden Vormundschaften
auf 40 Fälle begrenzt werden, damit eine individuelle
Betreuung ermöglicht werden kann.

Ein erfreulicher Aspekt des Entwurfes ist die aus-
drückliche Verankerung der regelmäßigen persönlichen
Kontakte des Vormundes mit dem Mündel. In der Regel
sollten diese persönlichen Kontakte einmal im Monat
stattfinden, aber, je nach Einzelfall, flexibel gehandhabt
werden. Hier hat die Bundesregierung den Vorschlag
der SPD-Fraktion aufgenommen und die vorgesehenen
Kontakte des Vormunds zu seinem Mündel nicht mehr
nur auf die übliche Umgebung des Mündels beschränkt.
Insbesondere wenn sich das Kind in einer Konfliktsitua-
tion mit seinen Pflegeeltern oder Heimmitarbeitern be-
findet, sollte der Kontaktbesuch besser an einem neutra-
len Ort stattfinden.

Die Kontrolle der persönlichen Kontakte zwischen
Vormund und Mündel sind bei den Familiengerichten
richtig angesiedelt. Allerdings sollten die Amtsvormün-
der dem Familiengericht auch über die Förderung und
Überwachung der Pflege und Erziehung des Mündels
berichten müssen. Insofern sollte eine Ergänzung des
Entwurfes erfolgen.

Weitere Punkte, die aus der Sicht der SPD-Fraktion
im weiteren parlamentarischen Verfahren geprüft und
eventuell Eingang in die Gesamtreform des Vormund-
schaftsrechtes finden sollten, sind: die Einführung einer
Beschwerdeinstanz, an die sich das Mündel bei Unzu-
friedenheit mit dem Vormund wenden kann, eine ver-
stärkte Förderung und ein Vorrang unabhängiger Ein-
zelvormünder, auch zur finanziellen und personellen
Entlastung der Jugendämter, eine namentliche Bestel-
lung der Amtsvormünder, da nur eine Person – und nicht
ein Amt – dazu imstande ist, eine Beziehung zum Mündel
aufzubauen, und eine Anhebung der beruflichen Qualifi-
kation der Amtsvormünder auf das Niveau eines Fach-
hochschulabschlusses im Bereich Sozialpädagogik oder
Heilpädagogik.

Schließlich sollte sorgfältig geprüft werden, ob das
Gesetz der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Dies
hat der Bundesrat selbst in seiner Stellungnahme vom
15. Oktober 2010 bereits angemahnt. Die Begrenzung
der Zahl der Vormundschaften auf 50 wird einen erhöh-
ten Personalbedarf in den Jugendämtern gegenüber
dem bisherigen Zustand mit sich bringen. Ob hier der



gegebene Reden

Sonja Steffen


(A) (C)



(D)(B)

Art. 104 a GG greift und damit eine Zustimmungspflicht
besteht, sollte im Rechtsausschuss geprüft werden.


Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707128400

Der vorgelegte Gesetzentwurf kommt den Bedürfnis-

sen der Wirklichkeit nach. Nach den bekannt geworde-
nen Fällen von Kindesmisshandlung und -vernachlässi-
gung sieht sich die Regierung genötigt, endlich aktiv zu
werden. Die Probleme werden damit allerdings nicht be-
hoben, es soll jedoch Schadensminimierung betrieben
werden.

Vom Ansatz her ist der Gesetzentwurf auch in seiner
Zielrichtung begrüßenswert. So soll der schon jetzt er-
forderliche persönliche Kontakt zum Mündel durch den
Vormund gesetzlich festgeschrieben werden. Dies wird
auch der Kontrolle des Familiengerichts unterstellt, in-
dem der Vormund dem Familiengericht über die persön-
lichen Kontakte, welche mindestens monatlich erfolgen
müssen, berichten soll. Fraglich ist, wie es sich in der
Praxis darstellen soll, dass der Vormund die Pflege und
Erziehung persönlich fördern und gewährleisten soll.

Schön ist, dass im Kinder- und Jugendhilfegesetz,
SGB VIII, die Zahl der zu übernehmenden Vormund-
schaftsfälle bei hauptamtlichen Beschäftigten auf 50 be-
grenzt werden soll, wobei sich aber bereits bei dieser
Anzahl die Frage nach effektiver Pflege und Erziehung
stellt. Hier wird Druck aufs Personal ausgeübt, was der
Qualität zuwiderläuft. Bei der zulässigen Maximalzahl
stünde pro Mündel ein halber Tag pro Monat zur Verfü-
gung, im Grunde ist abzusehen, dass diese Zeit kaum
ausreicht, um der Zielstellung des Gesetzes gerecht zu
werden. Dies gilt abgesehen davon, dass die Kosten,
welche auf die Kommunen zukommen, angeblich nicht
beziffert werden können.

Die Zahl der Stellen in den Kommunen dürften im Be-
reich der Amtsvormundschaft zum Teil, so sagt es der
Gesetzentwurf ja selbst aus, bis zu 100 Prozent erhöht
werden, und dabei muss es sich um qualifiziertes Perso-
nal handeln. Fraglich bleibt in diesem Zusammenhang,
wie die Kommunen in Zeiten knapper Kassen und
schwindender Landeszuweisungen diese Kosten tragen
sollen, ohne dass in den Ämtern an anderer Stelle ge-
spart wird. Hinsichtlich der Änderung zu § 1840 BGB

(Jahresbericht) scheint dies entbehrlich zu sein, zumal

der Vormund dem Gericht laufend über die persönlichen
Kontakte entsprechend § 1837 BGB zu berichten hat.

In diesem Kontext dürfte auch ein erhöhter Arbeits-
aufwand bei der Justiz anfallen, da sämtliche Fälle von
Amtsvormundschaften permanent kontrolliert werden
müssen, um notfalls auch den Amtsvormund abzubestel-
len, falls dieser seiner monatlichen Kontaktpflicht nicht
nachkommt. Von daher sind nicht nur die Gebietskörper-
schaften, wie der Gesetzentwurf nahelegt, sondern auch
die Länder selbst im Rahmen der Stellen in der Justiz be-
troffen – wenn auch nicht in dem Maße wie die Jugend-
ämter. Zur Ermittlung der genauen Kosten dürfte es ei-
nigermaßen problemlos sein, die entsprechenden Zahlen
von den Landesjustizverwaltungen und Landesjugend-
ämtern einzuholen, um dann hochzurechnen, mit wel-
Zu Protokoll
chen Mehrausgaben Länder und Kommunen zu rechnen
haben und wie die Finanzierung gestaltet werden soll.

Aufgabe der Bundesregierung ist es nicht nur, neue
Gesetze zu schaffen, sondern auch deren Durchsetzbar-
keit zu gewährleisten. Mit dem vorliegenden Gesetzent-
wurf stiehlt sich die Regierung einmal mehr aus der Ver-
antwortung, denn sie überträgt den Ländern und
Kommunen weitere Aufgaben – wohlwissend, dass die
dafür erforderlichen finanziellen Mittel bei den Kommu-
nen nicht vorhanden sind. Damit wird den Bedürfnissen
der Betroffenen nicht Rechnung getragen. Ich hoffe,
dass wir im Ausschuss entsprechende Lösungen noch
konstruktiv erarbeiten können.


Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1707128500

Wir befassen uns heute mit dem Gesetzentwurf der

Bundesregierung zum Vormundschafts- und Betreuungs-
recht. Zunächst möchte ich auf das Vormundschaftsrecht
eingehen.

Nach den bedrückenden Vorkommnissen in der Ver-
gangenheit ist es dringend notwendig, die Situation von
Kindern unter Vormundschaft zu verbessern. Insbeson-
dere der traurige Fall des Kindes Kevin aus Bremen, das
im Jahr 2006 zu Tode gekommen ist, hat die Öffentlich-
keit sensibilisiert. Der Amtsvormund, der für Kevin zu-
ständig war, hatte zu diesem Zeitpunkt 200 Mündel in
seiner Betreuung. Aufgrund der großen Arbeitsbelas-
tung hatte er keinen persönlichen Kontakt zu Kevin.
Deshalb fehlte ihm die eigene Kenntnis von den kata-
strophalen Verhältnissen, in denen sein Mündel lebte.
Wie können wir den Schutz von Mündeln realistisch ver-
bessern und die Qualität der Vormundschaft sichern?
Das ist eine Kernfrage bei der Reform des Vormund-
schaftsrechts.

Der Maßstab für das Handeln des Vormunds kann
nur das Kindeswohl des Mündels sein. Wir sind uns da-
rüber einig, dass dazu der persönliche Kontakt des Vor-
munds mit dem Mündel unerlässlich ist. Auch sind wir
uns einig darüber, dass die Fallzahlen für die tatsächli-
chen Betreuungen erheblich reduziert werden müssen.
Wie können wir das realistisch umsetzen? Der Gesetz-
entwurf der Bundesregierung sieht vor, die Fallzahlen in
der Amtsvormundschaft auf 50 Vormundschaften je Mit-
arbeiter zu begrenzen. Ferner soll der persönliche Kon-
takt in der Regel einmal im Monat stattfinden, wenn
nicht im Einzelfall andere Besuchsabstände erforderlich
sind. Ob ein Vormund so eine echte und intensive Be-
treuung gewährleisten kann, ist fraglich. Würde der
Amtsvormund bei einer Fallzahl von bis zu 50 Vormund-
schaften jeweils einen monatlichen Kontakt zum Mündel
herstellen wollen, müsste er jährlich 600 Kontakte
wahrnehmen. Dies wäre zusätzlich zu den festgeschrie-
benen und neben den übrigen für sein Mündel zu leisten-
den Aufgaben nicht realisierbar. Dem Kindeswohl wird
das nicht gerecht.

Wir fordern daher, dass im Gesetz die Festschreibung
der Vormundschaften auf eine angemessene Fallzahl re-
duziert wird. Jede Fachkraft sollte nur so viele Vor-
mundschaften führen, wie dies mit Blick auf die Erfül-
lung ihrer gesamten Verpflichtungen gegenüber dem



gegebene Reden

Ingrid Hönlinger


(A) (C)



(D)(B)

Mündel möglich ist. In der Gesetzesbegründung sollte
vorgesehen werden, dass sich die Vormundschaften ei-
ner Vollzeitkraft in einem Rahmen von 30 bis 50 Fällen
bewegen. 50 Fälle je Vollzeitkraft sollten die absolute
Obergrenze sein.

Einen anderen zentralen Punkt sehen wir in dem Mit-
spracherecht des Mündels. Wie kann das Mündel in die
Entscheidungen seines Vormunds miteinbezogen wer-
den? Wir begrüßen die Einführung der mündlichen An-
hörung des Mündels vor Bestellung des Beamten oder
Angestellten des Jugendamts zum Vormund. Dennoch
geht uns diese Einbeziehung des Mündels nicht weit ge-
nug. Wie im Betreuungsrecht könnte je nach Alter des
Mündels eine Beteiligung an Entscheidungen des Vor-
munds – vgl. § 1901 Abs. 3 Satz 3 BGB – aufgenommen
oder dem Mündel eine Beschwerdemöglichkeit einge-
räumt werden.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Qualität der Vor-
mundschaft. Wie kann die Aus- und Weiterbildung für
diese Vielzahl an neuen Amtsvormündern gewährleistet
und umgesetzt werden? Es ist nicht hinreichend geklärt,
inwiefern die Jugendämter ausreichend qualifizierte
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Kürze der Zeit
finden. Es muss zeitnah mit der Schulung und Qualifizie-
rung potenzieller neuer Vormünder begonnen werden.
Zusätzlich werden erhebliche Kosten auf die Kommunen
zukommen. Die Kommunen sind schon durch andere
Pflichtaufgaben am Rande ihrer finanziellen Leistungs-
fähigkeit angekommen und sind finanziell nicht in der
Lage, die Kosten dieser neuen Maßnahmen alleine zu
tragen. Im Gesetzentwurf fehlt eine genaue Kalkulation
der anfallenden Kosten. Es besteht die Gefahr, dass Gel-
der aus anderen wichtigen Bereichen der Jugendhilfe
abgezogen werden. Auch sieht der Gesetzentwurf keine
Übergangsvorschrift vor. Es ist von besonderer Bedeu-
tung, dass nicht nur die Quantität, sondern auch die
Qualität der Vormundschaften gesichert ist. Wir sehen
darin einen wichtigen Aspekt für die Gewährleistung des
Kindeswohls. Das gibt der Gesetzentwurf nicht her.

Abschließend möchte ich den Fokus auf das Betreu-
ungsrecht richten. Auch hier stellt sich die Frage: Wie
kann die Qualität der beruflichen Betreuung verbessert
werden? Die Bundesregierung möchte die Besuchsse-
quenz des Betreuers beim Betreuten auf das sogenannte
erforderliche Maß festlegen. Als Sanktion sieht sie die
Entlassung des Betreuers vor.

Der Evaluationsbericht zum Zweiten Betreuungs-
rechtsänderungsgesetz nennt zwar die Besuchshäufig-
keit als einen möglichen Faktor, um die Qualität der
Betreuung zu messen. Der Bericht empfiehlt aber gleich-
zeitig, andere Faktoren zur Qualität heranzuziehen, die
mitunter noch eruiert werden müssen. Auch in der fach-
lichen Debatte spielt die Besuchshäufigkeit als Quali-
tätskriterium eine untergeordnete Rolle. Zu nennen sind
hier insbesondere Kontrolle der Betreuungen, fachliche
Qualifikation der Betreuer, leistungsgerechte Vergütung
und so weiter.

Das Betreuungsrecht muss insgesamt reformiert wer-
den. Der persönliche Kontakt ist nur ein kleiner Be-
standteil und sollte nicht einzeln geregelt werden. Dies
Zu Protokoll
erst recht nicht, wenn der Aspekt aus dem Gesamtzusam-
menhang gerissen wird. Ich möchte darauf aufmerksam
machen, dass wir zum Betreuungsrecht an die Bundesre-
gierung eine Große Anfrage gestellt haben. Davon sind
noch viele Fragen offen.

Abschließend ist zu sagen, dass der Ansatz der Bun-
desregierung zum Vormundschaftsrecht zu begrüßen ist.
Allerdings bestehen erhebliche Bedenken im Hinblick
auf eine Umsetzung, die eine echte und intensive Betreu-
ung gewährleisten würde. Die wichtige Frage der Kos-
ten ist nicht geklärt. Wir sehen darin auch eine große
Gefahr für die Qualität der Vormundschaft. Daher lehnt
meine Fraktion den Antrag ab.

D
Dr. Max Stadler (FDP):
Rede ID: ID1707128600


Kinderschutz ist ein zentrales Thema, das wir alle
sehr ernst nehmen. Ein wichtiger Bestandteil des Kin-
derschutzes in unserer Rechtsordnung ist das Vormund-
schaftsrecht. In der Vergangenheit haben Fälle von Kin-
desmisshandlungen und Kindesvernachlässigungen mit
Todesfolge oder mit der Folge erheblicher Körperverlet-
zung gezeigt, dass leider in der Praxis des Vormund-
schaftsrechts Defizite bestehen. Auch ein bestellter Vor-
mund hat die ihm anvertrauten Kinder – hier sei nur an
den kleinen Kevin aus Bremen erinnert – nicht immer
hinreichend vor den Gefährdungen aus ihrem Le-
bensumfeld geschützt.

Das Bundesministerium der Justiz hat als Reaktion
auf die bekannt gewordenen Fälle von Kindesvernach-
lässigungen die Arbeitsgruppe „Familiengerichtliche
Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls – § 1666
BGB“ einberufen. Diese hat festgestellt, dass eine der
Hauptursachen dafür, dass Missstände und Vernachläs-
sigungen nicht abgestellt worden sind, vor allem die zu
hohe Fallzahl bei den Amtsvormündern ist. Übrigens
haben mehrere Vertreter der Länder an der Arbeits-
gruppe mitgewirkt. Die Amtsvormünder kennen ange-
sichts hoher Fallzahlen ihre Mündel oftmals im Wesent-
lichen nur aus den Akten. Einige Amtsvormünder sind
für über 200 Mündel zuständig. So war es im Fall Kevin.
Das Landgericht Bremen hat das Strafverfahren gegen
den Amtsvormund im August dieses Jahres gegen die
Zahlung eines Geldbetrages eingestellt. Der Amtsvor-
mund habe unter starker Arbeitsbelastung gestanden
und trage deshalb nur geringe persönliche Schuld an
dem tragischen Vorfall. Ein Sachverständiger hatte zu-
vor im Gerichtsverfahren bestätigt, dass jeder Bremer
Amtsvormund für durchschnittlich 240 Kinder zuständig
gewesen sei und sich praktisch nur zwei Minuten pro
Woche um die Einzelfälle habe kümmern können, meist
nur nach Aktenlage. Überlastungsanzeigen der Behör-
denmitarbeiter seien „teilweise unbeantwortet geblie-
ben“.

Hier setzen wir mit unserem Gesetzgebungsvorhaben
an. Die Bundesregierung will, dass Kinder durch die
Rechtsordnung bestmöglich vor Vernachlässigung, Gewalt
und Missbrauch geschützt werden. Gerade die Vormünder,
also auch die Amtsvormünder, müssen als Verantwortliche
für die Personensorge der ihnen anvertrauten Kinder an-



gegebene Reden





Parl. Staatssekretär Dr. Max Stadler


(A) (C)



(D)(B)

gehalten werden, sich selbst in jedem Fall direkt mit der
Situation auseinanderzusetzen und sich nicht nur auf die
Aussagen von anderen zu verlassen.

Der Gesetzentwurf hat das zentrale Ziel, den Kontakt
zwischen Vormund und Mündel zu stärken, damit der
Vormund Anzeichen für eine Kindeswohlgefährdung
frühzeitig erkennen und dagegen einschreiten kann. Be-
reits das geltende Recht setzt den persönlichen Kontakt
des Vormunds zu dem Mündel voraus. Ohne persönli-
chen Kontakt kann der Vormund die Pflicht und das
Recht, die Pflege und Erziehung des Mündels zu fördern
und zu gewährleisten, nicht wahrnehmen. Das geltende
Recht setzt auch eine Begrenzung der Fallzahlen voraus,
da nur so sichergestellt ist, dass der Vormund die ihm
übertragenen Aufgaben verantwortungsbewusst aus-
üben kann. Die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landes-
jugendämter hat hierfür bereits im Jahr 2000 eine Ober-
grenze von 50 Vormundschaften und Pflegschaften pro
vollzeitbeschäftigtem Mitarbeiter empfohlen.

In der Praxis werden diese Pflichten und Empfehlun-
gen aber offenbar nicht in jedem Fall ernst genug ge-
nommen. Es ist daher unerlässlich, klare Zahlen – so-
wohl bei der Kontakthäufigkeit als auch bei den
Fallzahlen – ins Gesetz zu schreiben. Nur so können wir
nach meiner festen Überzeugung tatsächlich eine Ände-
rung im Verhalten mancher Vormünder und in der Aus-
gestaltung mancher Amtsvormundschaften bewirken. Es
geht uns nicht darum, neue Vorgaben und Pflichten für
den Vormund einzuführen, sondern es soll stattdessen
klargestellt und festgeschrieben werden, wie es eigent-
lich schon nach dem geltenden Recht in der Vormund-
schaft laufen sollte.

Wir sind uns darüber im Klaren, dass es bei der Um-
setzung des Gesetzentwurfes zu Mehrkosten für einige
Kommunen kommen kann. Einige Kommunen, Länder
und auch die Bundesvereinigung der kommunalen Spit-
zenverbände haben hierauf auch ausdrücklich hingewie-
sen und sich mit entsprechenden Schreiben an Mitglieder
des Deutschen Bundestages gewandt. Die Bundesregie-
rung hat dies bei der Ausarbeitung der Gegenäußerung
zu der Stellungnahme des Bundesrates nochmals über-
dacht. Wir sind der Auffassung, dass an der Fallzahl von
50 nicht gerüttelt werden sollte. Die vorgeschlagene
Fallzahl entspricht den fachlichen Empfehlungen. Der
Bundesrat selbst geht in seiner Begründung davon aus,
dass „ein Orientierungsrahmen von 50 Vormundschaf-
ten oder Pflegschaften angemessen ist“. Ohne die aus-
drückliche Festschreibung im Gesetz ist – wie die derzei-
tige Praxis zeigt – nicht hinreichend sichergestellt, dass
die fachlichen Empfehlungen in der Praxis umgesetzt
werden. Ich halte die Mehrkosten deshalb für akzeptabel.
Ein verbesserter Kinderschutz durch mehr persönliche
Zuwendung eines Vormundes zu seinen Mündeln ist eben
nicht zum Nulltarif zu haben. Viele Kommunen kommen
ihren Verpflichtungen schon jetzt nach. Die Mehrkosten
betreffen also nur die Kommunen, die bislang ihre Amts-
vormünder mit einer zu hohen Zahl von Mündeln belastet
haben.

Ich bitte Sie daher bei den Beratungen um Unterstüt-
zung unseres Gesetzentwurfes gerade auch mit den kon-
kreten Pflichten für Vormünder und Kommunen, damit
zukünftig Kindern wie dem kleinen Kevin auch tatsäch-
lich ein besserer Schutz gewährt werden kann.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1707128700

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/3617 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind
damit einverstanden. Die Überweisung ist so beschlos-
sen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 23 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Christine Buchholz, Dr. Dietmar Bartsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Beziehung der Europäischen Union mit Afrika
solidarisch und gerecht gestalten

– Drucksache 17/3672 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union


Hartwig Fischer (CDU):
Rede ID: ID1707128800

Wir debattieren heute den Antrag der Fraktion Die

Linke mit dem Titel „Beziehungen der Europäischen
Union mit Afrika solidarisch und gerecht gestalten“ in
erster Lesung. Ich muss Ihnen sagen: Der Inhalt und die
Forderungen des Antrages überraschen mich in keinster
Weise. Nein, sie waren sogar zu erwarten. Sie schreiben
in Ihrem Antrag wieder einmal von kolonialen Domi-
nanzverhältnissen, von Durchsetzung von Rohstoff- und
Wirtschaftsinteressen, von Fluchtursachen und von ver-
netzter Sicherheit. Meine Damen und Herren von der
Linken, ich finde es außerordentlich traurig, dass Sie
wieder einmal das so wichtige Thema Afrika für Ihre
ideologischen Forderungen missbrauchen und dem
Thema damit bei weitem nicht gerecht werden. Auch hat
man das Gefühl, dass Sie Forderungen, die Sie zum Bei-
spiel zu Afghanistan aufgestellt haben, unisono auf den
afrikanischen Kontinent übertragen haben und somit
komplett an der Realität vorbeigehen. Also hören Sie
bitte auf, Ihre ideellen Generalansichten auf alles und
jeden zu projizieren, und befassen Sie sich endlich ein-
mal im Detail mit diesem wichtigen Kontinent Afrika.

Bevor ich nun im Detail auf Ihre Feststellungen und
Forderungen eingehe, lassen sie mich bitte noch eine
generelle Anmerkung zu Ihrem Antrag machen. Sie ma-
chen in diesem Antrag wieder einmal den Fehler, dass
Sie immer nur von dem Kontinent Afrika sprechen und
so zum Beispiel in Ihrem Antrag fordern, dass Deutsch-
land eine Neuausrichtung der Beziehung zu Afrika
durchführt. Genau da liegt Ihr Fehler. Man kann nicht
von einer Beziehung zwischen Deutschland und Afrika
sprechen; vielmehr besteht Afrika aus 54 eigenständigen
Staaten, die eigene Interessen, Bedürfnisse, aber auch

Hartwig Fischer (Göttingen)



(A) (C)



(D)(B)

Probleme haben. Genau dies macht es ja so schwierig,
eine einheitliche EU-Afrika-Strategie durchzusetzen;
denn die afrikanischen Staaten unterscheiden sich von-
einander genauso wie die europäischen oder asiatischen
untereinander. Ihre Kritik, dass die EU und Deutschland
mit Einzelstaaten oder kleineren Staatengruppen Ab-
kommen geschlossen hat, geht vollkommen ins Leere;
denn die Voraussetzungen der Zusammenarbeit sind für
jedes Land unterschiedlich und müssen für jeden einzel-
nen Fall geprüft werden. Wir begehen nicht den Fehler
wie Sie, alle afrikanischen Länder in einen Topf zu
schmeißen und alle gleich zu behandeln. Für uns gibt es
große Unterschiede zwischen Staaten wie Sudan und auf
der anderen Seite zum Beispiel Tansania. Auch kann
man bei diesen Verträgen nicht von einem kolonialen
Dominanzverhältnis sprechen; denn in Wirklichkeit ist
es doch so, dass unsere Partnerländer mit ihren Wün-
schen im Rahmen der Regierungsverhandlungen auf uns
zukommen und wir dann diskutieren, wie wir als Bun-
desrepublik Deutschland bei der Erreichung der Wün-
sche und Ziele helfen können. Dies passiert auf Augen-
höhe und nicht, wie Sie glauben.

Aber nun zu Ihren eigentlichen Forderungen. Sie wer-
fen in Ihrem Antrag der deutschen Entwicklungspolitik
vor, der Durchsetzung von Wirtschafts- und Rohstoffin-
teressen zu dienen und diese auch zu militarisieren. Da-
bei benennen Sie explizit den deutschen Beitrag zur
„Atalanta“-Mission. Ich war im Februar 2009 in Dschi-
buti und konnte mich vor Ort über den Beitrag der deut-
schen Fregatten informieren. Das Bundeskabinett hat
am gestrigen Tage die Verlängerung des „Atalanta“-
Mandates beschlossen, und wir werden daher bald hier
im Deutschen Bundestag die Möglichkeit haben, aus-
führlich darüber zu diskutieren. Daher nur so viel: Die
somalische Bevölkerung leidet noch immer unter den
Folgen des Bürgerkriegs. Nach Angaben der Vereinten
Nationen sind rund 3,2 Millionen Menschen im Land auf
humanitäre Hilfe angewiesen. Im laufenden Jahr er-
reichten Somalia bislang an die 90 000 Tonnen Nah-
rungsmittel und andere Hilfsgüter. Dies reichte, um bis
zu 1,8 Millionen Menschen zu versorgen. Die Hilfsgüter
kommen fast ausschließlich auf dem Seeweg: im Auftrag
des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen,
der Mission der Afrikanischen Union in Somalia und an-
derer Hilfsorganisationen. Sie führen die notwendigen
Schiffstransporte ins Land durch. Immer wieder waren
die Schiffstransporte das Ziel von Piratenüberfällen.
Seit Beginn von „Atalanta“ hat es aber keinen Übergriff
mehr auf Hilfstransporte gegeben. Alle 86 im Auftrag
des Welternährungsprogramms durchgeführten Schiffs-
transporte kamen sicher an. Insgesamt gelangten so fast
470 000 Tonnen Nahrungsmittel nach Somalia. Dies
zeigt, dass diese Mission und der deutsche Beitrag
hierzu das Leiden und Sterben der Menschen und somit
die von Ihnen so oft diskutierten Fluchtursachen in So-
malia lindern und verhindern, und es wird langsam Zeit,
dass Sie das auch einmal zur Kenntnis nehmen und ver-
stehen.

Aber in einem Punkt gebe ich Ihnen recht: Deutsch-
land als Exportnation hat ein Interesse an den Rohstof-
fen afrikanischer Länder. Aber wir wollen gerade nicht
Zu Protokoll
die Rohstoffe wie China im Tausch gegen Waffen auf
dem Schwarzmarkt erwerben, sondern unterstützen die
afrikanischen Staaten bei ihren Bemühungen, die Roh-
stoffe zertifiziert abzubauen und auf dem Weltmarkt zu
Weltmarktkonditionen und Weltmarktpreisen zu verkau-
fen. Denn nur so kann sichergestellt werden, dass die
Wertschöpfung aus dem Verkauf der Rohstoffe im Erzeu-
gerland bleibt und somit der Bevölkerung zugutekommt.
Als Beispiel sei hier nur Botswana genannt, das es auf-
grund der Zertifizierung von Rohstoffen geschafft hat, in
circa zwölf Jahren seinen Haushalt von hoher Geberfi-
nanzierung auf weitestgehende Eigenfinanzierung um-
zustellen.

Diesem guten Beispiel folgend unterstützen wir die
Transparenzinitiative EITI und führen gemeinsam mit
unserer Gesellschaft für technische Zusammenarbeit
und Entwicklung, GtZ, und der Bundesanstalt für Geo-
wissenschaften und Rohstoffe, BGR, eine Innovationsin-
itiative zur Rohstoffzertifizierung im Osten der DR
Kongo durch. Denn nur so schaffen wir es, vielen Rebel-
lengruppen die Einnahmequellen zu nehmen, um somit
Frieden und Sicherheit in viele unsichere Gegenden zu
bringen.

In einer weiteren Forderung kritisieren Sie das Kon-
zept der vernetzten Sicherheit und die Ausbildung von
Sicherheitskräften, die auch mit deutscher Unterstüt-
zung vor Ort gewährleistet wird. Es wird Sie sicherlich
nicht überraschen, wenn ich nun sage: Ja, wir bilden
Sicherheitskräfte aus. – Aber warum tun wir dies, und
wie geschieht das? Die Bundesrepublik Deutschland hat
sich im Jahre 2010 mit 1 Million US-Dollar an der Aus-
bildung von 1 000 somalischen Polizisten in Äthiopien
beteiligt. Ferner stellt Deutschland nach Beendigung
dieser Ausbildung an UNDP der Vereinten Nationen
600 000 Dollar für Soldzahlungen an diese Polizisten
zur Verfügung. Seit dem April 2010 beteiligt sich
Deutschland im Rahmen der europäischen Initiative
EUTM, die auf Wunsch der Vereinten Nationen gebildet
wurde, mit 13 Ausbildern an der Ausbildung von 2 000
somalischen Soldaten in Uganda. Wie Sie sehen können,
werden alle Ausbildungsmissionen im Rahmen oder auf
Wunsch der Vereinten Nationen durchgeführt und dienen
allein der Stabilisierung und Unterstützung der derzeiti-
gen somalischen Übergangsregierung. Dies schafft
Frieden und Stabilität in dem von Krieg und Elend so
geschüttelten Land Somalia. Daher kann ich beim bes-
ten Willen nicht verstehen, wie Sie in Ihrem Antrag for-
dern können, alle polizeilichen und militärischen Ko-
operationen mit unseren afrikanischen Partnerländern
sofort zu stoppen. Dies zeigt, wes Geistes Kind Sie sind.
Akzeptieren Sie endlich, dass wir, obwohl es Ihnen nicht
passt, den Menschen helfen und sie nicht, wie Sie es wol-
len, dem Sterben überlassen. Sie erkennen weder die
Einsätze der Vereinten Nationen im Sudan noch in der
DR Kongo an, sondern schieben lieber Ihre ideologi-
schen „Hirngespinste“ – wie auch in Afghanistan – vor
sich her und riskieren somit den sinnlosen Tod von Tau-
senden von Menschen.

Zum Abschluss möchte ich die Kolleginnen und Kol-
legen der Fraktion Die Linke auffordern, endlich ihre
ideologische Brille abzunehmen und der Realität auf



gegebene Reden

Hartwig Fischer (Göttingen)



(A) (C)



(D)(B)

dem afrikanischen Kontinent ins Auge zu blicken. Wir
sehen auf unseren gemeinsamen Delegationsreisen vor
Ort die Probleme und Sorgen der Menschen. Wir sehen,
was gut läuft und was weniger, und die erkannten Miss-
stände versuchen wir nach unserer Rückkehr sofort ab-
zustellen. Aber dies gelingt uns nicht mit solchen ideolo-
gisch geprägten Anträgen, die komplett an der Realität
vorbeigehen.


Karin Roth (SPD):
Rede ID: ID1707128900

Am 29. und 30. November 2010 findet in Libyen das

dritte Gipfeltreffen zwischen der Europäischen Union
und den afrikanischen Staaten statt. Die Vorzeichen sind
vielversprechend: Der Gipfel soll ganz im Zeichen einer
Partnerschaft auf Augenhöhe für eine bessere gemein-
same Zukunft stehen. Die Herausforderungen sind je-
doch gewaltig. Es geht um nichts weniger als Armutsbe-
kämpfung, Frieden, Sicherheit, Demokratie, Menschen-
rechte, Global Governance und Klimawandel. Damit
bietet sich der internationalen Staatengemeinschaft gut
zwei Monate nach der Millenniumskonferenz der Verein-
ten Nationen in New York die einmalige Gelegenheit,
weitere verbindliche Schritte bei der Bekämpfung der
Armut in Afrika zu gehen. Eines muss aber klar sein:
Dieser EU-Afrika-Gipfel darf keine reine Handelsrunde
werden. Er darf nicht zu einem Wettlauf um die besten
Rohstoff- und Energievorkommen in Afrika führen.

Natürlich verfolgen wir alle die umfangreichen Akti-
vitäten Chinas zur Sicherung seiner eigenen Rohstoffbe-
darfe auf dem afrikanischen Kontinent mit großer Sorge.
Vieles erinnert an kolonialstaatlichen Habitus, den wir
im 21. Jahrhundert schon hinter uns glaubten. Deshalb
muss die Europäische Union auf eine gemeinwohlorien-
tierte Regulierung von Ressourcen mit den jeweiligen
Ländern setzen und diese bei der Zertifizierung und dem
Ressourcen-Management unterstützen. Auch das schafft
Arbeit, ist nachhaltig und im Interesse der gesamten
Weltgemeinschaft. Ich begrüße ausdrücklich den Vor-
schlag der EU-Kommission im Rahmen des Rohstoffma-
nagements, die sogenannte Initiative zur Verbesserung
der Transparenz in der Rohstoffindustrie, EITI, einzu-
schalten, damit ein wirksames Controlling aufgebaut
werden kann. Das übergeordnete Ziel des Gipfels ist
„Wachstum, Investition und Schaffung von Arbeitsplät-
zen“. Ich bin der Kommission dankbar, dass die Bezie-
hungen zwischen Europa und Afrika damit entkoppelt
werden von einer rein entwicklungspolitischen Dimen-
sion. Denn es geht tatsächlich um mehr.

Die im Jahr 2007 in Lissabon verabschiedete EU-
Afrika-Strategie, die ganz wesentlich vom damaligen
Außenminister Frank-Walter Steinmeier und der Ent-
wicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul im
Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft vorbe-
reitet wurde, bietet eine gute Grundlage für die weitere
Vertiefung und den Ausbau der europäisch-afrikani-
schen Partnerschaft. Es geht darum, gemeinsam mit den
afrikanischen Partnern eine Strukturpolitik zu unterstüt-
zen, die den Klimaschutz und ein nachhaltiges Wachs-
tum fördert, um aus der Armutsfalle herauszukommen.
Die bisherigen Vorschläge der EU-Kommission zur so-
zialen Kohäsion werden von uns ausdrücklich unter-
Zu Protokoll
stützt, weil sie auch dazu beitragen, Arbeitsplätze zu
schaffen, von denen man leben kann. Die Menschen in
Afrika sind in die Lage zu versetzen, durch eigene Arbeit
und – ganz wichtig – durch die Erzielung eines existenz-
sichernden Einkommens der Armut zu entkommen.

Die Stärkung der sozialen Sicherung – in Verbindung
mit wirtschaftlichem Wachstum – ist eine der großen He-
rausforderungen, die aber mit gemeinsamem Know-
how-Transfer zu schaffen sind. Deshalb geht es zualler-
erst um Good Governance für eine ökosoziale Markt-
wirtschaft. Eigenverantwortung als wichtiger Anspruch
für demokratische Entwicklungsprozesse gilt es zu för-
dern, aber auch zu fordern. Dabei ist der Kampf gegen
Korruption eine wichtige Voraussetzung, um Investitio-
nen in afrikanischen Staaten zu ermöglichen.

Es geht um die Förderung und Gleichstellung von
Frauen in den afrikanischen Ländern. Denn die Frauen
sind es, die für den wirtschaftlichen und sozialen Auf-
bruch in den Ländern Subsahara-Afrikas stehen. Sie
sind der Motor einer erfolgreichen europäischen Ent-
wicklungspolitik in und mit Afrika. Und es geht um Bil-
dung als Grundvoraussetzung für ein selbstbestimmtes
Leben ohne Armut. In dem Antrag der Linken zum be-
vorstehenden EU-Afrika-Gipfel, mit dem wir uns heute
beschäftigen, ist von all diesen Punkten nichts zu finden.

Die Erwartungen und Forderungen der SPD-Bundes-
tagsfraktion an die 80 Staats- und Regierungschefs auf
dem EU-Afrika-Gipfel hingegen sind sehr viel weitrei-
chender und ehrgeiziger. Die Erreichung der Millenni-
umsentwicklungsziele in den Ländern Afrika steht nach
wie vor im Mittelpunkt unserer Zusammenarbeit. Die
bisherige Bilanz ist ungenügend. Deshalb müssen die
Europäische Union und die nationalen EU-Geberländer
ihre Anstrengungen besser koordinieren, wirksamer ge-
stalten, aber auch materiell verstärken. Hier wünsche
ich mehr gegenseitige Absprachen und Prioritätenset-
zung innerhalb der Europäischen Union.

Um nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum voran-
zubringen, bedarf es – wie bereits in der Mitteilung der
EU-Kommission vom 10. November zum EU-Afrika-
Gipfel angekündigt – verschiedener Initiativen. Aus-
drücklich begrüßen wir den Vorschlag einer echten Ko-
härenz in der Entwicklungspolitik. Dabei geht es um
bessere Rahmenbedingungen zur Finanzierung von In-
vestitionen der europäischen Privatwirtschaft, aber
auch um die Unterstützung von Kleinkrediten zum Auf-
bau kleiner Unternehmen – zum Beispiel durch Mikrofi-
nanzkredite. Damit konnten bereits zahlreiche Arbeits-
plätze geschaffen werden. Dieses Instrument aus-
zubauen und dabei gleichzeitig Ausbildung und Qualifi-
zierung zu unterstützen, wird zu erheblichem regionalem
Wachstum beitragen.

Ich erwarte von der Bundesregierung, dass sie kon-
struktiv die Erweiterung und Vertiefung der Beziehun-
gen der Europäischen Union mit den afrikanischen
Staaten unterstützt. Allerdings – und das sage ich ganz
ehrlich – habe ich da so meine berechtigten Zweifel. Seit
zwölf Monaten beschränkt sich die deutsche Entwick-
lungspolitik auf die Umsteuerung von multilateraler Zu-
sammenarbeit auf bilaterale Projekte und erschwert



gegebene Reden

Karin Roth (Esslingen)



(A) (C)



(D)(B)

damit die Koordinierung, besonders in den afrikani-
schen Staaten. Der schwarz-gelbe Koalitionsvertrag
führt insofern eher in die Irre, anstatt mit der Europäi-
schen Union eine entwicklungspolitische Kohärenz her-
zustellen. Auch das ständige Erzählen über die Förde-
rung deutscher Wirtschaftsprojekte ist nicht glaub-
würdig, wenn gleichzeitig die ODA-Quote nicht erreicht
wird und sich Finanzversprechen auf internationalen
Gipfeln nicht im Haushalt der Bundesregierung wieder-
finden.

Die Kanzlerin hat beim G-8-Gipfel 2010 in Kanada
zur Bekämpfung der Kinder- und Müttersterblichkeit
400 Millionen Euro für die nächsten fünf Jahre – und
damit jährlich 80 Millionen Euro – versprochen. Im
Haushalt sind aber nur 22 Millionen Euro vorgesehen.
Die Kanzlerin ist damit wenig glaubwürdig. Das bleibt
auch in Tripolis kein Geheimnis.

Und es wird nicht besser. So hatte sich Deutschland
verpflichtet, die öffentliche Entwicklungshilfe – die so-
genannte ODA-Quote – im Jahr 2010 auf 0,51 Prozent
des Bruttoinlandsprodukts zu steigern. Davon sind wir
weit entfernt. Das Ziel, im Jahr 2015 auf 0,7 Prozent zu
kommen, wird diese Bundesregierung – wenn sie so wei-
ter macht – nie und nimmer erreichen.

Besonders ignorant verhält sich der zuständige
Minister für Entwicklungszusammenarbeit. Zulasten in-
ternationaler Zusagen wollte er nur bis 2011 den Globa-
len Fonds zur Bekämpfung von Aids/HIV, Tuberkulose
und Malaria mit 200 Millionen Euro unterstützen. Erst
auf Druck der SPD und der Nichtregierungsorganisatio-
nen wurde hier in letzter Sekunde zurückgerudert. Jetzt
gibt es wenigsten sogenannte Verpflichtungsermächti-
gungen in Höhe von 400 Millionen Euro für die Jahre
2012 und 2013. Bei diesem Fonds geht es um die Ret-
tung von Menschenleben. 67 Prozent der schätzungs-
weise 33,4 Millionen mit dem HI-Virus infizierten Men-
schen leben in den Ländern Subsahara-Afrikas. Wer
also wirtschaftliche Entwicklung will, muss auch dafür
sorgen, dass die Menschen gesund werden und bleiben.

1,5 Milliarden Menschen in 80 Ländern in der Euro-
päischen Union und Afrika haben ein Recht darauf, dass
die europäisch-afrikanische Partnerschaft auf einer ver-
lässlichen Grundlage vertieft wird. Die SPD-Bundes-
tagsfraktion erwartet deshalb, dass sich die Bundesre-
gierung für folgende Prioritäten einsetzt. Erstens. Die
Afrikanische Union, ihre Vertretung in allen internatio-
nalen Gremien, sowohl im UN-Sicherheitsrat und in den
G 20, als auch das Panafrikanische Parlament sind zu
stärken und zu unterstützen. Zweitens. Die Millenniums-
entwicklungsziele sind in Afrika bis 2015 durch beson-
dere Initiativen zu erreichen. Drittens. Bei Wirtschafts-
und Handelsabkommen zwischen der EU und Afrika ist
sicherzustellen, dass die von der Internationen Arbeits-
organisation (ILO) vorgegebenen Sozialstandards – die
sogenannten ILO-Kernarbeitsnormen – verbindlich fest-
geschrieben werden. Das Allgemeine Präferenzsystem
ist daraufhin zu überprüfen und anzupassen. Das gilt in
gleichem Maße auch für ökologische Mindeststandards.
Zu unterstützen ist zudem eine gemeinwohlorientierte
Regulierung zur Nutzung von Ressourcen. Sie verhindert
Zu Protokoll
Ausbeutung und fördert Nachhaltigkeit von wirtschaftli-
chem Wachstum. Viertens. Die handelsverzerrenden
Subventionen vor allem im Agrarbereich sind zu beseiti-
gen. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen gehen
den Entwicklungsländern aufgrund unfairer Handelsbe-
ziehungen jährlich rund 700 Milliarden Dollar verloren.
Das ist etwa das Sechsfache der gesamten Entwick-
lungsmittel.

