Protokoll:
17043

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 17

  • date_rangeSitzungsnummer: 43

  • date_rangeDatum: 20. Mai 2010

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  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 22:55 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 17/43 Antrag der Abgeordneten Willi Brase, Tagesordnungspunkt 5: a) Antrag der Abgeordneten Uwe Schummer, Nadine Müller (St. Wendel), Albert Rupprecht (Weiden), weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Heiner Kamp, Patrick Meinhardt, Dr. Martin Neumann (Lausitz), weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der FDP: Qualitäts- offensive in der Berufsausbildung (Drucksache 17/1435) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Berufsbildungsbericht 2010 (Drucksache 17/1550) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der SPD: Berufliche Bildung als Garant zur Sicherung der Teilhabechancen junger Menschen und des Fachkräftebedarfs von morgen stärken (Drucksache 17/1759) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Annette Schavan, Bundesministerin BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Willi Brase (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heiner Kamp (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Heiner Kamp (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Agnes Alpers (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 4219 B 4219 C 4219 D 4220 A 4221 C 4223 A 4224 D 4225 A 4225 B Deutscher B Stenografisc 43. Sit Berlin, Donnerstag I n h a Wahl des Abgeordneten Werner Simmling als Mitglied und des Abgeordneten Torsten Staffeldt als stellvertretendes Mitglied in den Eisenbahninfrastrukturbeirat . . . . . . . . . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung des Tagesordnungspunktes 33 k . . Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . . Tagesordnungspunkt 4: Eidesleistung des Wehrbeauftragten . . . . . Präsident Dr. Norbert Lammert . . . . . . . . . . . Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deutschen Bundestages . . . . . . . . . . . . . . . 4217 A 4217 B 4218 D 4218 D 4218 D 4218 D 4219 A c) Antrag der Abgeordneten Willi Brase, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans- Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Verordnungser- undestag her Bericht zung , den 20. Mai 2010 l t : mächtigung in § 43 Absatz 2 des Berufs- bildungsgesetzes entfristen (Drucksache 17/1745) . . . . . . . . . . . . . . . d) Antrag der Abgeordneten Agnes Alpers, Dr. Petra Sitte, Nicole Gohlke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Konsequenzen aus dem Berufs- bildungsbericht ziehen – Ehrliche Aus- bildungsstatistik vorlegen, gute Ausbil- dung für alle ermöglichen (Drucksache 17/1734) . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 4: 4219 C 4219 C Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Uwe Schummer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . 4226 C 4228 A II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 Katja Mast (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Gerdes (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Florian Bernschneider (FDP) . . . . . . . . . . . . . Nadine Müller (St. Wendel) (CDU/CSU) . . . Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Agnes Alpers (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Stefan Schwartze (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 6: Antrag der Abgeordneten Dr. Marlies Volkmer, Bärbel Bas, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Für ein modernes Patientenrechtegesetz (Drucksache 17/907) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Marlies Volkmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Zöller, Beauftragter der Bundes- regierung für die Belange der Patientinnen und Patienten . . . . . . . . . . . . . Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) . . . . . . Maria Anna Klein-Schmeink (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . Erwin Rüddel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Erwin Lotter (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Maria Anna Klein-Schmeink (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . Dr. Marlies Volkmer (SPD) . . . . . . . . . . . . Elke Ferner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rudolf Henke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Maria Anna Klein-Schmeink (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 33: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Staatsvertrag vom 16. De- zember 2009 und 26. Januar 2010 über die Verteilung von Versorgungslasten bei bund- und länderübergreifenden Dienstherrenwechseln (Drucksache 17/1696) . . . . . . . . . . . . . . . . 4229 A 4230 A 4231 B 4232 B 4233 A 4234 B 4234 D 4235 C 4236 C 4236 D 4238 B 4240 A 4242 A 4243 A 4245 A 4245 D 4246 D 4248 B 4248 D 4249 B 4249 C 4250 D 4252 B 4252 D 4253 D b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 2. März 2009 zwischen der Regierung der Bun- desrepublik Deutschland und der Re- gierung der Insel Man zur Vermeidung der Doppelbesteuerung von im interna- tionalen Verkehr tätigen Schifffahrts- unternehmen (Drucksache 17/1697) . . . . . . . . . . . . . . . c) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 2. März 2009 zwischen der Regierung der Bun- desrepublik Deutschland und der Regierung der Insel Man über die Un- terstützung in Steuer- und Steuerstraf- sachen durch Auskunftsaustausch (Drucksache 17/1698) . . . . . . . . . . . . . . . d) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 26. März 2009 zwischen der Regierung der Bun- desrepublik Deutschland und der Re- gierung von Guernsey über den Aus- kunftsaustausch in Steuersachen (Drucksache 17/1699) . . . . . . . . . . . . . . . e) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 13. August 2009 zwischen der Regierung der Bun- desrepublik Deutschland und der Regierung von Gibraltar über die Un- terstützung in Steuer- und Steuerstraf- sachen durch Auskunftsaustausch (Drucksache 17/1700) . . . . . . . . . . . . . . . f) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Abkommen vom 2. Septem- ber 2009 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Fürstentums Liechten- stein über die Zusammenarbeit und den Informationsaustausch in Steuersachen (Drucksache 17/1701) . . . . . . . . . . . . . . . g) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Vertrag vom 27. November 2008 über die Änderung des Vertrags vom 11. April 1996 über die Internatio- nale Kommission zum Schutz der Oder gegen Verunreinigung (Drucksache 17/1702) . . . . . . . . . . . . . . . h) Erste Beratung des von der Bundes- regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Betriebs- prämiendurchführungsgesetzes und des Agrarstatistikgesetzes (Drucksache 17/1703) . . . . . . . . . . . . . . . 4254 A 4254 A 4254 A 4254 B 4254 B 4254 C 4254 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 III i) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung des Katzen- und Hundefell-Einfuhr-Verbotsgesetzes und zur Änderung des Seefischereigesetzes (Drucksache 17/1704) . . . . . . . . . . . . . . . . j) Antrag der Abgeordneten Birgitt Bender, Fritz Kuhn, Elisabeth Scharfenberg, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Erhebung von Daten zu der Versorgung mit He- bammenhilfe sowie zur Arbeits- und Einkommenssituation von Hebammen und Entbindungspflegern sicherstellen (Drucksache 17/1587) . . . . . . . . . . . . . . . . l) Antrag der Abgeordneten Axel Knoerig, Albert Rupprecht (Weiden), Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU, der Abgeord- neten Dr. Martin Neumann (Lausitz), Dr. Peter Röhlinger, Patrick Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Brücken bauen – Grundlagen- forschung durch Validierungsförderung der Wirtschaft nahe bringen (Drucksache 17/1757) . . . . . . . . . . . . . . . . m) Antrag der Abgeordneten Paul Schäfer (Köln), Jan van Aken, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Abschaffung der Wehrpflicht (Drucksache 17/1736) . . . . . . . . . . . . . . . . n) Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Tom Koenigs, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Einigkeit über die Definition des Tatbe- standes des Aggressionsverbrechens im IStGH-Statut erzielen (Drucksache 17/1767) . . . . . . . . . . . . . . . . o) Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting- Uhl, Hans-Josef Fell, Ingrid Nestle, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Atomaus- stieg beschleunigen – Strommarkt zu- kunftsfähig entwickeln (Drucksache 17/1766) . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 5: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Vermeidung kurz- fristiger Marktengpässe bei flüssiger Bio- masse (Drucksache 17/1750) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4254 C 4254 C 4254 D 4255 A 4255 A 4255 A 4255 B Tagesordnungspunkt 34: a)–i) Beschlussempfehlungen des Petitionsaus- schusses: Sammelübersichten 81, 82, 83, 84, 85, 86, 87, 88 und 89 zu Petitionen (Drucksachen 17/1590, 17/1591, 17/1592, 17/1593, 17/1594, 17/1595, 17/1596, 17/1597, 17/1598) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 6: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktio- nen DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Auseinandersetzung in der Ko- alition zur Haushaltskonsolidierung Steffen Bockhahn (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Steffen Kampeter, Parl. Staatssekretär BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Renate Künast (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. h. c. Jürgen Koppelin (FDP) . . . . . . . . . . Dagmar Ziegler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Michael Luther (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Klaus Hagemann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Florian Toncar (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jürgen Herrmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . . . Alois Karl (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Volkmar Klein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 7: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP: Europa 2020 – Die Wachstums- und Beschäftigungsstrategie der Europäischen Union braucht realistische und verbindli- che Ziele (Drucksache 17/1758) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Molitor (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Eva Högl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . Alexander Ulrich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 4255 C 4256 B 4257 C 4259 B 4260 D 4262 B 4264 A 4265 B 4266 C 4268 B 4269 D 4270 D 4272 A 4273 B 4274 C 4275 B 4275 C 4276 D 4278 A 4278 D 4280 A 4281 A 4282 B IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 Manfred Nink (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Stefan Kaufmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 8: Antrag der Abgeordneten Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Klaus Ernst, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion DIE LINKE: Kor- rektur der Überleitung von DDR-Alters- sicherungen in bundesdeutsches Recht (Drucksache 17/1631) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Frank Heinrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) . . . . . . . Anton Schaaf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) . . . . . . . Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 9: Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der interna- tionalen Sicherheitspräsenz im Kosovo auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999) des Sicherheitsrates der Vereinten Natio- nen vom 10. Juni 1999 und des Militärisch- Technischen Abkommens zwischen der in- ternationalen Sicherheitspräsenz (KFOR) und den Regierungen der Bundesrepublik Jugoslawien (jetzt: Republik Serbien) und der Republik Serbien vom 9. Juni 1999 (Drucksache 17/1683) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister AA . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. h. c. Gernot Erler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bundesminister BMVg . . . . . . . . . . . . . . . Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) . . . . . . . . . Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 10: a) Antrag der Abgeordneten Dr. Konstantin von Notz, Katja Dörner, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: 4283 B 4284 C 4285 C 4285 D 4286 C 4287 D 4288 D 4290 B 4291 C 4292 A 4293 A 4293 B 4294 B 4295 C 4296 D 4297 D 4298 C 4299 C 4300 B Sexuellen Missbrauch effektiv bekämp- fen – Netzsperren in Europa verhindern (Drucksache 17/1584) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Halina Wawzyniak, Jan Korte, Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Keine Internetsperren in EU-Richtlinie aufnehmen (Drucksache 17/1739) . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Antrag der Abgeordneten Burkhard Lischka, Marlene Rupprecht (Tuchenbach), Lars Klingbeil, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Sexuellen Missbrauch von Kindern europaweit effektiv bekämp- fen – Opferschutz stärken (Drucksache 17/1746) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Burkhard Lischka (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Marco Buschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU) . . . . Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . . Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 11: a) Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP: Modellversuch „Begleitetes Fahren mit 17“ in das Dauerrecht über- führen (Drucksache 17/1573) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Dirk Fischer (Hamburg), Arnold Vaatz, Volkmar Vogel (Kleinsaara), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab- geordneten Patrick Döring, Oliver Luksic, Werner Simmling, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Erwerb von Zweiradführerscheinen erleichtern (Drucksache 17/1574) . . . . . . . . . . . . . . . Gero Storjohann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Kirsten Lühmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . 4300 C 4300 C 4300 D 4301 A 4301 D 4303 A 4303 D 4305 A 4306 C 4307 A 4307 D 4308 C 4310 A 4310 C 4310 D 4310 D 4311 A 4312 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 V Oliver Luksic (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Lutze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Jarzombek (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Abgeordneten Christoph Strässer, Angelika Graf (Rosenheim), Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpakt über ein Individualbeschwerdeverfahren ratifizieren (Drucksache 17/1049) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ullrich Meßmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jürgen Klimke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Katrin Werner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 13: a) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Bundeswaldgesetzes (Drucksache 17/1220) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Waldbericht der Bundesregierung 2009 (Drucksache 16/13350) . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Petra Crone, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Bundeswaldgesetz nachhaltig gestalten – Schutz und Pflege des Ökosystems für heutige und künftige Generationen (Drucksache 17/1050) . . . . . . . . . . . . . . . . d) Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm, Undine Kurth (Quedlinburg), Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das Bundeswaldgesetz novellieren und ökologische Mindeststandards für die Waldbewirtschaftung einführen (Drucksache 17/1586) . . . . . . . . . . . . . . . . e) Antrag der Abgeordneten Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion DIE LINKE: Bundes- waldgesetz ändern – Naturnahe Wald- bewirtschaftung fördern (Drucksache 17/1743) . . . . . . . . . . . . . . . . Astrid Grotelüschen, Ministerin (Niedersachsen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4313 D 4315 A 4315 C 4316 C 4317 C 4317 C 4319 A 4321 A 4321 D 4322 D 4323 B 4323 C 4323 C 4323 C 4323 D 4324 A Petra Crone (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . . Dr. Gerd Müller (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . . Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alois Gerig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Abgeordneten Oliver Kaczmarek, Dirk Becker, Marco Bülow, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD: Naturna- hen Wasserhaushalt durch Schutz und Re- naturierung von Nass- und Feuchtgebieten fördern – Hochwassergefahren mindern, Klima schützen (Drucksache 17/1748) . . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 8: Antrag der Abgeordneten Nicole Maisch, Undine Kurth (Quedlinburg), Dorothea Steiner, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Auen- schutzprogramm vorlegen (Drucksache 17/1760) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 15: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie des Europäi- schen Parlaments und des Rates über End- energieeffizienz und Energiedienstleistun- gen (Drucksache 17/1719) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 16: Antrag der Abgeordneten Dr. Ilja Seifert, Dr. Martina Bunge, Heidrun Bluhm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Kon- vention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vorlegen (Drucksache 17/1578) . . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 9: Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Monika Lazar, Katja Dörner, weiterer Abge- 4325 B 4326 C 4327 C 4328 B 4329 A 4330 A 4331 A 4331 A 4331 B 4331 C VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Bericht der Bundesregierung über die Lage behinderter Menschen und die Entwicklung ihrer Teilhabe umfassen- der und detaillierter vorlegen (Drucksache 17/1762) . . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 10: Antrag der Abgeordneten Markus Kurth, Elisabeth Scharfenberg, Katja Dörner, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Handlungsaufträge aus dem UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (Drucksache 17/1761) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Maria Michalk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Gabriele Molitor (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 17: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Dritten Geset- zes zur Änderung des Vierten Buches So- zialgesetzbuch und anderer Gesetze (Drucksache 17/1684) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Wichtel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Max Straubinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Anette Kramme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 18: Antrag der Abgeordneten Dr. Valerie Wilms, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Schutz der Meere vor Vermül- lung und anderen Verschmutzungen (Drucksache 17/1763) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 19: Zweite und dritte Beratung des von den Frak- tionen der CDU/CSU und der FDP einge- brachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur 4331 C 4331 D 4332 B 4333 A 4335 A 4336 D 4338 A 4339 A 4339 A 4340 B 4341 A 4342 A 4343 A 4343 C 4344 B Änderung des Gesetzes zur Errichtung ei- ner Stiftung „Deutsches Historisches Mu- seum“ (Drucksachen 17/1400, 17/1751) . . . . . . . . . . Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU) . . . . Dr. h. c. Wolfgang Thierse (SPD) . . . . . . . . . Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . . . . Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . Tagesordnungspunkt 20: Erste Beratung des von den Abgeordneten Burkhard Lischka, Dr. Peter Danckert, Sebastian Edathy, weiteren Abgeordneten und der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung des Ver- fahrens nach der Grundstücksverkehrs- ordnung (Drucksache 17/1426) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 21: Antrag der Abgeordneten Jutta Krellmann, Sahra Wagenknecht, Klaus Ernst, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Unternehmensmitbestimmung lückenlos garantieren (Drucksache 17/1413) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gitta Connemann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Ottmar Schreiner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Sebastian Blumenthal (FDP) . . . . . . . . . . . . . Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 22: Antrag der Abgeordneten Uwe Kekeritz, Ute Koczy, Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN: Die Ziele der Bundesregierung in der Weltgesundheitsorganisation neu ausrichten (Drucksache 17/1581) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU) . . . . . . . . Karin Roth (Esslingen) (SPD) . . . . . . . . . . . . Helga Daub (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4344 C 4344 D 4345 D 4347 B 4348 C 4349 C 4350 C 4352 B 4352 C 4352 C 4353 C 4354 A 4355 B 4355 D 4356 C 4357 A 4357 B 4358 C 4359 C 4360 C 4361 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 VII Tagesordnungspunkt 23: Antrag der Abgeordneten Katrin Kunert, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Barbara Höll, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für eine immissions- und bau- rechtliche Privilegierung von Sportanlagen (Drucksache 17/1742) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Michael Paul (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Ute Vogt (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Joachim Hacker (SPD) . . . . . . . . . . . . . Judith Skudelny (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katrin Kunert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 24: Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm, Friedrich Ostendorff, Dr. Wolfgang Strengmann- Kuhn, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Hofab- gabe als Voraussetzung für den Bezug einer Altersrente für Landwirte abschaffen (Drucksache 17/1203) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marlene Mortler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Heinz Paula (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Edmund Peter Geisen (FDP) . . . . . . . . . . Alexander Süßmair (DIE LINKE) . . . . . . . . . Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 25: Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Jan Korte, Ulla Jelpke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Ehegatten- nachzug ohne Sprachhürden ermöglichen (Drucksache 17/1577) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Stephan Mayer (Altötting) (CDU/CSU) . . . . . Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 26: Antrag der Abgeordneten Manuel Sarrazin, Viola von Cramon-Taubadel, Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: zu dem Vor- 4362 D 4363 A 4364 A 4364 C 4365 A 4365 D 4366 C 4367 C 4367 D 4368 B 4369 D 4370 C 4371 A 4371 D 4372 A 4373 B 4374 B 4375 C 4376 B 4377 C schlag der Europäischen Kommission für eine Verordnung des Europäischen Parla- ments und des Rates über die Bürgerinitia- tive KOM(2010) 119 endg.; Ratsdok. 8399/10: hier: Stellungnahme gegenüber der Bun- desregierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes Europäische Bürgerinitiative – Für mehr Bürgerbeteiligung in der EU (Drucksache 17/1781) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Dörflinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Karl Holmeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Michael Roth (Heringen) (SPD) . . . . . . . . . . Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Naturnahen Wasserhaushalt durch Schutz und Renaturierung von Nass- und Feucht- gebieten fördern – Hochwassergefahren mindern, Klima schützen – Auenschutzprogramm vorlegen (Tagesordnungspunkt 14 und Zusatztagesord- nungspunkt 8) Ingbert Liebing (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Josef Göppel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Oliver Kaczmarek (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Horst Meierhofer (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Stüber (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Endenergieeffizienz und Energie- dienstleistungen (Tagesordnungspunkt 15) Thomas Bareiß (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . 4378 C 4378 D 4379 B 4380 B 4381 C 4382 B 4383 D 4384 D 4385 A 4385 C 4386 C 4387 A 4388 A 4388 D 4389 B 4390 A VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Breil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dorothée Menzner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Schutz der Meere vor Vermül- lung und anderen Verschmutzungen (Tages- ordnungspunkt 18) Ingbert Liebing (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Josef Göppel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Frank Schwabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Angelika Brunkhorst (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Sabine Stüber (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfa- chung des Verfahrens nach der Grundstücks- verkehrsordnung (Tagesordnungspunkt 20) Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU) . . . . . . . . Burkhard Lischka (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Marco Buschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Heidrun Bluhm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4390 D 4391 D 4392 D 4393 D 4394 C 4395 C 4397 A 4397 C 4399 A 4399 D 4400 C 4401 A 4402 D 4403 D 4404 B 4405 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4217 (A) (C) (D)(B) 43. Sit Berlin, Donnerstag Beginn: 9
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    Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4385 (A) (C) (D)(B) – Naturnahen Wasserhaushalt durch Schutz und Renaturierung von Nass- und Feuchtge- serschutz. Ich habe die große Bitte, dass hier kein fal- scher Eindruck erweckt wird. Wir haben in Deutschland Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Beck (Köln), Volker BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 20.05.2010 Bender, Birgitt BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 20.05.2010 Binder, Karin DIE LINKE 20.05.2010 Binding (Heidelberg), Lothar SPD 20.05.2010 Bollmann, Gerd SPD 20.05.2010 Bosbach, Wolfgang CDU/CSU 20.05.2010 Goldmann, Hans- Michael FDP 20.05.2010 Groschek, Michael SPD 20.05.2010 Groth, Annette DIE LINKE 20.05.2010 Heinen-Esser, Ursula CDU/CSU 20.05.2010 Kramme, Anette SPD 20.05.2010 Kühn, Stephan BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 20.05.2010 Maurer, Ulrich DIE LINKE 20.05.2010 Monstadt, Dietrich CDU/CSU 20.05.2010 Nietan, Dietmar SPD 20.05.2010 Petermann, Jens DIE LINKE 20.05.2010 Pflug, Johannes SPD 20.05.2010 Reichenbach, Gerold SPD 20.05.2010 Schmidt (Eisleben), Silvia SPD 20.05.2010 Steinbach, Erika CDU/CSU 20.05.2010 Anlagen zum Stenografischen Bericht bieten fördern – Hochwassergefahren min- dern, Klima schützen – Auenschutzprogramm vorlegen (Tagesordnungspunkt 14 und Zusatztagesord- nungspunkt 8) Ingbert Liebing (CDU/CSU): Beide Anträge, der von der Fraktion der SPD sowie der von Bündnis 90/Die Grü- nen, enthalten wesentliche korrekte Beschreibungen von Problemlagen und greifen eine Reihe von Themen auf, die in der Tat noch einiger Lösungen bedürfen. Wasser, die Verfügbarkeit von Trinkwasser, der Schutz des Grundwassers, die Verbesserung der Wasserqualität einer ganzen Reihe von Fließ- und Oberflächengewässern – dies alles sind Themen, über die zu sprechen es sich alle- mal lohnt. Ich halte es deshalb auch für eine lohnenswerte Aufgabe, in den anschließenden Ausschussberatungen den Versuch zu unternehmen, zu einem gemeinsamen überfraktionellen Beschluss zu kommen. Wasser, das ist ein sehr hohes Gut. Wir sind uns des- sen oftmals gar nicht bewusst. Für uns ist es eine Selbst- verständlichkeit, den Wasserhahn aufzudrehen und sau- beres Trinkwasser zu bekommen. In anderen Ländern ist dies keineswegs so. Dort fehlt Wasser als Grundlage je- den Lebens. Der Klimawandel wird dieses Problem ver- schärfen. Auch für uns wird jederzeit verfügbares Grundwasser an jedem Ort Deutschlands nicht auf Dauer selbstverständlich sein. Der Klimawandel hat vielfältige und in Deutschland regional unterschiedliche Auswirkungen. Darauf weist der Antrag der SPD-Fraktion zu Recht hin. Den im An- trag beschriebenen Auswirkungen möchte ich eine nicht genannte Herausforderung hinzufügen. Während wir in manchen Regionen Deutschlands zu wenig Wasser ha- ben werden, werden wir in bestimmten Situationen ins- besondere an der deutschen Nordseeküste zu viel Wasser haben – und zwar nicht nur durch Sturmfluten und Hochwasserstände von See aus, sondern auch durch Pro- bleme bei der Binnenentwässerung. Schon heute ist es so, dass in etlichen Niederungsgebieten die Ableitung des Binnenwassers nur zu Zeiten von Niedrigwasser möglich ist bzw. es ins Meer gepumpt werden muss. Wenn jetzt wegen eines steigenden Meeresspiegels und durch Klimaveränderungen diese verfügbaren Zeit- fenster kleiner werden, bekommen wir auch bei der Bin- nenentwässerung ein Problem – und das bei saisonal steigenden Niederschlägen. Das ist eine Problemlage, der wir uns auch widmen müssen. Deshalb ist es gut und richtig, dass die Koalition sich vorgenommen hat, die Anpassungsstrategie an den Klimawandel fortzuschrei- ben. Aus dem Antrag der SPD möchte ich für die heutige Diskussion nur zwei weitere wesentliche Aspekte he- rausgreifen. Zum einen geht es mir um den Grundwas- 4386 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 (A) (C) (D)(B) bereits ein hohes Schutzniveau. Aber aus der Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie wissen wir auch, dass es Problembereiche gibt. Die werden gerade in der Umset- zung der Wasserrahmenrichtlinie seit einigen Jahren identifiziert und mit Maßnahmenprogrammen angegan- gen. Grundwasserschutz war auch ein wichtiges Thema in unseren Beratungen zum Wasserhaushaltsgesetz. Die Föderalismusreform I gibt dem Bund eine höhere Kom- petenz, die wir in der vergangenen Wahlperiode mit dem neuen Wasserhaushaltsgesetz genutzt haben. Das Ergeb- nis ist kein geringerer, sondern ein stärkerer Grundwas- serschutz. Auf dieser Basis sind jetzt die notwendigen Verordnungen zu erstellen. Das Umweltministerium ar- beitet mit Hochdruck an diesem Thema, mit dem wir uns in den kommenden Wochen ja noch intensiv beschäfti- gen können. Insofern wäre es auch falsch, den Eindruck zu erwecken, dass in diesem Sektor nichts geschieht. Aus einer Reihe von Briefen und vielen Gesprächen höre ich eher Kritik, dass das Umweltministerium mit den bisherigen Entwürfen für eine Grundwasserverord- nung über das Ziel hinausschießt und das Schutzniveau zu stark anhebt. Insofern kann aus meiner Sicht über- haupt nicht die Rede davon sein, dass es hier Defizite seitens der Regierung gebe. Ausdrücklich möchte ich das Umweltministerium ermuntern, mit den Verordnun- gen auf der Basis des neuen Wasserhaushaltsgesetzes das erreichte Schutzniveau zu verstetigen und dort, wo wir Wasserprobleme haben, Instrumente zur Verbesse- rung an die Hand zu geben. Dass dies praxistauglich sein muss und Nutzungen, die bisher unproblematisch statt- gefunden haben, auch in Zukunft weiterhin möglich sein müssen, versteht sich aus meiner Sicht von selbst. Als zweiten Bereich möchte ich den allerletzten Punkt des Forderungskataloges der SPD an die Bundes- regierung aufgreifen, weil ich hier schon anderer Auffas- sung als die Antragsteller bin. Sie fordern, die Auswei- sung von Gewässerrandstreifen in einer ausreichenden Breite zu regeln. Dies ist doch gerade erst mit dem Was- serhaushaltsgesetz geschehen. Ich halte nichts davon, dass wir jedes Jahr die gleichen Schlachten aufs Neue führen. Im Wasserhaushaltsgesetz ist im vergangenen Jahr ausdrücklich geregelt worden, dass Gewässerrandstrei- fen im Außenbereich 5 Meter breit sind. Aber wir haben auch ein Abweichungsrecht für die Länder aufgenom- men und die Möglichkeit für die zuständigen Behörden geschaffen, die Gewässerrandstreifen nach örtlichen Be- dingungen zu verändern. Genau das ist auch sachge- recht, weil die Verhältnisse in Deutschland nun einmal unterschiedlich sind. Ich kann einen Gebirgsbach in den Alpen nicht mit dem gleichen Maßstab messen wie Ent- wässerungsgräben in der Marsch auf Eiderstedt. Insofern kann ich zu dieser Forderung nur feststellen: Was da ge- fordert wird, ist längst erledigt. Wir haben eine gute Re- gelung im neuen Wasserhaushaltsgesetz; neuer gesetzli- cher Änderungsbedarf besteht hier aus meiner Sicht nicht. Josef Göppel (CDU/CSU): Zum Schutz von Feuchtgebieten wurden in den letzten Jahren erhebliche Anstrengungen unternommen: Ich nenne die Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt, den Auenzustandsbe- richt und das Positionspapier des Bundesamtes für Na- turschutz zu Klimawandel, Landnutzung und Biodiversi- tät. Um den Herausforderungen der Klimawandelfolgen zu begegnen, hat die Bundesregierung im Dezember 2009 die Deutsche Anpassungsstrategie an den Klima- wandel beschlossen. Zwei der 15 Handlungsfelder be- schäftigen sich eingehend mit dem Thema Gewässer- schutz. Der Antrag der SPD greift wichtige Anliegen auf. Dazu gehören die Reinhaltung des Grundwassers, die Si- cherung der Trinkwasservorräte und die Sicherung der Artenvielfalt. Im Zuge des Klimawandels werden Regio- nen, die bereits bisher unter Trockenheit zu leiden ha- ben, mit weiterer Verringerung der Sommernieder- schläge rechnen müssen. Das betrifft große Gebiete in Brandenburg. In Zukunft werden auch die klassischen Weinanbaugebiete am Rhein und in Franken mit zuneh- mender Trockenheit zu tun haben. Vor diesem Hinter- grund bekommt der Grundwasserschutz besondere Dringlichkeit. Die Verbesserung des Wasserrückhalts in der Fläche trägt insbesondere unter dem Aspekt des Kli- mawandels neben dem Hochwasserschutz und dem Er- halt der biologischen Vielfalt zur Grundwasseranreiche- rung und damit zur Grundwassersicherung bei. Ich möchte in Ergänzung zu den Ausführungen mei- nes Kollegen Liebing insbesondere auf die Natur- schutzaspekte des Antrages eingehen. Grundsätzlich ist erfreulich, dass die Energieerzeugung mit nachwachsen- den Rohstoffen aus der Landwirtschaft zunimmt. Aller- dings führt dies zum Beispiel zu vermehrtem Maisanbau mit negativen Folgen für Landschaft und Wasserhaus- halt. Mais gehört zu den wasserintensiven Kulturen. Der zunehmende Anbau von Energiepflanzen führt zu mehr Nutzungsdruck bis in die letzten Winkel der Fluren. Diese Entwicklung muss genau beobachtet, gesteuert und, wo nötig, eingeschränkt werden. Der energetische Gewinn durch nachwachsende Rohstoffe darf nicht zu einem Verlust an natürlichen Lebensgrundlagen führen. Es ist allgemein bekannt, dass gerade in den Feuchtge- bieten, Mooren, Flüssen und Flussauen die größte Arten- vielfalt besteht. Drei Beispiele aus dem Antrag zu diesem Tagesord- nungspunkt möchte ich herausgreifen: Erstens die Forde- rung, den Erhalt und die Renaturierung von Feuchtgebie- ten bei der Neugestaltung der Gemeinsamen Agrarpolitik einzubeziehen. Die Berücksichtigung des Wasserma- nagements in der Gemeinsamen Agrarpolitik für die Zeit nach 2013 ist eine ernsthafte Herausforderung. Genauso wie ein TEN-Programm für die Verkehrsinfrastruktur brauchen wir den Ausbau der „Green-Infrastruktur“ als Netz für die biologische Vielfalt. Zweitens die Forderung nach der Schaffung einer Genehmigungspflicht für den Umbruch von Grünland und ein generelles Umbruchver- bot auf feuchten und anmoorigen Standorten. Ich persön- lich unterstütze ein solches Umbruchverbot. Drittens die Forderung, die Ausweisung von Bauland in der Aue zu unterlassen. Diese Forderung ist nicht neu, aber dennoch Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4387 (A) (C) (D)(B) berechtigt. Die Ausweisung von Bauland in der Aue pro- voziert Hochwasserschäden und erzwingt teure techni- sche Schutzmaßnahmen, die volkswirtschaftlich nicht ge- rechtfertigt sind. Wir sollten versuchen, einen gemeinsamen Antrag zum Schutz des Wasserhaushalts und der Feuchtgebiete zustande zu bringen. Oliver Kaczmarek (SPD): Die erste Hälfte des „In- ternationalen Jahres der Biodiversität“ ist fast vorbei. Leider hat sich bis heute der Bundestag kaum ernsthaft mit dem Thema beschäftigt. Wir haben deshalb unseren Antrag bewusst wenige Tage vor dem „Internationalen Tag der biologischen Vielfalt“ am kommenden Samstag gestellt. An diesem Tag finden in ganz Deutschland auf Einladung zahlrei- cher Verbände und Organisationen aus dem Bereich des Naturschutzes Wanderungen statt, die für den Erhalt der Artenvielfalt sensibilisieren sollen. Alle diese Aktivitä- ten sind ehrenamtlich. Sie sind aber unverzichtbar für den Naturschutz und insbesondere den Schutz der Arten- vielfalt. Deshalb soll mit diesem Antrag auch ein Dank an die vielen ehrenamtlichen Helfer im Naturschutz ver- bunden werden. Wir wissen alle, dass wir die für 2010 gesteckten Ziele zur biologischen Vielfalt nicht erreichen werden. Dies gilt für Deutschland, aber auch für die internatio- nale Gemeinschaft. Das hat der Bericht der Vereinten Nationen, der am Montag letzter Woche veröffentlicht wurde, noch einmal gezeigt. Für uns darf das aber nur bedeuten: Wir müssen die Anstrengungen nachhaltig forcieren, um dem Schutz der biologischen Vielfalt den notwendigen Stellenwert zu geben. Moore, Fließgewässer, Auen und Grundwasseröko- systeme haben für die Artenvielfalt und den Klimaschutz eine besondere Bedeutung, wie unser Antrag beschreibt. Wir glauben, dass dem insbesondere auf drei Handlungs- feldern Nachdruck verliehen werden muss: Erstens. Die Landwirtschaft kann einen bedeutsamen Beitrag für den Erhalt und die Renaturierung von Feuchtgebieten leisten. Dies gilt insbesondere für eine strenger geregelte landwirtschaftliche Nutzung im Be- reich von Fließgewässern und die notwendige massive Einschränkung des Grünlandumbruchs. Zweitens. Die Instrumente der Raumordnung können einen weiteren wesentlichen Beitrag leisten. Ein ausge- glichener Wasserhaushalt und der Rückhalt von Wasser in der Fläche sollten als Leitziele Eingang in die Raum- planung finden. Und drittens weisen wir dem Naturschutz einen eige- nen Stellenwert zu. Über die Ausweisung und Pflege von Gewässerrandstreifen sollten beispielsweise auch die Unternehmen der Wasserverbände zum Erhalt der Artenvielfalt beitragen. Das alles sind Vorschläge, die wir miteinander disku- tieren sollten. Wichtig ist nur, dass wir auch zu konkre- ten Aktivitäten kommen. Das erwarten auch die Ver- bände und Organisationen von uns, denn nur geredet wurde genug darüber. Wasser ist die Grundlage für einzigartige Lebens- räume. Es sorgt für ausgeglichene Ökosysteme. Deshalb sollten wir den „Internationalen Tag der Biodiversität“ auch zum Anlass nehmen, uns mit der Bedeutung des Wassers auseinanderzusetzen. Denn Wasser – das ist im- mer wieder wichtig, zu betonen – ist keine x-beliebige Ware. Deshalb sollten wir damit sorgfältig umgehen. Die Auswirkungen des Klimawandels auf den Was- serhaushalt sind insbesondere im globalen Maßstab im- mens. Aber auch in Deutschland wird es zu vermehrten Problemen kommen: durch plötzlich auftretenden Stark- regen; Hochwasser, wie wir es in diesen Tagen aus Ost- europa kommend sehen; kürzere Regenphasen sowie längere Trockenperioden. Besonders bedroht davon sind die sensiblen Ökosysteme der Moore, Auen und des Grundwassers. In ihnen bildet sich eine Vielfalt von Le- bensgemeinschaften und Arten ab. Dazu kommt, dass insbesondere Moore und Auen als große CO2-Senken gelten, das heißt, große Mengen des klimaschädlichen Gases speichern können. Wasser in der Fläche zu halten, ist also auch eine der herausragenden Aufgaben für den Klimaschutz in Deutschland. Wir sind deshalb der Auffassung, dass die Erträge aus dem Emissionshandel auch für die Wieder- vernässung von Mooren und die Reaktivierung von Flussauen und Altarmen verwendet werden sollten. Denn damit würden Klima und Biodiversität sinnvoll ge- schützt. Politisches Handeln ist also gefragt. Doch die Bun- desregierung hat auch hier erneut Glaubwürdigkeit ver- spielt. Ich will dazu nur ein Beispiel nennen: Zu einer glaubwürdigen Naturschutzpolitik gehört es, dass poli- tisch gemachte Zusagen eindeutig und einwandfrei ein- gehalten werden. Das gilt auch für die auf dem Weltkli- magipfel in Kopenhagen gegebene Zusicherung, pro Jahr 420 Millionen Euro für den Klimaschutz in den Ent- wicklungsländern bereitzustellen. Es war bereits bekannt, dass diese Mittel mit den Ent- wicklungshilfegeldern teilweise verrechnet werden. Nun hat der Umweltminister in einem Zeitungsinterview ein- räumen müssen, dass von den 1,2 Milliarden Euro, die bis zum Ende der Wahlperiode fällig sind, 500 Millionen Euro aus der Zusage auf der internationalen Biodiversi- tätskonferenz stammen. Mittel also, die eigens für den Erhalt der Artenvielfalt im Besonderen vorgesehen wa- ren und nun verrechnet werden. Damit hat die Bundesre- gierung nicht nur die Menschen und die Naturschutzver- bände getäuscht, sondern auch die internationale Gemeinschaft. Und so etwas richtet nachhaltigen Scha- den an. Moore, Auen, Fließgewässer und Grundwassersys- teme haben eine enorme Bedeutung für den Klimaschutz und für den Erhalt der Artenvielfalt. Dafür zu sensibili- sieren, ist eines der Ziele des Wandertages zum „Interna- tionalen Tag der Biodiversität“ am kommenden Sams- tag. Es wird höchste Zeit, dass der Bundestag dessen 4388 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 (A) (C) (D)(B) Anliegen nicht nur verbal unterstützt, sondern sie auch kraftvoll in die politische Tat umsetzt. Horst Meierhofer (FDP): Flüsse, Auen und Feucht- gebiete sind von enormer Bedeutung für die biologische Vielfalt, den Klimawandel und den Hochwasserschutz. Wie wichtig sie sind, sehen wir gerade an den Über- schwemmungen in Osteuropa. Schon fünf Menschen sind den Fluten zum Opfer gefallen. Morgen wird das Hochwasser an der Oder erwartet. Alle Anzeichen spre- chen aber Gott sei Dank dafür, dass die Heftigkeit der Überschwemmungen an der Oder nicht so gravierend sein wird. Aufgrund der überragenden Bedeutung hat die FDP schon in ihrem Wahlprogramm den Schutz von Flüssen und Auen festgeschrieben. Auch der Koalitionsvertrag misst den Flüssen und Auen einen großen Stellenwert bei. Wir belassen es aber nicht bei Lippenbekenntnissen. Die Koalition handelt. Nachdem der Auenzustandsbe- richt im Oktober vergangenen Jahres vorgelegt wurde, werden die Daten jetzt evaluiert und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Künftig wird man sich mit einem Mausklick kilometergenau den Zustand der Auen in Deutschland anschauen können. Im Bundesprogramm für biologische Vielfalt werden die Auen und der Auen- schutz eine zentrale Rolle spielen. Der Koalitionsvertrag wird umgesetzt. Die zuständigen Ministerien arbeiten bereits daran. Deutschland ist ein dicht besiedeltes, industrialisiertes Land. Nachteilige Veränderungen an den Gewässern, die über Jahrzehnte erfolgt sind, können nicht in wenigen Jahren beseitigt werden. Einige Veränderungen, zum Beispiel durch die Nutzung der Flüsse als Wasserstra- ßen, lassen sich auch nicht von heute auf morgen rück- gängig machen, zum Beispiel am Rhein, einer der meist befahrenen Schifffahrtsstraßen in Europa. Wir sind uns dessen bewusst, dass die Umsetzung und das Erreichen der Ziele der Wasserrahmenrichtlinie ein Kraftakt werden wird. Aber – wir sind dran. Ich möchte hier nur einige Beispiele nennen: Deutschland war einer von 9 der 27 EU-Mitgliedstaa- ten, die am 22. Dezember 2009 die Bewirtschaftungs- pläne und Maßnahmenprogramme nach der Wasserrah- menrichtlinie aufgestellt und die Pläne veröffentlicht hatte. Pünktlich am Weltwassertag, dem 22. März 2010, hat Deutschland für die zehn Flussgebietseinheiten, die für unser Land relevant sind, alle Bewirtschaftungspläne of- fiziell an die Europäische Kommission übermittelt. Damit liegt für die nächsten sechs Jahre eine Planung für die Verbesserung des Zustandes der Gewässer in Deutschland vor. Es sind von den Bundesländern viele Maßnahmen vorgesehen, die nun konkret umgesetzt werden müssen. Das betrifft Maßnahmen im Bereich der Durchgängigkeit der Gewässer, aber auch bei den diffusen und punktuellen Belastungen, zum Beispiel Maßnahmen in der Landwirtschaft. Die Umsetzung der Wasserrah- menrichtlinie wird bis Ende 2015 geschätzt 9,4 Milliarden Euro in Deutschland kosten. Es braucht Zeit, die Wasserrahmenrichtlinie umzuset- zen. Der nächste Bewirtschaftungsplan muss 2015 vor- liegen, der darauffolgende 2021. Die Bundesländer, die für die Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie zuständig sind, haben in vielen Fällen Fristverlängerungen in An- spruch genommen; wie im Übrigen die anderen EU- Staaten auch. Auch der Klimawandel soll in den nächsten Bewirt- schaftungsplänen berücksichtigt werden, das heißt, die Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie soll diesen Be- lastungsfaktor in Zukunft auch mit einbeziehen. Als die Wasserrahmenrichtlinie 2000 in Kraft trat, war das noch kein so brisantes Thema. Wasserknappheit, Erhöhung der Wassertemperaturen, Niedrigwasser für die Schiff- fahrt, vermehrte Dürren vor allem im Süden Europas werden für die Staaten bei der Wasserbewirtschaftung eine Rolle spielen. Wichtig sind hier belastbare Aussa- gen zu den Klimaveränderungen und ihren Auswirkun- gen, die für Mitteleuropa nicht einfach zu treffen sind. Etwas möchte ich noch besonders hervorheben: die aktive Arbeit der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung bei der Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie an Bun- deswasserstraßen. Was noch vor einigen Jahren als un- möglich betrachtet wurde, wird jetzt Realität. Die Was- ser- und Schifffahrtsverwaltung fühlt sich nicht mehr nur für die Erhaltung der Wasserstraßen verantwortlich, son- dern auch für die Verbesserung des ökologischen Zu- stands. Natürlich ist dies ein Prozess. Und natürlich klappt es noch nicht überall. Es ist aber an der Zeit, dass Flüsse nicht nur als Wasserstraßen, sondern als Lebens- raum für Tiere, Pflanzen und Menschen gesehen werden. Es ist gut, dass die Anträge gestellt wurden und wir über das wichtige Thema im Bundestag und den Aus- schüssen reden – Ihre Forderungen allerdings werden heute schon erfüllt. Sabine Stüber (DIE LINKE): „Wasser ist keine übli- che Handelsware, sondern ein ererbtes Gut, das ge- schützt, verteidigt und entsprechend behandelt werden muss …“ – dieses kämpferische Zitat ist der Begründung der EU-Kommission zur Wasserrahmenrichtlinie ent- nommen. Die Richtlinie verpflichtet alle EU-Staaten – aus gutem Grund, wie ich meine –, sich um das Wasser in ihrem Land zu kümmern. Das Ziel dabei ist, einen gu- ten ökologischen und chemischen Zustand für oberirdi- sche Gewässer und eine gute Qualität des Grundwassers zu erreichen. Um es verkürzt zu sagen: Es geht um einen naturnahen ausgeglichenen Landschaftswasserhaushalt. Durch den Klimawandel gewinnt die Wasserrückhaltung in der Landschaft immer mehr an Bedeutung, insbeson- dere für wasserabhängige Lebensräume, wie Feuchtge- biete, Moore und Auen mit ihrer speziellen Artenvielfalt. Wir haben das Jahr der biologischen Vielfalt und in dieser Woche auch noch den internationalen Tag der bio- logischen Vielfalt. Da darf und muss man, trotz aller schwergewichtigen politischen Debatten zur Rettung des Euro, auch einmal über die Rettung unserer Lebens- grundlagen nachdenken und sprechen. Der Landschafts- wasserhaushalt gehört zweifelsohne dazu und benötigt dringend einen Schutzschirm. Im Gegensatz zu dem Ret- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4389 (A) (C) (D)(B) tungspaket für den Euro, ist die Wirkung der Maßnah- men für einen naturnahen Landschaftswasserhaushalt bekannt. Der Antrag der SPD zum naturnahen Wasserhaushalt und der Antrag der Fraktion der Grünen zum Auen- schutz sind kleine Rettungspakete, wenn sie umgesetzt werden. Ein naturnaher Landschaftswasserhaushalt bedeutet auch funktionstüchtige Moore als Lebensraum für viele heimische Arten. Gleichzeitig binden intakte Moore CO2 und leisten damit eine Beitrag zum Klimaschutz. Mit naturnahen Flussauen wird der Hochwasser- schutz verbessert, weil den Flüssen mehr Raum gegeben wird. Das kann man sich einzigartig für Deutschland in Brandenburg bei Lenzen an der Elbe ansehen. Der 6 Ki- lometer lange neue Deich wurde 1 300 Meter landein- wärts verlegt. So entstanden 425 Hektar neue Überflu- tungsflächen für die Elbe. Die Schlitzung des alten Deiches ermöglicht an sechs Stellen einen ungesteuerten Wassereintritt in das Gebiet. So regenerieren sich jetzt verschiedene Lebensräume wie Auwald, Auengewässer oder halboffene Weidelandschaft. Die Menschen zeigen mit Stolz, wie sich ihre Land- schaft in den letzten Jahren verändert hat und wie viel- fältig sich die Pflanzen- und Tierwelt entwickelt. Es gibt viel zu sehen auf dem neuen Deich, über den der Elbe- radweg führt. Kranich und Schwarzstorch brüten hier. 300 Hektar naturnaher Auwald wachsen nach Initial- pflanzungen vor etwa zehn Jahren. Bei Hochwasser kann die neue Überflutungsfläche zusätzlich rund 15 Millionen Kubikmeter Wasser speichern. Im Moment wäre mir bei der Hochwasserwarnung wohler, wenn es auch an der Oder mehr Platz für Wasser gäbe. Genau das kann man vielleicht bald mit einem Au- enschutzprogramm erreichen. Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Flussauen in Deutschland sind ein besonders wertvoller, aber auch ein besonders bedrohter Naturraum. Sie sind besonders schützenswert, weil sie wichtige Funktionen miteinander verbinden. Sie dienen dem natürlichen Hochwasserschutz, sind Lebensraum für eine Vielzahl von Arten, verbessern die Wasserqualität und dienen dem Klimaschutz. Der Antrag der SPD zum verstärkten Schutz des Was- serhaushalts findet in seinen Grundsätzen unsere Zu- stimmung. Wasser ist die Grundlage allen Lebens. Was- ser ist Nahrungsmittel und keine Ware wie jede andere. Der Antrag der SPD ist aber auch sehr unkonkret und wirft einiges durcheinander. Viele Stichworte bleiben nur Worthülsen. Die Forderungen der SPD zur Überarbeitung des Wasserhaushaltsgesetzes entsprechen ziemlich genau den Änderungsanträgen, die wir vor fast einem Jahr bei der Verabschiedung des Wasserhaushaltsgesetzes hier im Bundestag zur Abstimmung gestellt haben. Damals wur- den sie auch mit den Stimmen der SPD abgelehnt – nachzulesen im Protokoll der 228. Sitzung des 16. Deut- schen Bundestages. Ausreichend breite Gewässerrand- streifen, den Wasserrückhalt in der Fläche verbessern, Bauland in Flussauen verbieten, das sind alles grüne Forderungen, die sie vor nicht mal 12 Monaten abge- lehnt haben. Die Forderungen der Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Fraktion zur Erreichung der Ziele der Wasser- rahmenrichtlinie bis 2015 sind wirklich aller Ehren wert. Allein wir wissen, das wird nichts. Die Bewirtschaf- tungspläne liegen vor, und da kann man nachlesen, wie es bestellt ist um die Umsetzung der Wasserrahmenricht- linie, WRRL, in Deutschland. Die Ziele der WRRL wer- den verfehlt. Hier ein paar Beispiele: In der Flussgebietsgemeinschaft Elbe werden nur 10 Pro- zent der Flüsse bis 2015 den guten ökologischen Zustand erreichen. In der FGG Weser sind es an Ober- und Mittelweser nur 9 Prozent, an Fulda und Diemel 16 Prozent. Das ist ernüchternd. Und der Bund ist da mit in der Verantwortung, sei es an den Bundeswasserstraßen oder bei der Umsetzung der WRRL gegenüber Europa. Es sind konkrete Ideen und Lösungen gefragt. Daran man- gelt es bis heute, und da liefert auch der SPD-Antrag nur wenig Konstruktives. Wir wollen wassergebundene Biotope schützen, des- halb benennen wir ein konkretes Instrument, wie das ge- macht werden soll: das Auenschutzprogramm. Das Au- enschutzprogramm muss ressortübergreifend umgesetzt werden. Wirtschaft, Landwirtschaft, Bauen, Verkehr, das sind alles Bereiche, die wesentliche Einflüsse auf die Flüsse und Flussauen in Deutschland haben. Deshalb müssen sie bei Erarbeitung und Umsetzung des Pro- gramms mit einbezogen werden. Besonders wichtig erscheint uns beispielsweise der Verzicht auf unnötige Ausbaumaßnahmen an Bundes- wasserstraßen. Der Ausbau der mittleren Elbe und der Elbe-Saale-Kanal sind Projekte, die mehr schaden als nutzen. Ein weiterer wichtiger Handlungsbereich liegt bei den Richtlinien zu Pflanzenschutz- und Düngemitteln. Hier müssen wir umgehend eine Reduzierung der indirekten Einträge in die Gewässer erreichen. Die bestehenden Re- gelungen reichen dazu nicht aus. Zum Abschluss noch ein paar Worte an die Koali- tionsfraktionen: – Für den Natur- und Hochwasserschutz sollen natürli- che Auen reaktiviert und Flusstäler, wo immer mög- lich, renaturiert werden. – Das ist eine der Forderungen aus dem Koalitionsver- trag. CDU, CSU und FDP können mit unserem An- trag diese Forderung umsetzen. Ich freue mich auf die weitere Beratung in den Aus- schüssen. 4390 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 (A) (C) (D)(B) Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über Endenergieeffi- zienz und Energiedienstleistungen (Tagesord- nungspunkt 15) Thomas Bareiß (CDU/CSU): Im letzten Monat habe ich an dieser Stelle zum Antrag der Grünen „Energieeffi- zienzgesetz unverzüglich vorlegen“ gesprochen. Heute haben wir bereits die erste Lesung zur Umsetzung der EU-Richtlinie über Endenergieeffizienz und Energie- dienstleistungen. Sie sehen, die Regierung arbeitet effi- zient. Wir haben nun einen Gesetzentwurf vorliegen, mit dem wir sehr zufrieden sein können. Es gibt noch ein paar Punkte, die mir wichtig sind in der weiteren Geset- zesberatung. Beispielsweise sollten wir uns nochmals die Sorgepflicht der Energieunternehmen vornehmen. Hier darf es nicht zu unverhältnismäßigen Belastungen und Marktverzerrungen kommen. An kleinen Stell- schrauben gilt es also noch zu drehen, dann steht einer Eins-zu-eins-Umsetzung der EU-Richtlinie nichts mehr im Wege. Stellenwert der Energieeffizienz. Ich denke, wir sind uns alle darin einig, dass im Bereich der Energieeffizienz noch erhebliche Potenziale liegen. Der Schlüssel dafür liegt unter anderem in der Erhöhung der Energieeffi- zienz durch den Einsatz innovativer Energietechnolo- gien – sowohl auf der Seite der Energiebereitstellung als auch auf der Nachfrageseite. Wer zum Beispiel energie- sparende Gebäude oder Fahrzeuge mit einem geringen Kraftstoffverbrauch herstellt bzw. einsetzt, hat bei stei- genden Energiepreisen auf dem heimischen Markt, aber auch auf den Exportmärkten hohe Wettbewerbsvorteile. Gleichzeitig verringert eine Erhöhung der Energieeffi- zienz die Abhängigkeit von Energieimporten und senkt die Energiekosten für Verbraucher und Wirtschaft. Große Erfolge wurden bereits erzielt. Die Umsetzung der EU-Richtlinie ist ein weiterer wichtiger Schritt zur Erreichung unserer ambitionierten Energieeffizienzziele. Fakt ist aber auch, dass wir in diesem Bereich bereits ei- nige Erfolge vorweisen können. Mit dem Integrierten Energie- und Klimaprogramm unserer Bundesregierung setzten wir zum Beispiel auf den weiteren Ausbau der gekoppelten Erzeugung von Strom und Wärme, also auf die Kraft-Wärme-Kopplung. Um Brennstoffe effizient zu nutzen, soll bis 2020 der Anteil der hocheffizienten Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen an der Stromproduk- tion von derzeit circa 12 Prozent auf circa 25 Prozent verdoppelt werden. Die Gebäudesanierung ist ein weiterer wichtiger Be- reich, in dem es noch erhebliche Potenziale gibt und wo wir aber ebenfalls schon einige Erfolge erzielen konnten: Auf Antrag der CDU/CSU-Fraktion hat der Haus- haltsausschuss Anfang des Jahres die Mittel zur Förderung von Maßnahmen zur energetischen Gebäude- sanierung im Rahmen des CO2-Gebäudesanierungspro- gramms um 400 Millionen Euro erhöht. Äußerst bemer- kenswert ist dabei übrigens, dass die SPD den Antrag im Ausschuss abgelehnt hat, und dies, obwohl sie dieses Programm in den vergangenen Jahren in der Großen Ko- alition noch mitgetragen hat. Mit der beschlossenen Erhöhung steht im Haushalts- jahr 2010 nun ein Programmvolumen in Höhe von 1,5 Milliarden Euro zur Förderung von Maßnahmen zur Energieeinsparung und Reduzierung des CO2-Aussto- ßes bei Wohngebäuden, in Großwohnsiedlungen und bei kommunalen Einrichtungen, wie zum Beispiel Schulen und Kindergärten, zur Verfügung. Mit Maßnahmen wie dem Energieeinspargesetz, der Heizkostenverordnung und der Energieeinsparverord- nung hat die Bundesregierung in den vergangenen Jah- ren bereits weitere wichtige Schritte vollzogen. Ich möchte an dieser Stelle aber auch nochmals klar- stellen, dass zu einer nachhaltigen Politik nicht nur eine nachhaltige Energiepolitik, sondern auch eine nachhal- tige Haushaltspolitik gehört. Wir müssen uns daher immer auch fragen, mit welchen Kosten unsere Zielset- zungen verbunden sind, und zwar auch für die Volks- wirtschaft und die Privathaushalte. Wir haben die ambi- tioniertesten Klimaschutzziele der Welt; das gilt auch für die Energieeffizienz. In unserem Energiekonzept werden wir aber auch auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen unseren Einsparzielen und den entstehenden Kosten ach- ten. Die Umsetzung der EU-Richtlinie ist nun ein wichti- ger Schritt, um beim Thema Energieeffizienz voranzu- kommen. Klar ist natürlich auch, dass wir weitere Maß- nahmen folgen lassen müssen. Auch darin sind wir uns sicherlich alle einig. Dabei spielt das für Oktober ge- plante Energiekonzept der Bundesregierung eine wich- tige Rolle. Ich will an dieser Stelle nochmals davor war- nen, dass sich die Diskussion um das Energiekonzept auf den Punkt Laufzeitverlängerung der Kernenergie be- schränkt. Dies ist sicherlich ein sehr wichtiger Aspekt. Allerdings halte ich das Thema Energieeffizienz eben- falls für essenziell. Bei dem Energiekonzept werden wir deshalb darauf achten, klar herauszuheben, mit welchen Mitteln wir unsere ambitionierten Ziele erreichen kön- nen. Die Steigerung der Energieeffizienz ist der Königs- weg, nicht nur, um unsere ehrgeizigen Klimaziele zu er- reichen, sondern auch aus Gründen der Versorgungs- sicherheit und der Wirtschaftlichkeit. Mit dem Gesetz zur Umsetzung der EU-Energiedienstleistungsrichtlinie ist ein wichtiger Schritt getan, dem wir nicht zuletzt im Rahmen unseres Energiekonzepts weitere wichtige Schritte folgen lassen werden. Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Bei der Debatte um Energieeffizienz sollten wir uns einen Satz Immanuel Kants zu Herzen nehmen: „Ich kann, weil ich will, was ich muss.“ Mir stellt sich die Frage, wie weit die Oppositionspar- teien die Aufklärung beim Thema Energieeffizienz in- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4391 (A) (C) (D)(B) zwischen hinter sich gelassen haben, wenn sie, statt an den Verstand und den freien Willen der Menschheit zu appellieren, ein Korsett aus Vorschriften, Kontrolle und Überwachung fordern. Wir tun dies nicht. Wir möchten vielmehr die Energiekompetenz der Verbraucher stärken. Mit dem heute im Bundestag vorgestellten Gesetzent- wurf setzen wir – nach zähen Verhandlungen und langen Streitigkeiten – die europäische Richtlinie über End- energieeffizienz und Energiedienstleistungen eins zu eins in deutsches Recht um. Die EU-Mitgliedstaaten ha- ben sich mit der Richtlinie auf einen generellen nationa- len Einsparwert von 9 Prozent für den Zeitraum zwi- schen 2008 und 2016 geeinigt, der auf verschiedenen Wegen erreicht werden kann. Die Richtlinie lässt den Mitgliedstaaten explizit die Wahl zwischen verschiede- nen Instrumenten. Wir haben uns zum Ziel gesetzt, geeignete politische Rahmenbedingungen zu schaffen und gezielt Anreize dafür zu geben, dass sich der Markt der Energiedienst- leistungen und Energieeinsparmaßnahmen schnell ent- wickeln kann. Wichtig ist uns dabei, dass die Energieein- sparmaßnahmen wirtschaftlich umsetzbar sind, damit vor allem die Belastungen für die Bürgerinnen und Bür- ger auf ein Minimum reduziert werden können. Um Ökonomie und Ökologie gewinnbringend zu ver- knüpfen, brauchen wir bei der Energieeffizienz eine strikte Orientierung an Wirtschaftlichkeit. Energiesparen kann man nur mit den Menschen und den Unternehmen, nicht gegen sie. Also nicht durch Diktat und Zwang, son- dern durch Anreize. Mit dem Gesetzentwurf sind wir zwar etwas verspä- tet, aber für die Zielerreichung haben wir bereits einen guten Teil der Wegstrecke zurückgelegt: Wie von der EU in der Richtlinie gefordert, lag unser erster Nationaler Aktionsplan 2007 pünktlich vor. Er orientiert sich an den Zielen der Wirtschaftlichkeit: Wir haben die energetischen Anforderungen an Ge- bäude deutlich verschärft, verstärkt in die Energieeffi- zienz öffentlicher Gebäude investiert und gleichzeitig das CO2-Gebäudesanierungsprogramm erweitert. Eine weitere Verschärfung der Anforderungen ist für 2012 ge- plant. Zusätzlich haben wir bestehende Programme zur Energieberatung privater Verbraucher deutlich ausge- weitet. Im Bereich Gewerbe, Haushalte, Land- und Forst- wirtschaft, Handel, Dienstleistungen sowie im Verkehrs- sektor wurden neue Programme aufgelegt, die kosten- günstige Effizienzpotenziale mobilisieren. Inzwischen wird in diesen Bereichen mit viel staatlichem Geld zu Möglichkeiten der Effizienzsteigerung geforscht. Durch die Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes ha- ben wir das Messwesen bei Strom und Gas für den Wett- bewerb liberalisiert; eine dringende Voraussetzung für die zügige Verbreitung der zeitgenauen Verbrauchsmes- sung und somit für einen mündigen Endabnehmer. Des Weiteren haben wir mit der Novelle der Verord- nung über die Heizkostenabrechnung einen weiteren An- reiz zum Sparen gegeben, denn der verbrauchsabhängige Anteil der Abrechnung bei Mietwohnungen wurde er- höht. Auch der Bund und seine Einrichtungen selbst sind zu einem guten Beispiel geworden. Seit 2008 gibt es Leit- linien zur Beschaffung energieeffizienter Produkte, die von allen Bundesbehörden anzuwenden sind. Die Län- der und Kommunen überprüfen derzeit, ob eine derartige Verpflichtung auch für sie infrage kommt. Mit der KWK-Novelle haben wir eine Verdoppelung des Anteils von Strom aus KWK auf 25 Prozent der jähr- lichen Gesamtstromerzeugung bis 2020 beschlossen. Ich gebe zu, das geht nicht per Dekret. Aber – und hier kommt wieder die Freiwilligkeit ins Spiel –: Zusätzlich hat sich die Wirtschaft zur verstärkten KWK-Förderung verpflichtet. Des Weiteren haben wir mit unserer Klima- schutzinitiative Richtlinien zur Förderung von Mini- KWK verabschiedet. Besonders für unseren Mittelstand haben wir weitere Förderprogramme aufgelegt. Mit dem „Sonderfonds Energieeffizienz in KMU“ vergibt der Staat zinsgünstige Kredite an kleine Unternehmen. Im Koalitionsvertrag haben wir uns darauf geeinigt, dass wir zusätzlich Inves- titionsanreize durch Änderungen im Mietrecht und durch Einführung des Energiecontracting geben wollen. Das alles sind marktorientierte und gleichzeitig tech- nologieoffene Anreize, die wir gezielt einsetzen, um un- seren Bürgerinnen und Bürgern, aber auch unseren Un- ternehmen das Energiesparen schmackhaft zu machen. Und wir sind bereits heute auf einem guten Weg, unser Einsparziel zu erreichen. Mit der marktwirtschaftlichen Eins-zu-eins-Umset- zung der Energiedienstleistungsrichtlinie kommen wir jetzt einen formalen Schritt weiter: Wir verpflichten die Bundesregierung auf die Festle- gung eines nationalen Energieeinsparwertes. Wir führen neue Informationspflichten für Energie- versorgungsunternehmen ein bis hin zu Energieaudits, die vom Unternehmen selbst angeboten werden müssen, wenn für den Endverbraucher keine anderen Energiebe- rater greifbar sind. Wir übertragen die Aufsicht einer Bundesstelle für Energieeffizienz und schaffen somit einen einheitlichen Ansprechpartner. Diese Bundesstelle wird beim Bundes- amt für Ausfuhrkontrolle, BAFA, eingerichtet. Dennoch bleibt auch nach der Umsetzung der Richtli- nie noch jede Menge Arbeit zu tun: Wir müssen die Energiekompetenz der Verbraucher weiter stärken, zum Beispiel durch unbürokratische Kennzeichnung des Energieverbrauchs von energierelevanten Produkten. Denn nur der gut informierte – aufgeklärte – Verbrau- cher wird seinen Beitrag dazu leisten, dass Deutschland seine Energieeinsparziele erreicht. Rolf Hempelmann (SPD): Die Energieeffizienz, also die effiziente Erzeugung, Nutzung von sowie ein sparsamer Umgang mit Energie ist einer der wichtigsten Grundpfeiler der Energiepolitik. Denn eine Volkswirt- 4392 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 (A) (C) (D)(B) schaft ist nicht um so leistungsstärker, je mehr Mega- wattstunden sie erzeugt und verbraucht, sondern je mehr Wirtschaftskraft sie aus so wenig Energieeinsatz wie möglich erschafft. Ein effizienter und sparsamer Einsatz von Energie birgt zum einen enorme ökonomische Po- tenziale für die Wirtschaft und privaten Verbraucher. In Zeiten stetig steigender Rohstoff- und Energiepreise er- möglicht ein effizienter Einsatz von Energie finanzielle Einsparungen für Unternehmen und Privatkunden. Da- rüber hinaus führt die Entwicklung und der Export von Effizienztechnologien zu steigendem Umsatz und der Schaffung neuer Arbeitsplätze in der Industrie. Auf der anderen Seite ist eine Energieeffizienzpolitik ein wichti- ger Teil der notwendigen Klimaschutzpolitik. Gerade in diesem Bereich hat sich Frau Merkel in letzten Jahren gerne als sogenannte Klimakanzlerin inszeniert. Wenn die von mir geschilderten Effekte eintreten sol- len, sind weitgreifende Umwälzungen in allen Energie- sektoren nötig. Das heißt, die Politik muss die Entste- hung eines neuen Geschäftsmodells begleiten und, wenn nötig, auch forcieren. In diesem Geschäftsmodell wer- den Energielieferanten und Verbraucher in einem Boot sitzen, denn das Ziel ist nicht mehr die reine Versorgung des Kunden mit soviel Energiemengen wie möglich. Vielmehr wandelt sich der Energielieferant zu einem Energiedienstleister, der, genau wie der Kunde, ein Inte- resse daran hat, dass der Verbraucher fürs Betreiben sei- ner elektrischen Geräte oder das Heizen seiner Wohnung so wenig Energie wie möglich verbraucht. Wenn diese Ziele erfolgreich umgesetzt werden sol- len, ist es nötig, in einem Energieeffizienzgesetz Wege dorthin aufzuzeigen. Umso bedauerlicher ist es, dass wir heute in diesem Hohen Hause ein Energieeffizienzgesetz diskutieren, das seinen Namen nicht verdient. Ich denke, es herrscht hier Konsens darüber, dass Energieeffizienz die Grundlage einer nachhaltigen Energie-, Umwelt-, Klima- und Wirtschaftspolitik ist. In keinem dieser Sek- toren wird die schwarz-gelbe Bundesregierung mit die- sem Gesetzentwurf den großen Anforderungen auch nur annähernd gerecht.Wirtschaftsminister Brüderle lobt öf- fentlich die, ich zitiere: „marktwirtschaftliche Eins-zu- eins-Umsetzung“ der Vorgaben der Europäischen Union. Bei genauerem Hinsehen wird jedoch schnell klar: Mit dieser Vorlage fallen Sie sogar hinter die EU-Vorgaben zurück. Die EU hat das Ziel formuliert, innerhalb von neun Jahren mindestens 9 Prozent der Endenergie einzu- sparen. Nun hat das wissenschaftliche Institut errech- net, dass dieses 9-Prozent-Ziel mit dem vorgelegten Gesetzentwurf verfehlt wird. Im ganzen Gesetzestext findet sich nicht eine klare Vorgabe zur Energieeinsparung. Stattdessen wimmelt es von unverbindlichen Formulierungen, in denen viel von Freiwilligkeit und Information die Rede ist. Und wenn man nach der Ausgestaltung wichtiger Effizienzmaßnah- men sucht – beispielsweise der Art der Beratung von Endkunden, der Sorgepflicht der Energieunternehmen oder der Anforderungen an die Anbieter von Energiebe- ratungen –, findet man lediglich Verordnungsermächti- gungen für die Bundesregierung – ohne Beteiligung des Bundestages. Das heißt, Sie verschieben die Umsetzung zentraler Maßnahmen zur Erhöhung der Energieeffi- zienz auf einen späteren Zeitpunkt und ohne Beteiligung der gewählten Volksvertreter. Deshalb bitte ich die Kol- leginnen und Kollegen, sich im Laufe des folgenden Ge- setzgebungsprozesses dafür einzusetzen, dass die Mit- spracherechte des Parlamentes bei solch wichtigen Fragen nicht durch nebulöse Verordnungsermächtigun- gen beschnitten werden. Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein großer Schritt zurück. Denn was Vorhaben im Effizienzbereich angeht, waren wir in Deutschland schon einmal viel weiter. So hat sich die Bundesregierung bereits im Jahr 2007 dazu bekannt, die Energieproduktivität bis zum Jahr 2020 im Vergleich zu 1990 zu verdoppeln. Dies bedeutet, dass ab heute der Energieaufwand zur Erzeugung einer Einheit des Bruttoinlandsproduktes Jahr für Jahr um deutlich mehr als drei Prozent sinken müsste. Dieser Aspekt fin- det sich übrigens auch im Koalitionsvertrag der großen Koalition von 2005. Das zeigt, wenn die Union mit der FDP Energie- und Klimapolitik betreibt, kommt dabei nichts Gutes für unser Land heraus. Den energiepoliti- schen Dilettantismus dieser Koalition konnte man schon beim Umgang mit dem Marktanreizprogramm und dem CO2-Gebäudesanierungsprogramm bewundern, welche ebenfalls von der großen Koalition ins Leben gerufen und nun von Schwarz-Gelb zu Grabe getragen wurden. Darüber hinaus hat sich die damalige Bundesregie- rung ebenfalls im Jahr 2007 das Ziel gesetzt, den End- energieverbrauch in Deutschland bis 2020 um 20 Prozent gegenüber 2005 zu reduzieren. Von all diesen wichtigen und unter öffentlichkeitswirksamen Einsatz der ehemali- gen Klimakanzlerin auf europäischer Ebene ausgehan- delten Zielen ist in dem vom Kabinett beschlossenen Ge- setzentwurf keine Rede mehr. Aus festen Zielen zur Energieeffizienz und -einsparung sind unter Schwarz- Gelb also bisher nicht greifbare sogenannte Richtwerte geworden. Eine verlässliche Energie- und Klimapolitik sieht anders aus! Ich möchte an dieser Stelle noch kurz einige Maßnah- men nennen, die aus unserer Sicht nötig sind, um das Thema Energieeffizienz voranzubringen. Absolut uner- lässlich ist die Einbeziehung der Energielieferanten in Effizienzmaßnahmen. Denn nur so werden diese zum Energiedienstleister. Zudem sollten standardisierte und überprüfbare Effizienzmaßnahmen und -programme festgelegt werden. Auch müssen jene Bürgerinnen und Bürger bei Energieeinsparmaßnahmen unterstützt wer- den, die dies aus eigener Kraft nicht leisten können. Dies könnte durch die Einrichtung eines Energieeffizienz- fonds gewährleistet werden. Ich appelliere an meine Kolleginnen und Kollegen, sich im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher, der Wirtschaft, der Umwelt und des Klimas für wirk- same Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz einzusetzen. Die SPD-Fraktion wird diesen Prozess mit konstruktiven Vorschlägen begleiten. Klaus Breil (FDP): Eines vorab: Vor nicht einmal ei- nem Monat hatten die Grünen mit einem Antrag auf die Umsetzung der EU-Richtlinie über Energieeffizienz und Energiedienstleistungen gedrängt. Heute sitzen wir hier Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4393 (A) (C) (D)(B) schon zur ersten Lesung des Umsetzungsgesetzes. Die Zeit damals hätten wir sicher besser nutzen können. Aber zur Sache: Im internationalen Vergleich liegt Deutschland zusammen mit Japan in der Gruppe derjeni- gen Staaten mit der höchsten Energieproduktivität. Seit 1990 wurde der Primärenergieverbrauch bei wachsen- dem Sozialprodukt in Deutschland sogar absolut ge- senkt. Die Entkoppelung des Energieverbrauchs vom Wirtschaftswachstum halte ich für die wichtigste globale Herausforderung, um nachhaltige Fortschritte im Klima- schutz zu erzielen. Deutsche Unternehmen liegen bei „grünen“ Industrieprodukten ganz vorne. Sie haben sich auf den Weltmärkten einen beachtlichen Anteil von mehr als 16 Prozent erarbeitet. Deutschland zeigt damit auch den Emerging Markets, dass Energieeffizienz und Wirtschaftswachstum kein Widerspruch, sondern – ganz im Gegenteil – nachhaltige Zukunftsinvestitionen in die Wettbewerbsfähigkeit sind. Der Gesetzesentwurf zur Umsetzung der europäi- schen Dienstleistungsrichtlinie, der uns hier heute vor- liegt, ist ein wichtiger Schritt auf unserem Weg hin zur weiteren Steigerung unserer Energieeffizienz. Der Ent- wurf, wie er heute vorliegt, entspricht endlich der im Ko- alitionsvertrag festgeschriebenen Eins-zu-eins-Umset- zung der europäischen Vorgaben. Das Ziel der Richtlinie ist die europaweite Einsparung beim Endenergiever- brauch von mindestens 9 Prozent bis 2017: Dazu zählen Einsparungen in Unternehmen wie auch in privaten Haushalten, aber auch in der öffentlichen Hand. Der Ge- setzentwurf ermächtigt die beim BAFA angesiedelte Bundesstelle für Energieeffizienz, einen nationalen Energieeinsparrichtwert festzulegen. Dies wird nunmehr zügig auf der Basis des Nationalen Energieeffizienz-Ak- tionsplans von 2007 geschehen. Dieser Aktionsplan soll dann bis Juni 2014 noch einmal aktualisiert werden. Schon mit der am 20. April von der Bundesregierung beschlossenen Änderung der Vergabeverordnung wur- den Anforderungen der Richtlinie an das Vergaberecht umgesetzt. Zusammen mit den Maßnahmen des Inte- grierten Energie- und Klimaprogramms zur Steigerung der Energieeffizienz sind damit alle wesentlichen Schritte zur Umsetzung der Richtlinie abgeschlossen. Aber Hand aufs Herz: Was kümmert die Bürgerinnen und Bürger oder die Mittelständlerin und den Mittel- ständler ein Einsparungsziel der Bundesregierung? Die oder der Einzelne interessiert sich nicht dafür, wie viel Endenergie Deutschland bis wann einsparen muss! Was interessiert, sind die direkten Auswirkungen des Geset- zes auf das Tagesgeschäft. Wenn man einen ganz beacht- lichen Anteil der Arbeitszeit für überbordende Bürokra- tie aufwenden muss, dann ist das gewiss nicht im Interesse derer, die für die Wertschöpfung und Wirt- schaftsleistung unseres Landes stehen. Im Gegensatz zu den dirigistischen Ansätzen des Ent- wurfs eines von der SPD beeinflussten Energieeffizienz- gesetzes aus der letzten Legislaturperiode setzt der vor- liegende Entwurf auf die Entwicklung eines Marktes für Energiedienstleistungen und anderen Energieeffizienz- maßnahmen. Der Entwurf kennt keinen Zwang von Un- ternehmen zur Einführung von Energiemanagementsys- temen. Denn staatlich oktroyierte Bürokratie setzt in den Unternehmen keine Effizienzpotenziale frei; vielmehr blockiert sie dringend benötigte Kapazitäten; besonders in kleinen Betrieben. Notwendig sind aber umfassende Informationen über solche Energieeinsparmaßnahmen, die sich für Energieverbraucher wirtschaftlich rechnen und damit einen hohen Anreiz zur Eigeninitiative setzen. Als zentrale Hilfestellung für alle Verbraucher wer- den Energielieferanten die am Markt verfügbaren Dienstleister, Verbraucherorganisationen und Energie- agenturen unterrichten. Im jetzigen Gesetzesentwurf steht zentral die Stärkung der Transparenz im Markt. Ich bin davon überzeugt, dass der Endkunde besonders von den ausgeweiteten Informationen über sparsamen Ener- gieeinsatz profitieren wird. Viele Gruppen können heute aufatmen. Denn sie wissen, dass die planwirtschaftlichen Gängelungen des Entwurfs aus der letzten Legislaturpe- riode verworfen wurden. Im Übrigen zeigt sich das Inte- resse der Verbraucher am Thema an folgenden Zahlen: Lag die Zahl der Energieberatungen durch Verbraucher- zentralen 2000 noch bei 50 000, sind für das Jahr 2010 circa 100 000 Beratungen geplant. Bei den Vor-Ort-Be- ratungen im Gebäudebereich hat sich in zehn Jahren die Anzahl der Beratungen verzehnfacht. In diesem Zusammenhang halte ich die Vorbildfunk- tion der öffentlichen Hand insbesondere bei Energieein- sparungen im Gebäudebereich für eminent wichtig. Dazu ist der öffentliche Sektor nunmehr im Gesetzent- wurf aufgefordert. Gelungene Beispiele der öffentlichen Hand sollen zeigen, mit welchen baulichen Maßnahmen man die strengen Anforderungen der Energieeinsparver- ordnung übertreffen und dabei noch kurz- und länger- fristig wirtschaftliche Vorteile erzielen kann. In diesem Sinne sind auch die Gespräche der Bundesregierung mit der Energiewirtschaft über das freiwillige Angebot von Stromsparschecks zu verstehen. Ich halte es für entscheidend, dass wir den marktori- entierten Weg über die Aktivierung des Eigeninteresses sowohl der gewerblichen Wirtschaft als auch des Ver- brauchers an Energieeinsparungen und energieeffizien- ten Produkten und Gebäuden konsequent weitergehen. Deshalb haben wir das CO2-Gebäudesanierungspro- gramm verlängert. Erfolge wie der KfW-Sonderfond Energieeffizienz in kleinen und mittleren Unternehmen mit über 7 000 geförderten Beratungen bestätigen diesen Weg. Es ist ein Weg, den wir gemeinsam mit unserem Koalitionspartner weiterhin gehen werden. Dorothée Menzner (DIE LINKE): Der Stromver- brauch in Deutschland ist seit 1992 um 10 Prozent ge- stiegen, die CO2-Emissionen durch Stromerzeugung sind immer noch auf dem damaligen Niveau. Seit fast 20 Jah- ren tut sich also fast nichts im Stromsektor. Nichts, was auch nur ansatzweise dazu geeignet ist, die klimapoliti- schen Ziele zu erreichen. Der Mehrverbrauch an Strom wird zwar durch erneuerbare Energien gedeckt, fossile Kraftwerke aber nicht zurückgebaut, und so bleiben die erderwärmenden Treibhausgasemissionen konstant. Das alles können Sie sich detailliert auf den Seiten des Bun- desumweltamtes anschauen. 4394 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 (A) (C) (D)(B) Wir, die Politik, aber auch die Bürgerinnen und Bür- ger reden seit Jahren darüber, dass Strom und Energie eingespart, Energie effizient eingesetzt werden muss; al- lein, es fehlt den politischen Akteuren der Wille, diesen Weg konsequent zu gehen. Seit 2006 hat die Bundesre- gierung den Auftrag, ein Gesetz vorzulegen, das Maß- nahmen zur effizienten Nutzung von Energie in gelten- des Recht fassen soll. 2008 hätte es vorliegen müssen. Jetzt endlich, kurz vor einer Rüge durch die EU, haben wir einen Entwurf auf dem Tisch. Anstatt aber die Chance und die Zeit zu nutzen, end- lich wirkungsvolle Maßnahmen zu Energieeffizienz auf den Weg zu bringen, legt die Bundesregierung ein weichgespültes, völlig unmotiviertes Schriftstück vor, das vielleicht gerade so ausreicht, wenigstens formal der Richtlinie des Europäischen Parlaments gerecht zu wer- den, aber selbst das scheint mir zweifelhaft. Keine kon- kreten Maßgaben, keine ordnungspolitischen Vorgaben an Wirtschaft und Länder, nur luftige Absichtserklärun- gen und unverbindliche Freiwilligkeiten finden sich in diesem Entwurf. Es zeigt sich, dass die Bundesregierung das Thema Energieeffizienz nicht ernsthaft angeht und man bekommt fast den Eindruck, die Koalition finde das Thema lästig. Dabei gibt es zahlreiche Studien, die riesige wirt- schaftlich erschließbare Energieeffizienzpotenziale aus- machen, die in Handel, Gewerbe, Industrie, aber auch in privaten Haushalten einfach nicht genutzt werden, so- lange es keine ordnungsrechtliche Steuerung gibt. Aber die brauchen wir, um den Stromverbrauch endlich zu senken und die billigste Maßnahme, die uns energiepoli- tisch zur Verfügung steht, um die Emissionsziele zu er- reichen, nämlich Energie effizient zu nutzen, endlich festzuschreiben. Die Strommenge von zwei Atomkraft- werken ist notwendig, um alle Stand-by-Geräte Deutsch- lands im ausgeschalteten Zustand mit Strom zu versor- gen. Es gibt so viele Möglichkeiten, wie man gegen Ener- gieverschwendung vorgehen kann – wenn man denn den Willen dazu hat. Stattdessen werden Förderprogramme wie das der KfW für energetische Gebäudesanierung von der Koalition gekürzt, eine Haushaltssperre für er- neuerbare Wärme verfügt, die Vergütung für Solarstrom im EEG über alle Maßen abgesenkt und Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz von Ihnen nicht wirklich angegangen. Das ist keine zukunftsfähige Politik, das führt uns in die ökologische Krise und das wird die Linke nicht mitverantworten. Die Linke fordert stattdessen die Festlegung konkre- ter Einsparziele im Gesetzentwurf. Ähnlich wie bei Emissionszielen brauchen wir Zielmarken, bis wann Einsparziele erreicht werden müssen. Und da reicht es nicht aus, das eben mal die Bundesregierung festlegen zu lassen, damit die nächste Regierung es vielleicht wie- der aufhebt – siehe Atomkonsens –, so etwas muss sich im Gesetzestext wiederfinden. Die Linke fordert eine Kennzeichnungspflicht für En- ergieeffizienzklassen für sämtliche Elektrogeräte, wie es heute bereits bei Waschmaschinen und Kühlschränken vorgeschrieben ist. Die Linke fordert ein Verbot von Stand-by-Geräten und kostenlose Energieberatung für alle Verbraucherin- nen und Verbraucher. Die Linke fordert einen aus den Einnahmen des Emis- sionshandels gespeisten Energiesparfond, aus dem spezi- fische Steuerungsmaßnahmen und Anreizprogramme finanziert werden. Konjunkturprogramme für Energieef- fizienz ließen sich daraus finanzieren, was sinnvoller und nachhaltiger wäre als die ressourcenverschleudernde Abwrackprämie. Es gibt viele Möglichkeiten, wie man solch einen Ge- setzentwurf sinnvoll und vernünftig ausgestalten könnte, um mit Blick auf die Zukunft den Energiebedarf zu sen- ken. Aber der Regierungsentwurf ist die manifestierte Ideen- und Fantasielosigkeit. Zurück in die Zukunft: Die Linke erwartet mit Span- nung die Anhörung zu diesem Entwurf und die Vor- schläge der Experten sowie die weitere Debatte. Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Jetzt erst recht. In Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise kommt vieles unter die Räder. Doch ich sage: Die Ener- gieeffizienz brauchen wir jetzt erst recht. Sie sagen, dass die Zeiten der Verschwendung vorbei sein müssen. Dann hören Sie auf mit der Energieverschwendung! Sie sagen, dass wir vor der größten Finanz- und Wirtschaftskrise seit vielen Jahrzehnten stehen. Dann sorgen Sie dafür, dass mit Energieeffizienztechnologien die europäische Wirtschaft gestärkt wird, anstatt Jahr für Jahr Milliarden von Euro für den Import von fossilen Energieträgern auszugeben. Allein im Jahr 2008 waren das 87 Milliar- den Euro. Jetzt erst recht brauchen wir die Energieeffi- zienz. Aber auch alle alten Argumente sind weiterhin gültig: Unabhängigkeit von Energieimporten, Klima- schutz. Auch die Ziele für erneuerbare Energien werden wir nur erreichen, wenn wir mit Energieeffizienz voran- kommen. Nach Jahren des Stillstands legen Sie einen Gesetz- entwurf vor, jedoch nur gezwungenermaßen und nicht aus eigenem Antrieb. Sie legen das Gesetz vor, weil ein Vertragsverletzungsverfahren der EU läuft. Aber was lange währt, wird längst nicht gut. Denn was Sie uns hier jetzt auftischen wollen, grenzt schon an Arbeitsverwei- gerung. Neben wenigen kleinen Begleitmaßnahmen wie dem Sammeln von Informationen bei der Bundesstelle für Energieeffizienz besteht das Kernstück des vorlie- genden Gesetzentwurfs daraus, dass die Verbraucher einmal im Jahr auf ihrer Stromrechnung einen Hinweis auf eine Internetseite bekommen, auf der sich eine Liste von Anbietern von Energiedienstleistungen befindet. Sehr geehrte Damen und Herren der Regierungskoali- tion, das ist ein Suchspiel und kein Energieeffizienzge- setz. Ein kleiner Hinweis auf der Stromrechnung bringt noch keine Energieeinsparung. Auch die Vorgaben der EU werden Sie mit diesem Entwurf verfehlen. Mit diesem lahmen Gesetz gelingt es Ihnen nicht einmal, verspätet die EU-Richtlinie umzu- setzen. Sie verweisen in Ihrem Gesetzentwurf darauf, mit Maßnahmen aus dem Integrierten Energie- und Kli- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4395 (A) (C) (D)(B) maprogramm, IEKP, die Effizienzziele erreichen zu wol- len, zum Beispiel mit der Novelle des Energiewirt- schaftsgesetzes zur Öffnung des Messwesens bei Strom und Gas für den Wettbewerb. Aber es fehlen klare Stan- dards, mit denen Innovation tatsächlich zu Einsparungen führen könnte. Als Verbesserung aufgeführt haben Sie auch die No- velle der Energieeinsparverordnung. Doch in der Novel- lierung der Energieeinsparverordnung 2009 verwässern eine Vielzahl an Ausnahmeregelungen die ohnehin schon wenig ambitionierten Vorgaben zur Energieein- sparung zusätzlich. Sie wollen Förderprogramme zur en- ergetischen Sanierung von Gebäuden; aber Sie stellen dieses Jahr weniger Gelder zur Verfügung als im letzten Jahr, und für das nächste Jahr sehen Sie nur noch einen Bruchteil vor. Sie setzen auf Kraft-Wärme-Kopplung, aber auch für die KWK haben Sie Gelder gestrichen. Das novellierte KWK-Gesetz sorgt dafür, dass der Aus- bau in Deutschland stagniert und Sie von ihren Zielen meilenweit entfernt sind. Sie wollen die Klimaschutzini- tiative für die Zielerreichung in Ihrem Gesetzesentwurf nutzen, aber genau diese Mittel haben Sie gekürzt, und einen Teil haben Sie mit einer Haushaltssperre versehen. So geht Energieeffizienz nicht. Nun sprechen Sie davon, dass das nur ein Umset- zungsgesetz der EU-Richtlinie sei und dass im Herbst im Rahmen des Energiekonzeptes mehr zu erwarten sei. Dass Sie heute schon davon sprechen, im Bereich der Energieeffizienz im Herbst nachzulegen, zeigt doch auch, dass Sie Ihr eigenes Gesetz für nicht zielführend halten. Die Debatten mit Regierungsvertretern unter- mauern leider, dass im Herbst nicht mehr zu erwarten sein wird. Denn warum steht in diesem Gesetz so wenig? Dieser Entwurf entspricht fast eins zu eins der Wunsch- vorstellung des Bundeswirtschaftsministeriums. Die Um- weltpolitiker Ihrer Fraktion wollen mehr; aber es fehlt ihnen an Durchsetzungskraft. Nehmen wir als Beispiel die Haushaltsverhandlungen. Die internationalen Klima- schutzmittel wurden drastisch gekürzt, die Mittel aus dem Marktanreizprogramm mit einer Haushaltssperre versehen, und Mittel für Energieeffizienz werden Jahr für Jahr in großen Schritten weniger. Wir glauben nicht an die schönen Worte, wir wollen Taten sehen. Wir haben in unserem Antrag gezeigt, wie ein Energie- effizienzgesetz aussehen kann. Für den Endkundenbe- reich fordern wir, konkret Verantwortliche zu benennen, die Energieeffizienzmaßnahmen durchführen müssen. Die Kosten werden wie beim EEG auf alle Stromkunden umgelegt. Hierbei profitiert die ganze Gesellschaft: durch Energieeinsparungen und durch Vermeidung externer Kosten. Für die Industrie fordern wir geregelte Energieaudits und Energieberatung mit konkreten Energiesparvor- schlägen sowie eine verlässliche Evaluation. Wir fordern dynamische Effizienzstandards. Wir fordern einen Ener- gieeffizienzfonds mit einem Volumen von 3 Milliarden Euro, und das, wohlgemerkt, bei einem Haushalt, der weniger Schulden aufweist als der Ihre. Sie reden in Zeiten der Krise ständig davon, Ver- schwendung zu stoppen. Fangen Sie an: Stoppen Sie endlich die teure Energieverschwendung! Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Schutz der Meere vor Vermüllung und anderen Verschmutzungen (Tagesordnungspunkt 18) Ingbert Liebing (CDU/CSU): Heute ist ein besonde- rer Tag: Jedes Jahr am 20. Mai begehen wir den „Euro- päischen Tag der Meere“. Der „Europäische Tag der Meere“ wurde von der EU offiziell im Jahr 2008 ins Le- ben gerufen. Er dient dazu, uns an die entscheidende Rolle der Ozeane und Meere zu erinnern und die zur See gehörenden Sektoren besser sichtbar zu machen und ihre Bedeutung für unser tägliches Leben stärker ins Be- wusstsein der Menschen zu rufen. Nicht zuletzt will die- ser Tag und die mit ihm verbundene jährliche EU-Kon- ferenz einen Beitrag dazu leisten, durch die stärkere Einbeziehung der Interessengruppen, die Bildung von Netzwerken und den Austausch bewährter Praktiken zu einer neuen Kultur des sektor- und politikfeldübergrei- fenden Dialogs beizutragen. Damit ist der „Europäische Tag der Meere“ Ausdruck der integrierten Meerespolitik der EU, die im Jahr 2007 konzipiert wurde und sich seitdem rasch entwickelt hat. Die Grundlinie dieser Politik haben wir hier im Deut- schen Bundestag einhellig begrüßt. Ihr sektorübergrei- fender Ansatz hebt die Bedeutung der Meeres- und Küstenwirtschaft für nachhaltiges Wachstum und Be- schäftigung in Europa hervor. Sie verfolgt das Ziel, Innovation zu erleichtern, Synergien zu erzeugen, ein kohärenteres Vorgehen zu ermöglichen und die wert- volle Ökologie der Meere zu schützen. Vor diesem Hintergrund wird deutlich: Die Meerespo- litik erfährt eine hohe Aufmerksamkeit. Der Schutz der Meere ist ein wichtiges Anliegen, dem in den vergange- nen Jahren auf verschiedenen Ebenen verstärkt Rech- nung getragen wurde. Obwohl bereits viel Gutes erreicht werden konnte, geben wir uns mit dem bisher Erzielten noch nicht zufrieden. Denn noch lange sind nicht alle Probleme einer zufriedenstellenden Lösung zugeführt worden. Diese allgemeine Situationsbeschreibung der Meeres- schutzpolitik gilt auch für den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Schutz der Meere vor Vermüllung und anderen Verschmutzungen“, der uns heute zur Beratung vorliegt. Der Müll in den Meeren, verursacht zum Beispiel durch die Seeschiff- fahrt oder die Fischerei, stellt nach wie vor ein Problem dar, obwohl das Einbringen von Plastikmüll in die Meere bereits weltweit verboten ist. Durch die Ansammlung von Plastikmüll in bestimmten Meeresgebieten verwech- seln Meerestiere und Vögel diesen mit Nahrung und ver- enden qualvoll. Mikroteile gelangen durch die Fische zudem auch in unsere Nahrungskette. Und da Plastik 4396 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 (A) (C) (D)(B) nicht „vergeht“, führt die „Entsorgung“ von Plastikver- packungen zu einer dauerhaften Verseuchung der Meere. Die Vermüllung der Meere ist aber nicht nur in ökolo- gischer, sondern auch in ökonomischer Hinsicht ein Pro- blem. Das habe ich in meiner Zeit als Bürgermeister auf Sylt erlebt. Erhebliche Reinigungskosten belasten die betroffenen Gemeinden mit dem Herausholen des Mülls aus den Meeren und der Säuberung der Strände. Dieses Beispiel macht deutlich, dass die Probleme, die aus der Vermüllung der Meere resultieren, nicht nur ökologi- scher, sondern auch ökonomischer Natur sind – insbe- sondere mit Blick auf die Tourismusbranche. Allerdings warne ich auch davor, ein falsches Bild zu zeichnen. Unsere Küsten und Strände sind ein großarti- ger Naturraum, dessen Wert unsere Gäste zu schätzen wissen. Nicht von ungefähr kommen Hunderttausende immer gerne an die Strände der Nord- und Ostsee zu- rück. Deshalb sollten wir es auch, anders, als der vorlie- gende Antrag der Grünen es tut, vermeiden, den Ein- druck zu erwecken, als sei alles schlecht und bislang nichts Substanzielles zugunsten des Meeresschutzes er- reicht worden. Das Gegenteil ist der Fall. Ich möchte, neben der bereits eingangs erwähnten Initiierung einer gemeinsamen, integrieren EU-Meeres- politik, auf folgende weitere Beispiele verweisen: – Den Baltic Sea Action Plan der Umweltminister der Ostseeanliegerstaaten, HELCOM, der konkrete Maß- nahmen zur Verbesserung der Gewässerqualität und Biodiversität des Meeresökosystems Ostsee beinhal- tet. – Die EU-Meeresstrategie-Richtlinie mit dem Ziel ei- nes guten Umweltzustandes der europäischen Meere bis 2020. Auf dem Weg dorthin wird unter anderem bis Ende 2010 ein Maßnahmenprogramm vorgelegt. – Die „Nationale Strategie für die nachhaltige Nutzung und den Schutz der Meere“, ein wesentlicher Bau- stein der nationalen Meerespolitik. Dies zeigt: Die Bundesregierung betrachtet das Thema „Vermüllung der Meere“ als ernst zu nehmendes Problem und widmet sich seit einigen Jahren intensiv ei- ner Lösung. Aber zurück zum Antrag: Grundsätzlich wäre es sinn- voller gewesen, hätte sich der Antrag, wie es seine Über- schrift zunächst vermuten lässt, auch wirklich auf das Problem des Mülls in den Meeren konzentriert. Stattdes- sen beinhaltet er ein Sammelsurium verschiedenster meerespolitischer Probleme. Er enthält auch zu viele ordnungsrechtliche Regelungen, anstatt positive Anreize zu setzen. Erschwerend kommt hinzu, dass manche Dar- stellung nicht korrekt ist bzw. ganz fehlt. Hinsichtlich einer fehlerhaften Darstellung verweise ich auf die Aussage auf Seite 1 des Antrags, dass für die problematischen Schiffsemissionen bislang keine befrie- digende Lösung gefunden worden sei. Dem halte ich entgegen, dass in diesem Zusammenhang bereits viel er- reicht wurde, nämlich das Verbot des sogenannten Bun- ker-C-Öls für Nord- und Ostsee als Schiffsdiesel sowie die Begrenzung von Schwefel, bzw. auf EU- und IMO- Ebene in Erarbeitung ist. Die Ausweisung von Immis- sionsschutz-Sondergebieten, SECAs, durch die IMO für Nord- und Ostsee ist doch ein gutes Beispiel; allerdings auch dafür, wie schwer es ist, diese Regelungen isoliert national zu betrachten, ohne gleichzeitig nachteilige Wettbewerbsverzerrungen hervorzurufen. Deshalb ist es richtig, dass diese Regelungen über Nord- und Ostsee hi- naus ausgedehnt werden. Ein Beispiel für das Fehlen eines zentralen Punkts in Zusammenhang mit dem Thema „Verschmutzung der Meere“ ist die notwendige Steuerbefreiung von Land- strom für Schiffe. Hierzu gab es bereits in der Vergan- genheit ein einheitliches Votum im Deutschen Bundes- tag, das die Bundesregierung auffordert, die Steuerbefreiung von Landstrom auf europäischer Ebene zu unterstützen. Ich habe den neuen EU-Energiekom- missar Günther Oettinger auf dieses Thema hingewie- sen, das seit Jahren auf der EU-Ebene nicht voran- kommt. Er will sich darum kümmern, hat er zugesagt. Herausgreifen möchte ich ferner drei weitere Punkte des Antrags: Erstens die praxisfremde Forderung nach Nutzung bio- zidfreier Anti-Fouling-Anstriche: Ich habe gerade erst vor einigen Wochen den größten mittelständischen Her- steller von Anti-Fouling-Mitteln in Deutschland besucht, ein Unternehmen in der Nähe von Hamburg. Die haben den Versuch mit biozidfreien Produkten gemacht – mit ne- gativem Ergebnis: geringere Wirkung des Anstrichs, keine Akzeptanz auf dem Markt. Auf eine durchschla- gende Wirkung der Anti-Fouling-Produkte können wir aber nicht verzichten, und zwar auch aus Naturschutz- gründen. Schließlich geht es auch um die Vermeidung des Einzugs invasiver Arten. Nicht zuletzt sollten wir in diesem Zusammenhang auch berücksichtigen, dass wir hier in Deutschland gute und sichere Anti-Fouling-Pro- dukte mit einer sicheren Verwendung von Bioziden her- stellen. Dies ist in jedem Fall sinnvoller, als würden bei- spielsweise Werften in China und in Korea weniger sicherere Anti-Fouling-Mittel anderswo beziehen oder selber herstellen. Zweitens halte ich den Hinweis auf eine allgemeine Müllvermeidungsstrategie zwar für gut, aber für die Ver- meidung von Müll im Meer für wenig hilfreich. Um ziel- gerichtet Müll zu vermeiden, halte ich es für sinnvoller, die verantwortlichen Akteure einzubinden, und zwar weltweit. Biologisch abbaubare Produkte müssen gerade zielgerichtet für den Einsatz an Bord entwickelt und ver- marktet werden. Gleichzeitig brauchen wir eine noch bessere Überwachung mit Fahndungsdruck, um mögli- che Müllsünder abzuschrecken. Drittens kritisiere ich den Antrag, weil er das Thema „Schiffsverkehr“ zu negativ darstellt. Neben allen Pro- blemen, die aus dem Schiffsverkehr für den Meeres- schutz unstrittig resultieren können, sollten wir nicht vergessen, dass der Schiffsverkehr das umweltfreund- lichste Verkehrsmittel ist. Eine Verlagerung des Waren- verkehrs auf die Landseite wäre mit einer massiven Zu- nahme von Emissionen verbunden. Dies kann nicht gewollt sein. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4397 (A) (C) (D)(B) Der Schutz der Meeresökologie ist ein wichtiges Thema, es stellt auch einen Eigenwert an sich dar. Wir müssen die Meere aber auch schützen, um ihre Poten- ziale nachhaltiger nutzen zu können – sei es in der Fi- scherei, in der Energiegewinnung oder in der Gewin- nung mariner Wirkstoffe. Unser Ziel ist dabei ein ausgewogenes Verhältnis von Schutz und Nutzung, die nur eine nachhaltige Nutzung sein kann. Daran werden wir uns auch bei den weiteren Beratungen orientieren. Josef Göppel (CDU/CSU): Jedes Jahr am 20. Mai wird der „Europäische Tag der Meere“ begangen, so auch heute. Der Tag der Meere soll die entscheidende Rolle der Ozeane und Meere hervorheben und dazu bei- tragen, ihre Bedeutung ins Bewusstsein der Menschen zu rufen. Ich erinnere daran, dass die Weltmeere 71 Pro- zent der Erdoberfläche bedecken. Sie bilden das größte zusammenhängende Ökosystem der Erde. Die Meere verdienen deshalb unsere besondere politische und öf- fentliche Aufmerksamkeit. Die Erhaltung der Meere ist nicht nur ein Anliegen des Umwelt- und Naturschutzes, sondern liegt auch in unserem sozialen und wirtschaftli- chen Interesse. Der Kinodokumentarfilm Plastic Planet von Regis- seur Werner Boote beweist eindringlich, wie Plastik oder, besser gesagt, „synthetische Kunststoffe“ gerade in den Meeresökosystemen weltweit zu einem gravieren- den Problem geworden sind. Nach einer Studie des Um- weltbundesamtes bestehen mehr als zwei Drittel des Meeresmülls aus Plastik. Neben den ökologischen Schä- den verursacht der Abfall ganz reale Kosten: In Osthol- stein entstehen zum Beispiel pro Jahr Unkosten in Höhe zwischen 750 000 und 1,2 Millionen Euro für die Ent- sorgung gestrandeter Abfälle. Alleine bei der Reinigung des 7 Kilometer langen Westerländer Badestrandes auf Sylt fallen täglich bis zu zwei Tonnen Müll an. Das ent- spricht 23 000 gefüllten Müllsäcken im Jahr. Die Ver- müllung der Meere ist ein ernst zu nehmendes Problem. Deshalb teile ich die Einschätzung des Präsidenten des Umweltbundesamtes, Jochen Flasbarth, der sagt: „Es ist höchste Zeit, endlich effektive Strategien gegen den Meeresmüll zu entwickeln.“ Seit dem 15. Juli 2008 ist die Europäische Meeresstra- tegie-Rahmenrichtlinie 2008/56/EG, MSRL, in Kraft. Ziel der Richtlinie ist es, den Meeresschutz und die Meeres- nutzung in eine Balance zu bringen. Bis zum Jahr 2020 soll damit ein „guter Umweltzustand“ der europäischen Meere erreicht werden. Am 1. Oktober 2008 hat die Bundesregierung die „Nationale Strategie für die nach- haltige Nutzung und den Schutz der Meere“, kurz: „Na- tionale Meeresstrategie“, beschlossen. Damit wird die Europäische Richtlinie in deutsches Recht umgesetzt. Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit hat mit Erlass vom 17. Juli 2009 das Umweltbundesamt beauftragt, einen Bericht zu erstellen, wie die Aufgaben aus der EU-Meeresstrategie-Richtlinie in Nord- und Ostsee erfüllt werden können. Der Bericht des Umweltbundesamtes vom 12. Oktober 2009 „Um- setzung der Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie: Abfälle im Meer“ liegt für jedermann öffentlich zugänglich unter dem Titel „Abfälle im Meer – Ein gravierendes ökologi- sches, ökonomisches und ästhetisches Problem“ vor. Ich unterstreiche ausdrücklich die Notwendigkeit, zum Schutz der Meere aktiv zu handeln. Die Müllver- meidung muss dabei Vorrang haben. Der Antrag und die Presse der letzten Monate – ich denke dabei an den Spie- gelartikel „Müllflut in den Ozeanen: Regierungspapier enthüllt Scheitern des Meeresschutzes“ – rückt unsere politischen Bemühungen für den Meeresschutz nach meiner Meinung in ein falsches Licht. Die Nationale Meeresstrategie zeigt, dass wir den richtigen Weg einge- schlagen haben. Bei der Umsetzung der Nationalen Meeresstrategie befinden wir uns in der ersten Phase: Der Analyse des Ist-Zustandes und dem Aufzeigen von Lösungsansätzen. Mit dem Bericht des Umweltbundesamtes liegen nun die ersten Ergebnisse vor. Ich teile die Auffassung, dass diese Ergebnisse der Analyse erschreckend sind. Jetzt muss die Nationale Meeresstrategie konsequent umge- setzt werden. Der vorliegende Antrag rennt offene Türen ein. Un- terstützen Sie deshalb den Bundesumweltminister bei der Umsetzung der Nationalen Meeresstrategie. Frank Schwabe (SPD): Gut dass heute, anlässlich des „Europäischen Tages der Meere“, hier diese Debatte zum Thema Meere und deren Schutz stattfindet. Seit der verheerenden Explosion auf der Bohrplatt- form „Deepwater Horizon“ im Golf von Mexiko am 20. April 2010 überschlagen sich die Artikel in der Presse zum Thema Bedrohung und Schutz der Meere. Amerika bereitet sich auf eine der schwersten Umwelt- katastrophen in der Geschichte des Landes vor, denn das austretende Öl bedroht hochsensible Ökosysteme mit bisher kaum absehbaren Folgen und Kosten für Mensch und Meeresökosysteme. Aber wir dürfen uns diesem wichtigen Thema nicht nur annehmen, wenn es große Schlagzeilen in den Me- dien gibt. Denn die größte Bedrohung der Meere sind nicht nur die spektakulären Umweltkatastrophen, wie wir sie gerade im Golf von Mexiko erleben, sondern die alltägliche Verschmutzung, die es nicht auf die Titelsei- ten der Zeitung schafft, aber umso verheerender ist. Vie- len von uns sind die dramatischen Bilder von großen Tankerunglücken oder Katastrophen auf Bohrinseln im Gedächtnis, wenn wir an Öl im Meer denken. Doch so spektakulär diese Unfälle auch sind, sie stellen nicht den Haupteintrag von Öl in die Meere dar. Nur etwa 13 Pro- zent des jährlich ins Meer gelangenden Öls stammt von Tankerunfällen. Der weitaus größte Anteil von rund 3 Millionen Tonnen Öl, die jährlich in die Weltmeere fließen, stammt vom normalen Schiffsverkehr, aus kom- munalen Abwässern und vom täglichen Betrieb auf den Ölplattformen. Neben der Verschmutzung durch Öl werden die mari- nen Ökosysteme derzeit vor allem durch den Eintrag ge- fährlicher Stoffe, durch Überdüngung, durch schädliche Wirkungen der Fischerei wie Überfischung und durch die Zerstörung von Lebensräumen durch schweres Fang- 4398 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 (A) (C) (D)(B) geschirr bedroht. Hinzu kommen die Einschleppung fremder Tier- und Pflanzenarten, die eventuell mit ein- heimischen Arten konkurrieren, die Verluste von Habita- ten und Wirkungen von Lärmquellen, die zum Beispiel Meeressäuger stören oder gar schädigen können. In zunehmendem Maße wächst die Bedrohung der Meere durch den Klimawandel. Die Folgen des Klima- wandels werden voraussichtlich immens sein. Wenn die globale Erwärmung nicht auf unter 2 Grad Celsius be- grenzt wird, drohen ganze marine Ökosysteme zu ver- schwinden. Plastikmüll ist ein weltweites Problem und gefährdet in zunehmendem Maße unsere Meere und Küsten. Von den jährlich bis zu 240 Millionen Tonnen produziertem Plastik landen nach Schätzungen des Umweltprogramms der Vereinten Nationen mehr als 6,4 Millionen Tonnen Müll in den Ozeanen Ich könnte diese Liste der Gefahren noch um einige Punkte erweitern. Dabei wissen wir doch alle, dass wir unsere Anstrengungen zum Schutz der Meere drama- tisch erhöhen müssen. Wie wichtig die Meere sind, erschließt sich mit einem Blick, wenn man unseren Planeten aus dem Weltall be- trachtet. Wir leben auf einem blauen Planeten. Die Meere bedecken 71 Prozent der Erdoberfläche, bieten volumenmäßig 99 Prozent des Lebensraumes auf dem Planeten und stellen somit das größte Ökosystem dar. Die Meere sind Ursprung allen Lebens, sie sind Regula- tor für das Klima unserer Erde, sie bergen gewaltige Energieressourcen und sind eine wichtige Nahrungs- quelle. Die Meere sind ein kostbares Naturerbe. Sie bil- den die größten zusammenhängenden Ökosysteme der Erde. Der Schutz der Meere ist deshalb besonders wich- tig. Lange Zeit wurden die Meere in einem Irrglauben an die Unerschöpflichkeit der Ressourcen und eine gren- zenlose Regenerationsfähigkeit genutzt. Die Folgen die- ses Handels wurden viel zu spät erkannt. Heute drohen ökologische Risiken und negative Auswirkungen auf die Meeresumwelt. In nur wenigen Jahrzehnten hat der Mensch es geschafft, die ältesten Lebensräume unseres Planeten bis an die Belastungsgrenze und darüber hinaus auszubeuten. Der faszinierenden Vielfalt der Ozeane droht die Vernichtung. Damit wird aber auch gleichzeitig die Nutzung der Meere durch den Menschen beeinträch- tigt. Meeresumweltschutz dient also dazu, Schädigungen des Ökosystems Meer zu verhindern und gleichzeitig das Potenzial für ihre nachhaltige Nutzung zu sichern. Die- ses Ziel kann am besten durch die Integration meeres- schutzrelevanter Aspekte in andere Politikbereiche wie Fischerei, Landwirtschaft, Industrie, Verkehr usw. er- reicht werden. Die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko zeigt aber auch, dass es richtig war, dass sich die SPD schon vor ei- nigen Jahren für eine Strategie „weg vom Öl“ entschie- den hat. Und das nicht nur aus Gründen des Klimaschut- zes, sondern weil das „schwarze Gold“ auf der ganzen Welt dreckige Spuren hinterlässt. Erdöl belastet die Um- welt von der Suche, über die Förderung, Verarbeitung und den Transport bis hin zum Verbrauch. Mitverant- wortlich dafür: die weltweit operierenden Ölkonzerne, die viel für Gewinnmaximierung, aber wenig bis nichts für Umweltschutz und Menschenrechte übrig haben. Öl- leckagen verseuchen Böden und Gewässer, machen Ackerflächen unbrauchbar, das Trinkwasser ungenießbar und töten Fischbestände und andere Lebewesen. Öltep- piche aus verunglückten Tankern verseuchen Küstenge- biete, lassen Vögel und Meerestiere qualvoll krepieren und bringen die örtlichen Fischer um ihre Existenz. Mit Erdöl und Chemikalien belastete Abwässer, Schlämme und Bohrgestein werden von Ölplattformen ins Meer ge- kippt, vergiften die Meeresflora und -fauna und landen letztlich in der Nahrungskette. Neben dem Öl werden die Meere auch durch andere Stoffe dauerhaft belastet. Nicht erst seit dem Film „Plas- tic Planet“ wissen wir, dass wahre Müllteppiche im Meer schwimmen. Mehr als Zweidrittel des Meeresmülls be- steht aus Plastik. Dieser ist für die Ökosysteme beson- ders gravierend, denn für viele Meerestierarten ist er le- bensbedrohlich, zum Beispiel für Meeresschildkröten, die an Plastiktüten ersticken können. Verschärfend hinzu kommt die lange Abbauzeit von Plastikkunststoffen, die bis zu 450 Jahre beträgt. Neben der Bedrohung der Meerestiere verursacht der Meeresmüll hohe ökonomische Kosten. Das Umwelt- bundesamt hat gestern bekannt gegeben, dass allein bei der Reinigung des fast 7 Kilometer langen Westerländer Badestrands auf Sylt jeden Tag bis zu 2 Tonnen Müll an- fallen. Das entspricht jährlich circa 23 000 Müllsäcken – allein für die Reinigung des Strandes bei Westerland! Laut Umweltbundesamt entstehen in Ostholstein jährlich Kosten für die Müllbeseitigung zwischen 750 000 und 1,2 Millionen Euro. Obwohl in vielen Häfen bereits Auf- fanganlagen für Schiffsmüll existieren, geht die Abfall- menge nicht signifikant zurück. Das liegt auch an den Entsorgungskosten. Die Abnahme ist nicht immer kos- tenfrei, die Preise dafür schwanken von Hafen zu Hafen. Der Antrag der Grünen fordert daher zu Recht von der Bundesregierung, dass sie Strategien erarbeiten muss, um den Eintrag von Müll ins Meer zu reduzieren. Auch muss sich die Bundesregierung auf internationaler Ebene verstärkt für die Schaffung eines globalen Netz- werkes von Meeresschutzgebieten durch das UN-Über- einkommen über biologische Vielfalt, CBD, einsetzen. Zwar ist die Schaffung von Meeresschutzgebieten äu- ßerst wichtig, sie alleine werden jedoch nicht ausreichen, um die biologische Vielfalt der Meere zu sichern. Hinzu- kommen muss ein Umdenken in der Fischerei. Die ge- genwärtige Überfischung und Übernutzung der Fischbe- stände muss beendet werden. Zurzeit fangen zu viele Fischer zu viel Fisch. Wissenschaftliche Empfehlungen für Fangquoten werden nicht umgesetzt, und in vielen Meeresregionen fehlen Regularien ganz. Insgesamt do- miniert kurzfristiger Profit über langfristige Nutzung. Zukunft hat jedoch nur eine Fischerei, die sich an dem Kriterium der Nachhaltigkeit orientiert. Arbeitsplätze in der Fischerei werden nicht durch den Meeresschutz be- droht, sondern durch den Raubbau an der Natur. Die Überfischung heute macht die Fischer morgen arbeitslos. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4399 (A) (C) (D)(B) Bisher ist diese Erkenntnis leider noch nicht überall an- gekommen. Der nächste wichtige Schritt hin zu einer nachhaltigen Fischerei ist mit der Reform der Gemeinsamen Fische- reipolitik in der EU-Politik möglich. Bei dieser Reform muss sich die Bundesregierung auf EU-Ebene dafür ein- setzen, dass die Fischerei auf einen Kurs gebracht wird, der die Ökosysteme schont und ein Überleben bedrohter Arten sichert. Sei es auf nationaler Ebene, sei in europäischen oder internationalen Verhandlungen – Ziel muss sein, die Nutzung und Bewahrung der Meere wieder miteinander zu verbinden. Ansonsten wird es zum Kollaps ganzer Fischbestände kommen und zu Tausenden von arbeitslo- sen Fischern. Das hat uns die Entwicklung vor Neufund- land deutlich gezeigt. Aufgabe der Politik ist hierbei, in einen engen Dialog mit den relevanten Akteuren zu tre- ten und kurzfristiges Profitdenken durch langfristige Verantwortung abzulösen. Angelika Brunkhorst (FDP): Die Grünen haben hier einen Ziel- und Forderungskatalog vorgelegt, der ihr großes Herz und Anliegen für den Meeresnaturschutz darlegt. Sie können sicher sein, auch uns Liberalen ist der Schutz der Meere ein wichtiges Anliegen. Meere bilden die größten zusammenhängenden Öko- systeme unserer Erde und sind für uns eine wesentliche Lebensgrundlage. Sie haben eine enorme Bedeutung für eine intakte Umwelt und besitzen gleichzeitig ein be- trächtliches Potenzial für wirtschaftliches Wachstum. Deshalb sollten wir diese besondere, einzigartige Res- source schützen. 70 Prozent des Sauerstoffs, den wir einatmen, wird von der Meeresflora produziert. Sieben Zehntel der Erd- oberfläche sind von Weltmeeren bedeckt. Gut ein Drittel der Weltmeere ist 4 000 bis 5 000 Meter tief. Eine lang- fristige erfolgreiche Meerespolitik basiert auf abgesi- chertem Wissen über die Ressource Meer und einer in- takten Meeresumwelt. Wir sind uns alle einig, dass das Meer vor Verschmutzungen und Müll geschützt werden muss – gerade am heutigen „Europäischen Tag der Meere“. Die Adressaten des Antrags sind direkt die Bundes- regierung und mittelbar die EU und international die IMO. Mit insgesamt 38 Forderungsspiegelstrichen be- inhaltet er einen thematisch breiten Ansatz. Die Grünen müssten eigentlich wissen, dass einige ih- rer Forderungen an Schutz und Genehmigungsstandards im Sinne des Meeresumweltschutzes bereits auf einem guten Weg sind und in einigen europäischen oder inter- nationalen Abkommen vertraglich umgesetzt wurden. Der Schutz der Meere ist neben der Sicherheit der Seefahrt eines der Hauptanliegen der International Mari- time Organization, IMO. Ein international einheitlicher Meeresumweltschutz auf der Ebene der IMO hat dabei immer den Vorteil global abgestimmter Maßnahmen und der Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der europäi- schen Schifffahrt. Die Überwachung und Durchführung der vereinbarten Maßnahmen ist auf europäischer Ebene schwierig. Das MARPOL-Übereinkommen ist ein internationa- les, weltweit geltendes Übereinkommen zum Schutz der Meeresumwelt. Hier finden sich allgemeine aber auch spezielle Regelungen zu den verschiedenen Arten von Verschmutzungen im Zusammenhang mit dem Schiffs- betrieb. Gemäß dieser Regelung ist zum Beispiel das Einleiten von Schiffsabwasser grundsätzlich verboten. Auch die Verschmutzung der Luft durch Seeschiffe sollte vermieden werden. Das Einleiten von Schiffsmüll ist auch strengstens verboten. Zuwiderhandlungen gegen Vorschriften über das Einbringen von Schiffsmüll stellen gemäß § 6 Abs. 1 MARPOL-ZuwV Ordnungswidrigkei- ten dar, die mit Geldbußen bis zu 50 000 Euro geahndet werden können. Die von den Grünen geforderten Rege- lungen existieren schon. Ehrlich gesagt machen mir allerdings die vielen For- derungen im Bereich der weltweiten Schiffsverkehre Sorge. Ein Herz für die Seeschifffahrt haben die Grünen anscheinend nicht, wobei circa 90 Prozent aller interkon- tinentalen Warenbewegungen mit dem Schiff erfolgen, Tendenz steigend. Zudem gehört das Verkehrsmittel Schiff, legt man den CO2-Ausstoß pro Tonne im Ver- gleich zu anderen Verkehrsträgern zugrunde, zu den umweltverträglichsten. Die höchst anspruchsvollen Ver- schärfungen an technische Auslegung der Schiffe, Zerti- fizierung, Art der Kraftstoffe, Restriktionsgebote und Strafsysteme und vieles mehr – und das möglichst auch alles zugleich – sind gleichbedeutend damit, dass man am besten die Seeschifffahrt ganz abschaffen sollte. Das kann nicht wirklich ihr Ernst sein. Nur ein integrativer Politikansatz kann die diversen Nutzungs- und Schutzinstrumente zusammenführen. Alle Maßnahmen in der Küstenzone müssen daher auf der Ba- sis ganzheitlicher und nachhaltiger Ansätze geplant, ent- schieden und kontrolliert werden. Eine solche Gesamtbe- trachtung erfordert die Entwicklung eines adäquaten Instrumentariums im Rahmen eines Küstenzonenma- nagements. Eine stärkere Verknüpfung der verschiedenen maritimen Sektoren und Akteure dient auch einer Verfah- rens- und Planungsbeschleunigung. Wir werden auf europäischer Ebene darauf hinwirken, dass ein globales System von Meeresschutzgebieten ge- schaffen wird. In Nord- und Ostsee werden wir in enger Abstimmung mit den betroffenen Bundesländern die Einrichtung von Meeresschutzgebieten prüfen. Der vorliegende Antrag ist eine Diskussionsgrund- lage für eine kontroverse, aber vielleicht auch an der ei- nen oder anderen Stelle fruchtbare Diskussion im Fach- ausschuss. Ich freue mich darauf. Sabine Stüber (DIE LINKE): „Das unendliche Lä- cheln des Meeres“ ist der Titel einer interessanten Foto- ausstellung, die zurzeit in Bad Saarow zu sehen ist. Eine Begegnung mit Orten und Momenten für die Seele – so las sich das gestern in der Presse, und so nähere ich mich auch am liebsten dem Meer. Das klappt auch immer wie- der mit der Faszination, wenn ich davor stehe. 4400 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 (A) (C) (D)(B) Dabei wissen wir alle, dass der Schein trügt, doch kei- ner will am Strand oder in der kleinen Kneipe am Hafen beim „frischen Fisch“ daran denken. Und wenn doch, dann haben wir es uns so schlimm nun wirklich nicht vorgestellt. Die Umweltkatastrophe im Golf von Mexiko wird immer bedrohlicher. Vier Wochen nach dem Untergang der Bohrinsel konnte der Ölaustritt noch nicht gestoppt werden. Ganze Meeresregionen werden so auf Jahr- zehnte hinaus vergiftet. Hinzu kommen auch immer noch Abfälle, man kann sagen jeglicher Art, aus der Schifffahrt. Neben Verklappung von Dünnsäure und den Schwerölrückständen bei der Tankreinigung reicht die Palette bis hin zu radioaktiven Abfällen. Das Meer – ein Fass ohne Boden? Nichts zu sehen und doch ein Müllei- mer. Tonnenweise lagern sich Plastiktüten, Styroporreste und alte Fischernetze am Meeresboden ab. Knapp 80 Prozent des Meeresmülls besteht aus Plastik. Ver- schärfend hinzu kommt die lange Abbauzeit, die bis zu 450 Jahre beträgt. Der Plastikmüll wird oft mit der Nah- rung aufgenommen und ist dann für viele Meerestiere le- bensbedrohlich. 600 000 Kubikmeter Müll machen die Nordsee zu ei- nem der mit am stärksten verschmutzten Meere. Und 20 000 Tonnen kommen jährlich dazu. Die Weltmeere haben die Grenzen ihrer Belastbarkeit erreicht. Eine Notbremse muss gezogen werden. Die eu- ropäische Meeresstrategie fordert von den Mitgliedstaa- ten, das Müllvorkommen in ihren Meeresregionen zu be- werten und die Einträge dahingehend zu regulieren, dass 2020 ein guter Umweltzustand der Meeresökosysteme hergestellt ist. Das Ziel ist gesetzt, den Weg dahin müs- sen die Mitgliedstaaten gehen. Die Linke unterstützt den Antrag der Fraktion der Grünen. Damit ist ein guter erster Aufschlag vorgege- ben. Um einen Schritt weiterzukommen, sollten aber aus unserer Sicht klare Prioritäten mit zeitlichen Vorgaben dafür festgelegt werden, was wir wann für den Meeres- schutz vor unserer Haustür tun werden. In dem Antrag finden sich durchaus praktikable Vorschläge. Aber all das ist nicht ausreichend, um die Meere umfassend zu schützen. Initiativen zur Minderung der Belastungen durch die Seeschifffahrt sowohl auf europäischer als auch auf in- ternationaler Ebene müssen weiter vorangetrieben wer- den. Oder nehmen wir nur das Stichwort Emissionen im Schiffsverkehr. Auch da sollte man sich nicht aus- schließlich auf technische Lösungen konzentrieren. Es geht auch um Maßhalten beim Ressourcenver- brauch, wenn wir an den besorgniserregenden Zustand der Fischbestände denken. Deshalb sind auch weiterge- hende Reformen in der gemeinsamen Fischereipolitik er- forderlich. Der Antrag verweist auf viele Defizite und es wird klar, dass ein umfassender Meeresschutz keinen Auf- schub mehr duldet. Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Dieses Haus wird morgen über ein milliardenschweres Rettungsprogramm für den Euro und die Finanzmärkte entscheiden. Wir kennen hierfür die Ursachen: Fehler im System und das unverantwortliche Handeln Einzelner, denen es durch nicht vorhandene oder zu lasche Regeln auch noch leicht gemacht wird. Das Gleiche geschieht mit unseren Meeren: Die Ozea- ne erscheinen unerschöpflich in ihren Ressourcen, ihre Ausbeutung vollzieht sich weitgehend ohne Kontrolle – und Abfälle werden entsorgt, weil man glaubt, inmitten dieser riesigen Menge Wasser würde es nicht weiter auf- fallen. Im Golf von Mexiko können wir derzeit täglich beobachten, was dann geschieht: Die unerschöpflich er- scheinende Ressource steht am Rande des Kollapses. Auch hier braucht es Milliarden, um die Schäden zu be- heben. Ganz deutlich wird hier – wie eben auch bei der Fi- nanzkrise –, dass global gehandelt werden muss. Allein können wir die Probleme unserer Ozeane nicht lösen. Aber wir dürfen uns auch nicht dahinter verstecken: Glo- bale Lösungen bedeuten nicht, dass wir die Hände in den Schoß legen und auf die Vereinten Nationen und IMO warten können. Nein, das Handeln beginnt hier bei uns. Als wichtige europäische Nation können wir maßgeblich die Richtung beeinflussen. Hierzu haben wir Grüne ei- nen Vorschlag auf den Tisch gelegt; denn wir müssen ganz klar feststellen: Das Bewusstsein für die Sensibili- tät der marinen Ökosysteme hat sich zwar geändert, und auf europäischer und globaler Ebene gibt es erkennbar Initiativen und Anstrengungen. Aber: Der Zustand der Meere ist weiterhin akut gefährdet! Wenn wir weitermachen wie bisher, stehen wir abseh- bar vor leergefischten, vergifteten und ölverschmutzten Meeren. Am politischen Handeln in der Finanzkrise soll- ten wir uns dabei nicht orientieren. Das ist wahrlich kein Glanzstück: Obwohl wir die Katastrophe seit mindestens eineinhalb Jahren beobachten, machen wir uns erst jetzt viel zu langsam und viel zu unentschlossen auf den Weg zu neuen Regeln. Ich kann nur hoffen, dass wir diese Fehler als mahnendes Beispiel nehmen und beim Mee- resschutz endlich einmal rechtzeitig, präventiv und frak- tionsübergreifend handeln. Denn ein milliardenschweres Programm wird es für die Meere ganz sicher nicht ge- ben, und das, obwohl die Ozeane für mich absolut „sys- temrelevant“ sind, wie es in der derzeitigen Krise so oft heißt. Ohne ein Leben in den Meeren gibt es auch kein Leben an Land. Das sollte uns immer klar sein. Deswegen fordere ich Sie auf, die von der EU ge- machten Vorschläge zu präzisieren und so zu fassen, dass sie auch eindeutig und messbar sind. Mit schwam- migen Wunschvorstellungen kommen wir nicht weiter. Um die Meere zu schützen, brauchen wir klare Maßnah- men: Erstens müssen wir alle dafür sorgen, dass durch die Landwirtschaft weniger Stickstoff und Nitrat in die Flüsse und anschließend in die Meere gelangt. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4401 (A) (C) (D)(B) Zweitens müssen wir endlich ein verbindliches und einheitliches Entsorgungssystem für den Müll auf Schif- fen durchsetzen. Drittens sollten wir die Fischer zum Teil eines Entsor- gungssystems machen: Für gesammelten Müll erhalten sie eine Vergütung, die mit einer Gebühr für verlorene Netze verrechnet wird. Viertens müssen wir den Schiffsverkehr endlich in den internationalen Klimaschutz einbeziehen und dafür sorgen, dass mit sauberem Treibstoff statt mit Raffinerie- rückständen gefahren wird. Dies ist nur ein Teil der dringend notwendigen Maß- nahmen, um die wertvollen Ressourcen der Meere auch für die nächsten Generationen zu erhalten. Wir müssen endlich bei der Nutzung der Meere nachhaltig handeln. Wir haben es in der Hand und heute – am europäischen Tag der Meere – müssen wir endlich damit beginnen. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinfachung des Verfahrens nach der Grund- stücksverkehrsordnung (Tagesordnungspunkt 20) Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): Wir haben es heute mit einem etwas sperrigen Thema zu tun: Wir spre- chen über den Gesetzentwurf zur Vereinfachung des Ver- fahrens nach der Grundstücksverkehrsordnung. Im Kern geht es dabei darum, die Beschränkung der Verkehrsfä- higkeit von Grundstücken in den neuen Bundesländern auslaufen zu lassen. Momentan bedürfen Grundstücksge- schäfte dort nämlich einer besonderen Grundstücksver- kehrsgenehmigung durch die Ämter zur Regelung offe- ner Vermögensfragen, um etwaige Restitutionsansprüche nach dem Vermögensgesetz zu sichern. Auch heute – etwa 20 Jahre nach dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung – ist die Lösung der offenen Vermögensfragen eine der wichtigsten und zugleich schwierigsten Herausforderungen auf dem Weg zu einem vollständig geeinten Deutschland. Deswegen ist es ebenso wichtig wie richtig, sich mit dem Restitutionsver- fahren auseinanderzusetzen und sich die derzeitige Rechtslage genau im Hinblick auf den Verbesserungsbe- darf anzusehen. Obwohl dieser Entwurf aus der Feder meiner SPD-Kolleginnen und Kollegen stammt, lässt sich sein Anliegen nicht von vornherein von der Hand weisen. Das Gesetz soll nämlich, wie zu lesen ist, grundsätzlich ermöglichen, dass Grundstücke, die nicht mit Rücküber- tragungsansprüchen belastet sind, unbeschränkt am Grundstücksverkehr teilnehmen können. Das ist vernünf- tig. Gleichzeitig wollen die geschätzten Kolleginnen und Kollegen von der SPD sicherstellen, „den Sicherungsge- danken zielgenau zugunsten noch offener vermögens- rechtlicher Ansprüche aufrechtzuerhalten“. Auch das ist vernünftig. Richtig ist es obendrein; denn es gilt dem ver- mögensrechtlichen Grundsatz „Rückgabe vor Entschädi- gung“ in seiner jetzigen Form Rechnung zu tragen. Da- von werden wir als Unionsabgeordnete auch nicht abweichen. Im Gesetzentwurf schreibt man nun, dass die Grund- stücksgeschäfte innerhalb des Beitrittsgebiets durch das derzeitige Verfahren belastet werden. Man zählt auf, erstens, die zeitliche Verzögerung für alle Beteiligten, zweitens, finanzielle Belastungen durch Bereitstellungszinsen und Gebühren sowie, drittens, die Behinderung von Investitionen in den ostdeutschen Län- dern. Dieser Problemdarstellung kann ich mich durchaus anschließen; denn es dürfte kaum zu bestreiten sein, dass Genehmigungsverfahren – solche Verfahren dauern in den vorliegenden Fällen um die drei Monate – nicht ge- rade zur Verfahrensbeschleunigung beitragen. Wenn bei diesen Genehmigungsverfahren in den allermeisten Fäl- len keine Restitutionsansprüche im Raum stehen, kann das vom Ergebnis her niemanden befriedigen. Dann er- füllt die Grundstücksverkehrsordnung ihren Sicherungs- zweck nämlich wirklich, wie im Gesetzentwurf zu lesen ist, zunehmend auf Kosten des übrigen Grundstücksver- kehrs. Es bleibt also festzuhalten: Betrachtet man den Titel des Gesetzes und das grundsätzliche Anliegen, könnte ich dem Antrag im Grundsatz folgen. Doch wie so oft steckt der Teufel im Detail. Schauen wir uns einmal an, auf welcher Grundlage und wie Sie das Gesetzesziel er- reichen wollen. Um bei den rechtstatsächlichen Annah- men des Gesetzentwurfs anzufangen: Sie behaupten, dass in Sachsen-Anhalt bereits mehr als 99 Prozent der grundstücksbezogenen vermögensrechtli- chen Ansprüche beschieden werden konnten und dass in den übrigen Ländern „überwiegend ein vergleichbarer Abarbeitungsstand erreicht worden“ sei. Fundierte Daten zu den anderen neuen Bundesländern bleiben sie indes schuldig. Angesichts der durchaus unterschiedlichen Ausgangslagen in den neuen Ländern habe ich meine Zweifel, ob die Zahlen aus Sachsen-Anhalt tatsächlich verallgemeinerungsfähig sind. Doch wenden wir uns vorrangig dem vorgeschlage- nen Anmeldeverfahren zu. Auch hier bin ich mir nicht so sicher, ob dieses so vorteilhaft ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Freilich, die theoretischen Vorteile liegen auf der Hand. Die vorgeschlagene Lösung über einen Anmeldevermerk wäre geeignet, alle Grundstückstrans- aktionen vom Genehmigungserfordernis auszunehmen, in denen keine Restitutionsansprüche in Betracht kom- men. Dies würde bei Grundstückskaufverträgen zu einer beschleunigten Abwicklung und einer Kostensenkung führen. Auch würde durch den Abwicklungsvermerk am bewährten Verfahren nach der GVO festgehalten. So sehr diese Vorteile aus Sicht der Betroffenen im Grundstücksverkehr auch zu begrüßen wären: Der vor- liegende Gesetzentwurf verschweigt uns leider auch erhebliche Probleme bzw. blendet einige gravierende Folgen einfach aus. Eintragung und Löschung des An- meldevermerks erfordern zunächst ein neues Verfahren. Auch das kostet Zeit und Geld. Der Gesetzentwurf sagt nichts dazu, wie insbesondere die Löschung des Anmel- devermerks zu gestalten ist. Allerdings wurde ein ähnli- 4402 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 (A) (C) (D)(B) ches Verfahren beim Sanierungsvermerk bereits mit Er- folg erprobt, sodass ich hierin letztlich nicht das entscheidende Problem sehe. Viel erheblicher dürfte aber der Punkt sein, den der Gesetzentwurf lapidar hinter dem Stichwort „einmaliger Verwaltungsaufwand“ versteckt. Was steckt tatsächlich dahinter? An die Restitutionsanträge wurden seinerzeit keine hohen Anforderungen gestellt. Es kam lediglich auf eine gewisse Bestimmbarkeit an, tagesaktuelle Ka- tasterangaben wurden nicht verlangt. Diese Ausgangs- lage hat aber Auswirkungen für die künftige Eintragung eines Anmeldevermerks. Das Grundbuchamt bräuchte für die Eintragung des Anmeldevermerks nämlich eine präzise katastermäßige Bezeichnung des betroffenen Flurstücks. Gibt es diese nicht – entweder weil es sie nie gab oder weil die Grundstücke seit der Wende neu ver- messen wurden –, was dann? Dann muss die begehrte Eintragung eigentlich zurückgewiesen werden; denn nachforschen dürfte das Grundbuchamt wohl nicht, da das Verfahren „ohne inhaltliche Prüfungskompetenz des Grundbuchamtes“ ausgestaltet werden soll. Es bliebe also Sache der ersuchenden Ämter, sich darum zu küm- mern oder den Eintragungsantrag sozusagen blindzustel- len und zu schauen, was passiert. Das kann kaum befrie- digen. Wenn andererseits für die Antragstellung intensive Nachprüfungen erforderlich sind und diese den Ämtern – in Person der Rechtspfleger – zugewiesen wer- den, so resultieren daraus Kosten, und zwar nicht uner- hebliche. Mit dem derzeitigen Personalbestand dürfte der Arbeitsaufwand nämlich kaum zu bewältigen sein. Wer diese Kosten finanziert, besagt der Antrag leider nicht. Dies alles verbirgt sich hinter dem scheinbar harmlosen „einmaligen Verwaltungsaufwand“. Hieran schließt sich eine zweite, ebenso wichtige Frage an: Wie ist mit den Folgen fehlerhafter Eintragun- gen umzugehen? Eine gewisse Fehlerquote lässt sich nach dem Vorgesagten kaum ausschließen. Fest steht: Wird aus welchen Gründen auch immer kein Anmelde- vermerk im Grundbuch eingetragen, verliert der Restitu- tionsanspruch seine dingliche Sicherung. Denn die Pu- blizität des Grundbuches trägt eine Richtigkeitsgewähr in sich und vermittelt entsprechenden guten Glauben. Ein Dritter könnte das Grundstück also gutgläubig er- werben, auch wenn es tatsächlich restitutionsbehaftet ist. Der eigentlich Berechtigte würde dann seinen Restitu- tionsanspruch verlieren und ginge im Ergebnis leer aus. Was würde dieser tun? Er würde sich wohl kaum klaglos in sein Schicksal ergeben. Nein, er würde mit einiger Si- cherheit den Staat in Haftung nehmen wollen. Zu diesem Risiko besagt der vorliegende Gesetzentwurf leider auch nichts. Ebenso wenig finde ich zur umgekehrten Frage et- was: Wie wollen wir künftig mit „offensichtlich unbe- gründeten Restitutionsanträgen“ umgehen? Hierunter fallen beispielsweise Personen, die zwischen 1945 und 1949 enteignet wurden, demnach an sich einen An- spruch hätten, diesen aber aus bekannten Gründen auf- grund der deutschen und europäischen Rechtsprechung nicht erfüllt bekommen. Derzeit ist dieses Problem in § 1 Abs. 2 Satz 2 Grundstücksverkehrsordnung geregelt. Aber künftig? Auch hierzu findet sich im Gesetzentwurf der SPD leider nichts. Ein weiterer Punkt dürfte in der Praxis eine nicht un- erhebliche Rolle spielen. Ich spreche von der Publizität, die das Restitutionsverfahren durch den Anmeldever- merk erhält. Auf der einen Seite ist es natürlich gerade Sinn und Zweck, den guten Glauben an die Eigentümer- stellung am Grundstück bzw. dessen Lastenfreiheit zu erschüttern. Auf der anderen Seite aber frage ich mich, wie beispielsweise die rechtssichere Eintragung einer Grundschuld zur Absicherung von Krediten nach dem Jahr 2014 möglich sein soll. Nach der bisherigen Rechts- lage war nur vor dem Eigentümerwechsel eine Genehmi- gung nach der GVO einzuholen. Eine Belastung mit ei- ner Grundschuld zugunsten einer Bank oder zugunsten eines Wohnrechts zugunsten eines Familienangehörigen ist ohne Genehmigung möglich. Und künftig? Wir soll- ten uns diese Frage jedenfalls stellen. Auch sollten wir uns die Frage stellen, ob das bisherige Rechtssystem in diesem Punkt geändert oder angepasst werden soll. Hierzu lese ich im Gesetzentwurf, wie gesagt, leider nichts. Kommen wir als Letztes zu dem von Ihnen vorgegebe- nen 1. Januar 2014. Ich möchte noch einmal darauf hin- weisen: Nach diesem Zeitpunkt sind alle bestehenden, aber aus welchen Gründen auch immer nicht eingetrage- nen Rückübertragungsansprüche wegen der Gutglau- benswirkung des Grundbuchs gefährdet. Aus diesem Grunde sollten wir auch diesen Zeitpunkt im weiteren Verfahren genau überprüfen. Ich möchte die wesentlichen offenen Fragen zusam- menfassen: Erstens. Es ist ungeklärt, ob und inwieweit die restitutionsbehafteten Grundstücke im Einzelfall überhaupt identifiziert werden können. Hieraus folgt, zweitens, dass eine erhebliche Fehlerquote zumindest nicht ausgeschlossen werden kann, die, drittens, Staats- haftungsansprüche nach sich ziehen können. Viertens, der Anmeldevermerk würde es dem derzeitigen Eigen- tümer wohl faktisch unmöglich machen, wie bisher durch Grundschulden besicherte Kredite aufzunehmen. Fünftens ist offen, wie mit „offensichtlich unbegründe- ten Restitutionsanträgen“ umzugehen ist. Es bleibt also festzuhalten: Das Ziel des Gesetzent- wurfs, den – ich zitiere – „der GVO zugrundeliegenden Sicherungsgedanken zielgenau zugunsten noch offener vermögensrechtlicher Ansprüche weiter zu verfolgen“, nicht mit Rückübertragungsansprüchen belasteten Grund- stücken aber „eine unbeschränkte Teilnahme am Grund- stücksverkehr zu ermöglichen“ teile ich. Allein der Weg, der mit dem vorliegenden Gesetzentwurf verfolgt wird, scheint mir nicht vollkommen und bis in die Details durchdacht zu sein. Burkhard Lischka (SPD): In Ihrem Koalitionsver- trag haben Sie vereinbart, in dieser Legislaturperiode Genehmigungsverfahren, die bundesgesetzlich geregelt sind, zu überprüfen, zu verkürzen und zu beschleunigen. Regeln, so heißt es in ihrem Koalitionsvertrag, sind kein Selbstzweck, weshalb es nicht mehr Regeln geben soll als erforderlich. Nun sehen wir Sozialdemokratinnen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4403 (A) (C) (D)(B) und Sozialdemokraten mit Sorge, dass sich diese Bun- desregierung seit inzwischen einem halben Jahr in einer Art Selbstfindungsprozess befindet und politische Auf- gaben so beherzt anpackt wie ein Murmeltier im Winter- schlaf. Bekanntlich kann der Winterschlaf eines Mur- meltiers acht oder sogar neun Monate dauern. Ganz so viel Zeit wollen wir Ihnen nicht lassen. Und deshalb le- gen wir hier heute einen Antrag vor, mit dem Sie ganz praktisch etwas zum Thema „Bürokratieabbau“ beitra- gen können; einem Thema, dem Sie sich immerhin auf vier Seiten Ihres Koalitionsvertrages unter der Über- schrift „Investitionsbremsen lösen“ beschäftigen. Also, bitte schön: Hier haben Sie die Möglichkeit, das zu tun. Mit unserem Antrag wollen wir ein Genehmigungs- verfahren beenden, dass es erstens nur in den ostdeut- schen Bundesländern gibt, das zweitens Investitionen er- schwert und verzögert und das drittens bei den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern Jahr für Jahr unnö- tige Kosten in Millionenhöhe verursacht. Worum geht es? Direkt nach der deutschen Wiedervereinigung wurde in den ostdeutschen Bundesländern, einschließlich des ehemaligen Ostteils von Berlin, ein Genehmigungsver- fahren bei Immobilienkaufverträgen eingeführt: die so- genannte „Genehmigung nach der Grundstücksverkehrs- ordnung“. Danach musste bei jedem Immobilienvertrag, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, eine Geneh- migung eingeholt werden, in deren Rahmen überprüft wurde, ob hinsichtlich des verkauften Grundstücks ein Rückübertragungsanspruch von einem Alteigentümer vorliegt. Gab es einen solchen Rückübertragungsan- spruch, so durfte das verkaufte Haus, das verkaufte Grundstück nicht auf den Käufer übertragen werden. Lag kein Anspruch vor, so konnte der neue Eigentümer ins Grundbuch eingetragen werden. Nahezu jeder Kaufver- trag über ein Grundstück, ein Ein- oder Mehrfamilien- haus, eine gewerbliche Immobilie, eine Eigentumswoh- nung, ein Erbbaurecht wurde in den letzten 20 Jahren diesem Genehmigungsprozedere in den neuen Bundes- ländern unterworfen. Und dieses Prozedere war und ist eine immense Belastung für den Immobilienverkehr der ostdeutschen Bundesländer. Auf die Erteilung der Ge- nehmigung musste teilweise ein oder zwei Jahre gewartet werden. Während dieser Zeit unterblieben – im Einzel- fall millionenschwere – Investitionen, weil eine Eigen- tumsumschreibung eben ohne diese Genehmigung nicht möglich war. Immobilienkäufer mussten, während sie auf die Genehmigung warteten, im Regelfall Bereitstel- lungszinsen an ihre finanzierende Bank zahlen: oft vier- und fünfstellige Beträge. Und: Jede Genehmigung – egal ob ein Rückübertragungsanspruch vorlag oder nicht – war und ist gebührenpflichtig. Allein in Sachen-Anhalt mussten Immobilienerwerber im vergangenen Jahr fast 1 Million Euro an Gebühren für diese Genehmigung be- rappen. Macht in 20 Jahren etwa 20 Millionen Euro nur in Sachsen-Anhalt. Für alle ostdeutschen Bundesländer und Berlin bedeutet das weit mehr als 100 Millionen Euro Gebühren in den letzten 20 Jahren. Wir Sozialdemokraten wollen diese Benachteiligung des ostdeutschen Immobilienverkehrs, diese Benachtei- ligung für Investitionen in den neuen Ländern beenden. Dafür ist es 20 Jahre nach der Wiedervereinigung höchste Zeit. Denn inzwischen sind über 99 Prozent der Rückübertragungsansprüche abgearbeitet und entschie- den. Konkret heißt das: Während im vergangenen Jahr – allein in Sachsen-Anhalt – über 15 000 Immobilien- verträge das Genehmigungsverfahren nach der Grund- stücksverkehrsordnung durchlaufen mussten, waren ganze 37 Grundstücke hiervon tatsächlich noch mit ei- nem Restitutionsanspruch belastet. Es gibt Regionen in Ostdeutschland, da gibt es schon seit Jahren keinen offe- nen Restitutionsanspruch mehr; trotzdem muss für alle Grundstücksverträge noch eine Genehmigung eingeholt werden. Es ist jetzt schon absehbar, dass irgendwann in naher Zukunft der letzte Rückübertragungsanspruch rechtskräftig beschieden wird und trotzdem noch alle Grundstücksverträge in den neuen Ländern diesem Ge- nehmigungsverfahren unterworfen sind. Das ist Unsinn. Und das wollen wir Sozialdemokraten beenden. Deshalb schlagen wir vor, ab dem 1. Januar 2014 das Genehmigungsverfahren nur noch auf diejenigen Grund- stücke zu beschränken, für die tatsächlich ein Rücküber- tragungsanspruch vorliegt, und den restlichen Immobi- lienverkehr in den ostdeutschen Bundesländern von dieser Investitionsbremse zu befreien und den gleichen Regeln zu unterwerfen, wie sie für den Immobilienver- kehr in den alten Ländern gelten. Ein riesiger Bürokratie- aufwand würde damit entfallen: Investitionen werden be- schleunigt, die Betroffenen sparen Zeit, Geld und Nerven, und die Verwaltungen in den ostdeutschen Kommunen und Landkreisen werden entlastet. Wie sagen Sie so schön in Ihrem Koalitionsvertrag – ich zitiere nochmals: Wir halten an der Zielsetzung fest, die Lebensver- hältnisse in Deutschland … bundesweit … anzu- gleichen. Also, bitte schön: Hier können Sie das ganz praktisch und im Sinne der Bürger unter Beweis stellen. Marco Buschmann (FDP): Die wesentliche Funk- tion der Grundstücksverkehrsordnung ist die Sicherung möglicher Rückübertragungsansprüche, die sich aus dem Vermögensgesetz ergeben. Die dingliche Rücküber- tragung soll nicht dadurch unmöglich werden, dass zu- vor veräußert wurde. Hier sieht der Gesetzgeber schon heute eine dingliche Sicherung vor. Vor Übertragung muss zunächst geprüft werden, ob ein entgegenstehender Übertragungsanspruch besteht. Der Vorschlag der SPD- Bundestagsfraktion fordert lediglich den Ersatz einer be- reits bestehenden dinglichen Sicherung durch eine neue. Der hier vorliegende Vorschlag, einzelne Vorschriften der Grundstücksverkehrsordnung, der Grundbuchord- nung und des Vermögensgesetzes zu ändern, um den Si- cherungsgedanken zielgenau zugunsten der noch offe- nen vermögensrechtlichen Ansprüche zu gestalten, hat in der Theorie durchaus einen gewissen Charme. Der Gedanke, die Prüfung durch eine Eintragung ins Grund- buch zu ersetzen, enthebt den vermeintlichen Erwerber davon, auf das Ergebnis einer Prüfung warten zu müs- sen. 4404 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 (A) (C) (D)(B) Praktisch ist dieser Vorschlag aber derzeit undurch- führbar. Folge wäre ein unüberschaubarer Rechercheauf- wand. Denn all die Recherchen, die bisher auf Antrag und damit über die Zeit gestreckt erfolgen, müssten dann quasi auf einen Schlag erledigt werden. Die notwendige grundbuchgenaue Bezeichnung der Grundstücke würde eine übergroße Belastung der Grundbuchämter durch eine Vorratseintragung der Vermerke zur Folge haben. Wie Sie sehen, setzt die Wirklichkeit dem Charme der geforderten Gesetzesänderung Grenzen. Um der Mehrbelastung in den Grundbuchämtern dann Herr zu werden, hätte man zwei Möglichkeiten: Zum ei- nen könnte man zusätzliches Personal einstellen – ein Vorschlag, der mit Blick auf die Haushaltslage der öffent- lichen Hand gleich wieder verworfen werden kann. Im anderen Fall würden alle anderen Aufgaben in den Grundbuchämtern liegen bleiben. Und das kann nicht ge- wollt sein. Auch in Zukunft müssen etwa Grundbuchein- tragungen möglichst zügig bearbeitet werden. Diese massiven Belastungen in der Praxis werden si- cher auch der Grund dafür gewesen sein, dass ein in- haltsgleicher Antrag des Landes Sachsen-Anhalt im Bundesrat bereits 2006 zu keiner Einigung zwischen den betroffenen Ländern führte. In meinen Augen sollte es zunächst Aufgabe der be- troffenen Länder sein, sich hier über eine mögliche Re- gelung zu verständigen und entsprechende Vorschläge zu unterbreiten. Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Wir sollen uns hier positionieren zu einem Gesetzentwurf, der die Anwen- dung der Grundstücksverkehrsordnung verändert. Be- vor ich das für meine Fraktion tue, möchte ich einige Worte zum eigentlichen Grundübel der ganzen Ge- schichte sagen. Zur Sicherung von Restitutionsansprüchen von Alt- eigentümern wurde 1993 das Gesetz „Rückgabe vor Ent- schädigung“ von einer Koalition verabschiedet, wie sie heute wieder vor uns sitzt. Dieses Gesetz führte nach 17 Jahren Anwendung in den neuen Bundesländern zu zum Teil verheerenden Auswirkungen auf die Städte im Osten. Schauen Sie nach Plauen im Vogtland: Hier ha- ben viele Alteigentümer ihre Häuser zurückübertragen bekommen. Nach Aussagen der Bauverwaltung haben viele Eigentümer seit diesem Zeitpunkt ihre Immobilien noch nicht ein einziges Mal persönlich besichtigt. Viele haben bis heute keinen einzigen Cent in ihre Häuser in- vestiert. Dort stehen mitten in den Altstadtvierteln Rui- nen en gros. Die Mieter sind in die Plattenbauten gezo- gen, und die Quartiere sind perforiert, soll heißen: ein Haus kein Haus, ein Haus eine Bauruine. Heute gibt das Land Sachsen Fördermittel an die Alteigentümer für den Abriss ihrer Häuser, und auch das mit nur wenig Erfolg. Ein anderes Beispiel ist Köthen, eine IBA-Stadt in Sach- sen-Anhalt: Hier wird über homöopathische Rezepte im wahrsten Sinne des Wortes versucht, die Eigentümer zu provozieren, sich ihrer Häuser jetzt anzunehmen und der Eigentümerverpflichtung endlich gerecht zu werden. Auch Medienberichte zu Leipzig haben das Grundübel des damaligen Gesetzes intensiv beleuchtet. Heute ist also zu konstatieren, dass die Rückgabe der Immobilien an die Eigentümer eine falsche Entschei- dung war. Damit sind logischerweise auch alle Begleit- gesetze und Verordnungen zur Durchsetzung dieser Rückgabe falsch. Das, was die SPD hier heute beantragt, könnte auf den ersten Blick vermitteln, dass es jetzt end- lich an der Zeit sei, einen Mangel zu beseitigen. Aber wie die SPD in ihrer Begründung bereits selbst einräumt, handelt es sich dabei nur noch um eine ganz kleine Gruppe von Menschen, die davon vielleicht profitieren würde. Ich finde, dafür hätte die SPD in den vergange- nen Jahren, wenigstens in der Zeit unter Kanzler Schröder, genügend Zeit gehabt. Damals wären noch mehr Alteigentümer in den Genuss der vermeintlichen Vorteilsregelung dieses vorliegenden Gesetzentwurfes gekommen. Heute betrifft das nur noch ganze 1 Prozent aller Antragsfälle – ein bisschen viel Aufwand. Diesen aber will die SPD gerade abbauen. Ich fürchte, dass, so halbherzig wie die Sache ange- gangen wird, keines der beschriebenen Probleme – wenn es denn welche sind – gelöst werden kann. Ich fürchte auch, dass das vorgeschlagene Prozedere nicht zu weni- ger, sondern zu mehr Verwaltungsaufwand und damit na- türlich auch zu mehr Kosten – wenn auch an anderer Stelle – führt. Unsere Rückfrage in die Praxis von Nota- riaten hat nämlich ergeben, dass nach dortiger Einschät- zung der größte Teil der Grundstücksgeschäfte mittler- weile gar nicht mehr dem Erfordernis einer Genehmigung nach § 2 der Grundstücksverkehrsordnung, GVO, unter- liegt. Wie sollen an dieser Stelle Verwaltungsaufwand und Verwaltungskosten gesenkt werden, wenn hier unter Punkt 6 noch ein weiterer zu prüfender Sachverhalt, näm- lich der kreierte „Anmeldevermerk“, eingeführt werden soll? Auch diesbezüglich haben unsere Rückfragen erge- ben, dass bei der Vielzahl von einzuholenden Genehmi- gungen und Bescheinigungen im Grundstücksverkehr gar nicht gesagt werden kann, ob darunter die Grund- stücksverkehrsgenehmigung die meiste Zeit verbraucht oder ob es – je nach örtlichen Gegebenheiten – eine Lö- schungsbewilligung, die Beauflagungen aus einer Sanie- rungssatzung, die Bedenken von Trägern öffentlicher Belange oder andere „Zeitfresser“ sind. Schließlich: Ihr zitiertes Beispiel aus Sachsen-Anhalt zeigt, dass im Jahr 2009 durchschnittlich 56,33 Euro pro Grundstücksgeschäft an Gebühren für die Erteilung der Grundstücksverkehrsgenehmigung aufgewendet wurden, was immerhin Einnahmen für die Landkreise von 846 000 Euro zur Folge hatte. Stattdessen entstünden bei den Landesämtern oder den Mittelbehörden zur Rege- lung offener Vermögensfragen und bei den Grundbuch- ämtern Mehrkosten aus dem von ihnen vorgeschlagenen „Anmeldevermerk“. Nach Ihren Vorstellungen müssten zunächst die Grund- stücke, für die keine vermögensrechtlichen Ansprüche angemeldet sind, verwaltungstechnisch von jenen Grund- stücken separiert werden, für die solche Ansprüche ange- meldet, aber noch nicht abschließend bearbeitet sind. Das wäre der erste zusätzliche Verwaltungsaufwand, der aus Ihrer Systematik entstünde, der in Ihrem Begründungs- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4405 (A) (C) (D)(B) text aber keine Berücksichtigung findet. Für den verblei- benden Rest der Grundstücke wollen Sie die Landesämter bzw. die zuständigen Mittelbehörden zur Regelung offe- ner Vermögensfragen verpflichten, die Grundbuchämter zu ersuchen. Das ist dann schon der zweite zusätzliche Verwaltungsaufwand. Der dritte zusätzliche Verwal- tungsaufwand entstünde, wenn die Grundbuchämter – Ih- rer Änderung der Grundstücksverkehrsordnung folgend – einen Anmeldevermerk in Abteilung II des Grundbuchs einzutragen hätten. Ein Vierter folgte automatisch aus der Eintragung, nämlich bei der Löschung eben dieses An- meldevermerkes. Das alles soll nichts kosten und Verwal- tungsaufwand einsparen? Fazit: Prüfen Sie bitte noch einmal, wie groß das Pro- blem und der Handlungsdruck wirklich sind. Vielleicht kommen Sie dann wie ich zu der Auffassung, dass die Grundstücksverkehrsordnung in der Fassung der Be- kanntmachung vom 20. Dezember 1993, zuletzt geän- dert durch Art. 4 Abs. 44 des Gesetzes vom 22. Septem- ber 2005, tatsächlich historisch überholt ist und ersatz- und schadlos abgeschafft werden kann. Das wäre eine wirkliche Einsparung von Verwaltungsaufwand. später aufgrund berechtigter Ansprüche wieder heraus- geben, ist er weitaus stärker geschädigt. Den Schutz des Käufers nehmen Sie von der SPD auch weiterhin ernst. Ich frage aber, ob die Schutzmechanismen, die Sie vor- gesehen haben, reichen. Denn ich will ja nicht ein Haus kaufen, und es später wieder herausgeben müssen. Sie wollen den Käufer schützen, indem Sie in das Grundbuch eintragen lassen, dass ein Anspruch auf Rückübertragung gestellt worden ist. Das klingt erst ein- mal gut. Denn spätestens der Notar wird dann darüber aufklären, was es mit einem solchen Anspruch auf sich hat und dass es alte berechtigte Ansprüche auf das An- wesen gibt. Wenn man ihr Gesetz aber genau liest und mit der alten Rechtslage vergleicht, ergibt sich doch ein wichtiger Unterschied. Die Grundstücksverkehrsgeneh- migung wird heute auch dann nicht erteilt, wenn nur eine Mitteilung über einen solchen Restitutionsantrag einge- gangen ist. Die Vormerkung kommt nach Ihrer Vorstel- lung aber nur dann ins Grundbuch, wenn ein Antrag auf Rückgabe auch wirklich gestellt wurde. Was ich auch vermisse, sind Aussagen zu Anträgen, die nicht von Privatpersonen, sondern von Institutionen Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Antrag der Kolleginnen und Kollegen von der SPD klingt auf den ersten Blick vernünftig. Wer wollte nicht von einer lästigen Genehmigungserfordernis befreit wer- den und Geld für eine Verwaltungsgebühr sparen? Die Zahlen, die Sie dafür nennen, sind auch durchaus beein- druckend. Dass für jeden Kauf eines Grundstücks in den neuen Bundesländern und in Ost-Berlin auch fast zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung noch bescheinigt wer- den muss, dass das Grundstück frei von Ansprüchen ist, hat aber auch seinen Grund. Der Käufer soll geschützt werden. Denn erwirbt er das Grundstück, muss es aber gestellt worden sind. Ich vermisse ganz konkret, was Sie für den Fall vor- schlagen, wenn nur eine Mitteilung über einen Rück- gabeantrag bei der Behörde vorliegt. Bisher heißt das: Es wird keine Genehmigung erteilt. Ihr Gesetzentwurf sagt dazu aber nichts, sodass ich annehme, dass es dann auch zu einer Grundbucheintragung käme. Das wären dann allerdings Steine statt Brot für die Käufer, die sich nur eine Genehmigung sparen wollten, die in Berlin im Höchstfall 250 Euro kostet und in der Praxis heute schon binnen weniger Tage erteilt wird. Vielleicht haben Sie auf diese Frage auch eine Antwort. Der Ansatz ist ver- nünftig, die Antwort auf die Frage nach dem Käufer- schutz warte ich ab. 43. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 Inhalt: Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3 Anlage 4 Anlage 5
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1704300000