Fünftens. Die EU muss mit den afrikanischen Part-
nern eine wirksame Strategie zur Bekämpfung der Kor-
ruption und Einhaltung der Menschenrechte verabreden
und umsetzen. Sechstens. Die Gleichberechtigung von
Frauen, die Förderung von Frauenrechten und die Be-
rücksichtigung der besonderen Belange von Frauen,
zum Beispiel im Bereich der sexuellen und reproduktiven
Gesundheit, muss in einem konkreten Gender-Aktions-
plan umgesetzt werden. Siebtens. Von dem EU-Afrika-
Gipfel muss ein ganz klares Signal zur Bekämpfung des
Klimawandels und der Umweltzerstörung – für den zeit-
gleich beginnenden UN-Klimagipfel in Cancun – ausge-
hen. Die SPD-Bundestagsfraktion unterstützt deshalb
die Festlegung auf eine gemeinsame Position in einer
separaten Gipfel-Erklärung.

Wir alle wollen, dass europäische und deutsche Poli-
tik größtmögliche Wirkung bei der Bekämpfung der Ar-
mut in der Welt erzielt. Nehmen Sie sich deshalb vor al-
lem die Mahnung der EU-Kommission zu Herzen:

In Europa sind es die konkurrierenden nationalen
Interessen, die unkoordinierten bilateralen Initiati-
ven und die fehlende Koordinierung der Instru-
mente, welche die Sichtbarkeit und Zugkraft der
Politik untergraben.

Das schreibe ich der Bundesregierung ins Stamm-
buch.


Joachim Günther (FDP):
Rede ID: ID1707129000

Der rund eintägige EU-Afrika-Gipfel vom 29. bis

30. November 2010 in Tripolis ist nach Kairo im Jahr
2000 und Lissabon 2007 der dritte Gipfel, der den
Staats- und Regierungschefs beider Kontinente eine
Möglichkeit zum Austausch bietet. Unter dem Titel „In-
vestition, Wachstum und Beschäftigung“ steht er im
Kontext der EU-Afrika-Strategie, die in Lissabon den
Grundstein für die strategische Partnerschaft zwischen
den beiden Kontinenten begründet hat. Angesichts der
Kürze dieses hochrangigen Gipfels, bei dem Deutsch-
land nach aktueller Planung am ersten Konferenztag
durch die Kanzlerin vertreten wird, geht es vor allem um
ein politisches Signal. Auch Deutschland möchte die
traditionell starken, auch historisch gewachsenen Bezie-
hungen zu Afrika zunehmend zu einem freundschaftli-
chen und strategischen Verhältnis auf Augenhöhe entwi-
ckeln. Die Partnerschaft soll über die klassischen EZ-
Beziehungen hinausgehen, auch zivilgesellschaftliche,
private Akteure sowie Parlamente einbeziehen und ein
Forum bieten, gemeinsame Positionen von Afrika und
EU zu globalen Fragen, Klima, MDGs etc. zu entwi-
ckeln. Wir hoffen, dass neben einem kurzen Gipfeldoku-
ment, Tripoli Declaration, auch der 2. Aktionsplan zur
Umsetzung der Afrika-EU-Strategie verabschiedet wer-



gegebene Reden

Joachim Günther (Plauen)



(A) (C)



(D)(B)

den kann. Hierbei hat sich die Bundesregierung im Rah-
men der EU dafür eingesetzt, sich im neuen Aktionsplan
auf eine pragmatische Umsetzung zu konzentrieren.

Die Umsetzung der strategischen Partnerschaft er-
folgt bisher über acht thematische Partnerschaften wie
der Partnerschaft zu Frieden und Sicherheit, zu demo-
kratischer Regierungsführung und Menschenrechten, zu
Handel und regionaler Integration, zu den Millenniums-
entwicklungszielen, zu Energie, zum Klimawandel wie
auch zu Migration, Mobilität und Beschäftigung. Eine
auf dem kommenden EU-Afrika-Gipfel angestrebte se-
parate Erklärung aller Partnerstaaten zum Klimawan-
del wäre ein deutliches Signal der Umsetzung des ge-
meinsamen Geistes von Tripolis.

Anlässlich des Rates der Außenminister im Format
der Handelsminister am 10. September 2010 fand eine
Orientierungsaussprache zum gegenwärtigen Stand der
Wirtschaftspartnerschaftsabkommen-Verhandlungen mit
den AKP-Staaten statt mit dem Ziel, einen gemeinsamen
neuen Ansatz für die weiteren WPA-Verhandlungen vorzu-
bereiten, die zuletzt ins Stocken geraten waren. Dabei
schätzte die Kommission unter Handelsminister De
Gucht und Entwicklungskommissar Piebalgs unter an-
derem die Aussichten für einen erfolgreichen Abschluss
der WPA-Verhandlungen für die afrikanischen Regionen
unterschiedlich ein. Während in der Ostafrikanischen
Gemeinschaft wohl noch eine größere Zahl von Nach-
verhandlungen nötig ist, könnte es in Westafrika – bei
entsprechendem politischen Willen – zügig zu einem um-
fassenden WPA – Abschluss kommen. Für die Region
Südliches Afrika wurde bislang ein subregionales Inte-
rimsabkommen abgeschlossen, das außer Namibia von
allen Staaten unterzeichnet wurde.

Die Bundesregierung und vor allem der Bundeswirt-
schaftsminister haben angekündigt, auf dem Gebiet der
Rohstoffpartnerschaften mit den Entwicklungsländern
einen entscheidenden Schritt voranzukommen. Dies ist
angesichts der Weltlage und vor allem der chinesischen
Entwicklungspolitik mit dem Aufkauf der Rohstoffvor-
kommen unumgänglich. Die Kooperation mit den Ent-
wicklungsländern soll nicht nur eine reibungslose Ver-
sorgung mit Metallen und Mineralien für unser Land
sichern, sondern auch in den Entwicklungsländern
durch Investitionen in die Infrastruktur und die Technik
eine spürbare Weiterentwicklung der Länder bringen.

Unter all diesen Betrachtungen und unter Berück-
sichtigung der gegenwärtigen Arbeit unserer Entwick-
lungshilfeorganisationen ist der vorliegende Antrag der
Linken ein Schritt in die Vergangenheit. Wer im Antrag
fordert, dass die Europäische Union und die Afrikani-
schen Staaten sich auf Augenhöhe begegnen müssen und
wenige Zeilen weiter erklärt, die Beziehungen der EU
und Deutschland zu Afrika dürfen nicht im Interesse der
deutschen und europäischen Wirtschaft sein, sondern
müssen die sozialen Herausforderungen Afrikas in den
Mittelpunkt stellen, der beschreitet einen Weg des Un-
gleichgewichtes. Dieser Weg wird nicht funktionieren.
Gleiches trifft auf die Forderungen der Linken über die
vernetzte Sicherheit in Afrika zu. Freies Handeln und
Seewege, die Sicherheit der Mitarbeiter in den zivilen
Zu Protokoll
Hilfsorganisationen sind ein wichtiger Garant für den
Aufbau einer Zivilgesellschaft und der gesamtwirt-
schaftlichen Entwicklung. Hierbei von vornherein eine
zivil-militärische Zusammenarbeit und die Ausbildung
von Sicherheitskräften auszuschließen, wäre das absolut
falsche Signal. Die Forderungen dieses Antrags sind aus
unserer Sicht realitätsfern und deshalb lehnen wir die-
sen ab.


Annette Groth (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707129100

Das dritte Gipfeltreffen der Europäischen Union mit

den afrikanischen Staaten am 29. und 30. November
2010 in Tripolis findet in einer Zeit statt, in der 17 afri-
kanische Länder den 50. Jahrestag ihre staatlichen Sou-
veränität feiern. In vielen dieser Staaten fällt die Bilanz
der letzten 50 Jahres sehr unterschiedlich aus. In allen
afrikanischen Staaten zeigt sich jedoch überdeutlich,
dass auch 50 Jahre nach der erlangten Souveränität die
kolonialen Dominanzverhältnisse fortbestehen. Dadurch
wird eine sozial und ökologisch nachhaltige wirtschaft-
liche Entwicklung in Afrika erschwert. In vielen Staaten
hat sich heute eine neue Machtelite herausgebildet, die
in enger Zusammenarbeit mit den westlichen Mächten
und Großkonzernen ihre jeweils eigenen Interessen ver-
folgen. Die Mehrzahl der Menschen und auch die Um-
welt bleiben dadurch auf der Strecke.

Auch mit der „Gemeinsamen EU-Afrika-Strategie“
setzt die EU ihre bisherige Politik der einseitigen Verfol-
gung von Wirtschaftsinteressen großer Konzerne massiv
fort. Es zeigt sich überdeutlich, dass bei den Verhand-
lungen über die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen
mit den AKP-Staaten nicht die Entwicklungsinteressen
dieser Staaten im Mittelpunkt der Verhandlungsstrategie
der EU stehen, sondern einseitig die weitgehende Libe-
ralisierung des Güterhandels und die Liberalisierung
der öffentlichen Beschaffungsmärkte zur Erschließung
von neuen Märkten. Es wird bewusst in Kauf genommen,
dass regionale Märkte zerstört und regionale Handels-
strukturen zugunsten der Profite der transnationalen
Konzerne zerschlagen werden.

Die Verhandlungen werden von der EU mit einem
massiven politischen und wirtschaftlichen Druck auf die
afrikanischen Staaten geführt. Offene Drohungen gegen
die AKP-Staaten und das Einfrieren bereits zugesagter
Finanzhilfen haben dazu geführt, dass die EU mit den
Staaten der Karibik bereits neue Wirtschaftspartner-
schaftsabkommen abschließen konnte. Die Linke hat
hier immer wieder deutlich gemacht, dass diese neolibe-
ralen Wirtschaftsabkommen ein schwerer Rückschlag
für die soziale und ökologische Entwicklung dieser Re-
gionen sind und der Entwicklung von regionaler ökono-
mischer und sozialer Integration erheblichen Schaden
zugefügt wird. Die Linke unterstützt den zunehmenden
Widerstand von Regierungen und sozialen Organisatio-
nen in den afrikanischen AKP-Staaten gegen diese Ab-
kommen. Die Entscheidung einiger Regierungen, auch
die Interimsabkommen nicht zu unterzeichnen, halten
wir für einen richtigen und wichtigen Schritt, um zu Ver-
handlungen auf gleicher Augenhöhe zurückzukehren.



gegebene Reden

Annette Groth


(A) (C)



(D)(B)

Mit den geplanten Rohstoffpartnerschaften versucht
die EU, Entwicklungshilfe an den Zugang der europäi-
schen Konzerne zu Rohstoffvorkommen zu koppeln. Da-
mit missbraucht die EU ihre wirtschaftliche Macht, um
die Staaten Afrikas zu erpressen. Mit dieser Politik wird
die Ausrichtung der Gemeinsamen Außen- und Sicher-
heitspolitik, die im Vertrag von Lissabon unter massiver
Mithilfe der Bundesregierung die Sicherung des Zugangs
zu Rohstoffen für die deutsche Wirtschaft als integralen
Teil der deutschen Außen- und Entwicklungspolitik for-
muliert hat, festgeschrieben. Eine solche Vermischung
von Wirtschaftsinteressen und Entwicklungspolitik ist
völlig inakzeptabel.

In Afrika leben 380 Millionen Menschen in absoluter
Armut, mehr als ein Drittel der Afrikanerinnen und Afri-
kaner ist unterernährt. Die Erreichung der Millenniums-
entwicklungsziele bis 2015 ist äußerst zweifelhaft.
Durch die imperiale Rohstoffstrategie der EU werden
die Interessen dieser Menschen ignoriert und für die
wirtschaftlichen Interessen der Konzerne geopfert.

Die Linke hat immer wieder deutlich aufgezeigt, dass
die Kooperations- und Partnerschaftsabkommen mit
Ländern wie Libyen völlig inakzeptabel sind. Sie dienen
einzig und alleine dazu, die Festung Europas weiter aus-
zubauen. Diese Abkommen sind Teil einer inhumanen
Flüchtlingspolitik der EU, die mit Menschenrechten und
Humanität nicht zu vereinbaren sind. Libyen hat weder
die Genfer Flüchtlingskonvention noch den Koopera-
tionsvertrag mit dem Büro des Hohen Flüchtlingskom-
missariats der UN unterzeichnet. Gleichzeitig hat Li-
byen das UNHCR-Büro in Tripolis geschlossen. Mit
ihrer hochtechnisierten Grenzkontrolle und dem Einsatz
von FRONTEX werden hilfesuchende Menschen von der
EU nach Libyen abgedrängt. Dort werden sie in kata-
strophale soziale und humanitäre Situationen abgescho-
ben. Mehrfach wurden Fälle bekannt, in denen Migran-
tinnen und Migranten Vergewaltigung und Gewalt
ausgesetzt waren. Viele von ihnen werden von den liby-
schen Sicherheitskräften ohne Essen und Wasser mitten
in der Wüste ausgesetzt. Statt Fluchtursachen zu beseiti-
gen, bekämpft die EU die afrikanischen Flüchtlinge und
zwingt diese auf immer gefährlichere Migrationsrouten.
Damit ist die EU – und mit ihr alle Mitgliedstaaten der
EU – für den Tod von Migrantinnen und Migranten in
der Wüste und auf hoher See mitverantwortlich.

Die Linke fordert die Bundesregierung auf, ihre bis-
herige Politik, die Abwehr von Flüchtlingen als Teil der
Entwicklungszusammenarbeit durchzusetzen, sofort zu
beenden. Wir verlangen von der Bundesregierung, dass
sie nicht die Flüchtlinge bekämpft, sondern sich endlich
um die Beseitigung der wirtschaftlichen, ökologischen
und sozialen Ursachen der Migration kümmert. Die Be-
ziehungen zwischen der EU und Afrika müssen zuguns-
ten einer wirklichen Partnerschaft verändert werden.
Der EU-Afrika-Gipfel steht hierfür jedoch unter völlig
falschen politischen Vorzeichen durch die EU. Die Linke
wird sich deshalb auch in Zukunft dafür einsetzen, dass
sich die Staaten Afrikas gegen diese Bevormundung
durch die EU zur Wehr setzen können. Wir wollen eine
wirkliche Entwicklungspartnerschaft zwischen Afrika
und der EU erreichen.
Zu Protokoll
Kerstin Müller (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Am 29. November findet zum dritten Mal der EU-
Afrika-Gipfel statt. Mit keiner anderen Großregion
pflegt die EU derart umfassende Beziehungen auf
Grundlage einer gemeinsam beschlossenen Strategie.
Mit kaum einer anderen Region gibt es aber auch derart
enge historische Bande. Als ich kürzlich im Rahmen der
Delegationsreise des Unterausschusses Zivile Krisen-
prävention den Kommissionspräsidenten der Afrikani-
schen Union, Jean Ping, in Addis Abeba traf, sagte er
sehr deutlich: „Europa ist für uns so nah, China mit sei-
nen unterschiedlichen Wertvorstellungen so fern.“

Das sollte uns anspornen. Gerade jetzt im „Afrikani-
schen Jahr“, in dem Afrika die Unabhängigkeit von
17 Staaten vor 50 Jahren feiert, müssen wir endlich das
alte Denken vom schwarzen Kontinent über Bord werfen
und die Chance nutzen, die Beziehungen zu normalisie-
ren und den Aufbau einer ehrlichen Partnerschaft vo-
ranzutreiben. Denn das war die Idee, als vor zehn Jah-
ren die Staats- und Regierungschefs in Kairo das erste
Mal zusammenkamen.

Dass der Gipfel, wie vor drei Jahren geplant, stattfin-
det, zeigt, dass zumindest der gegenseitige Respekt in
den letzten Jahren gewachsen ist. Hatte früher noch der
Streit um Mugabe den Prozess sieben Jahre lang ge-
lähmt, ist heute die „Causa Baschir“, trotz allem Dis-
sens über den Haftbefehl des IStGH, kein Grund mehr,
den Gipfel platzen zu lassen.

Aber wir dürfen uns nicht mit einer oberflächlichen
Normalisierung zufriedengeben. Gerade der Dissens
über den Haftbefehl gegen Baschir wie generell auch die
Frage des Kampfes gegen die Straflosigkeit dürfen jetzt
nicht von einer windelweichen Gipfelerklärung über-
tüncht werden, wie es gerade passiert. Für mich ist klar:
Baschir gehört nach Den Haag vor den IStGH. Für mich
ist aber auch klar: Wir müssen in Zukunft im Dialog viel
aktiver für den IStGH werben und gemeinsam Wege fin-
den, um ihn mit dem AU-Menschenrechtsgerichtshof, den
regionalen und nationalen Justizsystemen sowie den afri-
kanischen Versöhnungstraditionen sinnvoll zu verbinden.
Das ist für mich ein entscheidender Punkt, neben der
Stärkung demokratischer Institutionen, dem Umgang mit
Konfliktrohstoffen und gerechten Wirtschaftspartner-
schaftsabkommen, um weiteren Krisen vorzubeugen und
ein nachhaltiges Peacebuilding voranzubringen.

All dies setzt aber voraus, dass wir auch mehr Tief-
gang in der Partnerschaft „Frieden und Sicherheit“ hin-
bekommen. Denn ohne das kann es kein Peacebuilding
geben. Auch deshalb hat die AU für das Jahr 2010 selbst
die Losung herausgegeben: „Make Peace Happen“.

Doch ausgerechnet hier gibt es eine gefährliche
Schieflage. Das musste ich kürzlich im Hauptquartier
der Afrikanischen Union selbst erfahren. Während mili-
tärische Teile der Afrikanischen Eingreiftruppe bis Ende
des Jahres einsatzfähig sein werden, ist der Aufbau zivi-
ler Fähigkeiten kaum vorangekommen. Auch Gender-
Fragen entlang der Sicherheitsratsresolutionen 1325
oder 1820 spielen keine Rolle. Die EU und ihre Mit-
gliedstaaten stützen viel zu einseitig das militärische
Standbein der AU-Sicherheitsarchitektur. UNO-Einsätze



gegebene Reden





Kerstin Müller (Köln)



(A) (C)



(D)(B)

wie im Kongo müssten uns doch lange klar gemacht ha-
ben, wie wichtig fähige Polizistinnen und Polizisten,
Justiz- und Verwaltungsfachleute, Wahlbeobachterinnen
und -beobachter oder Konfliktmediatorinnen und -me-
diatoren für Friedensprozesse sind, um letztlich auch
den rechtsfreien Raum für die schrecklichen Vergewalti-
gungen zu schließen.

Das ständige Ownership-Credo bleibt nichts als eine
hohle Phrase, wenn wir einerseits selbst nicht bereit
sind, mehr Zivilpersonal in Missionen zu schicken, an-
dererseits aber auch die nötige Unterstützung bei der
Ausbildung versagen. Das laufende Polizeiprogramm
der GTZ in Addis Abeba oder die deutsche Polizeiaus-
bildung im Kofi-Annan-Peacekeeping-Center in Accra
sind dabei im Ansatz zwar richtig und wichtig. Doch
bleiben diese Ansätze ohne einen Ausbau und eine ge-
zielte Kooperation mit den übrigen EU-Staaten nur ein
Tropfen auf den heißen Stein.

Die AU braucht dringend mehr Unterstützung beim
Aufbau eines zivilen Personalpools für Friedensmissio-
nen und für das Peacebuilding, der auch den Bedürfnis-
sen der Frauen gerecht wird. Wir sollten daran denken,
dass wir dabei auf die hervorragende Expertise des ZIF
zurückgreifen können, vorausgesetzt, wir stellen dafür
auch die erforderlichen Mittel zur Verfügung.

Meine Damen und Herren von der Linkspartei, dass
Sie jetzt in Ihrem Antrag auch noch polizeiliche Frie-
densmissionen verdammen, kann ich überhaupt nicht
nachvollziehen. Was glauben Sie eigentlich, wo die Poli-
zisten, wie sie vom Kofi-Annan-Peacekeeping-Center
ausgebildet werden, nach ihrem UNO- oder AU-Einsatz
für Sicherheit und Ordnung sorgen? Genau, in ihren
Herkunftsländern. Das habe ich im Fall von Sierra
Leone selbst gesehen. Die leidgeprüften Menschen dort
sind froh über ihre hervorragend ausgebildeten Polizis-
tinnen und Polizisten, wenn sie nach ihrem Darfur-Ein-
satz nach Sierra Leone zurückkommen.

Wir sollten den kommenden Gipfel für ein ehrliches
Resümee der Zusammenarbeit von EU und AU nutzen
und die notwendigen Weichen stellen, damit wir vom
oberflächlichen Respekt füreinander zu einer ehrlichen
Partnerschaft mit Tiefgang gelangen.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1707129200

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/3672 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Auch damit sind
Sie einverstanden. Die Überweisung ist so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 26 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Rege-
lung von De-Mail-Diensten und zur Änderung
weiterer Vorschriften

– Drucksache 17/3630 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss

Clemens Binninger (CDU):
Rede ID: ID1707129300

Die Kommunikation über das Internet ist aus dem

Alltag der Menschen nicht mehr wegzudenken. Deutlich
mehr als zwei Drittel aller Haushalte in Deutschland
haben inzwischen einen Internetzugang. Die Mehrzahl
der Bürgerinnen und Bürger nimmt gerne die Angebote
an, die das Netz bietet. Die elektronische Kommunika-
tion ist besonders beliebt, weil sie schnell und günstig
ist. Alle Beteiligten profitieren von den Vorteilen, die sie
mit sich bringt, gleichermaßen. Dies gilt für Bürgerin-
nen und Bürger, Unternehmen und Behörden.

Allerdings werden die technischen Möglichkeiten des
Internets noch nicht in dem Maße genutzt, wie sich das
viele Bürgerinnen und Bürger wünschen. Staatliche
Ämter und Behörden versenden anstatt E-Mails meist
Papierpost. Auch für Unternehmen wie Banken und Ver-
sicherungen ist der klassische Brief häufig erste Wahl.
Dies hat gute Gründe: Konventionelle E-Mails sind
etwa so sicher wie Postkarten. Sie können mitgelesen,
manipuliert oder komplett gefälscht werden.

Technische Verfahren, E-Mails zu verschlüsseln und zu
signieren, gibt es schon fast so lange, wie es die E-Mail
selbst gibt. Bürgerinnen und Bürger können sich bei-
spielsweise auf der Homepage des Deutschen Bundesta-
ges Schlüssel herunterladen, um Abgeordneten ver-
schlüsselte E-Mails zu senden. Doch seien wir ehrlich,
verehrte Kolleginnen und Kollegen, kaum ein Bürger
nutzt diese Möglichkeit. Wir erhalten als Abgeordnete
von Bürgerinnen und Bürgern fast täglich E-Mails mit
vertraulichen Inhalten, die weder verschlüsselt noch si-
gniert sind.

Dies zeigt uns zweierlei: erstens, dass viele Bürgerin-
nen und Bürger elektronisch kommunizieren möchten,
sei es mit staatlichen Institutionen oder mit Unterneh-
men. Zu diesem Ergebnis kam auch das De-Mail-Pilot-
projekt in Friedrichshafen. Es zeigt uns aber zum Zwei-
ten auch, dass bestehende Möglichkeiten für die sichere
elektronische Kommunikation nicht genutzt werden.
Aufgabe des Deutschen Bundestages ist es daher, gesetz-
liche Rahmenbedingungen für eine sichere elektronische
Kommunikation zu schaffen, die einfach und nutzer-
freundlich ist. Genau das tun wir mit dem De-Mail-Ge-
setz.

Das De-Mail-Gesetz setzt einen Wettbewerbsrahmen
für Unternehmen, die ihren Kunden sichere elektroni-
sche Kommunikation anbieten wollen. Jedes Unter-
nehmen, das staatlich definierten und überprüften
Standards genügt, kann sich als De-Mail-Anbieter ak-
kreditieren lassen. Das Bundesamt für Sicherheit in der
Informationstechnik hat dazu technische Richtlinien er-
arbeitet. Ähnlich wie die Straßenverkehrszulassungs-
ordnung Sicherheitsstandards für den Straßenverkehr
setzt, wollen wir so auch für die elektronische Kommuni-
kation verbindliche Rahmenbedingungen schaffen. In-
nerhalb dieses Wettbewerbsrahmens sind dann private
Unternehmen gefordert, selbst Geschäftsmodelle und
Produkte zu entwickeln.

Staatlich definierte und überprüfte Standards sind für
die Bürgerinnen und Bürger unter mehreren Gesichts-
punkten vorteilhaft: Wenn sich alle Anbieter an die sel-

Clemens Binninger


(A) (C)



(D)(B)

ben technischen Standards halten, ist für Interoperabili-
tät gesorgt. Ein De-Mail-Kunde der Deutschen Telekom
kann mit Kunden von United Internet oder der Deut-
schen Post sicher kommunizieren. Die Deutsche Post
hat ja bereits angekündigt, ihren E-Postbrief als De-
Mail-konform akkreditieren zu lassen. Bürgerinnen und
Bürger erkennen außerdem sofort, dass ihr Anbieter hohen
Sicherheitsstandards genügt, wenn er das De-Mail-Sie-
gel erhalten hat.

Ein Grund für die geringe Verbreitung von bestehen-
den Verschlüsslungslösungen ist, dass sich die große
Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger mit der Installa-
tion und Bedienung von Verschlüsslungsprogrammen
wie PGP oder GnuPG nicht beschäftigen möchte oder
kann. Den meisten dürften schon die Begriffe schlicht-
weg unbekannt sein. Die De-Mail-Standards sind des-
halb so konzipiert, dass in einer Basisvariante keine
zusätzlichen Verschlüsslungsprogramme auf den Com-
putern der Anwender notwendig sind. Die Verschlüss-
lung der De-Mails übernimmt der De-Mail-Anbieter.
De-Mail bietet also sichere Kommunikation für jeder-
mann, was ein weiterer Vorteil ist.

Denjenigen, die noch mehr Sicherheit wünschen,
müssen die De-Mail-Anbieter eine Premiumvariante mit
erhöhter Sicherheit zur Verfügung stellen. Das De-Mail-
Gesetz verpflichtet die Anbieter dazu, auf Wunsch die
noch sicherere Ende-zu-Ende-Verschlüsslung von Nach-
richten zu ermöglichen. Jedem, der noch mehr Sicher-
heit möchte, empfehle ich, diese Premiumvariante zu
nutzen. Dafür sind dann allerdings auf dem eigenen
Computer Vorkehrungen zu treffen. De-Mail hat zum
Ziel, der Ende-zu-Ende-Verschlüsslung zum Durchbruch
zu verhelfen. Dabei setzen wir aber nicht auf Zwang,
sondern auf die Einsicht der Nutzer und fördern die frei-
willige Anwendung der Ende-zu-Ende-Verschlüsslung.

De-Mail bietet noch einen weiteren wichtigen Vorteil,
der rechtlicher Natur ist: Wenn es zu Rechtsstreitigkei-
ten kommt, wird einer konventionellen E-Mail in der Re-
gel überhaupt kein Beweiswert zugemessen. Doch auch
bei der klassischen Papierpost kann es zu Unklarheiten
kommen, wenn ein Empfänger glaubhaft macht, dass er
ein Schreiben nicht erhalten hat. Selbst bei Dokumenten,
die per Einschreiben verschickt werden, kann ein Emp-
fänger den Zugang bestreiten, indem er behauptet, auf-
grund eines Büroversehens nur einen leeren Umschlag
erhalten zu haben. Sowohl im Vergleich zur Papierpost
als auch mit der konventionellen E-Mail hat De-Mail
hier einen großen Vorteil: De-Mail bietet eine beweissi-
chere Eingangsbestätigung, die nicht nur den Eingang
einer Nachricht nachweist, sondern über Prüfsummen
auch deren Inhalt. Per De-Mail können Dokumente also
rechtsverbindlich und nachweisbar verschickt werden.

Während im geschäftlichen Bereich eine einfache
Eingangsbestätigung genügt, ist für die förmliche Zu-
stellung im hoheitlichen Bereich eine Abholbestätigung
notwendig. Diese hohe Hürde haben wir ganz bewusst
für die Zustellung von Amts wegen gesetzt. In diesem Zu-
sammenhang möchte ich das Wort auch an die Adresse
der Grünen richten. Sie, Herr Kollege von Notz, behaup-
ten, eine De-Mail gelte nach drei Tagen als rechtskräftig
Zu Protokoll
zugestellt, wenn sie nur den Server einer Behörde ver-
lasse. Hätten sie den Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung aufmerksam gelesen, wüssten auch Sie, dass zum
Nachweis der elektronischen Zustellung einer Behör-
den-De-Mail eine Abholbestätigung notwendig ist. Eine
solche Abholbestätigung generiert der De-Mail-Anbie-
ter des Empfängers jedoch erst, nachdem sich der Emp-
fänger an sein De-Mail-Konto angemeldet hat, wenn er
also sieht, dass er Post von einer Behörde in seinem
Posteingang hat.

Trotzdem gilt für die Nutzerinnen und Nutzer, dass sie
ihr De-Mail-Postfach regelmäßig überprüfen sollten. Es
wird faktisch die selbe Bedeutung erlangen wie der
Briefkasten am Haus, der ja schon aus eigenem Inte-
resse regelmäßig gelehrt wird, um keine Fristen zu ver-
säumen. Im Gegensatz zum konventionellen Briefkasten
kann man sein De-Mail-Postfach allerdings von jedem
Computer mit Internetzugang aus abrufen, also auch bei
Geschäftsreisen oder im Urlaub.

Werte Kolleginnen und Kollegen, mit der De-Mail
wollen wir auf dem Weg zu einer digitalen Raumordnung
ein Stück weiter vorankommen. Wir schaffen die rechtli-
chen Voraussetzungen, dass zukünftig weniger Briefe
ausgedruckt werden müssen, sondern elektronisch ver-
sandt werden können. Viele Bürgerinnen und Bürger
wünschen sich diese Ausweitung elektronischer Kommu-
nikation. Doch nur wenn elektronische Kommunika-
tionsdienste hohen Standards hinsichtlich Sicherheit
und Datenschutz genügen, finden sie das Vertrauen der
Bürgerinnen und Bürger. Nur wenn krimineller Miss-
brauch ausgeschlossen ist, sind Unternehmen und Be-
hörden dazu bereit, den Bürgerinnen und Bürgern ihre
Dienste auch elektronisch anzubieten. Diesen hohen An-
sprüchen genügt De-Mail.

De-Mail ist ein wichtiger Baustein beim Aufbau einer
digitalen Raumordnung. De-Mail ergänzt und erweitert
bestehende Bausteine wie den elektronischen Personal-
ausweis und die qualifizierte elektronische Signatur
sinnvoll. E-Government und E-Business werden davon
profitieren. Wir stärken so den IT-Standort Deutschland
und bauen unsere Vorreiterrolle aus, die wir durch die
Einführung des elektronischen Personalausweises ge-
wonnen haben.


Gerold Reichenbach (SPD):
Rede ID: ID1707129400

Mit dem eingebrachten Gesetz zur Regelung von

De-Mail-Diensten soll im Massenkommunikationsmit-
tel E-Mail ein sicherer, und zwar auch rechtssicherer
Dienst und der vertrauliche Transport von Dokumenten
ermöglicht werden. Dies ist im Grundsatz zu begrüßen.

Frau Kollegin Piltz hat noch im Februar 2009 das
De-Mail-Projekt als „neues Mammutprojekt ohne kon-
kreten Mehrwert“ der damaligen schwarz-roten Bundes-
regierung bezeichnet. Und nachdem es dann bereits die
schwarz-gelbe Bundesregierung Ende 2009 gab – die
Betonung liegt auf „gelb“ – hat der Bundestag auf Be-
treiben der FDP sogar noch eine Haushaltssperre für
das Projekt De-Mail in den Haushaltsplan 2010 des
Bundesinnenministeriums eingetragen, die die „Ausga-



gegebene Reden

Gerold Reichenbach


(A) (C)



(D)(B)

ben zum Zwecke der Verwirklichung des Projekts De-
Mail“ untersagt.

Vor diesem Hintergrund ist es schon seltsam, dass
jetzt schnell ein entsprechendes Gesetz durch das
schwarz-gelbe Kabinett in den Bundestag eingebracht
wird und man sogar davon spricht, dass das ganze in
diesem Jahr noch über die Bühne gehen soll. Mal ganz
davon abgesehen, ob der Gesetzentwurf entsprechend
ausgereift ist oder nicht. Das Mammutprojekt hat sich
also nun die FDP zu eigen gemacht, nachdem sie auf der
Regierungswolke schwebt? Haben Sie denn, sehr ge-
ehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, nun des-
sen Mehrwert erkannt?!

Ich kann Sie deshalb nur auffordern, sehr geehrte
Mitglieder der Koalition: Machen Sie es bitte richtig!
Lassen Sie das Parlament keine halbgaren Sachen bera-
ten und verabschieden, deren Nachbesserung dann wie-
der mehr Zeit braucht, als das ursprüngliche Gesetz an
Zeitaufwand gekostet hat.

Bei dem von der Bundesregierung im Bundestag zur
Beratung eingebrachten Entwurf sehen wir noch erheb-
lichen Beratungs- und Nachbesserungsbedarf, insbe-
sondere mit Blick auf Transparenz, Vertrauenswürdig-
keit, Sicherheit und Nutzerrechte.

Für uns stehen im Vordergrund eines solchen Geset-
zes und des Projektes, einen sicheren Kommunikations-
weg und ein sicheres Kommunikationsmittel für den
Rechtsverkehr zu schaffen, der Schutz der Verbrauche-
rinnen und Verbraucher als Nutzer und nicht zuvorderst
die Einsparungs- und Vermarktungsinteressen von Wirt-
schaftszweigen.

Nur, wenn die Verbraucher dieses – ich sage einmal
„neuartige“ – Kommunikationsmittel auch annehmen
und nutzen, kann das De-Mail-Projekt ein Erfolg werden
und eine Erleichterung für Behörden und Bürgerinnen
und Bürger gleichermaßen mit sich bringen. Fragen Sie
sich doch mal: Wie würden Sie als Verbraucher gerne
eine De-Mail ausgestaltet und gesichert sehen? Unab-
hängig von einem technikneutral formulierten Gesetz
müssen dem Nutzer die technischen Voraussetzungen
klar sein. Doch dies ist nach dem vorliegenden Gesetz-
entwurf nicht der Fall.

Überzeugen müssen Sie – sehr geehrte Kolleginnen
und Kollegen von den Regierungsfraktionen – die Ver-
braucherinnen und Verbraucher auch beim Stichwort
Akkreditierung. Zeigen Sie transparent auf, wie die Ak-
kreditierung für die Unternehmen vonstatten geht, die
diese Dienste anbieten dürfen. Und verstecken Sie dies
nicht hinter schwammigen Formulierungen, die der ein-
fache Bürger nicht nachvollziehen kann.

Nach den Datenschutzskandalen und den Überwa-
chungsaffären der Vergangenheit sind zumindest Zweifel
erlaubt, ob das Fernmeldegeheimnis von den Dienstean-
bietern beachtet wird. Wie wir ja alle wissen, sind große
Datenmengen sehr verlockend, weil man sie verkaufen
und damit Geld verdienen kann. Darum fordern wir So-
zialdemokraten, dass der Verbraucher- sowie der Da-
tenschutz stärker in den Vordergrund gerückt werden.
Zu Protokoll
Aufgabe eines De-Mail-Gesetzes muss es sein, klare
und eindeutige Regelungen zur Sicherung solch großer
Datenbanken zu treffen. Dies gilt sowohl für die Voraus-
setzung von staatlichen Eingriffen als auch für den
Schutz vor kriminellen Übergriffen. Die jüngsten Erfah-
rungen mit dem elektronischen Personalausweis sind da
nicht gerade ermutigend.

Es gibt weiteren Klärungsbedarf: etwa bei der Frage
der Rechtsicherheit. So soll die De-Mail mit dem Ein-
gang im Postfach des Empfängers entsprechend dem im
Entwurf geänderten Verwaltungszustellungsgesetz drei
Tage nach Absendung als zugestellt gelten. Was aber ist,
wenn der Empfänger nicht aufgrund von eigenem, son-
dern aufgrund von Fremdverschulden längere Zeit nicht
über den üblichen Zugang zu seinem De-Mail-Postfach
verfügen kann?

Bei einem Bekannten von mir war es erst kürzlich fast
anderthalb Wochen nicht möglich, den ausgefallenen In-
ternetzugang wiederherzustellen, weil Netzanbieter,
Diensteanbieter und Systembetreuer jeweils die Verant-
wortung für den Ausfall bei dem anderen verorteten. Ein
– wie mir berichtet wurde – nicht ganz seltenes Problem.

Liegen dann das Verschulden und die Beweislast al-
lein beim Empfänger? Das Problem lässt sich sehr
schön im Vergleich zur derzeitigen Zustellung durch Be-
hörden deutlich machen. Wenn die Behörde per Post mit
Einschreiben zustellt, dann liegt die Nachweispflicht
hinsichtlich der Zustellung nach dem Verwaltungszustel-
lungsgesetz bei der Behörde. Bei einem Verwaltungsakt
– der ja dann auch per De-Mail zugestellt werden
könnte – hat ebenfalls die Behörde im Zweifel die Be-
weislast. Der Eingang im Postfach kann dann zwar
nachgewiesen werden, wenn aber im Falle von De-Mail
ein E-Mail-Zugang eben aus technischen oder sonstigen
Gründen nicht möglich ist und die Mail nicht abgerufen
werden kann, soll das dann das alleinige Problem des
Empfängers sein?

Auch aus diesem Grunde sollte sich der Gesetzgeber
viel eher die Frage stellen, ob die Zustellungsfiktion, die
aus den guten alten Zeiten der zuverlässigen Beamten-
post stammt, überhaupt noch den Realitäten im heutigen
Zustellungsbetrieb entspricht, statt sie ungeprüft und mit
der Beweislast für den Empfänger auf den neuen Dienst
zu übertragen.

Auch bei den Voraussetzungen für die staatlichen
Eingriffsmöglichkeiten besteht noch erheblicher Erörte-
rungsbedarf. Verfassungsschutz, Polizei, Strafverfol-
gungsbehörden, BND oder MAD können unter sehr
niedrigen Voraussetzungen auf die Postfächer zugreifen,
da Kennung und Passwörter auf Anordnung herauszu-
geben sind. Hierfür bedarf es nach dem TKG keiner
richterlichen Anordnung. Ich habe erhebliche Zweifel,
ob die Eingriffsschwelle für den Grundrechtseingriff so
niedrig angesetzt werden kann bei einem Dienst, der
auch den alten vertrauensvollen Postverkehr, der dem
Post-/Briefgeheimnis unterliegt, ersetzen soll.

Hier müssen die Hürden für Grundrechtseingriffe
entsprechend hoch sein. Dies gilt ganz besonders auch
im Hinblick darauf, dass der De-Mail-Dienst durch



gegebene Reden

Gerold Reichenbach


(A) (C)



(D)(B)

neueste Telekommunikationstechnik gleichzeitig eine
Schnittstelle auch zum Fernmeldegeheimnis hat. Eine
Herausgabe der Erkennungs- und Zugangsdaten, die
dann einer Verletzung des Post-/Briefgeheimnisses Tür
und Tor öffnen dürfte, kann nicht im Sinne des Gesetzge-
bers sein – unabhängig davon, dass dies auch daten-
schutzrechtlich bedenklich wäre.

Zwei weitere Aspekte möchte ich noch ansprechen:

Um den Datentransfer bei De-Mail für kriminelle
Machenschaften nicht angreifbar zu machen, ist es
wichtig, dass für die von der Bundesregierung verspro-
chene sichere, datengeschützte und vertrauenswürdige
Kommunikation gesetzlich verbindlich festgelegt wird,
dass eine derartige Garantie nur durch eine durchge-
hend starke Ende-zu-Ende-Verschlüsselung erreicht
werden kann.

Aus Gründen der Erkennbarkeit und des Verbrau-
cherschutzes muss im Rahmen des Gesetzgebungsver-
fahrens noch einmal die Frage einer einheitlichen Kenn-
zeichnung der Adressen durch alle Diensteanbieter auf
den Prüfstand. Dies hätte für den Nutzer den Vorteil der
einfachen Erkennbarkeit gegenüber einer unverschlüs-
selten E-Mail. Gleichfalls sollte im Sinne der Verbrau-
cherfreundlichkeit eine Portierbarkeit der Mail-Adres-
sen zwischen den Diensteanbietern geklärt werden.
Denn wer will ständig – nur weil er den Anbieter wech-
selt – seine De-Mail-Adresse ändern? Dies ist mit Tele-
fonnummern möglich, so muss es doch auch mit E-Mail-
Adressen möglich sein.

Alles in allem bleibt festzuhalten, dass die SPD-Bun-
destagsfraktion grundsätzlich aufgeschlossen gegen-
über einer verbraucherfreundlichen, vertrauenswürdi-
gen, sicheren sowie staatlich gestützten E-Mail-
Kommunikation ist. Doch die gesetzlichen Regelungen
müssen klar strukturiert, technikneutral und verbrau-
cherfreundlich sein sowie höchsten Datenschutzstan-
dards genügen.