Die Sitzung ist eröffnet.

Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen! Die FDP-Fraktion hat mitgeteilt,
dass der Kollege Patrick Döring aus dem Eisenbahn-
infrastrukturbeirat ausscheidet.


(Zurufe von der LINKEN: Oh!)


Überraschenderweise sind dazu weder der Wunsch einer
persönlichen Erklärung noch Debattenbeiträge aus den
anderen Fraktionen angemeldet.


(Heiterkeit – Renate Künast [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das kann man noch machen!)


Es gibt auch schon einen neuen Vorschlag.


(Willi Brase [SPD]: Oh! Man höre!)


Der Kollege Werner Simmling soll ihn in diesem Gre-
mium ersetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE])


Neues stellvertretendes Mitglied soll der Kollege

Rede
Torsten Staffeldt werden. Sind Sie mit diesen Vorschlä-
gen einverstanden? –


(Beifall bei der FDP)


Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die Kollegen
Simmling und Staffeldt in den Beirat gewählt.

Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-
dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-
geführten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zu den Maßnahmen zur Stabilisierung des
Euro

ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeord
Wagenknecht, Michael Schlecht,
Höll, weiterer Abgeordneter und
DIE LINKE
zung

, den 20. Mai 2010

.00 Uhr

Kreditausfallversicherungen (CDS) und deren
Handel vollständig verbieten
– Drucksache 17/1733 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

ZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:

Unterschiedliche verfassungsrechtliche Auf-
fassungen in der Bundesregierung zur Verlän-
gerung von Atomkraftwerkslaufzeiten


(ZP 1 bis 3 siehe 42. Sitzung)


ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Willi
Brase, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-
Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Berufliche Bildung als Garant zur Sicherung
der Teilhabechancen junger Menschen und
des Fachkräftebedarfs von morgen stärken
– Drucksache 17/1759 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)


text
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss

ZP 5 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 33

Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Vermeidung kurzfristiger Markt-
engpässe bei flüssiger Biomasse
– Drucksache 17/1750 –
Überweisungsvorschlag:

ss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

usschuss
ss für Wirtschaft und Technologie
ss für Ernährung, Landwirtschaft und

cherschutz
neten Sahra
Dr. Barbara

der Fraktion

Ausschu
Finanza
Ausschu
Ausschu
Verbrau

Haushaltsausschuss





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

ZP 6 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:

Auseinandersetzung in der Koalition zur
Haushaltskonsolidierung

ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten

(Tuchenbach)

der Fraktion der SPD

Sexuellen Missbrauch von Kindern europa-
weit effektiv bekämpfen – Opferschutz stär-
ken

– Drucksache 17/1746 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien

ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Undine Kurth (Quedlinburg), Dorothea
Steiner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Auenschutzprogramm vorlegen

– Drucksache 17/1760 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Monika Lazar, Katja Dörner, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Bericht der Bundesregierung über die Lage
behinderter Menschen und die Entwicklung
ihrer Teilhabe umfassender und detaillierter
vorlegen

– Drucksache 17/1762 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Elisabeth Scharfenberg, Katja Dörner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Handlungsaufträge aus dem UN-Übereinkom-
men über die Rechte von Menschen mit Behin-
derungen

– Drucksache 17/1761 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss

ZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Kunert, Dr. Axel Troost, Dr. Gesine Lötzsch,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit
von Städten, Gemeinden und Landkreisen

– Drucksache 17/1744 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Haushaltsausschuss

ZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten Britta
Haßelmann, Lisa Paus, Dr. Gerhard Schick, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Gewerbesteuer stabilisieren – nicht abschaffen

– Drucksache 17/1764 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.

Tagesordnungspunkt 33 k wird abgesetzt.

Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Aus-
schussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste auf-
merksam:

Der in der 37. Sitzung des Deutschen Bundestages
überwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz-

(11. Ausschuss)


Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
aufsichtsrechtlichen Anforderungen an die
Vergütungssysteme von Instituten und Versi-
cherungsunternehmen

– Drucksachen 17/1291, 17/1457 –
überwiesen:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales

Sind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –
Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlos-
sen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:

Eidesleistung des Wehrbeauftragten

Der Deutsche Bundestag hat in seiner 34. Sitzung am
25. März 2010 Herrn Hellmut Königshaus zum Wehrbe-





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

auftragten gewählt. Gemäß § 14 Abs. 4 des Gesetzes
über den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestages
leistet der Wehrbeauftragte vor dem Bundestag den in
Art. 56 des Grundgesetzes vorgesehenen Eid. Herr
Wehrbeauftragter, ich bitte Sie, zur Eidesleistung zu mir
zu kommen.


(Die Anwesenden erheben sich)


Ich darf Sie bitten, nun den Eid zu sprechen.

Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deut-
schen Bundestages:

Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des
deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Scha-
den von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze
des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten ge-
wissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann
üben werde. So wahr mir Gott helfe.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1704300100

Herr Wehrbeauftragter, Sie haben damit den von der

Verfassung vorgesehenen Eid geleistet. Ich gratuliere Ih-
nen herzlich zur Übernahme dieses wichtigen Amtes,
und ich freue mich auf eine vertrauensvolle Zusammen-
arbeit mit den Mitgliedern des Deutschen Bundestages
im Interesse unserer Soldaten. Alles Gute.

Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deut-
schen Bundestages:

Ich danke Ihnen.


(Beifall im ganzen Hause – Der Wehrbeauftragte nimmt Glückwünsche entgegen)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1704300200

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe die

Tagesordnungspunkte 5 a bis d sowie den Zusatzpunkt 4
auf:

5 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Schummer, Nadine Müller (St. Wendel), Albert
Rupprecht (Weiden), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der CDU/CSU
sowie der Abgeordneten Heiner Kamp, Patrick
Meinhardt, Dr. Martin Neumann (Lausitz), weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Qualitätsoffensive in der Berufsausbildung

– Drucksache 17/1435 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss
b) Unterrichtung durch die Bundesregierung

Berufsbildungsbericht 2010

– Drucksache 17/1550 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Willi
Brase, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-
Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Verordnungsermächtigung in § 43 Absatz 2
des Berufsbildungsgesetzes entfristen

– Drucksache 17/1745 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Alpers, Dr. Petra Sitte, Nicole Gohlke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Konsequenzen aus dem Berufsbildungsbericht
ziehen – Ehrliche Ausbildungsstatistik vorle-
gen, gute Ausbildung für alle ermöglichen

– Drucksache 17/1734 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten Willi
Brase, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-
Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Berufliche Bildung als Garant zur Sicherung
der Teilhabechancen junger Menschen und
des Fachkräftebedarfs von morgen stärken

– Drucksache 17/1759 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich
höre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfah-
ren.





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst der Bundesministerin für Bildung und Wissen-
schaft, Frau Dr. Annette Schavan.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-
dung und Forschung:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Arbeitslosigkeit in jungen
Jahren befördert Langzeitarbeitslosigkeit. Arbeitslosig-
keit in jungen Jahren führt zu deutlich geringeren Ein-
kommenschancen. – Das ist das Ergebnis einer kürzlich
veröffentlichten Studie der OECD.

Dieselbe Studie hat belegt, dass im internationalen
Vergleich junge Menschen in Deutschland die besten
Berufschancen haben oder – präziser und in Zahlen ge-
sagt –: Das Risiko – zumal während einer Wirtschafts-
krise –, im Alter von 15 bis 24 Jahren arbeitslos zu wer-
den, ist nirgendwo so gering wie in unserem Land.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Als Grund für diese positive Entwicklung hat die
OECD eindeutig das duale Ausbildungssystem genannt.
Während zwischen Ende 2007 und Ende 2009 die Jugend-
arbeitslosigkeit im OECD-Durchschnitt um 6 Prozent auf
fast 19 Prozent angestiegen ist, ist sie in Deutschland
deutlich gesunken. Deshalb sage ich: Wenn es um die
Europäische Union und um den internationalen Bil-
dungsdialog geht, haben wir allen Grund, selbstbewusst
mit dem Flaggschiff unseres Bildungssystems aufzutre-
ten, und das ist die berufliche Bildung.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Mehr als 60 Prozent eines Jahrgangs beginnen in
Deutschland eine Ausbildung. Sie tun dies in einem von
rund 350 Ausbildungsberufen. Gerade in den letzten
Jahren haben wir einen großen Modernisierungsprozess
bei den Ausbildungsberufen erlebt. Es werden neue Aus-
bildungsberufe geschaffen. Ich glaube, es gibt keinen an-
deren Bereich, in dem so beweglich, so dynamisch auf
Entwicklungen in der Arbeitswelt, auf technologische
Entwicklungen reagiert wird. Wir sind besonders flexi-
bel bei der Ausbildung von Fachkräften. Deshalb ist die
berufliche Bildung eine der tragenden Säulen der ökono-
mischen Stärke unseres Landes.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Welche Merkmale der Situation werden im Berufsbil-
dungsbericht dargelegt? Wir stellen fest, dass es beim
Abschluss der Ausbildungsverträge ein Minus von
8,2 Prozent und zugleich einen deutlichen Rückgang der
Zahl der Bewerber gibt. Diese beiden Feststellungen
werden uns auch in den nächsten Jahren begleiten. Das
herausstechendste Merkmal der Situation ist, dass die
Zahl ausbildungsinteressierter Jugendlicher demografie-
bedingt deutlich gesunken ist. Ich nenne eine einzige
Zahl, die die Dramatik der nächsten Jahre deutlich
macht: Im Jahr 2020 werden in Deutschland 3,1 Millio-
nen unter 25-Jährige weniger leben als heute; das ist ein
Rückgang um 15 Prozent. Das heißt, die Zahl der An-
wärter auf Ausbildung geht zurück. Das heißt aber auch,
unsere Unternehmen werden schon in wenigen Jahren
händeringend Fachkräfte suchen. Deshalb ist es so wich-
tig, dass wir jedem Jugendlichen die Chance zu einer
qualifizierten Ausbildung, zu einem Abschluss geben,
um für den Arbeitsmarkt, für eine berufliche Existenz
zur Verfügung zu stehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Was also jetzt zur Entlastung führt – es führt auch zu
einer deutlich besseren Bewertung der Situation –, kann
schon in wenigen Jahren zu einem ernsthaften Nach-
wuchsproblem werden. Deshalb ist ein Schwerpunkt
der Berufsbildungspolitik dieser Bundesregierung die
Neugestaltung des Übergangssystems zwischen Schule
und Ausbildung. Immer noch haben wir viele junge
Leute, die Probleme haben, von der Schule in eine Aus-
bildung zu kommen. Wir alle kennen die vielen Initiati-
ven vor Ort. Das Bundesarbeitsministerium, das Bundes-
bildungsministerium, die Länder und die Kammern, sie
alle führen Initiativen durch.

Zu den wichtigen Aufgaben gehört, dieses Über-
gangssystem jetzt besser und konzentrierter zu gestalten.
Deshalb haben wir als eine der ersten Maßnahmen be-
schlossen, dass künftig Bildungslotsen junge Leute be-
gleiten, die sich schwer tun, einen Schulabschluss zu
machen. Wir dürfen nicht warten, bis sie keinen Schul-
abschluss machen und dann in Warteschleifen geraten.
Wir müssen dafür sorgen, dass wir sie frühzeitig errei-
chen, dass wir ihnen deutlich machen, wo ihre Stärken
sind, was notwendig ist und welche Möglichkeiten in der
Schule an individueller Förderung bestehen, damit wir
die weitere Absenkung der Zahl derer ohne Schulab-
schluss befördern. Wir müssen in vier, fünf Jahren errei-
chen, dass jeder Jugendliche in Deutschland einen Ab-
schluss macht und in Ausbildung geht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Am Ende des Ausbildungsjahres 2009 waren
9 603 Bewerberinnen und Bewerber unversorgt. Gleich-
zeitig gab es 17 225 unbesetzte Ausbildungsplätze. Auch
diese Entwicklung wird uns in den nächsten Jahren be-
schäftigen.

Die zweite wichtige Herausforderung neben der Neu-
gestaltung des Übergangssystems sind die Altbewerber,
Jugendliche, die in den letzten Jahren nicht in Ausbil-
dung gekommen sind. Im September 2009 zählten etwa
243 000 der insgesamt etwa 533 000 gemeldeten Bewer-
ber zu dieser Gruppe. Das heißt, nahezu die Hälfte derer,
die sich um einen Ausbildungsplatz bewerben, stammt
aus früheren Jahrgängen. Der Anteil ist auf 45 Prozent
gesunken; wir haben etwas erreicht. Klar ist: In dieser
großen Gruppe derer, die noch nicht versorgt sind, sind
eine Menge junger Leute, die wir in den nächsten Jahren
– auch aufgrund ihrer Qualifikation – gut in Ausbildung
bringen können.





Bundesministerin Dr. Annette Schavan


(A) (C)



(D)(B)

Das dritte wichtige Thema sind die Jugendlichen mit
Migrationshintergrund. Wir wissen, dass der Anteil
derer, die keinen Schulabschluss machen, in dieser
Gruppe besonders groß ist. Deshalb wird das von uns
neu gestaltete Übergangssystem – Bildungslotsen, bes-
sere Orientierung und Praktika – auch für diese Gruppe
eine wichtige Rolle spielen.

Wir haben den Ausbildungspakt weiterentwickelt.
Der Schwerpunkt des Ausbildungspaktes, der die Ver-
besserung des Systems der beruflichen Bildung zum Ziel
hat, wird in den nächsten Jahren auf einer weiteren Dy-
namisierung der dualen Ausbildung liegen. Dabei wer-
den wir neue Berufsbilder und die Modernisierung im
Blick haben. Ich bin davon überzeugt, dass das, was wir
im Ausbildungspakt für die nächsten Jahre vereinbart
haben, uns eine gute Chance gibt, die gesetzten Ziele zu
erreichen. Ich sage aber auch: Der Erfolg wird ganz we-
sentlich davon abhängen, dass wir dem, was die Lern-
kultur in der beruflichen Bildung ausmacht, in allen Pha-
sen des Bildungssystems einen höheren Stellenwert
beimessen und wir aufhören, in Deutschland den Ein-
druck zu erwecken, als sei allein die akademische Bil-
dung Ausweis der Leistungsfähigkeit unseres Bildungs-
systems. Das entspricht nicht dem Selbstbewusstsein
derer, die die berufliche Bildung ermöglichen. Das ent-
spricht nicht dem Selbstbewusstsein, mit dem Ausbil-
dungsbetriebe in Deutschland agieren. Deshalb sage ich
erstens ein herzliches Dankeschön an unsere Ausbil-
dungsbetriebe, und ich sage zweitens: Lassen Sie uns
selbstbewusst über berufliche Bildung sprechen. Sie ist
nicht weniger wert als akademische Bildung. Sie ist das
Rückgrat der ökonomischen Stärke unseres Landes.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Willi Brase [SPD])


Fazit des Berufsbildungsberichtes 2009:

Erstens. Wir sind ein gutes Stück weitergekommen,
was den erfolgreichen Einstieg Jugendlicher in die be-
rufliche Ausbildung angeht.

Zweitens. Es gibt keinen Grund, sich zurückzulehnen.
Nun wird uns die Frage beschäftigen, wie unsere Unter-
nehmen zu guten Fachkräften kommen.

Drittens. Wir setzen mit dem Ausbildungspakt und
den Initiativen dieser Bundesregierung in enger Zusam-
menarbeit mit den Ländern auf eine weitere Dynamisie-
rung und Modernisierung der Ausbildungsberufe, und
wir setzen auf eine stärkere Internationalisierung. Ju-
gendliche, die eine Ausbildung machen, sollen genauso
wie Studierende die Möglichkeit haben, einen Teil ihrer
Ausbildung im Ausland zu absolvieren. Die Internatio-
nalisierung der dualen Ausbildung ist wichtig, um mit
Selbstbewusstsein auf europäischer Ebene auftreten zu
können.

All das zusammengenommen ergibt ein wichtiges
Maßnahmenbündel, um zu verhindern, dass der Fach-
kräftemangel in den nächsten Jahren zur größten Wachs-
tumsbremse in Deutschland wird.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1704300300

Der Kollege Willi Brase ist der nächste Redner für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Willi Brase (SPD):
Rede ID: ID1704300400

Guten Morgen, Herr Präsident! Guten Morgen, liebe

Kolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin Schavan,
Sie haben ein Bild gezeichnet, das der Darstellung im
Berufsbildungsbericht entspricht. Ich bin aber sehr da-
für, das eine oder andere zu schärfen.

Wenn es richtig ist, dass wir für die Zukunft alle brau-
chen und alle mitnehmen wollen, dann müssen wir end-
lich an den Dschungel mit fast 500 000 Jugendlichen in
Übergangsmaßnahmen herangehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie selbst haben in der Antwort auf eine Anfrage mitge-
teilt, dass wir allein auf Bundes- und Landesebene fast
200 Programme haben, die sich nur mit dem Übergang
von der Schule in den Beruf befassen. Dabei sind die
Maßnahmen vor Ort noch nicht einmal eingerechnet.
Wenn wir es nicht schaffen, Licht in diesen Dschungel
zu bringen, diesen Knoten durchzuschneiden, die Viel-
zahl der Projekte auf wenige, vernünftige Maßnahmen
zu begrenzen, werden wir das Ziel, alle mitzunehmen,
nicht erreichen. Das ist Ihre Aufgabe. Das verlangen wir
von Ihnen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben nach wie vor einen hohen Anteil Altbe-
werber. Sie haben das angesprochen; das ist richtig. Wir
wissen auch, dass diese Altbewerber unterschiedlich
strukturiert sind, unterschiedliche Voraussetzungen mit-
bringen. Aber es führt kein Weg daran vorbei, etwas
hiergegen zu tun. Wir haben seinerzeit, in der Großen
Koalition, das eine oder andere dazu auf den Weg ge-
bracht. Ich glaube, dass die Berufseinstiegsbegleitung
und der Ausbildungsbonus etwas Positives geschaffen
haben


(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ladenhüter!)


und ein Stück weit mit dazu beigetragen haben, dass
diese jungen Leute eine Zukunftsperspektive haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wenn man das alles zusammenrechnet, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, dann muss man schon sagen: Es
fehlt doch an Ausbildungsplätzen. Ehrlichkeit in der
Statistik ist nichts Verkehrtes. Versuche, die statistische
Erfassung zu verbessern, gibt es, und das müssen wir
auch vorantreiben. Nichts ist schlimmer, als wenn wir
uns etwas vormachen und sagen: „Wir haben auf einmal
mehr Ausbildungsplätze als Bewerber“, wenn gleichzei-
tig noch Hunderttausende Altbewerber unterzubringen
sind. Wir sagen als SPD: Eigentlich brauchen wir zusätz-
liche Ausbildungsplätze für 210 000 junge Leute in un-
serem schönen Lande.


(Beifall bei der SPD)






Willi Brase


(A) (C)



(D)(B)

Wir sind der Auffassung, dass die Innovationsfähig-
keit der Wirtschaft eine wichtige Rolle spielt. Dies gilt
besonders mit Blick auf die duale Ausbildung. Wir
müssen das duale Ausbildungssystem stärken, wenn wir
es schaffen wollen, alle mitzunehmen.


(Beifall der Abg. Christel Humme [SPD])


Es muss nachdenklich stimmen, wenn in den letzten
30 Jahren, wie man im Berufsbildungsbericht nachlesen
kann, die Quote der Einmündungen in eine duale Ausbil-
dung von knapp 80 Prozent auf knapp 60 Prozent gesun-
ken ist. Wenn man dann auch noch berücksichtigt, dass
über 10 Prozent derjenigen, die derzeit eine duale Aus-
bildung machen, Abiturienten sind, sieht man, dass wir
hier ein Stück weit nachsteuern müssen. Wir müssen uns
überlegen, wie wir dieses System dahingehend fitma-
chen, dass auch junge Leute mit Realschulabschluss
oder Hauptschulabschluss weiterhin gute oder beste
Chancen haben. Nur dann tun wir das Notwendige und
Mögliche.

Zu den Übergangsmaßnahmen habe ich etwas gesagt.
Wir wollen mit unserem Antrag, der Ihnen vorliegt, die
Modernisierung der Berufe vorantreiben. Da ist in den
letzten vier, fünf Jahren viel gemacht worden. Wir müs-
sen immer wieder schauen: Wo sind neue Entwick-
lungschancen? Ganz wichtig ist für uns, dass die Erar-
beitung und Neuordnung der Ausbildungsberufe im
dualen System vorrangig im Konsens der Sozialpartner
passiert. Da ist noch ein bisschen nachzuarbeiten. Für
den Fall, dass sich die Sozialpartner nicht einigen kön-
nen, sollten wir – Uwe Schummer, wir haben mehrfach
darüber gesprochen – eine Schlichtungskommission ein-
richten. Ich glaube, das ist notwendig und richtig.

Es gibt einen weiteren Bereich, der uns sehr große
Sorge macht: Das ist der Bereich „Berufsvorbereitung
und Berufsorientierung“. Zur Berufsvorbereitung habe
ich eben etwas gesagt. Wir haben den Eindruck, dass
sich bei der Hilfe bei der Berufsorientierung – rechtzei-
tig, frühzeitig – mittlerweile eine Vielfältigkeit etabliert,
die uns Anlass gibt zu der Sorge, dass ein ähnlicher
Dschungel entsteht wie bei den Maßnahmen: Es gibt zig
Initiativen vor Ort, teilweise planlos nebeneinander her.
Jeder, der eine Idee hat, kommt damit an. Das geht von
den Kindergärten bis zu den Schulen: Niemand hat mehr
einen Überblick. Wir müssen aufpassen, dass uns dort
nicht das Gleiche passiert wie bei dem Maßnahmen-
dschungel im Übergangssystem. Man muss auf die
Kommunen und auf die Länder zugehen und darauf be-
stehen, dass hier strukturiert wird. Nicht jeder, der eine
tolle Idee hat, muss die Welt damit beglücken.


(Beifall bei der SPD)


Es bleibt festzuhalten: Wir brauchen nach wie vor
ausreichend viele Ausbildungsplätze in der Wirt-
schaft. Der Anteil der Unternehmen, die ausbildungsfä-
hig sind, aber nicht ausbilden, ist immer noch hoch. Von
dieser Regierung haben wir bisher wenig gesehen, wie
man mehr Unternehmen dazu bewegen will, auszubil-
den. Das ist, wenn ich das richtig mitbekommen habe,
auch beim Ausbildungspakt kein Thema. Aber es macht
doch Sinn, Unternehmen, die ausbildungsfähig sind, zu
ermuntern – sei es mit Prämien, sei es durch Kampagnen –,
auszubilden. Wir müssen deutlich machen, dass die Un-
ternehmen eine große Verantwortung haben.

Wir haben überlegt, ob es Sinn macht, analog zu dem,
was wir im Bauhauptgewerbe haben, einen Branchen-
fonds aufzulegen – nicht nur um quantitativ voranzu-
kommen, sondern auch um ein Instrument zu haben, das
langfristig dazu beiträgt, die Facharbeitsmärkte zu stabi-
lisieren –


(Beifall der Abg. Ulla Burchardt [SPD])


und im Zuge von Aus- und Weiterbildung entsprechende
Unterstützungsmaßnahmen auf den Weg zu bringen.
Deshalb werden wir dieses Instrument in absehbarer Zeit
noch einmal betrachten und hier im Parlament zum
Thema machen.

Wir brauchen die öffentliche Hand. Wer sich die
Zahlen anschaut, kann das nicht leugnen. Wir sind dafür,
dass die 40 000 Plätze aus dem BA-Programm weiter
zur Verfügung gestellt werden, immer vor dem Hinter-
grund einer ehrlichen Bilanzierung, wie die Lage tat-
sächlich aussieht.

Wir sind auch dafür, dass das auslaufende Ausbil-
dungsprogramm Ost in ein Programm für strukturschwa-
che Regionen umgewandelt wird. Dann geht es nämlich
nicht mehr nach der Himmelsrichtung, sondern danach,
wo Bedarfe sind. Wir sind auch dafür, dass wir das In-
strument der vollzeitschulischen Ausbildung weiterhin
nutzen, mit der Möglichkeit, nach § 43 Abs. 2 Berufsbil-
dungsgesetz – deshalb die Entfristung – gegebenenfalls
auch eine Kammerabschlussprüfung abzulegen.

Wir schlagen das deshalb vor, weil wir nicht so gut-
gläubig sind, zu glauben, dass man dieses Problem nur
mit Appellen allein lösen kann, sondern wenn es das Ziel
ist, allen jungen Menschen eine vernünftige Perspektive
zu geben und sie nicht in dem Maßnahmendschungel ab-
driften zu lassen, dann müssen wir mit der öffentlichen
Hand teilweise auch gegensteuern. Wenn man auf der ei-
nen Seite Milliarden Euro für Rettungspakete für den
Banken- und Finanzsektor zur Verfügung stellt, dann
kann man keinem jungen Menschen mehr erklären, wa-
rum nicht ein bisschen Geld auch für seine Zukunft auf
dem Tisch liegt. Hier müssen wir ran.


(Beifall bei der SPD)


Ich komme zum Schluss. Die Bildungsrepublik
Deutschland ist ausgerufen worden. Wunderbar! Da-
rüber wird auch an anderer Stelle noch heftig zu disku-
tieren sein.

Die Bildungsrepublik Deutschland beinhaltet aber
nicht nur die Allgemeinbildung und die Hochschulbil-
dung, sondern auch die duale Ausbildung. Frau Ministe-
rin, ich unterstütze ausdrücklich, was Sie gesagt haben:
die duale Ausbildung sei ein Flaggschiff. Wir müssen
dafür sorgen, dass dieses Flaggschiff immer auf Kurs
bleibt. Die duale Berufsausbildung gehört zu unserem
Ausbildungssystem. Die Einmündungsquoten müssen
besser und höher werden. Dort müssen wir gemeinsam
handeln.





Willi Brase


(A) (C)



(D)(B)

Ich denke, es lohnt sich, sich dafür anzustrengen, und
ich freue mich auf die Beratungen im zuständigen Aus-
schuss.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Uwe Schummer [CDU/CSU])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1704300500

Das Wort hat nun der Kollege Heiner Kamp für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Heiner Kamp (FDP):
Rede ID: ID1704300600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Wichtig für die Konkurrenz-
und Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft im weltwei-
ten Wettbewerb sind die bildungspolitischen Weichen-
stellungen. Die Qualität unseres Ausbildungssystems ist
das Zukunftsthema.

Was das bedeutet, lässt sich bei der Betrachtung der
Bildungspolitik auf Länderebene schnell erkennen:

Wir investieren in Schüler und nicht in Schulexperi-
mente. Wir fördern Leistung und lehnen Schülerlotterien
wie im rot-roten Berlin ab.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir achten den Elternwillen und stärken Grundschulen
und Gymnasien. Den Schulaufstand in Hamburg hätte es
mit einer liberalen Senatorin nicht gegeben.


(Beifall bei der FDP – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr hättet Eliteschulen eröffnet! Logisch!)


Wir setzen auf das bewährte duale System der betriebli-
chen Bildung und nicht auf Ausbildungszwangsabgaben,
wie von links stets gefordert.

Die liberale Bildungspolitik ist frei von der Ideologie,
mit welcher die rot-rot-grünen Genossen Kinder und Ju-
gendliche zu Versuchskaninchen degradieren.


(Beifall bei der FDP)


Wir wollen lieber in Bildung und Forschung investie-
ren. Daher stecken wir bis 2013 zusätzliche 12 Milliar-
den Euro in Bildung und Forschung –


(Willi Brase [SPD]: Wollen wir erst einmal abwarten, was der Schäuble dazu sagt!)


das hat keine Regierung vor uns geschafft –, und das in
Krisenzeiten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir werden jedoch auch gewisse Anpassungen im
System vornehmen. Im Bereich der Berufsbildung zeigt
sich deutlich, dass wir umdenken müssen. Während wir
in der Vergangenheit meist mehr Bewerber als verfüg-
bare Ausbildungsstellen hatten, wird uns durch den von
der Bundesregierung vorgelegten Berufsbildungsbericht
2010 gezeigt, dass sich die Schieflage auf dem Ausbil-
dungsmarkt zunehmend umkehrt. Auszubildende wer-
den bald händeringend gesucht.

Trotz der Finanz- und Wirtschaftskrise ist die Lage
auf dem Ausbildungsmarkt im Berichtszeitraum besser
als erwartet. Schon zum zweiten Mal in Folge gab es
mehr unbesetzte Ausbildungsstellen als unversorgte Be-
werber. So ist die Zahl der unversorgten Bewerber im
Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 33,8 Prozent zu-
rückgegangen. In den neuen Bundesländern war der
Rückgang mit 38,1 Prozent deutlich stärker als in den al-
ten Bundesländern mit 32,0 Prozent.

In Zukunft werden wir daher in zunehmendem Maße
mit einem Mangel an Bewerbern um Ausbildungsplätze
konfrontiert sein. Dieser Trend ist ein wesentliches Er-
gebnis des vorliegenden Berufsbildungsberichts 2010
und wird sich aufgrund der demografischen Entwicklung
und der zunehmenden Hochschulübergangsquote weiter
verstetigen.

Dass der Ausbildungspakt ein Erfolg auf ganzer Li-
nie ist, hebe ich an dieser Stelle ausdrücklich hervor.


(Beifall bei der FDP)


Die FDP wird sich für eine Fortsetzung und qualitative
Aufwertung des Paktes einsetzen. Ich freue mich sehr,
dass hierbei ein Schwerpunkt gerade auch auf Migranten
gelegt werden soll.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Den Betrieben möchte ich für ihr großartiges Engage-
ment an dieser Stelle recht herzlich danken. So kann es
weitergehen.

Der künftige Bewerbermangel hat Auswirkungen auf
die Aufgabenstellung der Politik. Unsere wichtigste
Aufgabe ist es nun, einem bereits heute von der Wirt-
schaft beklagten Fachkräftemangel entgegenzuwirken.
Als deutschem Erfolgsmodell kommt der beruflichen
Dualausbildung hierbei eine herausragende Bedeutung
zu. Durch ihre Verankerung in der beruflichen Praxis ge-
währleistet sie berufliche Qualifikation auf höchstem
Niveau. Zudem bietet die duale Berufsausbildung im
Vergleich zu rein schulischen Ausbildungsgängen über-
durchschnittlich hohe Übergangsquoten in reguläre Be-
schäftigung.

Die Herausforderung der Zukunft wird sein, das der-
zeit noch brachliegende Potenzial der Schulabbrecher
und jungen Menschen mit mangelnder Ausbildungsreife
zu heben. Wir müssen sie dazu befähigen, in das duale
System der beruflichen Bildung einzusteigen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Viele Unternehmen kümmern sich schon. Sie bieten
Nachhilfe- und Förderunterricht für ihre Auszubildenden
an. Dieses in der Tat lobenswerte Engagement muss uns
aber wachrütteln: Wir dürfen Unternehmen nicht auch
noch mit der Aufgabe des Reparaturbetriebs einer man-
gelhaften Schulpolitik überfrachten. Wir müssen unser
allgemeinschulisches System stärken und zukunftsfest





Heiner Kamp


(A) (C)



(D)(B)

machen. Dazu gehört eine bessere individuelle Förde-
rung der Schülerinnen und Schüler.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Unsere allgemeinschulische Bildung gilt es zu ver-
bessern. Jeder Schulabgänger muss richtig lesen, schrei-
ben und rechnen können.


(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Vorlesen mit Betonung!)


Aber auch die Verantwortung des Elternhauses bei der
Erziehung des Nachwuchses darf nicht unter den Tisch
fallen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Für die meisten Ausbildungsbetriebe sind Unzuverläs-
sigkeit, mangelnde Disziplin und Unpünktlichkeit ein
größeres Problem als mangelnde Algebrakenntnisse.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unpünktlichkeit ist kein Problem!)


Das muss uns doch aufhorchen lassen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Wir müssen bei der Bildung früher ansetzen. Der
Bund wird hier seiner Verantwortung gerecht. Unsere
Regierung wird mit den Schulfördervereinen ein Bil-
dungsbündnis schmieden, damit Schülerinnen und Schü-
ler gezielt unterstützt und gefördert werden können.
Dementsprechend werden die Grundschulen ein Budget
erhalten, welches sie je nach Bedarf einsetzen können.
Weil die Bedingungen innerhalb der Republik und von
Schule zu Schule sehr unterschiedlich sind, brauchen wir
solche flexiblen Modelle der individuellen Förderung.


(Beifall bei der FDP – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es gibt auch Regionen, in denen es gar keinen Förderverein gibt!)


Es gilt, die Berufsorientierung für junge Menschen an
den Schulen weiter zu verbessern. Hier setzen wir als
Koalition mit den Bildungsketten neue Maßstäbe. Dazu
gehören unter anderem eine Potenzialanalyse ab
Klasse 7 und eine verbesserte Berufsorientierung ab
Klasse 8. Junge Menschen sollen sich frühzeitig über
ihre Begabungen klar werden; denn nur wer einen Beruf
ergreift, für den er begabt ist, wird gut durch die Ausbil-
dung kommen und den Beruf mit Freude und Begeiste-
rung ein Leben lang ausüben können. Eine Schülerin, die
schwach in Mathe ist, wird vielleicht keine gute Bank-
kauffrau, aber womöglich eine ausgezeichnete Schreine-
rin.


(Ulla Burchardt [SPD]: Aber rechnen muss die doch auch können!)


Damit gehen wir einen anderen Weg als SPD, Grüne
und Linke. Wir lehnen ein Einheitsschulmodell entschie-
den ab, mit welchem Schülerinnen und Schüler in eine
Form gepresst werden sollen;


(Beifall bei der FDP)

denn nichts ist ungerechter als die gleiche Behandlung
Ungleicher.


(Zuruf von der SPD: Was ist mit der Kopfpauschale?)


Vielmehr gilt es, jede Schülerin und jeden Schüler unter
Berücksichtigung der individuellen Fähigkeiten, Bega-
bungen und Probleme dort abzuholen, wo er oder sie
steht, und mit größter Anstrengung zu fördern und zu
fordern.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Die Bildungsstatistik gibt uns dabei recht. Oder haben
Sie schon einmal etwas Positives über die Schulpolitik in
Bremen, Berlin oder Hamburg gehört?


(Agnes Alpers [DIE LINKE]: Ja, das habe ich!)


Kein Wunder!

Allen jungen Menschen Chancen auf eine Beschäfti-
gung zu eröffnen, ist unser erklärtes Ziel. Dies wollen
wir durch die bessere Verzahnung und Intensivierung der
bestehenden Maßnahmen sowie durch neue Initiativen
wie die von mir angesprochenen lokalen Bildungsbünd-
nisse erreichen.


(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Jeder blamiert sich, so gut er kann! – Gegenruf von der CDU/ CSU: Wenn es doch stimmt!)


Die jungen Menschen sollen wissen: Ihr werdet ge-
braucht. Strengt euch an, und Teilhabe an Arbeitsmarkt
und Gesellschaft steht euch offen!


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1704300700

Herr Kollege Kamp, wollen Sie ganz unmittelbar vor

Ende Ihrer Redezeit noch eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Lenkert beantworten?


Heiner Kamp (FDP):
Rede ID: ID1704300800

Ich möchte jetzt zum Ende kommen. – Ihr könnt die

Gewinner des demografischen Wandels sein; denn in
manchen Regionen herrscht bereits heute Bewerberman-
gel; dieser wird sich weiter verstärken. Den Jugendli-
chen rufe ich zu: Wir brauchen euch. Legt euch mit uns
ins Zeug!


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1704300900

Der Kollege Lenkert erhält jetzt Gelegenheit zu einer

Kurzintervention.


Ralph Lenkert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704301000

Herr Kollege, ich weise Sie darauf hin, dass im Wahl-

programm der FDP das gemeinsame Lernen bis zur
6. Klasse gefordert wurde,


(Heiner Kamp [FDP]: Wo?)


und möchte Ihre Aussage dazu hören, wieso Sie sich
dann, wenn dies in Berlin umgesetzt wird, dagegen ver-





Ralph Lenkert


(A) (C)



(D)(B)

wahren. Oder ist Ihnen Ihr Wahlprogramm nichts mehr
wert?


(Beifall bei der LINKEN)



Heiner Kamp (FDP):
Rede ID: ID1704301100

Unser Programm war schon immer etwas wert, mehr

wert als manch andere Programme.


(Willi Brase [SPD]: 6 Prozent bei der Landtagswahl! – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das sehen aber die Wählerinnen und Wähler anders!)


Nach der Sitzung können wir uns gern darüber unterhal-
ten, wo Sie diese Forderung gefunden haben. Mir ist sie
leider nicht bekannt.


(Beifall bei der FDP – Lachen bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1704301200

Mindestens was die Schnelligkeit angeht, könnte man

an dieser Form von Kurzintervention Freude entwickeln.


(Heiterkeit)


Nächste Rednerin ist die Kollegin Agnes Alpers für
die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Agnes Alpers (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704301300

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir ha-
ben es schon gehört: Jedem ausbildungswilligen und
ausbildungsfähigen Jugendlichen konnte auch im Kri-
senjahr 2009 ein Angebot auf Ausbildung gemacht wer-
den. Dies behauptet der Hauptgeschäftsführer des Deut-
schen Industrie- und Handelskammertages, Martin
Wansleben. Auch im Berufsbildungsbericht 2010 wird
festgestellt, dass es „erneut mehr unbesetzte Ausbil-
dungsplätze als unversorgte Bewerber/Bewerberinnen in
der Statistik der Bundesagentur für Arbeit“ gebe. Welch
ein toller Erfolg wäre es gewesen, wenn wirklich jeder
Jugendliche einen Ausbildungsplatz erhalten hätte!


(Beifall bei der LINKEN)


Wir wissen natürlich alle, dass es nicht so ist. Aber
wie kommt man nun zu solchen Aussagen? Im letzten
Jahr gab es mehr als 83 000 Jugendliche, die über die
Bundesagentur keinen Ausbildungsplatz erhalten haben.
Mehr als 73 000 haben erst einmal mit einer Alternative
wie einer Berufsvorbereitungsmaßnahme begonnen. In
der Statistik erscheinen sie deshalb an einer anderen
Stelle, weil sie ja im Übergang sind. Insgesamt führt die
Bundesagentur diese Jugendlichen aber immer noch als
ausbildungssuchend. Um diese Tatsache zu vertuschen,
forderten die Arbeitgeber in ihrer Stellungnahme zum
Entwurf des Berufsbildungsberichtes 2010, dass auf
diese „widersprüchlichen Angaben“ im Bericht verzich-
tet werden solle. Meine Damen und Herren, was ist denn
dies für eine Vorgehensweise und was ist das für ein
Umgang mit den Jugendlichen, die zum Teil schon seit
Jahren eine Ausbildungsstelle suchen? Menschenschick-
sale ausradieren, um zu glänzen – das ist einfach nur ein
Skandal.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Statistik der Bundesagentur für Arbeit geht
aber noch weiter: Da gibt es auch noch 96 000 junge
Menschen, die nicht mehr bei der Bundesagentur gemel-
det sind. Für die BA ist dann der Vermittlungsauftrag ab-
geschlossen. Ob nun in Ausbildung, untergebracht in ei-
ner Übergangsmaßnahme oder einfach nicht mehr
mitgezählt, die Bilanz all dieser Vertuschungen und Ver-
schiebungen lautet: Es gibt heute in Deutschland
1,5 Millionen Auszubildende, gleichzeitig aber auch
1,5 Millionen junge Menschen zwischen 20 und 29 Jah-
ren ohne Ausbildung. An diesem Punkt sagen wir als
Linke ganz klar: Hören Sie endlich mit der Schieberei
von Zahlen auf und legen Sie eine Ausbildungsstatistik
auf den Tisch, die alle Jugendlichen im Blick behält.


(Beifall bei der LINKEN)


Als ehemalige Lehrerin in der Berufsausbildung muss
ich Ihnen sagen: Junge Menschen sind nicht unwillig
und unfähig. Sie wollen einen Ausbildungsplatz; denn
sie wollen sich in dieser Gesellschaft eine Perspektive
aufbauen. Die Unfähigkeit liegt eigentlich in der Politik:
Fast die Hälfte aller Schulabgängerinnen und Schulab-
gänger einschließlich der Altbewerberinnen und Altbe-
werber landet im sogenannten Übergangssystem; das
waren im Jahre 2008 500 000 Jugendliche. Hier sollen
die jungen Menschen ihre Kompetenzen so erweitern,
dass sie ausbildungsreif werden. War das Übergangssys-
tem einst eine Maßnahme für wenige, um sie in die Aus-
bildung zu führen, ist es heute das große Auffangbecken
für ganz viele junge Menschen. Jeder vierte Realschüler
landet im Übergangssystem. Jeder zweite Jugendliche
mit oder ohne Hauptschulabschluss hat nach zwei Jahren
im Übergangssystem noch immer keinen Ausbildungs-
platz. Ausgewiesene Bildungsexperten gehen seit Jahren
davon aus, dass das Übergangssystem eher die Aufgabe
hat, die Ausbildungsmarktbilanz zu stabilisieren. Die
Ausbildungsmisere besteht doch darin, dass wir nicht
genügend Ausbildungsplätze haben. Noch immer
herrscht das Prinzip: Oben die Besten abschöpfen, und
die anderen können zusehen, wo sie bleiben.

Eine meiner ehemaligen Schülerinnen verbrachte
Jahre damit, einen Ausbildungsplatz zu finden. Tanja ist
Rollstuhlfahrerin und hat einen Realschulabschluss mit
2,0. Die Bundesagentur für Arbeit forderte sie auf, vor
einer Ausbildung erst einmal die Schulpflicht zu absol-
vieren. Nach diesen zwei Jahren konnte sie an einer Be-
rufsvorbereitungsmaßnahme im kaufmännischen Be-
reich teilnehmen. Die Abschlussprüfung der Ausbildung
nach weiteren drei Jahren bestand sie als eine der Bes-
ten. Zum Abschied sagte sie mir: Ich hätte in dieser Zeit
schon zwei Ausbildungen absolvieren können. Wie irr-
sinnig ist denn das System, und wie lange werde ich jetzt
wohl noch brauchen, bis ich als Rollstuhlfahrerin Arbeit
finde?


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Hört! Hört!)






Agnes Alpers


(A) (C)



(D)(B)

Diese junge Frau ist einer der vielen Gründe, warum
wir Linke sagen: Wir müssen das Recht auf einen Aus-
bildungsplatz garantieren,


(Beifall bei der LINKEN)


egal ob die Menschen Ali oder Almut heißen, egal ob sie
in einem Rolli sitzen oder ihre Familie unter der Armuts-
grenze lebt. Wir alle wissen doch, dass die Betriebe die
Zahl der Ausbildungsplätze nicht freiwillig erhöhen wer-
den. Wir fordern die Bundesregierung auf: Verpflichten
Sie endlich die Betriebe zu einer Ausbildungsumlage,
damit allen Jugendlichen genügend Ausbildungsplätze
zur Verfügung stehen!


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren von der CDU/CSU und der
FDP, in Ihrem Antrag „Qualitätsoffensive in der Berufs-
ausbildung“ wollen Sie nun wichtige Aufgaben zur
Unterstützung aller Jugendlichen in Angriff nehmen.
Kommunen, Land und Bund sollen sich an der Bildungs-
partnerschaft beteiligen. Die Zuständigkeiten sollen ge-
wahrt bleiben. Übersetzt heißt das doch ganz einfach:
Sie wollen das Kooperationsverbot nicht aufheben.
Also sind die Länder für die Finanzierung der Bildung
alleine zuständig. In Ihrem Antrag legen Sie notwendige
Handlungsschritte fest, die Sie selber aber gar nicht
umsetzen müssen. Denn: Senkung der Schulabbrecher-
quote – Ländersache; Sprachförderung – Ländersache;
Integration der Behinderten – Ländersache; Förderung
benachteiligter Kinder und Jugendlicher – Ländersache.
Das ist doch ein Skandal! Sie tun so, als ob Sie zukunfts-
weisend handelten, und dabei tun Sie nichts.


(Beifall bei der LINKEN)


Im Rahmen der Berufsorientierung an Schulen aller-
dings will der Bund – wir haben es heute schon gehört –
50 Millionen Euro investieren. Bundesweit sollen im
Rahmen des Bildungslotsenprogramms 3 200 Berufsein-
stiegsbegleiterinnen und -begleiter an den Schulen ein-
gesetzt werden. 2 000 Bildungslotsen werden bezahlt.
1 200 sollen ehrenamtlich arbeiten. Frau Bildungsminis-
terin Schavan, ich frage Sie: Wie sollen denn alle moti-
viert und qualifiziert arbeiten, wenn die einen gar kein
Geld erhalten und wieder andere keine berufspädagogi-
sche Ausbildung besitzen?


(Heiner Kamp [FDP]: Wollen Sie kein Ehrenamt?)


Halten wir zusammenfassend fest: die Ausbildungs-
statistik – mangelhaft; das Übergangssystem – ein struk-
turloser Dschungel; die Berufsorientierung – konzep-
tionslose Häppchen für die Masse. Meine Damen und
Herren, wann hören Sie endlich mit der Flickschusterei
auf? Wann sorgen Sie für ein durchdachtes Konzept für
die Berufsausbildung, das alle Akteure einbezieht? Re-
den Sie nicht nur davon, wie immens wichtig es ist – ich
zitiere aus Ihrem Antrag –, „jedem jungen Menschen mit
einer bestmöglichen Bildung, Ausbildung und einem
bestmöglichen Studium eine Perspektive für das Leben
zu eröffnen“.
Politik misst sich nicht an schönen Worten. Handeln
Sie daher endlich! Sie sind doch in der Regierung, um
etwas zu verändern.

Eines sage ich Ihnen noch ganz klar: Auch wenn der
Koch aus Hessen heute scheinbar noch sein eigenes
Süppchen kocht, so haben Sie der Bildung doch schon
lange eine Zwangsdiät verordnet. Das ist nämlich das
wahre Gesicht Ihrer Bildungspolitik: endloses Gerede
über Innovation, Fachkräftemangel und Bildungssparen,
aber nicht in die Zukunft investieren und die Probleme
nicht anpacken. Sie tragen Ihre Politik auf dem Rücken
der Jugendlichen aus. Das, meine Damen und Herren,
werden wir als Linke auf keinen Fall mitmachen.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1704301400

Priska Hinz ist die nächste Rednerin für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der
Berufsbildungsbericht 2010 ist ein Beleg dafür, dass die
Zeit der jungen Menschen, die dringend eine Ausbildung
brauchen, verrinnt. Frau Schavan, Sie haben zu Beginn
Ihrer Rede erklärt, dass der OECD-Bericht deutlich
macht, dass wir eine geringe Jugendarbeitslosigkeit im
europäischen Vergleich haben. Das ist sicher richtig;
aber das darf den Blick darauf nicht verstellen, dass kon-
stant 1,5 Millionen junge Menschen bis 29 Jahre ohne
Berufsabschluss in der Arbeitswelt sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das sind die, die am schnellsten herausgekegelt werden,
das sind die ohne berufliche Perspektive, das sind die
mit den geringsten Löhnen, und das sind die, die am we-
nigsten zur Innovation unserer Wirtschaft beitragen kön-
nen.

Das zeigt doch, dass unser Ausbildungssystem gra-
vierende Schwächen hat und dass es vor allen Dingen
noch immer konjunkturabhängig ist. Die Zahl der Aus-
bildungsplätze ist im letzten Jahr um 8,2 Prozent zurück-
gegangen. Wir können, so zynisch das klingt, froh sein,
dass die Schulabgängerzahlen zurückgegangen sind;
sonst fielen die Zahlen, die ich Ihnen jetzt vortrage, noch
viel drastischer aus.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Wir haben nämlich circa 90 000 Jugendliche, die in
diesem Jahr unversorgt geblieben sind, 90 000 Jugendli-
che, die entweder in überhaupt keiner Maßnahme gelan-
det sind oder im Übergangssystem, das sogar Sie inzwi-
schen „Warteschleife“ nennen. Das darf einen nicht
ruhen lassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)






Priska Hinz (Herborn)



(A) (C)



(D)(B)

Wissen Sie, was im Berufsbildungsbericht der Regie-
rung dazu ausgeführt wird? Die Ausbildungssituation
habe sich für Jugendliche nicht wesentlich verschlech-
tert. Damit darf man sich doch nicht zufriedengeben. Da-
gegen muss man etwas tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Man muss Rückgrat zeigen und deutlich machen, was
sich in der beruflichen Bildung verändern muss.

Hinzu kommen noch 250 000 Altbewerber. Was er-
fahren wir jetzt? Was ist die Lösung für dieses Problem?
Wir erfahren, dass an den Maßnahmen weitergearbeitet
wird, die Sie seit fünf Jahren, seitdem Sie in der Regie-
rung sind, ankündigen oder durchführen.


(Jörg van Essen [FDP]: Bei uns ist es schon ein bisschen kürzer!)


Seit fünf Jahren gibt es also dieselben Maßnahmen, die
nicht zum Erfolg geführt haben. Dabei darf es doch nicht
bleiben.

Das einzig Neue – das haben Sie auch noch von uns
abgeschrieben – sind die Bildungsketten. Wir als Grüne
haben formuliert: Aus Warteschleifen müssen produk-
tive Bildungsketten werden. – Aber wie sieht denn Ihre
Bildungskette aus? Sie wollen eine Berufsorientierung
ab der 7. Klasse in Form einer individuellen Förderung
bildungsgefährdeter Jugendlicher einführen. Super, klar!
Aber wie verhält sich das zu dem Programm der Berufs-
orientierung, das schon in den Berufsbildungszentren
stattfindet? Wie verhält sich das zu dem Programm hin-
sichtlich der Berufseinstiegsbegleiter? Das ist doch völ-
lig unabgestimmt, losgelöst, neu in die Welt gepflanzt.
Ich weiß nicht, wo Sie die 3 200 Leute akquirieren wol-
len, die Jugendliche begleiten sollen – und das im We-
sentlichen noch ehrenamtlich. Das kann doch keine Qua-
lifizierung beim Übergang von der Schule zum Beruf
sicherstellen. Das ist doch kein Konzept.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir haben Ihnen ein Konzept vorgelegt. Wir schlagen
in unserem Konzept DualPlus vor, dass man regionale
Netzwerke schafft und die Berufsbildungszentren stärkt.
Gemeinsam mit den Betrieben sollen dort Ausbildung
ermöglicht und Qualifizierungsschritte als Ausbildungs-
bausteine anerkannt werden, damit aus Warteschleifen
wirklich Bildungsketten werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir schlagen vor, Produktionsklassen einzuführen, so
wie das in Hamburg gemacht wird; die Bundesbildungs-
ministerin will dies unterstützen. Diese Produktionsklas-
sen sollen für die Schwächeren eingeführt werden, damit
der nahtlose Übergang von Schule in Ausbildung mög-
lich ist. Wir wollen das Konzept DualPlus mit zusätzli-
chen Angeboten für besonders starke Schülerinnen und
Schüler in einer Ausbildung anreichern, damit sie die
Möglichkeit haben, nahtlos in eine fachliche Weiterbil-
dung oder aber an die Hochschule zu wechseln. Diese
Bildungsketten führen weiter, wohingegen Ihr losgelös-
tes Programm zur Berufsorientierung einsam im Raume
steht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie haben im Rahmen Ihres Programms Jobstarter
Connect Erfahrungen mit Ausbildungsbausteinen ge-
macht. Die SPD ist leider noch immer dagegen. Viel-
leicht kann sie sich irgendwann einen Ruck geben und
einsehen, dass das eine sinnvolle Sache ist. Wenn Sie
schon Erfahrungen gemacht haben und auch das Hand-
werk bereit ist, mit uns darüber zu diskutieren, wie man
Ausbildungsbausteine sinnvoll im Rahmen einer Ausbil-
dung anerkennt, dann frage ich mich: Warum sind Sie
als Bundesbildungsministerin so mutlos? Warum tragen
Sie hier nur Allgemeinplätze vor?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Eine Bildungs- und Ausbildungsoffensive für Ju-
gendliche mit Migrationshintergrund wurde uns wie-
derholt versprochen. Schon im Jahr 2007 wurde im Be-
rufsbildungsbericht deutlich gemacht, dass 40 Prozent
der Jugendlichen mit Migrationshintergrund – bei Ju-
gendlichen mit deutschem Hintergrund sind es 12 Pro-
zent – keinen Berufsabschluss hatten. Was ist seitdem
passiert? 9 000 Ausbildungsplätze – 9 000 Ausbildungs-
plätze! – sind akquiriert worden. Jetzt schlagen Sie im
fünften Jahr Ihrer Regierungszeit vor, dass ein bundes-
weites Informations- und Beratungsnetzwerk geschaf-
fen werden soll. Herzlichen Glückwunsch! Gut, dass Sie
dort schon nach fünf Jahren angekommen sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das lebenslange Lernen endet bei Ihnen mit 35 Jah-
ren. Die Öffnung des Meister-BAföGs hat dazu geführt,
dass 80 Prozent derjenigen, die es in Anspruch nehmen,
jünger als 35 Jahre sind. An diesem Punkt dürfen wir
doch nicht stehen bleiben. Wir brauchen ein Erwachse-
nen-BAföG, mit dem auch Menschen mit 40 und 50 Jah-
ren eine Weiterbildung ermöglicht wird. Gerade diese
Menschen brauchen wir angesichts der demografischen
Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Zum Schluss will ich noch einmal an die Bildungsket-
ten anknüpfen und ihren Beginn aufzeigen. Wenn Bil-
dungsketten wirklich ernst gemeint sein sollen, dann
muss man frühzeitig damit beginnen, sie zu knüpfen,
und zwar schon im Kindergarten. Aber Sie haben sich
wegen des Kooperationsverbots und Ihrer Finanzpoli-
tik in Form von Steuergeschenken für Wohlhabende
selbst Fesseln angelegt – und damit auch der Zukunft
dieses Landes.