Sehr geehrte Damen und Herren Kolleginnen und
Kollegen der Regierungsfraktionen, bitte begehen Sie
also nicht den „Dauerfehler“ Ihrer Koalition, nur weil
man sich einmal mehr wieder uneins war, ein mit heißer
Nadel ausgearbeitetes Gesetz zu verabschieden, und
lassen Sie uns die aufgeworfenen Fragen im Gesetzge-
bungsverfahren gewissenhaft angehen. Unsere Bereit-
schaft dazu haben Sie.


Manuel Höferlin (FDP):
Rede ID: ID1707129500

Der Koalitionsvertrag sieht eine weitere Förderung

des E-Governments vor. Wir haben uns vorgenommen,
Voraussetzungen für eine sichere Kommunikation zwi-
schen Bürgerinnen und Bürgern, Unternehmen und der
Verwaltung zu schaffen.

Das De-Mail-Gesetz ist nun ein weiterer Baustein zur
Umsetzung dieser Aufgabe. Was regelt De-Mail? Wofür
brauchen wir dieses Gesetz?

Ich möchte Sie kurz in Ihre eigenen Arbeitszimmer
entführen. Wie viele Aktenordner, gut gefüllt mit Behör-
denbescheiden, gerichtlichen Unterlagen, Versiche-
Zu Protokoll
rungsscheinen und Verträgen, stehen in Ihren Schrän-
ken? Und wie oft wiederholt sich das Prozedere:
Bescheid erhalten, Antwort oder Widerspruch am Com-
puter verfassen, ausdrucken, unterschreiben, Brief-
marke aufkleben und zur Post bringen, Schriftwechsel
abheften, bei Ihnen im Jahr?

Allein die staatliche Verwaltung versendet im Jahr
circa 1,3 Milliarden Briefe, von denen ungefähr ein
Viertel genauso gut auf elektronischem Weg befördert
werden könnten. Das sind Briefe, die bei Ihnen im
Schrank stehen und Sie als Steuerzahler einen zweistel-
ligen Millionenbetrag kosten. Bisher war und ist auf-
grund fehlender Rechtssicherheit von einer elektroni-
schen Kommunikation zwischen Bürgern, Behörden und
Unternehmen weitgehend abgesehen worden. Auch ist
das Vertrauen in die E-Mail nicht sehr groß: Man kann
nie ganz sicher sein, ob der Absender auch derjenige ist,
für den man ihn hält. Auch lässt sich die Zustellung ei-
ner E-Mail nur schwer nachweisen, was juristische Kon-
sequenzen haben kann. Nicht zuletzt ist die Vertraulich-
keit der E-Mail nicht immer gewährleistet.

Das De-Mail-Gesetz schafft nun den rechtlichen Rah-
men für einen vertrauenswürdigen Mailverkehr. Es re-
gelt Anforderungen, die ein Provider erfüllen muss, um
sichere E-Mails versenden und Dokumente auf einem
Nutzerkonto speichern zu können.

Ich will Ihnen die wichtigsten Regelungen kurz vor-
stellen:

Erstens. Vor der Kontoeröffnung muss der Provider,
also der Dienstleister, der De-Mail anbietet, die Identi-
tät der Nutzer zweifelsfrei feststellen. Er muss auch fort-
laufend für die Richtigkeit dieser Angaben sorgen.

Zweites. Der Provider muss für eine sichere Anmel-
dung und für eine verschlüsselte Verbindung zwischen
dem Nutzer und dessen Konto sorgen.

Drittens. Der Provider muss eine rechtssichere Zu-
stellung, die der Prozessordnung und der Verwaltungs-
zustellungsgesetze genügen, gewährleisten. Darüber hi-
naus muss der Provider auf Anfrage den Eingang einer
Nachricht in das Postfach des Empfängers und ihre Ab-
holung bestätigen.

Viertens. Wenn der Nutzer das wünscht, kann der Pro-
vider ihm auch eine Dokumentenablage zur Verfügung
stellen.

Fünftens. Um als De-Mail-Provider zertifiziert zu
werden, müssen Voraussetzungen gegeben sein, wie die
Erfüllung der datenschutzrechtlichen, technischen und
organisatorischen Anforderungen sowie eine ausrei-
chende Deckungsvorsorge im Schadensfall. Das Bun-
desamt für Sicherheit in der Informationstechnik wird
die Zertifizierung durchführen und die Einhaltung der
Kriterien überwachen.

Der Bürger kann sich sicher sein, mit wem er kommu-
niziert, da dessen Identität vorher festgestellt worden ist.
Darüber hinaus bieten das De-Mail-Gesetz in Verbin-
dung mit dem Signaturgesetz eine sichere Ende-zu-
Ende-Verschlüsselung und damit eine vertrauliche Kom-
munikation. Behörden können wie bei der Postzustel-



gegebene Reden

Manuel Höferlin


(A) (C)



(D)(B)

lungsurkunde nachweisen, wann ein Dokument zuge-
gangen ist und auf diese Weise Fristen genau berechnen.

Nicht zu vernachlässigen sind die Einsparungspoten-
ziale für alle Beteiligten. Damit meine ich nicht nur Zeit
und Aufwand für Bearbeitung und den Gang zum Brief-
kasten für den Bürger, sondern auch ganz konkrete Sum-
men: Das Bundesinnenministerium rechnet mit Einspa-
rungen in den ersten fünf Jahren nach der Einführung
von De-Mail von bis zu 40 Millionen Euro jährlich.

Aus liberaler Sicht ist das De-Mail-Gesetz ein Schritt
in die richtige Richtung: mehr Vertraulichkeit, mehr Da-
tenschutz und Unabhängigkeit von aufwändiger Büro-
kratie. Dabei regulieren wir aber nur das, was wirklich
regulierungswürdig ist, um dem Markt die Ausgestal-
tung des Angebots zu überlassen. Darüber hinaus trägt
De-Mail zu Einsparungen auf kommunaler, Länder- und
Bundesverwaltungsebene bei – auch ein von uns gesetz-
tes Ziel.

Dennoch werden wir an vorliegendem Entwurf der
Bundesregierung noch etwas arbeiten: Zum einen setzen
wir Liberale uns für wirtschaftlichen Wettbewerb ein
und achten insbesondere auf die kleinen und mittelstän-
dischen Unternehmen. Die Hürden für eine Zertifizie-
rung sollen zwar sicherheitstechnisch hoch sein, den-
noch müssen sie auch für kleine Unternehmen mit
geringerem Investitionsvolumen zu nehmen sein. Zum
anderen darf die staatliche Zertifizierung nicht den
freien Markt, den freien Wettbewerb behindern oder gar
verzerren. Vielmehr soll die Zertifizierung den Nutzern
Sicherheit geben sowie den rechtlichen Rahmen zur
freien Ausgestaltung des De-Mail-Dienstes durch die
Provider setzen.

Auf unser Betreiben hin wird nun auch Licht ins Di-
ckicht der Einzelfallregelungen der Schriftformerforder-
nis gebracht. Niemand kann bisher sicher sein, ob und
wann er ein Schriftstück tatsächlich unterschreiben und
als Papierpost versenden muss. Deshalb haben wir uns
im Zuge des De-Mail-Gesetzes dafür eingesetzt, hie-
rüber Klarheit zu schaffen. Unser Ziel ist Transparenz
und eine Kommunikation aller Beteiligten auf Augen-
höhe, sodass der überwiegende Teil des Briefverkehrs
durch De-Mail elektronisch abgedeckt werden kann –
ohne analoges Ausdrucken, Unterschreiben und an-
schließendes In-den-Briefkasten-Werfen. Insgesamt ha-
ben wir aus der Perspektive des Verbraucherschutzes
streng darauf geachtet, dass der Bürger und Nutzer von
De-Mail keine rechtlichen Nachteile gegenüber dem
herkömmlichen System der Papierpost hat. Wir wollen
weg von der Generation Aktenordner hin zur freien digi-
talen Gesellschaft.


Jan Korte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707129600

Wir beschäftigen uns heute mit einem Gesetz, dessen

Nutzen für Bürgerinnen und Bürger zweifelhaft ist, ob-
wohl es unter dem Label der Sicherheit im E-Mail-Ver-
kehr verkauft wird. Der Gesetzentwurf zur Regelung von
De-Mail-Diensten geht an den Ansprüchen der realen
wie der virtuellen Welt vorbei und ist nicht nur überflüs-
sig, sondern auch bürgerrechtlich bedenklich.
Zu Protokoll
Schauen wir uns einmal an, was im Antragstext als
Ziel des Gesetzes angegeben ist. Es soll die Vorteile der
E-Mail mit Sicherheit und Datenschutz verbinden und
dafür sorgen, „die Funktionsfähigkeit und Akzeptanz
der elektronischen Kommunikation trotz steigender In-
ternetkriminalität und wachsender Datenschutzpro-
bleme zu erhalten und auszubauen“. Ich möchte gerne
einmal wissen, wer in diesem Raum hier davon ausgeht,
dass die elektronische Kommunikation derart gefährdet
sei, dass man sie erhalten müsse. Es müsste mir jemand
einmal erklären, ob es einen Grund gibt, Yahoo, Face-
book, Google und Co. nun praktisch in eine Rote Liste
aufzunehmen. Das Internet und die Kommunikations-
möglichkeiten, die es bietet, erfreuen sich im Gegenteil
einer stetig steigenden Beliebtheit, und das ist wohl der
eigentliche Grund für diesen Gesetzentwurf: Der Staat
und die Wirtschaft haben ein Interesse daran, offizielle
Vorgänge, seien es behördliche oder wirtschaftliche,
über das Internet abzuwickeln und dadurch Kosten zu
sparen, Profite zu maximieren und Kontrollmechanis-
men auszubauen.

Auch eine sichere Identifizierung der Kommunika-
tionspartner ist ein Ziel des Gesetzentwurfes. Diese Ziel-
setzung geht meines Erachtens an der Realität im In-
ternet völlig vorbei. Im Internet funktioniert die
Kommunikation per E-Mail, ebenso der Austausch in
Foren und in sozialen Netzwerken bislang auch ohne
eine solche sichere Identifikation. Das ist den Nutzerin-
nen und Nutzern nicht nur bekannt, gerade die durch die
Verwendung von Synonymen mögliche Wahrung der ei-
genen Privatsphäre ist ein wesentliches Qualitätsmerk-
mal für die Kommunikation im Netz. Bei geschäftlichen
Vorgängen haben Nutzerinnen und Nutzer die Möglich-
keit, unabhängig von in E-Mail-Adressen verwendeten
Synonymen ihre Klarnamen und Adressen anzugeben
und ihre wahre Identität nur denjenigen mitzuteilen, die
sie benötigen. Die Umsätze der bekannten Onlineshop-
pingportale zeigen, dass dieses Prinzip funktioniert.

In der eingangs zitierten Zielsetzung werden die zu-
nehmende Internetkriminalität und Datenschutzpro-
bleme benannt. Auch darauf möchte ich eingehen. Na-
türlich steigt mit der Nutzung eines Mediums wie des
Internets auch die missbräuchliche Nutzung. Wie bei je-
der schnellen gesellschaftlichen oder technischen Ent-
wicklung hinkt der Staat mit seinen Kontrollmechanis-
men nicht nur hinterher, es ist noch absurder: Der Staat
selbst fördert mit seinen nicht ausgereiften Großprojekten
den Markt für unsichere Techniken, wie zum Beispiel
beim elektronischen Personalausweis. Gut eine Woche
auf dem Markt, ist die „AusweisApp“, das Programm, mit
dessen Hilfe sich Nutzerinnen und Nutzer des E-Perso im
Netz identifizieren sollen, schon manipuliert worden.
Genau genommen hat es sogar weniger als 24 Stunden
gedauert, um die laut Bundesinnenminister de Maizière
angeblich sicherste elektronische Identitätskarte, die es
auf dem Markt gibt, zu überwinden. Das bezieht sich auf
ein Projekt, das ebenfalls ausdrücklich der Sicherheit im
Netz dienen sollte und nunmehr einem Feldversuch unter
Realbedingungen gleicht. Genauso wie beim E-Perso
droht bei der De-Mail der Identitätsdiebstahl, wenn Nut-
zerinnen und Nutzer keine sichere Rechnerumgebung



gegebene Reden

Jan Korte


(A) (C)



(D)(B)

herstellen können oder ihr Passwort nicht genügend
sichern. Ein unsicheres Medium ist die herkömmliche
E-Mail auch, kann man jetzt einwenden. Das Problem
bei De-Mail ist nun aber, dass damit für die Bürgerinnen
und Bürger rechtsverbindliche Verträge abgeschlossen
werden können und sie bei missbräuchlicher Nutzung ih-
res Accounts beweisen müssen, dass sie es nicht waren.
Die Schadenshaftung wird komplett auf den Nutzer ab-
gewälzt.

Auch zum Datenschutz trägt De-Mail nicht viel bei.
Im Gegensatz zum Verfahren mit elektronischer Signatur
verlangt der Gesetzentwurf keine Verschlüsselung von
Absender bis zum Empfänger. De-Mail gleicht daher, so
hat es der IT-Experte der Bundesrechtsanwaltskammer,
Thomas Lapp, ausgedrückt, einem Brief, der bis zu zwei-
mal unterwegs geöffnet und in ein neues Kuvert gesteckt
wird. Dass das Bundesinnenministerium darauf ver-
weist, dass die Anbieter, die dies machen, überprüft wür-
den, ist angesichts der selbstgenerierten Sicherheits-
lücken beim E-Perso ein schwacher Trost und kann nicht
darüber hinwegtäuschen, dass zum Beispiel das Bank-
geheimnis im De-Mail-Verkehr nicht gewahrt bleibt. Die
technisch bedingte Ver- und Entschlüsselung der De-
Mails beim Provider ist aus datenschutzrechtlicher Sicht
fragwürdig und mit dem Signaturgesetz nicht in Ein-
klang zu bringen. Darauf wird von Experten seit Mona-
ten hingewiesen, und genauso lange ignoriert die Bun-
desregierung diese Einwände.

So viel zu den nicht erfüllbaren Verheißungen, die die
Bundesregierung in ihrem Gesetzentwurf macht. Was sie
hingegen alles nicht macht, habe ich gerade schon be-
schrieben, und da kommt ein wichtiger Punkt hinzu: Sie
schreibt Anbietern im Internet, die De-Mails akzeptie-
ren, nicht vor, auch herkömmliche Mails im Geschäfts-
verkehr zuzulassen. Die offiziell verkündete Freiwillig-
keit der Verwendung von De-Mail ist dann hinfällig,
wenn es Nachteile mit sich bringt, sie nicht zu nutzen,
beispielsweise beim Abschluss von günstigeren Online-
tarifen. Wenn aus dem Extra ein Standard wird, wovon
die Berechnungen der Bundesregierung im Antrag ja
ausgehen, bedeutet dies nicht nur eine einseitige Belas-
tung von Bürgerinnen und Bürgern, sondern eine Kom-
merzialisierung der Kommunikation im Netz.

Damit kommen wir zu den Kosten und Nutzen des
Projekts. Die Bundesregierung verspricht sich von der
Einführung der De-Mail Einsparungen für Wirtschaft,
Verwaltung und Verbraucher in Millionenhöhe, ohne sa-
gen zu können, wie hoch die Kosten für die Anpassung
von Verfahren sind. Auch wie viel eine De-Mail kosten
wird, kann sie nicht beziffern. Sie traut sich aber immer-
hin, in einer beispiellosen Konkretheit zu sagen, es wäre
„nicht auszuschließen, dass der Preis pro De-Mail-
Nachricht unter den heute üblichen Portokosten liegt“.
Wenn man sich also über die Kosten gar nicht so sicher
ist, so klingt das für mich jedenfalls, sollte man sich we-
nigstens beim Nutzen sicher sein. Der liegt allerdings
komplett auf der Seite von Anbietern und Behörden.

Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf soll es er-
möglicht werden, zum Beispiel Rechnungen, behördliche
Schreiben oder amtliche Bescheide rechtsverbindlich
Zu Protokoll
per Mail zuzustellen. Mit dem Zeitpunkt des nachge-
wiesenen Empfangs beginnt also die Frist zur Bezah-
lung einer Rechnung oder die Frist, gegen einen Be-
scheid Einspruch einzulegen, allerdings ohne dass die
Empfängerin oder der Empfänger überhaupt von der
Mail Kenntnis genommen haben muss. Bei den Massen
an E-Mails, die einen am Tag erreichen, kann es im
schlimmsten Fall sein, dass man seinen Posteingang
aufräumt und vor der Haustür schon die Abrissbagger
stehen. Der Deutsche Notarverein kritisiert zu Recht,
dass das angestrebte De-Mail-Verfahren das Risiko
birgt, dass der Rechtsschutz von Bürgerinnen und Bür-
gern gegen die Wirtschaft und die Verwaltung beschnit-
ten wird.

Die Bundesregierung bewirbt die De-Mail als kom-
fortable Alternative zum Brief. Komfortabel wird es al-
lerdings auch für die Sicherheitsbehörden: Nach § 113
des Telekommunikationsgesetzes können sie sich bei An-
bietern nun auch persönliche Daten aus offiziellem Ge-
schäftsverkehr, der Bankkommunikation oder aus be-
hördlichen Schreiben einsehen, also Daten, die sie sonst
nur in einer Hausdurchsuchung nach richterlichem Be-
schluss gewinnen können. Der hier vorliegende Gesetz-
entwurf schafft dadurch ganz neue Möglichkeiten für
Geheimdienste und Sicherheitsbehörden, wieder einmal
mit den Stimmen der FDP. Das sollte uns oder die Bür-
gerinnen und Bürger nicht mehr wundern.

Die schwarz-gelbe Koalition macht dort weiter, wo
die letzte aufgehört hat. Identitätssicherung heißt auch
bei ihr eine umfassende Personalisierung, Registrierung
und Kontrolle. Sie unterstellt mit ihrem Gesetzentwurf,
dass nicht identifizierbare Internetuser pauschal etwas
auf dem Kerbholz haben, weil sie ihre Identität im Netz
nicht preisgeben und ihre Privatsphäre schützen wollen.
Die Linke versteht unter Identitätssicherung auch die
Sicherung individueller Freiheit, Freizügigkeit und Pri-
vatsphäre bei gleichzeitigem Schutz vor Identitätsdieb-
stahl und Datensammlungen, ob vonseiten der Wirt-
schaft oder des Staates.

Wir sollen hier ein Gesetz beschließen, das Bürgerin-
nen und Bürgern nicht nur nichts bringt, sondern sie
auch massiv in ihren Rechten beschneidet. Das ist mit
der Linken nicht zu machen; deshalb lehnen wir den Ge-
setzentwurf ab.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Bei dem uns vorliegenden Entwurf eines De-Mail-
Dienste-Gesetzes handelt es sich um eine in entschei-
denden Teilen unveränderte Neuauflage des in der ver-
gangenen Legislaturperiode dem Diskontinuitätsprinzip
zum Opfer gefallenen Bürgerportalgesetzes. Schon da-
mals hagelte es Kritik von allen Seiten. Nicht anders ist
es jetzt dem De-Mail-Gesetz ergangen, auf dessen Män-
gel unter anderem die Verbraucherzentrale Bundesver-
band, der Deutsche Anwaltverein und der AK Vorrat
aufmerksam gemacht haben. Ich möchte Ihnen im Fol-
genden erläutern, warum es kein Zufall sein dürfte,
warum der zunächst ja vielversprechende, weil die Bür-
gerinnnen und Bürger als mögliche Nutznießer einbezie-



gegebene Reden

Dr. Konstantin von Notz


(A) (C)



(D)(B)

hende Begriff Bürgerportalgesetz ebenfalls die letzte
Wahlperiode nicht überlebt hat. Denn es dürfte mittler-
weile zu deutlich geworden sein, dass der erwartete
Mehrwert von De-Mail gerade nicht bei den Bürgerin-
nen und Bürgern liegen wird.

Vorweg möchte ich betonen, dass wir Grüne das ge-
setzgeberische Ziel der Ermöglichung sicherer, vertrau-
enswürdiger und rechtssicherer E-Mail-Kommunikation
ausdrücklich unterstützen. Es liegt nahe, die durch die
enorme gesellschaftliche Verbreitung der E-Mail-Kom-
munikation sich bietenden Potenziale nutzen zu wollen,
und es liegt auf der Hand, dass es sich hierbei in erster
Linie um Rationalisierungspotenziale, sei es für die
Wirtschaft, für die Verwaltung, aber potenziell auch für
die Verbraucherinnen und Verbraucher, handelt. Diese
können jedoch nur Wirkung entfalten, wenn die typi-
schen Merkmale heutigen E-Mail-Verkehrs, insbeson-
dere die Unsicherheit über den tatsächlichen Kommu-
nikationspartner und die Möglichkeit des Mitlesens der
E-Mail-Inhalte während des Transports durch das Inter-
net, tatsächlich beseitigt werden. Erst damit wird der ge-
genseitige elektronische Geschäftsverkehr per E-Mail
abgesichert. Zwar ist es zutreffend, dass bereits einzelne
Insellösungen geschaffen wurden, insbesondere im Be-
reich innerbetrieblicher Kommunikation, um dieses Ziel
zu erreichen. Es ist ebenfalls zutreffend, dass einzelne
Anbieter vom Ansatz her Dienste anbieten, die bereits in
die Richtung von De-Mail laufen. Ebenso zutreffend
aber ist es, dass für diese Angebote bislang keine grö-
ßere Akzeptanz entstanden ist. Dies könnte sich dann än-
dern, wenn die großen bundesdeutschen Webmail-An-
bieter, wie von der Bundesregierung erhofft, mit ihrer
Marktmacht die Nutzung zertifizierter De-Mail-Dienste
zum Standard werden lassen. Zwar verfügt die Deutsche
Post AG mit ihrem sogenannten E-Postbrief seit Mitte
dieses Jahres über ein auf dem Markt bereits verfügba-
res Angebot, welches aus Sicht des Unternehmens alle
zentralen Anforderungen des De-Mail-Projektes bereits
erfüllt. Nahezu 1 Million Kunden soll davon bereits Ge-
brauch machen. Gleichwohl ist derzeit noch ungewiss,
ob der mit diesem Projekt beabsichtigte Sprung ins
21. Jahrhundert tatsächlich gelingen wird.

Die Akzeptanz von De-Mail-Diensten ist nicht allein
durch schiere Marktabdeckung zu erreichen. Entschei-
dend wird vielmehr sein, ob die Angebote das Vertrauen
der Bürgerinnen und Bürger gewinnen. Vertrauen ba-
siert auf klaren Anzeichen dafür, dass ein sicheres und
für alle Seiten faires und verlässliches Angebot geschaf-
fen wird. Wir Grüne sind allerdings der Auffassung, dass
das Projekt De-Mail den Bürgerinnen und Bürgern in
seiner gegenwärtigen Fassung diesen „fairen Deal“
verweigert und unter seinen Möglichkeiten bleibt.

Ich möchte jedoch zunächst nicht zögern, zu betonen,
dass mit De-Mail erhebliche Verbesserungen gegenüber
dem Bürgerportalgesetz der letzten Wahlperiode er-
reicht werden. Die verbesserte Sicherheit der Anmel-
dungsmodalitäten, die Klarstellung des Inhaltes der
Vertraulichkeitsverpflichtung für alle zertifizierten An-
bieter, die Verschlüsselungsmöglichkeit der Dokumenten-
ablage, die erweiterten Transparenzpflichten und auch
Zu Protokoll
die weitgehende Fassung der Vorgaben in einem Gesetz
anstelle einer Verordnung verdienen Anerkennung.

Im Kern aber werden besonders kritikwürdige Grund-
entscheidungen beibehalten:

Erstens. De-Mail schafft eine Kommunikationsinfra-
struktur, die zwar die Möglichkeit der Vertraulichkeit
der Kommunikation nach höchsten Standards offenhält,
aber nicht selbst voranbringt und gewährleistet. De-
Mail zielt zwar auf ein Mehr an Sicherheit, verweigert
diese aber an entscheidender Stelle, indem es die Ende-
zu-Ende-Verschlüsselung der Kommunikation zwischen
Sender und Empfänger nicht von Grund auf, gemäß den
Datenschutzprinzipien eines Privacy by Design, um-
setzt. Denn die ermöglichenden Webmail-Anbieter er-
halten auf ihren Servern den vollen Zugriff auf E-Mail-
Inhalte, um Schadprogramme herauszufiltern. Sie sind
dafür im Besitz der Schlüssel. Während dieses Zeitraums
sind die Inhalte potenziell dem Risiko des Zugriffs durch
unberechtigte Dritte ausgesetzt. Dieses Risiko ist trotz
BSI-Zertifizierung der Rechenzentren – man hat ja ge-
rade beim E-Perso und der AusweisApp gesehen, dass
auch diese nicht immer hilft – unserer Auffassung nach
nicht hinnehmbar. Angesichts der Tatsache, dass mit De-
Mail ja gerade auch so sensible Vorgänge wie Behör-
denkommunikationen oder der Austausch mit Kranken-
versicherungen zukünftig online stattfinden sollen, muss
man aber das Maximum an Datenschutz zum Standard
machen. Wir würden es auch nicht hinnehmen – und das
wäre auch rechtswidrig –, wenn ein postalischer Brief –
und sei es aus technischen Gründen – auf der Hälfte des
Weges geöffnet würde.

Zweitens. De-Mail verschiebt das bestehende verwal-
tungsverfahrensrechtliche und prozessuale Gleichge-
wicht zwischen Bürgern und öffentlichen Stellen respek-
tive Unternehmen einseitig zulasten der Bürgerinnen
und Bürger. Wer sich auf De-Mail einlässt, dem muss
klar sein, dass die Zeit des gelegentlichen Umgangs mit
dem Medium E-Mail endgültig vorbei ist. Denn die vor-
gesehenen gesetzlichen Veränderungen zwingen ihn
dazu, sich regelmäßig, beinahe täglich, in seinem De-
Mail-Postfach anzumelden und auch die technische
Infrastruktur stets funktionsfähig zu halten, um nicht
etwa Gefahr zu laufen, unanfechtbaren gerichtlichen
oder behördlichen Entscheidungen ausgesetzt zu sein.
Das Argument, die Teilnahme an dem Verfahren sei frei-
willig, läuft ins Leere: Wer als Bürgerin oder Bürger von
De-Mail profitieren will, darf keine Nachteile gegenüber
der bisherigen Post haben. Anders als beim heimischen
Briefkasten und der heimischen Wohnung ist die Leerung
des Briefkastens aber bei De-Mail nicht delegierbar,
weil der Zugang höchstpersönlich ausgestaltet ist. Im
Urlaub bleibt man damit praktisch gezwungen, regelmä-
ßig nachzuschauen, ob relevante Nachrichten eingegan-
gen sind. Erlauben Sie mir, darauf hinzuweisen, dass die
FDP-Fraktion in der Person von Frau Piltz ebenfalls
genau auf diesen Punkt bei der ersten Lesung des Bür-
gerportalgesetzes am 23. April 2009 hingewiesen hat,
während sie uns heute gemeinsam mit ihren Kollegen
der CDU/CSU-Fraktion dieses Gesetz schmackhaft ma-
chen will. So schnell ändern sich die Zeiten, Frau Piltz,
nicht wahr? Aber es kommt noch schlimmer: Sie sagten



gegebene Reden





Dr. Konstantin von Notz


(A) (C)



(D)(B)

damals wörtlich: „Mit De-Mail schafft sich der Staat im
Übrigen ein neues Anwendungsfeld für den E-Personal-
ausweis. Da dieser Voraussetzung zur Nutzung von De-
Mail sein wird, wird die Freiwilligkeit der Funktionen,
die nur in Verbindung mit der Speicherung biometri-
scher Daten vorhanden ist, zur Farce.“ Das ist ja nun
nicht ganz zutreffend, weil es auch andere Möglichkeiten
der Registrierung geben wird. Gleichwohl entbehrt es
nicht einiger Ironie, dass ausgerechnet Sie, liebe Frau
Piltz, als ausgewiesene Kritikerin des Pannen-App-Per-
sonalausweises, sich nun in tragender Rolle zu dessen
Durchsetzung wiederfinden.

Hat man sich einmal für De-Mail entschieden, gibt es
kein Wahlrecht mehr, das es in die Hände der Nutzerin-
nen und Nutzer legen würde, ob sie De-Mail als Mittel
für öffentliche Zustellungen zulassen wollen oder eben
nicht. Die Zustellungsfiktion des im Gesetzentwurf
modifizierten Verwaltungszustellungsgesetzes greift so-
mit unabhängig von Sonn- und Feiertagen drei Tage,
nachdem der Behördenserver die Nachricht verschickt
hat. Für die Betroffenen bedeutet das unter dem Strich
eine Verkürzung der ihnen eingeräumten Reaktionszeit
und das Problem, eine elektronische Nichtzustellung selbst
nachweisen zu müssen. Wie schwierig das für Nichtsys-
temadministratoren sein dürfte, können wir uns alle hier
lebhaft vorstellen.

Drittens. Eine Prognose der voraussichtlichen kon-
kreten Kosten für die Nutzung der einzelnen Angebote
von De-Mail wagt auch die Bundesregierung bislang
nicht – wahrscheinlich aus gutem Grund. Im Gegenteil:
Sie sieht sich gezwungen, diesen Punkt offenzulassen,
weil De-Mail grundsätzlich eben über private Betreiber
angeboten werden soll und wiederum deren Bereitschaft
zum Angebot von De-Mail-akkreditierten Diensten nicht
gestört werden soll. Der Preis aber ist höchst verbrau-
cherrelevant. Die Akzeptanz durch die Nutzerinnen und
Nutzer dürfte ganz wesentlich davon abhängen, welche
Kosten diese für die Inanspruchnahme eines Mediums
zu erwarten haben werden, das ihnen bislang als mehr
oder weniger kostenlos vorgekommen sein dürfte.

Nach alledem ist das vorgelegte De-Mail-Konzept
nach wie vor unzureichend und muss in dieser Form, so-
fern es nicht von Ihnen weiterentwickelt wird, von uns
leider abgelehnt werden.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1707129700

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/3630 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind
damit einverstanden, wie ich sehe. Dann ist auch diese
Überweisung beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 25 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Becker, Ulrich Kelber, Gerd Bollmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Biomethan im Verkehrssektor fördern

– Drucksache 17/3651 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss
Federführung strittig


Christian Hirte (CDU):
Rede ID: ID1707129800

Die Stromversorgung in Deutschland beruht auf einer

breiten Mischung von Energieträgern. Vor allem Kohle
und Kernenergie sichern die Versorgungssicherheit.
Auch Kohle und Kernkraft werden noch eine Weile zum
Strommix gehören, aber insgesamt wird die Stromver-
sorgung drastisch umgebaut. Der Anteil der erneuerba-
ren Energien macht derzeit etwa 16 Prozent vom Strom-
mix aus und soll weiter steigen, bis er im Jahr 2050 etwa
80 Prozent erreicht. Energie aus Sonne, Wind, Biomasse
– da ist sich diese Bundesregierung einig – wird unsere
zukünftige Energieversorgung bestimmen.

Die Hoffnungsträgerin Nummer eins, die Windkraft,
trägt unter den alternativen Energien mit 6,3 Prozent
schon heute am meisten zur Stromerzeugung bei. Trotz-
dem hält sie bislang noch nicht, was sie verspricht. Bis-
her blieb die Leistung der Offshore-Windanlagen hinter
den Erwartungen zurück, wohingegen die Windräder an
Land mehr Strom lieferten als angenommen. Doch selbst
wenn die Technologie ausgereift sein wird, bleibt der
Wind unzuverlässig. Tendenziell weht er in Nord-
deutschland häufiger, obwohl die Ballungszentren im
Süden und Westen am meisten Strom verbrauchen. Prak-
tikable Speicher für Windenergie existieren noch nicht,
ebensowenig die notwendige Netzinfrastruktur. Damit
ist sie momentan nicht grundlastfähig.

Den zweitgrößten Anteil unter den erneuerbaren
Energien hat derzeit die Biomasse mit 4,3 Prozent am
Stromverbrauch. Im Vergleich zur Windenergie hat Bio-
masse aber einen entscheidenden Vorteil. Sie ist bereits
gespeicherte Energie, die man nach Bedarf freisetzen
kann. Daher wird sie eine wichtige Rolle im Energiesys-
tem übernehmen. Dem trägt auch das von Ihnen, meine
Damen und Herren von der Opposition, so geschmähte
Energiekonzept unserer Koalition Rechnung.

So fasse ich den Antrag der SPD zur Förderung von
Biomassekraftstoffen gewissermaßen als nachträglichen
Ritterschlag für unser Energiekonzept auf. Denn dort
heißt es: Die Bioenergie soll als bedeutender erneuerba-
rer Energieträger in allen drei Nutzungspfaden
„Wärme“, „Strom“ und „Kraftstoffe“ weiter ausgebaut
werden. Hierbei wird die Bundesregierung ihren bereits
eingeschlagenen Weg der nachhaltigen Nutzung von
Biomasse für eine umweltfreundliche und sichere Ener-
gieversorgung konsequent fortsetzen. Dabei sind fol-
gende Elemente für eine nachhaltige Biomassenutzung
wesentlich: Erstens müssen die heimischen Bioenergie-
potenziale unter Vermeidung von Nutzungskonkurrenzen
durch verstärkte Verwendung organischer Rest- und Ab-
fallstoffe, landwirtschaftlicher Koppelprodukte, von
Landschaftspflegematerial und von Holz aus Kurzum-
triebsplantagen ausgeschöpft werden.

Zweitens kann eine Steigerung der Energie- und Flä-
cheneffizienz nur durch verbesserte Bewirtschaftungs-

Christian Hirte


(A) (C)



(D)(B)

formen, eine stärkere Biomasseverwertung in Kraft-
Wärme-Kopplungsanlagen sowie durch Verbesserung
der steuerbaren Stromproduktion aus Biomasse gewähr-
leistet werden. Dabei müssen auch die integrierten Bio-
massenutzungskonzepte weiterentwickelt werden. Drit-
tens kann eine stärkere Nutzung von Biomethan nur
durch Schaffung weiterer Einspeisemöglichkeiten ins
Erdgasnetz gefördert werden.

Nichts anderes steht sinngemäß im Antrag der SPD.
Ich hege daher für Ihr Anliegen eine gewisse Sympathie.
Aber während Sie noch Forderungen aufstellen, sind wir
mit dem Energiekonzept bereits an die Umsetzung ge-
gangen. Und falls Sie sich die Mühe machen wollen, ei-
nen Blick in den am 4. August dieses Jahres von der
Bundesregierung beschlossenen Nationalen Aktionsplan
für erneuerbare Energie zu werfen, so wäre Ihnen sicher
aufgefallen, dass dort bereits konkrete Maßnahmenpa-
kete zur Förderung von Biomethan beschrieben werden.

So steht unter Punkt 4.2.8. „Einspeisung von Biogas

(Art. 16 Abs. 7, 9 und 10 der Richtlinie 2009/28/EG)

gen für auf Erdgasqualität aufbereitetes Biogas (auch
Biomethan genannt) in das Erdgasnetz mit der Verord-
nung zur Förderung der Biogaseinspeisung in das beste-
hende Netz am 8. April 2008 geschaffen worden sind. Es
wurden unter anderem Änderungen der Gasnetzzu-
gangsverordnung, GasNZV, der Gasnetzentgeltverord-
nung, GasNEV, und der Anreizregulierungsverordnung,
ARegV, vorgenommen. Weiterhin wurde das Energie-
wirtschaftsgesetz, EnWG, entsprechend angepasst. Das
Erneuerbare-Energien-Gesetz, EEG, das Bundes-Im-
missionsschutzgesetz, BImSchG, und das Erneuerbare-
Energien-Wärmegesetz, EEWärmeG, sind bereits gute
Anreize, um die Nachfrage nach Biomethan zu stärken.
Daraus ergibt sich folgendes Gesamtbild: keine Be-

(aufbereitet auf Erdgasqualität)

gang von Biomethan, wenn technisch und wirtschaftlich
zumutbar, Gasnetzanschlusspflicht des Gasnetzbetrei-
bers, wenn technisch und wirtschaftlich zumutbar, und
ein Biogasbilanzausgleich von 12 Monaten mit 25 Pro-
zent Flexibilitätsrahmen. Dies stellt eine weitere Verein-
fachung des Transportes von aufbereitetem Biogas im
Erdgasnetz dar.

Sollten sich Probleme bei der praktischen Implemen-
tierung ergeben, werden diese durch die zuständigen
Ministerien geprüft und mit entsprechenden For-
schungsvorhaben begleitet. Am 19. Mai 2010 hat das
Bundeskabinett den vom BMWi vorgelegten Entwurf zur
Neufassung der Gasnetzzugangsverordnung vorgelegt.
Dieser Entwurf enthält Änderungsvorschläge betreffend
den Rechtsrahmen für die Biogaseinspeisung, mit denen
die Voraussetzungen für die Einspeisung von Biogas
verbessert und weiterentwickelt werden. Der Bundesrat
hat diesem Entwurf der Bundesregierung am 9. Juli
2010 zugestimmt.

Ich bin der Meinung, dass man den getroffenen Maß-
nahmen auch ein wenig Zeit lassen muss, um zu sehen,
ob und wie sie sich in de Praxis bewähren. Dies gilt vor
allem vor dem Hintergrund des für das nächste Jahr
Zu Protokoll
vorzulegenden Erfahrungsberichts zum Erneuerbare-
Energien-Wärmegesetz. Dessen Ergebnisse werden uns
sicher einen sichereren Standpunkt für das weitere Vor-
gehen liefern können.

Zur Frage von Biomethan als Kraftstoff: Mit der Bio-
kraftstoff-Nachhaltigkeitsverordnung (Biokraft-NachV)

wurden bereits Regelungen für eine nachhaltige Erzeu-
gung der zur Biogaserzeugung eingesetzten Biomasse
geschaffen, die ab dem 1. Januar 2011 für die Verwen-
dung von Biogas als Kraftstoff verpflichtend einzuhalten
sind und für deren Umsetzung bereits zwei Zertifizie-
rungssysteme und zwölf Zertifizierungsstellen vorläufig
anerkannt wurden. Die mittlerweile auf nationaler und
internationaler Ebene formulierten Ansätze zum Einsatz
von Erdgas und Biomethan als Kraftstoff unterstreichen,
dass diese Technologie zur Erreichung der Klimaschutz-
ziele auch langfristig relevant ist.

Als besonders schwierig erweist sich dabei aber die
große Anzahl unterschiedlicher Akteursgruppen. Her-
steller und Händler von Fahrzeugen, Forschungsinsti-
tute, Gaswirtschaft (inklusive Biomethanproduzenten),
Mineralölwirtschaft mit ihrem Tankstellennetz und letzt-
lich die Endkunden mit stark differenzierten Mobilitäts-
bedürfnissen machen die Implementierung von Biogas
im Verkehrssektor so schwierig. Nicht umsonst sind die
Ergebnisse der letzten Jahre nicht so, wie wir uns das
vorgestellt haben.

Von allen in Deutschland im Straßenverkehr zugelas-
senen 50 Millionen Fahrzeugen werden aktuell circa
85 000 mit Erdgas betrieben. Der Absatz von Erdgas als
Kraftstoff betrug im Jahr 2009 etwa 1,7 Milliarden Kilo-
wattstunden. Das entspricht einem Anteil von Erdgas am
Gesamtkraftstoffverbrauch von 0,3 Prozent. Zur
Abdeckung von 1 Prozent, wie ihn die Kraftstoffverwen-
dungsmatrix für 2010 anstrebt, ist der Absatz von circa
540 000 Tonnen bzw. 7 Milliarden Kilowattstunden Erd-
gas an den Tankstellen erforderlich. Für 4 Prozent in
2020 sind etwa 2,2 Millionen Tonnen bzw. 28 Milliarden
Kilowattstunden nötig. Ausgehend vom bestehenden
Fahrzeugmix müsste der Fahrzeugbestand zur Errei-
chung des 4-Prozent-Zieles in 2020 auf rund 1,4 Millio-
nen Fahrzeuge anwachsen, auf damit etwa 2,6 Prozent
des derzeitigen Fahrzeugbestands. Das wären etwa
1,1 Millionen Pkw, 250 000 leichte und circa 30 000
schwere Nutzfahrzeuge. Jährlich müssten dafür circa
29 Prozent des jeweiligen Vorjahresbestands der Erd-
gasneufahrzeuge neu zugelassen werden – fast eine Ver-
dreifachung der Wachstumsrate gegenüber 2009. Das
macht deutlich, vor welcher Herausforderung wir ste-
hen. So sehr ich das Interesse der SPD an diesem Thema
schätze, so sehr ist der Antrag bereits in seinem Ansatz
überflüssig. Er beschreibt ein Problem, welches die
Bundesregierung längst erkannt und zu lösen begonnen
hat.

Ich lade Sie aber gerne ein, mit uns in den nächsten
Jahren an konstruktiven Lösungen zu arbeiten.


Dirk Becker (SPD):
Rede ID: ID1707129900

Mit dem vorliegenden Antrag der SPD beschäftigt

sich dieses Haus erstmals mit einem Thema, an dem kein



gegebene Reden

Dirk Becker


(A) (C)



(D)(B)

Weg vorbei führt, wenn man sich mit der Frage beschäf-
tigt, wie der Individual- und Güterverkehr klimascho-
nender gestaltet werden kann. Fahrzeuge mit einem
Gasantrieb und einem hohen Anteil an Biomethan wei-
sen nicht nur hohe CO2-Einsparpotenziale auf, sie
schlagen auch die bislang zur Verfügung stehenden flüs-
sigen biogenen Kraftstoffe wie Bioethanol oder Biodie-
sel um Längen. Dies gilt sowohl für das CO2-Reduk-
tionspotenzial als auch für den Energieertrag. Wenn
also Biomethan verstärkt im Verkehrssektor eingesetzt
wird, leistet dies einen Beitrag zur Verringerung des
CO2-Ausstoßes. Gleichzeitig nutzen wir das wertvolle
Gut Biomasse, aus dem Biomethan, das heißt auf Erd-
gasqualität aufbereitetes Biogas, hergestellt wird, auf
hocheffiziente Art und Weise. Wie die Fachagentur
Nachwachsende Rohstoffe e. V. jüngst berechnet hat,
legt bei einem Einsatz von einem Hektar Ackerland ein
mit Bioethanol betriebener Pkw rund 22 000 Kilometern
zurück, wohingegen ein vergleichbarer, vollständig mit
Biomethan betankter Pkw auf eine Reichweite von rund
68 000 Kilometern kommt. Die wertvollen Ackerflächen
werden also geschont, wenn wir statt flüssiger Kraft-
stoffe vermehrt Biomethan verwenden. Zieht man da-
rüber hinaus vermehrt Reststoffe und Koppelprodukte in
Kaskadennutzung zur Produktion von Biomethan heran,
können die Landnutzungskonflikte noch weiter ent-
schärft werden.

Ein weiterer großer Vorteil liegt in der ausgereiften
und marktfähigen Technik gasbetriebener Fahrzeuge.
Diese Autos gibt es schon seit Jahren im Handel. Sie
sind zwar bislang noch etwas teurer als solche mit her-
kömmlichem Otto- oder Dieselmotor, aber die Anschaf-
fungskosten amortisieren sich durch die geringeren
Tankkosten bereits nach wenigen Jahre, wobei die
Amortisationsdauer von der Fahrleistung pro Jahr ab-
hängt.

Ein Umstieg auf Fahrzeuge mit Biomethanantrieb ist
kurzfristig möglich und kann zum Klimaschutz beitra-
gen. Diese Einsicht ist nicht neu – schon in dem von der
letzten Bundesregierung beschlossenen Integrierten
Energie- und Klimaprogramm, IEKP, wurde festgelegt,
dass man mit dem Ziel, den Treibhausgasausstoß zu re-
duzieren, unter anderem den Anteil von Biomethan im
Erdgasnetz erhöhen muss. In der Gasnetzzugangsver-
ordnung wurden daher Einspeiseziele festgeschrieben.
So sollten jährlich bis zum Jahr 2020 6 Milliarden Ku-
bikmeter und 10 Milliarden Kubikmeter jährlich bis
2030 an Biomethan in das Erdgasnetz eingespeist wer-
den. Bislang liegen die tatsächlichen Einspeisemengen
weit hinter den formulierten Zielen zurück: Ende 2009
fuhren nur rund 85 000 der insgesamt rund 50 Millionen
Fahrzeuge mit Erdgas und beigemischtem Biomethan.
Der Anteil des Erdgas-Biomethan-Mix am Kraftstoffver-
brauch liegt bei lediglich circa 0,3 Prozent. Theoretisch
könnten sämtliche Erdgasfahrzeuge bis 2020 mit reinem
Biomethan betrieben werden, bislang geht die Beimi-
schung von Biomethan an Erdgastankstellen jedoch nur
schleppend voran. Es gilt daher, Maßnahmen zu ergrei-
fen, um die Nachfrage nach Biomethan zu erhöhen.

Trotz der vielen Vorteile von Fahrzeugen, die mit ei-
nem Biomethan-Erdgas-Mix betrieben werden, ergreift
Zu Protokoll
die Bundesregierung bislang keinerlei Maßnahmen, um
Anreize für Automobilhersteller zu setzen, Gasfahrzeuge
verstärkt zu vermarkten beziehungsweise Bürgerinnen
und Bürger zu einem Umstieg auf ein mit Biomethan be-
triebenes Fahrzeug zu bewegen, um so die Einspeise-
menge von Biomethan zu erhöhen. Stattdessen setzen
Merkel, Ramsauer, Röttgen und Co. auf Elektromobili-
tät, ohne dass die Technik ausgereift oder die Infrastruk-
tur vorhanden wäre. Elektromobilität wird zukünftig mit
Sicherheit eine große Rolle spielen. Wichtig ist dabei,
dass Elektrofahrzeuge zu 100 Prozent mit Strom aus er-
neuerbaren Energien beladen werden, denn nur dann
leisten sie einen Beitrag für den Klimaschutz.

Wir können jedoch sofort etwas im Verkehrssektor für
das Klima tun. Die Bundesregierung muss, um Biome-
than im Verkehrssektor zu fördern, endlich bestimmte
Maßnahmen ergreifen und so Hindernisse eines Um-
stiegs auf Gasfahrzeuge abbauen.

Bitte gestatten Sie mir, die Maßnahmen, die im vorlie-
genden Antrag beschrieben werden, kurz zu erläutern.
Eine der meines Erachtens wichtigsten Forderungen be-
steht in der Umstellung bzw. Harmonisierung der
Preisauszeichnung sämtlicher Kraftstoffarten auf Kilo-
wattstunden. Momentan haben Verbraucher nicht die
Möglichkeit, den Preisvorteil von Erdgas bzw. Biome-
than an Tankstellen zu erkennen, da die Kraftstoffarten
unterschiedlichen Bemessungsgrundlagen unterliegen,
nämlich Litern und Kilogramm. Auch im Hinblick auf
die flächendeckende Einführung von Elektrofahrzeugen
führt kein Weg daran vorbei, alle Kraftstoffarten an
Tankstellen mit derselben Messgröße, anhand des Ener-
giegehalts, zu bepreisen. So können die Verbraucher die
Preise der unterschiedlichen Kraftstoffarten direkt mit-
einander vergleichen. Ich fordere die Bundesregierung
daher dazu auf, eine dementsprechende Novelle des
Eichgesetzes umzusetzen.

Zweitens entsteht, sollte die Bundesregierung nicht
frühzeitig gegensteuern, ab 2016 die widersinnige Situa-
tion, dass Biomethan mit dem vollen Energiesteuersatz
besteuert wird, wohingegen Erdgas bis 2018 von einem
erniedrigten Steuersatz profitiert. Biomethan beinahe
doppelt so hoch zu besteuern wie das klimaschädlichere
Erdgas, macht klimapolitisch keinen Sinn. Deshalb for-
dern wir die Bundesregierung dazu auf, Biomethan ab
2016 mit Erdgas steuerlich gleichzustellen und die
Steuerermäßigung bis 2020 zu verlängern. So wird den
höheren CO2-Reduktionspotenzialen von Biomethan
Rechnung getragen.

Außerdem wird derzeit das im Volksmund „Autogas“
genannte Flüssiggas de facto steuerlich besser gestellt
als Erdgas, obwohl Autogas eine schlechtere Gesamtbi-
lanz aufweist. Deshalb muss die Bundesregierung drit-
tens die zukünftige Besteuerung von Flüssiggas im Ener-
giesteuergesetz überprüfen.

Beim Energielabelling von Fahrzeugen ist es des Wei-
teren aus Klimaschutzgründen absolut notwendig, dass
nicht nur die Abgase, sondern der Treibhausgasausstoß
während des gesamten Produktions- und Lebenszyklus
des Fahrzeugs sowie des eingesetzten Kraftstoffs mit
eingerechnet wird. Außerdem ist im Biokraftstoffquoten-



gegebene Reden

Dirk Becker


(A) (C)



(D)(B)

gesetz festgelegt, dass Biomethan zur Erreichung der
Beimischungsquote angerechnet werden kann. Da Bio-
methan eine bessere Klimabilanz aufweist als andere
Biokraftstoffe, fordern wir die Bundesregierung fünftens
dazu auf, den Anrechnungsfaktor von Biomethan zur Er-
reichung der Quote zu verdoppeln, um so dazu anzure-
gen, vermehrt Biomethan hinzuzukaufen und so die Bei-
mischungsquote an Erdgastankstellen zu erhöhen.

Sechstens muss die Bundesregierung die ertragsteu-
erliche Berücksichtigung der Fahrzeugnutzung über-
denken. Die Besteuerung des privaten Nutzungsanteils
von Dienstwagen und der Betriebsausgabenabzug von
Firmenwagen sind stärker an ökologischen Gesichts-
punkten auszurichten.

Darüber hinaus muss die Bundesregierung siebtens
den spezifischen Belangen von Kraftstoffen wie Biome-
than mit besonders hohem Treibhausgasminderungs-
potenzial in der deutschen Umsetzung der EU-Richtlinie
2009/33/EG für die Beschaffung von sauberen Fahrzeu-
gen Rechnung tragen. So könnte zum Beispiel bei der
Umsetzung der EU-Richtlinie in deutsches Recht festge-
legt werden, dass die Gesamtbilanz von Biokraftstoffen,
und nicht etwa lediglich der Ausstoß am Fahrzeug, zur
Anrechnung herhalten muss.

Ein wesentlicher Grund dafür, dass der Absatz von
gasbetriebenen Fahrzeugen in Deutschland so schlep-
pend voran geht, liegt meiner Ansicht nach darin, dass
die Automobilhersteller gar keinen Anlass sehen, die kli-
maschonenden Fahrzeuge zu verkaufen. Warum sollten
sie auch? Hinter den herkömmlich betriebenen Autos
steht eine ganze Mineralölindustrie, die wiederum ihre
Interessen verfolgt. Deshalb ist es nötig, dass wir genau
dort, bei den Automobilherstellern und ihren Händlern,
gezielte Anreize setzen, um mit Biomethan betriebene
Fahrzeuge zu vermarkten. Ich fordere die Bundesregie-
rung achtens auf, die Gesamtbilanz der Fahrzeuge und
des verwendeten Kraftstoffs auf den Flottendurchschnitt
für CO2-Emissionen anzurechnen. So hätten Automobil-
hersteller einen Anreiz, vermehrt gasbetriebene Fahr-
zeuge zu produzieren, und somit auch einen Anreiz, ver-
mehrt solche Fahrzeuge zu verkaufen. Unser Ziel muss
es sein, die Beimischungsquote von Biomethan an Erd-
gastankstellen stetig anzuheben, um immer bessere
Treibhausgasreduktionswerte zu erzielen. Daher fordere
ich die Bundesregierung grundsätzlich dazu auf, zu prü-
fen, wie eine höhere Beimischung an Tankstellen über
die beschriebenen Forderungen hinaus erreicht werden
kann.

Zu guter Letzt werden auch umweltbewusste Verbrau-
cher nicht von einem herkömmlichen Auto auf ein gas-
betriebenes Fahrzeug umsteigen, solange sie nicht über
die Klimafreundlichkeit dieses Antriebstyps informiert
sind. Die Bundesregierung muss daher eine breite und
dauerhafte Informationskampagne über die Vorteile die-
ser Fahrzeugart starten, um ein Bewusstsein hierfür in
der Bevölkerung zu schaffen.

Es ist jetzt an der Zeit, zu handeln. Wenn wir jetzt
nicht gegensteuern, werden wir die Ziele, die sich die
letzte Bundesregierung im IEKP gesteckt hatte, nicht er-
Zu Protokoll
reichen. Wir können es uns nicht erlauben, mit dem Kli-
maschutz im Verkehrsbereich zu warten, bis Elektroau-
tos marktreif sind, allein schon, weil es kurzfristig
wirksame Alternativen zur Elektromobilität gibt. Ich
appelliere daher an Sie, den vorliegenden Antrag zu un-
terstützen.


Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1707130000

Die FDP-Fraktion teilt das Ziel des vorliegenden An-

trags der SPD: Biogas muss auch im Verkehr bessere
Rahmenbedingungen bekommen. Biomethan hat es noch
sehr schwer, sich als Energieträger auf dem Markt zu
etablieren. Dies ist umso bedauerlicher, als dass Bio-
methan eine ausgesprochen gute Klimabilanz aufweist,
auch im Vergleich zu anderen Biokraftstoffen.

Die Analyse des Antrags, den wir hier debattieren,
teile ich. Die Nutzung von Biogas im Verkehr ist eine
sinnvolle Anwendung. Erdgasfahrzeuge sind technolo-
gisch ausgereift. Die Beimischung von Biomethan, aber
auch der Betrieb mit 100 Prozent Biogas stellt für die
Motoren kein Problem dar. Deshalb birgt insbesondere
der Verkehr ein großes Potenzial für die Etablierung von
Biomethan auf dem Markt der Energieträger.

Bei der Gestaltung der Mobilität der Zukunft sollten
wir uns allerdings nicht auf einzelne Technologien fixie-
ren. Wir müssen die Nutzung von erneuerbaren Energien
im Verkehr und die Einführung alternativer Antriebs-
techniken technologieoffen vorantreiben. Dabei sollten
wir Biomethan, neben den flüssigen Biokraftstoffen,
nicht aus dem Auge verlieren. Neben Elektromobilität
und Brennstoffzellentechnologie wird es zukünftig eine
zentrale Rolle spielen können. Insbesondere im Lang-
streckenbetrieb und bei Lkws brauchen wir auch auf
längere Sicht Verbrennungsmotoren – dann aber mit
biogenen Kraftstoffen.

Die FDP tritt dafür ein, die Biomasse möglichst dort
einzusetzen, wo sie das jeweils höchste CO2-Einsparpo-
tenzial hat oder CO2-neutrale Alternativen fehlen. Da-
bei ist die Nutzungskonkurrenz von Biogas im Verkehr,
im Wärmebereich und bei der Verstromung derzeit nur
theoretischer Natur, weil die mögliche Angebotsmenge
von Biogas die Nachfrage bei weitem überschreitet.
Deshalb empfiehlt sich derzeit eine Förderung von Bio-
gas in allen Bereichen.

Der vorliegende Antrag enthält einige Anregungen
zur Etablierung von Biomethan im Verkehrssektor. Die
Praxistauglichkeit dieser Vorschläge muss kritisch ge-
prüft werden. Insbesondere sollte dafür Sorge getragen
werden, dass keine steuerliche Benachteiligung von Bio-
methan im Vergleich zu anderen Kraftstoffen erfolgt. Die
anstehende Überarbeitung der Kraftstoffstrategie muss
neuen Schwung für das Biomethan bringen. Das Ziel des
Energiekonzeptes, Biomethan in die Fahrzeuge zu brin-
gen, muss zeitnah mit konkreten Maßnahmen unterlegt
werden. Diese sollen möglichst marktorientiert, aber
eben auch wirksam sein. Die FDP lädt alle Interessier-
ten dazu ein, Vorschläge für die künftige Gesetzgebung
zu unterbreiten.



gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)


Ralph Lenkert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707130100

Bio ist schick, Biomethan natürlich auch. Wer Klima-

schutz will, braucht Biotreibstoffe für den Verkehr, das
weiß doch nun wirklich jedes Kind. Ist Biomasse aber
wirklich die Lösung aller Probleme? Maisanbau für
Strom, Holz für Heizungen und Industrie, Raps für Die-
sel und Kartoffeln für Verpackungen und so weiter und
so weiter. All diese Anwendungen für nachwachsende
Rohstoffe brauchen eines: Landfläche – genauso wie der
Anbau von Getreide, Kartoffeln, Obst, Gemüse und Tier-
futter. Wegen der politischen Vorgaben der EU stieg der
Preis für Raps zwischen 2008 bis 2010 von 280 auf 450
Euro je Tonne. Die gesamte deutsche Rapsernte 2010
muss als Biodiesel in die Tanks fließen, wenn die EU-
Richtlinie eingehalten werden soll – mit fatalen Auswir-
kungen, denn für Rapsöl, Viehfutter oder die Lebensmit-
telindustrie ist jetzt kein einheimischer Raps mehr da.

Der Antrag der SPD-Fraktion, Biomethan für Hei-
zungen und den Pkw-Einsatz massiv zu fördern, ist des-
halb wegen einer weiteren Überbelastung der Anbauflä-
chen schädlich. Preissteigerungen bei allen Bio-
Anwendungen, vor allen Dingen auch bei Lebensmitteln,
werden erfolgen. Die Verbraucher sind die Verlierer.
Der Antrag in dieser Form bringt auch keine Planungs-
sicherheit für Biomethananwendungen, weil die Be-
schaffungspreise agrarischer Rohstoffe einfach zu teuer
und unkalkulierbar werden. Biomethan wird zukünftig
eine wichtige Rolle spielen. Aus Sicht der Linken muss
man die Anwendung dann fördern, wenn das Methan aus
Abfällen entsteht. Soll es aber direkt gewonnen werden,
ist es meist eher abzulehnen. Sinnvoll wäre es beispiels-
weise für eng umgrenzte regionale Anwendungen wie
die Landwirtschaft.

Der Antrag der SPD ist einseitig zugunsten des
Biomethans gestellt. Es wäre zwar für Maschinenbau-
konzerne und Autohersteller eine neue Profitquelle er-
schlossen, aber steigende Verbraucherpreise in Europa
und sich ausweitende Hungersnöte in der Dritten Welt
würden die Folge sein. Ob unter dem Strich global
betrachtet tatsächlich eine Verbesserung des Umwelt-
schutzes herauskommt, ist außerdem mehr als zwei-
felhaft. Gedient wird ausschließlich den Klimaschutz-
vorgaben der EU. Der globale Sinn wird jedoch verfehlt,
da die weltweite Konkurrenz um Biomasse letztlich Ur-
wälder vernichtet. Eine solche Politik hilft dem Klima-
schutz nicht. Geschädigt wird jedoch das Ansehen alter-
nativer Energien.


Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1707130200

Biomethan steht in einer doppelten Nutzungskonkur-

renz. Zum einen wird Biomethan überwiegend aus An-
baubiomasse gewonnen und steht dabei in Konkurrenz
zur Nahrungsmittelerzeugung. Zum anderen gibt es eine
enorme Nachfrage nach der Stromproduktion aus Bio-
masse, welche idealerweise an eine sinnvolle Verwen-
dung entstehender Wärme gekoppelt ist. Bei steigenden
Anteilen erneuerbarer Energien, vor allem aus Wind und
Sonne, kommt Biogaskraftwerken beim Lastausgleich im
Stromnetz eine zunehmend wichtigere Rolle zu.
Die Konkurrenz zur Nahrungsmittelerzeugung kann
derzeit vor allem in Norddeutschland betrachtet werden.
Hier gibt es regelrechte „Maiswüsten“. Viele Landwirte
klagen darüber, dass die Pachtpreise seit der massiven
Förderung der Biomasse enorm gestiegen sind. Wenn
Energieunternehmen jetzt vermehrt in die Biomethaner-
zeugung einsteigen, wird sich das Problem weiter ver-
schärfen. Als Konsequenz wird der wirtschaftliche
Druck zum Anbau von Energiepflanzen statt Nahrungs-
mitteln immer weiter zunehmen. Biomethan steht nicht
unbegrenzt aus nachhaltig erzeugter Produktion zur
Verfügung. Ein bestimmter Anteil der Agrarflächen kann
vor allem in Osteuropa dafür genutzt werden. Dies wird
jedoch mit Sicherheit nicht ausreichen, um den Verkehr
in Zukunft mit Biomethan zu fahren.

Es bräuchte daher ein integriertes Biomethankonzept
im Rahmen eines Energiekonzepts. Hier muss die Nah-
rungsmittelkonkurrenz ausgeschlossen werden. Dazu
brauchen wir eine sorgfältige Abwägung, in welchen
Verkehrsbereichen Biomethan bevorzugt zum Einsatz
kommen sollte. Das sind vor allem die Bereiche, in de-
nen es langfristig kaum Alternativen zum Verbrennungs-
motor gibt, also Lkws und Busse im Fernverkehr. Für
Pkws hingegen stehen mit Hybridantrieben, Plug-In-
Hybriden und rein batterieelektrischen Fahrzeugen al-
ternative Entwicklungspfade zur Verfügung, um erneu-
erbare Energien in den Straßenverkehr zu bringen.

Zum einen ist dies sehr viel effizienter: Elektromoto-
ren können bis zu 90 Prozent der Energie in Vortrieb
umwandeln. Bei Verbrennungsmotoren – auch solchen
mit Biomethan – verpufft dagegen der größte Teil als
Wärme. Zum anderen will ich auf Folgendes hinweisen:
Fraktionsübergreifend sind wir uns einig, dass eine in-
telligente Verknüpfung der Elektromobilität mit Strom
aus zusätzlichen erneuerbaren Energien einen wichtigen
Beitrag für ein besseres Lastmanagement der Strom-
netze bietet. Dies wird mit Zunahme der Einspeisung von
Offshore-Wind und anderen unstetigen Energiequellen
immer wichtiger werden.

Ein solches Konzept hat auch die Koalition bisher
nicht vorzuweisen. Deswegen wird der Ansatz des SPD-
Antrags, das Thema politisch stärker auf die Agenda zu
setzen, von uns ausdrücklich begrüßt. Bei der vorge-
schlagenen Lösung wird jedoch zu kurz gesprungen.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1707130300

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/3651 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wün-
schen Federführung beim Ausschuss für Verkehr, Bau
und Stadtentwicklung. Die Fraktion der SPD wünscht
Federführung beim Ausschuss für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit.

Wir stimmen zuerst über den Vorschlag der Fraktion
der SPD – Federführung beim Ausschuss für Umwelt,
Naturschutz und Reaktorsicherheit – ab. Wer ist für die-
sen Überweisungsvorschlag? – Wer ist dagegen? – Gibt
es Enthaltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist mit





Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stim-
men der Oppositionsfraktionen abgelehnt.

Wir stimmen nun über den Überweisungsvorschlag
der Fraktionen der CDU/CSU und FDP – Federführung
beim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung –
ab. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? –
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Überweisungs-
vorschlag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a und 28 b auf:

a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Stipendienpro-
gramm-Gesetzes (1. StipG-ÄndG)


– Drucksache 17/3359 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-
schätzung (18. Ausschuss)


– Drucksache 17/3699 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Tankred Schipanski
Marianne Schieder (Schwandorf)

Patrick Meinhardt
Nicole Gohlke
Priska Hinz (Herborn)


– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 17/3701 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Eckhardt Rehberg
Klaus Hagemann
Ulrike Flach
Michael Leutert
Priska Hinz (Herborn)


b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Nicole Gohlke,
Dr. Petra Sitte, Agnes Alpers, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion DIE LINKE

Mittel des Nationalen Stipendienprogramms
für eine Erhöhung des BAföG nutzen

– Drucksachen 17/2427, 17/3699 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Tankred Schipanski
Marianne Schieder (Schwandorf)

Patrick Meinhardt
Nicole Gohlke
Priska Hinz (Herborn)



Dr. Stefan Kaufmann (CDU):
Rede ID: ID1707130400

Wir, die Fraktionen von CDU/CSU und der FDP, sind

der festen Überzeugung, dass der Bildungsaufstieg jun-
ger Menschen nicht an finanziellen Hürden scheitern
darf. Aufstieg durch Bildung ist die Kernbotschaft der
christlich-liberalen Koalition und der Bildungspolitik
der Union. Um das zu gewährleisten, setzen wir auf eine
Diversifizierung der Studienförderung. Es ist unser Ziel,
neben dem Ausbau des BAföG und der Bildungsdarle-
hen eine Stipendienkultur in Deutschland zu schaffen. In
den USA, Japan oder Südkorea finanzieren private
Geldgeber bis zu zwei Drittel der Ausgaben für den
Hochschulbereich – unter anderem durch Stipendien-
programme. Im OECD-Schnitt stammen 27,4 Prozent
des Bildungsbudgets aus nicht öffentlichen Quellen. In
Deutschland dagegen finanzierten private Geldgeber im
Jahr 2007 von insgesamt 25,6 Milliarden Euro für den
Hochschulbereich lediglich 15 Prozent. 84 Prozent steu-
erten Bund, Länder und Gemeinden bei. Rund 1 Prozent
der Mittel stammten aus dem Ausland. Das ist auch vor
dem Hintergrund des internationalen Wettbewerbs um
die klügsten Köpfe und der aktuellen Diskussion um den
Fachkräftemangel nicht hinnehmbar.

Die Union setzt hier mit dem nationalen Stipendien-
programm an. Es bietet jungen Menschen ein zusätzli-
ches Finanzierungsinstrument für mehr Bildungsgerech-
tigkeit. Dabei wird das Deutschlandstipendium nicht auf
das BAföG angerechnet. Studierende können beide För-
derungen gleichzeitig ohne Abzüge in Anspruch neh-
men. Die Stipendien in Höhe von 300 Euro sollen von
privaten Geldgebern wie Stiftungen, Unternehmen, Pri-
vatpersonen und Alumni auf der einen Seite und dem
Bund auf der anderen Seite gemeinsam finanziert wer-
den.

Die Stipendien werden von den einzelnen Hochschu-
len nach Leistung und Begabung vergeben. Neben der
erbrachten Leistung zählen auch gesellschaftliches En-
gagement, die Bereitschaft Verantwortung zu überneh-
men oder besondere persönliche Gründe, die sich bei-
spielsweise aus der familiären Herkunft oder einer
Migrationsherkunft ergeben können. Dies ist der Ein-
stieg in die Mobilisierung neuer Begabungsreserven und
die Erschließung bisher unterrepräsentierter Studieren-
dengruppen.

Mittelfristig sollen 8 Prozent der Studierenden in
Deutschland, also rund 160 000 junge Frauen und Män-
ner, gefördert werden. In einem ersten Schritt werden ab
Sommersemester 2011 rund 10 000 Stipendiaten starten.
Der Bund übernimmt dabei den gesamten öffentlichen
Finanzierungsanteil, das heißt 150 Euro pro Stipendium
pro Monat, wenn die jeweilige Hochschule den gleichen
Beitrag von privater Seite einwirbt. Damit wollen wir
auch eine engere Vernetzung der Hochschulen mit ihrem
gesellschaftlichen Umfeld schaffen, die zu einer größe-
ren Beteiligung der Privatwirtschaft führt. Gerade bei
der Ausbildung der künftigen Generation ist es nicht
einzusehen, dass der Staat die Finanzierung alleine
übernimmt, während sich Unternehmen und Wirtschaft
nicht beteiligen. Das Zusammenspiel aus privaten und
staatlichen Geldern macht deutlich, dass Unternehmen,
Stiftungen und vermögende Privatpersonen eine beson-
dere Verantwortung für die Ausbildung von jungen Men-
schen haben.

Für eine schnelle Umsetzung plant die unionsge-
führte Bundesregierung zahlreiche Maßnahmen, um den

Dr. Stefan Kaufmann


(A) (C)



(D)(B)

Start des Stipendienprogramms erfolgreich zu begleiten.
Unter anderem wird die Bundesregierung die Hochschu-
len bei den Akquisekosten mit einer Programmkosten-
pauschale unterstützen. Dazu zählen Kosten für das
Personal, das die privaten Stipendienmittel einwirbt.
Die Pauschale beträgt 7 Prozent der Mittel, die die
Hochschule von privater Seite einwerben könnte. Außer-
dem wird das Bundesministerium für Bildung und For-
schung Schulungen für Mitarbeiter der Hochschulen an-
bieten, die künftig für das Einwerben von Mitteln für die
Deutschlandstipendien verantwortlich sind. Dies um-
fasst auch ein kostenloses Softwareprogramm zur besse-
ren Datenerfassung.

Wie Sie alle wissen, wollten die Bundesländer die
hälftige Mitfinanzierung des staatlichen Anteils am
Deutschlandstipendium nicht mittragen. Die Opposition
torpediert das Stipendiengesetz aus ideologischen Grün-
den und verweigert jedes konstruktive Handeln für die
Studierenden in Deutschland. Die Bundesregierung hin-
gegen handelt verantwortlich und hat sich im Vermitt-
lungsverfahren bereit erklärt, die Kosten des Stipendien-
programms vollständig zu übernehmen. Den Ländern
wiederum werden dadurch Spielräume für eigene Kon-
zepte zur Förderung der Studienneigung und der Begab-
tenförderung eingeräumt. Die Länder können nun be-
weisen, dass Sie diese Spielräume in ihrer Verant-
wortung nutzen.

Da die Länder nunmehr 0 Prozent zur Finanzierung
des Stipendienprogramms beitragen, ist es nur folge-
richtig, dass die Festlegung der Höchstförderquoten
künftig auch ohne Zustimmung des Bundesrates möglich
ist. Deshalb bedarf es bei dem Stipendiengesetz einer
Änderung. Denn es gilt: Wer bezahlt, bestimmt. Aus die-
sem Grund haben wir als Regierungsfraktionen einen
Änderungsantrag zum vorliegenden Änderungsgesetz
eingebracht. Es handelt sich hier letztlich um rein redak-
tionelle Änderungen neben der Umsetzung der gemach-
ten Zusagen im Vermittlungsausschuss. Die Festlegung
der Höchstförderquoten soll das Bundesministerium für
Bildung und Forschung zukünftig im Einvernehmen mit
dem Bundesministerium der Finanzen treffen. Im
Jahr 2011 soll die Höchstgrenze der Förderung gemäß
§ 11 Abs. 4 zunächst 0,45 Prozent der Studierenden je
Hochschule betragen. Die vorgesehene Pauschalierung
der Erstattung vereinfacht das Verfahren, vermeidet
Auseinandersetzungen und gibt den Hochschulen Pla-
nungssicherheit. Mit den genannten Maßnahmen zeigt
der Bund Verantwortung für die Förderung des wissen-
schaftlichen Nachwuchses und honoriert wissenschaftli-
che Spitzenleistungen. Zugleich schafft er Anreize für
private Stipendiengeber, sich auf diesem Feld zu enga-
gieren und fördert den Aufbau einer Stipendienkultur in
Deutschland.

Die Oppositionsfraktionen SPD, Linke und Grüne fa-
vorisieren hingegen eine massive Erhöhung der Ausga-
ben für die Sozialleistung BAföG. Dieser Ansatz findet in
der Regierungskoalition keine Zustimmung. Er ent-
spricht im Wesentlichen der Sozialpolitik der 70er-
Jahre. Die von Ihnen angestrebte Erhöhung über den
festgestellten Bedarf hinaus würde das BAföG außerdem
in eine Schieflage zu anderen Sozialleistungen bringen.
Zu Protokoll
Wir haben jedoch die Pflicht, die Ausgewogenheit sozia-
ler Leistungen sicherzustellen. Dies sind wir dem Steuer-
zahler schuldig, der die Kosten von knapp 2,5 Milliarden
Euro jährlich für das BAföG trägt. Hier sehe ich eher
eine große Chance im Deutschlandstipendium, die In-
formationslücke bei den sozial schwächeren und bil-
dungsfernen Familien zu schließen. Die Vorteile des Sti-
pendienprogramms liegen auf der Hand. Neben den
bisherigen Finanzierungsinstrumenten BAföG und Bil-
dungsdarlehen wird den Studierenden ein zusätzliches
Instrument für mehr Bildungsgerechtigkeit gegeben.

Die ersten Reaktionen auf das Programm fallen posi-
tiv aus. Der Präsident des Deutschen Hochschulverban-
des, Professor Dr. Kempen, beschreibt das Deutschland-
stipendium als hervorragendes Projekt, dessen Vorteile
bislang nicht ausreichend erkannt und dessen Probleme
bislang überbewertet wurden. Der Rektor der RWTH
Aachen, Professor Dr. Schmachtenberg, meldet sehr po-
sitive Erfahrungen mit Stipendien in NRW. Er bestätigt,
dass das Stipendienprogramm die Vernetzung zwischen
der Hochschule und der Wirtschaft nachhaltig unter-
stützt hat und dass sich aus den Kontakten über das Sti-
pendienprogramm hinausgehende Kooperationen erge-
ben haben. Die Deutsche Telekom hat sich bereit erklärt,
in den kommenden vier Jahren 360 junge Frauen in
MINT-Studiengängen zu fördern. Diese positiven Rück-
meldungen aus der Wirtschaft zeigen, dass das Stipen-
dienprogramm auf einem guten Weg ist.

Lassen Sie uns das Deutschlandstipendium erfolg-
reich beginnen und somit einen weiteren Schritt für mehr
Wettbewerbsfähigkeit und Bildungsgerechtigkeit künfti-
ger Generationen gehen! Deshalb werbe ich um Ihre Zu-
stimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf.


Marianne Schieder (SPD):
Rede ID: ID1707130500

Das nationale Stipendienprogramm, mit dem die Bun-

desregierung ursprünglich bis zu 160 000 zusätzliche
Stipendien schaffen wollte, ist bildungspolitisch in der
Sache gescheitert. Das Festhalten der Bundesregierung
an dem „Deutschland-Stipendium“ für nicht einmal
10 000 Stipendien dient allein der Gesichtswahrung. Bil-
dungspolitisch ist sowohl das Gesetz entbehrlich als
auch die zur Abstimmung vorliegende Novellierung un-
akzeptabel.

Es reicht nicht aus, dass diese Bundesregierung
Klientelpolitik in höchstem Maße betreibt. Sie erkauft
sich jetzt auch noch Mehrheiten für Projekte, die immer
weniger das Papier wert sind, auf dem sie geschrieben
werden. Um sich in der letzten Sitzung des Bundesrates
mit schwarz-gelber Mehrheit im Sommer nicht zu bla-
mieren, wurde in einer Nacht- und Nebelaktion von Frau
Schavan und Frau Merkel den Ländern die Kostenüber-
nahme für das nationale Stipendienprogramm durch den
Bund versprochen. Andernfalls hätten sogar die eigenen
Ministerpräsidenten der Regierungskoalition das Vor-
haben scheitern lassen.

Mit der von der Bundesregierung im vorliegenden
Gesetzentwurf vorgeschlagenen Übernahme der Kosten-
anteile der öffentlichen Hand durch den Bund konnte
zwar die Zustimmung der Ländermehrheit im Bundesrat



gegebene Reden

Marianne Schieder (Schwandorf)



(A) (C)



(D)(B)

erwirkt werden. Sie ist allerdings geeignet, den mühsam
aufrechterhaltenen Grundsatz einer gemeinsamen Bund-
Länder-Verantwortung in der Bildungsförderung weiter
zu gefährden und ist daher abzulehnen. Das Vermitt-
lungsverfahren zur 23. Novelle des Bundesausbildungs-
förderungsgesetzes hat verdeutlicht, welche Risiken das
willkürliche und ziellose Handeln der Bundesregierung
bei der notdürftigen Rettungsoperation für das Stipen-
dienprogramm-Gesetz im Bundesrat für das Bildungs-
fördersystem insgesamt heraufbeschwört.

Zur Ehrenrettung der Bundesregierung könnte man
nun noch sagen, dass man mit der Novelle den finanziell
angeschlagenen Ländern entgegenkommen wollte. Stellt
sich allerdings die Frage, warum die Bundesregierung
bei der zeitgleich verhandelten BAföG-Novelle über-
haupt keinen Spielraum sah, den Ländern finanziell unter
die Arme zu greifen? Dadurch wird deutlich, dass es mit
der Finanzierungszusage beim Stipendienprogramm le-
diglich darum ging, ein Prestigeprojekt zu sichern. Die
Finanzsituation der Länder und Kommunen ist dieser
Bundesregierung egal. Das hat sie in den letzten zwölf
Monaten schon mehrfach bewiesen.

Bereits die Expertenanhörung zum Stipendienpro-
gramm im Frühjahr hat gezeigt, dass das Vorhaben
Stückwerk ist. Die Fachleute haben insbesondere vor
Verwerfungen in der Hochschullandschaft und einer Be-
nachteiligung von Hochschulen in strukturschwächeren
Regionen unseres Landes gewarnt. Die Begründung der
Bundesregierung, mit dem Programm für gleichwertige
Lebensbedingungen im Bundesgebiet zu sorgen, ist reine
Farce. Das Programm ist nach Einschätzung zahlrei-
cher Fachleute mehr ein Instrument zur Förderung des
Wettbewerbs unter den Hochschulen als ein geeignetes
Mittel zur Förderung von Studierenden.

Schon damals waren sich alle Experten auch einig,
dass es völlig utopisch sei, in absehbarer Zeit 8 Prozent
aller Studierenden über dieses Programm zu fördern.
Nun soll der öffentliche Anteil der Stipendien zu
100 Prozent vom Bund kommen, aber die Mittel im
Haushalt werden nicht verändert. Ich frage Sie, Frau
Schavan, wie will man so auf die im Gesetz angestrebte
Zahl der geförderten Studentinnen und Studenten kom-
men? Hat da jemand in Mathematik oder beim Formu-
lieren der Novelle nicht aufgepasst? Oder ist das der
Versuch, ganz heimlich und langsam das Programm gar
nicht richtig auf den Weg zu bringen? Scheinbar reicht
es, wenn ein paar wenige Privilegierte für vergleichs-
weise hohe Verwaltungskosten gefördert werden und die
Bundesregierung vollmundig in der Öffentlichkeit ver-
künden kann: Wir fördern die Stipendienkultur – auch
wenn es nicht stimmt. Ähnliches hatten wir ja schon
beim Praktikantenprogramm Technikum. Hier verkün-
dete die Bildungsministerin auch großspurig Ziele in der
Öffentlichkeit, die man jetzt nur noch wie unter den
Tisch gefallene Brotkrumen findet.

Trotz der geplanten vollständigen Finanzierung des
öffentlichen Anteils der Stipendien nach dem Stipendien-
programm-Gesetz durch den Bund bleiben für die Län-
der als Träger der Grundfinanzierung der Hochschulen
weiterhin erhebliche finanzielle Umsetzungsrisiken. So
Zu Protokoll
ist bereits absehbar, dass die im Gesetzentwurf vorge-
schlagene Übernahme von Verwaltungskosten bis zu ei-
ner Höhe von 10 Prozent völlig unzureichend ist. In der
schon oben zitiert Expertenanhörung wurden bereits
rund 30 Prozent veranschlagt. Die Kostenzusagen des
Bundes sind somit völlig unzureichend.

Mit der Begründung, dass der Bund nunmehr den ge-
samten öffentlichen Anteil an den Mitteln, die für Stipen-
dien aufgebracht werden, allein trage, soll die Verord-
nungsermächtigung des § 14 Nr. 7 StipG geändert
werden. Demnach soll die Zustimmung des Bundesrates
wegfallen, wenn die Bundesregierung festlegt, wie die
Höchstquote in § 11 Abs. 4 StipG erreicht werden soll.
Hierbei wird außer Acht gelassen, dass die Bundeslän-
der nach wie vor einen Großteil der Verwaltungskosten
für das Stipendienprogramm tragen müssen. Die Risiken
der nach wie vor bestehenden Unterfinanzierung drohen
sich mit jedem Ausbauschritt des Stipendienangebots zu
vervielfachen, sodass eine direkte Betroffenheit der Län-
der gegeben und damit die Zustimmungspflicht begrün-
det ist. Allein deshalb ist die Novelle abzulehnen.

Frau Schavan, gestehen Sie doch endlich ein, dass
das Stipendienprogramm eine fixe Idee aus den Koali-
tionsverhandlungen ist, für die es besser wäre, sie jetzt in
den Papierkorb zu werfen, um weitere unnötige Kosten
zu vermeiden. Dann könnte man endlich das Geld, dass
für das Stipendienprogramm blockiert wird, in einen ver-
nünftigen Ausbau des BAföG stecken, was die SPD-Frak-
tion von Anfang an gefordert hat. In diese Richtung geht
auch der Antrag der Fraktion Die Linke, der heute eben-
falls zur Abstimmung steht. Leider ist dieser Antrag ge-
genstandslos, nachdem die Bundesregierung die Zustim-
mung für das Stipendienprogramm im Bundesrat durch
die Finanzierungszusage erwirkt hat. Da aber die grund-
sätzliche Ausrichtung richtig wäre, wird sich unsere
Fraktion bei der Abstimmung enthalten.

Die 1. Novelle des Stipendienprogramm-Gesetzes
werden wir jedoch ablehnen. Denn sie ist nicht mehr als
ein Taschenspielertrick. Es bleiben die grundsätzlichen
Mängel des Stipendienprogramms bestehen. Trotz der
Novelle bleiben die offensichtlichen konzeptionellen,
handwerklichen und auch bildungspolitischen Mängel
des Programms. Es ist daher weiter davon auszugehen,
dass die soziale Selektivität in der Hochschulbildung
verfestigt und die regionalen Unterschiede hinsichtlich
der Lebensverhältnisse weiter verstärkt werden. Da-
rüber hinaus gibt es kein gesetzlich normiertes Verfah-
ren bzw. für rechtsfeste Förderbescheide der Hoch-
schulen hinreichende Entscheidungskriterien für die
Ausbildungsförderung durch das nationale Stipendien-
programm. Die Liste der offenen Fragen und Probleme
rund um das Programm bleibt weiterhin bestehen. Die
vorgelegte Novelle bietet keine einzige Lösung dafür an.
Vielmehr sorgt sie dafür, dass die im Gesetz festgehalte-
nen Ziele noch unrealistischer werden und noch mehr
Geld aus dem Bundeshaushalt für noch weniger Bil-
dungsförderung vergeudet wird.

Ich appelliere an die Bundesregierung und die
schwarz-gelbe Koalition: Zeigen Sie endlich Vernunft.
Lassen Sie das Stipendienprogramm sein und bauen Sie



gegebene Reden

Marianne Schieder (Schwandorf)



(A) (C)



(D)(B)

mit uns eine sozial gerechtere Studienförderung über
das BAföG aus. Bei der Masse der Wählerinnen und
Wähler käme dies auch besser an, als die vermeintliche
Versprechung, die Stipendienkultur zu fördern. Nehmen
Sie Ihr Versprechen, eine Bildungsrepublik zu schaffen,
endlich ernst. Wer immer wieder das christliche Profil
strapaziert, sollte vor allem klar wissen, dass im Chris-
tentum die gleiche Würde aller Menschen grundlegend
ist. Daraus resultiert, dass alle die gleiche Chance be-
kommen sollen, insbesondere wenn es um Entwicklungs-
möglichkeiten geht. Daher ist es höchste Zeit, dass
Bildung nicht länger von den Möglichkeiten und Poten-
zialen des Elternhauses abhängig ist. Fühlen Sie sich,
liebe Kolleginnen und Kollegen der schwarz-gelben Ko-
alition, Ihrem viel zitierten christlichen Werteverständ-
nis endlich verpflichtet und sorgen Sie mit uns für eine
sozial gerechte Bildungspolitik, in der wirklich alle die
gleichen Chancen haben.