Sie haben keine Chance, in den Schulen in Deutsch-
land etwas zu verbessern. Sie haben keine Chance, indi-
viduelle Förderungen voranzutreiben, außer über För-
dervereine, die es noch nicht einmal in jedem Landkreis
gibt, vor allen Dingen nicht an den Schulen, die Kinder
aus besonders benachteiligten Familien, die Förderung
insbesondere brauchten, besuchen. Sie schaffen es nicht,





Priska Hinz (Herborn)



(A) (C)



(D)(B)

zusätzliche Ganztagsschulen einzurichten. Sie schaffen
es auch nicht, die Schulabbrecherzahlen zu senken. Das
Problem Ihrer Bildungsketten ist, dass der rechtzeitige
Beginn fehlt.

Das ist kein guter Ausblick auf die Zukunft der beruf-
lichen Bildung; denn diese beginnt schon im Kindergar-
ten, spätestens aber in der Schule. Hier müssen wir end-
lich zu Ergebnissen kommen. Deswegen muss der
Bildungsgipfel ein Erfolg werden. Das schaffen wir nur,
wenn das Kooperationsverbot endlich fällt.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1704301500

Der Kollege Uwe Schummer erhält nun das Wort für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Uwe Schummer (CDU):
Rede ID: ID1704301600

Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren!

Frau Alpers, Sie sprachen von einer Zwangsdiät bei den
Bildungsausgaben auf Bundesebene. Sie sollten zur
Kenntnis nehmen, dass wir mit fast 11 Milliarden Euro
den höchsten Ansatz einer Bundesregierung seit 1949
beim Haushalt für Bildung und Forschung haben,


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


dass dieser Haushaltstitel seit 2005 um ein Drittel ange-
stiegen ist und dass derzeit das Konjunkturprogramm II
an Schulen, Universitäten, Volkshochschulen, Sportstät-
ten und Bildungseinrichtungen greift, wie man an den
vielen Baustellen sieht. Wichtige Bildungsinvestitionen
in Milliardenhöhe werden also zusätzlich auf kommuna-
ler Ebene aus Bundesmitteln finanziert.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Für energetische Sanierung! Aber nicht für Bildung! – Agnes Alpers [DIE LINKE]: Aber Sie wissen doch, dass wir mindestens 40 Milliarden brauchen, um den internationalen Anschluss zu erhalten!)


– Lautes Schreien bringt noch keine Wahrheit.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ihre klammheimliche Freude daran, diese Republik
schwachzureden und sich an den Problemen und Nöten
zu ergötzen, um einen ideologischen Mehrwert zu erzie-
len, ist peinlich für dieses Haus.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Agnes Alpers [DIE LINKE]: Ich möchte nur, dass die Probleme angegangen werden!)


Wir werden alles daransetzen, dass durch die Bildungs-
republik Deutschland Chancen für möglichst viele Men-
schen entstehen, auch für Sie, Frau Alpers, damit Sie
nicht auf solche Töne zurückgreifen müssen, sondern
auf Konzepte und Inhalte bauen können.


(Agnes Alpers [DIE LINKE]: Aber auf diese Konzepte warten wir! Da ist nichts!)


Dass wir auf Menschen angewiesen sind, ist eine Er-
kenntnis der Börsenkrise. Dass wir derzeit Ausfälle beim
Wachstum und bei den Auftragsvergaben haben, hat uns
das Institut der deutschen Wirtschaft vorgerechnet. Im
Jahre 2008 konnten Aufträge in Höhe von 29,5 Milliar-
den Euro nicht angenommen werden, weil bereits Fach-
kräfte fehlten. Im letzten Jahr lagen die Auftragsverluste
bei 14,4 Milliarden Euro; da war es aufgrund der Welt-
wirtschaftskrise etwas weniger. Aber die Zahlen zeigen,
dass es schon heute Wachstumsdefizite aufgrund man-
gelnder Qualifikation gibt.

Deshalb müssen wir miteinander überlegen, wie wir
gerade bei der beruflichen Bildung eine Stabilisierung
oder sogar eine Steigerung erreichen können.

83 Prozent aller Patente werden von den Beschäftig-
ten in den Unternehmen entwickelt. Die Erfahrungen,
auch innerhalb der Wirtschaft, zeigen, dass Beschäftigte
nicht nur einen Kostenfaktor darstellen, sondern auch
ein Aktivposten, ein Innovationsfaktor im Unternehmen
sind. In diesem Bewusstsein gibt es derzeit eine gute Zu-
sammenarbeit zwischen der Politik – Annette Schavan,
Frau Merkel und die christlich-liberale Koalition – auf
der einen Seite und der Wirtschaft auf der anderen Seite.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Nicht die Beschimpfung der Wirtschaft, sondern das
Miteinander, die Partnerschaft in Bezug auf Bildung ist
das richtige Konzept.

Im Jahre 2005 lag die Ausbildungsplatzlücke bei
175 000; derzeit liegt sie bei 47 000. Das hängt mit dem
demografischen Wandel zusammen. Im letzten Jahr gab
es etwa 900 000 Schulabgänger; 2018 wird diese Zahl
bei unter 800 000 liegen. Das heißt, der Kampf um die
Köpfe wird zunehmen. Die Erkenntnis, die daraus folgt,
ist, dass wir jeden Einzelnen stärker und auch früher för-
dern müssen.

Eine Wirkung unserer Politik, sowohl der Großen Ko-
alition als auch der christlich-liberalen Koalition, ist,
dass die Zahl der Altbewerber von 380 000 in 2008 auf
heute 244 000 gesunken ist und weiter sinken wird. In-
strumente wie die Einstiegsqualifizierung haben dazu
geführt, dass ein Drittel der Unternehmen, die bisher
nicht ausgebildet haben, gesagt hat, dass sie aufgrund ih-
rer guten Erfahrungen mit der EQ-Maßnahme, der Ein-
stiegsqualifizierung, erstmals voll ausbilden wollen,
zwei oder drei Jahre lang.


(Abg. Katja Mast [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Herr Präsident.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1704301700

Herr Kollege Schummer, Sie sind offenkundig bereit,

eine Zwischenfrage zuzulassen. – Bitte sehr.






(A) (C)



(D)(B)


Katja Mast (SPD):
Rede ID: ID1704301800

Herr Kollege Schummer, Sie haben gerade gesagt,

dass die Zahl der Altbewerber dankenswerterweise zu-
rückgegangen, aber nach wie vor auf einem sehr hohen
Niveau ist. Ich frage mich, weshalb wir heute nicht da-
rüber diskutieren, dass der Altbewerberausbildungsbonus
verlängert werden muss. Im Entwurf zum Beschäfti-
gungschancengesetz des Arbeitsministeriums – dort wird
dies ja verantwortet – ist vorgesehen, diesen Altbewer-
berausbildungsbonus abzuschaffen, obwohl wir nach
wie vor eine hohe Altbewerberquote in Deutschland ha-
ben. Auslaufen soll auch die Maßnahme hinsichtlich der
Berufseinstiegsbegleiter, die ebenfalls Teil des Gesetzes
ist. Ich frage mich, warum die Bundesregierung nicht
einfach altbewährte Instrumente verlängert, statt neue
Debatten anzustoßen, ohne konkrete Gesetzentwürfe
vorzulegen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Uwe Schummer (CDU):
Rede ID: ID1704301900

Sie wissen, dass wir uns festgelegt haben, den Ausbil-

dungspakt zu verlängern, dass wir in unseren Gesprä-
chen über den Ausbildungspakt auch über Instrumente
wie Einstiegsqualifizierung und Ausbildungsbonus re-
den werden,


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das ist doch jetzt schon Gesetz!)


dass darüber aber erst dann entschieden wird, wenn der
Ausbildungspakt Ende des Jahres verlängert wird. Ich
denke, dass wir auch dieses Thema im Rahmen des Aus-
bildungspaktes behandeln werden. Im Rahmen der Ver-
längerung des Paktes wird dann gemeinsam mit der
Wirtschaft entschieden. – Damit ist Ihre Frage beantwor-
tet. Vielen Dank für die Zeit, die Sie mir gegeben haben.

Ich kann nur darum bitten, dass im Rahmen des Aus-
bildungspaktes mit Blick auf die Gewerkschaften ein
Kooperationsgebot vereinbart wird, wie wir es auch in
unserem Koalitionsvertrag formuliert haben. Wir laden
die Gewerkschaften ein, sich am Ausbildungspakt zu be-
teiligen, weil sie als Sozialpartner bei der Entwicklung
von Berufsbildern und bei tariflichen Vereinbarungen
die Kompetenz haben, gestaltend tätig zu werden und für
mehr Ausbildungsplätze und richtige Berufsbilder zu
sorgen. Es kann nicht sein, dass sich eine wichtige Orga-
nisation der Sozialpartnerschaft, die Gewerkschaften,
larmoyant in die Ecke stellt und beleidigt ist.


(Willi Brase [SPD]: Na ja!)


Die Gewerkschaften gehören beim Ausbildungspakt mit
an den Verhandlungstisch und nicht in die Meckerecke.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Auch ich als Gewerkschafter – ich bin seit mehr als
30 Jahren in der IG Metall – fordere die Gewerkschaften
auf – das erwarte ich von ihnen –, dass sie sich im Inte-
resse der jungen Menschen am Ausbildungspakt beteili-
gen, nicht indem sie auf andere zeigen, sondern indem
sie selber deutlich machen, welchen Beitrag sie mit ihrer
Gestaltungskompetenz leisten können, um für mehr
Ausbildungsplätze zu sorgen.

Für den Übergang von der Schule in die Ausbildung
werden wir eine Strategie entwickeln müssen, mit der
wir die Programme, die bisher vorhanden sind, verzah-
nen und zusammenführen. Der Bund muss in die Lage
versetzt werden, sich an den Programmen der Länder
und teilweise der Kommunen subsidiär zu beteiligen. Es
ist richtig, die Potenziale von Schülern im Rahmen von
Bildungsketten bereits ab dem siebten Schuljahr zu mes-
sen. Wir dürfen ihnen nicht nur sagen, wo ihre Schwä-
chen sind, sondern wir müssen ihnen auch sagen, wo
ihre Stärken sind. Im Mittelpunkt muss dabei die Frage
stehen: Wie können wir die Stärken der Schülerinnen
und Schüler durch gezielte Förderung weiterentwickeln?

Darauf aufbauend müssen wir in Form von überbe-
trieblichen Ausbildungswerkstätten eine Berufsorientie-
rung organisieren. Man kann nicht alle 342 Berufsbilder
im Schulunterricht vermitteln. Aber in einer überbetrieb-
lichen Ausbildungswerkstatt des Kolping-Bildungswer-
kes oder des Handwerks können Berufsfelder erkundet
werden, ob Holz, Metall, Hauswirtschaft, Verwaltung
oder Gartenbau. Im Anschluss daran könnte ein berufli-
ches Profiling durchgeführt werden, um den jungen
Menschen eine berufliche Orientierung zu geben, damit
sie erfahren, welche Optionen sie haben.

Nun zur Phase der Berufsvorbereitung in der
Schule. Derzeit bekommen 80 000 junge Menschen aus-
bildungsbegleitende Hilfen. Ich denke, wir sollten da-
rüber nachdenken, ob das Instrument ausbildungsbeglei-
tender Hilfen – dazu gehören unter anderem soziale
Betreuung, Sprachunterricht, Förderunterricht und
Nachhilfe – nicht früher ansetzen sollte, zum Beispiel
schon in der siebten Klasse. Wir sollten im Rahmen der
Bildungspartnerschaft von Bund, Ländern und Kommu-
nen auch schulbegleitende Hilfen anbieten, um den
Übergang systematischer zu organisieren. So können wir
das Ziel, das Frau Schavan genannt hat, erreichen: dass
jedem, der die Schule verlässt, eine berufliche Qualifi-
zierung angeboten wird.

Wir sind diesem Ziel bereits nähergekommen, auch
durch die Politik der Großen Koalition und der christ-
lich-liberalen Koalition. Aber wir sind noch nicht am
Ziel. Wir wollen mit unserem Antrag für mehr Qualität
in der Ausbildung eine umfassende Debatte über die Be-
rufsbildungsreform, die wir vor fünf Jahren hier im Par-
lament gemeinsam verabschiedet haben, anstoßen, um
herauszufinden, ob wir heute, nach fünf Jahren, Ände-
rungen durchführen oder Weiterentwicklungen einleiten
müssen.

Wir wollen auch über den europäischen Bildungs-
raum diskutieren und für eine Aufwertung der dualen
Ausbildung zwischen Portugal und Malta sorgen. Au-
ßerdem werden wir in diesem Hause die Verlängerung
des Ausbildungspaktes debattieren. Ich bitte Sie darum,
nicht nur dazwischenzuschreien und künstliche Empö-
rung zum Ausdruck zu bringen, sondern im Interesse der
jungen Menschen vor allem auch konzeptionell und in-
haltlich mit uns zu diskutieren. Willi Brase hat da einen
guten Anfang gemacht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1704302000

Nächster Redner ist der Kollege Michael Gerdes für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Michael Gerdes (SPD):
Rede ID: ID1704302100

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Ich bin sehr froh, dass wir heute in der Kernzeit
über das Thema Berufsbildung diskutieren. Denn zu oft
verlieren wir uns gerade in Debatten über die Bildungs-
politik in Allgemeinplätze, ohne die Probleme einzelner
Bereiche konkret zu erfassen. Erfreulicherweise ist das
heute anders.

Wir brauchen diese zentrale Debatte, weil das duale
System ein wesentlicher Garant dafür ist, Nachwuchs an
qualifizierten Fachkräften zu gewinnen. Viele Nationen
beneiden uns um die Verbindung von Theorie und Praxis
bei der beruflichen Ausbildung junger Menschen. Da-
rüber besteht hier im Hause, so denke ich, Einigkeit.
Durch die Ausbildung in Betrieben erlernen unsere Ju-
gendlichen stets den Umgang mit Technik auf dem aktu-
ellsten Stand. Sie werden somit optimal auf die Anforde-
rungen des Arbeitsmarktes vorbereitet.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Die Qualität der deutschen Berufsausbildung muss er-
halten bleiben. Deshalb brauchen wir eine Debatte, bei
der wir genau hinschauen, um die Situation, in der sich
Zehntausende ausbildungswillige junge Menschen be-
finden, exakter zu analysieren. Dabei fällt auf, dass es in
der Berufsbildung einige Baustellen gibt.

An erster Stelle sind nach wie vor die fehlenden Aus-
bildungsplätze zu nennen. Noch stimmt es nicht, dass
sich die Lage auf dem Ausbildungsmarkt aufgrund des
demografischen Wandels entspannt, frei nach dem
Motto: Nicht die Plätze sind knapp, sondern die Bewer-
ber. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat sich auch im
Ausbildungsmarkt niedergeschlagen. Auch wenn der
DIHK sagt, die Trendwende sei da, so ist die Zahl der
neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge im Jahr 2009
gesunken. Im Berufsbildungsbericht heißt es lapidar:

Die Ausbildungsmarktsituation hat sich für die Ju-
gendlichen nicht wesentlich verschlechtert.

Diese Formulierung ist bemerkenswert: Die Situation
hat sich also auch nicht verbessert. Bedenkt man zudem
die Unvollständigkeit der Statistik, in der Altbewerber
und junge Menschen ohne Schulabschluss nicht auftau-
chen, wird klar, wie sehr der Schein trügt. Wir müssen
die erweiterten Zahlen betrachten.


(Beifall bei der SPD)


Wer genauer hinsieht, wird mit einigen erschrecken-
den Zahlen konfrontiert. Wir haben hier heute schon öf-
ter davon gehört. Besonders die schlechten Chancen so-
genannter Altbewerber machen mir Sorgen. Sie stecken
im Übergangssystem fest und drehen eine Schleife nach
der anderen. Rund einem Drittel der Jugendlichen ge-
lang es in einem Zeitraum von zwei Jahren nach Ab-
schluss einer Maßnahme nicht, eine vollqualifizierende
Ausbildung aufzunehmen. Das ist grob fahrlässig; hier
müssen wir dringend handeln.


(Beifall bei der SPD)

Wer Jahr um Jahr keine Chance sieht, für den Arbeits-

markt ausgebildet zu werden, der verliert jegliche Lern-
und Arbeitsmotivation. Wer ohne Perspektive ist, der re-
signiert. Das kann sich eine Gesellschaft, die laut CDU/
CSU eine Bildungsrepublik sein will, nicht leisten.


(Beifall bei der SPD)

Jeder Mensch braucht die Aussicht auf einen Ausbil-

dungsplatz. Deshalb fordern wir in unserem Antrag eine
Berufsausbildungsgarantie. Ansonsten steigt die
Quote der Ungelernten in der Altersgruppe der 20- bis
29-Jährigen weiter an. Diese Quote ist ohnehin sehr
hoch.


(Beifall bei der SPD)

Sie liegt bei unglaublichen 15,2 Prozent. Das entspricht
1,5 Millionen Schicksalen.

Frau Hinz hat schon darauf hingewiesen: Wir müssen
auch denen helfen, die ohne Ausbildung bereits im Beruf
stecken. Durch berufsbegleitende Ausbildung müssen
wir es ihnen ermöglichen, sich für den Arbeitsmarkt zu
qualifizieren.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Es ist doch paradox: Auf der einen Seite stehen Altbe-
werber und Ungelernte; auf der anderen Seite rufen wir
den Fachkräftemangel aus.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Jugendliche mit Migrationshintergrund sind von den

Warteschleifen besonders häufig betroffen. „Berlins
Wirtschaft braucht Dich“: So werben IHK und Unter-
nehmen im Rahmen einer Ausbildungskampagne gegen
den Fachkräftemangel in dieser Stadt um Jugendliche
aus Zuwandererfamilien. Das ist keinesfalls nur ein Ber-
liner Phänomen. Wir brauchen für den Arbeitsmarkt der
Zukunft alle Jugendlichen mit und ohne Migrationshin-
tergrund; wir müssen alle Talente nutzen.

Mir bereitet auch die immer lauter geführte Diskus-
sion über die Ausbildungsreife unserer Jugendlichen
Sorge. Wir alle kennen die Aussagen des DIHK: Neben
schulischen Grundkenntnissen mangele es den Jugendli-
chen an Disziplin, Belastbarkeit und Leistungsbereit-
schaft. – Es fehlen die Soft Skills, wie es auf Neudeutsch
heißt. In den Medien sehen wir Berichte von Vorstel-
lungsgesprächen, die mit dem Satz des einstellenden
Meisters enden: Geeignet war keiner der Bewerber; ich
vergebe den Ausbildungsplatz folglich nicht an den bes-
ten Kandidaten, sondern an denjenigen, der weniger
Fehler gemacht hat als andere.

Die Beschreibung fehlender Bewerberqualifikatio-
nen ist sicherlich wichtig, vor allem mit Blick auf den
drohenden Fachkräftemangel. Erstens sollten wir aber
nicht unsere Ausbildungsuchenden stigmatisieren, son-
dern ausbildungsbegleitende Hilfen anbieten,


(Beifall bei der SPD)






Michael Gerdes


(A) (C)



(D)(B)

damit das Ausbildungsziel erreicht wird. Zweitens müs-
sen wir über die Ursachen sprechen und daraus die rich-
tigen Schlüsse ziehen. Nicht unsere Jugendlichen haben
versagt, sondern das Bildungssystem ist verbesserungs-
würdig.


(Beifall bei der SPD)


Es mangelt an Lehrkräften, Schulsozialarbeitern,
Psychologen, individueller Förderung, rechtzeitigen Be-
rufsorientierungsphasen, aber auch an Hilfestellungen
während der Ausbildung. Schulen, Unternehmen und
Eltern sind gefordert, wenn es um die frühzeitige Ver-
netzung von Lernalltag und Berufsvorbereitung geht.
Wir brauchen eine qualifizierte Einstiegsvorbereitung
auf den Beruf. Darum gehört eine individuelle Berufs-
wegeplanung als fester Bestandteil in die Lehrpläne ab
der 7. Klasse.

Wir haben in den letzten Tagen viel über den Ret-
tungsschirm für den Euro diskutiert. Lassen Sie uns bei
aller Wichtigkeit des Themas nicht vergessen, das Gold
in den Köpfen unserer Kinder zu fördern. Die Zukunfts-
chancen unseres Landes sind eng verbunden mit den Ta-
lenten, die in diesen Köpfen stecken.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1704302200

Das Wort erhält nun der Kollege Florian

Bernschneider für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Florian Bernschneider (FDP):
Rede ID: ID1704302300

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Lassen Sie mich zunächst einmal sagen, dass dieser
Berufsbildungsbericht wesentlich mehr ist als ein reines
Zahlenwerk, das es nun in den politischen Streitigkeiten
zu interpretieren gilt. Wenn man die jungen Menschen in
Deutschland fragt, welches Thema sie im Hinblick auf
ihre Zukunft zentral beschäftigt, dann antworten viele:
Mich beschäftigt der Übergang von Schule in Ausbil-
dung und von Ausbildung in Beruf. Auch deswegen
finde ich es so wichtig, aus dieser Debatte vor allem eine
Botschaft an die jungen Menschen in diesem Land zu
senden: Die Wirtschaft braucht junge Köpfe mehr denn
je.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ich kenne mittlerweile die Lesart der Opposition zu
dieser Frage: Die Wirtschaft muss noch wesentlich mehr
Ausbildungsplätze zur Verfügung stellen; sie kommt ih-
ren Verpflichtungen nicht nach. Nur auf dem Papier ha-
ben wir genügend Ausbildungsplätze. – Aber Sie können
nicht wegdiskutieren: Es ist keine Selbstverständlich-
keit, dass wir in einer der größten wirtschaftlichen Kri-
sen, die dieses Land jemals erlebt hat, immer noch mehr
Ausbildungsplätze anbieten können, als von den Auszu-
bildenden gesucht werden.

(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt doch nicht!)


Dass das keine Selbstverständlichkeit ist, wird noch
klarer, wenn man sich anschaut, wie es in früheren Jah-
ren war. Beispielsweise hat man es im Jahre 2002, also
zu Zeiten der rot-grünen Regierung, noch nicht einmal
– um es mit Ihren Worten zu sagen – „auf dem Papier“
geschafft, genügend Ausbildungsplätze anzubieten. An-
gesichts dessen kann man die aktuelle Entwicklung nur
wertschätzen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Natürlich hilft uns bei der Behandlung dieser Frage
– das dürfen wir nicht übersehen – der demografische
Wandel. Er hat schon geholfen, und er wird in den
nächsten Jahren vermehrt helfen. Die älteren Arbeitneh-
mer scheiden aus Altersgründen aus dem Arbeitsmarkt
aus, und es sind immer weniger da, die ihnen folgen
können. Gute Ausbildungspolitik darf sich aber nicht al-
lein auf den demografischen Wandel verlassen. Im Übri-
gen geht es bei guter Ausbildungspolitik nicht nur um
die Frage, wie viele Ausbildungsplätze zur Verfügung
stehen, sondern auch darum – das werden Sie feststellen,
wenn Sie junge Menschen ansprechen –, welcher Aus-
bildungsplatz überhaupt der Richtige ist. Dass junge
Menschen diese Frage stellen, ist nicht unbegründet. Die
Vielfalt der Ausbildungsmöglichkeiten, aber auch die
Spezialisierung, die in den Ausbildungsberufen gefor-
dert wird, nehmen kontinuierlich zu.

Wir stehen vor allem vor zwei politischen Herausfor-
derungen: Zum einen müssen wir gewährleisten, dass
sich die Jugendlichen in dieser Vielfalt möglichst gut
orientieren können, und zum anderen müssen wir dafür
sorgen, dass wir sie möglichst früh in ihren individuellen
Stärken fördern können. Wenn ich mir diese beiden He-
rausforderungen – Orientierung angesichts der Vielfalt
des Ausbildungsmarktes und die möglichst frühe Förde-
rung junger Menschen in ihren individuellen Stärken –
anschaue, dann frage ich mich schon, warum gerade die
Einheitsschule der richtige Weg dahin sein soll.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich sage Ihnen auch: Bildungspolitische Graben-
kämpfe helfen uns in dieser Frage nicht weiter. Im Übri-
gen werden Sie auch die integrationspolitischen Fragen,
die dieser Bildungsbericht zweifellos aufwirft, nicht da-
durch beantworten, dass Sie das Türschild an den Haupt-
schulen abmontieren.

Uns hilft aber auch keine unsachliche und undifferen-
zierte Kapitalismuskritik an dieser Stelle weiter. Das
möchte ich gerade den Kolleginnen und Kollegen der
Linkspartei entgegenrufen. Die Betriebe sagen: Es gibt
immer weniger Jugendliche, die ausbildungsreif sind.
Angesichts dessen müssen wir doch feststellen: Eine
weitere Herausforderung ist, dass Schule und Wirtschaft
in den kommenden Jahren in eine engere Kooperation,
in einen engeren Dialog treten. Im Wahlprogramm der
Linkspartei lese ich:





Florian Bernschneider


(A) (C)



(D)(B)

Zunehmend dreht sich die Diskussion seit geraumer
Zeit um Preis und Leistung und Verwertbarkeit von
Bildung … Der Mensch wird dabei nicht gebildet,
sondern seine Kompetenzen werden für globale
Märkte optimiert. Bildung wird nach kapitalisti-
scher Verwertungslogik geleitet.


(Beifall bei der LINKEN)


Wer so spricht, der hat doch gar kein Interesse daran,
junge Menschen auf den Ausbildungsmarkt und die
Wirtschaft vorzubereiten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die Bundesregierung und die Koalition aus CDU/
CSU und FDP wird ihren Teil dazu beitragen, die He-
rausforderungen zu meistern. Wir haben damit begon-
nen. Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren, aber
vor allen Dingen auch die jungen Menschen in diesem
Land können sich sicher sein, dass Bildungs- und Aus-
bildungspolitik bei uns in guten Händen ist.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Willi Brase [SPD]: Warten wir einmal ab!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1704302400

Herr Kollege Bernschneider, ich gratuliere Ihnen

herzlich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag
und verbinde das mit allen guten Wünschen für die wei-
tere parlamentarische Arbeit.


(Beifall)


Nächste Rednerin ist die Kollegin Nadine Müller für
die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Nadine Müller (St. Wendel) (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Verehrte Kollegen der Opposition: Was muss
ein Jugendlicher denken, der Ihnen heute Morgen zuge-
hört hat? Er muss doch den Eindruck haben, dass es in
Deutschland leichter ist, einen Sechser im Lotto zu ge-
winnen, als einen Ausbildungsplatz zu bekommen. In
ihm müssen doch Fluchtgedanken aufkommen, wenn er
Ihnen heute Morgen zugehört hat. Sie vermitteln ein ra-
benschwarzes Bild, das schlimmer nicht sein könnte.
Aber zum Glück ist es ein falsches Bild. Mit der Realität
hat das wenig zu tun.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Willi Brase [SPD]: Entschuldigen Sie einmal! Wenn 1,5 Millionen keinen Berufsabschluss haben, ist das ein rabenschwarzes Ergebnis!)


Schauen wir uns einmal die Realität an. Werfen wir
einen Blick auf objektive Zahlen, zum Beispiel auf die
Zahlen zur Jugendarbeitslosigkeit. Die Jugendarbeits-
losigkeit ist ja ein verlässlicher Indikator für die Situa-
tion der beruflichen Bildung. Zu Beginn des Jahres lag
die Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland bei 10,1 Pro-
zent. Das ist für deutsche Verhältnisse sehr viel. Aber in
unserem Nachbarland Frankreich lag sie mehr als dop-
pelt so hoch.


(Zuruf der Abg. Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD])


In Finnland lag sie bei 23,7 Prozent, in Schweden bei
25,6 Prozent. Trauriges Schlusslicht ist Spanien mit über
40 Prozent Jugendarbeitslosigkeit. Fast in ganz Europa
gibt es prozentual gesehen mehr arbeitslose Jugendliche
als in Deutschland. Allein diese Zahlen machen deutlich,
dass die Situation in unserem Land nicht so raben-
schwarz aussehen kann, wie Sie sie gerne malen würden.
Das sollte als Allererstes festgestellt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Liebe Kollegen, diese im Vergleich zu anderen bes-
sere Situation in Deutschland ist kein Zufall, sie ist nicht
gottgegeben; nein, dafür gibt es Gründe. Ein entschei-
dender Grund ist das hohe Verantwortungsbewusstsein
unserer Unternehmen. Sie haben trotz Krise weiter aus-
gebildet, sie haben auch die Beschäftigten gehalten, so
gut es eben ging. Unsere Unternehmen haben in den
letzten Monaten Verantwortung gezeigt. Ihnen gebührt
an dieser Stelle ein großes Lob.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Dass sie Verantwortung wahrnehmen, wird nicht nur
in der Krise deutlich, sondern ist Voraussetzung für den
Erfolg unseres Systems, nämlich des Systems der dua-
len Ausbildung. Ich möchte dieses System mit einem
stabilen Haus vergleichen, das auf einem festen Funda-
ment steht und sich schon über Jahre bewährt hat. Aber
um zeitgemäß zu bleiben, muss das Haus immer wieder
modernisiert werden und neuen Herausforderungen an-
gepasst werden.


(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist jetzt die Modernisierung?)


An diesen Modernisierungsarbeiten sind viele beteiligt:
die Politik, die Unternehmen, die jungen Leute selbst.
Sie, liebe Kollegen der Opposition, spielen dagegen eine
eher unrühmliche Rolle. Sie stehen daneben, Sie schauen
zu, Sie stützen sich auf der Schaufel ab, Sie meckern und
kritisieren.


(Willi Brase [SPD]: Wir haben längst einiges auf den Weg gebracht!)


Schauen Sie sich um: Unsere Nachbarn beneiden uns um
dieses stabile System. Nehmen Sie das bitte zur Kennt-
nis, nehmen Sie die Schaufel ebenfalls in die Hand und
helfen Sie mit, dass dieses System noch besser und noch
zukunftsfester wird. Das ist im Sinne von uns allen. Mit-
machen statt Miesmachen – das sollten Sie sich heute
vornehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wie beim Bau eines Hauses müssen auch beim
Thema Ausbildung viele zusammenarbeiten. Ein Para-
debeispiel dafür ist der Ausbildungspakt. Die Kollegen
haben schon darauf hingewiesen.






(A) (C)



(D)(B)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1704302500

Frau Kollegin Müller, gestatten Sie eine Zwischen-

frage der Kollegin Hinz?

Nadine Müller (St. Wendel) (CDU/CSU):
Ja, gerne.


Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704302600

Liebe Frau Kollegin, Sie haben eben gesagt, die Op-

position würde danebenstehen und zuschauen und sich
auf der Schaufel oder wo auch immer abstützen. Ich
möchte Sie jetzt fragen: Haben Sie das Konzept zur Mo-
dernisierung des Berufsbildungssystems der Grünen
„DualPlus“ schon gelesen? Haben Sie sich darüber kun-
dig gemacht, dass es mehrfach Veranstaltungen und
Fachgespräche dazu gab?


(Zuruf des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


– Bitte? –


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Wir melden auch eine solche Frage an! – Gegenruf von der CDU/CSU: Das ist doch kein Zwiegespräch! – Heiterkeit)


Können Sie mir bitte erklären, was Sie an diesem Kon-
zept gut und was Sie schlecht finden?

Nadine Müller (St. Wendel) (CDU/CSU):
Liebe Kollegin, ich halte es für sehr begrüßenswert,

wenn sich auch die Opposition Gedanken macht.


(Zurufe von Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN: Ah!)


Ich finde es gut, wenn wir in den Ausschüssen darüber
diskutieren.


(Ulla Burchardt [SPD]: Sie haben Glück, dass es sie gibt! Sonst gibt es nichts zu sagen!)


Aber was heute Morgen gerade von den Linken und
auch von Teilen der Grünen vorgetragen wurde – die
SPD muss ich davon ausschließen, das war recht kon-
struktiv –, war in überwiegendem Maße Schwarzmale-
rei. Sie haben nur auf die negativen Sachen hingewiesen.


(Ekin Deligöz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben nicht zugehört! Das war nicht die Frage! Sie weichen aus!)


Gerade von den Linken kamen keine konstruktiven Vor-
schläge.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Über sinnvolle Vorschläge zu diskutieren, sind wir jeder-
zeit bereit.


(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben keine Ahnung!)


Wir müssen diskutieren, da haben Sie recht. Wir müs-
sen uns gemeinsam einbringen; denn der Ausbildungs-
pakt – ich habe ihn bereits erwähnt – wird im Herbst ver-
längert. Er geht in eine neue Runde. Dadurch stehen wir
vor neuen Herausforderungen, die wir angehen müssen.

Zwei Herausforderungen – das will ich Ihnen zugute-
halten – haben Sie bereits angesprochen. Zum einen geht
es darum, alle Potenziale zu erschließen. Es gibt nach
wie vor Jugendliche, die es schwer haben, einen Ausbil-
dungsplatz zu finden: die Altbewerber und vor allem die
Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Im Berufs-
bildungsbericht wird eine erschreckende Zahl genannt:
40 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrund
haben keinen Berufsabschluss. Diese jungen Menschen
sind nicht weniger talentiert als ihre deutschen Freunde,
aber sie müssen mehr Hürden überwinden. Deshalb
brauchen sie frühere und intensivere Förderung und Be-
ratung durch Ausbildungslotsen, Sprachkurse und aus-
bildungsbegleitende Hilfen. Wir sind auf einem guten
Weg, aber die Anstrengungen dürfen nicht nachlassen.
Alle Partner des Ausbildungspaktes sollten sich ihrer be-
sonderen Verantwortung bewusst sein. Wir wollen allen
eine Chance geben, im Interesse der Jugendlichen, aber
auch im Interesse von uns allen.

Die zweite Herausforderung, der wir im Rahmen des
Ausbildungspaktes begegnen müssen, ist neu: der
zunehmende Fachkräftemangel. Bereits heute gehen
jährlich 200 000 Menschen mehr in Rente, als neue in
das Berufsleben einsteigen. Diese Entwicklung wird sich
noch verschärfen. Schon heute können viele Unterneh-
men ihre Ausbildungsplätze nicht besetzen. Das Pro-
blem ist zwar regional und branchenspezifisch noch sehr
unterschiedlich, es wird sich aber ausweiten. Das muss
uns Sorge bereiten. Hier müssen wir etwas tun, bei-
spielsweise durch eine bessere Vorbereitung auf das Be-
rufsleben, Stichwort: Berufsorientierung.

Ich wünsche mir, dass wir es schaffen, deutschland-
weit ein besseres System der Berufsorientierung auf
die Beine zu stellen: in allen Schulen, frühzeitig, gezielt
und individuell auf den einzelnen Jugendlichen abge-
stimmt. Es muss ein System sein, das alle Akteure vor
Ort einbindet. Kollegin Hinz, Sie haben eben gefordert,
dass die Akteure, die es bereits vor Ort gibt, eingebun-
den werden. Wir befürworten das sehr. Es gibt das Kon-
zept der Bildungsketten, das Annette Schavan vorge-
stellt hat.


(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war falsch aufgeschrieben!)


Es gibt das Konzept der Bildungslotsen. Auch das trägt
dazu bei, einen kontinuierlichen Übergang von der
Schule ins Berufsleben sicherzustellen. Dafür wollen wir
uns einsetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich habe zu Beginn meiner Ausführungen festgestellt:
Unser System der dualen Ausbildung wird von unseren
europäischen Nachbarn geschätzt. Wir werden darum
beneidet. Ich habe allerdings den Eindruck, dass uns das
in Deutschland nicht immer bewusst ist. Stattdessen ru-
fen wir ständig nach mehr Akademikern, mehr Studen-
ten und mehr Abiturienten.





Nadine Müller (St. Wendel)



(A) (C)



(D)(B)


(Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Die brauchen wir auch!)


Diejenigen, die am lautesten rufen, sind Sie von der Lin-
ken. Sie haben auf Ihren Wahlplakaten „Gymnasium für
alle“ gefordert. Damit erklären Sie alle anderen Schul-
formen und Bildungswege für unwürdig. In meinen Au-
gen ist das arrogant und menschenverachtend.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wo haben Sie das Plakat gesehen? Das gibt es nicht!)


– Liebe Kollegen der Linken, wenn Sie Ihre eigenen Pla-
kate nicht kennen, dann ist das wirklich sehr bedenklich.
Schauen Sie sich die Kampagne Ihrer Partei im Saar-
land, im Land Ihres ehemaligen Bundesvorsitzenden, an.


(Ulla Burchardt [SPD]: Können Sie zum Thema sprechen?)


Dort wurde der Spruch „Gymnasium für alle“ plakatiert.
Wenn Sie nicht dahinterstehen, dann sagen Sie das öf-
fentlich und distanzieren sich von der Kampagne.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Bildung für alle! Das wollen wir!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1704302700

Frau Müller, möchten Sie noch eine Zusatzfrage der

Kollegin Alpers zulassen?

Nadine Müller (St. Wendel) (CDU/CSU):
Von mir aus.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)



Agnes Alpers (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704302800

Ich möchte von Ihnen wissen, wo Sie das Plakat gese-

hen haben. Es gibt kein deutschlandweites Plakat mit der
Aufschrift „Gymnasium für alle“. Da haben Sie sich ge-
täuscht. Was Sie gesehen haben, ist das Plakat mit der
Aufschrift „Reichtum für alle“. Das soll deutlich ma-
chen, dass wir in einem der reichsten Länder leben. Wir
gehen davon aus, dass an diesem Reichtum alle beteiligt
werden.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Reichtum besteuern! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU und FDP)


– Genau. Da sind wir dann beim Bildungsreichtum und
bei gleichen Chancen für alle. Die erste Frage lautet also,
wo Sie das Plakat gesehen haben.

Die zweite Frage lautet: Wo haben Sie jemals von den
Linken gelesen, dass wir uns gegen Auszubildende aus-
sprechen? Sie haben gerade behauptet, dass wir uns nur
für Abiturienten einsetzen. Ich möchte das von Ihnen be-
legt haben. Auch wir treten in allen Bereichen für ein
umfassendes Ausbildungssystem ein. Ich bitte Sie, mit
den Unterstellungen aufzuhören und mir zu sagen, wo
Sie das gelesen haben.
Nadine Müller (St. Wendel) (CDU/CSU):
Ich habe diese Frage bereits beantwortet, liebe Kolle-

gin.


(Zuruf von der CDU/CSU: Zuhören!)


Es wäre nett, wenn Sie mir zuhören würden. Fragen Sie
die Kollegin Ferner oder Ihre Kollegin Ploetz, die Nach-
folgerin von Oskar Lafontaine. Ich bin sicher, dass sie
eines dieser Plakate aufgehängt hat. Es war im letzten
Landtagswahlkampf im Saarland flächendeckend plaka-
tiert. Das sollten Sie wissen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der FDP: Hört! Hört! – Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Saarland ist aber nicht bundesweit!)


Wir wissen, was unsere Landesverbände tun. Wir stehen
ein für die Aussagen unserer Landesverbände. Wenn das
in Ihrer Partei nicht der Fall ist, dann finde ich das
schade. Schauen Sie sich das einfach noch einmal an. Es
war flächendeckend plakatiert.


(Agnes Alpers [DIE LINKE]: Flächendeckend? Sie haben nicht „Saarland“ gesagt, sondern „Deutschland“!)


Liebe Kollegen, wenn Sie „Gymnasium für alle“ pla-
katieren, dann halten wir dagegen: Für uns sind alle
gleich viel wert, sowohl derjenige, der auf der Real-
schule oder auf der Hauptschule seinen Abschluss macht
und dann seine Ausbildung beginnt, als auch der Gym-
nasiast. Dafür werben wir, denn das ist Bestandteil des
dualen Systems. Nur wenn wir für dieses System wer-
ben, wenn wir selbst dafür einstehen, kann es seinen ho-
hen Stellenwert erhalten. Mit Ihrer Aussage „Gymna-
sium für alle“ tun Sie genau das Gegenteil, auch wenn
Sie das heute hier leugnen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, bei die-
sem Thema gibt es noch viel Diskussionsbedarf. Bei der
Modernisierung des Gebäudes der dualen Berufsausbil-
dung sind viele gefordert. Wir alle sollten mit anpacken.
Hier sollte nicht jeder nur seine Interessen verfolgen,
sondern sich seiner besonderen Verantwortung bewusst
sein. Nur dann können wir ein gemeinsames Ziel errei-
chen. Dafür brauchen wir auch Kritiker, aber keine
Miesmacher. Deshalb, liebe Kollegen, bringen Sie sich
konstruktiv ein! Das ist gut für uns alle.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1704302900

Das Wort hat nun der Kollege Stefan Schwartze für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Stefan Schwartze (SPD):
Rede ID: ID1704303000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Man kann den Eindruck gewinnen, dass die Presse für





Stefan Schwartze


(A) (C)



(D)(B)

Schwarz-Gelb so schlecht ist, dass Sie sich heute Mor-
gen die Welt rosarot reden müssen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir diskutieren heute über die Ausbildungssituation
in unserem Land, über die Chancen der Jugendlichen, ihr
Leben selbst in die Hand zu nehmen und ihnen damit
eine Perspektive für ein selbstbestimmtes Leben zu er-
öffnen. Es wäre gut für die Debatte, wenn hier mit ehrli-
chen Zahlen gearbeitet würde. Dass die Zahl der unver-
sorgten Jugendlichen in 2009 nicht stimmen kann, weiß
jeder Abgeordnete, der auch mal mit Schülern diskutiert.
Hier rechnet sich Schwarz-Gelb in dem Antrag die Welt
schön. Das Ausbildungsangebot für Jugendliche reicht
bei weitem nicht aus.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es fehlt, wenn man alle Warteschleifen und Maßnah-
men mit einrechnet, eine Vielzahl von Ausbildungsplät-
zen. Allein im Kreis Herford, in meinem Wahlkreis, fehl-
ten in den letzten Jahren beständig 800 bis 1 000 Plätze.
Die Jugendlichen sind in Maßnahmen gelandet, in den
Warteschleifen an den Berufskollegs, sie jobben, oder
sie sind gänzlich unversorgt geblieben. Trotz allem wol-
len sie weiterhin einen Ausbildungsplatz. Ihre Probleme
am Ausbildungsmarkt lösen sich nicht in Luft auf.


(Beifall bei der SPD)


Der Ausbildungsmarkt ist kein bundesweiter Markt.
Die Zukunft der Jugendlichen entscheidet sich vielmehr
vor Ort. Deshalb müssen wir auch als Bund auf die re-
gionalen Besonderheiten eingehen. Ostwestfalen-Lippe,
die Region, in der mein Wahlkreis liegt, ist die jüngste
Region in Deutschland. Wir erwarten bis 2013 steigende
Zahlen von Schulabgängern und bleiben dann auf dem
hohen Niveau. Um diesen Jugendlichen eine Perspektive
zu bieten, reichen die Angebote der Wirtschaft nicht aus.
Ähnliche Probleme gibt es in anderen Regionen. Wir
müssen ein flächendeckendes Ausbildungsplatzangebot
für alle strukturschwachen Regionen schaffen und vor
Ort sichern.


(Beifall bei der SPD)


Wir müssen den jungen Menschen eine Perspektive
bieten und dem Fachkräftemangel, der in unserer Region
droht, entgegenwirken. Die SPD hat sich ehrgeizige
Ziele gesteckt, an denen wir für die jungen Menschen
festhalten werden. Wir wollen, dass in der Zukunft jeder
entweder ein Abitur oder einen Berufsabschluss machen
kann. Die Zahl der Jugendlichen ohne Schulabschluss
muss deutlich sinken. Das Recht auf einen Schulab-
schluss hilft weiter, aber noch immer verlassen viel zu
viele Jugendliche die Schulen ohne Abschluss.


(Beifall bei der SPD)


Wir müssen die Jugendlichen, die keinen Schulab-
schluss haben, nachqualifizieren. Nur so können wir es
ihnen ermöglichen, ihre Zukunft selbst zu gestalten. Ja,
das kostet Geld, aber es sichert den Jugendlichen Teil-
habe und die größtmögliche Unabhängigkeit von staatli-
chen Leistungen. Sie müssen ihre Zukunft selbst gestal-
ten können.


(Beifall bei der SPD)


Dem Recht auf einen Schulabschluss muss das Recht
auf eine Berufsausbildung folgen.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1704303100

Auch Ihnen, Herr Kollege Schwartze, gratuliere ich

herzlich zur ersten Rede im Deutschen Bundestag. Alles
Gute für die weitere parlamentarische Arbeit.


(Beifall)


Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Dr. Reinhard Brandl für die CDU/CSU-Frak-
tion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Reinhard Brandl (CSU):
Rede ID: ID1704303200

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Wenn man den vorliegenden Berufsbildungsbericht liest,
wird einem deutlich vor Augen geführt, was in Zukunft
Wachstum und Wohlstand am Standort Deutschland
bremsen wird: Es ist der Mangel an gut ausgebildeten
Fachkräften. Aufgrund eines Rückgangs der Zahl der
Ausbildungsplätze in der Krise kann der Bedarf der
Wirtschaft an qualifiziertem Nachwuchs bei weitem
nicht gedeckt werden. Auf der Nachfrageseite ist die
demografische Entwicklung der große Bremsklotz. Al-
lein die Zahl der Abgänger von allgemeinbildenden
Schulen fiel im Jahr 2009 um 34 000 niedriger aus als im
Jahr 2008.

Diese demografische Entwicklung betrifft unsere
ganze Gesellschaft und alle Politikbereiche. Wir als
christlich-liberale Koalition haben deswegen bewusst ei-
nen Schwerpunkt auf die Förderung von Familien und
Kindern gesetzt. Diese Wirkung ist langfristig. Sie hilft
den Unternehmen kurzfristig nicht, ihren Bedarf an qua-
lifiziertem Nachwuchs zu decken. Die Statistik im Be-
rufsbildungsbericht, in der gut 17 000 offiziell gemel-
dete offene Ausbildungsstellen genannt werden, ist nur
eine Seite der Realität. Eine Umfrage des DIHK unter
seinen Mitgliedsunternehmen vom Februar dieses Jahres
hat ergeben, dass diese von 50 000 unbesetzten Stellen
ausgehen, überwiegend weil geeignete Bewerber fehlen.
Dabei gibt es trotz der demografischen Entwicklung eine
große Zahl an Bewerbern, die bisher keinen Ausbil-
dungsplatz erhalten haben. Der Bericht spricht von
9 600 unversorgten Bewerbern. Hinzu kommen aber
noch 73 000 junge Menschen, die zwar in einer der ver-
schiedenen Formen der Beschäftigung stecken, aber
trotzdem noch nach einem für sie passenden Ausbil-
dungsplatz suchen. Wir brauchen jeden Einzelnen von
ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das ist nicht nur eine sozial- und gesellschaftspoliti-
sche Notwendigkeit, sondern in zunehmendem Maße





Dr. Reinhard Brandl


(A) (C)



(D)(B)

auch eine wirtschaftspolitische Notwendigkeit. Der für
diese Gruppe schwierige Übergang von der Schule in
das Berufsleben ist neben dem Mangel an qualifizierten
Bewerbern das zweite Phänomen, auf das man beim Le-
sen des Berufsbildungsberichts immer wieder stößt. Die
Bundesregierung hat das erkannt und handelt dement-
sprechend. Sie setzt sich mit einer ganzen Reihe von
Maßnahmen dafür ein, dass jeder junge Mensch, der aus-
bildungswillig und -fähig ist, ein Qualifizierungsangebot
erhält, das zu einem Ausbildungsabschluss führt. Die
Bundesministerin hat das in ihren Ausführungen darge-
legt.

Als christlich-liberale Koalition haben wir zudem in
unserem Koalitionsvertrag die Bildungsrepublik
Deutschland ausgerufen. Das ist keine leere Worthülse.
Neben den qualitativen Verbesserungen, gerade an der
Schnittstelle zwischen Schule und Beruf, werden bis
zum Jahr 2013 die Ausgaben für Bildung und Forschung
um 12 Milliarden Euro erhöht. Gleichzeitig unterstützen
wir die Länder und die Wirtschaft dabei, ihre Ausgaben
in diesem Bereich zu steigern. Unser Ziel ist und bleibt,
bis zum Jahr 2015 die Ausgaben für Bildung und For-
schung auf ein Niveau von 10 Prozent des Bruttoin-
landsprodukts zu steigern.

Diese Ausgaben sind Investitionen in die Zukunft un-
seres Landes, deren Rendite sich zugegebenermaßen
nicht im Haushalt 2011 niederschlägt, die aber langfris-
tig Wachstum und Wohlstand in unserem Land sichern.
Deswegen ist es zu kurz gegriffen, genau an dieser Stelle
den Rotstift anzusetzen. Ich weiß sehr wohl, dass es
nicht leicht wird, das durchzuhalten. Die Diskussionen
der letzten Wochen sind nur ein Vorgeschmack darauf,
was uns angesichts knapper Kassen und der großen Auf-
gabe der Haushaltskonsolidierung in den nächsten Jah-
ren bevorstehen wird.

Auch die Aufgabe der Haushaltskonsolidierung
müssen wir im Bewusstsein unserer Verantwortung ge-
genüber der nächsten Generation bewältigen. Nur, wenn
wir heute bei den Kindern oder bei der Bildung sparen,
nehmen wir ihnen gleichzeitig ein Stück Grundlage ihrer
Zukunftsfähigkeit.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Das wäre genauso verantwortungslos, wie ihnen nur
Schulden zu hinterlassen. Ich freue mich daher, dass alle
Spitzenvertreter unserer Koalition den entsprechenden
Sparvorschlägen in den vergangenen Wochen eine klare
Absage erteilt haben.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ich verstehe, dass Sie sich bei dem Durcheinander darüber freuen!)


Ich wünsche mir, dass wir, wenn wir in 20 Jahren zu-
rückblicken, sagen können, dass es diese Koalition unter
Bundeskanzlerin Merkel war, die mit ihrem Kurs der
Haushaltskonsolidierung auf der einen Seite und ihren
Investitionen in die Zukunft unseres Landes auf der an-
deren Seite

(Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: In Hotelzimmer!)


den Grundstein für langfristiges Wachstum und Wohl-
stand in unserem Land gelegt hat.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1704303300

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/1435, 17/1550, 17/1745, 17/1734
und 17/1759 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan-
den? – Das sieht ganz danach aus. Dann sind die Über-
weisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Marlies Volkmer, Bärbel Bas, Elke Ferner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Für ein modernes Patientenrechtegesetz

– Drucksache 17/907 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch
für diese Aussprache 75 Minuten vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Dr. Marlies Volkmer für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Marlies Volkmer (SPD):
Rede ID: ID1704303400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vo-

rige Woche, auf dem Deutschen Ärztetag, ließ Dr. Frank
Ulrich Montgomery, Vizepräsident der Bundesärztekam-
mer, verlauten, dass Vertrauen zu den Ärzten mehr zähle
als das formale Recht. Im Originalton:

Patienten muss man in Deutschland nicht schützen –
schon gar nicht vor ihren Ärzten.

Nun wollen wir die Patienten in Deutschland nicht
vor den Ärzten schützen. Wir wollen auch kein Patien-
tenschutzgesetz – das wollen Union und FDP; zumindest
haben sie das in den Koalitionsvertrag geschrieben.

Wir haben ein anderes Bild vom Patienten. Deswegen
wollen wir ein Patientenrechtegesetz. Ein solches Gesetz
halten wir für unbedingt notwendig.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Für die SPD haben die Patientenrechte schon immer ei-
nen hohen Stellenwert. In unserer rot-grünen Zeit haben
wir in dieser Hinsicht viel auf den Weg gebracht. Das hat
dem deutschen Gesundheitssystem insgesamt gutgetan.


(Lars Lindemann [FDP]: Ach?)






Dr. Marlies Volkmer


(A) (C)



(D)(B)

Ich erinnere an die Unabhängige Patientenberatung.
Ich erinnere an die Mitwirkung der Patientenvertreter im
Gemeinsamen Bundesausschuss. Wir haben etabliert,
dass es in der Bundesregierung eine Vertrauensperson
für die Patientinnen und Patienten gibt. Die Funktion des
Patientenbeauftragten fußt auf einem rot-grünen Gesetz.

Leider können wir im Moment nicht sehen, dass der
jetzige Patientenbeauftragte trotz aller Bemühungen viel
bewegen könnte. Ihm scheint der Rückhalt in der eige-
nen Regierung zu fehlen.


(Beifall bei der SPD)


Wenn es anders wäre, stünde die Unabhängige Patien-
tenberatung jetzt nicht im Regen, sondern es wäre längst
alles geregelt für den Fortbestand der Unabhängigen Pa-
tientenberatung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Warum brauchen wir ein Patientenrechtegesetz? Ich
frage Sie: Sind Sie schon einmal vor einer ärztlichen
Diagnose oder Therapie nicht umfassend aufgeklärt wor-
den? Kennen Sie vielleicht aus den Sprechstunden
Bürger, die versucht haben, vom Krankenhaus die Do-
kumente zu der Behandlung ihrer verstorbenen Angehö-
rigen zu erhalten? Musste schon einmal jemand aus Ihrer
Familie oder aus Ihrem Freundeskreis prozessieren, um
nach einem Behandlungsfehler Schadenersatz oder
Schmerzensgeld zu erhalten? Diese Liste könnte ich be-
liebig fortführen. Ich habe diese Beispiele gebracht, um
deutlich zu machen, wo Regelungslücken sind.