Patrick Meinhardt (FDP):
Rede ID: ID1707130600

Die Koalition der Mitte macht heute gegen zahlreiche

Widerstände aus dem linken Lager den Weg frei für eine
modernere, gerechtere und leistungsfördernde Studienfi-
nanzierung in Deutschland. Wir schaffen damit die Vo-
raussetzungen für mehr Bildungsgerechtigkeit und mehr
Spielraum bei der Studienfinanzierung für die Studieren-
den in unserem Land.

Mit dem nationalen Stipendienprogramm fördern wir
die individuelle Leistungsbereitschaft, jedoch auch ge-
sellschaftliches Engagement in Vereinen, Kirchen und
Verbänden. Das nationale Stipendienprogramm ist eine
Trendwende in der Begabtenförderung.

Umso heuchlerischer ist der Vorwurf der linken Seite
des Hauses, der ja auch im Antrag der Linken aufgegrif-
fen wird, das nationale Stipendienprogramm käme
hauptsächlich Studierenden aus Akademikerfamilien
und sogenannten Besserverdienerhaushalten zugute.
Dies ist nicht nur unverschämt, weil Sie damit indirekt
die Behauptung aufstellen, Kinder aus bildungsfernen
Schichten würden keine Leistung erbringen und sich
auch nicht gesellschaftlich engagieren; es ist, wie alle
seriösen Studien zeigen, schlichtweg falsch.

Sie führen in Ihrem Antrag aus, dass die Begabtenför-
derungswerke – zu diesen zählt im Übrigen auch die
Rosa-Luxemburg-Stiftung, die Ihrer Partei nahesteht –
überproportional Studierende aus hohen und gehobenen
sozialen Schichten fördern. Hier widerspreche ich Ihnen
auch nicht: Ja, wir brauchen mehr Begabtenförderung
für Menschen, die aus bildungsfernen Schichten kom-
men. Genau dies ist eine der Grundmotivationen dafür,
auch den individuellen Bildungsweg, die Überwindung
von Schwierigkeiten auf dem Weg zum Studium mitzube-
rücksichtigen. Blenden Sie doch nicht immer aus, dass
gerade dieses Bildungsprogramm Leistungsorientierung
und soziale Orientierung zusammenbringt.

Hätten Sie eine ehrliche Analyse vorgenommen, dann
hätten Sie das von der FDP/CDU-Landesregierung ein-
geführte Stipendienprogramm in Nordrhein-Westfalen
untersucht. Dann wären Sie zu ganz anderen Ergebnis-
sen gekommen. Alle Studien zeigen nämlich, dass dort
Zu Protokoll
ganz überproportional Studierende an Fachhochschulen
von der Förderung profitieren, die bisher vernachlässigt
wurden. Die Studien zeigen auch, dass ganz überpropor-
tional Studierende aus Elternhäusern ohne akademi-
schen Hintergrund von den Leistungen profitieren. Und
sie zeigen, dass ganz überproportional BAföG-Empfän-
ger von den Leistungen des Stipendienprogramms profi-
tieren. Doch statt einer solchen ehrlichen Analyse be-
schränken Sie Ihren Blick auf einen Teilbereich der
Studienfinanzierung, nur weil es besser in Ihre ideologi-
sche Sicht passt.

Wir als Koalition der Mitte bauen dagegen die beste-
henden Fördermöglichkeiten weiter aus und ergänzen
sie um eine weitere Säule in das nationale Stipendien-
programm. Die BAföG-Leistungen werden ausgeweitet
und modernisiert, die Elternfreibeträge werden ange-
passt, sodass mehr Studierende BAföG erhalten können,
und die Mittel für die Begabtenförderwerke werden er-
höht.

Alleine die BAföG-Leistungen steigen dank dieser
Koalition der Mitte im Jahr 2011 um etwa 500 Millionen
Euro. Dies ist ein klares Zeichen für mehr Bildungsge-
rechtigkeit. Dies ist eine Erhöhung der Leistungen, die
jeder Berechtigte auch wirklich finanziell spürt. Sie da-
gegen stellen die „großzügige“ Forderung in den Raum,
man müsse auf das nationale Stipendienprogramm ver-
zichten und die Mittel stattdessen den BAföG-Empfän-
gern zukommen lassen. Aber was käme denn heraus,
wenn man die im Haushaltsplan 2011 vorgesehenen Mit-
tel von 10 Millionen Euro an die Studierenden weiterge-
ben würde, die BAföG erhalten? Um ganze 1,50 Euro
pro Monat würden die Leistungen steigen – dies bedarf
keines weiteren Kommentars. Dies zeigt, dass Ihre For-
derung nicht nur populistisch, sondern schlichtweg
heuchlerisch ist.

Nein, wir gehen mit unserem Konzept zur Bildungs-
finanzierung genau den richtigen Weg. Unser Ziel
bleibt, dass 10 Prozent der Studierenden in Deutschland
ein Stipendium erhalten. Die ersten 10 000 werden hier-
von bereits im kommenden Jahr profitieren. Dies ist ein
gutes und richtiges Signal für die Zukunftsfähigkeit un-
serer Hochschulen.

Mit dem nationalen Stipendienprogramm stärken wir
die Autonomie unserer Hochschulen, weil wir ihnen die
Möglichkeit geben, die Stipendiaten selbst auszuwählen.
Wir stärken damit Wissenschaft und Forschung an unse-
ren Hochschulen, weil wir den Kontakt zur Wirtschaft
und zu Unternehmen fördern. Und wir stärken nicht zu-
letzt auch den Aufbau von Ehemaligennetzwerken an un-
seren Hochschulen; auch dies ist ein wichtiger Standort-
vorteil für Universitäten und Fachhochschulen im
internationalen Wettbewerb.

Bei aller Freude über dieses positive Ergebnis
möchte ich auch nicht verhehlen, dass ich das Verhalten
der Länder, insbesondere der A-Länder, für falsch und
bedauernswert halte. Es wäre ein gutes Zeichen gewesen,
wenn wir das nationale Stipendienprogramm als wirk-
liches nationales Zukunftsprogramm von Bund und Län-
dern gemeinsam umgesetzt hätten. Hierzu fehlte auf der



gegebene Reden

Patrick Meinhardt


(A) (C)



(D)(B)

Länderseite, zum Teil aus ideologischer Verblendung,
leider der Mut.

Aber ich sehe hierin auch positive Aspekte. Es ist gut,
dass wir nun, da der Bund die Kosten alleine trägt, ein
solides Finanzierungskonzept und keine Mischfinanzie-
rung haben. Die Verantwortlichkeiten sind damit klar
getrennt, und wir müssen bei einem möglichen späteren
Ausbau des Programms keine neuen Kompromisse mit
SPD-geführten Landesregierungen eingehen.

Die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktio-
nen haben dagegen den Mut und die Entschlossenheit
bewiesen, dass sie die Studienfinanzierung in Deutsch-
land moderner und gerechter gestalten wollen. Dies ist
ein hervorragender Tag – nicht nur für uns Bildungs-
politiker, sondern vor allem für unsere Hochschulen und
ganz besonders für die Studierenden in Deutschland.


Nicole Gohlke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707130700

Kaum ist das Stipendienprogramm beschlossen,

schon muss es wieder geändert werden. Erstens hat die
Bundesregierung einsehen müssen, dass die Länder
nicht bereit sind, auch nur einen einzigen Euro beizutra-
gen. Zweitens muss die Regierung den Hochschulen ei-
nen Teil der Verwaltungskosten erstatten, damit diese
auf die mühsame Betteltour zu den Unternehmen gehen
können. Hier zeigt sich die ganze Misere ihres Stipendi-
enprogramms. Es überzeugt nicht. Die meisten Studie-
renden lehnen es ab, die meisten Hochschulen lehnen es
ab, die meisten Bundesländer lehnen es ab. Ihre Landes-
regierungen – bei der entscheidenden Abstimmung hatte
die Regierungskoalition im Bundesrat ja noch eine
Mehrheit – sprechen zwar nicht dagegen, sie bezahlen
aber auch nicht dafür.

Ursprünglich hieß es einmal, die Hälfte der Kosten
würden über private Spenden finanziert. Dabei hat die
Regierung wohl übersehen oder übersehen wollen, dass
die Unternehmen ihre Spenden von der Steuer absetzen
können. Damit war der private Beitrag schon auf ein
Drittel zusammengeschrumpft. Mit ihrer Gesetzesände-
rung erkennt die Bundesregierung nun an, dass mindes-
tens weitere 7 Prozent dieser Summe bei den Hochschu-
len dafür draufgeht, die Spenden einzutreiben und das
Programm zu verwalten. Der Stifterverband hält diese
Zahl sogar für weit untertrieben. Wahrscheinlich kostet
die Verwaltung 20 bis 25 Prozent der Spendensumme.
Mit anderen Worten: Sie geben viel öffentliches Geld da-
für aus, dass Unternehmen sich als Gönner der Studie-
renden aufspielen können, ohne allzu viel eigenes Geld
dafür einzusetzen. Lange Zeit lief es deutlich anders.
Unternehmen und Vermögende wurden nicht angebet-
telt, sondern spürbar besteuert. Die Hochschulen wur-
den öffentlich finanziert und konzentrierten sich auf
Lehre und Forschung. Jetzt soll jede Hochschule bei den
Unternehmen selbst vorstellig werden. Ihre wichtigsten
Aufgaben werden Marketing und Fundraising.

Die größte Änderung betrifft jedoch die Studierenden
selbst. Im Rahmen des BAföG haben sie einen Rechts-
anspruch auf Förderung nach sozialen Kriterien. Im
Rahmen des Stipendienprogramms gibt es keinen
Rechtsanspruch und keine sozialen Kriterien. Ihr Stipen-
Zu Protokoll
dienprogramm wird zum Taschengeld für die ohnehin
Privilegierten werden. Die Bundesregierung wird das
nicht schrecken: Ihr Ziel ist es ja gerade, eine Elite zu
züchten und bei der Masse zu kürzen. Die Linke will das
nicht. Deshalb wollen wir das Stipendienprogramm
streichen und die Mittel für eine Erhöhung des BAföGs
einsetzen. Die BAföG-Erhöhung muss allerdings noch
deutlicher ausfallen. Nur dann wird das eigentliche Ziel
des BAföGs erreicht, dass niemand aus finanziellen
Gründen vom Studium ausgeschlossen ist. Dafür bitte
ich Sie um Zustimmung zum Antrag der Linken.


Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1707130800

Obwohl noch kein Student vom schwarz-gelben Sti-

pendiengesetz profitiert hat, ist schon die erste Novelle
erforderlich. Ein Meisterstück politischer Handwerks-
kunst sieht definitiv anders aus.

Die grüne Bundestagsfraktion lehnt den schwarz-gel-
ben Stipendienmurks weiterhin klar ab und wird auch
dem Änderungsgesetz nicht zustimmen. Das nationale
Stipendienprogramm mit seinem Deutschlandstipen-
dium wird nicht besser, nur weil der Bund für dieses
Prestigeobjekt allein die Zeche zahlt.

Das Stipendiengesetz ist ein schwarz-gelbes Exklu-
sivprogramm für ohnehin chancenreiche Akademiker-
kinder. Anstatt gezielt in die Bildungspotenziale von
Nichtakademikerkindern zu investieren, leistet das Pro-
gramm keinerlei Beitrag zur dringend notwendigen so-
zialen Öffnung der Hochschulen. Schlimmer noch: Zu
befürchten ist, dass es die soziale Schieflage beim Cam-
puszugang noch weiter verschärft.

Der einzige – wenn auch minimale – positive Aspekt
der heutigen Not-Novelle des schwarz-gelben Stipen-
dienprogramms ist, dass die Hochschulen mit den Büro-
kratiekosten nun doch nicht komplett alleine gelassen
werden sollen. Diese marginale Verbesserung heilt aber
nicht die gravierenden Fehler und Mängel ihres Elite-
förderkonzepts. Die Novelle ist – genauso wie der Ände-
rungsantrag der Koalitionsfraktionen zum Änderungs-
gesetz – vor allem ein Beleg dafür, wie handwerklich
schlecht dieses unsinnige Erbe der schwarz-gelben
NRW-Regierung gemacht ist. Außer dem ehemaligen
NRW-Landesminister und Urheber Pinkwart haben Sie
von der Koalition in den Ländern doch so gut wie keine
Unterstützerinnen oder Unterstützer für das Stipendien-
programm des Bundes. Ohne eine 100-prozentige Fi-
nanzierung durch den Bund und ein massives Abspecken
des Programms mit einem Abschied vom 8-Prozent-Ziel
wäre es komplett gescheitert. Ein Scheitern hätte durch-
aus mehr Bildungsaufstieg bedeutet, wenn das Geld für
ihre Deutschlandstipendien ins BAföG hätte umge-
schichtet werden können. Für Chancengleichheit und
Bildungsgerechtigkeit wären diese Steuermittel dort de-
finitiv sehr viel besser investiert gewesen als in ihrem
Gartenzwergprogramm.

Auch nach dieser Novelle bedeutet das Stipendien-
programm, dass der Bund Mittel für ein sozial ungerech-
tes und überdimensioniertes Gesetz bereitstellt. Das
Konzept stößt bei Studierenden, Stipendiaten, Hoch-
schulen und Wirtschaft zu Recht auf breite Ablehnung.



gegebene Reden





Kai Gehring


(A) (C)



(D)(B)

Wir setzen statt Eliteförderung auf sozial gerechte Brei-
tenförderung und auf Stipendien, die die Bildungsge-
rechtigkeit erhöhen und nicht verringern.

Schwarz-Gelb setzt die falschen Prioritäten: Die star-
ken Schultern werden gestärkt, die schwachen Schultern
werden geschwächt. Opfer der falschen Prioritätenset-
zung sind der Ausbau und die Weiterentwicklung einer
gesicherten staatlichen Studienfinanzierung. Erst nach
einer monatelangen Hängepartie und unwürdigem
Bund-Länder-Geschacher gab es eine kleine BAföG-No-
velle. Das Aufatmen über den Kompromiss kann jedoch
nicht vergessen machen, dass die 23. BAföG-Novelle we-
der zukunftstauglich noch ambitioniert ist.

Die Studienfinanzierung braucht tiefgreifende Ver-
besserungen und muss endlich allen Bildungsaufstei-
gern offenstehen. Dazu braucht es ein Zwei-Säulen-Mo-
dell, das einen Sockel für alle mit einem Zuschuss für
Studierende aus einkommensschwachen Haushalten
kombiniert.

Die Bundesregierung hat zu verantworten, dass die
Bund-Länder-Finanzbeziehungen durch gescheiterte
Bildungsgipfel und den Studienfinanzierungsstreit zer-
rüttet sind. Falls Schwarz-Gelb überhaupt noch die
Kraft für eine große BAföG-Reform in den verbleiben-
den drei Regierungsjahren hat, dann muss Ministerin
Schavan die von ihr selbst verursachten tiefen Gräben
im Bund-Länder-Verhältnis bei der Bildungsfinanzie-
rung kitten. Denn Bund und Länder müssen gemeinsam
für eine bessere Finanzierung des Bildungssystems sor-
gen. Daher muss nicht nur das Kooperationsverbot des
Grundgesetzes für den Bildungsbereich aufgehoben
werden, sondern auch die Angriffe des Bundes auf Län-
derhaushalte durch Steuergeschenke an Atom- und
Pharmalobby, Hotels und reiche Erben müssen zurück-
genommen werden.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1707130900

Tagesordnungspunkt 28 a. Wir kommen zuerst zur Ab-

stimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschät-
zung auf Drucksache 17/3699. Der Ausschuss für
Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung emp-
fiehlt unter Nr. 1 seiner Beschlussempfehlung, den Ge-
setzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/3359
in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt da-
gegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfrak-
tionen gegen die Stimmen der Oppositionsfraktionen an-
genommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie bei der
zweiten Lesung angenommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Tagesordnungspunkt 28 b. Der Ausschuss für Bil-
dung, Forschung und Technikfolgenabschätzung emp-
fiehlt unter Nr. 2 seiner Beschlussempfehlung, den An-
trag der Fraktion die Linke auf Drucksache 17/2427
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen der Fraktion die Linke bei
Enthaltung der SPD-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 27 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Martin
Dörmann, Garrelt Duin, Hubertus Heil (Peine),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD

Betroffene Kultureinrichtungen nach Fre-
quenzumstellung für drahtlose Mikrofone
angemessen entschädigen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Katrin
Kunert, Dr. Lukrezia Jochimsen, Dr. Petra
Sitte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Kulturelle Einrichtungen vor Folgeschäden
aus der Frequenzversteigerung der digitalen
Dividende bewahren

– zu dem Antrag der Abgeordneten Tabea
Rößner, Agnes Krumwiede, Ekin Deligöz, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Kultur und Rundfunk nicht durch die Fre-
quenzumstellung schädigen

– Drucksachen 17/3177, 17/2416, 17/2920,
17/3694 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ulla Lötzer


Andreas G. Lämmel (CDU):
Rede ID: ID1707131000

Wir beraten heute über Anträge der Oppositionsfrak-

tionen, deren Inhalte eigentlich überflüssig sind. Denn
die aufgestellten Forderungen sind entweder bereits
weitgehend Realität oder im Falle des Antrages der
Linken schlicht maßlos. Jedoch freut es mich auch, dass
die Fraktionen der SPD und der Grünen in ihren An-
tragsbegründungen sich zum Verfahren der „Digitalen
Dividende“ und zum Ausbau der mobilen Breitbandan-
wendungen bekennen. So technikfreundlich kenn ich sie
gar nicht. Die Linken verzichten ganz auf eine Begrün-
dung ihres Antrages. So wichtig kann Ihnen das ganze
Thema also nicht sein.

Aber worum geht es? Die Versteigerung des bislang
größten Frequenzpaketes in Deutschland durch die Bun-
desnetzagentur bietet große Chancen für den notwendi-
gen Netzausbau und eine bessere Breitbandversorgung

Andreas G. Lämmel


(A) (C)



(D)(B)

auch in ländlichen Regionen sowie zur Erweiterung der
Netze im Mobilfunk. Gerade im Mobilfunk steigen die
Kapazitätsbedarfe stetig. Die Mobilfunkunternehmen,
die entsprechende Frequenzen ersteigert haben, können
nun die Einführung der Long-Term-Evolution-Technolo-
gie vorantreiben, die hohe Bandbreiten ermöglicht. Zu-
dem bieten die Frequenzen der „Digitalen Dividende“
in den Bereichen von 790 bis 862 Megahertz die Mög-
lichkeit, Lücken in der Breitbandversorgung zu schlie-
ßen.

Die in den Anträgen beschriebenen Risiken sind be-
kannt. Daher wurde die Frage der Kostenerstattung
bereits im Jahr 2009 im Bundesrat im Rahmen der
Frequenzbereichzuweisungsplan-Verordnung beraten.
Diese Verordnung enthält die Voraussetzungen für die
Versteigerung der Frequenzen. Darüber hinaus gibt es
die Absprachen zwischen dem Bund und den Bundeslän-
dern zur Thematik der Umstellungskosten. Zwischen
Bund und Ländern wurde vereinbart, die Kosten aus
notwendigen Umstellungen, die sich bis Ende 2015 bei
denjenigen ergeben, die die Frequenzen 790 bis 862 Mega-
hertz nutzen, in angemessener Form zu tragen. Wir hal-
ten fest: Es bestehen bereits Regelungen zur Entschädi-
gung, sofern konkrete Störungen auftreten.

Und das ist der entscheidende Punkt! Wenn konkrete
Störungen auftreten, dann sollen die entsprechenden
Einrichtungen eine Entschädigung für notwendige Er-
satzaufwendungen erhalten. Festzuhalten bleibt jedoch:
Es besteht kein Rechtsanspruch auf Entschädigungsleis-
tungen. Bisher ist auch noch kein Fall bekannt, bei der
die Frequenzumstellung zu konkreten Störungen geführt
hat. Dies hat die Bundesnetzagentur auf Anfrage mitge-
teilt. Darüber hinaus ist auch einzuschätzen, wie hoch
der Grad der Störung ist und ob es denn technische
Möglichkeiten gibt, diese Störungen zu unterbinden oder
zu beheben. Manche Dinge kann man auch ohne viel
Geld reparieren. Die Bundesnetzagentur bereitet bei-
spielsweise seit Anfang 2010 eine Verlagerung der ent-
sprechenden Nutzung in alternative Frequenzbereiche
vor. Sollte diese Frequenzverlagerung notwendig wer-
den und dadurch Kosten entstehen, so gibt es die Zusage
der Bundesregierung, eine angemessene Entschädigung
zu zahlen. Dies ist im Vergleich zu Neuanschaffungen si-
cher der günstigere Weg.

Was ist zu tun, bevor der Bund zahlt? Wenn die eben
erwähnten Voraussetzungen für Entschädigungsleistun-
gen eintreten, dann muss vorab sichergestellt werden,
dass die ausgezahlten Mittel entsprechend eingesetzt
werden und bei den Kultureinrichtungen ankommen.
Klar umrissen muss auch der Kreis der möglichen Ent-
schädigungsempfänger werden. Aus unserer Sicht gibt
es keinen Grund, warum ausschließlich öffentliche Ein-
richtungen entschädigt werden sollen. Schließlich muss
der Einsatz der Mittel auch nachvollziehbar und kon-
trollierbar sein. Missbrauch von Steuermitteln darf es
nicht geben. Die Bundesministerien für Wirtschaft und
Finanzen arbeiten an Regeln mit dem Ziel, die Höhe der
anrechenbaren Kosten sowie das Verfahren zur Abwick-
lung festzulegen. Diese geballte Fachkompetenz wird sicher
unabhängig von oppositionellem Aktionismus zu einer
Lösung führen. Bevor wir also pauschal viel Geld ausge-
Zu Protokoll
ben, sollten wir offene Punkte klären und technische Lö-
sungen im technischen Bereich suchen.

Der Beschlussempfehlung des Ausschusses für Wirt-
schaft und Technologie ist daher zu folgen und die An-
träge der Oppositionsfraktionen sind abzulehnen.


Johannes Selle (CDU):
Rede ID: ID1707131100

Uns liegen die Anträge der Fraktionen SPD – 17/3177 –,

Die Linke – 17/2416 – und Bündnis 90/Die Grünen
– 17/2920 – sowie eine Protokollerklärung der Fraktio-
nen CDU/CSU und FDP vor. Alle drei Anträge der Op-
positionsparteien enthalten die Forderung, den Nutzern
der drahtlosen Produktionstechniken einen Rechts-
anspruch auf Erstattung der Folgekosten der Frequenz-
umstellung zu schaffen.

Umstritten ist nicht, dass die Bundesregierung richti-
gerweise mit ihrer Breitbandstrategie eine flächende-
ckende Versorgung aller Regionen mit leistungsfähigen
Internetverbindungen realisieren will. Um dieses Ziel zu
erreichen, sind die Frequenzen im Bereich 790 bis
862 Megaherz neu zugeteilt worden. Sie sind bisher dem
Rundfunkdienst zugewiesen und werden nun dem Mobil-
funkdienst zugeordnet. Dies regelt die Frequenzbe-
reichszuweisungsplan-Verordnung, die am 4. März 2009
vom Bundeskabinett beschlossen wurde. Ein Teil des
versteigerten Frequenzspektrums – nämlich die genann-
ten Bereiche 790 bis 862 Megaherz – werden auch bei
der drahtlosen Produktionstechnik bei Veranstaltungen,
in Kirchen, in Theatern und Ähnlichem mitgenutzt.

Nach dem 31. Dezember 2015 stehen den Nutzern
drahtloser Mikrofonanlagen diese Frequenzen nicht
mehr zur Verfügung. Folge könnte sein, dass Kosten für
Neuanschaffungen oder Umstellung auf andere Fre-
quenzbereiche entstehen. Manche Anlagen werden um-
gestellt werden können, manche nicht. Betroffen hiervon
sind sowohl öffentliche als auch private Kultureinrich-
tungen.

Der Bundesrat hat im Juni 2009 die Initiative der
Frequenzumstellung begrüßt, weil dadurch die Möglich-
keit entsteht, den ländlichen Raum durch schnelle Da-
tenverbindungen zu erschließen und damit seine Attrak-
tivität zu erhöhen. Die Zustimmung ist ihm leicht
gefallen, da die Bundesregierung, vertreten durch den
Parlamentarischen Staatssekretär Hartmut Schauerte,
zugesagt hat, „die Kosten, die sich nachweislich aus
notwendigen Umstellungen bis Ende des Jahres 2015 bei
denjenigen ergeben, die die Frequenzen 790 bis
862 Megahertz bisher nutzen, Rundfunksendeunterneh-
men und Sekundärnutzer, insbesondere Kultur- und Bil-
dungseinrichtungen, in angemessener Form zu tragen“.

Die Bundesregierung steht nach wie vor zu dieser Zu-
sage. Mit den Anträgen der Opposition sollen Rechtsan-
sprüche auf Übernahme der Kosten geschaffen werden.
Ein solcher Rechtsanspruch setzt voraus, dass alle Zah-
len, angefangen von infrage kommenden Anlagen bis zur
Frage einer möglichen Umstellung oder Neuanschaf-
fung, einigermaßen verlässlich vorliegen sollten. In
manchen Fällen wird es sogar möglich sein, Lösungen
mit den Mobilfunkbetreibern zu finden.



gegebene Reden

Johannes Selle


(A) (C)



(D)(B)

Aus den Anträgen der Opposition allein ist schon er-
sichtlich, dass das Feststellen der Zahlen nicht so ein-
fach ist. Hier geht die Spannbreite von einigen Millionen
bis zu mehreren Milliarden. Wir als Bundestagsabgeord-
nete sind dafür verantwortlich, dem Bundeshaushalt un-
nötige Ausgaben zu ersparen. Das trifft jedenfalls auf
die Regierungsfraktionen zu. Deshalb ist es nicht mög-
lich, einfach Forderungen der Länder zu übernehmen.

Eine Einigung über die Höhe der bereitzuhaltenden
Mittel sollte bis zur morgigen Bereinigungssitzung vor-
liegen. Wir bedauern, dass dieses Ziel nicht erreicht
wurde. Die Lücke zwischen den Erwartungen der Län-
der und den Vorstellungen der Bundesregierung konnte
noch nicht geschlossen werden. Mit der Protokollerklä-
rung der Koalitionsfraktionen zeigen wir, dass wir das
Anliegen teilen und durch die „Digitale Dividende“ Be-
nachteiligungen, aber auch Überkompensationen ver-
meiden wollen.

In einem persönlichen Brief an den Bundeswirt-
schaftsminister habe ich – zusammen mit meinem Kolle-
gen Poland – auf die Wichtigkeit der Entschädigung für
die Kultureinrichtungen hingewiesen. Weitere Kollegen
haben sich ebenfalls beim Wirtschaftsministerium in
diesem Sinne eingesetzt. Ich bin überzeugt, dass die be-
troffenen Produktionsstätten mit angemessenen Ent-
schädigungen rechnen können. Den Anträgen der Oppo-
sition können wir nicht zustimmen.


Martin Dörmann (SPD):
Rede ID: ID1707131200

Durch die im Mai dieses Jahres durchgeführte Ver-

steigerung von Funkfrequenzen an die Mobilfunkunter-
nehmen werden diese in die Lage versetzt, den Ausbau
der neuen Funktechnologie LTE voranzutreiben, die
hohe Bandbreiten ermöglicht. Dies bietet große Chan-
cen für den notwendigen Netzausbau im Mobilfunk und
insbesondere für eine bessere Breitbandversorgung
auch in ländlichen Räumen. In den Frequenznutzungs-
bedingungen wurden – auch auf hartnäckiges Drängen
der SPD – Ausbauverpflichtungen festgelegt, nach de-
nen nun schrittweise in unterschiedlichen Stufen jeweils
mindestens 90 Prozent der Bevölkerung angeschlossen
werden müssen.

Um die Versteigerung der Frequenzen zu ermögli-
chen, wurde im vergangenen Jahr die Frequenzbereichs-
zuweisungsplanverordnung im Bundesrat verabschie-
det. Bei den seinerzeitigen Verhandlungen zwischen den
Ländern und dem Bund gab es eine Vereinbarung, die im
Protokoll der damaligen Bundesratssitzung Nieder-
schlag gefunden hat. Danach hat sich der Bund ver-
pflichtet, die Kosten aus notwendigen Umstellungen, die
sich bis Ende des Jahres 2015 bei denjenigen ergeben,
die bislang die betroffenen Frequenzen 790 bis 862 Me-
gahertz nutzen, in angemessener Form zu tragen.

Die SPD-Bundestagsfraktion will mit ihrem Antrag,
den wir heute debattieren, sicherstellen, dass der Bund
seine Zusagen tatsächlich einlöst. Vor allem auch des-
halb, weil ansonsten viele städtische Kultureinrichtun-
gen oder auch kleine private Theater die Leidtragenden
wären. Nach dem aktuellen Stand der Gespräche zwi-
schen Bund und den Ländern ist nämlich zu befürchten,
Zu Protokoll
dass die Bundesregierung einen Großteil der betroffenen
Einrichtungen mehr oder weniger im Regen stehen lässt.

Worum geht es hierbei? Zum einen entstehen den
Rundfunksendernetzbetreibern, die bislang einen Teil
der ersteigerten Frequenzen genutzt haben, Kosten aus
technischen Ersatz- und Zusatzbeschaffungen oder Um-
rüstungen.

Vor allem aber sind auch Kultur- und Bildungsein-
richtungen betroffen, die den Frequenzbereich bislang
für Datendienste und Funkmikrofone nutzen. Dabei geht
es beispielsweise um Bühnenproduktionen, Fernsehauf-
zeichnungen und sonstige öffentliche Veranstaltungen in
Opernhäusern, Theatern oder auch in Kirchen.

Die SPD hat stets darauf gedrängt, dass für alle Be-
troffenen angemessene Lösungen gefunden werden müs-
sen. Wie ist insofern der Sachstand?

Der Bund plant Folgendes: Bezüglich der Rundfunk-
sendernetzbetreiber ist eine pauschale Erstattung der
Kosten aus technischen Ersatz- und Zusatzbeschaffun-
gen oder Umrüstungen angeboten worden.

Die Feststellung und Anerkennung betriebsnotwendi-
ger Umstellungskosten bei drahtlosen Mikrofonen – um
diese geht es hier im Besonderen – soll in Abhängigkeit
vom tatsächlichen Ausbau der neuen Mobilfunkanwen-
dungen bis maximal 2015 durch das Bundesamt für
Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle entsprechend einer in
Vorbereitung befindlichen Verwaltungsanweisung erfol-
gen.

Nun ist es so, dass weder der bislang geplante finan-
zielle Beitrag des Bundes noch das damit verbundene
Entschädigungsverfahren ausreichend bzw. geeignet er-
scheinen, um das Problem angemessen zu lösen.

Nach heutigem Stand hat der Bund bislang lediglich
Mittel in Höhe von etwas über 100 Millionen Euro zur
Speisung des Fonds angeboten. Ich kenne keinen Exper-
ten, der diese Summe für ausreichend hält. Die Länder
beispielsweise gehen von rund 800 Millionen Euro not-
wendiger Umstellungskosten aus. Auf jeden Fall wird
wohl ein höherer dreistelliger Millionenbetrag erforder-
lich sein. Das bisherige Angebot der Bundesregierung
liegt weit dahinter zurück. Es ist zu hoffen, dass in der
heute stattfindenden Bereinigungssitzung des Haus-
haltsausschusses ein besseres Ergebnis erzielt werden
kann. Bislang sieht es nicht danach aus.

Auch das angestrebte Verfahren ist problematisch,
insbesondere, wenn der Fonds nicht mit ausreichenden
Mitteln bestückt wird. So plant das Finanzministerium,
entsprechend der Abwrackprämie einmalig eine Ge-
samtsumme für die Erstattung der Umstellungskosten
für drahtlose Produktionsmittel in den Bundeshaushalt
einzustellen. Sind die Mittel aufgebraucht, werden die
Antragsteller, die erst zu einem späteren Zeitpunkt die
Mittel beantragen, nicht mehr berücksichtigt.

Da es voraussichtlich Voraussetzung für den
Anspruch sein wird, dass eine Störung aufgrund der
Nutzung entweder bereits eingetreten ist oder aber in
absehbarer Zeit erfolgt, würde Folgendes passieren:



gegebene Reden

Martin Dörmann


(A) (C)



(D)(B)

Diejenigen, bei denen die Umstellung schon bald er-
folgt, hätten noch Glück gehabt, weil sie Geldmittel aus
dem Topf beziehen könnten. Ist jedoch der Fonds erst
einmal leer geräumt, würden alle anderen in die Röhre
schauen. Somit benachteiligt dieses Verfahren alle Un-
ternehmen und öffentlichen Einrichtungen, die erst im
weiteren Verlauf der Umstellungsfrist konkret von Stö-
rungen betroffen sind.

Erschwerend kommt hinzu, dass öffentliche Einrich-
tungen besonders benachteiligt sind. Denn aufgrund der
verwaltungs- und haushaltsrechtlichen Vorgaben benö-
tigen sie mehr Zeit, bevor sie einen Antrag stellen kön-
nen. Dies würde im Ergebnis dazu führen, dass die mit
öffentlichen Mitteln finanzierten Einrichtungen erst
recht leer ausgehen müssten.

Von daher ist es notwendig, ein differenziertes Verfah-
ren zu entwickeln, das allen Anspruchsberechtigten eine
faire Chance einräumt und nicht diejenigen bevorzugt,
die nach dem Windhundprinzip als Erste einen Antrag
stellen können. Da gerade auch viele kommunale Ein-
richtungen betroffen sind, würden ansonsten insbeson-
dere die Kommunalfinanzen zusätzlich belastet.

In diesem Zusammenhang sei ergänzend folgendes
Problem erwähnt: Die Betreiber drahtloser Produk-
tionsmittel werden darauf angewiesen sein, dass die Mo-
bilfunkunternehmen möglichst frühzeitig über ihre Pla-
nungen für den jeweiligen Ausbau informieren. Nur so
können sie rechtzeitig die Umstellung der Mikrofone
oder aber die notwendige Neubeschaffung einplanen.
Insofern tragen auch die Mobilfunkunternehmen eine
Verantwortung dafür, dass die Umstellungen reibungs-
los erfolgen können und Nachteile für alle Beteiligten
unterbleiben. Die Unternehmen sind daher aufgefordert,
die Gespräche mit den Betroffenen möglichst zeitnah
und transparent zu führen. Hier scheint es noch erhebli-
chen Kommunikationsbedarf zu geben.

Nun wird seitens der Bundesregierung argumentiert,
die Frequenzumstellung diene ja auch den Ländern und
Kommunen, weil hierdurch der Ausbau mobiler Breit-
bandanwendungen vorangetrieben werden könne, von
denen alle profitieren. Deshalb sei es angemessen, dass
sich auch die Länder an den Kosten beteiligen. Diese
Argumentation verkennt jedoch Folgendes: Zum einen
hat sich der Bund ausdrücklich dazu verpflichtet, alle
notwenige Umstellungskosten in angemessener Höhe al-
leine zu übernehmen. Zum anderen ist es auch gerecht-
fertigt, dass diese Kosten gänzlich vom Bund getragen
werden. Denn der Bund hat finanziell erheblich von der
Frequenzversteigerung profitiert. Alleine durch den be-
troffenen Frequenzbereich der sogenannten digitalen
Dividende wurden Versteigerungserlöse in Höhe von
rund 3,6 Milliarden Euro erzielt, die in den Bundeshaus-
halt und eben nicht in die Länderhaushalte fließen. Von
daher ist es mehr als gerechtfertigt, dass der Bund einen
Teil dieser Erlöse dafür aufwendet, die Folgekosten zu
bewältigen.

Wir fordern deshalb die Bundesregierung auf, ihrer
Verantwortung gerecht zu werden und gegebene Zusa-
gen einzuhalten. Lassen Sie die Kommunen und kleinen
Zu Protokoll
Theater nicht im Regen stehen! Ich bitte Sie vor diesem
Hintergrund um Zustimmung zu unserem Antrag.


Burkhardt Müller-Sönksen (FDP):
Rede ID: ID1707131300

Die „Digitale Dividende“ ist ein zentraler Bestandteil

unserer Breitbandstrategie, weil sie den Telekommunika-
tionsunternehmen eigene wirtschaftliche Anreize gibt,
in die flächendeckende Versorgung gerade der länd-
lichen Regionen mit leistungsfähigen Internetanschlüs-
sen zu investieren. Denn nur wenn neben modernen,
leitungsgebundenen Netzen auch leistungsstarke Funk-
technologien zum Einsatz kommen, das zur Verfügung
stehende Spektrum an Funkfrequenzen also effizient ge-
nutzt wird, können die sogenannten „weißen Flecken“
im ländlichen Raum Deutschlands geschlossen und die
europäische Strategie eines digitalen Binnenmarkts um-
gesetzt werden.

Das fragliche Frequenzspektrum ist begrenzt. Damit
es im Sinne der Breitbandstrategie genutzt wird, darf die
Nutzungsmöglichkeit nicht allein den Kräften des Mo-
bilfunkmarktes überlassen werden. Die Bundesnetz-
agentur reguliert den Wirtschaftsmarkt auf diesem Sek-
tor deshalb pro-aktiv unter Berücksichtigung aller
Interessen, also gleichermaßen wirtschaftlicher wie
ideeller. Ziel unserer Frequenzpolitik ist die Sicherstel-
lung einer effizienten und störungsfreien Frequenznut-
zung unter Gewährleistung eines chancengleichen und
funktionsfähigen Wettbewerbs.

Durch die jüngste Zuteilung im August dieses Jahres
wurden sowohl ehemals militärisch genutzte als auch
die durch die Umstellung auf digitalen Rundfunk frei ge-
wordenen Frequenzen als sogenannte „Digitale Divi-
dende“ zur Umsetzung der Breitbandstrategie an die
Mobilfunkunternehmen vergeben. Hiervon eingeschlossen
waren auch Frequenzen im Bereich 790 bis 862 Mega-
herz, die als wichtiges Element einer unterstützenden
Frequenzpolitik Engpässe ausgleichen sollen. Noch bis
2015 stehen diese Frequenzen auf Grundlage einer All-
gemeinzuteilung der Bundesnetzagentur dem Rundfunk
sowie den Nutzern drahtloser Produktionstechnik, wie
eben Funkmikrofonanlagen es sind, zur Verfügung.

Für den Zeitraum ab 2015 hat die Bundesnetzagentur
alternative Frequenzen zur Nutzung durch Funkmikro-
fontechnik zugeteilt und veröffentlicht. Frequenzen im
Bereich von 1785 bis 1800 Megaherz standen ohnehin
schon vor der Neuzuteilung an die Mobilfunkunterneh-
men als Alternative zur Verfügung.

Insofern beugt die Bundesregierung bereits im Vor-
feld der tatsächlichen Nutzung durch den Mobilfunk im
Jahr 2015 Störungen vor, und es bleibt jedem Funkmi-
krofonbetreiber unbenommen, bei der Bundesnetzagen-
tur sehr kostengünstig Einzelzuteilungen in anderen
Frequenzbereichen zu beantragen. Hierfür kommt na-
mentlich der untere UHF-Bereich zwischen 470 bis
790 Megaherz in Betracht, mit Ausnahme von 606 bis
614 Megaherz. Innerhalb dieses Bereiches können die
tatsächlichen Betriebsfrequenzen in dem jeweils zuge-
teilten Frequenzbereich durch den Zuteilungsinhaber
selbst ausgewählt werden, sofern vorrangige Anwen-



gegebene Reden

Burkhardt Müller-Sönksen


(A) (C)



(D)(B)

dungen, insbesondere der Fernsehempfang, nicht ge-
stört werden.

Damit ist ein wichtiges Ziel erreicht: Die Nutzer
drahtloser Produktionstechnik haben auch für den Zeit-
raum nach 2015 Planungssicherheit bezüglich der
Frage, auf welchen Frequenzen drahtlose Mikrofone
und andere Bühnentechnik künftig funken dürfen.

Im Übrigen ergab sich auch aus der geltenden Allge-
meinzuteilung keinesfalls Bestandsschutz für die bishe-
rigen Nutzer. Denn es ist der Frequenzzuteilung imma-
nent, dass sie nur befristet erfolgt, um flexibel auf
technische Entwicklungen reagieren zu können. Aller-
dings soll den bisherigen Nutzern auch kein Nachteil
durch den Wechsel auf andere Frequenzen entstehen.

Bereits im Vorfeld der Frequenzzuteilung zeichnete
sich ab, dass einige Rundfunksendeunternehmen und Se-
kundärnutzer, nämlich insbesondere Kultur- und Bil-
dungseinrichtungen, ihre Technik umrüsten oder sogar
gänzlich erneuern müssen, weil ihre Technik sich nicht
in einen anderen Frequenzbereich umschalten lässt. Wir
unterstützen ausdrücklich die Zusage seitens des Bundes-
wirtschaftsministeriums, in diesen Fällen eine Zuwen-
dung nach § 23 BHO zu gewähren.

Diese Zusage war aber bereits ein wesentlicher
Bestandteil des Kompromisses mit den Ländern zur Bun-
desratsentscheidung über die Frequenzbereichszuwei-
sungsplanverordnung, sodass die Frage, ob es Entschä-
digungen geben wird, längst entschieden ist: Der Bund
wird die Umstellungskosten insbesondere der Kultur-
und Bildungseinrichtungen in angemessener Form tra-
gen.

Was in diesem Zusammenhang angemessen ist, ist na-
turgemäß umstritten. Die Höhe der Zuwendungen wird
derzeit zwischen Bund und Ländern verhandelt. Wir ha-
ben bereits bei der Beratung der vorliegenden Anträge
im Kulturausschuss deutlich gemacht, dass Nachteile
gerade für Kultur- und Bildungseinrichtungen vermie-
den werden müssen.

Angesichts der Bemühungen aller Ressorts, den
Haushalt zu konsolidieren, werden wir aber weder das
Füllhorn noch die Gießkanne ausschütten. Vielmehr for-
dern wir von den betroffenen Einrichtungen den konkre-
ten Kostennachweis und interpretieren die dem Antrag
der Linksfraktion zugrunde liegenden Zahlen als Hoff-
nung auf umfassende Sanierungszuschüsse. Denn aus
Gesprächen mit Betroffenen kann ich berichten, dass
viele Einrichtungen auf die Umrüstungen eingestellt
sind und entsprechende Rücklagen gebildet haben. De-
ren Nachteile durch die nötigen vorzeitigen Neuinvesti-
tionen sollen mit den geplanten Zuwendungen ausgegli-
chen werden, ohne sie aus ihrer betriebswirtschaftlichen
Verantwortung für die Instandhaltungskosten zu entlas-
sen. Insofern fordern wir als Voraussetzung einer Zu-
wendung den Nachweis, dass die betroffene Einrichtung
ihre Technik nur aufgrund der Frequenzzuteilung um-
rüsten muss, obwohl sie im Übrigen funktionstauglich
ist.

Derzeit erarbeitet eine Arbeitsgruppe von Bundes-
wirtschaftsministerium und Bundesfinanzministerium
Zu Protokoll
mit den Ländern ein Verfahren der Kostenermittlung.
Wir wollen dieser Arbeitsgruppe nicht vorgreifen und
insbesondere keine Vorfestlegung auf die Ermittlung des
Buchwerts treffen. Dies wäre ohnehin nur bei gewerbli-
chen Nutzern möglich; es gibt aber auch eine Reihe von
nicht gewerblichen Nutzern – Amateurtheater, kirchli-
che Einrichtungen und Ähnliche –, für die eine solche
Kostenermittlung nicht anwendbar wäre. Die Kostener-
mittlungsmethode muss vielmehr auf alle Nutzer glei-
chermaßen anwendbar sein.

Im Ergebnis kann nur eine Kostenerstattung von kau-
salen Kosten der Umstellung erfolgen; eine Überkom-
pensationen gilt es dabei zu vermeiden.


Katrin Kunert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707131400

Heute beraten wir in diesem Hause abschließend

unseren Antrag, kulturelle Einrichtungen vor Folge-
schäden aus der Frequenzversteigerung der digitalen
Dividende zu bewahren. Zur Erinnerung seien die wich-
tigsten Fakten nochmals in aller Kürze zusammenge-
fasst. Die Bundesnetzagentur hat Frequenzen, die durch
die Umstellung der terrestrischen Fernsehübertragung
von anlog auf digital frei geworden sind, für insgesamt
4,38 Milliarden Euro versteigert. Die mit diesem Vor-
gang verbundene Umwidmung des betreffenden Fre-
quenzbereichs führt dazu, dass die in Kultureinrichtun-
gen derzeit üblichen drahtlosen Mikrofone nicht mehr
genutzt werden können. Die Kosten für eine entspre-
chende Umrüstung werden auf bundesweit bis zu
3,3 Milliarden Euro geschätzt.

Wenn die Bundesregierung angesichts dieses Sach-
verhalts erklärt, sie wolle die betroffenen Einrichtungen
grundsätzlich für die erforderlichen Um- und Nachrüs-
tungen entschädigen, ist dies als erster kleiner Schritt in
die richtige Richtung natürlich zu begrüßen. Wir sind al-
lerdings nach wie vor der Ansicht, dass die Bundesregie-
rung mehr tun muss. Zunächst muss klargestellt werden,
dass ein etwaiger Ausgleich von Kosten für Um- und
Nachrüstung nicht unter einen Vorbehalt gestellt wird.
Nicht nachvollziehbar ist für uns in diesem Zusammen-
hang das Argument, ein vollumfänglicher Ersatz der
notwendigen Um- und Nachrüstkosten sei wegen der
Haushaltslage des Bundes nicht möglich. Wie bereits
eingangs ausgeführt, sind dem Bundeshaushalt durch
die Versteigerung Mittel zugeflossen, die deutlich über
dem Wert liegen, der für einen vollumfänglichen Ersatz
der Umrüstkosten angesetzt wird. Auch wenn die Ver-
steigerungserlöse haushaltsrechtlich nicht an einen be-
stimmten Zweck gebunden werden dürfen, darf bei der
Diskussion nicht außer Acht bleiben, dass der Bund
durch die Versteigerung immerhin zusätzliche Einnah-
men erzielt hat.

Nicht hinnehmbar ist für uns auch die Einschrän-
kung, dass der Bund – wenn überhaupt – lediglich Ent-
schädigungen in angemessener Höhe leisten will. Der
Antrag der Kolleginnen und Kollegen der SPD-Bundes-
tagsfraktion spricht in diesem Zusammenhang bedauer-
licherweise ebenfalls nur von einer angemessenen Ent-
schädigung. Für uns kann nur dann sichergestellt
werden, dass kulturelle Einrichtungen an dieser Stelle



gegebene Reden

Katrin Kunert


(A) (C)



(D)(B)

nicht zu Leidtragenden der technischen Entwicklung
werden, wenn durch den Bund in voller Höhe Ersatz für
die tatsächlich anfallenden Kosten geleistet wird. Inso-
weit besteht Übereinstimmung mit den Kolleginnen und
Kollegen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die die-
ses Ziel durch Schaffung einer entsprechenden gesetzli-
chen Grundlage ebenfalls erreichen wollen. Geradezu
absurd sind die Vorstellungen, die offenbar bei einigen
Mitgliedern der Regierungskoalition bestehen, es sei mit
einem Missbrauch von Bundesgeldern durch die kultu-
rellen Einrichtungen zu rechnen. Gleiches gilt für Be-
fürchtungen, es könnte zu einer Überkompensation kom-
men.

Wenig zielführend sind auch Verdachtsäußerungen,
die Länder könnten versuchen, die Situation der Fre-
quenzumstellung zu nutzen, um die Übernahme von oh-
nehin notwendigen Investitionen durch den Bund zu
erreichen, um so zu Einsparungen in ihren eigenen Kul-
turetats zu kommen. Es sei gerade in diesem Zusammen-
hang nochmals daran erinnert, dass die Träger der kul-
turellen Einrichtungen in vielen Fällen die Kommunen
sind. Es wäre nicht das erste Mal, dass finanzielle Strei-
tigkeiten zwischen dem Bund und den Ländern im Er-
gebnis dazu führen, dass das schwächste Glied in der
Kette, nämlich die Kommunen, auf den Kosten – auf
deren Entstehung sie keinen Einfluss hatten – sitzen blei-
ben. Bei der aktuellen Finanzkrise fällt es vielen Kom-
munen ohnehin schwer, ihr Angebot an kulturellen Ein-
richtungen für die Bürger aufrechtzuerhalten. Um- und
Nachrüstkosten, die im Einzelfall auch einen sechsstelli-
gen Betrag erreichen, können in Kommunen mit ange-
spannter Haushaltslage für einzelne kulturelle Einrich-
tungen schnell zu einem existenziellen Problem werden.

Es geht mithin auch darum, die finanziellen Voraus-
setzungen dafür zu schaffen, dass ein vielfältiges kultu-
relles Angebot weiterhin bestehen kann. Ich bitte daher
um Zustimmung zu unserem Antrag.


Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1707131500

Frequenzen sind ein knappes Gut. Fernsehen, Radios,

Theater, Musikbühnen, Kongresszentren und natürlich
Mobilfunkbetreiber nutzen Frequenzen, und für sie alle
sind Frequenzen ebenso elementar wie die Schienen für
die Eisenbahn. Ohne Frequenzen könnten wir Fernseh-
programme nur über Kabel empfangen, unterwegs kein
Radio hören, wir könnten unsere Handys nicht nutzen
und auf der Musikbühne müssten Sänger mit Kabeln he-
rumlaufen. Kurzum: Drahtlose Dienste sind nur mit Fre-
quenzen nutzbar, so wie die Eisenbahn Schienen zum
Fahren braucht. Für die Nutzung von Frequenzen muss
– genauso wie bei der Bahn – die richtige Infrastruktur
geschaffen werden, und das kostet Geld. So haben viele
Bühnen Mikrofonanlagen angeschafft, um drahtlose
Dienste zu nutzen und so mit der Zeit zu gehen.

Im Frühjahr dieses Jahres wurde nun für rund 4 Mil-
liarden Euro ein Teil dieses knappen Guts versteigert.
Um es hier deutlich zu sagen: Es war die richtige Ent-
scheidung, dieses Frequenzspektrum an den Mobilfunk
zu geben, und zwar unter der Bedingung, den ländlichen
Raum auf dem mobilen Weg an das schnelle Internet an-
Zu Protokoll
zubinden. Auf dem Funkweg sollen die weißen Flecken
der Breitbandversorgung geschlossen werden. Das ist
eine Chance, das Internet in ländliche Regionen zu brin-
gen. Denn es ist teuer, Breitbandkabel bis an jede Haus-
tür zu verlegen. Bis heute sind immer noch Tausende
Haushalte vom schnellen Internet – wenn sie überhaupt
einen Internetzugang haben – ausgeschlossen. Gerade
in ländlichen Regionen ist das ein gravierender Stand-
ortnachteil für die Bevölkerung und vor allem auch für
die regionale Wirtschaft. Nicht nur in meinem Bundes-
land ist das ein großes Problem.

Was aber passiert, wenn man Frequenzen neu zuteilt?
Welche Folgen hat dies für die bisherigen Nutzer, also
beispielsweise die Theater- und Musikbühnen, die zu-
künftig andere Frequenzen nutzen müssen? Das ist so,
als würde der Bahn ein neues Schienennetz zugewiesen
werden, bei dem beispielsweise der Abstand zwischen
den Gleisen geringer wäre. Dann müsste die Bahn ihre
Züge umkonstruieren oder neue erwerben, um das
Schienennetz nutzen zu können. Diese Umstellung ist
ebenfalls mit hohen Kosten verbunden.

So ähnlich geht es den bisherigen Nutzern der im
April versteigerten Frequenzen. Diese bekommen nun
einen neuen Platz im Äther zugewiesen. Allerdings kön-
nen die alten Geräte nicht alle einfach auf einen neuen
Frequenzbereich umgestellt werden und müssen neu er-
worben werden. Diese Folgekosten, die in der Summe
die Milliardengrenze überschreiten können, wurden lei-
der bei der Entscheidung der Frequenzumwidmung
nicht ehrlich angesprochen. Sicher ist aber, dass wir
heute ein Problem haben. Deshalb haben die Fraktionen
der Opposition Anträge zu diesem Thema gestellt.

Auch der Rundfunk ist von der Umverteilung der Fre-
quenzen betroffen. Der Rundfunk hat diese Frequenzen
zuvor genutzt – benötigt nun aber durch die Digitalisie-
rung weniger davon. Deshalb haben Rundfunknutzer
Platz gemacht, damit die Frequenzen anders genutzt
werden können. Allerdings kann der Rundfunk jetzt von
Störungen betroffen sein. Denn die mobilen Endgeräte,
zum Beispiel Smartphones, können die Übertragung von
Rundfunk via DVB-T stören. Mann stelle sich vor: Mein
Nachbar geht mit dem Handy ins Internet und deshalb
krisselt dann möglicherweise der Bildschirm meines
Fernsehers. Auch diese Folgen zu beheben, wird Geld
kosten.

Ich hoffe, diese Beispiele machen Ihnen deutlich, wel-
che Folgen wir durch diese Entscheidung haben. Die
Bundesregierung wird ihrer Verantwortung hier nicht
gerecht. Die Bundesregierung hat den Ländern bei den
Verhandlungen zwar die Kostenerstattung zugesagt, war
aber geschickt genug, diese nicht als Rechtsanspruch
festzulegen. Die Länder, die für die Frequenzzuteilung
zuständig sind und nur unter der Bedingung zugestimmt
hatten, entsprechend entschädigt zu werden, führen
deshalb nun zähe Verhandlungen mit unserer Bundesre-
gierung. Sie müssen um Geld bitten, das der Bund über-
haupt nicht hätte, wenn der Rundfunk und die Funk-
mikrofonnutzer nicht ihren Platz geräumt hätten. Der
Bund hat durch die Versteigerung der Frequenzen im
Frühjahr rund 4 Milliarden Euro eingenommen, stellt



gegebene Reden





Tabea Rößner


(A) (C)



(D)(B)

aber bislang nur eine Entschädigungssumme von
125 Millionen Euro zur Verfügung. Das ist eine Schief-
lage und geht zulasten der Kommunen, die vom Bund
durch die Politik der letzten Jahre ohnehin schon in eine
miserable finanzielle Lage gebracht wurden.

Wir Grüne setzen uns für einen schnellen Ausbau von
Breitband im ländlichen Raum ein. Deshalb haben wir
es begrüßt, dieses Ziel mit der Vergabe von Frequenzen
an den Mobilfunk zu verknüpfen. Allerdings haben wir
ein Problem damit, dass sich der Bund die Einnahmen
aus der Versteigerung in die Tasche steckt und die Leid-
tragenden der Frequenzumstellung im Regen stehen
lässt. Mit unserem grünen Antrag fordern wir deshalb,
den Geschädigten der Frequenzumstellung einen
Rechtsanspruch auf Entschädigung einzuräumen, damit
diese nicht auf den Kosten für die Umstellung sitzen
bleiben. Nur auf diesem Weg bekommen Theater, Kon-
zerthäuser und Rundfunkveranstalter die nötige finan-
zielle Sicherheit.

Die Vertreterinnen und Vertreter der Bundesregie-
rung, die sich bei der Bahn um die entsprechende Infra-
struktur kümmern, bitte ich: Setzen Sie die Kultur wieder
aufs richtige Gleis, damit Rundfunk und Bühnen freie
Fahrt haben. Deshalb bitte ich um die Unterstützung un-
seres Antrags.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1707131600

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-

empfehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Techno-
logie auf Drucksache 17/3694. Der Ausschuss empfiehlt
unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Druck-
sache 17/3177 mit dem Titel „Betroffene Kultureinrich-
tungen nach Frequenzumstellung für drahtlose Mikrofone
angemessen entschädigen“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Ko-
alitionsfraktionen bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion
und Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
und der Fraktion die Linke angenommen.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ableh-
nung des Antrags der Fraktion die Linke auf Drucksache
17/2416 mit dem Titel „Kulturelle Einrichtungen vor Fol-
geschäden aus der Frequenzversteigerung der digitalen
Dividende bewahren“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen, der SPD-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen bei Gegenstimmen der Fraktion
die Linke angenommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
stabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/2920 mit dem Titel „Kultur und Rundfunk
nicht durch die Frequenzumstellung schädigen“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer ist dage-
gen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegen-
stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der
Fraktion die Linke sowie bei Enthaltung der SPD-Frak-
tion angenommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 30 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zur
Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetz-
buch

– Drucksachen 17/3631, 17/3683 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO


Thomas Dörflinger (CDU):
Rede ID: ID1707131700

Wir debattieren heute den Gesetzentwurf der Bundes-

regierung zu einem Siebten Gesetz zur Änderung des
Sozialgesetzbuchs II; konkret geht es dabei um die
Frage, wie und in welcher Höhe die Beteiligung des
Bundes an den Kosten für Unterkunft und Heizung für
das Jahr 2011 geregelt werden soll.

Nach den Vorstellungen der Bundesregierung soll die
Beteiligung des Bundes um 1,5 Prozentpunkte auf dann
durchschnittlich 25,1 Prozent steigen. Das führt zu einer
Entlastung der Kommunen um 2,5 Milliarden Euro und
leistet damit einen deutlichen Beitrag zur Verbesserung
der finanziellen Situation in den Kommunen. Damit lösen
die Bundesregierung und die sie tragenden Fraktionen
aus Union und FDP auch eine Zusage aus dem Koali-
tionsvertrag ein, was in der gegenwärtig durchaus ange-
spannten Finanzlage sowohl des Bundes als auch der
Kommunen ein beachtenswerter Vorgang ist.

Nach den Vorgaben des § 46 Abs. 7 und 8 SGB II ist
die Höhe der Bundesbeteiligung an den Kosten von Un-
terkunft und Heizung ab 2008 dann anzupassen, wenn
die Veränderung in der Zahl der Bedarfsgemeinschaften
im Jahresdurchschnitt mehr als 0,5 Prozent beträgt. Das
Bundesministerium für Arbeit und Soziales hat eine sol-
che Veränderung von 2,2 Prozent errechnet. Damit sind
die Voraussetzungen für eine Anpassung gegeben.

Wenn ich mir die Diskussionen zum Thema Kosten
der Unterkunft im Ausschuss für Arbeit und Soziales,
etwa die am 30. November des Vorjahres durchgeführte
Anhörung, ins Gedächtnis zurückrufe, ist wohl zu erwar-
ten, dass wir nach dieser ersten Lesung im Ausschuss
neben der Höhe der Bundesbeteiligung auch wieder die
grundsätzliche Frage diskutieren, ob die Veränderung in
der Zahl der Bedarfsgemeinschaften der richtige Be-
rechnungsmodus ist oder nicht. Deswegen will ich
gleich an dieser Stelle eine Bemerkung zur Genese die-
ser Berechnungsmethode machen:

Die Anpassungsformel wurde 2007 von der Großen
Koalition aus Union und SPD unter der Federführung
des seinerzeitigen Arbeitsministers Olaf Scholz einge-
führt. Seinerzeit bestand Konsens darüber, dass die Zahl
der Bedarfsgemeinschaften respektive deren zahlenmä-
ßige Veränderung die Grundlage für die Berechnung des

Thomas Dörflinger


(A) (C)



(D)(B)

Bundesanteils bilden soll. Ich bin gespannt, wie sich unser
früherer Koalitionspartner SPD in der anstehenden Dis-
kussion einlässt, wenn die christlich-liberale Koalition
nun die Fortsetzung eines damals gemeinsam als richtig
erkannten Weges beschreitet.

Und ich füge an: Sollte sich auch an diesem Punkt
zeigen – wie etwa bei der heute Nachmittag geführten
Debatte um die Rente mit 67 –, dass Sie Ihre eigene Ver-
gangenheit als Bundesregierung herzlich wenig interes-
siert, wenn es darum geht, die Linkspartei links überholen
zu wollen, dann ist dies alles andere als glaubwürdig.
Sie sollten die Menschen nicht für vergesslicher halten,
als sie tatsächlich sind.

Mir ist wohl bewusst, dass es bei der grundsätzlichen
Frage, ob die Berechnungsmethode geeignet ist, bei-
spielsweise zwischen dem Deutschen Landkreistag und
den Koalitionsfraktionen aus Union und FDP unter-
schiedliche Auffassungen gibt. Nur: Wer vor drei Jahren
als Bundesregierung dem Deutschen Landkreistag wider-
sprochen hat, kann ihm heute als Opposition schlecht
beipflichten. So etwas fällt auf.

Um einen Satz zu der Berechnungsmethode selbst zu
sagen: Ich habe nach wie vor meine deutlichen Zweifel,
ob die Orientierung an den tatsächlichen kommunalen
Ausgaben für Unterkunft und Heizung den zielführende-
ren Weg darstellt. Es ist wohl schlecht zu bestreiten, dass
dieser Weg hinsichtlich des Verwaltungsaufwandes, um
es einmal vorsichtig zu formulieren, der anspruchsvol-
lere ist. Wenn wir an anderer Stelle, etwa beim Thema
Steuerrecht, aus meiner Sicht richtigerweise den Weg
über eine Ausweitung von Pauschalen diskutieren, um
insbesondere die Bürokratiekosten für alle Beteiligten
im Zaum zu halten, dann sollten wir beim Thema Kosten
der Unterkunft nicht das konkrete Gegenteil dessen tun.

Ich fasse zusammen: Der Bund wird mit dem vorge-
legten Gesetzentwurf des Bundesarbeitsministeriums
seiner im SGB II festgelegten Verantwortung zur
Kofinanzierung der Kosten für Unterkunft und Heizung
gerecht. Der Bund leistet mit den sich aus der Kostenbe-
teiligung ergebenden finanziellen Entlastung der Kom-
munen in Höhe von 2,5 Milliarden Euro trotz eigener
Haushaltsnöte, die wir in diesen Stunden bei der Berei-
nigungssitzung des Haushaltsausschusses deutlich erle-
ben können, einen wichtigen und guten Beitrag zur Sta-
bilisierung der kommunalen Kassen. Es ist ein Beitrag,
der gleichzeitig Armut und sozialer Ausgrenzung vor-
beugt und damit den sozialen Zusammenhalt in unserem
Land stärkt.

Ich freue mich auf konstruktive und zügige Beratun-
gen im Ausschuss für Arbeit und Soziales, damit das Ge-
setz pünktlich zum 1. Januar des kommenden Jahres in
Kraft treten kann.


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1707131800

Zur jährlichen Anpassung der Unterkunftskosten rei-

ben sich Bund und Länder immer wieder aneinander, so
auch im Vorfeld des Siebten Gesetzes zur Änderung des
SGB II.
Zu Protokoll
Die Beteiligung des Bundes an den Leistungen für Un-
terkunft und Heizung in Höhe von bundesdurchschnitt-
lich 25,1 Prozent im Jahr 2011 gewährleistet, dass die
Kommunen entsprechend § 46 Abs. 5 SGB II in angemes-
senem Umfang entlastet werden. Für den Bund würden
diese Beteiligungssätze im Jahr 2011 voraussichtlich zu
einer finanziellen Belastung in Höhe von rund 3,6 Mil-
liarden Euro führen. Gegenüber dem Haushaltssoll 2010
von 3,4 Milliarden Euro wird der Bund damit um rund
0,2 Milliarden Euro mehr belastet.

In diesem Zusammenhang möchte ich nur erwähnen:
Der frühere Wirtschafts- und Arbeitsminister Clement
war der Meinung, der Bund müsse sich nicht an den
Kosten für Unterkunft und Heizung beteiligen, weil die
Entlastung der Kommunen um 2,5 Milliarden Euro
schon ohne die Bundesbeteiligung erreicht werde. Dem
hat die Union immer widersprochen. Sie hat in der Gro-
ßen Koalition durchgesetzt, dass sich der Bund ange-
messen an den Kosten beteiligt.

Das in § 46 SGB II ursprünglich vorgesehene Verfah-
ren, die Höhe der Bundesbeteiligung auf der Grundlage
einer jährlichen Be- und Entlastungsrechnung für die
Kommunen anzupassen, wie es in den ersten beiden Jah-
ren praktiziert wurde, hatte sich als nicht zweckmäßig
erwiesen. Dennoch waren alle Beteiligten der Auffas-
sung, dass auf eine jährliche Anpassung der erforderli-
chen Höhe der Bundesbeteiligung nicht verzichtet wer-
den kann. Aus diesem Grund haben Bund und Länder
gemeinsam nach intensiven Verhandlungen Ende 2006
einen Kompromiss mit zwei wesentlichen Elementen ge-
funden. Dieser wurde anschließend im SGB-II-Ände-
rungsgesetz vom 22. Dezember 2006 festgehalten und
gab dem § 46 SGB II seine derzeitige Fassung.

Der Kompromiss von 2006 war mit einem finanziellen
Entgegenkommen des Bundes verbunden: Die Bundes-
beteiligung für das Jahr 2007 wurde auf durchschnitt-
lich 31,8 Prozent festgelegt. Dies entsprach einem sei-
nerzeit erwarteten Finanzvolumen von rund 4,3 Milli-
arden Euro, das auch tatsächlich erreicht wurde. Allein
in der letzten politischen Abstimmungsrunde hat der
Bund ein Zugeständnis von 400 Millionen Euro ge-
macht. Darüber hinaus hat der Bund damals der Forde-
rung der Länder nach gesonderten Länderquoten nach-
gegeben.

Das andere wesentliche Element des Kompromisses
war, dass die Höhe der Bundesbeteiligung in den Jahren
ab 2008 nach einer belastbaren und gemeinsam festge-
legten Formel berechnet wird. Der Bundesrat hat am
15. Dezember 2006 mit breiter Mehrheit dieser Formel
zugestimmt, wonach die Höhe der Bundesbeteiligung
jährlich in Abhängigkeit von der Entwicklung der Zahl
der Bedarfsgemeinschaften verändert wird.

Bund und Länder haben sich im Übrigen 2008 auf die
unbefristete Beibehaltung der Anpassungsformel ver-
ständigt. Diese Verständigung erfolgte im Rahmen wei-
terer zusätzlicher Entlastungen der Kommunen durch
den Ausbau gegenüber dem Arbeitslosengeld II vorran-
giger Leistungen wie Kinderzuschlag und Wohngeld.
Dadurch konnten die rund 70 000 Bedarfsgemeinschaf-
ten, die ausschließlich aufstockende Wohnleistungen der



gegebene Reden

Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)

Kommunen bezogen, die Hilfebedürftigkeit verlassen.
Darüber hinaus war die Entfristung der Anpassungsfor-
mel mit einer weiteren zusätzlichen Entlastung bei der
Bundesbeteiligung bei der Grundsicherung im Alter und
bei Erwerbsminderung nach § 46 a SGB XII verbunden.

Indem er sich bewusst an der Zahl der Bedarfsge-
meinschaften orientiert, trägt der Bund das arbeits-
marktliche Risiko. Demgegenüber sind die anfallenden
Kosten der Unterkunft und Heizung der einzelnen Be-
darfsgemeinschaften vor Ort von den Kommunen zu
steuern. Die Prüfung, ob und wie angemessen die Wohn-
kosten in den Einzelfällen sind, ihre Steuerung und
Finanzierung sind Aufgabe der Kommunen. Das zeich-
net die Kommunen mit ihren speziellen Orts- und Fach-
kompetenzen, aber auch mit der damit verbundenen Ver-
antwortung aus.

Eine Anpassung der Bundesbeteiligung an die tat-
sächlichen Aufwendungen der Kommunen wäre nicht
sachgerecht. Zunächst würden hierdurch jegliche Kos-
tenschwankungen bei den Wohnkosten durch den Bund
getragen werden. Das würde auch solche einschließen,
die die Kommunen ohne die Einführung der Grund-
sicherung für Arbeitsuchende ohnehin hätten überneh-
men müssen, zum Beispiel allgemeine Preissteigerun-
gen. Des Weiteren würde eine solche Berechnungsbasis
die Anreize der Kommunen, die Angemessenheit der
Wohnkosten zu prüfen, erheblich reduzieren.

Aus dieser Position heraus ist auch für 2011 keine Al-
ternative zur Anwendung der gesetzlich festgelegten An-
passungsformel zu sehen. Um eine gesetzliche Grund-
lage für die Bundesbeteiligung für 2011 sicherzustellen,
hat das Kabinett am 13. Oktober 2010 dem Entwurf für
ein Siebtes Gesetz zur Änderung des SGB II zuge-
stimmt. Demnach wird die Bundesbeteiligung im Jahr
2011 auf bundesdurchschnittlich 25,1 Prozent steigen.

Ich will zusammenfassen: Der vorliegende Anpas-
sungsentwurf ist sachgerecht. Dabei nehmen wir die fi-
nanziellen Sorgen der Kommunen sehr ernst. Bei allen
Änderungen, die es in den letzten Jahren gegeben hat,
hat der Bund immer wieder Zugeständnisse an die kom-
munale Seite gemacht. Dieser Bundesregierung sind das
Miteinander mit den Kommunen und ein partnerschaft-
licher Umgang sehr wichtig.


Angelika Krüger-Leißner (SPD):
Rede ID: ID1707131900

Die Höhe der Bundesbeteiligung bei den Kosten der

Unterkunft ist ein wichtiges, ständig wiederkehrendes
Thema. Hintergrund ist die gesetzlich festgeschriebene
Anpassungsformel gemäß § 46 Absatz 7 und 8 SGB II.

Das haben so die Länder und der Bund 2007 verein-
bart. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf der Bundes-
regierung soll der Beteiligungssatz des Bundes für die
zweckgebundenen Leistungen der kommunalen Träger
für Unterkunft und Heizung nun erneut angepasst wer-
den. Das geschieht nicht zum ersten Mal, denn wir ha-
ben uns bei der Festlegung der Beteiligung bewusst da-
für entschieden, dass regelmäßig, nämlich Jahr für Jahr,
eine Überprüfung der Höhe und gegebenenfalls eine
Neubemessung erfolgen muss.
Zu Protokoll
Steigt die jahresdurchschnittliche Zahl der Bedarfs-
gemeinschaften um mehr als 0,5 Prozent, dann ist die
Höhe der Bundesbeteiligung zwingend nach der im
SGB II ausgewiesenen Formel neu zu berechnen und zu
erhöhen. Bei einer Veränderung der Bedarfsgemein-
schaften um plusminus 1 Prozent erfolgt eine Anpassung
des Beteiligungssatzes um plusminus 0,7 Prozent.

Mit dieser Anpassungsformel haben wir uns schon
des Öfteren beschäftigt. Zunächst war sie befristet, seit
2008 gilt sie unbefristet. Auch wenn sie die Länder und
der Bund einvernehmlich beschlossen haben, so führt
sie doch immer wieder zu Unmut bei den Kommunen,
weil dort die Kosten entstehen.

Der vorliegende Entwurf sieht für 2011 Änderungen
vor. Die Kommunen bekommen mehr Geld! – Das ist
Fakt. Ursache ist aber nicht das Wohlwollen der Regie-
rungskoalition, sondern die Berechnungsgrundlage,
nämlich die durchschnittliche Zahl der Bedarfsgemein-
schaften. Sie hat sich im Jahresdurchschnitt im Ver-
gleich der Betrachtungszeiträume Juli 2008 bis Juni
2009 und Juli 2009 bis Juni 2010 bundesweit von
3 528 362 auf 3 606 032 Millionen erhöht – also um
2,2 Prozent.

Dementsprechend muss die Bundesbeteiligung bei
den Kosten der Unterkunft steigen: Für 2011 bedeutet
das eine Erhöhung um 1,5 Prozent.

Für 14 Bundesländer – darunter Brandenburg, aus
dem ich komme – heißt das, dass der Beteiligungssatz
von aktuell 23,0 Prozent auf 24,5 Prozent steigt. Ausnah-
men gibt es nach wie vor für die Länder Rheinland-Pfalz
und Baden-Württemberg. Der Beteiligungssatz für
Rheinland-Pfalz steigt von 33,0 auf 34,5 Prozent, die
Bundesbeteiligung für Baden-Württemberg von 27,0 auf
28,5 Prozent. Auch darüber gibt es Einvernehmen mit
dem Bundesrat. Für den Bund führen diese Beteili-
gungssätze im Jahr 2011 voraussichtlich zu einem An-
stieg der finanziellen Belastung um mindestens 0,2 Mil-
liarden Euro, sodass sich der Haushaltsansatz von
derzeit 3,4 Milliarden Euro erhöhen muss. So weit die
aktuelle Rechtslage und die Fakten wie sie sich aus dem
SGB II ableiten. Doch nur auf den ersten Blick scheinen
dem Gesetzentwurf mit seinen Änderungen zur Höhe der
Bundesbeteiligung keine Bedenken entgegenzustehen.
Rein rechnerisch ist die Vorlage nicht zu beanstanden.
Sie ergibt sich aus dem Gesetz. So ist es beschlossen.

Auf den zweiten Blick – und ich möchte ihn als „Blick
hinter die Kulissen“ formulieren – sieht sich der Gesetz-
entwurf der Bundesregierung aber erheblicher Kritik
ausgesetzt. Dabei geht es allerdings um Grundsätzliches
und nicht um die konkrete Höhe der prozentualen Betei-
ligung, wie sie für das Jahr 2011 berechnet werden
muss. Der „Haken“ liegt vielmehr in der Anpassungs-
formel selbst. Die Gegenvorstellungen zur derzeitigen
Regelung sind nicht neu. Die wesentlichen Kritikpunkte
aus den vorangegangenen Diskussionen, vorgetragen
vor allem von den Ländern, möchte ich deshalb wie folgt
zusammenfassen:

Erstens. Es wird eine Änderung der Anpassungsfor-
mel gefordert. Die Höhe der Bundesbeteiligung soll sich



gegebene Reden

Angelika Krüger-Leißner


(A) (C)



(D)(B)

danach nicht mehr an der Entwicklung der Bedarfsge-
meinschaften orientieren. Stattdessen wollen die Länder
die Berechnung des Beteiligungssatzes entsprechend der
tatsächlichen Ausgaben für Unterkunft und Heizung.
Zweitens. Der bisherige Beteiligungssatz des Bundes
– und so auch der mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
für 2011 neu angepasste – spiegele nicht die tatsächliche
Kostenentwicklung wider. Die gesetzlich vorgeschrie-
bene Entlastung der Kommunen in Höhe von 2,5 Mil-
liarden werde nicht erreicht.

Beides hat der Bundesrat in seiner Stellungnahme zu
dem Gesetzentwurf vom 5. November wieder sehr klar
und unmissverständlich zum Ausdruck gebracht.

Ich nehme die Kritik der Länder sehr ernst. Wenn in
den Jahren 2007 bis 2010 aufgrund der derzeitigen ge-
setzlichen Anpassungsformel Finanzierungslücken ent-
standen sind, die zulasten der kommunalen Haushalte
gehen, sind wir aufgefordert, die Neubemessung anhand
der jahresdurchschnittlichen Veränderung der Zahl der
Bedarfsgemeinschaften zu überdenken. Wie in vielen an-
deren Bereichen ist auch hier die Überprüfung geboten,
wenn sich Probleme zeigen. Eine einmal gefundene und
im Gesetz seit 2007 verankerte Formel ist nicht für alle
Zeiten festgeschrieben. Sie muss jederzeit änderbar
sein, wenn dies gerechtfertigt ist. Die vom Gesetzgeber
2004 ausdrücklich im Rahmen der Beteiligung des Bun-
des an den Kosten der Unterkunft gewollte Entlastung
der Kommunen muss in der Realität auch sichergestellt
werden.

Nach den Berechnungen des Deutschen Landkreista-
ges, auf die sich der Bundesrat stützt, müsste der Betei-
ligungssatz bei Berücksichtigung der tatsächlichen Kos-
ten immerhin bei 35,9 Prozent liegen! – Im Verhältnis
zur aktuellen Berechnung für 2011 mit bundesdurch-
schnittlich 25,1 Prozent also ein Unterschied von
10,8 Prozent! Gründe dafür gibt es viele: gestiegene
Energiekosten, höhere Mieten usw.

Aber viel gravierender ist der finanzielle Einschnitt
für die Kommunen durch das Wachstumsbeschleuni-
gungsgesetz. Das hat Schwarz-Gelb beschlossen. Die
Folge sind Einnahmeausfälle bei den Kommunen in Höhe
von rund 1,6 Milliarden Euro. Diese müssen die Kommu-
nen allein vollständig kompensieren. Dass dies unmög-
lich ist, haben wir erkannt und mit unserem Antrag „Ret-
tungsschirm für Kommunen“ mit vielen Forderungen im
März dieses Jahres in den Deutschen Bundestag einge-
bracht. Unser Ziel muss es sein, handlungsfähige Städte,
Gemeinden und Landkreise zu haben. Das ist die Basis un-
serer Demokratie. Die Steuergesetzgebung der schwarz-
gelben Koalition hat aber die extrem angespannte finan-
zielle Situation der Kommunen dramatisch verschärft.
Um den Umfang kommunaler Aufgaben und Ausgaben
mit den zur Verfügung stehenden Mitteln in Einklang zu
bringen, verlangen wir als kurzfristige Maßnahmen den
Verzicht auf weitere Steuergeschenke, die zu zusätzli-
chen Belastungen der Kommunen führen. Darüber hi-
naus haben wir festgelegt, dass der Bund seine Beteili-
gung an den Kosten der Unterkunft um 3 Prozentpunkte
anhebt und dies für zwei Jahre befristet. Genau dies
Zu Protokoll
bringen unsere Haushälter heute Abend in die Haus-
haltsausschusssitzung ein. Und dann sehen wir weiter.

Mittel- und langfristig muss es uns gelingen, dass die
Kommunen stabile Einnahmequellen haben. Dazu ge-
hört eine gut funktionierende Gewerbesteuer. Das ist die
wichtigste Grundlage. Dazu gehört auch, dass die Betei-
ligung des Bundes an den Kosten der Unterkunft der
Kommunen sich zukünftig mehr und mehr an den tat-
sächlichen Kosten zu orientieren hat. Wir müssen einen
angemessenen Abrechnungsmechanismus finden. Dazu
sind alle Fraktionen und die Länder aufgerufen. Sie se-
hen, der vorliegende Gesetzentwurf löst damit nicht das
finanzielle Problem der Kommunen. Die Verschärfung
der Probleme hat diese Regierung mit ihren Gesetzen in
diesem Jahr geschaffen.


Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1707132000

Jedes Jahr aufs Neue seit 2005 ist der Gesetzgeber

damit beauftragt, den Anteil des Bundes an den Kosten
der Unterkunft und Heizung für Personen in der Grund-
sicherung neu festzulegen. Seit dem Sechsten Gesetz zur
Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch ist ein
knappes Jahr vergangen. Das damals beschlossene Ge-
setz ist noch immer im Vermittlungsverfahren, und damit
ist die Höhe der Beteiligung des Bundes an den Kosten
der Unterkunft und Heizung bis heute noch nicht ab-
schließend für das Jahr 2010 geregelt.

Obwohl wir noch immer keine Einigung für das Jahr
2010 erzielt haben, müssen wir als Gesetzgeber heute
schon für das Jahr 2011 handeln; denn die Kommunen
brauchen Planungssicherheit, soweit dies irgend mög-
lich ist.

Die Zeichen vonseiten der Länder, dass das Siebte
Gesetz angenommen werden wird, sind positiver als im
vergangenen Jahr gegenüber dem sechsten Gesetz. Da-
her bin ich zuversichtlich, dass der vorliegende Gesetz-
entwurf bald verabschiedet wird und in Kraft treten kann
und nicht so lange Zeit im Vermittlungsausschuss brau-
chen wird.

Für dieses Jahr steht ein Haushaltssoll von 3,4 Mil-
liarden Euro im Gesetz; diese Summe ist vonseiten des
Bundes eingeplant. Mit dem Siebten Gesetz zur Ände-
rung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch soll dieser
Ansatz für das Jahr 2011 auf 3,6 Milliarden erhöht wer-
den.

Die Erhöhung der Mittel geschieht selbstverständlich
nicht willkürlich. Gerade wir als christlich-liberale Ko-
alition übernehmen die Verantwortung für den Bundes-
haushalt im Sinne künftiger Generationen.

Die Länder haben der Formel, die die Grundlage für
die Berechnung der Bundesbeteiligung ist, zugestimmt
und sie als dauerhaft sachgerecht und handhabbar ein-
geschätzt.

Die Höhe der bundesdurchschnittlichen Beteiligung
wird 2011 bei 25,1 Prozent liegen und ist damit um
1,5 Prozentpunkte höher als 2010.

In den vergangenen Jahren wurde die Bundespolitik
oftmals vonseiten der Länder und Kommunen kritisiert.



gegebene Reden

Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)

Die Kritik war damit begründet, dass der Bund weniger
Mittel für die Bundesbeteiligung an den Kosten der Un-
terkunft bereitgestellt hat. Das aber hatte einen Grund.
Es war durch die sinkende Zahl der Bedarfsgemein-
schaften völlig begründet. Damit war der Vorwurf, dass
sich die Bundespolitik aus der Verantwortung ziehen
will, unberechtigt.

Dass sich der Bund seiner Verantwortung bewusst ist,
zeigt die christlich-liberale Koalition auch mit diesem
Gesetzentwurf. Denn weil die Zahl der Bedarfsgemein-
schaften im kommenden Jahr, bedingt durch die Wirt-
schafts- und Finanzkrise, leider wieder steigen wird, er-
höht der Bund auch seine Kostenbeteiligung. Dies
verdeutlicht, dass diese Regierungskoalition ihre Ver-
antwortung gegenüber den Kommunen wahrnimmt und
ein zuverlässiger und berechenbarer Partner ist.

Ich möchte jedoch auch die Gelegenheit nutzen, da-
rauf zu verweisen, wie gut wir die Krise bisher bewältigt
haben. Es war vor zwölf Monaten noch nicht abzusehen,
dass wir nur einen so geringen Anstieg der Zahl der Be-
darfsgemeinschaften zu erwarten haben würden.

Im September 2010 gab es in Deutschland 3 545 212
Bedarfsgemeinschaften. Im September 2009 waren es
noch 19 169 mehr. Die Auswirkungen der Krise schla-
gen auf das SGB II immer mit etwas Verzögerung durch,
da Menschen, wenn sie ihre Arbeit verlieren, zunächst
für mindestens zwölf Monate im Rechtskreis des SGB III
geführt werden. Daher werden wir im kommenden Jahr
trotz der hervorragenden Entwicklung am Arbeitsmarkt
mit einer etwas höheren Zahl an Bedarfsgemeinschaften
rechnen müssen.

Die positive wirtschaftliche Prognose für das kom-
mende Jahr mit einer erwarteten durchschnittlichen Ar-
beitslosenzahl von unter 3 Millionen und einem erwarte-
ten Wirtschaftswachstum von 2,2 Prozent wird dazu
führen, dass wir in den kommenden Jahren wieder deut-
lich weniger Bedarfsgemeinschaften haben werden.

Das ist eine gute Nachricht für die künftigen Auswir-
kungen auf den Bundeshaushalt, vor allem aber für die
Menschen. Denn hinter dem Begriff „Bedarfsgemein-
schaft“ stehen konkrete Menschen und konkrete Schick-
sale. Jede Bedarfsgemeinschaft weniger bedeutet kon-
kret, dass Menschen aus dem SGB II in Beschäftigung
gekommen sind.

Das ist die wahre positive Botschaft hinter den Zah-
len. Eine Verringerung der Zahl der Bedarfsgemein-
schaften bedeutet nicht nur sinkende Ausgaben für den
Bund und auch für die Kommunen, sie ist auch ein Indiz
für die Qualität der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik die-
ser Bundesregierung.