Natürlich haben die Patienten in Deutschland bereits
Rechte; aber viele kennen ihre Rechte nicht. Das liegt
zum Großteil daran, dass die Vorschriften in unter-
schiedlichen Gesetzen aufgeschrieben sind. Deswegen
wollen wir zum Beispiel die Rechte und Pflichten aus
dem Behandlungsvertrag in einem Patientenrechtegesetz
normieren.

Es gibt Regelungen, die schlicht unzureichend sind.
Diese Regelungen wollen wir angehen. Ich kann hier nur
auf einige Punkte eingehen, Stichwort Patientensicher-
heit. Patienten haben das Recht auf eine sichere Behand-
lung; doch in deutschen Krankenhäusern sterben durch
unerwünschte Ereignisse mehr Patienten, als Menschen
bei Verkehrsunfällen sterben, und zwar dreimal so viele.
Das Aktionsbündnis Patientensicherheit hat im Jahr
2007 eine Untersuchung vorgelegt, nach der in der Chir-
urgie jährlich mindestens 200 Seiten- und Eingriffsver-
wechslungen vorkommen. Das ist nicht akzeptabel.

Natürlich müssen die Einrichtungen zunächst einmal
selbst schauen, was organisatorisch verändert werden
kann. Wir sind allerdings der Meinung, dass die Vermei-
dung von Fehlern und der Umgang mit Fehlern, ein Feh-
lermanagement, in den deutschen Krankenhäusern erst
noch etabliert werden muss.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Erforderlich ist auch die Einführung eines zentralen
Melderegisters, das auf die Vermeidung von Fehlern
ausgerichtet ist. Und: Fehler müssen bekannt werden,
und zwar deswegen, damit man sie zukünftig vermeiden
kann.

Deshalb müssen Beschäftigte, die einen eigenen oder
einen fremden Fehler melden, vor arbeitsrechtlichen
Sanktionen geschützt werden. Es kann doch nicht ange-
hen, dass die Krankenschwester, die einen Fehler des
Chefarztes meldet, entlassen wird.


(Beifall bei der SPD – Lars Lindemann [FDP]: Weil die das so gut beurteilen kann!)


– „Weil die das so gut beurteilen kann“: Stellen Sie doch
eine Frage. Ich würde sie gerne beantworten und gerne
etwas dazu sagen.


(Jörg van Essen [FDP]: Sagen Sie es doch einfach so!)


Auch im Idealfall lassen sich Fehler natürlich nicht
gänzlich vermeiden, aber wird ein Patient heute Opfer
eines Behandlungsfehlers, dann hat er eine sehr schwa-
che Position. Er trägt ein hohes Prozesskostenrisiko, er
muss sich mit einer jahrelangen, manchmal fast jahr-
zehntelangen Verfahrensdauer abfinden, und er trägt in
den allermeisten Fällen die Beweislast. Auch hier wollen
wir Verbesserungen.

Wir wollen, dass die Versicherten bei Verdacht auf ei-
nen Behandlungsfehler einen Anspruch auf Unterstüt-
zung ihrer Krankenkasse haben, wir wollen spezielle
Arzthaftungskammern der Landgerichte, wir wollen In-
strumente zur Beschleunigung des Verfahrens, und wir
wollen die Beweislastumkehr immer dann, wenn Kran-
kenhäuser oder Ärzte die entsprechenden Patientenun-
terlagen unzureichend, unvollständig oder verzögert
weiterreichen.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Abschließend komme ich noch zu einem wichtigen
Punkt unseres Antrags, nämlich zu den kollektiven Be-
teiligungsrechten. Die Patientinnen und Patienten wer-
den nur dann von Betroffenen zu Beteiligten, wenn sie
mitentscheiden und mitbestimmen können. Das beste
Beispiel dafür ist die Patientenbeteiligung im Gemeinsa-
men Bundesausschuss, also dem Gremium, in dem fest-
gelegt wird, was zulasten der Krankenversicherung ver-
ordnet wird.

Wir haben die Mitwirkungsrechte der Patienten eta-
bliert, aber sie haben noch kein Stimmrecht. Wir denken,
dass es überfällig ist, dass die Patienten jetzt das Stimm-
recht im Gemeinsamen Bundesausschuss erhalten.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Ulrike Flach [FDP]: Das hättet ihr doch gleich machen können!)


Unser Antrag fußt auf Eckpunkten, die wir in der vo-
rigen Legislaturperiode in einem langen Diskussionspro-
zess mit vielen Beteiligten erarbeitet haben – mit Patien-
tenselbsthilfegruppen, mit Hilfeverbänden, mit Juristen,
mit Ärzten –, und deswegen sind wir der Meinung, dass
dieser Antrag eine sehr gute Grundlage für die Erarbei-





Dr. Marlies Volkmer


(A) (C)



(D)(B)

tung eines Patientenrechtegesetzes ist, was der Patien-
tenbeauftragte ja will. Der Patientenbeauftragte hat es ja
mehrfach gesagt: Er möchte hier spätestens im nächsten
Jahr ein Patientenrechtegesetz verabschieden.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Da ist ja noch ein bisschen Zeit!)


Ich bitte Sie herzlich, dass Sie unseren Antrag zur
Grundlage dafür nehmen; denn wir haben mehrere Jahre
gebraucht, um überhaupt die Eckpunkte zu erarbeiten.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Das ist wie mit der Bürgerversicherung! Sie sind ja immer langsam!)


Wir haben mit allen Verbänden und Vereinen, die betrof-
fen sind, darüber gesprochen, und Sie werden bei Ihren
Gesprächen mit Sicherheit zu keinem anderen Ergebnis
kommen.

Wer heute noch der Meinung ist, wir bräuchten ein
solches Patientenrechtegesetz nicht, dem empfehle ich
nur Gespräche mit den betroffenen Patientinnen und Pa-
tienten. Sie werden dann zu dem Schluss kommen, dass
wir ein solches Gesetz brauchen.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1704303500

Der nächste Redner ist der Patientenbeauftragte der

Bundesregierung, Wolfgang Zöller.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wolfgang Zöller, Beauftragter der Bundesregierung
für die Belange der Patientinnen und Patienten:

Grüß Gott, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Frau Kollegin Volkmer, gestatten Sie mir eine
Vorbemerkung: Wenn meine Vorgängerin als Patienten-
beauftragte auch nur halb so viel Rückhalt in der Regie-
rung gehabt hätte, wie ich sie erfreulicherweise habe,
dann hätten wir schon längst ein solches Gesetz haben
können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke Ferner [SPD]: Wo ist denn Ihr Gesetzentwurf, Herr Zöller?)


Man sieht das ja auch schon an einem Beispiel. Wir
haben es sogar schon im Koalitionsvertrag festgelegt,
was Ihnen damals nicht gelungen ist. Auch daran er-
kennt man die Ernsthaftigkeit unseres Vorhabens.


(Elke Ferner [SPD]: Warum haben Sie es dann noch nicht gemacht?)


Heute sollen wir hier über einen Vorschlag der SPD
reden, in dem verschiedene Einzelregelungen vorgese-
hen sind, und wir sollen uns nun auf entsprechende Eck-
punkte festlegen.

Ich sage es ganz offen: Ich halte diese Vorgehens-
weise der Festlegung zum jetzigen Zeitpunkt für nicht
zielführend. Sie wollen nämlich etwas festlegen und
werden dann mit den Beteiligten sprechen.

(Elke Ferner [SPD]: Wir haben schon längst mit den Beteiligten gesprochen!)


Wir sprechen erst mit den Beteiligten und legen dann ei-
nen gemeinsamen Vorschlag vor.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Im Übrigen habe ich dies auch schon im Gesundheits-
ausschuss vorgetragen.

Ich darf auf den Koalitionsvertrag verweisen. Darin
heißt es:

Im Mittelpunkt der medizinischen Versorgung steht
das Wohl der Patientinnen und Patienten.


(Elke Ferner [SPD]: Davon ist bisher nicht viel zu merken!)


Die Versicherten sollen in die Lage versetzt wer-
den, möglichst selbständig ihre Rechte gegenüber
den Krankenkassen und Leistungserbringern wahr-
zunehmen. Aus diesem Grund soll eine unabhän-
gige Beratung von Patientinnen und Patienten aus-
gebaut werden. … Die Patientenrechte wollen wir
in einem eigenen Patientenschutzgesetz bündeln,
das wir in Zusammenarbeit mit allen Beteiligten am
Gesundheitswesen erarbeiten werden.


(Elke Ferner [SPD]: Dann haben Sie es bis Ende der Wahlperiode noch nicht fertig!)


So heißt es im Koalitionsvertrag. Die Zusage, dass wir
das Gesetz in Zusammenarbeit mit allen Beteiligten erar-
beiten werden, nehmen wir sehr ernst. Deshalb halten
wir uns an den vorgegebenen Zeitplan.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Was die Formulierung Patientenschutzgesetz angeht,
sind wir uns, glaube ich, darin einig, dass wir ein Patien-
tenrechtegesetz schaffen. Denn es sollte schon in der
Wortwahl verdeutlicht werden, dass wir den Patienten
nicht vor etwas schützen müssen, sondern dass der Patient
als gleichwertiger Partner im System anerkannt wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke Ferner [SPD]: Aha! Da haben wir schon mal die erste Übereinstimmung!)


Sie werden von niemandem in der Regierungskoalition
etwas anderes gehört haben.

Zum Stand des Verfahrens: Ich führe seit Beginn der
Tätigkeit viele Gespräche, um sowohl den Handlungsbe-
darf als auch die Regelungsmöglichkeiten zu prüfen und
alle Belange zu berücksichtigen. Selbstverständlich wer-
den wir – das hatte ich im Gesundheitsausschuss auch
schon zugesagt – gerne auch Anregungen aus anderen
Fraktionen mit aufnehmen und in diese Überlegungen
mit einbinden.

Nachdem wir alle Anregungen geprüft haben, wird es
Ende des Jahres ein Diskussionspapier geben. Ich bin
zuversichtlich, dass wir anschließend – wiederum ganz
besonders mit der Unterstützung unseres Gesundheits-
ministers – im nächsten Jahr das parlamentarische Ver-
fahren einleiten.





Beauftragter der Bundesregierung Wolfgang Zöller


(A) (C)



(D)(B)


(Elke Ferner [SPD]: Im nächsten Jahr? Sehr schnell!)


Ich bin auch sicher, dass wir im nächsten Jahr einen mit
allen Beteiligten abgestimmten Gesetzentwurf für die
Patientinnen und Patienten vorlegen können.

Ich habe bisher etwas mehr als 150 Gespräche ge-
führt, angefangen bei Juristen über Selbsthilfegruppen
bis hin zu Gutachtern, Patientenvertretern und allen an-
deren am System Beteiligten. Wir haben schon weitere
50 Gesprächstermine zugesagt. Ich halte die dafür vor-
gesehene Zeit für notwendig, um einer ausgewogenen
Betrachtung dieses Themas Rechnung zu tragen.

Was das Patientenrechtegesetz angeht, haben wir alle,
glaube ich, die Erfahrung gemacht, dass sich die Patien-
ten oftmals gegenüber den Leistungserbringern und Kos-
tenträgern im Gesundheitswesen gerade im Konfliktfall
unterlegen fühlen. Schlichtungsstellen und Gutachter
werden häufig als nicht neutral erlebt. Oft wird eine zu
lange Verfahrensdauer beklagt. Patienten und Patientin-
nen empfinden das bestehende Recht oft als unübersicht-
lich und nicht gerecht. Dies gründet auch darauf, dass
Patientenrechte im geltenden Recht an unterschiedli-
chen Stellen verankert sind, teils auch lediglich auf
Richterrecht beruhen.

Vielen Regelungen fehlt es zudem an Klarheit. Ein
Patientenrechtegesetz, das Rechte und Pflichten aus-
drücklich regelt und zusammenfasst, kann wesentlich
mehr Rechtssicherheit und Transparenz für die Patienten
schaffen.

Mir als Patientenbeauftragtem liegen folgende Punkte
besonders am Herzen: Ein Hauptanliegen wird sein, dass
wir die Patientinnen und Patienten in die Lage versetzen,
ihre Rechte wahrnehmen zu können. Das heißt für mich
auch einfache und verständliche Aufklärung und Infor-
mation, damit nicht gerade die Schwächeren in unserer
Gesellschaft immer die Benachteiligten sind.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Langfristig müssen wir erreichen, dass die Patienten
nicht erst um ihr Recht kämpfen müssen, sondern Recht
bekommen. Die Patienten müssen über Qualität, über
Kosten und auch über verschiedene Behandlungsmetho-
den informiert werden.

Es wurde das Modellvorhaben der Unabhängigen
Patientenberatung Deutschlands angesprochen. Dieses
Modellvorhaben hat sich bewährt. Hier haben wir er-
reicht, dass man mit einer Anlaufstelle, einer kostenlo-
sen Telefonnummer, für sein Anliegen immer einen An-
sprechpartner hat, um eine fundierte Auskunft oder
einen Verweis an eine kompetente Stelle zu erhalten.
Dieses Modellvorhaben – ich glaube, darin sind wir uns
alle in diesem Hause einig – soll in eine Regelleistung
übernommen werden. Es ist auch sinnvoll, dass diese
Regelung möglichst schnell vollzogen wird. Ich möchte,
dass dies noch vor der Sommerpause geschieht, um auch
die Planungssicherheit der Beteiligten zu gewährleisten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Allerdings müssen dort noch Verbesserungen stattfin-
den: Dies fängt bei einer Auswertung der eingegangen
Anliegen an; es kann nicht sein, dass lediglich Strichlis-
ten geführt werden. Ich möchte erreichen, dass die dort
ankommenden Anliegen als Seismograf genutzt werden
können, um Handlungsoptionen abzuleiten. Auch halte
ich die Vernetzung mit Selbsthilfegruppen und Kompe-
tenznetzen für verbesserungswürdig.

Die Ansprechpartner in den Krankenhäusern haben
sich nach meiner Auffassung hervorragend bewährt.
Deshalb sollte man die Funktion der Patientenfürspre-
cher, wie sie genannt werden, oder Beschwerdebeauf-
tragten in den Krankenhäusern ausbauen.

Ich halte die Informationspflicht für eines der wich-
tigsten Patientenrechte. Die Stärkung der Patientenrechte
gegenüber den Leistungsträgern wird ein weiterer Punkt
sein:

Wir wollen einen zeitnahen Zugang zu medizinischen
Leistungen erreichen. Wir müssen das Bewilligungsver-
fahren wesentlich beschleunigen. Es kann nicht sein,
dass wir Briefe bekommen, in denen davon die Rede ist,
dass jemand monatelang auf eine Reha-Maßnahme oder
einen Rollstuhl warten muss. Solche Briefe liegen uns
vor.

Des Weiteren möchte ich eine Implementierung der
Risiko- und Fehlermanagementsysteme. Nicht nur
Fehler, sondern auch Beinahe-Fehler können schneller
Hinweise auf Schwachstellen in Behandlungsabläufen
geben – nach dem Motto: Lernen aus Fehlern.

Wir brauchen eine Stärkung der Opfer bei Behand-
lungsfehlern. Dies allerdings bedarf einer sehr intensiven
Beratung, angefangen von der Diskussion über verschul-
densunabhängige Entschädigung über Beweislasterleich-
terung, Stärkung der Patienten im Gerichtsverfahren bis
hin zu Qualität und Transparenz der Gutachterkommis-
sionen und Schlichtungsstellen.

Auch im Gemeinsamen Bundesausschuss werden im-
mer mehr patientenrelevante Entscheidungen getroffen.
Deshalb sind wir der Auffassung, dass wir eine Stärkung
der Patientenmitwirkung brauchen. Wie dies gemacht
werden kann, ist noch offen. Die Patientenvertreter sind
für eine generelle Mitbestimmung; dies lässt sich aller-
dings nur in bestimmten Bereichen umsetzen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie sehen
anhand dieser vielen Themen und offenen Fragen, dass
es notwendig ist, mit den Beteiligten weitere Gespräche
zu führen. Ziel ist es, Rahmenbedingungen zu schaffen,
unter denen die Patienten wieder Vertrauen in unser nach
wie vor sehr gutes Gesundheitssystem haben können, so-
dass sie es als gerecht empfinden. Unser Anspruch ist es,
hierfür eine dauerhafte Regelung zu finden. Deshalb gilt
hier: Qualität vor Schnelligkeit. Ich lade Sie ein, gemein-
sam ein Patientenrechtegesetz zu erarbeiten, das diesen
Namen auch verdient.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1704303600

Kathrin Vogler ist die nächste Rednerin für die Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704303700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Eine

Krähe hackt der anderen kein Auge aus.


(Ulrike Flach [FDP]: Was ist das denn? – Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: So ist es!)


Diesen Satz hört man oft, wenn man mit Patientinnen
und Patienten spricht, die sich von ihrem Arzt, ihrer
Krankenkasse oder im Krankenhaus schlecht behandelt
fühlen. Damit drücken sie letztlich nur aus, wie sie sich
in einer solchen Situation fühlen, nämlich ohnmächtig,
hilflos und allein gelassen. Das Vertrauen in die Ärztin
oder den Arzt spielt – das wissen wir alle; das ist inzwi-
schen durch Studien gut belegt – eine wichtige Rolle bei
der Bewältigung von Krankheiten und für den Heilungs-
prozess. Die Arztpraxis ist nämlich kein „Medika“-
Markt für Gesundheitsdienstleistungen, und der kranke
Mensch ist kein Kunde, der sein defektes Gerät im Ga-
rantiefall zurückgeben kann, wenn jemand in der Fabrik
gepfuscht hat. Gesundheit, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, ist keine Ware.


(Beifall bei der LINKEN)


In den allermeisten Fällen erweist sich das Vertrauen
in die Behandelnden und die Pflegenden als absolut ge-
rechtfertigt.


(Lars Lindemann [FDP]: Genau!)


Doch überall da, wo Menschen arbeiten, passieren Feh-
ler. Wer die Arbeitsbedingungen in den meisten deut-
schen Kliniken kennt und liest, was das Pflege-Thermo-
meter herausgefunden hat – chronischer Mangel; durch
den Stellenabbau in den Kliniken wächst auch das Ri-
siko für Patienten –, wundert sich, dass in deutschen Kli-
niken nicht noch sehr viel mehr passiert. Da muss man
wirklich sagen: Hut ab vor den Beschäftigten, die unter
diesem Druck und diesen Bedingungen noch so gute Ar-
beit leisten!


(Beifall bei der LINKEN)


Für kranke Menschen bedeutet ein Behandlungsfeh-
ler in der Regel, dass ein schon vorhandenes Leiden ver-
schlimmert wird oder neue Beschwerden hinzukommen.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich hätte in einer
solchen Situation nicht die Kraft, um mein Recht zu
kämpfen und nach dem Schuldigen zu suchen. Ich
denke, das geht den meisten Menschen genauso. Leider
ist die Situation aber so: Wenn doch einmal etwas schief-
geht, dann finden sich die Patientinnen und Patienten
ganz schnell am Ende der Nahrungskette wieder.


(Lachen bei der FDP)


Da sind zunächst die Ärztinnen und Ärzte, die mauern
und vertuschen. Das tun sie gar nicht bösartig. Vielmehr
sind sie dazu in vielen Fällen vertraglich verpflichtet,
entweder durch ihren Arbeitgeber oder durch ihre Haft-
pflichtversicherung. Das ist doch ein Skandal. Daran
müssen wir dringend etwas ändern.


(Beifall bei der LINKEN)


Dann erleben viele, dass ihre Krankenakten nicht
rechtzeitig, nicht vollständig, nachträglich verändert
oder überhaupt nicht herausgegeben werden. Das alles
ist zwar völlig rechtswidrig – das ist schon nach heuti-
gem Recht illegal –, aber die Patientin oder der Patient
hat keine Möglichkeit, das Recht auf die eigenen Akten
wirksam durchzusetzen.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Wieso nicht?)


Deswegen brauchen wir unbedingt spürbare Sanktionen
gegen Ärztinnen und Ärzte, die Unterlagen fälschen
oder zurückhalten.


(Beifall bei der LINKEN – Lars Lindemann [FDP]: Oder ihre Patienten aufessen!)


Ist es mir als Betroffener dann doch gelungen, die Akten
zu erhalten, muss ich auch noch selbst beweisen, dass
ich erstens falsch behandelt wurde und zweitens genau
diese falsche Behandlung die Ursache für meine neuen
Beschwerden ist. Das fällt doch allen schwer, die weder
Medizin studiert haben noch das nötige Kleingeld für
teure Gutachten besitzen. Deswegen brauchen wir drin-
gend Erleichterungen bei der Beweisführung für die Pa-
tientinnen und Patienten.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn ich all diese Widrigkeiten überwunden habe,
dann finde ich mich wieder in einem schier undurch-
dringlichen Paragrafendschungel aus Zivilrecht, Sozial-
recht, Strafrecht, Arzthaftungsrecht und Arzneimittel-
recht, in dem sich selbst gestandene Juristinnen und
Juristen verirren können, und das alles in einer Situation,
in der ich ohnehin gesundheitlich und emotional belastet
bin. Also fühle ich mich wieder hilflos, ohnmächtig und
allein gelassen. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen,
geht so nicht weiter.


(Beifall bei der LINKEN)


Was wir brauchen, ist eine veränderte Perspektive.
Der betroffene Mensch muss in den Mittelpunkt unserer
Überlegungen rücken. Er hat nämlich ein Recht darauf,
dass ihm geholfen wird und dass alles getan wird, um
sein zusätzliches Leid zu lindern, ohne dass er dafür von
Pontius zu Pilatus laufen muss. Wir brauchen daher ein
Patientenrechtegesetz, das nicht nur die bisherigen Re-
gelungen zusammenfasst, sondern die Patientinnen und
Patienten wirklich in die Lage versetzt, ihre Rechte
durchzusetzen. Darin stimme ich Ihnen völlig zu, Herr
Zöller.


(Elke Ferner [SPD]: Der macht aber nichts!)


Das muss auch nicht etwa neue Bürokratie in den Pra-
xen und Kliniken bedeuten, wie es der Deutsche Ärzte-
tag befürchtet. Wenn wir eine Regelung schaffen, die
Ärztinnen und Ärzten ermöglicht, mit Fehlern offen um-
zugehen und sich selbst um Schadensbegrenzung und





Kathrin Vogler


(A) (C)



(D)(B)

Hilfe für die Betroffenen zu kümmern, dann haben letzt-
lich alle etwas davon.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Richtig!)


Es kann doch niemand wirklich wollen, dass langwierige
Schiedsverfahren geführt werden müssen, die nach
durchschnittlich 13 Monaten meistens ausgehen wie das
Hornberger Schießen, oder dass sich der Arzt und der
Patient in teuren Gerichtsverfahren gegenüberstehen, die
das dringend benötigte Vertrauensverhältnis vernichten
und an denen sich nur Anwaltskanzleien und Versiche-
rungskonzerne eine goldene Nase verdienen. Deswegen
fordern wir als Linke eine verschuldensunabhängige
Entschädigung. Es ist doch absurd, wie viel Energie,
Zeit und Geld seitens der Ärzteschaft und ihrer Versiche-
rungen darauf verschwendet werden, die Ansprüche der
Patientinnen und Patienten juristisch abzuwehren, statt
dieses Geld und diese Energie darin zu investieren, dass
es den Betroffenen möglichst schnell wieder besser geht.


(Beifall bei der LINKEN – Lars Lindemann [FDP]: So ist das aber in einem Rechtsstaat!)


Auch von einem verpflichtenden Fehlerregister
könnten alle Beteiligten profitieren; denn erst dann,
wenn alle Behandlungsfehler systematisch dokumentiert
werden, kann man sehen, wo besondere Risiken liegen
und wie man sie vermeiden kann. Aber hier knicken Sie,
liebe Kolleginnen und Kollegen, mit Ihrem Antrag leider
wieder einmal vor der geballten Macht der Ärztelobby
ein, wenn Sie statt einer Verpflichtung nicht mehr for-
dern als die – ich zitiere – „Auflegung eines Programms
zur Förderung von Risikomanagement- und Fehlermel-
desystemen …“. Das ist ganz schön, aber das reicht hin-
ten und vorne nicht. Ich bin der Auffassung, dass uns
freiwillige Vereinbarungen auf diesem Feld nicht weiter-
helfen.


(Beifall bei der LINKEN)


Freiwillig machen so etwas nämlich nur diejenigen mit,
die sowieso besonders sorgfältig arbeiten und von sich
aus einen hohen Anspruch an ihre eigene Qualität haben.
Das ist so wie in der Schule: Die freiwilligen zusätzli-
chen Hausaufgaben machen immer nur die Kinder, die
keine zusätzlichen Übungen brauchen. Also: Fehlerre-
gister her, aber bitte verpflichtend!


(Beifall bei der LINKEN)


Es zeugt auch nicht wirklich von Ihrem Realitätssinn,
wenn Sie im Einleitungsteil Ihres Antrags erst einmal
feststellen, dass doch alles recht gut sei, und das alles auf
Ihre Regierungszeit zurückführen. Immerhin haben Sie
das Amt des bzw. der Patientenbeauftragten geschaf-
fen. Das klingt schön, bringt aber wenig Konkretes.
Schließlich wird diese Person jeweils aus dem Kreis der
Regierungskoalition gewählt und vertritt dementspre-
chend auch deren Politik, auch gegenüber den Patientin-
nen und Patienten.


(Elke Ferner [SPD]: Das war bei Frau KühnMengel aber nicht so!)

Wie mir berichtet wurde, beklagte sich zum Beispiel ein
Patient vor einigen Jahren bei Ihrer damaligen Patienten-
beauftragten Kühn-Mengel über die unsozialen Auswir-
kungen von Praxisgebühr und Zuzahlungen. Als Ant-
wort wurde ihm gesagt, er solle doch einmal nach
Ägypten fahren und sich die dortige Situation an-
schauen; dann würde er sehen, wie gut es uns doch hier
geht, auch den Leuten mit wenig Geld. So etwas ist doch
einfach nur zynisch.


(Beifall bei der LINKEN – Elke Ferner [SPD]: Das Schreiben würde ich gerne mal sehen!)


– Das ist kein Schreiben gewesen, das ist ein Telefonge-
spräch mit einem Mitarbeiter gewesen. Ich kann Ihnen
das aber schriftlich einreichen.

Einer solchen „patientenfreundlichen“ Haltung will
aber auch unser neuer Patientenbeauftragter, Herr Zöller
von der CSU, nicht nachstehen.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Der macht seine Arbeit hervorragend!)


In der FAZ vom 30. November 2009 – das habe ich hier
vorliegen; das kann ich Ihnen direkt zeigen – wird er mit
den Worten zitiert, die Praxisgebühr könne abgeschafft
werden, da sich zu viele Patientinnen und Patienten da-
von befreien lassen könnten und sie deshalb den Kran-
kenkassen zu wenig Geld bringt. Ach so, würden also
mehr Patientinnen und Patienten öfter und mehr Praxis-
gebühr zahlen, dann wäre der Patientenbeauftragte damit
zufrieden? Dann könnte man sie beibehalten? Das ist
eine Vertretung von Patienteninteressen, über die man
nur noch den Kopf schütteln kann.


(Beifall bei der LINKEN)


Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, es
ist gut, dass Sie jetzt ein Patientenrechtegesetz fordern.
Schade ist nur, dass Sie elf Jahre in der Regierung waren
und nichts davon auf den Weg gebracht haben. Erst kurz
vor der Bundestagswahl kam Ihre Arbeitsgruppe mit ei-
nem Positionspapierchen zum Thema Patientenrechte,
und erst jetzt, da Sie nichts mehr zu entscheiden haben,
legen Sie einen Antrag vor. Für mich verstärkt das leider
den Eindruck, den ich von Ihrer Arbeit habe. Sie haben
manchmal wirklich gute Ideen, die ich nur unterstützen
kann, aber sie werden nur dann in einem Antrag aufge-
griffen, wenn Sie sicher sind, dass Sie diese ganz be-
stimmt nicht durchsetzen können.


(Elke Ferner [SPD]: Sie können sicher sein, dass wir das in der Regierung auch umsetzen!)


Ich hoffe nur, dass Hannelore Kraft in NRW das ganz
anders macht, sonst wird sie nicht Ministerpräsidentin.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1704303800

Das Wort hat nun Kollegin Christine Aschenberg-

Dugnus von der FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Christine Aschenberg-Dugnus (FDP):
Rede ID: ID1704303900

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Die christlich-liberale Koalition ist
sich einig, dass das Wohl der Patientinnen und Patienten
im Mittelpunkt der medizinischen Versorgung steht.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir stehen für Patientensouveränität und Patienten-
rechte. Genau so haben wir es in unserem gemeinsamen
Koalitionsvertrag festgehalten, und auch in dieser Sache
ziehen wir als Koalition gemeinsam mit dem Patienten-
beauftragten an einem Strang.


(Beifall bei der FDP – Fritz Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wahnsinn! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Zum ersten Mal in dieser Sitzungswoche!)


Wir sind der Auffassung, dass die Versicherten in die
Lage versetzt werden sollen, ihre Rechte gegenüber
Krankenkassen und Leistungserbringern möglichst
selbstständig wahrzunehmen. Aus diesem Grund plädie-
ren wir für eine unabhängige Beratung von Patienten auf
einer soliden rechtlichen Grundlage, um sie bei der
Wahrnehmung ihrer Interessen zu unterstützen.


(Beifall bei der FDP)


Meine Damen und Herren, wir wollen mehr Transpa-
renz und Orientierung im Gesundheitswesen über Quali-
tät, Leistung und Preis.


(Beifall bei der FDP)


Die Patientenrechte wollen auch wir in einem Patien-
tenrechtegesetz bündeln. Das werden wir in Zusam-
menarbeit mit allen Beteiligten im Gesundheitswesen er-
arbeiten. Der Patientenbeauftragte, Herr Zöller, hat
bereits angekündigt, dass er gemeinsam mit Bundes-
minister Rösler in parlamentarischen Gremien Vor-
schläge machen wird, wie wir auf der Basis des Beste-
henden die unabhängige Beratung weiterentwickeln.


(Beifall bei der FDP)


Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen von der So-
zialdemokratie, Ihr Antrag kommt daher leider zu spät;


(Elke Ferner [SPD]: Wie, zu spät?)


denn die Koalition arbeitet bereits an der Sache. Ich
kann Herrn Zöller nur beipflichten, wenn er sagt: Erst
mit den Beteiligten reden und dann gut und richtig han-
deln.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Patient hat einen hohen Stellenwert.


(Elke Ferner [SPD]: Oh je!)


Doch wir dürfen auch die Leistungserbringer nicht ver-
gessen,


(Elke Ferner [SPD]: Aha!)


die tagtäglich den Herausforderungen des Medizinerall-
tags ausgesetzt sind. Eine Stärkung der Patientenrechte
und eine Verbesserung der unabhängigen Patientenbera-
tung dürfen nicht auf dem Prinzip des Misstrauens auf-
gebaut werden. Das ist mir ganz wichtig.


(Beifall bei der FDP)


Meine Damen und Herren, bevor wir über die kon-
krete Ausgestaltung einer Gesetzesinitiative sprechen,
sollten wir uns über etwas ganz Grundsätzliches einig
werden: Das deutsche Gesundheitswesen braucht einen
Mentalitätswandel.


(Elke Ferner [SPD]: Eine Kopfpauschale!)


Die Wiederherstellung von Vertrauen und Fairness
muss für uns alle ganz oben stehen.


(Beifall bei der FDP)


Ansonsten fressen Bürokratie, Misstrauen und überzo-
gene Kontrollen unser Gesundheitssystem auf.


(Beifall bei der FDP)


Wir werden deshalb Transparenz und Verständlichkeit
für Kosten und Leistungen verbessern. Die Kultur des
Misstrauens muss ein Ende haben, und zwar primär zum
Wohle der Patientinnen und Patienten.


(Beifall bei der FDP)


Mit dem Aufbau eines bundesweiten Verbundes re-
gionaler Beratungsstellen wurde das Modellvorhaben
„Unabhängige Patientenberatung“ erfolgreich umge-
setzt. Als Schleswig-Holsteinerin kann ich Ihnen sagen,
dass wir mit der Verbraucherzentrale in Kiel einen sehr
guten Träger haben, der neutrale, professionelle und vor
allen Dingen unabhängige Beratung zu gesundheitli-
chen, medizinischen und rechtlichen Fragestellungen
leistet. Das ist vorbildlich. Wir müssen dafür sorgen,
dass das weitergeführt wird. An diesem Punkt müssen
wir ansetzen und eine für alle Beteiligten gute Lösung
erarbeiten.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, der Antrag
der SPD kann uns an einigen wenigen Stellen sogar hilf-
reich sein; das muss ich sagen. Ich gestehe Ihnen zu: In
diesen sechs Seiten steckt wirklich sehr viel Fleiß.


(Ulrike Flach [FDP]: Sie haben auch viel Zeit gehabt!)


Aber an den meisten Stellen überdrehen Sie doch merk-
lich, zum Beispiel bei der Beweislastumkehr. Wir sind
uns doch wohl darüber einig, dass wir bei uns in
Deutschland keine amerikanischen Verhältnisse haben
wollen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


An vielen Stellen wird Ihr Menschenbild deutlich, das
sich von dem unsrigen unterscheidet;


(Elke Ferner [SPD]: Gott sei Dank!)


da gebe ich Frau Volkmer recht. Sie leiten die durchaus
berechtigten Ansprüche der Patienten quasi aus der Op-
ferrolle ab. Das wird aber den Menschen nicht gerecht;
denn die Patienten sind per se eben nicht Opfer, Nörgler,
Benachteiligte oder Geschädigte, deren schwache Posi-





Christine Aschenberg-Dugnus


(A) (C)



(D)(B)

tion gegenüber der mächtigen Ärztelobby verteidigt wer-
den muss.

Nein, meine Damen und Herren, Patienten und Ärzte
sind Partner.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Das ist so, und das muss auch so bleiben. Wir wollen den
souveränen, aufgeklärten Patienten, der seine Rechte
kennt und nutzt. Deshalb arbeiten wir an einer pragmati-
schen Regelung zur Stärkung der unabhängigen Patien-
tenberatung. Deshalb arbeiten wir an einer Wiederge-
winnung größtmöglichen Vertrauens zwischen Arzt und
Patient, zwischen Leistungserbringer und Leistungsemp-
fänger. Was wir aber auf jeden Fall verhindern werden,
ist der Aufbau weiterer Bürokratiemonster, die nieman-
dem nützen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Elke Ferner [SPD]: Also keine Kopfpauschale?)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1704304000

Das Wort hat nun Maria Klein-Schmeink für die Frak-

tion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Ich bin sehr gespannt in diese
Debatte gegangen; denn im Vorfeld war relativ unklar,
wie sich die verschiedenen Fraktionen hier positionieren
werden. Das ist deshalb erstaunlich, weil wir im Koali-
tionsvertrag von CDU, CSU und FDP ein klares Be-
kenntnis zur Schaffung eines Patientenschutzgesetzes
finden. Von der SPD sind bereits am Ende der letzten
Legislatur Eckpunkte erarbeitet worden; jetzt liegt ein
beachtlicher Antrag vor. Die linke Fraktion hat in ihrem
Wahlprogramm keine einzige Aussage zu diesem Thema
gemacht; heute allerdings haben wir hier eine sehr
schneidige und pointierte Rede zu den Patientenrechten
gehört, in der die Interessenlagen Freund und Feind, Op-
fer und Täter ganz klar zum Ausdruck gekommen sind.

Insgesamt haben wir also eine erstaunliche Gemenge-
lage, aus der wir allerdings den Schluss ziehen können:
Um die Patientenrechte müsste es in Zukunft eigentlich
gut bestellt sein; denn offenbar sind sich alle einig, dass
man bei diesem Thema vorankommen muss.

Diese Einigkeit scheint jedoch ein bisschen zu trügen,
wie man feststellt, wenn man einmal genauer betrachtet,
was hier gesagt worden ist. Es ist deutlich geworden,
dass CDU/CSU und FDP auf einem sehr schmalen Grat
der Einigung wandeln,


(Elke Ferner [SPD]: Ja!)


auf einer brüchigen Schneebrücke, die so wenig tragfä-
hig ist, dass Herr Zöller große Mühe hat, darauf zu wan-
deln.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie der Abg. Kathrin Vogler [DIE LINKE])


Das kann man daran erkennen, dass jetzt kurzfristig eine
Regelung für die Patientenberatungsstellen gefunden
werden muss. Auch das ist ein Thema, das im Koali-
tionsvertrag festgeschrieben ist. Aber wir konnten auf ei-
nem parlamentarischen Abend, der gestern stattgefunden
hat, hören, dass man jetzt an irgendein Gesetz ganz kurz-
fristig einen Satz anhängen will, um die Überführung
des Modellprojektes in die Regelversorgung zeitgerecht
erreichen und die Arbeit aufrechterhalten zu können.
Das zeigt, wie wenig Unterstützung die Arbeit für den
Patienten in dieser Koalition tatsächlich findet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Elke Ferner [SPD]: Unvorbereitet!)


Ich will aber gleichzeitig ausdrücklich loben, was
Herr Zöller bislang auf den Weg gebracht hat. Man er-
kennt Sorgfalt und Engagement. Aber der Rückhalt in
Ihren Reihen fehlt wie gesagt bei diesem Thema.


(Ulrike Flach [FDP]: Woher wissen Sie das denn? – Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Da scheinen Sie nicht richtig zugehört zu haben!)


Sie werden diese Regelung nur ganz knapp hinbekom-
men können.

Der Rede von Frau Aschenberg konnte man auch
deutlich entnehmen, dass das Patientenrechtegesetz
sehr schmalbrüstig daherkommen wird. Es wird wahr-
scheinlich eine Minimalregelung geben, die das, was oh-
nehin in bereits existierenden Sozialgesetzen steht, zu-
sammenschreibt.


(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Das ist Ihre Interpretation!)


Es wird wohl keine Weiterentwicklung geben. Ich jeden-
falls entnehme das Ihren Vorbehalten sehr deutlich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Ulrike Flach [FDP]: So kann man irren, Frau Klein-Schmeink!)


Wer so vollmundig von den Patientenrechten und dem
souveränen Patienten spricht, der muss sich auch an sei-
nen Taten messen lassen. Da dürfen nicht nur Wahltarife
geschaffen werden, und es darf nicht nur von Eigenver-
antwortung gesprochen werden, sondern es muss eine
reelle Basis geschaffen werden, damit diejenigen, die
den letzten und schwächsten Part haben, nämlich die Pa-
tienten, in einer oftmals sehr schwierigen Situation die
Möglichkeit erhalten, ihre Rechte durchzusetzen. Daran
werden wir Sie messen.


(Ulrike Flach [FDP]: Das ist ja auch Ihr gutes Recht!)


Ich bin sicher, hier steht Ihnen noch eine große Aufgabe
bevor.





Maria Anna Klein-Schmeink


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Wenn es einfach wäre, könnten Sie es ja machen! Aber wir können es besser!)


Jetzt will ich noch auf das Verfahren insgesamt zu
sprechen kommen. Ich muss sagen, dass die SPD einen
sehr ernst zu nehmenden Antrag vorgelegt hat.


(Ulrike Flach [FDP]: Oh! Das fanden die Linken aber nicht! Wie kommt das denn?)


Ich finde, dass sämtliche Aspekte, die zu beachten sind,
darin gut aufgeführt sind. Aber an dem Antrag wird na-
türlich auch deutlich, dass noch viel Arbeit auf uns war-
tet. Es ist nämlich ziemlich komplex, ein Patientenrech-
tegesetz auf den Weg zu bringen, das nicht hinter den
Stand, den die ständige Rechtsprechung den Versicher-
ten und Patienten ermöglicht hat, zurückfällt.


(Elke Ferner [SPD]: Genau! – Ulrike Flach [FDP]: Deswegen haben wir dafür ja auch so lange gebraucht!)


Wir müssen dafür sorgen, dass auch in rechtlicher Hin-
sicht ein geeignetes Forum geschaffen wird, um die Pa-
tientenrechte zu stärken. Das wird Arbeit machen und ei-
nen längeren Debattenprozess erfordern.

Ich möchte Herrn Zöller bitten, das ganze Verfahren
ein Stück weit zu öffnen und nicht den gleichen Fehler
wie die SPD-Patientenbeauftragte zu machen, die alles
im stillen Kämmerlein vorbereitet,


(Ulrike Flach [FDP]: Wie bitte? Das hat die gemacht? So war das?)


die Gesellschaft nicht mitgenommen und auch die ande-
ren Fraktionen nicht einbezogen hat.


(Ulrike Flach [FDP]: Frau Ferner, was haben Sie denn da bloß zugelassen? – Gegenruf der Abg. Elke Ferner [SPD]: Wir lernen ständig dazu!)


Wir müssen eine offene Diskussion führen. Es ist not-
wendig, die Stellung des Patienten in unserem Rechts-
system transparenter und tragfähiger zu gestalten. Das
steht noch aus.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Frage: Was ist
derzeit eigentlich zu regeln? Man muss sagen, dass wir
gerade im Hinblick auf die Opfer von Behandlungsfeh-
lern derzeit eine nicht tragfähige Situation vorfinden.
Erstens stellen wir fest: Die Datenlage ist ausgesprochen
schlecht; das wird Ihnen allen aufgefallen sein. Zweitens
stellen wir fest: Die Gerichtsverfahren dauern sehr
lange. Wir haben enorme Mühe, unabhängige Gutachter
zu finden. Wir haben enorme Mühe, die Rechte der Pa-
tienten in einer Form durchzusetzen, durch die sicherge-
stellt wird, dass sie nicht schon am Anfang, nämlich bei
der Dokumentation und beim Nachweis von Sachlagen,
scheitern. Diese Situation können wir auf Dauer nicht
hinnehmen.
Man muss sagen: Die Durchsetzung von Patienten-
rechten gelingt bislang eigentlich nur den Gruppen, die
die Merkmale der großen Drei aufweisen: Sie sind ent-
weder reich, rechtsschutzversichert oder risikofreudig.


(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Das darf heutzutage in einem modernen Rechtssystem
nicht die Grundlage der Patientenrechte sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Gleichzeitig muss man feststellen: In den letzten zehn
Jahren sind in der Tat einige Fortschritte erzielt worden,
die insbesondere durch die Grünen aktiv vorangetrieben
wurden; Frau Volkmer hat vorhin schon einige Punkte
angesprochen. Wir sind, auch was die Fehlerkultur be-
trifft, schon seit 2004 auf einem guten Weg. Beispiels-
weise haben wir Qualitätsmanagementprogramme auf
den Weg gebracht.


(Ulrike Flach [FDP]: Aber Sie waren danach doch gar nicht mehr lange an der Regierung! Was haben Sie denn dann vorangetrieben? Ich dachte immer, damals hätte die andere Seite regiert!)


Unsere Zeitpläne sind allerdings sehr lang. Bis heute ha-
ben bestenfalls 20 Prozent der Krankenhäuser definitiv
Qualitätsmanagementsysteme eingeführt. In allen an-
deren Krankenhäusern fehlen diese weiteren Ausbaustu-
fen noch. Hier muss natürlich noch einiges passieren.
Wir müssen unseren Anstrengungen in diesem Bereich
mehr Schubkraft verleihen, als es bislang der Fall war.
Bis heute sind diese Maßnahmen nach wie vor der
Selbstverwaltung überlassen. Wir müssen unsere Bemü-
hungen auch in rechtlicher Hinsicht vorantreiben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Zum Schluss will ich noch auf Folgendes hinweisen:
Es kann sein, dass diese Woche eine gute Woche für die
Patienten ist. Es ist möglich, dass die Absage an die
Kommission zur Gesundheitsreform durch Minister
Zöller – –


(Heiterkeit – Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


– Vielleicht wäre das derzeit die bessere Wahl. – Unter
Umständen bedeutet die Absage an die Kommission zur
Gesundheitsreform durch Minister Rösler, dass Sie Ihre
Pläne in Sachen Gesundheitsreform tatsächlich ad acta
legen; das wäre ein guter erster Schritt. Der zweite gute
Schritt wäre, wenn Sie den Bereich der Patientenbera-
tungsstellen noch vor den Sommerferien in einem Ge-
setz ordentlich regeln würden.


(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Das haben wir doch bereits angekündigt!)


Drittens wäre es schön, wenn wir jetzt in eine wirklich
konstruktive und offene Diskussion über die Patienten-
rechte eintreten würden.

Danke schön.





Maria Anna Klein-Schmeink


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Wolfgang Zöller [CDU/CSU])



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1704304100

Das Wort hat nun Kollege Erwin Rüddel von der

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Erwin Rüddel (CDU):
Rede ID: ID1704304200

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Ich möchte das Lob meiner Vorrednerin für den Pa-
tientenbeauftragten der Bundesregierung aufgreifen und
auch von meiner Seite ausdrücklich seine Arbeit loben
und ihm für die klare Positionierung für ein Patienten-
schutzgesetz danken.

Die christlich-liberale Koalition hat im Koalitionsver-
trag vereinbart, die Patientenrechte in einem eigenen
Patientenschutzgesetz zu bündeln. Der Patientenbeauf-
tragte hat dies bereits betont: Wir wollen dies in Zusam-
menarbeit mit allen Beteiligten im Gesundheitswesen
tun und im kommenden Jahr einen entsprechenden Ent-
wurf vorlegen.

Im Mittelpunkt unseres Gesundheitswesens muss das
Wohl der Patientinnen und Patienten stehen.


(Elke Ferner [SPD]: Dann verabschieden Sie sich mal von der Kopfpauschale!)


Die Versicherten sollten möglichst selbstständig ihre
Rechte gegenüber Kassen und Leistungserbringern
wahrnehmen können. Deshalb soll die unabhängige Be-
ratung der Patientinnen und Patienten verfestigt werden.

Das wichtigste Patientenrecht besteht im freien Zu-
gang zu medizinischen Leistungen, und zwar unabhän-
gig von Alter, Geschlecht, Abstammung und Einkom-
men. Freie Arztwahl und freie Krankenhauswahl sind
für eine vertrauensvolle Beziehung von Arzt und Patient
entscheidend. Wir wollen keine Bevormundung von Pa-
tienten, wir wollen keine Wartelisten. Wir wollen eine
qualitativ hochwertige Versorgung und keine Budgetie-
rung. Damit die Patienten ihr Recht auf freie Arztwahl
nutzen können, brauchen wir aber auch künftig ein flä-
chendeckendes Angebot medizinischer Leistungen. Des-
halb müssen wir uns darum kümmern, dass eine Unter-
versorgung besonders in ländlichen Gebieten verhindert
wird. Auch dabei geht es um ein Patientenrecht, das wir
keinesfalls vernachlässigen dürfen.


(Elke Ferner [SPD]: Wie sieht es denn mit der Versorgungspflicht der KVen aus?)


Im Versorgungsatlas Rheinland-Pfalz der KV Rhein-
land-Pfalz wird zum Beispiel ausgeführt, dass sich nur
4 Prozent der rheinland-pfälzischen Medizinstudentin-
nen und -studenten vorstellen können, in einer bestimm-
ten ländlichen Region des Landes tätig zu werden. Inso-
fern haben wir hier eine wichtige Aufgabe vor uns. Die
CDU/CSU-Fraktion hat hierzu ein entsprechendes Eck-
punktepapier vorgelegt. Wir werden das Problem lösen.
Wir brauchen vor allen Dingen mehr Transparenz bei
Leistungen und Preisen. Jeder Patient sollte wissen, was
seine Behandlung kostet und welche Leistungen der Arzt
oder das Krankenhaus mit den Kassen abrechnet.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Nur informierte Patienten sind mündige Patienten.
Deshalb wollen wir die unabhängige Beratung der Pa-
tientinnen und Patienten stärken und dazu das Modell-
vorhaben zur unabhängigen Verbraucher- und Pa-
tientenberatung verstetigen. Auch dies haben wir
bereits im Koalitionsvertrag festgelegt. Ehe die zweite
Modellphase der Unabhängigen Patientenberatung
Deutschland Ende dieses Jahres ausläuft, werden wir da-
her die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Weiter-
führung auf den Weg bringen. Wir werden den Patien-
tenbeauftragten bei dem, was er angekündigt hat,
unterstützen, sodass dies auf jeden Fall vor der Sommer-
pause umgesetzt werden kann. Dabei wollen wir aller-
dings ein Ausschreibungsverfahren nutzen, das auch an-
deren als den bisher Beteiligten die Chance gibt, sich an
diesem Verfahren zu beteiligen.


(Elke Ferner [SPD]: Aha! Das ist ja absurd!)


Beim Stichwort „Patientenrechte“ denken viele Men-
schen unwillkürlich an mögliche Behandlungsfehler.
Deshalb möchte ich auf einen Aspekt eingehen, den ich
für höchst bedeutsam halte.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1704304300

Herr Kollege, gestatten Sie zuvor eine Zwischenfrage

der Kollegin Vogler von der Linksfraktion?


Erwin Rüddel (CDU):
Rede ID: ID1704304400

Bitte.


Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704304500

Herr Kollege Rüddel, Sie haben gerade eindrucksvoll

geschildert, was die Koalitionsfraktionen planen, um die
unabhängige Patientenberatung in Deutschland fortzu-
führen. Ist Ihnen bekannt und bewusst, dass eine Aus-
schreibung immer erhebliche Laufzeiten erfordert, um
wirklich fair zu sein? Ist Ihnen auch bewusst, dass die
existierenden Beratungsstellen an langfristige Arbeits-
und Mietverträge gebunden sind, dass wirklich ein gro-
ßer Zeitdruck besteht, wenn wir den Trägerorganisatio-
nen dieser Stellen und den Menschen, die dort arbeiten,
Gewissheit darüber geben wollen, ob sie in der nächsten
Ausschreibung zum Zuge kommen? Wie kann man nach
Ihrer Vorstellung dieses Dilemma überwinden? Sie ha-
ben sechs Monate lang nichts getan, und jetzt muss alles
auf einmal ganz schnell gehen. Ich muss sagen: Es über-
zeugt mich wirklich nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)



Erwin Rüddel (CDU):
Rede ID: ID1704304600

Uns ist wichtig, dass wir die Patientenberatung stär-

ken. Uns ist wichtig, dass die Kompetenz, die in diesen
Beratungsstellen vorhanden ist, für die Patientenbera-
tung gesichert wird.





Erwin Rüddel


(A) (C)



(D)(B)


(Elke Ferner [SPD]: Deshalb stellt man sie in Ausschreibungen zur Disposition!)


Wir werden einen Weg finden, um diesen Menschen die
Perspektive zu geben, dass die Patientenberatung ge-
stärkt in das neue Jahr gehen wird. Dafür stehen wir.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich möchte auf das Themenfeld Behandlungsfehler
zurückkommen: Es darf uns in erster Linie nicht um
mehr Bürokratie gehen, es darf uns auch nicht darum ge-
hen, den Ruf nach dem Staatsanwalt zu fördern und
möglichst viele Patienten möglichst misstrauisch zu ma-
chen, sondern es muss uns um eine neue Sicherheitskul-
tur gehen. Das aber heißt vor allem: Fehler vermeiden
und Fehlern vorbeugen. Ein wirkungsvolles Fehlerbe-
richtssystem, ein Fehlermeldeprogramm, das rechtzei-
tig auf Risiken hinweist und vermeidbare Fehler verhin-
dert, dient den Patienten ungleich mehr und hilft ihnen
viel wirkungsvoller als sämtliche Maßnahmen, um be-
reits gemachte Fehler zu verfolgen und zu ahnden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Mit anderen Worten: Es soll uns primär nicht um die
Jagd nach vermeintlich oder tatsächlich Schuldigen ge-
hen, sondern um die Vorbeugung und um die Verhinde-
rung von Fehlern; denn Fehler, die gar nicht erst entste-
hen, sind allemal besser als nachträgliche Streitigkeiten
und Gerichtsverfahren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich sehe sowohl im Klinikbereich als auch bei den
Hausarztpraxen sowie bei der Pflege und der Altenbe-
treuung vielversprechende Ansätze, gerade solche Por-
tale im Internet aufzubauen, die Risiken und Fehlermel-
dungen registrieren, um andernorts genau solche Risiken
und Fehler von vornherein auszuschließen. Der mög-
lichst flächendeckende Ausbau dieser Netzwerke sollte
deshalb ein zentraler Baustein eines künftigen Patienten-
gesetzes sein.

Ich will in diesem Zusammenhang ausdrücklich die
Pionierarbeit des „Aktionsbündnisses Patientensicher-
heit“ hervorheben. Wenn wir es schaffen, Krankenhäuser,
Ärzte, Pfleger und Altenbetreuung an ein wirkungsvolles
Meldesystem anzubinden und so flächendeckende Risi-
kovorbeugung zu betreiben, dann haben wir für die Pa-
tientinnen und Patienten mehr erreicht als durch noch so
ausgeklügelte Sanktionsdrohungen.

Auf der anderen Seite wollen wir die Stellung der
Opfer eines Behandlungsfehlers wirkungsvoll stärken.
Patientinnen und Patienten haben einen Anspruch da-
rauf, in jeder Hinsicht auf Augenhöhe behandelt zu wer-
den. Sie haben ein Recht darauf, dass Vorwürfe wegen
Behandlungsfehlern in einem transparenten und zügigen
Verfahren geklärt werden. Je komplexer und bürokrati-
scher das Gesundheitswesen wird, desto eher ziehen die
Versicherten den Kürzeren. Lange Bearbeitungszeiten
bei Widersprüchen und bei Gerichtsverfahren wegen des
Verdachts auf Behandlungsfehler machen die Versicher-
ten mürbe und gefährden – ganz unnötig – das Vertrauen
in unser Gesundheitssystem, das im internationalen Ver-
gleich unverändert als vorbildlich gelten darf. Hier wer-
den wir mit dem Entwurf für ein Patientengesetz kon-
krete Maßnahmen vorschlagen, um auch in diesem
Bereich mehr Klarheit und Transparenz zu schaffen und
der möglichen Verunsicherung von Patientinnen und Pa-
tienten entgegenzuwirken.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Dazu werden wir unter anderem ganz konkret über
Beweiserleichterungen vor Gericht nachzudenken ha-
ben. Um die Schwelle für Ratsuchende in solchen Fällen
zu senken, könnte ich mir zum Beispiel vorstellen, dass
wir eine zentrale bundesweite Rufnummer einrichten,
über die sich Ratsuchende direkt mit dem für ihre Re-
gion zuständigen Ansprechpartner in Verbindung setzen
können.


(Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das alleine wird nicht helfen!)


Über all diese Fragen werden wir in den kommenden
Monaten intensiv zu beraten haben. Wenn ich mir den
vorliegenden SPD-Antrag anschaue, komme ich nicht
umhin, die Kolleginnen und Kollegen davor zu warnen,
das gemeinsame Vorhaben eines Patientengesetzes mit
Dingen zu überfrachten, die im Ergebnis nur zu weiterer
Bürokratisierung oder gar zu Lähmungserscheinungen
im Gesundheitswesen führen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es sollte uns in erster Linie darum gehen, die Interes-
sen aller Beteiligten zu einem möglichst gerechten Aus-
gleich zu führen. Deshalb sollten wir auch tunlichst ohne
ideologische Scheuklappen versuchen, gemeinsam die
Rechte der Patientinnen und Patienten zu stärken und
unser Gesundheitssystem damit noch besser und noch
transparenter zu machen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Elke Ferner [SPD]: Nur ohne Kopfpauschale!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1704304700

Das Wort hat nun Karl Lauterbach für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Rede ID: ID1704304800

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Zunächst muss ich hier noch einmal auf die Vor-
gängerin von Herrn Zöller im Amt des Patientenbeauf-
tragten zu sprechen kommen, Frau Kühn-Mengel. All
das, was Frau Klein-Schmeink sagte, ist bis auf eine Ein-
schränkung richtig gewesen: Frau Kühn-Mengel hat im-
mer versucht, im System die Betroffenen in die Gesprä-
che mit einzubinden. Sie hat keine Politik hinter
verschlossenen Türen gemacht. Ich kenne sie sehr gut.
Sie hat mit allen diskutiert, im Übrigen auch mit Mitglie-
dern der Fraktion der Grünen. Sie ist nicht gescheitert,
weil ihr der Rückhalt in den eigenen Reihen fehlte, Herr





Dr. Karl Lauterbach


(A) (C)



(D)(B)

Zöller, sondern ihr fehlte damals der Rückhalt in der Re-
gierung,


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Aha!)


bei der Union, genau wie Ihnen jetzt der Rückhalt fehlt.
So verhält es sich.


(Beifall bei der SPD – Jens Spahn [CDU/ CSU]: So ein Quatsch!)


Vorhaben sind damals nicht an Ihnen gescheitert, Herr
Zöller. Wir kennen uns gut, ich habe Ihre Arbeit immer
geschätzt. Aber Sie sehen doch jetzt selbst, wohin die
Reise geht. Sie haben es gerade beim Vorredner wieder
hören können: Es wird vor Sanktionen gewarnt, es fällt
der Begriff „Bürokratie“. Von der Kollegin von der FDP
wird zwar gesagt, der Patient sei der Partner, aber seien
wir doch ehrlich miteinander: Was ist denn der Patient
für die FDP? Für die FDP ist der Patient – das wissen Sie
doch so gut wie ich – der Kunde; der Facharzt und der
Apotheker dagegen sind die eigentlichen Partner.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Widerspruch bei der FDP)


– So ist es aber. – Von daher ist es auch zu verstehen,
dass Herr Winn die FDP daran erinnert, dass sie 2 Pro-
zentpunkte ihres Wahlergebnisses bei der Bundestags-
wahl den Fachärzten verdankt. Somit ist doch klar: Von
diesen werden Ihnen die Preise diktiert und wird Ihnen
vorgegeben, wie weit Sie bei der Durchsetzung der Pa-
tientenrechte gehen dürfen.


(Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der FDP)


Die FDP wollte doch sogar auf einem Parteitag eine Ein-
kommensgarantie für Fachärzte beschließen.


(Ulrike Flach [FDP]: Waren Sie dabei?)


Vom Patienten war da keine Rede.

Herr Zöller, bei allem Respekt: Sie sagen, Sie hätten
für dieses wichtige Thema Rückhalt von der Regierungs-
bank. Ja, Herr Zöller, wo ist denn der Minister heute bei
der Debatte über dieses wichtige Thema? Er ist nicht
einmal da. Die Wahrheit ist doch, dass sich das der Mi-
nister gar nicht anhört.


(Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der CDU/CSU)


– Ich weiß, dass Sie das nicht gerne hören. – Frau Minis-
terin Schavan hat sich löblicherweise für diese Diskus-
sion interessiert. Aber sind wir doch ehrlich: Für den Mi-
nister ist dieses Thema nicht wichtig genug. Da wir nur
über die Patientenrechte und nicht über Kopfpauschale
sprechen, kommt der Minister nicht. So sieht die Priori-
sierung aus, wie wir sie mittlerweile kennengelernt ha-
ben.


(Beifall der Abg. Elke Ferner [SPD])


Herr Zöller, rufen Sie sich einmal in Erinnerung: Wer
war denn damals dagegen, das Amt, das Sie heute be-
kleiden, überhaupt einzurichten? Die FDP hat doch da-
mals davor gewarnt, einen Patientenbeauftragten zu be-
nennen. Das Amt, das Sie jetzt bekleiden, gäbe es gar
nicht, wenn die FDP schon damals regiert hätte. Es ge-
hört zur Ehrlichkeit, hier einmal festzuhalten, dass die
FDP alles unternommen hat, damit dieses Amt erst gar
nicht eingerichtet wird.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Seien Sie gewiss: Wenn Ihnen hier etwas gelingt, wird
die Umsetzung an uns nicht scheitern. Wir werden Sie
bei allem, was Sie tun, unterstützen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Es ist auch richtig, hier Richterrecht – die Materie ist
ja tückisch – in Bundesrecht zu gießen. Diese Rechtssi-
cherheit zu schaffen, hat einen hohen Wert, da gebe ich
Ihnen recht. Aber ich möchte Sie daran erinnern: Zum
Schluss wird es daran scheitern, dass Ihnen – wie damals
Frau Kühn-Mengel der Rückhalt in der Union fehlte –
der Rückhalt in den eigenen Reihen und insbesondere
bei der FDP einschließlich des Ministers fehlt.


(Beifall bei der SPD – Christine AschenbergDugnus [FDP]: Das ist Kaffeesatzleserei! Wunderbar!)


Ihre Rede hat mich in diesem Glauben noch einmal
bestärkt. Von Ihnen ist kein einziger konkreter Vorschlag
gekommen, wie man die Patientenrechte umsetzen
könnte.


(Ulrike Flach [FDP]: Von Ihnen bisher auch nicht!)


Ihre Rede war der Beweis dafür.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich komme zum Schluss.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich kann es Ihnen nicht ersparen, noch einmal auf das
von Ihnen nicht gern gehörte Thema Kopfpauschale zu
kommen.


(Zurufe von Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP: Oh!)


Ich weiß, dass Sie darauf gewartet haben. Wir können
dankbar sein, dass Sie heute überhaupt hier sein können,
normalerweise hätte die Regierungskommission getagt,


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Erst ab 14 Uhr!)


aber sie ist mit der abenteuerlichen Begründung abge-
sagt worden, Herr Singhammer, dass die Vorschläge so
konkret wären, dass man es sich nicht leisten könne,
diese konkreten Vorschläge durch Indiskretion in der
Kommission der Öffentlichkeit zuzuführen. Das ist ab-
surd.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ulrike Flach [FDP]: Sie sind falsch informiert!)






Dr. Karl Lauterbach


(A) (C)



(D)(B)

Wer hat hier im Haus schon einmal eine blödere Argu-
mentation gehört? Der Pressesprecher, Herr Lipicki, ist
zugegen. Was bedeutet das? Hat der Minister nicht die
Autorität, für Vertraulichkeit zu sorgen, oder sind die
Vorschläge so schlecht, dass sie der Öffentlichkeit nicht
zugemutet werden können?


(Beifall bei der SPD – Ulrike Flach [FDP]: Wovon reden Sie?)


Meine profane Vermutung ist: Der Minister hat nichts.
Er steht mit blanken Händen da und hält stur an der
Kopfpauschale fest.


(Lars Lindemann [FDP]: Reden Sie über Patientenrechte? – Jens Spahn [CDU/CSU]: Wir reden über Patientenrechte!)


Am Ende wird es der Kopfpauschale so gehen wie der
Steuersenkung: Sie wird in einem Nebensatz der Bun-
deskanzlerin versenkt werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jens Spahn [CDU/CSU]: Thema verfehlt!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1704304900

Das Wort hat nun Dr. Erwin Lotter für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Erwin Lotter (FDP):
Rede ID: ID1704305000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege
Lauterbach, im Gegensatz zu Ihnen werde ich nicht über
die Kopfpauschale sprechen,


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Die will ja auch keiner!)


sondern über Ihren Antrag zum Patientenschutzgesetz.
Niemand bestreitet ernsthaft die Notwendigkeit eines
Patientenschutzgesetzes. Die Regierungsparteien haben
sich im Koalitionsvertrag für die Einführung ausgespro-
chen;


(Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Jetzt widersprechen Sie sich!)


denn die bisher zersplitterten Regelungen sollen gebün-
delt werden, um es den Patienten leichter zu machen,
ihre Rechte zu erkennen und auszuüben.

Manche Forderungen des Antrags, den wir heute de-
battieren, sind schon längst anerkannt oder nicht wirklich
ernsthaft streitig. Das gilt vor allem für die Zusammen-
fassung von Regelungen, die heute auf Haftungsrecht,
Sozialversicherungsrecht und ärztliches Berufsrecht ver-
teilt sind. Das gilt auch für den Vorschlag eines besseren
Fehlermeldesystems, das auch sogenannte Beinahefehler
einschließt. Dabei ist jedoch entscheidend, dass das Sys-
tem Anonymität wahrt und nicht zu weiterer Bürokratie
führt; denn das Meldesystem wird nur dann Erfolg ha-
ben, wenn es Mediziner oder Menschen in Heilberufen
motiviert, an ihm mitzuarbeiten.


(Beifall bei der FDP)


Fehlermanagement muss freiwillig und sanktionsfrei
bleiben, damit Klinikärzte und niedergelassene Ärzte in
der erforderlichen Weise mitwirken. Wir dürfen nicht
vergessen: Die Zahl der Behandlungsfehler bewegt sich
im Promillebereich. Durch ein umfassendes Register für
den stationären wie den ambulanten Sektor wäre es ein-
facher, die Anzahl der Fälle festzustellen, die Bereiche
zu benennen, in denen sie am häufigsten vorkommen,
und Gerichten und Schiedsstellen dabei zu helfen, mehr
Transparenz in ihre Entscheidungen zu bringen.

Rechte von Patienten sind allerdings weniger durch
die Ärzteschaft gefährdet als durch die zunehmende Bü-
rokratisierung und Reglementierung ärztlicher Leis-
tungen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Bei uns, Frau Vogler, stehen Patienten nicht am Ende der
Nahrungskette,


(Heiterkeit bei der FDP)


sondern bei uns sind Ärzte und Patienten Partner; denn
die einen wollen gesund werden und die anderen wollen
ihnen dabei nach bestem Wissen und Gewissen zur Seite
stehen.


(Beifall bei der FDP – Abg. Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Da ist eine Zwischenfrage.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1704305100

Bitte schön.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie haben vorhin vor der zunehmenden Bürokratie
gewarnt. Stimmen Sie mit mir überein, dass ein großes
Hindernis für die Opfer von Behandlungsfehlern dann
besteht, wenn die ärztliche Dokumentation von Fällen
nicht wirklich vollständig ist, sodass sich da einiges ver-
bessern muss, was ja, je nachdem, wie Sie Bürokratie
beschreiben, dazu führt, dass die Dokumentationspflich-
ten natürlich ausgeweitet werden müssen?


Dr. Erwin Lotter (FDP):
Rede ID: ID1704305200

Liebe Frau Kollegin Klein-Schmeink, es ist ja schon

heute so geregelt, dass dann, wenn Dokumentation nicht
vorliegt oder unvollständig ist, eine Beweislastumkehr
eintritt. Wenn Sie im Gesundheitsbereich tätig wären,
dann wüssten Sie, dass man heute mehr Zeit damit ver-
bringt, zu dokumentieren, Zettel auszufüllen, als sich
dem Patienten zu widmen.


(Beifall bei der FDP)


Fachgerechte Behandlung nach dem jüngsten Stand
der medizinischen Erkenntnis ist für mich als Arzt





Dr. Erwin Lotter


(A) (C)



(D)(B)

ebenso selbstverständlich wie für meine Patienten. Ent-
scheidend sind offene Gespräche zwischen allen Betei-
ligten und Transparenz. Ein Patientenschutzgesetz, das
ein modernes Arzt-Patienten-Verhältnis fördert und zu
Aufklärung und Ehrlichkeit auf beiden Seiten motiviert,
wäre schon ein großer Schritt in die richtige Richtung.

Lassen Sie mich jetzt einige Aspekte des SPD-Antra-
ges aufgreifen, denn in einigen Punkten schießt er über
das Ziel hinaus.

Die Stärkung der Opfer von Behandlungsfehlern ist
fraglos ein entscheidendes Anliegen im Patientenschutz.
Im Bereich der groben Behandlungsfehler gibt es bereits
Beweiserleichterungen zugunsten der Patienten. Im Be-
reich sonstiger Behandlungsfehler können jedoch nicht
alle Fälle über einen Kamm geschoren werden. Hier
sollte in jedem Einzelfall über die Beweislage entschie-
den werden.

In diesem Zusammenhang warne ich noch einmal vor
einer übermäßigen Bürokratie durch noch weiter aus-
ufernde Dokumentationspflichten. Selbstverständlich
müssen die derzeitigen Vorschriften in Kliniken und Pri-
vatpraxen erfüllt werden. Deren Ausweitung kann je-
doch auch nicht im Sinne der Patienten sein. Eine effi-
ziente und zeitintensive Behandlung wird leiden, wenn
zu den aktuellen Aufbewahrungs- und Berichtspflichten
noch weitere Anforderungen hinzukommen. Zusätzli-
che Dokumentationspflichten sind im Bereich der Pa-
tientenrechte fehl am Platz.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1704305300

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Volkmer?


Dr. Erwin Lotter (FDP):
Rede ID: ID1704305400

Ja.


Dr. Marlies Volkmer (SPD):
Rede ID: ID1704305500

Ich frage Sie, an welcher Stelle Sie gelesen haben,

dass Dokumentationspflichten ausgeweitet werden sol-
len.


Dr. Erwin Lotter (FDP):
Rede ID: ID1704305600

Letztendlich wollen Sie auf alles


(Zurufe von der SPD: Eine Antwort!)


noch eines draufsetzen. Sie wollen eine umlagefinan-
zierte Versicherung, um die Behandlung solcher Be-
handlungsfehler finanzieren zu können, obwohl das alles
schon durch die Arzthaftpflicht geklärt ist. Das alles be-
deutet Organisation und Verwaltung. Sie wollen einen
Fonds einrichten, aus dem die Behandlung von Behand-
lungsfehlern finanziert werden soll. Das ist doch alles
mit Verwaltung, Aufwand und Bürokratie verbunden.


(Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist eine Entlastung!)


Ihr Antrag geht ja in die richtige Richtung. Das Problem
ist aber, dass Sie überall noch etwas draufsetzen und das
Ganze erschweren, verkomplizieren und verteuern.

(Beifall bei der FDP – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Schwache Antwort!)


Die SPD fordert des Weiteren mehr kollektive Betei-
ligungsrechte der Patienten in Bundes- und Landesgre-
mien. Hier ist Vorsicht geboten. Über ein Stimmrecht in
Verfahrensfragen könnte man reden. Ein volles Mitbe-
stimmungsrecht kann aber nicht für alle Gremien verfügt
werden, da hier ein spezielles und besonderes Fachwis-
sen notwendig ist. Es führt zu nichts, wenn Ärzte und
Heilberufe durch eine grundsätzlich sinnvolle Patienten-
beteiligung unter Druck geraten und sich ein höherer
Aufwand in der Verwaltung einstellt.


(Zuruf von der SPD: Ei, ei, ei!)


Ich betone nochmals: Kooperation, Transparenz und
die Schaffung von Vertrauen sind die Gebote der Stunde.
Dann wird ein Patientenschutzgesetz seinen Zweck er-
füllen und die Situation der Patientinnen und Patienten
weiter verbessern.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1704305700

Das Wort hat nun Elke Ferner für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Elke Ferner (SPD):
Rede ID: ID1704305800

Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ich

muss sagen: Die Rede von Herrn Kollegen Zöller hat
mich ein Stück weit enttäuscht. Wenn sich jemand wie
Herr Zöller, der schon sehr lange in der Gesundheitspoli-
tik unterwegs ist bzw. diese macht – ich habe seine Sach-
kenntnis in den letzten vier Jahren in der Großen Koali-
tion kennen und schätzen gelernt –, dahinter versteckt,
dass man erst einmal noch alles erfahren müsse, alles
eruieren müsse, um Zeit zu gewinnen und erst im nächs-
ten Jahr etwas vorzulegen, ist das ein bisschen dürftig;
das muss ich ganz ehrlich sagen.


(Beifall bei der SPD)


Es ist dürftig, weil viele von uns in ihren Sprechstun-
den mit den Bürgerinnen und Bürgern immer wieder von
entsprechenden Fällen erfahren; diese werden dem Pa-
tientenbeauftragten in vielfacher Weise, aber auch uns
vorgetragen. Wir kennen die größten Problemlagen;
nicht alle, aber die größten. Herr Zöller hat das auch in
den Punkten, die er konkret benannt hat, deutlich ge-
macht. Er scheint ja doch zu wissen, wo es mangelt und
wohin man muss. Das zeigt mir hinsichtlich dieser Ko-
alition wieder einmal: Im Koalitionsvertrag steht eine
wunderbare Passage, aber wenn es darum geht, diese mit
Leben zu füllen und konkret zu machen, gibt es das übli-
che Geeiere, dann besteht keine Einigkeit. Um die Unei-
nigkeit zu übertünchen,


(Ulrike Flach [FDP]: Das kennen Sie ja!)


versucht man, Zeit zu gewinnen. Das machen Sie schon
die ganze Zeit zur Maxime Ihrer Gesundheitspolitik,
nicht nur im Bereich der Patientenrechte, sondern in al-
len Bereichen.


(Beifall bei der SPD)






Elke Ferner


(A) (C)



(D)(B)

Das drückt sich auch darin aus, dass innerhalb von
acht Monaten bisher noch kaum eine Initiative aus dem
Gesundheitsministerium gekommen ist.


(Ulrike Flach [FDP]: Wir haben schon Anhörungen gemacht!)


Wir haben jetzt Eckpunkte zum Thema Arzneimittel ge-
sehen. Eckpunkte für die Kopfpauschale waren für
heute angekündigt. Offenbar ist der Minister von höchs-
ter Stelle zurückgepfiffen worden. Die Kommission, die
eingesetzt worden ist, ist zur Farce geworden. Ich kann
jedes Mitglied, das sich der Kommission noch zugehörig
fühlt, nur bedauern. Ich kann allen empfehlen, sie zu
verlassen; denn zu entscheiden hat diese Kommission
sowieso nichts.


(Beifall bei der SPD)


Die Tatsache, dass ein Konzept ganz dicht nach dem
9. Mai 2010 plötzlich fertig ist, zeigt, dass man offenbar
wieder eines im Sinn hatte: über den 9. Mai zu kommen.
Jetzt hat die FDP ein desaströses Wahlergebnis bekom-
men.


(Lars Lindemann [FDP]: Schauen Sie einmal Ihres an! Die Wähler fanden Sie auch nicht so berauschend in NRW, Frau Ferner!)


Die Union scheint sich jetzt allmählich Gedanken zu ma-
chen. In dieser Woche war nachzulesen, dass Herr
Singhammer darauf hingewiesen hat, dass es in erster
Linie darauf ankommt, sich die Ausgaben noch einmal
anzuschauen, bevor man ein Kopfpauschalensystem eta-
bliert, das weder finanzierbar noch gerecht ist und vor
allen Dingen, wenn man das Stichwort Bürokratie zurate
zieht, alles andere als unbürokratisch ist.


(Beifall bei der SPD – Ulrike Flach [FDP]: In NRW haben Sie verloren, Frau Ferner!)


– Eines ist sicher, Frau Flach: Schwarz-Gelb ist in Nord-
rhein-Westfalen mit Karacho abgewählt worden. Wer
das noch nicht erkannt hat, hat Tomaten auf den Augen.


(Beifall bei der SPD)


Ich möchte noch etwas zur Unabhängigen Patien-
tenberatung sagen. Es ist gut, dass es sie gibt, und es ist
gut, dass sie fortgeführt wird. Ich kann jetzt nur davor
warnen – es heißt, dass noch vor der Sommerpause ver-
bindliche und verlässliche Klarheit darüber geschaffen
werden soll, dass die Unabhängige Patientenberatung
weitergeführt wird; wir unterstützen das –, das Thema
mit irgendwelchen Ausschreibungen zu befrachten;
diese halte ich persönlich für nicht notwendig. Denn
welchen Sinn hat eine Ausschreibung, wenn dadurch
bewährte Trägerschaften mit bewährten und erfahrenen
Beraterinnen und Beratern – bei mir in Saarbrücken
macht die Verbraucherzentrale zusammen mit dem VdK
diese Beratung – in noch größere Unsicherheit getrieben
werden? Ich sehe überhaupt nicht, dass eine Ausschrei-
bung erforderlich ist. Es geht schließlich nicht um ir-
gendwelche Profitorganisationen, sondern es geht um
Beratungsstellen. Insofern rate ich Ihnen: Machen Sie
lieber noch einmal eine Übergangsregelung, die dazu
führt, dass die Berater und Beraterinnen die Sicherheit
haben, über das Jahresende hinaus in den Beratungsstel-
len arbeiten zu können. Machen Sie lieber im zweiten
Gang noch einmal die Diskussion darüber auf, was noch
ergänzt werden muss, und darüber, ob eine Ausschrei-
bung notwendig ist oder nicht.

Ich glaube, dass wir eine gute Diskussionsgrundlage
für ein Patientenrechtegesetz geliefert haben. Bei uns
stehen die Patienten und Patientinnen im Mittelpunkt.
Das bedeutet, dass man ihnen zu ihrem Recht verhelfen
muss. Zur Not – das sage ich hier auch – muss die Doku-
mentation vollständiger sein als heute; denn es kann ja
wohl nicht sein, dass die Patientinnen und Patienten, die
schlecht behandelt worden sind, es in Zukunft noch
schwerer haben, zu ihrem Recht zu kommen, weil Ihnen
der Bürokratieabbau wichtiger ist.

Zum Abschluss gestatten Sie mir bitte noch eine Be-
merkung: Bei allen Schwierigkeiten, die viele im Ge-
sundheitswesen haben, ist festzustellen: Die überwie-
gende Zahl der Ärztinnen und Ärzte, die überwiegende
Zahl der Krankenpfleger und der Krankenschwestern so-
wie der anderen Leistungserbringer macht einen tollen
Job. Sie engagieren sich sehr für die Patienten und sor-
gen dafür, dass es ihnen besser geht und sie gesunden.


(Beifall des Abg. Lars Lindemann [FDP] – Lars Lindemann [FDP]: Da stimmen wir Ihnen ausdrücklich zu!)


Trotzdem müssen wir zu einer anderen Einstellung
kommen, wenn es darum geht, über Fehler offen reden
zu können und sie offenzulegen;


(Beifall bei der SPD – Ulrike Flach [FDP]: Das ist neu bei Ihnen!)


denn vielfach brauchen die Angehörigen von Patienten,
die durch einen Behandlungsfehler verstorben sind,
nicht mehr als Gewissheit, vielfach nicht mehr als eine
Entschuldigung. Dass Menschen Fehler machen, wissen
alle.


(Ulrike Flach [FDP]: Da sind wir bei Ihnen!)


Insofern wären wir, glaube ich, gut beraten, das Thema
ernst zu nehmen, zügig voranzubringen und nicht, wie
offenbar geplant, auf die lange Bank zu schieben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1704305900

Das Wort hat nun Rudolf Henke für die CDU/CSU-

Fraktion.


Rudolf Henke (CDU):
Rede ID: ID1704306000

Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Wir befassen uns in dieser
17. Legislaturperiode heute erstmals in einer Plenarsit-
zung ausführlich und im Rahmen eines gesonderten Ta-
gesordnungspunktes mit dem Thema Patientenrechte.
Die Partner der christlich-liberalen Koalition, CDU/CSU
und FDP, wollen die Patientenrechte in einem eigenen
Gesetz bündeln und dieses Gesetz in Zusammenarbeit
mit allen am Gesundheitswesen Beteiligten erarbeiten.





Rudolf Henke


(A) (C)



(D)(B)

Der Patientenbeauftragte, Wolfgang Zöller, hat vorhin
seine Ankündigung wiederholt, dass wir seine Eck-
punkte


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Unsere Eckpunkte!)


für ein Patientenrechtegesetz bis Ende 2010 erwarten
können.

Es ist deshalb gut, wenn wir uns über den Stand der
Dinge austauschen und über den Handlungsbedarf, den
wir sehen, sprechen. Aber wir sollten dabei nicht mit
zweierlei Maß messen. Frau Ferner, ich finde, es ist mit
zweierlei Maß gemessen, wenn Sie Zeitverzögerungen
beklagen – Sie werfen Herrn Zöller sein Bemühen vor,
auf Grundlage einer sorgfältigen Debatte, die notwendig
ist, im Rahmen eines sehr ehrgeizigen Zeitplans zu ei-
nem Gesetzentwurf zu kommen –, da sie selbst in der
vorletzten Legislaturperiode, als Rot-Grün regiert hat,
Ihr Vorhaben, einen entsprechenden Gesetzentwurf zu
verabschieden, aufgegeben haben. Sie haben damals ge-
sagt: Wir erarbeiten eine Patientencharta. Das war eine
Initiative von Frau Schmidt und Frau Däubler-Gmelin.
Es steht Ihnen ja frei, dem heute zu widersprechen und
Ihre Meinung um 180 Grad zu drehen, aber dann sollten
Sie die Untätigkeit, die Sie damals an den Tag gelegt ha-
ben, nicht anderen vorwerfen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das Gleiche gilt doch auch für die letzte Legislatur-
periode. Sie haben davon gesprochen, wie viel Frau
Kühn-Mengel erarbeitet hat. Aber, verehrte Frau Ferner,
verehrter Herr Lauterbach, es ist doch nicht so, dass die
SPD diese Eckpunkte, die Konklusion aus der Arbeit
von Frau Kühn-Mengel, in der letzten Legislaturperiode
zu irgendeinem Zeitpunkt in den Meinungsbildungspro-
zess der Koalition eingespeist hat. Von Ihnen hat es in
der letzten Legislaturperiode keinen Vorschlag für ein
Patientenrechtegesetz gegeben, keine Aufforderung an
die CDU/CSU, darüber konkret zu debattieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deswegen finde ich, dass Sie mit zweierlei Maß messen,
wenn Sie jetzt Kritik daran üben, wie die Koalition vor-
geht.

Ich finde es übrigens auch nicht korrekt, wie Sie mit
Minister Rösler umgehen. Nach meinem Kenntnisstand
– ich habe mich erkundigt – ist Minister Rösler heute bei
einer Veranstaltung des Deutschen Bundestages, wo er
über die Gesundheit junger Menschen diskutiert, ein
Thema, das er mit Recht ernst nimmt.


(Elke Ferner [SPD]: Das ist ja herrlich!)


Auch dieses Thema hat viel mit Patientenrechten zu tun.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Da sollte man nicht so beckmesserisch auftreten, wie Sie
das tun.

Eine korrekte ärztliche Berufsausübung verlangt von
uns Ärztinnen und Ärzten – Sie wissen, dass ich zu die-
ser Profession gehöre –, dass wir beim Umgang mit Pa-
tientinnen und Patienten deren Würde und ihr Selbstbe-
stimmungsrecht respektieren, ihre Privatsphäre achten,
über die beabsichtigte Diagnostik und Therapie – gege-
benenfalls über Alternativen – und über die Beurteilung
ihres Gesundheitszustandes in einer für die Patientinnen
und Patienten verständlichen, angemessenen Sprache in-
formieren und insbesondere das Recht respektieren,
empfohlene Untersuchungs- und Behandlungsmaßnah-
men abzulehnen,


(Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das steht alles in dieser Charta!)


dass wir Rücksicht auf die Situation der Patientinnen
und Patienten nehmen, dass wir bei Meinungsverschie-
denheiten sachlich und korrekt bleiben, dass wir Mittei-
lungen der Patientinnen und Patienten die gebührende
Aufmerksamkeit entgegenbringen und Kritik der Patien-
ten sachlich begegnen.

Die Übernahme und Durchführung der Behandlung
erfordert die gewissenhafte Ausführung der gebotenen
medizinischen Maßnahmen nach den Regeln der ärztli-
chen Kunst. Dazu gehört, dass wir, wenn die eigene
Kompetenz zur Lösung der Aufgabe nicht ausreicht,
rechtzeitig andere Ärztinnen und Ärzte hinzuziehen bzw.
die Patientin oder den Patienten zur Fortsetzung der Be-
handlung rechtzeitig an andere Ärztinnen und Ärzte
überweisen, dass wir dem Wunsch von Patientinnen und
Patienten nach Einholung einer zweiten Meinung ent-
sprechen und dass wir die Berichte, die die mit- oder
weiterbehandelnden Ärztinnen und Ärzte brauchen, zeit-
gerecht erstellen.

Diese Grundsätze ärztlicher Berufsausübung sind Teil
der Berufsordnungen, die die Landesärztekammern als
untergesetzliches Recht auf der Grundlage des Heilbe-
rufsrechts der jeweiligen Bundesländer beschlossen ha-
ben; sie sind für die Ärztinnen und Ärzte verbindlich.
Wir alle wünschen uns, dass diese Grundsätze nicht nur
für den Umgang zwischen Ärzten und Patienten gelten,
sondern in entsprechender Form auch die anderen Be-
rufe, Dienste und Einrichtungen binden, die für Patien-
tinnen und Patienten tätig sind.

Ich will noch einmal auf das Modell der partner-
schaftlichen Kooperation zurückkommen, das eben
schon von der FDP-Fraktion angesprochen worden ist.
Die Frage war: Was für eine Partnerschaft soll das sein?
Prominente Autoren wie der Kölner Rechtswissenschaft-
ler Professor Katzenmeier sprechen im Zusammenhang
mit der Arzt-Patienten-Beziehung von einem therapeuti-
schen Arbeitsbündnis. Richtig: Das Selbstbestimmungs-
recht des Patienten verlangt vom Arzt, den Kranken an
den Entscheidungsprozessen – so schwierig das ist – zu
beteiligen. Er hat sich mit dem Patienten über Krankheit
und Behandlung zu verständigen. Das führt dazu, dass
nicht ein von außen diktierter Behandlungsstandard voll-
zogen wird – gewissermaßen ohne innere Begegnung –,
sondern dass in persönlicher ärztlicher Unabhängigkeit
eine individuelle Begegnung und Behandlung stattfin-
det, bei der, wie Katzenmeier es ausdrückt, die Werte-
welt des Gegenübers Beachtung und Eingang findet.

Eine solche echte Partnerschaft setzt voraus, dass
nicht einseitig Pflichten auf einer Seite gesehen werden,





Rudolf Henke


(A) (C)



(D)(B)

sondern dass ein gemeinsames Anliegen definiert wird.
Ärzte und Patienten haben ein gemeinsames Anliegen.
Deswegen ist – das finde ich jedenfalls – von dem Pa-
tienten zu erwarten, dass er Heilung nicht in einer Kon-
sumentenhaltung als zu liefernde Reparaturleistung er-
wartet, nach dem Motto – Verbraucherkontext –: Ich bin
der Kunde. Der Patient hat auch selbst Verantwortung
für seine Gesundheit und Gesundung. Der Arzt hat ein
Recht darauf – zumindest ein Anrecht –, dass der Patient
diese Haltung als seine Pflicht begreift.

Übrigens hat auch die Solidargemeinschaft einen An-
spruch darauf, dass der Patient dieses Mitwirken als
seine Pflicht begreift, und das ist auch im Sozialgesetz-
buch so geregelt.


(Abg. Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Herr Präsident, wenn Sie mögen, wäre ich, falls Frau
Klein-Schmeink fragen möchte, bereit, zu antworten.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1704306100

Wenn Sie mich schon so herzlich dazu einladen, dann

bin ich allergnädigst bereit, das zuzulassen. – Bitte
schön.


Rudolf Henke (CDU):
Rede ID: ID1704306200

Ich bedanke mich sehr.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Da habe ich ja Glück. – Herr Henke, ich möchte Sie
fragen: Ist es so, dass Sie in einem Patientenrechtegesetz
tatsächlich die Pflichten eines Patienten zur Mitwirkung
an einer Behandlung formulieren wollen?

Ich bin hocherstaunt darüber, was Sie hier vorhaben
und worüber Sie jetzt gerade reden,


(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Das hat er doch gar nicht gesagt!)


weil ich gedacht habe, dass wir hier im Saal bislang da-
rüber geredet haben, wie wir den Patienten innerhalb
dieses Verhältnisses stärker machen können. Sie reden
jetzt ja mehr darüber, welche Pflichten Sie ihm auch
noch auferlegen wollen.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Es gibt keine Rechte ohne Pflichten!)



Rudolf Henke (CDU):
Rede ID: ID1704306300

Erstens gibt es keine Rechte ohne Pflichten.

Zweitens sprechen wir ja, Frau Klein-Schmeink, über
den Antrag der SPD-Fraktion. In diesem Antrag der
SPD-Fraktion findet sich manches Richtige, etwa die
Aussage:

Die rechtlichen Rahmenbedingungen für den
Schutz von Patientinnen und Patienten in Deutsch-
land sind im internationalen Vergleich gut.
Richtig ist auch diese Aussage:

Das deutsche Arzthaftungsrecht ist verglichen mit
anderen Ländern patientenfreundlich.

Daneben findet sich aber auch folgende Aussage: Wir
möchte gerne, dass wir über eine vielleicht nicht ganz
vollständige, aber doch über eine Beweislastumkehr re-
den.

Bei der Erörterung der Beweislastumkehr, ist, so
finde ich, der Charakter des Arzt-Patienten-Verhältnisses
ein sehr wesentlicher Punkt. Wir können die Frage, ob
die Beweislastumkehr richtig oder falsch ist, nicht beant-
worten, ohne uns über den Charakter des Arzt-Patienten-
Verhältnisses Aufschluss gegeben zu haben; denn eine
defensive Medizin, bei der zur Vermeidung von Haf-
tungsansprüchen darauf verzichtet wird, dringend not-
wendige Operationen oder dringend notwendige Ein-
griffe durchzuführen, sondern erst einmal abgewartet
wird, auch wenn der Eingriff für den Patienten sinnvoll
wäre, kann ja in niemandes Interesse liegen, weder in
dem des Patienten noch in dem des Arztes. Deswegen
glaube ich, dass dieses therapeutische Arbeitsbündnis,
von dem ich ja schon sprach, notwendig ist.

Ich leite aus dem Leitbild des therapeutischen Ar-
beitsbündnisses ab, dass wir mit der Beweislastumkehr
in solchen Fällen sehr zurückhaltend sein müssen, in de-
nen der Arzt notwendigerweise, wenn er den Patienten
schonend versorgt, kaum in der Lage sein wird, Beweise
dafür anzutreten, dass er nicht schuldhaft einen er-
wünschten Erfolg nicht geliefert hat.

Ich finde, das muss man en détail diskutieren. Man
kann es sich hier nicht ganz so einfach machen wie die
SPD in ihrem Antrag. Das war der Grund dafür.


(Elke Ferner [SPD]: Das ist doch völliger Unsinn! – Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war aber hart daneben!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1704306400

Möchten Sie eine weitere Zwischenfrage beantwor-

ten, Herr Kollege?


Rudolf Henke (CDU):
Rede ID: ID1704306500

Ja, von mir aus – wenn es Herr Lauterbach ist, dann

gerne.


(Elke Ferner [SPD]: Von Ihnen möchte ich mich nicht behandeln lassen!)



Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Rede ID: ID1704306600

Sie haben eben hinsichtlich der Verträge der Bundes-

ärztekammer und der Landesärztekammern eloquent
vorgetragen, und Sie haben vorgetragen, wie Sie sich – –


Rudolf Henke (CDU):
Rede ID: ID1704306700

Nicht Verträge.


Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Rede ID: ID1704306800

Ja, die Abmachungen bzw. die Vereinbarungen.






(A) (C)



(D)(B)


Rudolf Henke (CDU):
Rede ID: ID1704306900

Nein, es geht um die Berufsordnung. Das ist unterge-

setzliches Recht, das von den Aufsichtsbehörden der
Bundesländer genehmigt und auf der Basis von Heilbe-
rufsgesetzen erlassen wurde, die der Landesgesetzgeber
verabschiedet hat und wofür er die Kompetenz in An-
spruch nimmt, die Sie hier im Bundestag für sich auch
beanspruchen.


Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Rede ID: ID1704307000

Ja, das will ich ja nicht in Abrede stellen. Ich fasse

nur Ihre Rede zusammen.


(Ulrike Flach [FDP]: Nein, falsch! Wie immer!)


Sie haben uns vorgetragen, wie sich die Ärztekam-
mern die Patientenrechte vorstellen und wie die Ärzte
besser gegen überbordende Patientenrechte zu schützen
sind. Der Eindruck, der sich mir hier aufdrängt, ist, dass
Sie damit die Arbeit von Herrn Zöller nicht leichter ma-
chen werden, weil ich bisher nicht einen einzigen Satz
dazu gehört habe, wie Sie die Patienten und nicht die
Ärzte stärken wollen, Herr Henke.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Nun zu meiner Frage: Wo ist in Ihrem Beitrag der
Punkt, mit dem den Patienten und nicht den Ärzten ge-
holfen werden würde?


Rudolf Henke (CDU):
Rede ID: ID1704307100

Ich glaube, dass es unsere primäre Sorge sein muss,

nicht Misstrauen in diesem Bündnis zu erzeugen. Wir
haben hier von allen Fraktionen gehört, dass sie den in
Gesundheitsberufen tätigen Menschen – übrigens nicht
nur den Ärzten, sondern auch den Pflegekräften, den
Krankenschwestern und denen, die sonst an den Leistun-
gen in den Krankenhäusern mitwirken – für ihre Arbeit
danken, weil sie ihre Arbeit ganz überwiegend in Ord-
nung leisten.


(Ulrike Flach [FDP]: Richtig!)


Diese Aussage hat doch auch Frau Volkmer getroffen.
Deswegen meine ich, dass wir uns, wenn wir über das
Thema Beweislastumkehr bei Behandlungsfehlern dis-
kutieren – das ist Ihr Vorschlag zur Stärkung der Patien-
tenrechte –, Aufschluss geben müssen, ob das nicht in
der Konsequenz zu mehr Misstrauen und defensivem
Verhalten führt und die partnerschaftliche Beziehung
zerstören würde.


(Maria Anna Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das müssen Sie noch einmal richtig nachlesen! Da steht was anderes!)


Ich habe nicht das Gefühl, dass die Gespräche, die
Herr Zöller hat, dazu führen, dass wir uns auseinander-
entwickeln. Ich habe vielmehr das Gefühl, dass wir eine
gewisse Skepsis gegenüber dem Vorschlag einer Be-
weislastumkehr durchaus teilen. Das ist jedenfalls mein
bisheriger Eindruck.

Lassen Sie uns diese Debatte offen führen. Nehmen
Sie nicht jedes Wort von jemandem, der einer anderen
Fraktion angehört, gleich zum Anlass dafür, ihm irgend-
etwas Schlechtes zu unterstellen! Das ist nämlich Ihre
Methode.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Das ärgert mich; denn es führt weg von der sachlichen
Auseinandersetzung.

Ich wollte nur vermeiden, dass allzu viel Gewicht auf
eine materielle Änderung des Rechts gelegt wird und da-
rin der Kernzweck des Patientenrechtegesetzes gesehen
wird; denn es geht doch zumindest auch um eine Bünde-
lung des Rechts. Wenn ich Frau Volkmer richtig verstan-
den habe, dann hält sie diese Bündelung deswegen für
notwendig, weil sie dafür sorgt, dass das Recht klarer,
transparenter und einfacher anwendbar wird und dass
Umsetzungsdefizite leichter zu vermeiden sind. Insofern
sollten Sie vielleicht einmal Ihre unterschiedlichen Auf-
fassungen klären.

Ich komme zum Schluss. Ich glaube, der Patient hat
Anspruch auf eine individuelle, an seinen Bedürfnissen
ausgerichtete Behandlung und Betreuung. Er hat An-
spruch auf die freie Arzt- und Krankenhauswahl, auf
Transparenz, Wahrung des Patientengeheimnisses und
die Solidarität der Gesellschaft. Er hat auch Anspruch
auf eine in diesem Sinne solidarisch gestaltete und mit
ausreichender Finanzkraft versehene Krankenversiche-
rung. Er hat Anspruch auf ein bürgernahes Gesundheits-
wesen, und er erwartet mit Recht Fürsorge und Zuwen-
dung.

Wenn die Debatte um das Patientenrechtegesetz einen
Beitrag dazu leistet, Impulse für die Umsetzung dieser
Rechte zu geben, dann können wir jedem dankbar sein,
der dazu seinen Beitrag leistet, allen voran dem Patien-
tenbeauftragten, dem Kollegen Zöller.

Ich bedanke mich herzlich für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1704307200

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/907 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 j,
33 l bis 33 o sowie Zusatzpunkt 5 auf:

33 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Staatsvertrag vom 16. Dezember 2009 und
26. Januar 2010 über die Verteilung von Ver-
sorgungslasten bei bund- und länderübergrei-
fenden Dienstherrenwechseln

– Drucksache 17/1696 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 2. März 2009 zwischen der
Regierung der Bundesrepublik Deutschland
und der Regierung der Insel Man zur Vermei-
dung der Doppelbesteuerung von im interna-
tionalen Verkehr tätigen Schifffahrtsunter-
nehmen
– Drucksache 17/1697 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 2. März 2009 zwischen der
Regierung der Bundesrepublik Deutschland
und der Regierung der Insel Man über die
Unterstützung in Steuer- und Steuerstraf-
sachen durch Auskunftsaustausch
– Drucksache 17/1698 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 26. März 2009 zwischen der
Regierung der Bundesrepublik Deutschland
und der Regierung von Guernsey über den
Auskunftsaustausch in Steuersachen
– Drucksache 17/1699 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 13. August 2009 zwischen der
Regierung der Bundesrepublik Deutschland
und der Regierung von Gibraltar über die
Unterstützung in Steuer- und Steuerstraf-
sachen durch Auskunftsaustausch
– Drucksache 17/1700 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Abkommen vom 2. September 2009 zwischen
der Regierung der Bundesrepublik Deutsch-
land und der Regierung des Fürstentums
Liechtenstein über die Zusammenarbeit und
den Informationsaustausch in Steuersachen
– Drucksache 17/1701 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
g) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver-
trag vom 27. November 2008 über die Ände-
rung des Vertrags vom 11. April 1996 über die
Internationale Kommission zum Schutz der
Oder gegen Verunreinigung

– Drucksache 17/1702 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

h) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Betriebsprämiendurchführungsge-
setzes und des Agrarstatistikgesetzes

– Drucksache 17/1703 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

i) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Katzen- und Hundefell-Einfuhr-
Verbotsgesetzes und zur Änderung des See-
fischereigesetzes

– Drucksache 17/1704 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

j) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgitt
Bender, Fritz Kuhn, Elisabeth Scharfenberg, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Erhebung von Daten zu der Versorgung mit
Hebammenhilfe sowie zur Arbeits- und Ein-
kommenssituation von Hebammen und Ent-
bindungspflegern sicherstellen

– Drucksache 17/1587 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

l) Beratung des Antrags der Abgeordneten Axel
Knoerig, Albert Rupprecht (Weiden), Michael
Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU, der Abgeordneten Dr. Martin
Neumann (Lausitz), Dr. Peter Röhlinger, Patrick
Meinhardt, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der FDP

Brücken bauen – Grundlagenforschung durch
Validierungsförderung der Wirtschaft nahe
bringen

– Drucksache 17/1757 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

m) Beratung des Antrags der Abgeordneten Paul
Schäfer (Köln), Jan van Aken, Matthias W.
Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE

Abschaffung der Wehrpflicht

– Drucksache 17/1736 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

n) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck (Köln), Tom Koenigs, Marieluise Beck

(Bremen), weiterer Abgeordneter und der Frak-

tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Einigkeit über die Definition des Tatbestandes
des Aggressionsverbrechens im IStGH-Statut
erzielen

– Drucksache 17/1767 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss

o) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Ingrid Nestle, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Atomausstieg beschleunigen – Strommarkt
zukunftsfähig entwickeln

– Drucksache 17/1766 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

ZP 5 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Vermeidung kurzfristiger Markt-
engpässe bei flüssiger Biomasse

– Drucksache 17/1750 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Haushaltsausschuss

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des
Petitionsausschusses, zu denen keine Aussprache vor-
gesehen ist.
Tagesordnungspunkt 34 a:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 81 zu Petitionen

– Drucksache 17/1590 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Sammelübersicht 81 ist einstimmig angenom-
men.

Tagesordnungspunkt 34 b:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus-
schusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 82 zu Petitionen

– Drucksache 17/1591 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Sammelübersicht 82 ist mit den Stimmen von
CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Lin-
ken bei Stimmenthaltung der Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 34 c:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 83 zu Petitionen

– Drucksache 17/1592 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Sammelübersicht 83 ist mit den Stimmen des
Hauses gegen die Stimmen der Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 34 d:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 84 zu Petitionen

– Drucksache 17/1593 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Sammelübersicht 84 ist mit den Stimmen von
CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Lin-
ken bei Stimmenthaltung der Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 34 e:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 85 zu Petitionen

– Drucksache 17/1594 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 85 ist mit den Stimmen
des Hauses gegen die Stimmen der Linken angenom-
men.

Tagesordnungspunkt 34 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 86 zu Petitionen

– Drucksache 17/1595 –





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 86 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der
Linken und der Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 34 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 87 zu Petitionen

– Drucksache 17/1596 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 87 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU, FDP und Grünen gegen die Stimmen
der SPD und der Linken angenommen.

Tagesordnungspunkt 34 h:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 88 zu Petitionen

– Drucksache 17/1597 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 88 ist mit den Stimmen
der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
drei Oppositionsfraktionen angenommen.

Tagesordnungspunkt 34 i:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 89 zu Petitionen

– Drucksache 17/1598 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 89 ist mit den Stimmen
von CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen der SPD
und der Grünen bei Enthaltung der Linken angenom-
men.

Nunmehr rufe ich den Zusatzpunkt 6 auf:

Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen DIE LINKE und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Auseinandersetzung in der Koalition zur
Haushaltskonsolidierung

Ich eröffne die Aussprache und erteile dem Kollegen
Steffen Bockhahn von der Fraktion Die Linke das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Steffen Bockhahn (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704307300

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-

nen und Kollegen! In Zeiten der Krise darf man von ei-
ner Regierung eines erwarten: ein Konzept. Aber was
sind die Tatsachen? „Koalition konfus“. Besser kann
man es nicht ausdrücken.


(Beifall bei der LINKEN)


Erst verzichten Sie freiwillig auf Einnahmen, indem Sie
Geschenke für Reiche und Superreiche und für Spender
des Wahlkampfes machen, und dann stellen Sie fest,
dass Sie kein Geld haben.


(Beifall bei der LINKEN)


Was ist Ihre Antwort darauf? Wahnsinnige Streichlis-
ten von scheinbar nicht mehr ganz bewussten Politike-
rinnen und Politikern in Ihrer Fraktion!


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Wie ist das denn mit den Grünen und der Solarindustrie?)


Wie kann man denn auf die Idee kommen, dass es zu-
kunftsgerichtet sei, wenn man heute an einer Zukunftsin-
vestition spart, wie sie besser nicht sein könnte? Wenn
man heute an Bildung spart, dann investiert man nicht in
die Zukunft, dann macht man nichts Gutes, sondern dann
würgt man sich selbst eine gute Zukunft ab. Das ist ge-
nau der falsche Weg, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Um Folgendes auch gleich zu sagen: Es heißt immer,
wir müssten heute mit unseren Finanzen aufpassen und
dürften den Schuldenberg nicht noch größer machen,
weil wir ihn künftigen Generationen aufbürden. Nun
nehme ich jetzt einmal für mich in Anspruch, eher Teil
der kommenden Generationen zu sein als jemand, der
diese Schulden aufgehäuft hat.


(Volkmar Klein [CDU/CSU]: Kann man so und so sehen!)


– Ja, das kann man so und so sehen. Ich wünsche Ihnen
aber, dass ich Teil der kommenden Generationen bin.
Aber das mögen Sie sicherlich nicht teilen.


(Zuruf von der LINKEN: Politische Zukunft!)


– Vor allen Dingen der politischen, danke.

Wie kann man auf die Idee kommen, dass es richtig
sei, sich jetzt so zu strangulieren? Wie kann man auf die
Idee kommen, dass es richtig sei, jetzt einfach kein Geld
mehr in der Hoffnung auszugeben, dass dies kommen-
den Generationen helfen würde? Das ist genau der fal-
sche Weg; denn das Geld, das Sie heute nicht ausgeben,
führt zu Entwicklungen, die in der Zukunft zu steigen-
den Kosten führen werden. Dies führt uns tiefer in die
Krise, und das ist etwas, was wir genau nicht brauchen.
Wir brauchen jetzt Konjunkturprogramme, wir brauchen
etwas, was für die Zukunft dieses Landes gut ist. Dazu
gehören Bildung und Kinderbetreuung, meine Damen
und Herren.


(Beifall bei der LINKEN – Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Erstmal müssen Sie Kinder haben! Wenn Sie Kinder haben, können wir weiter darüber reden!)


– Herr Schirmbeck, ich bin mir sehr sicher, dass Sie vie-
len Frauen dabei helfen, Kinder zu bekommen; aber das
ist hier nicht das Thema.


(Heiterkeit bei der LINKEN und der SPD – Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Ich könnte Ihnen in der Tat einige Hinweise geben!)






Steffen Bockhahn


(A) (C)



(D)(B)

Es geht vielmehr darum, wie man die Gesellschaft für
Kinder attraktiv machen kann, wie man Kindern, die in
dieser Gesellschaft leben, beste Entwicklungsperspekti-
ven bieten kann. Darüber müssen wir sprechen. Wenn
dann ein hessischer Ministerpräsident sagt, der Kita-
Ausbau, der gesetzlich verankert ist und einen Anspruch
darstellt, müsse geschoben werden, dann ist dies erstens
sozialpolitisch kreuzgefährlich, weil es wieder diejeni-
gen trifft, die auf die 150 Euro Herdprämie angewiesen
sind, anstatt dass sie ihr Kind in eine Kindertageseinrich-
tung schicken. Es führt zweitens dazu, dass die Kinder
aus sozial benachteiligten Familien wieder zu Opfern
von Bildungsarmut werden. Genau das kann doch nicht
der Weg sein. Es ist noch schlimmer, wenn gerade aus
Hessen ein solcher Vorschlag kommt; denn Hessen ge-
hört bekanntermaßen eher zu den wohlhabenden Län-
dern. Vielleicht könnte man es in Hessen noch selber re-
geln. Aber in Bremen, Schleswig-Holstein oder anderen
strukturschwachen Flächenländern wird es dann umso
schwieriger, den notwendigen Kita-Ausbau voranzutrei-
ben. Wenn Herr Koch trotzdem das in seine Vorschläge
einbezieht, dann handelt er grob fahrlässig und sicher
nicht im gesamtdeutschen Interesse.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Natürlich kann er jetzt stolz vorangehen und sagen,
dass er es ernst meint; denn er hat die Mittel für die
Hochschulen im eigenen Land um 30 Millionen Euro
gekürzt. Aber genau das ist doch der Wahnsinn. Wenn
Deutschland eine Zukunft als starker Standort haben
möchte, dann brauchen wir Innovation sowie Forschung
und Entwicklung. Das geht nicht ohne gute Bildung und
ohne gute Hochschulen. Ich habe vor noch nicht allzu
langer Zeit selbst an einer Hochschule studiert. Ich kann
Ihnen sagen, dass es kein Vergnügen ist, wenn man mit
150 Leuten in einem Grundkurs sitzen muss, weil Perso-
nal und Räume fehlen. Die Universitäten in Deutschland
sind nicht ausreichend ausgestattet. Wir brauchen mehr
Geld für Bildung und Forschung und nicht weniger.


(Beifall bei der LINKEN – Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Da wäre aber ein bisschen Berufserfahrung hinterher angebracht!)


Es ist grob fahrlässig, wenn Sie heute durch die Welt
laufen und sagen: Wir müssen streichen. – Es geht Ihnen
gar nicht um das Sparen. Man spart nämlich, wenn man
etwas übrig behält. Sie wollen streichen. Das ist etwas
anderes. Es ist wichtig, diesen Unterschied festzuhalten.
Wenn Sie schon streichen, dann schauen Sie sich we-
nigstens an, was etwas für die Zukunft bringt und was
nichts bringt. Es mag Ihnen eigenartig vorkommen,
wenn ich Ihnen das jetzt sage, aber: Investitionen in die
Atomenergie sind keine zukunftsweisenden Maßnah-
men.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Investitionen in Rüstungsmittel sind keine zukunftswei-
senden Maßnahmen. Was wirklich etwas bringt, sind In-
vestitionen in Bildung, Forschung und soziale Gerech-
tigkeit. Das stärkt Deutschland und hilft allen, mit
Sicherheit nicht ein konzeptionsloses Sparen. Diese Re-
gierung sollte einen Plan haben. Sie hat aber keinen. Das
ist ganz armselig.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1704307400

Nächster Redner ist Steffen Kampeter, der Parlamen-

tarische Staatssekretär im Finanzministerium.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Das ist unser bester Mann! Hört zu!)


S
Steffen Kampeter (CDU):
Rede ID: ID1704307500


Herr Kollege Bockhahn, Ihre Rede hat deutlich ge-
macht: Es ist gut, dass Hessen von einer christlich-libe-
ralen Koalition und nicht von Ihnen regiert wird.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben Sie aber der SPD zu verdanken!)


Ich bedanke mich für diese Aktuelle Stunde, gibt sie mir
doch die Möglichkeit, Ihnen die Haushaltspolitik der
Bundesregierung einmal darzulegen. Ich bitte die Zu-
schauerinnen und Zuschauer, sich nicht mit den Diffa-
mierungen des Vorredners aufzuhalten.


(Caren Marks [SPD]: Mit Ihnen aber auch nicht! – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Die machen sich schon ihr eigenes Bild!)


Die derzeit laufenden Arbeiten und Diskussionen bei
der Vorbereitung des Haushaltes 2011 und der mittelfris-
tigen Finanzplanung sind Ausdruck des ernsthaften Wil-
lens der christlich-liberalen Koalition, einen verfas-
sungskonformen Haushalt vorzulegen und eine
zukunftsorientierte Haushaltspolitik zu machen. Dass
die Einhaltung der neuen Schuldenregel ab dem Jahr
2011 und die Rückkehr zu den zulässigen Maastricht-
Kriterien allerdings kein leichter Weg ist, ist, glaube ich,
allen Beteiligten klar. Das heißt, die notwendigen Verän-
derungen werden spürbar sein und werden sich – das
zeigt die Erfahrung – zweifelsohne nicht ohne Wider-
spruch durchsetzen lassen. Dabei befinden wir uns, ver-
glichen mit anderen Volkswirtschaften, beispielsweise
mit der Griechenlands, noch in einer komfortablen Si-
tuation. Die ganze Welt schaut jetzt auf unser Land.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das ist gut! Schaut auf Herrn Kampeter!)


Sie schaut auf die Fiskalpolitik des wirtschaftlich stärks-
ten Landes innerhalb der Europäischen Union. Eine er-
folgreiche Haushaltskonsolidierung ist ein wichtiges Si-
gnal an die Märkte und ein Garant für den Fortbestand
der europäischen Währungsunion. Die jetzt angelaufe-
nen Stabilisierungsmaßnahmen für Griechenland und
der in dieser Woche in der Beratung befindliche Euro-
Rettungsschirm können nur dann ihre Wirkung voll ent-
falten, wenn die Haushaltskonsolidierung in der Bundes-





Parl. Staatssekretär Steffen Kampeter


(A) (C)



(D)(B)

republik Deutschland – allerdings gemeinsam mit allen
anderen Ländern – ernsthaft weiterbetrieben wird.

Experten analysieren, dass Kapital aus hoch verschul-
deten Staaten mit niedrigen Wachstumsraten abgezogen
wird und in niedrig verschuldete Staaten mit hohen
Wachstumsraten investiert wird. Das zeigt den politi-
schen Gestaltungsauftrag für die Fiskalpolitik und die
Wachstumspolitik in der Bundesrepublik. Wir müssen
uns wieder sehr viel stärker um eine niedrigere Verschul-
dung und um höhere Wachstumsraten in der Bundesre-
publik Deutschland kümmern. Das ist der Anspruch der
christlich-liberalen Koalition. Daran werden wir uns
messen lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Der Bundeshaushalt und der jetzt aufzustellende Fi-
nanzplan stellen einen Wendepunkt dar. Im Rahmen der
laufenden Haushaltsaufstellungsverfahren müssen wir
den Ausstieg aus den konjunkturstützenden Maßnahmen
finden und zum Konsolidierungskurs zurückkehren. Es
ist richtig: International war vereinbart, 2009 und 2010
die Konjunktur durch eine Schuldenaufnahme zu stüt-
zen. Es ist aber auch vereinbart worden, dass wir ab
2011 das Wachstum nicht mehr durch Schulden finanzie-
ren, sondern die Kräfte, die einen sich selbst tragenden
Aufschwung ermöglichen, mobilisieren. Das ist eine
Herkulesaufgabe, insbesondere wenn man bedenkt, wo
wir jetzt stehen.

Der Haushalt 2010 ist der Haushalt mit der höchsten
Nettokreditaufnahme in der Finanzgeschichte unseres
Landes. Allein die konsumtiven Ausgabenblöcke – So-
ziales, Zinsausgaben, Personalausgaben – machen der-
zeit drei Viertel des gesamten Bundeshaushalts aus. Sie
sind weitgehend durch gesetzliche Vorgaben bzw. durch
Rechtsverpflichtungen gesetzt. Zudem – das muss man
in aller Klarheit sagen – hat die vorgelegte Steuerschät-
zung nicht den erhofften Spielraum für weitere entlas-
tende Maßnahmen gebracht. Im Gegenteil: Wir werden
in den kommenden drei Jahren zusätzlich 18 Milliarden
Euro Steuermindereinnahmen zu verkraften haben.

Etwas grundsätzlicher formuliert: Haushaltsdisziplin
ist die Voraussetzung für den Erhalt politischer Gestal-
tungsfähigkeit. Länder, die dies nicht beherzigen, wer-
den wegen stark steigender Zinsausgaben und ihrer
mangelnden Kreditwürdigkeit dieser politischen Hand-
lungsfähigkeiten beraubt. Unsere Konsolidierungsstrate-
gie, die nicht auf das nächste Jahr beschränkt ist, erhält
diesen politischen Handlungsspielraum und ermöglicht
aktives Handeln in der Zukunft. Das ist das haushaltspo-
litische Kredo der christlich-liberalen Koalition.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Haushaltsdisziplin ist auch ein Beitrag zur Generatio-
nengerechtigkeit; denn alles, was wir heute unterlassen,
schränkt die Handlungsfähigkeit zukünftiger Generatio-
nen ein. Es gilt der Satz: Auf Schuldenbergen können
keine Kinder spielen. – Das müssen wir auch bei unseren
politischen Entscheidungen mit berücksichtigen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Im internationalen Kontext gilt: Nur wer selber Vor-
bild ist, kann auch von anderen Staaten Haushaltsdis-
ziplin verlangen. Politische Führung gründet eben auch
in Europa auf die Voraussetzung solider Haushaltspoli-
tik. Lassen Sie mich deswegen feststellen: Die Behaup-
tung, dass gute Politik sich ausschließlich durch hohe
Ausgaben oder gar durch hohe Schulden definiert, ist
veraltetes Denken. Eine aufgeklärte und moderne Haus-
halts- und Finanzpolitik weiß, dass das Ergebnis von
Politik vielmehr von der Wirkmächtigkeit der eingesetz-
ten Mittel abhängt. Was wir aus dem Geld machen, ist
doch die eigentliche Gestaltungsaufgabe. Kluge Politik
kommt daher in manchen Bereichen auch mit weniger
Geld aus. Das werden wir in dieser Legislaturperiode
wagen. Das ist der Anspruch unserer Haushaltspolitik.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir im letzten Haushalt gesehen! Das ist Ihnen glänzend gelungen!)


So ist Haushaltspolitik zu verstehen, und es müssen auch
ein Stück weit Strukturen infrage gestellt werden. Das
hat mehr mit Klugheit als mit Kürzungen zu tun.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fangen Sie doch mal bei den Subventionen für die Hotels an!)


Das machen wir. Für die zukünftigen Haushaltsjahre gilt
ein dezidiertes Ausgabenmoratorium. Zur Erinnerung:
Wir haben in unserem Koalitionsvertrag unter dem
Stichwort „generationengerechte Finanzen“ goldene Re-
geln aufgestellt.


(Lachen des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Alle Aufgaben- und Ausgabenbereiche sind kritisch zu
hinterfragen. Zusätzliche Maßnahmen müssen solide ge-
genfinanziert werden. Letztlich stehen die Maßnahmen
des Koalitionsvertrags unter einem Finanzierungsvorbe-
halt.


(Zuruf von der LINKEN: Gucken Sie sich mal die Einnahmeseite an!)


Das macht deutlich, dass wir uns auch weiterhin kritisch
mit den Strukturen unseres Haushalts beschäftigen müs-
sen. Wir müssen genau hinschauen, wo es Ineffizienzen
gibt und wo wir mit dem eingesetzten Geld nicht die von
uns gewünschten politischen Ziele erreichen.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit Mövenpick-Geld zum Beispiel!)


Was können wir auch angesichts eines sich verändern-
den finanzwirtschaftlichen Umfelds besser machen? Wo
– auch das muss man aufzeigen – besteht ordnungspoliti-
scher Handlungsbedarf? Ich nenne beispielsweise das
staatliche Handeln. Die Finanzkrise hat die Nachfrage
nach mehr Staat steigen lassen. Wir als christlich-libe-
rale Koalition wissen aber: Ein totaler Staat kann nicht
die Antwort auf die gesellschaftlichen und wirtschaftli-





Parl. Staatssekretär Steffen Kampeter


(A) (C)



(D)(B)

chen Herausforderungen sein. Wir brauchen zwischen
Markt und Staat wieder eine normalisierte Aufgabentei-
lung in einer sozialen Marktwirtschaft des 21. Jahrhun-
derts.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir werden und müssen uns also mit den Strukturen
des Bundeshaushalts sehr kritisch beschäftigen. Wir
müssen genauer hinschauen. Das bedeutet sechs Wochen
intensive Arbeit. In einem ersten Schritt haben wir in
diesen Tagen die Ressorts aufgefordert, bei den soge-
nannten Flexibilisierten Ausgaben ihre Vorstellung zu
Einsparungen darzulegen. Wir werden in einer Haus-
haltsklausur in Vorbereitung auf den Kabinettsbeschluss
Ende Juni/Anfang Juli weitere Maßnahmen besprechen.
Wir wissen um die Notwendigkeit, solide zu haushalten.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seit wann das denn? Seit dem 9. Mai?)


Klar ist: Nur wer seinen eigenen Haushalt in Ordnung
hält, der ist für die Aufgaben der Zukunft gewappnet.
Die christlich-liberale Koalition ist für diese Zukunft ge-
wappnet.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei Abgeordneten der SPD – Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Für mich war das eine Offenbarung!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1704307600

Das Wort hat nun Kollegin Renate Künast für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Jetzt aber mal ein bisschen liebevoll, nicht so kratzbürstig!)



Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704307700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber

Herr Kampeter, das war sozusagen die Vorlesung über
Kampeters Glaubenssätze.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Am besten verinnerlichen!)


Wenn Sie das als Gastdozent an der Uni anbieten, dann
bin ich sicher, dass beim zweiten Mal keiner mehr kom-
men wird, Herr Kampeter, weil hinterher zwar alle Ho-
nig im Gesicht haben, aber keinen Erkenntniszuwachs.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir wollen an dieser Stelle wissen: Was gilt denn
nun? Wir wollen nicht irgendwelche goldenen Fäden ge-
sponnen haben und auch nichts von goldenen Glaubens-
sätzen hören. Wir wollen wissen: Was ist die Haus-
haltsprämisse? Wo soll es langgehen? – Roland Koch hat
gesagt: Bei der Bildung soll gespart werden. Die Kanzle-
rin hat erklärt: Bildung ist Cheffinnensache. Daher ver-
anstaltet sie einen Bildungsgipfel nach dem anderen.
Deshalb sage ich: Hic Rhodus, hic salta! Was gilt denn
nun, Herr Kampeter? Gilt nun, dass die CDU-Minister-
präsidenten, vornean Roland Koch, diese Bundesregie-
rung am Nasenring durch die Republik führen, Merkel
immer hinterher? Oder gibt diese Bundesregierung die
Haushaltspolitik des Bundes vor? Dazu haben Sie kein
einziges Wort gesagt, Herr Kampeter.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Sie wissen doch, wer den Haushalt aufstellt! Das sind doch wir, nicht die Länder!)


Wir haben erhebliche Zweifel, ob überhaupt noch et-
was kommt. Ihre allgemeinen Ausführungen von Glau-
benssätzen bestärken mich in meinen Zweifeln. Dass
Roland Koch seine Äußerungen direkt nach dem 9. Mai
und dem für die CDU desaströsen Wahlergebnis in
Nordrhein-Westfalen – nämlich ein Minus von 10 Pro-
zentpunkten – gemacht hat, ist doch eine Kampfansage.
Da muss man doch sagen, was gilt. Ich sehe: Merkel ist
eine Kanzlerin ohne Rückhalt. Merkel ist ohne Rückhalt
in der Union und ohne Rückhalt in der Koalition. Dass
sie auch ohne Rückhalt in Europa ist, haben wir in die-
sen Tagen schon gemerkt.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das hätten Sie gern so!)


Sie sind angetreten, um, wie mit dem Koalitionspart-
ner vereinbart, die Steuern zu senken. Dieses Vorhaben
ist nun gestrichen. Jetzt weiß ich gar nicht mehr, was die
FDP will. Das Ergebnis, von einer Ein-Punkt-Partei zu
einer Null-Punkte-Partei, bringt keinen Erkenntnisge-
winn.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Also wende ich mich an Sie. Was gilt denn? Das wissen
wir in keinem Bereich. Bei der Atompolitik machen Sie
es vor: Söder, die Lichtgestalt der deutschen Politik,


(Heiterkeit bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


hat gesagt, Röttgen habe kein Konzept. Gut, dass er sich
gemeldet hat. Mappus aus einem großen Flächenland
fordert den Rücktritt des Umweltministers. Koch sagt:
Wenn du, Angela Merkel, nicht führst, dann führe ich. –
An dieser Stelle wird man doch einmal fragen dürfen,
wer jetzt führt und wohin die Reise gehen soll.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Gilt die moderne CDU, oder erlebt seit dem 9. Mai das
Tiefschwarze der CDU aus dem Süden dieser Republik
seinen zweiten Frühling und tritt wieder stärker hervor?
Wir sagen: Wir wollen wissen, wo es langgehen soll.

Ich will Ihnen auch sagen, warum wir fragen. Roland
Koch hat schon einmal die Bildungspolitik in diesem
Lande bestimmt.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])






Renate Künast


(A) (C)



(D)(B)

Ich war in der Föderalismuskommission I dabei, in der
Stoiber und Müntefering Vorschläge vorgelegt haben.
Diese wurden im Bundesrat in der Leipziger Straße spät
nachts bei einer Sondersitzung von Koch ausgebremst.
Er stand kurz vor Mitternacht wütend auf und sagte: Mit
uns geht das nicht! Er hat die Vorschläge in ihre Einzel-
teile zerlegt. Sein Vorschlag war, die Kompetenz für die
Bildung komplett an die Bundesländer zu übergeben und
ein Kooperationsverbot zu verhängen. Der Bund darf
den Kommunen in der Bildungspolitik also nie beiste-
hen. Wir haben schon damals gesagt, dass das noch ein-
mal unser Untergang wird, weil das die zentrale Aufgabe
der Bildungspolitik zunichtemacht, die eigentlich solida-
risch angegangen werden müsste.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Frau Merkel hat sich damals mit Blick auf eine poten-
zielle Kanzlerschaft nicht getraut, den Ministerpräsiden-
ten der CDU in die Parade zu fahren; stattdessen hat sie
an der Stelle einen Kotau gemacht und die Minister-
präsidenten machen lassen. Aber wenigstens jetzt muss
sie zeigen, dass sie einen Hintern in der Hose hat, indem
sie sagt: Ihr wolltet es, also macht es und finanziert es
auch! – Das erwarte ich von dieser Koalition.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Sie machen Rosstäuschertricks und veranstalten einen
Bildungsgipfel nach dem anderen, bei denen nichts he-
rauskommt. Nachher kommen auch noch Roland Koch
und der Koordinator der Bildungspolitik der CDU, Herr
Tillich, Ministerpräsident von Sachsen, und reißen alles,
auch das 10-Prozent-Ziel, das Sie früher, um sich selber
zu loben, wie eine Monstranz durch die Republik getra-
gen haben, wieder ein.

Ich will jetzt wissen, was gilt. Auch die Hessinnen
und Hessen wollen das wissen. Nehmen wir einmal das
Beispiel Hessen. Fast 8 Prozent der Kinder dort haben
keinen Schulabschluss, und es fehlen 23 000 Betreu-
ungsplätze. Da geht es um Chancengerechtigkeit, darum,
dass es allen Kindern gleich gut geht, dass sie sich
gleichermaßen entwickeln können. Es geht um Ge-
schlechtergerechtigkeit; denn auch Frauen sollen später
erwerbstätig sein können. Letztlich geht es auch um eine
wirtschaftspolitische Frage.


(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Schauen Sie sich mal an, was da los ist, wo Sie regieren!)


Wir wissen, dass es nicht einfach ist, zu sparen. Ich
hätte von Herrn Kampeter erwartet, dass er das einmal
sagt. Abbau ökologisch schädlicher Subventionen, weg
mit dem Steuerprivileg für Dienstwagen, weg mit dem
Betreuungsgeld, Abschmelzen des Ehegattensplittings,
ran an die Mehrwertsteuer, die Lobbyliste abarbeiten,
wobei man mit der Mehrwertsteuer auf Hotelübernach-
tungen anfangen kann –


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)

wer Mut hat, an diesen Stellen etwas zu verändern,
bringt damit zum Ausdruck: Gute Bildung ist eine wich-
tige Ressource, in die klug investiert werden muss,


(Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ CSU]: Das machen wir doch! Klug investieren!)


weil das zu mehr Gerechtigkeit führt und unserer Wirt-
schaft hilft.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1704307800

Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.


Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704307900

Mein letzter Satz. – Ich weiß nicht, ob Sie sich erin-

nern; aber es gab einmal einen Koalitionsvertrag mit
dem Titel „Wachstum. Bildung. Zusammenhalt.“. Dass
Sie sich beim Thema Zusammenhalt gut auskennen in
der Koalition, wissen wir alle; deshalb müssen wir das
nicht weiter ausführen. Die Republik hat schon lange ge-
nug davon. Vielleicht könnten Sie wenigstens einmal
versuchen, beim Thema Bildung für jedes Kind in die-
sem Land haushalterisch eine Marge vorzugeben, und
einen Bildungssoli seitens des Bundes fordern, um in je-
des Kind zu investieren.


(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Wollen Sie Steuern erhöhen?)


Das würde das Land nach vorne bringen. Dazu wollen
wir eine Aussage haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1704308000

Das Wort hat nun Kollege Jürgen Koppelin für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Jürgen Koppelin (FDP):
Rede ID: ID1704308100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Von

den Linken und von Bündnis 90/Die Grünen ist eine Ak-
tuelle Stunde beantragt worden. Ich habe bisher nicht er-
kennen können, warum sie überhaupt beantragt worden
ist.


(Lachen bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/CSU]: Das glauben wir unbesehen! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist ja auch noch früh am Tag, Herr Koppelin!)


Ich konnte bisher nur Polemik vernehmen. Der Kollege
Bockhahn von den Linken fragt: Wie kann man auf die
Idee kommen, an Bildung zu sparen? Auch ich finde
manches nicht gut, was Herr Koch sagt. Aber ich bin
froh, dass Herr Koch nicht die Liste des Berliner Senats
abgeschrieben hat; denn da gibt es plötzlich Lotterie-
spiele, die darüber entscheiden, ob man einen Platz in





Dr. h. c. Jürgen Koppelin


(A) (C)



(D)(B)

der Schule bekommt. Ähnliches gilt für die Feuerwehr
usw.


(Widerspruch bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Schauen Sie sich die lange Liste des Berliner Senats, an
dem Sie beteiligt sind, einmal an. Dazu haben Sie kein
Wort gesagt.

Ich möchte einen Punkt herausgreifen, der mir sehr
wichtig und zudem erfreulich ist. Gestern hat, was auch
in einigen Medien eigentlich nur eine Randnotiz war, der
Schleswig-holsteinische Landtag – ich komme aus
Schleswig-Holstein – mit den Stimmen der Koalition
von CDU und FDP, aber auch mit den Stimmen einiger
Oppositionsfraktionen,


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Welche, bitte?)


nämlich Sozialdemokraten, Bündnis 90/Die Grünen und
die dänische Minderheit SSW, als erstes Landesparla-
ment die Schuldenbremse beschlossen. Das finde ich
ausgesprochen erfreulich. Dass die Linken da nicht mit-
gemacht haben, kann ich verstehen. Ich sage auch,
warum ich das erfreulich finde: Es zeigt, dass es bei
Haushaltsberatungen – das wünsche ich mir auch für den
Bundestag – nicht mehr darum geht, wer die besten An-
träge hat und wer sich wie noch steigern kann, sondern
darum, dass man in einen Wettbewerb eintritt in der
Frage, wo effizient und vernünftig gekürzt oder wie der
Haushalt eines Landes saniert werden kann.


(Axel E. Fischer [Karlsruhe-Land] [CDU/ CSU]: Es geht nicht darum, Geld auszugeben, sondern darum, Geld vernünftiger auszugeben!)


Das ist endlich einmal ein Wettbewerb, der mir und ver-
mutlich auch den Bürgern gefällt. Ich bin jedenfalls froh.

Dass natürlich Herr Stegner gleich sagt, Streichungen
gebe es mit der SPD nicht, stattdessen seien Steuererhö-
hungen notwendig, ist seine Sache; damit müssen die
Sozialdemokraten fertigwerden.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Wollen wir mal sehen, was Sie an Steuererhöhungen alles machen werden! Mehrwertsteuer!)


Aber in einem Punkt sind wir uns doch einig: Angesichts
der Verschuldung, an der viele mitgewirkt haben, sollte
man überlegen, wie wir von diesen Schulden wieder he-
runterkommen. – Ich sage gleich noch etwas zu den So-
zialdemokraten, die elf Jahre an der Regierung waren. –
Niemand – keine Regierung, kein Parlament, keine Par-
tei, auch nicht Eltern oder Großeltern – hat das Recht,
Schulden aufzunehmen, die Generationen, die noch gar
nicht geboren sind, begleichen müssen. Das ist das Ent-
scheidende. Darum müssen wir uns kümmern.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Vorhin kam der Zuruf, wir würden die größte Steuer-
erhöhung in der Geschichte der Bundesrepublik durch-
führen. Ich sage Ihnen: Das haben die Sozialdemokraten
getan. Es handelte sich um eine Größenordnung von
mehr als 50 Milliarden Euro pro Jahr. Sie haben dieses
Geld nicht nur ausgegeben, sondern Sie haben es drei-
mal ausgegeben und mussten trotzdem noch Schulden
aufnehmen. Das und nichts anderes war Ihre Politik.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Die höchste Verschuldung habt ihr doch beschlossen!)


Meine Damen und Herren, ich bin seit langem der
Auffassung – das besagen auch die Steuerschätzungen –:
Dieser Staat hat genug Geld. Er geht teilweise nur nicht
vernünftig damit um. Wir werden deshalb anders an die
Aufstellung des Haushalts für das nächste Jahr herange-
hen. Wir können nur noch Maßnahmen finanzieren, die
vernünftig sind. Ich finde es richtig, dass Minister
Schäuble die Ministerien schon darauf hingewiesen hat,
dass die Vorschläge, die sie bisher eingereicht haben, zu
viel kosten. Das geht so nicht.

Nun kommt Frau Künast als Rächer der Enterbten.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Rächerin! So viel Zeit muss sein! – Heiterkeit beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Künast, dass Sie sich in dieser Form hier hinstellen,
ist sehr mutig.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Ja! Toll war das!)


Sie rechnen wohl damit, dass die Menschen schnell ver-
gessen. Sie waren in Nordrhein-Westfalen in einer
Koalition mit Herrn Steinbrück. Herr Steinbrück legte
zusammen mit Herrn Koch Vorschläge zum Subven-
tionsabbau vor; ich habe diesen dicken Wälzer sogar
hier. Diese Vorschläge sind das reinste Gruselkabinett.
Dazu haben Sie aber kein Wort gesagt. Warum haben Sie
denn damals nicht das Wort ergriffen und deutlich ge-
macht: „Das machen wir nicht mit“?


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wovon reden Sie denn da? – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was hat dieses Thema denn mit Steinbrück und Koch zu tun?)


– Ich nenne Ihnen doch nur ein Beispiel; wir sind
übrigens dagegen vorgegangen. – Ich frage Sie: Was
war denn damals in Sachen Entfernungspauschale?
Steinbrück hat versucht, seinen Vorschlag durchzuset-
zen. Aber das Bundesverfassungsgericht hat entschie-
den, dass die Regelung geändert werden muss.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was haben denn wir mit dem Koch/ Steinbrück-Papier zu tun?)


– Entschuldigung, Sie waren doch in einer Koalition.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na und? Das hat Herr Steinbrück aber als SPDler geschrieben, nicht als Grüner!)


Da können Sie sich hier doch nicht – ich sage es noch
einmal – als Rächer der Enterbten hinstellen und so tun,
als hätten Sie mit all dem nichts zu tun.





Dr. h. c. Jürgen Koppelin


(A) (C)



(D)(B)


(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Genau! Nach dem Motto: Ich bin es nicht gewesen, der andere ist es gewesen! So geht das nicht! – Bettina Hagedorn [SPD]: Kommen Sie doch mal zum Thema!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin fest davon
überzeugt, dass wir die gemeinsame Aufgabe haben, da-
für zu sorgen, dass wir die hohen Schulden, die wir alle
gemeinsam – die Jungen natürlich nicht – zu verantwor-
ten haben, abbauen.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann könnte man ja damit anfangen, auf die Mövenpick-Subvention zu verzichten?)


Schließlich haben wir eine Verantwortung gegenüber
den kommenden Generationen.

Ich bin auf die Haushaltsberatungen 2011 gespannt.


(Klaus Hagemann [SPD]: Ich auch! – Bettina Hagedorn [SPD]: Wir hätten doch schon 2010 eine geringere Verschuldung herbeiführen können!)


Macht es bitte nicht wieder so wie beim letzten Mal. Bei
den letzten Haushaltsberatungen habt ihr einerseits über
die hohe Verschuldung, die wir von Steinbrück über-
nommen haben, gejammert, uns aber andererseits einen
Erhöhungsantrag nach dem anderen präsentiert.


(Caren Marks [SPD]: Lächerlich!)


Das läuft nicht. Das lassen wir euch nicht durchgehen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1704308200

Das Wort hat nun Dagmar Ziegler für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Dagmar Ziegler (SPD):
Rede ID: ID1704308300

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Sehr geehrter Herr Koppelin, dass Sie
nicht verstanden haben, warum diese Aktuelle Stunde
beantragt worden ist, habe ich nach Ihrem Redebeitrag
wiederum sehr gut verstanden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Das wiederum habe ich jetzt nicht verstanden! – Gegenruf des Abg. Florian Toncar [FDP]: Das war auch nicht zu verstehen!)


Der Streit in Union und FDP


(Florian Toncar [FDP]: Was für ein Streit? Es gibt keinen Streit!)


um Kürzungen bei der Bildung und den Familien


(Florian Toncar [FDP]: Da gibt es keinen Streit!)

hat eines sehr deutlich gemacht: dass die Koalition, die
Bundesregierung und die Bundeskanzlerin das Wort
„Bildungsrepublik“ aus ihrem Wortschatz streichen soll-
ten. Herr Kollege Kampeter, natürlich ist uns allen klar,
dass wir in den öffentlichen Haushalten erhebliche Kon-
solidierungsbemühungen walten lassen müssen; das ist
nicht die Frage. Aber es gibt mindestens zwei Dinge, die
wir und die Menschen im Lande Ihnen nicht abnehmen
und die einfach nicht hinnehmbar sind.

Erstens. Es kann nicht sein, dass die Bundesregierung
den Menschen ein halbes Jahr lang das Märchen erzählt,
geringere Steuern und bessere Bildung würden nahtlos
zueinanderpassen, nur um eine Landtagswahl zu über-
stehen. Das war versuchter Wahlbetrug. Aber es war
eben nur versuchter Wahlbetrug; denn die Menschen ha-
ben es gemerkt und Sie dafür in NRW abgestraft.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD] – Gisela Piltz [FDP]: Wo der Straftatbestand steht, würde ich gerne mal sehen!)


Zweitens. Niemand kann verstehen, dass ausgerech-
net die beiden Zukunftsbereiche Bildung und Familie
von den Koalitionären als Erstes genannt werden, wenn
es um Einsparungen geht.


(Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Das stimmt doch gar nicht!)


Es kann natürlich sein, dass Sie mit verteilten Rollen
spielen. Heute Morgen wurden die CDU-Minister-
präsidenten und die CDU-Politiker in Ihren Reihen ja als
C-Promis abgestempelt.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Oh ja! Zu Recht!)


Es mag sein, dass Sie sich gegenseitig nicht mehr ernst
nehmen. Aber wir nehmen das, was Sie sagen, sehr
ernst.


(Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Das ist gut!)


Deshalb machen wir uns große Sorgen. Schauen Sie
nach Hessen, schauen Sie nach Bayern, schauen Sie
nach Hamburg: Überall, wo die Union regiert, erleben
wir Abrissarbeiten an der Bildungsrepublik.


(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Hallo? Waren Sie schon mal in Berlin oder in Bremen? Sie sind wirklich auf einem Auge blind! Vielleicht auch auf zwei!)


Die Süddeutsche Zeitung hat vorgestern sehr treffend
analysiert – ich zitiere –:

Roland Koch ist, bildungspolitisch betrachtet, ein
Intensivtäter. Schulen und Hochschulen sind vor
ihm nicht sicher. … wann immer es um große,
wichtige Vorhaben in der Bildungspolitik geht,
funkt Koch auch bundespolitisch dazwischen.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ein Quatsch!)


Das Schlimme ist: Herr Koch ist in der Union kein Ein-
zelfall. Ich könnte auch Herrn Tillich aus Sachsen, den
haushaltspolitischen Sprecher der CDU/CSU-Bundes-
tagsfraktion, Herrn Barthle, oder Ihren Generalsekretär,





Dagmar Ziegler


(A) (C)



(D)(B)

Herrn Gröhe, zitieren. Eines ist sicher: Sie haben die
Botschaft der Wählerinnen und Wähler vom Wahlsonn-
tag in NRW nicht kapiert.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Ich sage es in aller Deutlichkeit: Weder die Bundes-
kanzlerin noch die Bundesbildungsministerin noch die
Bundesfamilienministerin haben bislang Klartext gere-
det, ob es bei den konkreten Verabredungen für die Be-
reiche Bildung und Kinderbetreuung bleibt.


(Caren Marks [SPD]: Im Gegenteil! Schröder bietet an, dass bei ihr gekürzt werden kann!)


Vage Beteuerungen, dass Bildung ein Schwerpunkt blei-
ben soll, sind weder glaubwürdig noch konkret genug.
Die Menschen haben ein Recht auf klare Ansagen. Wir
erwarten von einer Bundesregierung, dass sie führt. Wir
erwarten von Ministerinnen, dass sie führen; so sieht es
der Eid auf das Ministeramt vor.

Wenn Frau Schröder sagt, dass der Rechtsanspruch
auf die U-3-Betreuung ab 2013 kommt, dann sagt sie
nichts Neues. Das hat nichts mit ihrer Amtsausführung
zu tun; das ist schon Gesetz. Ich erwarte aber, dass sie
Antworten auf offene Fragen gibt: Wie werden die Men-
schen für die Kita-Betreuung qualifiziert?


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Wie werden Erzieherinnen und Erzieher herangeholt?
– 40 000 Erzieherinnen und Erzieher fehlen. – Wo blei-
ben die Gelder für die Kommunen?


(Oliver Luksic [FDP]: Wer soll das bezahlen?)


Erstens ist der Bedarf mit dem Zielwert, der zugrunde
gelegt worden ist – eine Betreuungsquote von 32 bis
35 Prozent –, nicht gedeckt. Zweitens sind die Voraus-
setzungen nicht gegeben, den Rechtsanspruch zu erfül-
len. Drittens frage ich: Wo bleibt die Auseinanderset-
zung zwischen den Ministerien über diese Themen, über
die Frage, wie die Finanzausstattung von Kommunen,
Bund und Ländern neu geordnet werden kann, wenn sol-
che Zukunftsinvestitionen nicht mehr mit den zur Verfü-
gung stehenden Mitteln getätigt werden können?


(Oliver Luksic [FDP]: Das hätte die SPD doch jahrelang machen können!)


All das erwarte ich von der Amtsausübung einer Minis-
terin; all das wird versäumt. Man sagt: Der Rechtsan-
spruch kommt, aber die Verantwortung überlassen wir
anderen. So darf eine Bundesregierung, wie wir sie uns
vorstellen, wie wir sie in diesem Land brauchen, nicht
handeln.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte die Position unserer Fraktion anhand von
drei Punkten deutlich machen:
Erstens. Wir erwarten – Frau Künast hat das bereits
gesagt –, dass es beim dritten Bildungsgipfel Anfang
Juni endlich zu verbindlichen Verabredungen zwischen
Bund und Ländern zum 10-Prozent-Ziel kommt. Das
heißt konkret: Ab 2015 müssen zusätzliche Bildungsauf-
wendungen in Höhe von mindestens 13 Milliarden Euro
getätigt werden. Der Anstieg der Ausgaben darf nicht
zeitlich gestreckt werden, sondern muss ab 2015 ver-
bindlich umgesetzt werden.

Zweitens. Der Bildungsgipfel muss ein Infrastruktur-
gipfel werden. Je knapper das Geld ist, umso unverant-
wortlicher wäre es, das Geld in sinnlosen Projekten zu
verbrennen, die keine nachhaltige Wirkung in Form von
besserer Bildung und mehr Chancengleichheit erzielen.
Das Geld muss in den Ausbau der Kitas und Ganztags-
schulen fließen. Der Lehrpakt für die Hochschulen muss
solide ausgestattet werden. Das Geld darf aber nicht in
ungerechte Stipendienprogramme, nicht in wirkungslose
Bildungsbündnisse und schon gar nicht in ein bildungs-
politisch völlig kontraproduktives Betreuungsgeld flie-
ßen.


(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Bitte verschonen Sie mich mit den Floskeln!)


Hier haben Sie Einsparungsmöglichkeiten. Nutzen Sie
diese!

Drittens. Politische Verantwortung setzt Gestaltungs-
willen voraus. Es wäre wirklich unverantwortlich,
gesellschaftspolitische Gestaltungsansprüche aufgrund
scheinbarer Sachzwänge aufzugeben. Wir haben schon
im vergangenen Jahr einen Bildungssoli gefordert. Den-
ken Sie noch einmal in aller Ernsthaftigkeit darüber
nach! Einen Aufschlag auf die Steuer bei sehr hohen
Einkommen könnte man den Menschen in diesem Land
vermitteln, nachdem Sie die Hoteliers entlastet haben.


(Beifall bei der SPD)


Die Menschen haben vor allen Dingen ein Recht da-
rauf, von der Bundeskanzlerin zu erfahren, wofür sie
einsteht, wofür sie in den eigenen Reihen kämpft. Sie hat
es in den vergangenen Wochen und Monaten bei zentra-
len steuer- und finanzpolitischen Fragen nicht geschafft,
die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung herzustel-
len. Genauso ratlos und kraftlos agiert sie in der Bil-
dungspolitik.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1704308400

Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.


Dagmar Ziegler (SPD):
Rede ID: ID1704308500

Hier ist sie von den eigenen Ministerpräsidenten ge-

trieben.

Wenn der dritte Bildungsgipfel kein Flop werden soll,
dann sollte die Bundeskanzlerin – das rate ich ihr – eine
Reise durch das Land machen und in Dresden, Stuttgart,
München und Wiesbaden erklären, wie es weitergehen
soll und was sie wirklich von einer Bildungsrepublik
Deutschland hält.

Danke.





Dagmar Ziegler


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1704308600

Das Wort hat nun Michael Luther für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Michael Luther (CDU):
Rede ID: ID1704308700

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich finde das Thema dieser Aktuellen Stunde
schon sehr interessant.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Das stimmt!)


Ich finde auch ganz interessant, wie sehr sich die Oppo-
sition um das Thema Haushaltskonsolidierung kümmert.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Wenn Sie es schon nicht tun!)


Es ist völlig klar: Die Neuverschuldung ist zu hoch.
Davon müssen wir herunter. Die Ursache dafür, warum
wir in diesem Jahr 80 Milliarden Euro Neuverschuldung
im Haushalt haben, ist klar: Das liegt an der Finanz- und
Wirtschaftskrise.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Und woran liegt die? – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach nee! Eine Milliarde für Mövenpick!)


Wenn wir sie nicht gehabt hätten, wären wir hier schon
wesentlich weiter. Nach der mittelfristigen Finanzpla-
nung wären wir jetzt bereits bei null. Wir mussten han-
deln – meines Erachtens ist das allen im Hause klar –,
um die schwierige Zeit zu überbrücken. Aber es ist auch
klar, dass wir die Neuverschuldung senken müssen.

Ich bin froh, dass es in der letzten Legislaturperiode
in der Großen Koalition gelungen ist – ich sage einmal:
auf Drängen der Union –, die Schuldenbremse ins
Grundgesetz aufzunehmen;


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Wohl wahr!)


denn gerade beim ersten Redner


(Zuruf von der LINKEN: Der war sehr gut!)


habe ich heute wieder gemerkt, dass es zwar sehr schön
ist, staatliche Leistungen zu versprechen – das ist eine
wunderbare Sache; mir fällt auch viel ein –, aber natür-
lich schlecht, wenn das Ganze schuldenfinanziert ist.


(Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Ist es doch nicht! – Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Griechenland lässt grüßen!)


Eine Schuldenfinanzierung geht auf Dauer nicht; denn
das schränkt unseren Handlungsspielraum für die Zu-
kunft ein. Diesen Handlungsspielraum brauchen wir je-
doch, und deswegen brauchen wir eine Disziplinierung.
Ich bin deshalb froh, dass wir die Schuldenbremse ha-
ben.
Haushaltskonsolidierung ist kein Selbstzweck, son-
dern für mich das Gebot der Stunde. Ich will es an dieser
Stelle einmal klar sagen, weil das manchmal in der Öf-
fentlichkeit falsch ankommt: Dies liegt weder an der
Griechenland-Hilfe noch an dem Stabilisierungsschirm
für den Euro. Wir müssen in Deutschland den Haushalt
sanieren, weil wir Deutschland zukunftsfähig gestalten
müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Also ran an die Einnahmeseite!)


Ich will an dieser Stelle auf eine Aussage von Herrn
Steinmeier eingehen, die mich gestern aufgeregt hat. Er
hat das Zitat „über die Verhältnisse gelebt“ mit der Frage
verknüpft, ob der Wachmann oder die Verkäuferin etwa
zu viel verdiene. Nein, es ist genau andersherum. Der
Wachmann und die Verkäuferin sind diejenigen, die ar-
beiten und die Steuern zahlen.


(Caren Marks [SPD]: Genau das hat er gesagt! Das ist ja unglaublich, wie Sie den Leuten das Wort im Munde herumdrehen!)


Sie haben einen Anspruch darauf, dass wir als Deutscher
Bundestag, dass wir als Staat die Steuergelder, die wir
von ihnen bekommen, vernünftig und verantwortlich
ausgeben,


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Die Rede von Herrn Steinmeier war so schrecklich, die sollte man nicht zitieren!)


und zwar nur so viel, wie wir einnehmen.

Herr Kampeter hat erklärt, wie der Zeitplan bis zum
Sommer aussieht, bis der Haushalt vorgelegt werden
wird, und wie sich die Konsolidierungsziele darin wider-
spiegeln werden. Es ist natürlich klar, dass in dieser Zeit
auch darüber geredet wird, wo man einsparen könnte. In
diesem Zusammenhang wird manches Gute und man-
ches nicht so Gute gesagt. Der eine sagt, wo gespart wer-
den soll. Roland Koch hat etwas dazu gesagt; dies teile
ich nicht.


(Caren Marks [SPD]: Was sagen Sie?)


Aber es gibt eine viel größere Anzahl von Leuten, die sa-
gen: Sparen müssen wir, aber nicht bei mir. – Das wird
uns nicht weiterführen. Ich halte es für viel besser, ein
Gesamtkonzept vorzulegen, in dem dann steht, was alles
der Reihe nach gemacht werden wird.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Wann denn? Das hätte eigentlich schon zum letzten Haushalt vorliegen müssen! – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben doch noch nicht einmal eine mittelfristige Finanzplanung hingekriegt!)


Es wird vorliegen, wenn die Bundesregierung den Haus-
halt vorlegt. Dann lohnt es sich auch, intensiv darüber zu
diskutieren. Wir werden dann in den Beratungen im
Haushaltsausschuss und hier im Deutschen Bundestag
genügend Zeit haben, darüber zu reden, ob das, was vor-
geschlagen worden ist, vernünftig und gerecht ist, oder





Dr. Michael Luther


(A) (C)



(D)(B)

ob wir an der einen oder anderen Stelle andere Steue-
rungsmechanismen einbauen sollten.


(Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Ich fürchte, ich kenne das Ergebnis jetzt schon!)


Im Übrigen sage ich noch eines: Es lohnt sich, zu spa-
ren. In Sachsen – ich komme aus Sachsen – gibt es seit
1990 Sparhaushalte. Das Ergebnis ist Folgendes: Das,
was wir heute in Sachsen nicht an Zinsen zahlen, weil
wir dafür keine Schulden gemacht haben, ist genauso
viel wie das, was wir für Kinderbetreuung, kommunalen
Straßenbau und regionale Kulturförderung ausgeben. Im
Verhältnis zum Beispiel zu Thüringen oder Sachsen-An-
halt bezahlen wir, wenn ich es umrechne, in diesem Jahr
knapp 1 Milliarde Euro nicht für Zinsen. Das zeigt, dass
es sich lohnt, zu sparen, dass man sich damit nicht die
Zukunft verbaut, sondern handlungsfähig bleibt.


(Beifall bei der CDU/CSU – Bettina Hagedorn [SPD]: Warum hat die Bundesregierung das nicht beherzigt?)


Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ein Letz-
tes sagen. Ministerpräsident Tillich hat gesagt: Mehr
Geld macht nicht klüger. Er hat nicht gesagt, dass er im
Bildungsbereich kürzen will. Ich will nur eine Wahrheit
sagen, die ebenfalls aus Sachsen stammt: Sachsens Bil-
dungshaushalt ist im Vergleich zu denen anderer Bun-
desländer eher gering. Das Ergebnis der PISA-Studie ist
spitze. – Das zeigt, dass viel Geld nicht immer dazu
führt, dass etwas besser wird; vielmehr muss man das
Geld klug ausgeben.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1704308800

Das Wort hat nun Klaus Hagemann für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Klaus Hagemann (SPD):
Rede ID: ID1704308900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Wenige Tage nach der Wahl
in Nordrhein-Westfalen ist der Streit in der Koalition
über die Haushaltskonsolidierung öffentlich geworden.
Es werden sogar aus der eigenen Partei Rücktrittsforde-
rungen gestellt.


(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Wo haben Sie das denn gehört?)


In der nächsten Zeit wird es also interessant werden.

Der Druck innerhalb der Koalition ist erheblich. Die
Reden der Kollegen Kampeter und Luther haben ge-
zeigt, dass Sie kein Konzept haben. Sie haben zwar wun-
derschöne blumige Reden gehalten, haben aber nicht
konkret gesagt, an welchen Stellen gespart werden muss.
Davon war nichts zu hören.


(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Dann haben Sie nicht zugehört!)

Herr Kollege Koppelin, Sie haben nicht einmal das Libe-
rale Sparbuch erwähnt. Es scheint schon im Papierkorb
verschwunden zu sein, weil es eh nicht zu verwirklichen
ist.


(Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: So? Es ist zu 50 Prozent umgesetzt!)


Es geht jetzt darum, einmal die Zahlen zu beleuchten.
Sie, diese Koalition hat die höchste Nettokreditauf-
nahme beschlossen, obwohl es Einsparungsmöglichkei-
ten gab, die Sie aus taktischen Gründen nicht genutzt ha-
ben, damit man, Herr Kollege Koppelin, wenn die
Schuldenbremse greift, entsprechend kürzen kann. Die
Steuersätze für Hoteliers und entfernte Erben hat man
gesenkt, obwohl vorauszusehen war, dass die Steuerein-
nahmen erheblich niedriger ausfallen werden. Dafür
brauchte man nicht den 6. Mai 2010 abzuwarten, als die
Steuerschätzung bekanntgegeben wurde. Herr Kollege
Koppelin, bis 2014 wird es gesamtstaatlich mindestens
40 Milliarden Euro an Steuereinnahmen weniger geben.
Trotzdem wird immer noch von Steuersenkungen ge-
sprochen. Ihre Wahlversprechen werden nicht umge-
setzt; sie werden reihenweise eingesammelt. Das müssen
Sie vor Ihren Wählerinnen und Wählern verantworten.

Da kein Konzept vorgestellt wurde, möchte ich fol-
gende Fragen stellen: Wie viel wird im Verteidigungs-
ressort eingespart? Heute wurde eine Riesensumme in
der Presse genannt. Wie viel wird bei der Verkehrsinfra-
struktur, also im Verkehrsbereich gespart? Diesbezüglich
wurden Hunderte Millionen Euro genannt. Herr Weise
von der Bundesagentur für Arbeit hat gestern in der
Haushaltsausschusssitzung gesagt: Man kann im Sozial-
und Arbeitsbereich nicht einsparen, weil sehr viele
Menschen aus dem Regelungsbereich des Sozialgesetz-
buches III in den Regelungsbereich des Sozialgesetzbu-
ches II fallen – die Kollegin Bettina Hagedorn hat darauf
hingewiesen –, also Hartz IV empfangen werden. Des-
wegen sind an dieser Stelle erhebliche Mittel notwendig.

In Bezug auf die Diskussion innerhalb der Union ist
noch Herr Koch zu erwähnen. Die Welt, eine Zeitung,
die nicht gerade der Hort der Sozialdemokratie ist, titelt:
„Geld für Bildung wird zum Zankapfel der Union“. Die
Kakofonie in Ihrer Partei ist groß. Ich hoffe, dass Sie
bald Lösungen finden.

Die Kürzungen im Bildungsbereich sind genannt
worden. Hier ist nicht nur Herr Koch in Hessen zu er-
wähnen, der die Mittel für den Wissenschafts- und Bil-
dungsbereich um 75 Millionen Euro gekürzt hat. Auch
in Niedersachsen und Schleswig-Holstein werden die
beitragsfreien Kindergartenjahre gestrichen. Leider ist
auch Hamburg zu nennen, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen von den Grünen und von der Union.

Auch bei den Rechtsansprüchen auf einen Krippen-
platz ist nicht genügend Vorsorge getroffen worden. Es
stellt sich die Frage, warum man die Mittel gerade im
Bereich der Bildung kürzt. Ich verstehe, dass unser Bun-
despräsident über die Äußerungen von Herrn Koch und
anderen aus der Union entsetzt ist. Seine Haltung ist
durch Pressemeldungen deutlich geworden.





Klaus Hagemann


(A) (C)



(D)

Ich frage mich sowieso, wie das 10-Prozent-Ziel im
Bildungsbereich überhaupt erreicht werden soll. Gilt das
überhaupt noch? Diese Frage richtet sich an den Vertre-
ter des Bundesministeriums für Bildung und Forschung.
Gilt dieses Ziel noch, wenn die Kommunen und die Län-
der einsparen müssen und auch der Bund entsprechend
vorgeht?


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Das ist die Frage!)


Das sind eine Menge Fragen, auf die es keine Antworten
gibt. Sie hätten für eine ausreichende Einnahmebasis
sorgen können.


(Beifall bei der SPD – Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Sie setzen lieber das Bruttoinlandsprodukt herunter!)


Gerade in den letzten zwei Jahren hat sich gezeigt,
dass man den Staat nicht verteufeln soll. Man muss viel-
mehr dafür sorgen, dass der Staat seine Pflicht tun und
Ausgleich schaffen kann. Ich möchte das Zitat von
Frank-Walter Steinmeier, das Herr Luther eben ange-
sprochen hat,


(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Das waren doch kluge Worte!)


einmal aufgreifen. Herr Steinmeier hat gefragt, wer ei-
gentlich mit „wir“ gemeint ist, wenn gesagt wird: „Wir
müssen sparen; wir haben über die Verhältnisse gelebt“.
Ist es der Schüler oder der Student,


(Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Oder der Abgeordnete Hagemann?)


der über seine Verhältnisse gelebt hat, der eine starke
Unterstützung, eine gute Schule oder eine gute Universi-
tät braucht? Nein, hier sind staatliche Mittel gefordert,
damit wir die Zukunft unserer Kinder gewährleisten
können. Dazu gehört es auch, die Einnahmeseite im
Blick zu behalten, lieber Kollege Fischer, und diejenigen
zur Kasse zu bitten, die sich durch die Finanz- und Wirt-
schaftskrise eine goldene Nase verdient haben.

Morgen bei der Abstimmung über das Euro-Hilfs-
paket haben wir die Möglichkeit, eine Finanzmarkttrans-
aktionsteuer auf den Weg zu bringen.


(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Sie verstehen nicht einmal das Wort! – Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Du hast noch zwei Minuten Zeit! Mach doch zwei Vorschläge, wo du sparen willst!)


Sie bringt nötige Einnahmen, um für Bildung und For-
schung mehr zu tun, als dies bisher geschah. Sie bietet
die Möglichkeit, die Versprechen einzuhalten, die ge-
macht worden sind. Die nächste Chance gibt es beim
Bildungsgipfel. Ich hoffe, dass keine schweren Wolken
über dem Gipfel aufziehen werden, sondern dass die Bil-
dungssonne scheinen wird.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1704309000

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.

Klaus Hagemann (SPD):
Rede ID: ID1704309100

Ich komme zum Ende. – Ihre Glaubwürdigkeit steht

auf dem Spiel, lieber Herr Kollege Schirmbeck. Sie steht
zur Disposition