Wir können heute sehen, dass die Maßnahmen dieser
Regierung, selbstverständlich auch der Regierung und
Opposition der vergangenen Jahre, dazu beigetragen
haben, Deutschland sicher durch die Krise zu führen.
Auch das von der Opposition so heftig kritisierte Wachs-
tumsbeschleunigungsgesetz hat nachweislich zur Stabi-
lisierung der wirtschaftlichen Lage und zum Wachstum
beigetragen.
Zu Protokoll
Diese Regierung handelt verantwortlich, planbar und
verlässlich. Dies wird auch mit diesem Gesetzentwurf
wieder klar.


Katrin Kunert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707132100

Der uns vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregie-

rung legt die Bundesbeteiligung an den Wohnkosten für
Haushalte von ALG-II-Beziehenden für das Jahr 2011
fest. Der Beteiligungssatz des Bundes soll für das Jahr
2011 für Baden-Württemberg auf 28,5 Prozent, für
Rheinland-Pfalz auf 34,5 Prozent und für die übrigen
Länder auf 24,5 Prozent festgesetzt werden. Damit liegt
die Bundesbeteiligung 2011 bundesdurchschnittlich bei
25,1 Prozent.

Die Höhe der Bundesbeteiligung muss seit dem Jahr
2008 auf Grundlage der Anpassungsformel nach § 46
Abs. 7 SGB II jährlich angepasst werden, sofern die Ver-
änderung der jahresdurchschnittlichen Zahl der Be-
darfsgemeinschaften mehr als 0,5 Prozent beträgt. Da
sich die jahresdurchschnittliche Zahl der Bedarfsge-
meinschaften im Zeitraum von Juli 2008 bis Juni 2009
um 2,2 Prozent erhöht hat, ist eine gesetzliche Anpas-
sung der Bundesbeteiligung für das Jahr 2011 erforder-
lich.

Soweit zum Sachverhalt. Es ist schon beeindruckend,
wie beratungsresistent die Bundesregierung in Sachen
Kosten der Unterkunft gegenüber der nunmehr seit meh-
reren Jahren anhaltenden massiven Kritik der Kommu-
nen und Länder ist. Wie sonst ist es zu erklären, dass die
Bundesregierung daran festhält, sich nicht angemessen
an der Finanzierung der Kosten der Unterkunft für
ALG-II-Beziehende zu beteiligen? Die Linke will die
Bundesregierung nicht ungeschoren davonkommen las-
sen. Daher haben wir beantragt, den Gesetzentwurf
nicht stillschweigend durchgehen zu lassen.

Auch wenn sich die Bundesbeteiligung für das Jahr
2011 um bundesdurchschnittlich 1,5 Prozent erhöhen
soll, entspricht dies bei weitem nicht dem eigentlich zu
zahlenden Anteil des Bundes. Würden die realen Ausga-
ben für Kosten der Unterkunft und Heizung zugrunde
gelegt werden, müsste sich der Bund im Jahr 2010 mit
35,8 Prozent und im Jahr 2011 mit 37,7 Prozent beteili-
gen. Das hat der Landkreistag auf der Grundlage lang-
fristiger Betrachtungen des realen Kostenverlaufs er-
rechnet.

Der Bund ist nach wie vor nicht bereit, sich angemes-
sen an der Finanzierung der Wohnkosten für Hartz-IV-
Beziehende zu beteiligen. Seit Jahren zieht er sich aus
der Finanzierung der Wohnkosten zurück. Betrug der
Bundesanteil im Jahr 2007 noch 4,36 Milliarden Euro
– 31,8 Prozent –, so sollte er für das Jahr 2010 nur noch
3,7 Milliarden Euro – 23,6 Prozent – betragen. Der Bun-
desrat hatte sich dagegen ausgesprochen und am
18. Dezember 2009 den Vermittlungsausschuss angeru-
fen. Eine Einigung wurde bis dato nicht erreicht.

Ich habe das Scheitern des Sechsten Gesetzes zur Än-
derung des SGB II über die Kosten der Unterkunft im
Bundesrat ausdrücklich begrüßt. Mit der Ablehnung
wird die Isolierung der Bundesregierung in dieser Frage



gegebene Reden

Katrin Kunert


(A) (C)



(D)(B)

offensichtlich. All diejenigen, die mit den sozialen Pro-
blemen direkt konfrontiert sind, schätzen schon lange,
dass die Politik der Bundesregierung die Probleme ver-
schärft, statt sie zu lösen. Aber all das scheint die Bun-
desregierung nicht zu stören, ansonsten hätte sie heute
dem Bundestag einen anderen Entwurf eines Siebten Ge-
setzes zur Änderung des SGB II zur Regelung des Bun-
desanteils vorgelegt.

Ich fordere die Bundesregierung auf, endlich die Rea-
lität sozialer Spaltung zur Kenntnis nehmen und ihre
Politik darauf ausrichten. Der Bundesanteil an der Fi-
nanzierung der Kosten der Unterkunft muss deutlich er-
höht werden. Der Bund darf sich nicht länger zulasten
der Kommunen und der Hartz-IV-Beziehenden sanieren.
Die Kommunen brauchen endlich eine solide Finanz-
ausstattung, damit die Einwohnerinnen und Einwohner
ein würdevolles Leben führen können, wozu auch eine
menschenwürdige Wohnung gehört.

Ich fordere die Bundesregierung auf, ihren Gesetzent-
wurf zurückzuziehen und dem Bundestag umgehend ei-
nen neuen Gesetzentwurf vorzulegen. In dem neuen Ge-
setzentwurf ist erstens die Anpassungsformel dahin
gehend zu ändern, dass die Berechnung der Bundesbe-
teiligung an den Kosten der Unterkunft und Heizung in
§ 46 Abs. 7 SGB II auf der Basis der tatsächlichen Ausga-
ben für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs. 1 SGB II
erfolgt. Zweitens ist auf der Grundlage dieser veränder-
ten Formel eine Neuberechnung der Bundesbeteiligung
an den Kosten der Unterkunft und Heizung für die Jahre
2010 und 2011 vorzunehmen.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1707132200

Der hier von der Bundesregierung vorgelegte Gesetz-

entwurf ist gegenüber unseren Städten und Gemeinden
nichts anderes als eine Zumutung.

Bei verständiger Würdigung des Komplexes „Kosten
der Unterkunft“ kann eigentlich niemandem entgehen,
dass die derzeitige Formel zur Berechnung des Bundes-
anteils an den Wohnkosten von Menschen im Bezug der
Grundsicherung für Arbeitssuchende die Kommunen
über Gebühr belastet. Erstens kann niemand erklären,
warum Extrawürste für Rheinland-Pfalz und Baden-
Württemberg gebraten werden. Zweitens erschließt sich
auch nicht, warum nicht die tatsächlichen Kosten Maß-
stab der Berechnungen sind, sondern stattdessen die An-
zahl der Bedarfsgemeinschaften. Die Tatsache, dass die
Bundesländer diesen Berechnungsschlüssel seinerzeit
selbst beschlossen haben, macht die Sache nicht besser.
Ganz offensichtlich haben die Bundesländer und der
Bund ein Geschäft zulasten Dritter – nämlich der Kom-
munen – gemacht.

Aber ob dies die Bundesregierung interessiert? Wir
wissen von der schwarz-gelben Koalition, dass sie die
Belange der Kommunen ziemlich in den Hintergrund
stellt, weshalb Sie von der Bundesregierung allen Erns-
tes über die Abschaffung der Gewerbesteuer fabulieren
und die Mittel zur Städtebauförderung kürzen. Wir wis-
sen von Schwarz-Gelb aber auch, dass Ihnen die Be-
lange der Menschen, die von Sozialleistungen leben
Zu Protokoll
müssen, nicht so wichtig sind wie die von Hoteliers.
Sonst würde die Bundesregierung nicht auf die Idee
kommen, den Kommunen die Möglichkeit einzuräumen,
per Satzungsrecht die Angemessenheit der Kosten der
Unterkunft zu regeln. Was die Bundesregierung damit
riskiert, ist der massenhafte Rechtsbruch vor Ort auf
Kosten der Armen in Deutschland. Ein unbestimmter
Rechtsbegriff der „Angemessenheit“ soll nach dem Wil-
len der Bundesregierung nicht vom Bundesgesetzgeber
definiert werden, der dafür zuständig ist, wie das Bun-
desverfassungsgericht es am 9. Februar noch einmal im
seinem Urteil zu den Grundsicherungsleistungen festge-
stellt hat. Vielmehr will die Bundesregierung die ange-
messenen Wohnkosten als wichtigen Teil des Existenzmi-
nimums dem freien Spiel zwischen Kämmerer und
Sozialdezernenten überlassen. Wer in diesem Kräfte-
messen in einer Kommune obsiegen wird, die etwa unter
der Haushaltssicherung steht, lässt sich unschwer vor-
hersagen. Zu befürchten ist außerdem bei unangemesse-
nen oder gar rechtswidrigen Satzungslösungen eine
erneute Klageflut vor den ohnehin überlasteten Sozial-
gerichten.

Schwarz-Gelb bleibt sich mit diesem Gesetzentwurf
treu. Anstatt endlich die Reform der Übernahme der
Kosten der Unterkunft solidarisch zu gestalten oder an-
derweitige Kompensationslösungen zu suchen, werden
wieder die Kommunen einseitig belastet. Sinnvoll wäre
eine andere Lastenverteilung, die wir als Grüne auch
vorschlagen.

Um die gesetzlich vorgesehene Entlastung der Kom-
munen durch die Einführung des Vierten Gesetzes für
moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt um jährlich
2,5 Milliarden Euro zu gewährleisten, müssen wir die
Anpassungsformel ändern und die Bundesbeteiligung
entsprechend der tatsächlichen Entwicklung der Ausga-
ben für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs. 1 Zwei-
tes Buch Sozialgesetzbuch berechnen. Das fordert auch
der Bundesrat, und er hat den Vermittlungsausschuss
hierzu angerufen – Bundesratsdrucksache 864/09.

Die Länder berufen sich auf Berechnungen des Deut-
schen Landkreistages, wonach unter Berücksichtigung
der tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung für
das Jahr 2010 eine Bundesbeteiligung von 35,9 Prozent
geleistet werden müsste. Für das Haushaltsjahr 2011
beträgt bei Berücksichtigung der tatsächlichen Kosten-
entwicklung nach Berechnungen des Deutschen Land-
kreistages der Bundesanteil 37,7 Prozent. Ausgehend
von voraussichtlichen Unterkunftskosten in Höhe von
14,3 Milliarden Euro im Haushaltsjahr 2011 beträgt der
Bundesanteil 5,4 Milliarden Euro statt der aktuell ange-
setzten 3,6 Milliarden Euro. Der Haushaltsansatz wäre
demnach um 1,8 Milliarden Euro zu erhöhen.

Sicherlich müssen die Zahlen des Landkreistages
noch einmal auf ihre Richtigkeit und Plausibilität hin
überprüft werden. Immerhin ist nicht auszuschließen,
dass der Deutsche Landkreistag sein Rohdatenmaterial
auch interessengeleitet hochrechnet. Dennoch: Der
Bund darf sich vor seiner Verantwortung nicht drücken
und die Kommunen nicht im Regen stehen lassen.



gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1707132300

Es wird die Überweisung des Gesetzentwurfs auf

Drucksache 17/3631 und 17/3683 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Da-
mit sind Sie einverstanden. Dann sind die Überweisun-
gen so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 29 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, Jan
van Aken, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE

Erkenntnisse des Weltagrarberichtes zur
Grundlage deutscher, europäischer und inter-
nationaler Agrar- und Entwicklungspolitik
machen

– Drucksache 17/3542 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union


Johannes Röring (CDU):
Rede ID: ID1707132400

Wir haben in den letzten Wochen, Monaten und sogar

Jahren den Weltagrarbericht immer wieder auf der poli-
tischen Tagesordnung gehabt. Er wird von den Opposi-
tionsparteien, egal ob ich hier die Linken, die Grünen
oder unseren ehemaligen Koalitionspartner, die SPD,
nenne, als das Zukunftswerk für die weltweite Gestal-
tung und Entwicklung der Landwirtschaft propagiert. In
selbem Maße haben Entwicklungshilfeinstitutionen,
NGOs oder Vertreter einer ökologisch-biologischen
Landwirtschaft sich für die Akzeptanz des Berichts ein-
gesetzt und versucht, Druck auf die Bundesregierung
auszuüben, um den Weltagrarbericht zu unterschreiben
und ihn damit als ein offizielles Dokument zu legitimie-
ren. Bei all dieser Euphorie und Anpreisung des Welt-
agrarberichts darf man allerdings nicht vergessen, wel-
che formelle Basis hinter diesem Bericht steht, ohne sich
an dieser Stelle schon mit Inhalten auseinanderzusetzen.

Der Weltagrarbericht ist entstanden auf der Basis ei-
nes Netzwerks internationaler Agrarwissenschaftler.
Ihm lag kein Auftrag irgendeiner internationalen Orga-
nisation zugrunde, auch wenn dies immer wieder von
den Beteiligten behauptet wird. Es gab zwar finanzielle
und personelle Unterstützung durch die FAO, die Welt-
bank und andere Einrichtungen der Vereinten Nationen;
aber selbst die FAO sieht den Weltagrarbericht nicht als
Grundlage für ihr politisches und strategisches Han-
deln.

Ergänzend muss man feststellen, dass viele Akteure
der weltweiten Agrarpolitik in keiner Weise am Diskus-
sionsprozess beteiligt waren bzw. sich im Laufe der Ver-
handlungen zurückgezogen haben, da eine zu einseitige
und nicht ergebnisoffene, sondern vielmehr ideologisch
geprägte Diskussion bei der Lösung der identifizierten
Probleme stattgefunden hat. Aufgrund dieses Sachver-
halts muss jedem klar sein, dass es zu nichts verpflichten
würde, wenn man diesen Bericht unterschreibt oder ihn
sonstwie anerkennt. Deshalb hat die Bundesregierung
auch völlig zu Recht von einer förmlichen Unterschrift
abgesehen.

An dieser Stelle möchte ich nun kurz auf die inhaltli-
che Qualität des Berichts eingehen. Das große Ziel des
Weltagrarberichts, „die Verminderung von Hunger, Ar-
mut und Mittellosigkeit und die Verbesserung der Le-
bensverhältnisse in ländlichen Räumen samt der Ge-
sundheit“ ist ohne Wenn und Aber zu unterstützen.
Damit beschreiben wir die größte Herausforderung des
21. Jahrhunderts. Wir wollen Hunger und Elend be-
kämpfen, und ein Schlüssel dazu ist die Landwirtschaft.
Die Ernährungskrise im Jahr 2007 hat das Thema Welt-
ernährung ganz nach oben auf die politische Agenda ge-
bracht und einen auch dringend notwendigen Schwung
in die Debatte gebracht. Auch hier hat sicherlich der
Weltagrarbericht einen positiven Beitrag geleistet.

Positiv zu sehen ist auch, dass man versucht hat, tief
in die Debatte einzusteigen, man eine nach Regionen un-
terschiedliche Analyse der Probleme angefertigt und
sich auch bemüht hat, Handlungsempfehlungen zu ge-
ben. Es ist richtig, dass man die Stärkung lokaler Märkte
anstrebt. Es ist der richtige Ansatz, das Thema „Recht
auf Land- und Wassernutzung“ zu betonen oder das
Thema „Landwirtschaft und Klimawandel“ in den
Blickpunkt zu nehmen. In der abschließenden Analyse
sehe ich allerdings die große Schwäche des Berichts, der
mich zu deutlicher Kritik kommen lässt.

Es findet beinahe durchgängig eine ideologisch ge-
prägte Betrachtungsweise statt, die sich ausschließlich
am Ideal eines ökologischen Landbaus orientiert und
eine moderne, industrialisierte Form der bäuerlichen
Landwirtschaft ablehnt. Doch dabei wird vergessen,
dass besonders Merkmale wie Effizienz, Ressourcen-
schonung, Wettbewerbsfähigkeit und Wertschöpfung
eine moderne Landwirtschaft prägen. Ich möchte diese
Position aber nicht nur abstrakt darstellen, sondern
auch exemplarisch an eine persönlich erlebte Erfahrung
anknüpfen, die mich in meiner Überzeugung noch mehr
gestärkt hat.

Ich war vor kurzem mit dem Agrarausschuss in den
ostafrikanischen Ländern Kenia, Uganda und Äthiopien
zu Gast und habe mir die Situation der Menschen, be-
sonders in der Landwirtschaft, angeschaut. Ich habe
viele neue Erkenntnisse gesammelt, und ich musste mit
großer Enttäuschung feststellen, welches Elend dort
vielfach herrscht.

Ich habe dort in vielen Gesprächen mit Hilfsorgani-
sationen, die sich ebenfalls in die Arbeit am Weltagrar-
bericht eingebracht haben, erfahren, dass diese eine In-
dustrialisierung der Landwirtschaft nach europäischem
Vorbild für Afrika ablehnen. So wird es abgelehnt, neue
Arten anzubauen oder Mineraldünger einzusetzen. Das
Ergebnis ist, dass viele Menschen hungern. Das Ganze
ist ein furchtbarer Zynismus. Europa hat vor über hun-
dert Jahren begonnen, durch verstärkten Maschinenein-
satz und den Einsatz mineralischen Düngers seine land-
wirtschaftlichen Erträge zu steigern. Dadurch wurden
auch bei uns der Hunger besiegt und der Wohlstand ge-

Johannes Röring


(A) (C)



(D)(B)

mehrt. Lassen wir doch die Afrikaner selbst entscheiden,
was sie wollen, und sie dann unterstützen. Warum lassen
wir denn kein wirtschaftliches Wachstum im Nahrungs-
mittelbereich zu? Im Bericht des Weltagrarrates und in
den Papieren von vielen Organisationen ist von Stützung
der kleinbäuerlichen Struktur die Rede. Warum helfen
wir den Bauern dort nicht, Unternehmer zu werden?
Warum helfen wir nicht, etwa durch bessere Ausbildung,
durch Gründung von Bauernverbänden, durch den Bau
von Lagerstätten von der Subsistenzwirtschaft wegzu-
kommen und etwa mit Agrargütern oder Nahrungsmit-
teln Handel zu treiben? Stattdessen wird erklärt, die
Afrikaner wollten nur mit Ochs und Esel ihr Stückchen
Land bestellen; dann seien sie glücklich. Ich glaube das
nicht.

Die moderne Landwirtschaft wird mit ihren vielfälti-
gen Möglichkeiten bei Ertragssteigerung und Ertragssi-
cherheit eine Schlüsselrolle bei der Bewältigung der
Welternährungskrise einnehmen, überall auf der Welt.

Bei allen notwendigen Diskussionen über faire Han-
delsbeziehungen und bei der Debatte um die verschie-
densten Gründe für die Verteuerung der Nahrungsmittel
kommen wir an einem Fakt nicht vorbei: Die Nachfrage
nach Agrarrohstoffen, nach Getreide, Ölsaaten und vie-
lem mehr wird sich in absehbarer Zeit fast verdoppeln.
Um diese auf uns zukommende Herausforderung meis-
tern zu können, müssen wir jetzt die Weichen richtig stel-
len. Denn dieses Mehr an Nachfrage müssen wir durch
Produktion auf der jetzt vorhandenden und kaum ver-
mehrbaren Fläche an weltweitem Ackerland erreichen;
denn wir wollen ja bewusst unsere schützenswerten Ur-
und Regenwälder unangetastet lassen. Dies wird dann
funktionieren, wenn wir eine moderne bäuerliche Land-
wirtschaft als Basis für diese verantwortungsvolle Auf-
gabe ermöglichen; denn dies ist ein entscheidender Lö-
sungsansatz und damit ein Segen für die Menschheit.

Zum Abschluss möchte ich gerne aus dem Weltent-
wicklungsbericht 2008 der Weltbank zitieren, der an vie-
len Stellen den kleinbäuerlichen Landwirt als Unterneh-
mer sieht und der die obige These mehr als stützt:

Die Nutzung der Agrarwirtschaft als Basis für Wirt-
schaftswachstum in Agrarländern setzt eine Pro-
duktivitätsrevolution im kleinbäuerlichen Farmbe-
trieb voraus.


Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD):
Rede ID: ID1707132500

Im Jahr 2003 haben die Weltbank und die Vereinten

Nationen bzw. die FAO einen internationalen Prozess
initiiert: das International Assessment of Agricultural
Knowledge, Science and Technology for Development,
das IAASTD, bekannt geworden als Weltagrarrat. Über
500 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aller
Kontinente und unterschiedlicher Fachrichtungen ha-
ben vier Jahre lang zusammengearbeitet, um die folgen-
den Fragen zu beantworten: Wie können wir landwirt-
schaftliches Wissen, Forschung und Technologie
einsetzen, um Hunger und Armut zu verringern? Wie
lassen sich ländliche Existenzen verbessern, und wie
lässt sich weltweit eine ökologisch, ökonomisch und so-
zial nachhaltige Entwicklung fördern? Die Ergebnisse
Zu Protokoll
sind eingeflossen in den Weltagrarbericht, der 2008 ver-
öffentlicht wurde. Ich möchte an dieser Stelle nochmals
daran erinnern, dass mit maßgeblicher Unterstützung
der SPD der Weltagrarbericht ins Deutsche übersetzt,
und damit einer breiteren Öffentlichkeit bekanntge-
macht werden konnte.

Der Weltagrarbericht hat wichtige Impulse für die
Diskussion über die Armutsbekämpfung gegeben. Wir
unterstützen die Ergebnisse des Berichtes. Obwohl
Deutschland den 2008 erschienenen Bericht nicht unter-
zeichnet hat, sind viele Erkenntnisse aus dem Bericht in
konkrete SPD-Anträge eingeflossen. Ich erinnere in die-
sem Zusammenhang an unseren Antrag „Hunger und
Armut in Entwicklungsländern durch die Förderung von
ländlicher Entwicklung nachhaltig bekämpfen“ vom
28. November 2008. An dieser Stelle möchte ich nur die
wesentlichen Erkenntnisse und unsere Forderungen wie-
derholen:

Bisher produzierten die Mehrzahl der Kleinbauern in
ungefähr 400 Millionen Betrieben mit weniger als zwei
Hektar Land pro Betrieb nur das Nötigste zum Überle-
ben. Zeitweise sind sie selber auf den Zukauf von Nah-
rungsmitteln oder – das ist schlimmer – auf Nahrungs-
mittelhilfe angewiesen. Wir müssen die Produktivität der
Landwirtschaft durch strukturelle und verbesserte poli-
tische Rahmenbedingungen stärken. Die ländliche Ent-
wicklung in den Entwicklungs- und Schwellenländern
muss nach unseren Vorstellungen vor allem dem Ziel
dienen, den Zugang zu produktiven Ressourcen zu ver-
bessern. Parallel dazu muss die Funktionsfähigkeit der
regionalen Märkte für landwirtschaftliche Produkt- und
Faktormärkte verbessert werden.

Dabei sind die strukturellen Ursachen der unzurei-
chenden ländlichen Entwicklung in erster Linie durch
die jeweiligen Länder, aber auch durch die Hilfe der in-
ternationalen Gemeinschaft zu bekämpfen. Ziel der
ländlichen Entwicklung kann es nicht in erster Linie
sein, den Zwei-Hektar-Betrieben nachhaltig ihre Subsis-
tenzwirtschaft zu sichern. Das steht auch so nicht im
Weltagrarbericht. Leider kann ich nicht erkennen, wo-
her Sie Ihre Aussagen zur Fokussierung auf kleinbäuer-
liche Strukturen nehmen.

Entwicklungspolitik steht heute vor der Herausforde-
rung, einerseits die kleinbäuerlichen Strukturen zu
stärken, aber andererseits auch den notwendigen Struk-
turwandel sozial abzufedern. Wirtschaftlichere Betriebs-
größen werden in den betroffenen Regionen unter-
schiedlich ausgeprägt sein. Die Menschen vor Ort
werden wissen, wie die bäuerliche Produktivität erhöht
werden kann.

Unklar bleibt für mich, was die Kolleginnen und Kol-
legen von der Linken mit ihrem Antrag zum jetzigen
Zeitpunkt bezwecken. Die Aussagen bleiben zwar aktu-
ell, aber wir sollten doch einmal genau hinschauen, wo
wir die wirkliche Entwicklungsarbeit leisten müssen.
Leider muss ich nämlich feststellen, dass die Erkennt-
nisse des Weltagrarberichts bei den Kolleginnen und
Kollegen der Koalition nur eingeschränkt bis gar nicht
fruchten. Nicht anders kann ich die Äußerungen des Ab-
geordneten Röring von der CDU bewerten. Dieser hat



gegebene Reden

Dr. Wilhelm Priesmeier


(A) (C)



(D)(B)

sich kürzlich in einem Interview mit der Katholischen
Nachrichtenagentur über die nach seiner Ansicht „völ-
lig falsche Philosophie von vielen Entwicklungshilfeor-
ganisationen“ echauffiert. Diese würden sogenannte
kleinbäuerliche Strukturen verherrlichen und den tech-
nischen Fortschritt für die Entwicklungsländer ableh-
nen. Es stünden Stichworte wie „Geschlechterdebatte“
und „sozial-ökologische Reformen“ im Raum, die nichts
mit den Realitäten und den Bedürfnissen vieler Entwick-
lungsländer zu tun hätten. Mit einem Rundumschlag
lässt sich der Kollege Röring über die Misserfolge der
bisherigen Entwicklungspolitik aus. Für unseren derzei-
tigen Entwicklungsminister, der erst sein Ministerium
abschaffen wollte und es jetzt um 200 weitere Stellen
aufstocken möchte, mögen Ihre Aussagen wunderbar ge-
klungen haben. Die einfachen Weisheiten, die Herr
Röring im Interview verbreitet, werden jedoch der kom-
plexen Realität nicht im Geringsten gerecht.

Die wirtschaftlichen Potenziale der einheimischen
Bevölkerung werden durch zahlreiche rechtliche, agrar-
politische und soziokulturelle Hindernisse beschränkt.
Fehlender Landzugang und fehlende finanzielle Res-
sourcen sind zu nennen. Gerade in Afrika liegt der über-
wiegende Anteil der landwirtschaftlichen Produktion in
Frauenhand. Sie produzieren mehr als 90 Prozent der
Grundnahrungsmittel und über 30 Prozent der Markt-
früchte. Eine Förderung der ländlichen Entwicklung
und der Abbau geschlechtsspezifischer Benachteiligun-
gen von Frauen müssen eng miteinander verknüpft wer-
den; denn auch die strukturelle Benachteiligung von
Frauen, insbesondere in Afrika, ist ein wichtiger Faktor,
der der wirtschaftlichen Entwicklung der landwirt-
schaftlichen Produktion bis heute im Wege steht. Dies
sind Realitäten in vielen Entwicklungsländern, die auch
der CDU-Kollege Röring anerkennen sollte.

Richtig ist, dass wir gerade die afrikanischen Bauern
unterstützen müssen, ihre Produktivität zu steigern. Es
müssen rechtliche und finanzielle Rahmenbedingungen
geschaffen werden, die es den Bäuerinnen und Bauern
ermöglichen, ihre vorhandenen unternehmerischen
Potenziale voll auszuschöpfen. Dies wird aber nicht da-
durch erreicht, dass wir ihnen unangepasstes Saatgut
und unsere Hochleistungsrinder schicken. Es wird da-
durch erreicht, dass wir ihnen bezahlbares Know-how
zur Verfügung stellen. Es wird dadurch erreicht, das wir
in unserem Land mehr Geld in die Hand nehmen und
beispielsweise unsere einstmals so hoch gelobte Tropen-
und Subtropenforschung vor dem kompletten Untergang
retten.

Eine bessere Ausbildung, der Bau von Straßen und
Lagerstätten, damit Lagerverluste bis zu 60 Prozent ver-
ringert werden, sind konkrete Maßnahmen der ländli-
chen Entwicklung. Dies kann und muss aber unter
größtmöglicher Beteiligung der ländlichen Bevölkerung
erfolgen. Nur sie weiß, was sie benötigt, um der Armut
zu entrinnen. Achten wir ihre Belange nicht, besteht die
Gefahr, dass korrupte Regimes oder lokale Warlords die
Früchte des Fortschritts alleine verprassen. Daher ist
ein Bottom-up-Entwicklungsansatz auch heute noch mo-
dern und zeitgemäß. Er ist auch mühsamer, das möchte
Zu Protokoll
ich nicht verhehlen. Aber er ist langfristig wirksamer als
kurzfristige Beglückungskampagnen à la FDP.

Es bedarf verschiedener Instrumente und Elemente
der ländlichen Entwicklung und im Agrarsektor, um
langfristig den Hunger zu überwinden. Die Entwick-
lungsarbeit bei uns endet nicht mit der Unterstützung
der Bäuerinnen und Bauern in den südlichen Ländern.
Das hat Herr Röring vergessen im Interview zu sagen.
Zu mehr Unternehmertum und zu mehr Marktorientie-
rung gehören auch faire Spielregeln auf den Agrarmärk-
ten. Da müssen wir noch einiges nachholen in der EU.
Ich hoffe, dass die Gemeinsame Agrarpolitik der EU
nach 2013 auch in diesem Bereich konsequent auf neue
Herausforderungen ausgerichtet wird und marktverzer-
rende Subventionen endgültig abgeschafft werden.

Gleiches gilt im Übrigen für die spekulativen Aus-
wüchse auf den Weltagrarmärkten. Hier müssen wir den
Realitäten ins Auge schauen und politisch eingreifen,
damit wir die Funktionsfähigkeit von Warenterminbör-
sen dauerhaft sichern. Vorschläge dazu hat die SPD be-
reits unterbreitet. Ich freue mich, dass auch das Bun-
desagrarministerium letzte Woche endlich aufgewacht
ist.

Aber zurück zum Antrag der Linken. Die SPD-Bun-
destagsfraktion hat in ihrem Antrag zum Entwurf des
Haushalts 2011 des BMELV eingefordert, insgesamt
1 Million Euro bereitzustellen, damit der Weltagrarbe-
richt fortgeschrieben werden kann. Damit wollen wir
auch erreichen, dass die bisher sehr technologiefixierte
Forschungspolitik der Bundesregierung zur Bekämp-
fung von Hunger, Klimawandel, Flächen- und Ressour-
cenknappheit auf eine breitere Basis gestellt wird.

Daher wird die SPD sich enthalten.


Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Rede ID: ID1707132600

Vor zehn Jahren haben die Regierungen von 189 Staa-

ten acht UN-Millenniumsziele miteinander vereinbart.
Zu diesen Zielen gehört die Halbierung der Zahl der
hungernden Menschen bis zum Jahr 2015. Tatsächlich
sind in den vergangenen zehn Jahren jedoch keine ent-
scheidenden Fortschritte erzielt worden. Im Gegenteil:
Die absolute Zahl der hungernden Menschen liegt seit-
her bei rund 1 Milliarde. Weitere 2 Milliarden Menschen
leiden an Mangelernährung. Die Gründe für diese be-
sorgniserregende Bilanz sind vielfältig: Eine schlechte
Regierungsführung zum Beispiel in Nordkorea oder dem
Kongo, die demografische Entwicklung, der Klimawan-
del und ein ungenügendes Bildungsniveau sind einige
der offensichtlichen Faktoren. Um die verschiedenen
Missstände zu beseitigen, sind verschiedene Maßnah-
men notwendig.

Der im April 2008 verabschiedete sogenannte Welt-
agrarbericht versucht in einem durchaus breit angeleg-
ten Ansatz, das Potenzial von althergebrachten, lokalen
landwirtschaftlichen Kenntnissen und von technologi-
schem Fortschritt danach zu bewerten, wie weit sie ge-
eignet sind, Teilziele der Millenniumsvereinbarung zu
erreichen. Er nennt hierzu eine Reihe von interessanten



gegebene Reden

Dr. Christel Happach-Kasan


(A) (C)



(D)(B)

Fakten. Allerdings ist der Bericht mit seinen Folgerun-
gen einseitig ideologisch ausgerichtet und greift zu kurz.

Es besteht Einigkeit darüber, dass die landwirtschaft-
liche Effizienz insbesondere in den Nichtindustrielän-
dern enorm erhöht werden muss. Daher wird die einsei-
tige Fokussierung des Berichts auf kleinbäuerliche
Subsistenzwirtschaft den vor uns liegenden Problemen
nicht gerecht. Durch die stetig wachsende Weltbevölke-
rung verringert sich die Ackerfläche, die für die Ernäh-
rung eines jeden Menschen zur Verfügung steht. Ebenso
führen der Klimawandel und der Anbau von Biomasse
für die energetische Nutzung dazu, dass die für die Er-
nährungssicherung zur Verfügung stehende Ackerfläche
abnimmt. Weiterhin muss berücksichtigt werden, dass
etwa die Hälfte einer jeden Ernte entweder schon auf
dem Feld oder anschließend bei der Lagerung und der
Verarbeitung durch Schadorganismen vernichtet wird.
Das bedeutet, dass nur eine Steigerung der Effizienz der
Landwirtschaft die Chance bietet, den Hunger auf der
Welt zu lindern. Dafür sind die Nutzung moderner Tech-
nik, moderner Dünge- und Schädlingsbekämpfungsme-
thoden, moderner Sorten erforderlich. Damit die Men-
schen diesen Anforderungen gewachsen sind, brauchen
sie mehr Bildung und Ausbildung. Mit einer romantisie-
renden Museumslandwirtschaft, wie sie verschiedene
Nichtregierungsorganisationen, NGO, und der Welt-
agrarbericht fordern, kann das Problem der Welternäh-
rung nicht gelöst werden.

Gerade in Ländern mit geringem allgemeinem Bil-
dungsniveau, mit einem großen Anteil an Menschen, die
nicht lesen und schreiben können, ist das Erfahrungs-
wissen in der Bevölkerung über die landwirtschaftliche
Produktion vergleichsweise gering. Daher reicht es bei
weitem nicht aus, in diesen Ländern auf Tradition und
Erfahrung zu setzen. Auch in Deutschland wurde der
notwendige Leistungssprung der Landwirtschaft erst
durch die Einführung der allgemeinen Schulpflicht, den
breiten Zugang zu Bildung und Ausbildung und in der
Folge vermehrte wissenschaftliche Forschung mit der
Anwendung ihrer Erkenntnisse möglich gemacht. Das
Beispiel Mongolei, wo noch immer Weizen in einer
Zwei-Felder-Wirtschaft produziert wird, zeigt, dass re-
gional noch erhebliche Potenziale bestehen, die Erträge
zu erhöhen.

Hunger ist kein reines Verteilungsproblem. Der Über-
fluss in Hamburg kann den Hunger der Menschen in den
Ländern der Subsahara nicht lindern. Sie brauchen nicht
noch mehr Lebensmittellieferungen aus dem Ausland,
sondern Hilfe zur Selbsthilfe und eine Stärkung ihrer Er-
nährungssouveränität. Deshalb unterstützt die deutsche
Entwicklungshilfe auch kleinbäuerliche Strukturen und
regionale Märkte. Um deren Funktionsfähigkeit zu erhal-
ten, treten wir dafür ein, im Rahmen der Reform der ge-
meinsamen EU-Agrarpolitik die Exporterstattungen völ-
lig abzubauen.

Für die Anpassung der Kulturpflanzen an den Klima-
wandel, ihre Resistenz gegenüber Schadorganismen und
die Verbesserung ihrer Eigenschaften für die Ernährung
müssen geeignete Sorten gezüchtet werden. Dabei müs-
sen moderne Züchtungsmethoden wie die Gentechnik
Zu Protokoll
genutzt werden. Untersuchungen der Universität Göttin-
gen zeigen, dass indische Baumwollbauern mit gentech-
nisch veränderten Pflanzen deutliche Einkommensge-
winne erzielen und ihre wirtschaftliche Situation
verbessern konnten. Der nahezu flächendeckende Anbau
von Bt-Baumwolle in Indien ist ein erfolgreicher Beitrag
zur Bekämpfung von Armut und Hunger. Dieses Poten-
zial wird vom Weltagrarbericht unterschätzt.

Ebenso muss für die Bekämpfung von Erblindung
durch Mangelernährung in Afrika und Asien der Gol-
dene Reis möglichst bald zur Verfügung gestellt werden.
500 000 Menschen erblinden in jedem Jahr. Es ist
ethisch nicht vertretbar, den Menschen eine solche Sorte
zu verwehren, die ihnen das Schicksal der Erblindung
ersparen könnte, nur weil Menschen in Europa emotio-
nale Vorbehalte gegenüber gentechnisch veränderten
Pflanzen empfinden. Obwohl die Diskussion um den
Goldenen Reis seit langem geführt wird, berücksichtigt
der Weltagrarbericht diese Chance nicht.

Der größte Fortschritt gegen den Hunger wurde in
den letzten 15 Jahren in Südasien, Lateinamerika und
der Karibik erzielt. Diese Länder sind Beispiele für gute
Regierungsführung, Rechtsstaatlichkeit und eine offene
Einstellung gegenüber Wissenschaft und technolo-
gischem Fortschritt. Hingegen stehen auf der Verlie-
rerseite die sogenannten Failed States, in denen Bür-
gerkriege, Korruption und Menschrechtsverletzungen
jegliche Bemühungen um Bildung der ärmeren Bevölke-
rungsschichten und Zugang zum landwirtschaftlichen
Fortschritt zunichtegemacht haben.

Die weltweite Landwirtschaft muss gestärkt werden.
Investitionen in die Landwirtschaft müssen gerade in ar-
men Ländern erhöht werden. Darüber hinaus sind welt-
weit auf allen Ebenen große Anstrengungen nötig, um
die Effizienz zu erhöhen, den Ressourcenverbrauch zu
vermindern und eine faire Verteilung der produzierten
Agrargüter sicherzustellen. Der Weltagrarbericht liefert
hierzu interessante Anregungen, aber als eine solide
Grundlage für Regierungshandeln ist er nicht geeignet.
Deswegen ist aus Sicht der FDP eine Unterzeichnung
dieses Berichts nicht sinnvoll. Wir stehen damit im Ein-
klang mit der Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten.


Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707132700

„Business as usual is not an option!“ Das ist – grob

zusammengefasst – die zentrale Botschaft des Welt-
agrarbericht. Und auch für die Linke ist ein einfaches
Weiter-so keine Option angesichts der dramatischen
agrarwirtschaftlichen Defizite weltweit: bei der Durch-
setzung des Rechts auf Nahrung und der regionalen
Nahrungssouveränität, bei der Verteilungsgerechtigkeit
an Lebensmitteln, Boden oder Wasser, bei der Nachhal-
tigkeit der Nahrungsmittelproduktion, dem Kampf gegen
den Klimawandel oder gegen den Verlust an biologi-
scher Vielfalt. In einer Broschüre zum Weltagrarbericht
heißt es:

Die Art und Weise, wie die Weltgemeinschaft in den
nächsten Jahrzehnten ihre Ernährung und deren
Produktion gestaltet, wird die ökologische, wirt-
schaftliche, soziale und kulturelle Zukunft unseres



gegebene Reden

Dr. Kirsten Tackmann


(A) (C)



(D)(B)

Planeten bestimmen. Je früher wir die unvermeidli-
chen Konsequenzen ziehen, desto besser sind die
Erfolgsaussichten.

Doch wenn Weiter-so nicht geht, was dann? Dieser
Frage stellten sich über 500 Expertinnen und Experten
bei der Erarbeitung des Weltagrarberichts und suchten
nach Lösungswegen. Sie haben ihre Erfahrungen und
Erkenntnisse auf Hunderten Seiten zusammengetragen.
Besonders bemerkenswert finde ich, dass nicht nur Wis-
senschaftlerinnen und Wissenschaftler oder gar die fort-
schrittsgläubige Agrarindustrie alleine am Projekt be-
teiligt waren. Bei vielen Berichten ist das ja der Fall;
daher sind sie oftmals mit Vorsicht zu genießen. Beim
Weltagrarbericht war das anders: Hier wurde nicht nur
auf wissenschaftliches, sondern auch auf nichtwissen-
schaftliches, also traditionelles Wissen zurückgegriffen.
Ziel war, möglichst viele Perspektiven einzubeziehen,
um eine große Vielfalt an Lösungsvorschlägen für eine
der zentralen Zukunftsfragen zu erarbeiten: Wie kann
sich eine wachsende Menschheit ernähren? Es gab Zu-
arbeiten aus armen und reichen Ländern, von Frauen
und Männern, von Theoretikerinnen und Theoretikern
sowie Praktikerinnen und Praktikern. Durch diese Viel-
falt aus aller Welt, vielen Professionen und Denkschulen
ist im Ergebnis ein solider und ernst zu nehmender Be-
richt entstanden, was ihn klar von manch anderem Be-
richt unterscheidet.

Für mich kann der Weltagrarbericht einen ähnlichen
Erfolgsweg hin zu einer hohen moralischen und politi-
schen Legitimation gehen wie der Weltklimabericht, In-
tergovernmental Panel on Climate Change, IPCC. Des-
sen erste Ausgabe wurde 1990 mehrheitlich nur milde
belächelt, der Klimawandel von vielen geleugnet. Doch
mittlerweile ist der vierte, nach kontinuierlicher Arbeit
am Thema 2007 erschienene Weltklimabericht allseits
anerkannt, politische Entscheidungen werden zuneh-
mend an seinen Erkenntnissen ausgerichtet. Der Er-
kenntnisgewinn sollte beim Weltagrarbericht schneller
gehen. Die Agrar- und Entwicklungspolitik gehört welt-
weit auf den Prüfstand, und wir sollten bereits die Er-
gebnisse dieses ersten Weltagrarberichts in unserem ei-
genen Interesse sehr ernst nehmen.

Neben der Betonung regionaler Ernährungssouverä-
nität unterstreicht der Bericht die Bedeutung der Frauen
bei der Lösung der Probleme in den ländlichen Räumen.
Der Weltagrarbericht schreibt den Frauen die zentrale
Rolle bei der Sicherung eben dieser Ernährungssouve-
ränität zu. Frauen spielen weltweit nach wie vor die ent-
scheidende Rolle in bäuerlichen Familienbetrieben. Das
ist ein allzu oft vernachlässigtes Thema, auch in der EU.
Die Linke hat immer wieder darauf hingewiesen. Darum
möchte ich auch an dieser Stelle darauf eingehen.

Im Bericht werden völlig verschiedene Erwerbssitua-
tionen von Frauen in der Agrarwirtschaft beschrieben.
Einerseits greifen große exportorientierte Agrarunter-
nehmen in den Industriestaaten gewinnsteigernd auf die
billige weibliche Arbeitskraft zurück. Andererseits zeigt
so mancher LPG-Nachfolgebetrieb in Ostdeutschland,
dass Frauen solche Betriebe auch unter den Bedingun-
gen der Marktwirtschaft exzellent, mit hoher sozialer
Zu Protokoll
und ökologischer Verantwortung zu leiten verstehen. Be-
tont wird, dass in den osteuropäischen Staaten die for-
malen Unterschiede zwischen den Geschlechtern in der
Landwirtschaft kaum vorhanden waren. Durch die wirt-
schaftliche Liberalisierung nach 1989 wurde diese Er-
rungenschaft zunichte gemacht. Neben nichtexistenzsi-
chernden Erwerbssituationen von Frauen und einem
Rückfall in puncto Gleichstellung werden der mangel-
hafte Zugang zu Bildung und nichtlandwirtschaftlichen
Beschäftigungsmöglichkeiten hervorgehoben. Aber es
gibt auch hoffnungsvolle Entwicklungen: Beispielweise
in Subsahara-Afrika könne bei der Arbeitsteilung zwi-
schen Männern und Frauen ein klarer Wandel festge-
stellt werden. Frauen übernehmen immer mehr Aufga-
ben wie Bodenvorbereitung, Pflanzenschutz oder
Verkauf der Ernte.

Die Abwanderung junger Männer in die urbanen
Zentren erzwingt, dass viele Familien und Landwirt-
schaftsbetriebe nun von Frauen geführt werden. Dabei
gewinnen Fragen nach Landbesitz und Zugang zu
fruchtbarem Land eine neue zentrale Bedeutung. Vor-
mals waren sie klar in männlicher Hand. Heute sind
neue gesetzliche und auch soziokulturelle Änderungen
nötig. Frauen brauchen Zugang zu Agrarverbänden und
Zugang zu Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten. Im
Bericht wird gleichzeitig betont, dass Frauen oft in ihren
Rollen als Familienfürsorgerinnen, Pflanzensammlerin-
nen, Gärtnerinnen, Kräuterspezialistinnen, Saatgutpfle-
gerinnen und inoffizielle Pflanzenzüchterinnen über
sehr wertvolles Wissen zur Nutzung lokaler Pflanzen-
und Tiersorten für Ernährung, Gesundheit und Famili-
eneinkommen verfügen. Dieser scheinbar kleine, aber
sehr wichtige Aspekt aus dem Weltagrarbericht macht
deutlich, wie bedeutsam eine breite Debatte über diese
Themen ist, auch hier im Bundestag. Die Linke hat da-
her den Antrag „Erkenntnisse des Weltagrarberichtes
zur Grundlage deutscher, europäischer und internatio-
naler Agrar- und Entwicklungspolitik machen“ gestellt.
Wir fordern die Bundesregierung auf, den Weltagrarbe-
richt schnellstmöglich zu unterschreiben. Das wäre ein
klares Bekenntnis Deutschlands und würde die wichti-
gen Ergebnisse des Berichts anerkennen. Damit würde
sich Kanzlerin Merkel nicht einmal weiter aus dem
Fenster lehnen, als es zum Beispiel Großbritannien,
Finnland oder Schweden längst getan haben.

Viel wichtiger als das Unterschreiben ist allerdings,
dass seine Ergebnisse berücksichtigt und seine Fortent-
wicklung zum zweiten Weltagrarbericht finanziell gesi-
chert werden. Hier steht Deutschland als reiches Land
in der Pflicht. Darum fordern wir im Antrag von der
Bundesregierung, „sich an der Fortführung des Welt-
agrarberichtes und der Finanzierung dieses Prozesses“
zu beteiligen. Und auch in die Debatte um die Zukunft
der Gemeinsamen Europäischen Agrarpolitik, GAP,
nach 2013 müssen die Erkenntnisse des Weltagrarbe-
richtes einbezogen werden. Wichtig ist, dass der Welt-
agrarbericht nicht nur weises Papier bleibt, sondern zu
politischen Veränderungen führt. Dafür setzt sich die
Linke ein. Darüber sollten wir im Fachausschuss für Er-
nährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz disku-
tieren.



gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)


Ulrike Höfken-Deipenbrock (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1707132800

Die Botschaft des Weltagrarberichts ist deutlich: Die

Intensivierung und Industrialisierung der Landwirt-
schaft ist kein Beitrag zur Ernährungssicherung. Nicht
die Agro-Gentechnik, die die Bundesregierung als „Bio-
Ökonomie“ mit über 2 Milliarden Euro fördert, nicht die
von Schwarz-Gelb verfolgten aggressiven Exportstrate-
gien, nicht die auf Futtermittelimporten basierenden
Megamastställe können die bald 9 Milliarden Menschen
ernähren. Nur eine umweltgerechte, dezentrale, mo-
derne bäuerliche Landwirtschaft löst die eklatanten Ver-
teilungs- und Gerechtigkeitsprobleme bei den Ressour-
cen wie Böden, Wasser und Lebensmittel.

Die Übernutzung unserer natürlichen Ressourcen ge-
fährdet langfristig den Erfolg der Produktion. Mit unse-
rem Konsum- und Lebensstil verbrauchen wir 2,5 Plane-
ten. Die Bundesregierung und Ministerin Aigner
missachten die Ergebnisse von 500 internationalen Wis-
senschaftlern und weigern sich, den Bericht zu unter-
zeichnen, wie dies UN, Weltbank und 60 Regierungen
getan haben. Stattdessen treiben sie die aggressive Ex-
portpolitik Deutschlands im Agrarbereich weiter zu Las-
ten der Armutsregionen.

In den letzten 50 Jahren verdoppelte sich die Bevölke-
rung auf 6,9 Milliarden Menschen, die Produktivität in
der Landwirtschaft stieg um 2,5 Prozent. Obwohl welt-
weit ein Drittel mehr an Kalorien zur Verfügung steht,
als zur Ernährung aller benötigt würde, hungert eine
Milliarde Menschen. Die sogenannte Revolution der
Landwirtschaft mit gesteigertem Pestizid- und Dünger-
einsatz verschärft die Armut und den Hunger. Daraus
müssen Konsequenzen gezogen werden.

Die Unterschriften der Bundesrepublik Deutschland
unter die Millenniumsziele und das Recht auf Nahrung
verlangen einen Paradigmenwechsel. Es muss eine poli-
tische Neuausrichtung im Handel und der Agrarförde-
rung weg von der Förderung der Industrialisierung,
Agro-Gentechnik und Großstrukturen hin zur Unterstüt-
zung kleiner und mittelgroßer Landwirtschaft geben.
Das gilt auch und gerade in der EU. Anstatt dem EU-
Kommissar bei den vorsichtigen Reformvorschlägen zur
Gemeinsamen Europäischen Agrarpolitik – GAP – unter
die Arme zu greifen, geht es Ministerin Aigner und dem
Deutschen Bauernverband um die Entwicklung der
Landwirtschaft hin zu billigen Rohstofflieferanten.
Durch das Dumping dieser Produkte auf dem Weltmarkt
werden die Strukturen in den Entwicklungsländern zer-
stört.

Wir fordern öffentliches Geld für öffentliche Güter
und gute Lebensmittel – nicht für chemische Intensivie-
rung. Umwelt- und Klimaschutz, Arbeitsplätze in ländli-
chen Regionen, Erhalt von Biodiversität und Gentechnik-
freiheit – das alles sind Leistungen, für die die Menschen
durchaus bereit sind, die Landwirtschaft zum Teil mit öf-
fentlichen Geldern zu fördern. Essen ist Leben, Essen für
alle und Bio und Fair ernährt mehr – das sind heute die
Themen in der Gesellschaft. Wir fordern die Bundesre-
gierung auf, daran zu arbeiten, dass nicht 50 Prozent
der Lebensmittel weggeworfen und 30 Millionen Hektar
als Fläche für den Futteranbau für die Massentierhal-
tung benötigt werden.

Wissenschaftlich falsch und Ausdruck einer einseiti-
gen Interessenvertretung sind die Angriffe, die die
christdemokratischen Parteien CDU und CSU kürzlich
auf die Kirchen und ihre Entwicklungsarbeit ausgeführt
haben. Herr Kollege Röring, die Hilfsorganisationen
haben den Mut, sich auf die Seite der Armen und gegen
die Methoden der internationalen Agrarindustrie zu
stellen, die mit Raubbau, Landgrabbing und Marktbe-
herrschungsstrategien zur Verschärfung der Hungerpro-
bleme beiträgt. Da haben Sie unsere ganze Unterstüt-
zung.

Wir nehmen auf einer großen Konferenz zum Thema
„BodenLos“ am Wochenende die Probleme des Land-
raubs in Entwicklungsländern, die Agrarspekulationen
und die unfairen Handelsbeziehungen in den Fokus. Von
der Bundesregierung fordern wir, mit einer konsistenten
Politik zwischen Agrar, Handel und Entwicklungszu-
sammenarbeit sozial und ökologisch angepasste Land-
bewirtschaftungsformen voranzubringen und so zur Lö-
sung der Probleme beizutragen, anstatt diese zu
forcieren.

Wir halten aber auch das Ansinnen der Linkspartei,
hier in einer Kampfabstimmung im Deutschen Bundes-
tag die Koalition zur Ablehnung des Weltagrarberichtes
zu treiben, für nicht besonders zielführend. Stattdessen
wollen wir einen konstruktiven Dialog zwischen allen
Fraktionen darüber, wie man bei der Umsetzung der Er-
kenntnisse in der deutschen, europäischen und interna-
tionalen Politik Fortschritte erzielen kann und so der
Realisierung des Rechts auf Nahrung ein Stück näher
kommt.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1707132900

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlage auf

Drucksache 17/3542 zur federführenden Beratung an
den Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Ver-
braucherschutz und zur Mitberatung an den Ausschuss
für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe, den Aus-
schuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung und den Ausschuss für die Angelegenheiten
der Europäischen Union zu überweisen. – Damit sind
Sie einverstanden, wie ich sehe. Dann sind die Überwei-
sungen so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 31:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva
Bulling-Schröter, Dr. Barbara Höll, Ralph
Lenkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Extraprofite von Atom- und Kohlekraftwerks-
betreibern abschöpfen

– Drucksache 17/3673 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss

(A) (C)



(D)(B)


Frank Steffel (CDU):
Rede ID: ID1707133000

Heute zu später Stunde sprechen wir erneut über die

Besteuerung der Energiewirtschaft. Die Linke fordert
drei neue Steuern für die Betreiber von Atom- und
Kohlekraftwerken.

Erst vor wenigen Tagen haben wir im Bundestag in
zweiter und dritter Lesung das Kernbrennstoffsteuerge-
setz verabschiedet. Jetzt kramen die Linken einen An-
trag heraus, der erstens die eben eingeführte Kern-
brennstoffsteuer abschaffen will und zweitens anstelle
derer gleich drei neue Steuern fordert.

Sehr geehrte Linksfraktion, ich glaube, Sie haben den
richtigen Zeitpunkt für Änderungen verschlafen. Ihre
Änderungsvorschläge hätten Sie in die Diskussion ein-
bringen sollen, als wir in den vergangenen Wochen über
das Energiekonzept und die Kernbrennstoffsteuer hier
im Parlament und in den zuständigen Ausschüssen de-
battiert haben.

Aber ich wiederhole mich gerne, um Ihnen den Zu-
sammenhang zu erklären. Die Kernbrennstoffsteuer
bringt dem Bund jährlich 2,3 Milliarden Euro Steuerein-
nahmen und wird für den Schuldenabbau im Rahmen
des Sparpakets genutzt. Wir halten diese Steuer aus öko-
logischen und ökonomischen Gründen für richtig und
zielführend. Sie steht gleichzeitig im Einklang mit dem
Energiekonzept der Bundesregierung, welches ebenfalls
breit diskutiert wurde.

Die Einführung der Kernbrennstoffsteuer ist richtig,
da die Kernenergie eben nicht vom CO2-Emissionshan-
del betroffen ist und somit gegenüber anderen Energie-
trägern bevorzugt war. Wir halten das auch für richtig,
weil gerade die Kosten für Endlagerung und für den
Rückbau der Kernkraftwerke im Wesentlichen vom Steu-
erzahler in Deutschland getragen werden. Wir halten
das für richtig, weil der Strommarkt mehr Chancen-
gleichheit braucht und gerade die großen vier nationa-
len Stromversorger hier einen Wettbewerbsvorteil
gegenüber vielen kleinen und mittelständischen Stro-
manbietern haben. Auch hier wollen wir Chancenge-
rechtigkeit und mehr Wettbewerb.

Man muss auch sagen, dass der Begriff „Steuer“ irre-
führend ist. Es handelt sich im Wesentlichen nicht um
eine Steuer, sondern um einen Subventionsabbau. Auch
das ist Teil des Sparpakets. Deshalb sagen wir: Es wer-
den die wirtschaftlichen Vorteile der Kernenergie redu-
ziert und zusätzliche Anreize für regenerative Energien
geschaffen. Das ist in den kommenden Jahren der rich-
tige Weg und entspricht im Grundsatz auch Ihrem Ansin-
nen.

Aber genau betrachtet ist der Antrag der Linkspartei
wieder ein Beispiel für einfach durchschaubaren Popu-
lismus, mit dem Sie die Menschen verunsichern wollen.
In fünf Spiegelstrichen und acht Sätzen meinen Sie, die
Frage der Energiebesteuerung neu lösen zu wollen. Wir
werden mit Sicherheit nicht die Kernbrennstoffsteuer
abschaffen und gegen Ihre halbherzigen Schnellschüsse
austauschen. Dafür nenne ich Ihnen vier Gründen.

Erstens. Wir wollen, dass Energie in Deutschland be-
zahlbar bleibt. Darauf sind die kleinen und mittelständi-
Zu Protokoll
schen Betriebe, die großen Industrieunternehmen und
die Verbraucher angewiesen. Wir haben durchgesetzt,
dass die strom- und energieintensiven Unternehmen
nicht zu stark belastet werden. Wir setzen mit der Kern-
brennstoffsteuer bewusst bei den Energieerzeugern an.
Indem wir einen Großteil der Gewinne der Kernkraft-
werksbetreiber abschöpfen, lösen wir keine direkten
Preisreaktionen im Markt aus. Strompreise bilden sich
heute an den Börsen. Den Strompreis beeinflussen die
teureren fossilen Grenzkraftwerke weit stärker als die in
der Stromproduktion günstigeren Kernkraftwerke. Mit
Ihrer Energiepolitik wälzen Sie die Steuerlast letztend-
lich auf die Verbraucher ab. Damit sind wir nicht einver-
standen.

Zweitens. Die Forderung, die neuen Steuern nicht als
abzugsfähige Betriebsausgaben gelten zu lassen, ist me-
thodisch unmöglich. Sie können das zwar gerne kritisie-
ren, aber diese Steuer ist eine Ausgabe. Sie mindert das
Betriebsergebnis der Unternehmen. So etwas können
nur Leute fordern, die noch nie eine Bilanz gelesen ha-
ben oder von der Planwirtschaft träumen.

Drittens. Ihr Zeitplan ist absolut unrealistisch. Schon
bei dem Haushaltsbegleitgesetz und dem Kernbrenn-
stoffsteuergesetz waren wir knapp in der Zeit, um eine
Einführung zum 1. Januar 2011 sicherzustellen. Ihre
Forderungen sind jetzt nicht umzusetzen. Sie kennen die
parlamentarischen Abläufe. Auch die Industrie und die
Finanzbehörden, in dem Fall der Zoll, benötigen einen
ausreichenden Vorlauf.

Und viertens. Die Erhebung Ihrer sogenannten „Ab-
schöpfungssteuer“ ist ohne die Europäische Union
überhaupt nicht möglich. Wir haben bewusst darauf ge-
achtet, dass die Kernbrennstoffsteuer grundsätzlich mit
EU-Recht kompatibel ist. Denn Brennelemente werden
nicht von der EU-Energiesteuerrichtlinie erfasst.

Die Energiepolitik von CDU, CSU und FDP und das
Energiekonzept der Bundesregierung geben Sicherheit
für langfristige Planungen und Investitionen in Deutsch-
land. Wir gehen einen verlässlichen Weg – das unter-
scheidet uns von den anderen Parteien. Den Antrag der
Linkspartei können wir nicht unterstützen.


Ingrid Arndt-Brauer (SPD):
Rede ID: ID1707133100

Ihre Idee, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der

Linken, die Windfallprofits abzuschöpfen, ist – zumin-
dest was die Atomwirtschaft betrifft – nicht neu. Die
SPD-Fraktion hat schon Anfang Juli dieses Jahres einen
fast gleichlautenden Antrag in den Bundestag einge-
bracht. Im Grundsatz scheinen Sie also mit unserer For-
derung übereinzustimmen, was wir begrüßen. Ihr An-
trag gibt mir die Gelegenheit, unser Konzept noch
einmal vorzustellen.

Die Atomenergiebetreiber sind in der Tat begünstigt,
müssen sie doch keine CO2-Zertifikate kaufen. Dies liegt
daran, dass die Kraftwerke bei der Energieerzeugung
kein CO2 ausstoßen. Bei Betrachtung der gesamten
Wertschöpfungskette – angefangen vom Uranabbau bis
hin zur Zwischenlagerung – relativiert sich dieser
Aspekt dann wieder. Das hilft uns aber nicht weiter. Die



gegebene Reden

Ingrid Arndt-Brauer


(A) (C)



(D)(B)

CO2-Emissionszertifikate, die ab 2005 zugeteilt wurden
und ab dem Jahre 2013 in vollem Umfang erworben
werden müssen, wurden von den Atomkraftwerksbe-
treibern einfach eingepreist. Die daraus entstehenden
Mitnahmegewinne betragen laut Ökoinstitut circa
3,4 Milliarden Euro. Der Wettbewerb zwischen den
Energieerzeugern wird durch die direkte und indirekte
Subventionierung der Atomenergiewirtschaft erheblich
verzerrt.

Im Gegenzug zu den wirtschaftlichen Vorteilen der
Atomenergieerzeuger haben sich die wirtschaftlichen
Rahmenbedingungen der Nutzung der Atomenergie zur
gewerblichen Stromerzeugung in den letzten zehn Jah-
ren gravierend verändert. Die Kosten für eine sichere
Lagerung radioaktiver Abfälle und die notwendige Sa-
nierung vorhandener Lagerstätten haben sich verviel-
facht, wodurch sich die bisher erhobenen Kosten für die
Benutzung der Anlagen als nicht deckend erweisen. Ab-
zuwarten bleibt, ob die verpflichtenden steuerbegünstig-
ten Rückstellungen der Atomkraftwerksbetreiber für
Stilllegung, Entsorgung und Rückbau ausreichen und
die benötigten Gelder fristgerecht verfügbar sein wer-
den. Letztlich müssen die Kosten, die nicht von den Ver-
ursachern getragen werden, wie in den vergangenen
Jahrzehnten vom Staat und damit den Steuerzahlern fi-
nanziert werden. Das ist ein vollkommen untragbarer
Zustand.

Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit beziffert die künftigen Ausgaben des
Bundes allein für die Stilllegung und den Rückbau kern-
technischer Anlagen, darunter die Endlager Asse II und
Morsleben, mit mindestens 7,7 Millarden Euro. Gerade
in Morsleben wurden während der Amtszeit der damali-
gen Bundesumweltministerin Merkel erhebliche Mengen
radioaktiven Materials aus den alten Bundesländern
einlagert.

All diese Umstände erfordern es dringend, die den
Atomkraftbetreibern zufallenden leistungslosen Ge-
winne angemessen abzuschöpfen; da sind wir uns mit
Ihnen vollkommen einig. Die SPD hat sich abweichend
zum heute debattierten Antrag der Linken für die Erhe-
bung einer Brennelementesteuer entschieden. Auf die
Preisbildung an der Strombörse hätte eine solche Steuer
– wie die Auktionierung von Emissionszertifikaten –
keine Auswirkung, da sie sich an den Produktionskosten
des sogenannten Grenzkraftwerks orientiert; dies ist in
der Regel ein Kohlekraftwerk. Die von Schwarz-Gelb
verabschiedete Kernbrennstoffsteuer in Höhe von
145 Euro pro Gramm Kernbrennstoff ist absolut unzu-
reichend, um dieser Aufgabe gerecht zu werden. Nach
einhelliger Auffassung aller im Rahmen der Anhörung
des Haushaltsausschusses am 14. Oktober 2010 gehör-
ten Sachverständigen ist das Regierungskonzept noch
nicht einmal geeignet, um das Einnahmeziel von jähr-
lich 2,3 Milliarden Euro zu erzielen. Sie ist erst recht
nicht geeignet, Einnahmen über diese 2,3 Milliarden
Euro hinaus an den Energie- und Klimafonds abzufüh-
ren. Das zeigen schon die Vorgänge beim Kraftwerk in
Biblis, wo die Betreiber den Austausch von Kernbrenn-
stäben einfach schon auf dieses Jahr vorgezogen wird.
Da die von der schwarz-gelben Koalition verabschie-
Zu Protokoll
dete Steuer nur beim erstmaligen Einsatz von Brennele-
menten fällig wird, können die Betreiber der Regierung
gleich am Anfang einen schmerzhaften Einnahmeverlust
zufügen.

Wir als SPD haben daher gefordert, die Steuer zu-
nächst auf 220 Euro pro Gramm Brennstoff anzuheben,
da diese Angabe aus dem ursprünglichen Referentenent-
wurf des Gesetzes zumindest das für die Haushaltskon-
solidierung vorgesehene Aufkommensvolumen sichert.
Weitere 50 Euro pro Gramm Brennstoff müssen hinzu-
kommen, um die Kürzungen der Bundesregierung im
Haushaltsentwurf 2011 bei den Ausgabetiteln der natio-
nalen Klimaschutzinitiative und der Förderprogramme
für erneuerbare Energien, aber auch die Kürzungen des
CO2-Gebäudesanierungsprogramms über den Fonds
auffangen zu können. Darüber sind weitere 30 Euro pro
Gramm Brennstoff notwendig, um die vorgesehene Ab-
gabe der Kernkraftwerksbetreiber an den Fonds als Ge-
genleistung für die Laufzeitverlängerung zu ersetzen, da
diese von der SPD-Fraktion abgelehnt wird. Zu guter
Letzt brauchen wir nochmals 40 Euro pro Gramm
Brennstoff, um die steuerlichen Einnahmeausfälle der
Länder und Kommunen zu kompensieren, da die Brenn-
elementesteuer den Gewinn der Unternehmen schmä-
lert. Wer jetzt mitgerechnet hat, kommt in Summe auf
eine Steuer von 340 Euro pro Gramm Kernbrennstoff.

Damit eine Besteuerung von Brennelementen ihre
volle Wirksamkeit entfalten kann, haben wir immer ge-
fordert, die Befristung zu streichen, was uns ja leider
nicht gelungen ist. Es ist unverantwortlich, der Gesell-
schaft durch die Laufzeitverlängerung höhere Risiken
und Kosten zu zumuten, die Verursacher aber weitaus
früher – nämlich schon im Jahr 2016 – aus ihrer Verant-
wortung zu entlassen.

Die Brennelementesteuer ist ein guter und gangbarer
Weg, Extragewinne der Atomkraftbetreiber abzuschöp-
fen, wenn so ausgestaltet worden wäre, wie wir es als
SPD vorgeschlagen haben. Wir hätten uns gefreut, ver-
ehrte Kollegen und Kolleginnen der Linken, wenn Sie
unseren Antrag mitgetragen hätten. Ihrem Antrag kön-
nen wir schon alleine deshalb nicht zustimmen, da er
nur auf das von der Regierung erstellte Steuerkonzept
abzielt und die Brennelementesteuer als Instrument ab-
lehnt.


Dr. Birgit Reinemund (FDP):
Rede ID: ID1707133200

Seit zehn Jahren warteten wir darauf: Die christlich-

liberale Koalition hat jetzt endlich mit ihrem Energie-
konzept einen belastbaren Fahrplan für die Energiever-
sorgung vorgelegt. Wir gehen den Weg ins Zeitalter der
erneuerbaren Energien unter Berücksichtigung von Kli-
maschutz, Versorgungssicherheit und bezahlbarer Ener-
giepreise. Die Koalition wird mit ihrem ehrgeizigen
Energiekonzept sicherstellen, dass die Verlängerung der
Restlaufzeiten den Stromkunden und nicht den Stromer-
zeugern dient.

Der Antrag der Fraktion Die Linke dagegen ist – wie-
der einmal – ein Zeugnis typisch linker Ideologie und
hat nur das eine Ziel: Unternehmen müssen geschröpft
werden. Das gilt besonders für große Unternehmen und



gegebene Reden

Dr. Birgit Reinemund


(A) (C)



(D)(B)

erst recht, wenn es sich um Betreiber von Kernkraftwer-
ken handelt. Bei Ihrem Kreuzzug gegen die Wirtschaft,
hier konkret gegen die Betreiber von Kraftwerken, ist Ih-
nen völlig entgangen, dass die jetztige Bundesregierung
bereits gehandelt hat. Wir haben mit den Unternehmen
einen Vertrag geschlossen, der genau diese Gewinnab-
schöpfungen regelt. Wir haben darüber hinaus beschlos-
sen, zum 1. Januar 2011 für die Betreiber von Kernkraft-
werken in Deutschland eine Steuer auf den Verbrauch
von Brennstäben einzuführen. Diese Kernbrennstoff-
steuer bringt dem Bund jährlich rund 2,3 Milliarden
Euro Steuereinnahmen.

Die neue Steuer wird zeitlich begrenzt von 2011 bis
2016 erhoben. Wir schöpfen die Gewinne der Kernkraft-
werksbetreiber in Milliardenhöhe – zu über 50 Prozent –
ab und fördern erneuerbare Energien mit zweistelligen
Milliardenbeträgen. Hinzu kommen ab 2013 die Einnah-
men aus der Versteigerung von Emissionszertifikaten,
die zum Großteil in erneuerbare Energien, Energieeffi-
zienz und in die Forschung investiert werden. Das heißt
konkret: Der konventionelle Kraftwerkspark aus Kern-
energie, Kohle und Gas finanziert letztendlich den Über-
gang ins Zeitalter der erneuerbaren Energien.

Zusätzlich zur Kernbrennstoffsteuer wird den Ener-
gieerzeugern ein substanzieller Beitrag zur Förderung
erneuerbarer Energien abverlangt. Durch eine vertrag-
liche Vereinbarung leisten die Betreiber in den Jahren
2011 bis 2016 Zahlungen in einer Höhe von bis zu
300 Millionen Euro jährlich. Wir haben von Anfang an
gesagt, wir wollen die Kernenergie in einer Größenord-
nung der Hälfte der Windfall Profits abschöpfen. Das
haben wir auch getan. Das ist gerechtfertigt, sinnvoll
und angemessen.

Darüber hinaus sehen wir aber auch, dass es ein legi-
times Interesse von Unternehmen gibt, Gewinne zu er-
wirtschaften. Für die Linken ist dies moralisch verwerf-
lich, und deshalb sind jeder Gewinn und jedes Vermögen
so hoch wie möglich zu versteuern; egal ob bei Unter-
nehmen oder den Bürgerinnen und Bürgern. Dabei
schießen sie regelmäßig über das Ziel hinaus.

Aber: Die Forderung der Linken nach noch mehr Ge-
winnabschöpfung entlarvt sich selbst als ideologisch,
widersprüchlich und populistisch. In Ihrem Antrag ge-
hen Sie natürlich nicht darauf ein, dass noch mehr Ge-
winnabschöpfung zulasten der Körperschaftsteuer,
sprich des Bundes, und natürlich auch zulasten der Ge-
werbesteuer geht und damit die Standort-Kommunen zu-
sätzlich belastet. Andererseits lassen Sie keine Gelegen-
heit aus, dies dieser Regierung vorzuwerfen. Das ist
heuchlerisch.

Ich stelle fest: Diese Regierung hat den richtigen Weg
beschritten: mit Augenmaß und Vernunft.


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1707133300

Letzte Woche ging durch die Presse, dass RWE noch

in diesem Jahr die Hälfte der 193 Brennelemente des
Atomkraftwerks Biblis B austauschen will. Es ist leicht
durchschaubar, worum es dabei geht: Der Konzern will
schlicht die Brennelementesteuer umgehen, die zum
Zu Protokoll
1. Januar 2011 in Kraft tritt. Denn sie gilt nur für solche
Brennelemente, die neu eingewechselt werden. Es liegt
förmlich auf der Hand, dass RWE nun frühzeitig neue
Stäbe einsetzen will, um die Steuer zu umschiffen. RWE
spart dadurch 280 Millionen Euro. Es ist kein Wunder,
dass andere Atomkonzerne nun Ähnliches vorhaben.

Würde die Besteuerung der AKWs nach dem Konzept
unseres Antrags durchgeführt, wären solche Schlupflö-
cher geschlossen. Allerdings wollen Union und FDP sie
wohl gar nicht schließen. Schließlich war die Bundesre-
gierung frühzeitig über das Vorhaben von RWE infor-
miert – zwei Wochen, bevor das Kernbrennstoffsteuerge-
setz hier im Haus durchgepeitscht wurde. Zudem hätte
Schwarz-Gelb eine Bremse gegen Vorzieheffekte ein-
bauen können, wie bei der neuen Flugticketsteuer ge-
schehen. Diese wird nämlich rückwirkend zum 1. Sep-
tember eingeführt, dem Tag des Kabinettsbeschlusses.
So soll vermieden werden, dass sich Reisende noch
schnell mit steuerfreien Flügen fürs nächste Jahr einde-
cken.

Ohnehin ist die von der Regierung vorgesehene Ab-
schöpfung von Sondergewinnen aus der Laufzeitverlän-
gerung ein Witz. Nach Berechnungen des Öko-Instituts
kassieren die Atomkonzerne zusätzlich zwischen 58 Mil-
liarden Euro und 94 Milliarden Euro. Hinzu kommen
Finanzerträge aus den Rückstellungen für den Rückbau
und die Entsorgung der Atomkraftwerke bzw. der abge-
brannten Brennelemente in Höhe von zirka 20 Milliar-
den Euro. Nach den Plänen der Bundesregierung soll
nur weniger als die Hälfte davon abgeschöpft werden,
vielleicht auch nur ein Drittel.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, Sie
haben mit der Laufzeitverlängerung nicht nur gegen den
Willen der Mehrheit der Bevölkerung agiert und eine
Energiepolitik ins Gestern eingeleitet. Sie schustern den
Atomkonzernen dabei auch noch Dutzende Milliarden
zu. Somit stärken sie auch über die Steuerpolitik die
Marktmacht der „Großen Vier“ und behindern so eine
zukunftsfähige Energieversorgung.

Die sogenannten windfall profits, um die es hier geht,
gibt es nicht erst seit der Laufzeitverlängerung. Sie sind
ein grundsätzliches Problem, auch für fossile Kraft-
werke, und zwar seit der Einführung des Europäischen
Emissionshandelssystems im Januar 2005. Seitdem prei-
sen die Stromversorger die Marktpreise der CO2-Emis-
sionsberechtigungen als Opportunitätskosten in die
Strompreise ein. Dies tun sie unbeschadet der Tatsache,
dass 91 Prozent der Zertifikate an die Kraftwerksbetrei-
ber kostenlos zugeteilt wurden. Auf diese Weise erzielen
die Energieversorger jährliche Sondergewinne in Mil-
liardenhöhe, welche die Verbraucherinnen und Verbrau-
cher mit ihrer Stromrechnung bezahlen. Darauf hat die
Linke seinerzeit als erste Partei aufmerksam gemacht.
Seitdem haben wir immer wieder Änderungen ange-
mahnt, etwa eine „windfall-profit-tax“. Passiert ist aber
nichts. Selbst den anderen Oppositionsparteien war dies
lange Zeit egal, aus welchen Gründen auch immer.

Verschärft wird das Problem dadurch, dass am durch
die Zertifikatskosten erhöhten Strompreis nicht nur Be-
treiber von Kohle- oder Gaskraftwerken verdienen.



gegebene Reden

Eva Bulling-Schröter


(A) (C)



(D)(B)

Gleichfalls profitieren davon Betreiber von Atomkraft-
werken, obwohl ihre Anlagen überhaupt nicht emissions-
handelspflichtig sind. Schließlich setzten die laufenden
Kosten jenes Kraftwerks den Handelspreis für alle Bör-
sengeschäfte am Elektrizitätsmarkt, welches als letztes
noch benötigt wird, um die aktuelle Stromnachfrage zu
bedienen. Dieses Kraftwerk ist in der Regel ein Stein-
kohle- oder Gaskraftwerk; beide preisen den jeweils ak-
tuellen CO2-Handelspreis in ihr Angebot ein. So steigen
auch bei Atomkraftwerken durch den nunmehr höheren
Strompreis die Einnahmen. Aus den genannten Gründen
wollen wir mit unserem Antrag all jene windfall profits
vollständig kassieren, die aufgrund der Preiseffekte des
Emissionshandels anfallen – egal ob nun bei Kohlekraft-
werken oder Atommeilern.

Gleichzeitig will ich klarstellen, dass die Linke für die
Atomkraft den unverzüglichen Ausstieg fordert. Wir wol-
len uns also nicht mit den Verhältnissen anfreunden,
etwa weil dann noch irgendwelche Steuern flössen. In
unserem Antrag geht es vielmehr unabhängig von der
Laufzeitverlängerung darum, Extraprofite der Energie-
erzeuger zu kassieren, die diese leistungs- und risikolos
einstreichen. Dies wollen wir mit drei Sondersteuern er-
reichen: zwei für Betreiber von Atomkraftwerken und
eine für Betreiber emissionshandelspflichtiger Anlagen
der fossilen Stromwirtschaft.

Die erste Atomsteuer dient direkt zur Abschöpfung
der windfall profits. Sie soll 2 Cent je Kilowattstunde
Atomstrom für das Jahr 2011 betragen. In den Folgejah-
ren soll sie an die Preisentwicklung für Emissionsbe-
rechtigungen angepasst werden. Denn zwischen den
Handelspreisen der Zertifikate und der Höhe der Extra-
profite besteht ein enger Zusammenhang. Zusätzlich
wollen wir bei jedem Atomkraftwerk jährlich eine Steuer
von 100 000 Euro pro Megawatt Nettokapazität erhe-
ben. Damit sollen sich die AKW-Betreiber an den volks-
wirtschaftlichen Kosten beteiligen, welche die Atom-
kraft der Gesellschaft aufbürdet.

Für Betreiber von emissionshandelspflichtigen, fossil
befeuerten Kraftwerken sehen wir im Jahr 2012 ebenfalls
eine Steuer zur Abschöpfung der windfall profits vor, und
zwar für jedes zugeteilte Zertifikat in Höhe des durch-
schnittlichen Zertifikatspreises des Vorjahres. Ab 2013 er-
übrigt sich dann das Problem für die fossilen Kraftwerke,
denn ab diesem Zeitpunkt werden die CO2-Zertifikate
laut EU-Recht versteigert und nicht mehr verschenkt.
Für die kostenlose Vergabe hatte sich Deutschland in der
EU seinerzeit ganz besonders stark gemacht, sowohl un-
ter Rot-Grün, als auch unter der großen Koalition. Inso-
fern ist die Linke tatsächlich die einzige Partei, die sich
konsequent gegen den Missbrauch dieses Klimaschutzin-
strumentes gewendet hat. Ich lade sie darum alle dazu
ein, nunmehr wenigstens etwas gegen die Auswüchse in
Form der Extraprofite zu unternehmen: Stimmen Sie ein-
fach unserem Antrag zu.


Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1707133400

Den Atomkonsens der rot-grünen Bundesregierung

zwischen den Energieversorgern und der Bevölkerung
aufzukündigen, kommt die schwarz-gelbe Regierung,
Zu Protokoll
aber auch das Volk und die Exekutive teuer zu stehen.
Jeder Tag Laufzeit bringt dagegen den Energiekonzer-
nen Eon, RWE, EnBW und Vattenfall pro Atommeiler
einen Gewinn von 1 Million Euro. Strom fürs Ausland,
satte Gewinne für die Stromgroßkonzerne und ihre Ak-
tionäre; der Jahrtausende strahlende Müll jedoch bleibt
für das Volk übrig. Wen wundert da, dass eine im letzten
Jahrtausend vergessen geglaubte Volksbewegung sich
verjüngt in Bewegung setzt und den Widerstand als ihr
Bürgerrecht wieder entdeckt.

Gegen den Volkszorn hilft es auch nicht, dass die
Bundesregierung sich mit dem vereinbarten Ablasshan-
del ein nettes Deckmäntelchen ausgedacht hat: Die
Atomkonzerne sollen einen Teil ihrer Zusatzgewinne in
einen Energie- und Klimafonds einzahlen, damit man
mit dem Geld dann erneuerbare Energien fördern kann.

Grüne bezweifeln, durch Rechtswissenschaftler ge-
stützt, dass eine solche Konstruktion mit der Finanzver-
fassung überhaupt in Einklang steht, also rechtlich mög-
lich und verfassungskonform ist. Klar ist: Der Staat
finanziert sich und seine Aufgaben über Steuern. Davon
sollen laut Röttgen auch Atommülltransportmehrkosten
und Endlagersanierungen – wie bei der bald abgesoffe-
nen Asse – bezahlt werden. Folglich ist die Einführung
einer Brennelementesteuer grundsätzlich ein richtiger
Ansatz. Daneben kennt die Rechtsordnung seit langem
auch nichtsteuerliche Abgaben, insbesondere Gebühren,
Beiträge und Sonderabgaben. Diese bedürfen jedoch
stets einer besonderen Rechtfertigung, also eines sach-
lich rechtfertigenden Grundes und einer klaren Zweck-
bindung. Nach meiner Auffassung entspricht aber der
sogenannte Förderfondsvertrag zur Bildung von Son-
dervermögen nach dem Energie- und Klimafonds dieser
Maßgabe nicht. Mit seinen Unwägbarkeiten auf der Ein-
nahmeseite und seinem schwammigen Verwendungs-
zweck ist dieser Vertrag eine Mogelpackung. Der Deal
mit den Energieversorgern lautet: Geld statt Sicherheit.
Die Ausgaben sollen sich nach den Plänen der Bundes-
regierung an ihrem fatalen Energiekonzept orientieren,
um dessen Wirksamkeit und Effizienz zu verbessern. Es
reicht der gesunde Menschenverstand, um zu begreifen:
Das Vertragswerk ist Ausverkauf von Hoheitsrechten
der Bundesregierung an die Energiekonzerne.

Insofern ist das Anliegen der Linken folgerichtig, die
Extraprofite abzuschöpfen, die bei Stromversorgungsun-
ternehmen aus den Preiseffekten des Emissionshandels
entstehen. Die Grünen unterstützen ihre Forderung die
„Subventionierung der fossil-atomaren Energiewirt-
schaft auf Kosten von Verbraucherinnen und Verbrau-
chern sowie der öffentlichen Haushalte“ unverzüglich
zu beenden.

Selbst für den Bundesverband Christlicher Demokra-
ten gegen Atomkraft, in dem sich CDU- und CSU-Mit-
glieder für die Überwindung der Kernenergie organisie-
ren, sind Laufzeitverlängerungen für Atomkraftwerke
schließlich ein „Ausdruck politischer Idiotie“.

Bei aller Sympathie für die Zielsetzung des Antrags:
Er packt das Problem nicht richtig an. Anstatt auf eine
vernünftige Ausgestaltung und Höhe der Brennelemen-
testeuer zu setzen, wie wir Grünen es tun, will die Linke



gegebene Reden





Sylvia Kotting-Uhl


(A) (C)



(D)(B)


zwei neue Steuern auf Atomstrom einführen. Das macht
die Sache unnötig kompliziert und setzt sie rechtlichen
Unwägbarkeiten aus.

Insbesondere die unter Punkt zwei geforderte Steuer
zum Ausgleich für externalisierte Schäden stünde recht-
lich auf wackeligen Füßen. Schon die Frage, in welcher
Höhe Kosten durch externalisierte Schäden angelegt
werden können, wäre mit Sicherheit Gegenstand lang-
jähriger gerichtlicher Auseinandersetzungen. Entspre-
chend fraglich ist unter steuerrechtlichen Aspekten die
Festlegung auf 100 000 Euro pro Megawatt installierter
Nettoleistung.

Die Zielrichtung des Antrags ist gut, die Ausführung
lässt Zweifel zu. Ich kann keinen Vorteil gegenüber dem
Konzept einer Brennelementesteuer erkennen. Auch hier
haben wir durch die Besteuerung der Brennelemente die
Möglichkeit, die Atomwirtschaft angemessen an den ge-
sellschaftlichen Kosten zu beteiligen. Mit dem Konzept
der Linken würden wir dagegen Gefahr laufen, nach
jahrelangen Gerichtsprozessen leer auszugehen.

Wir halten deshalb an unserem Konzept einer an-
spruchsvollen Brennelementesteuer fest. Das haben wir
bereits im Juli in den Bundestag eingebracht.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1707133500

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/3673 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit sind Sie
ebenfalls einverstanden. Dann ist auch diese Überwei-
sung so beschlossen.

Damit sind wir am Ende der heutigen Tagesordnung.

Ich bedanke mich herzlich, dass Sie so lange ausge-
harrt haben, wünsche Ihnen noch einen schönen Abend
und berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bundes-
tages auf morgen, Freitag, den 12. November, 9 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen.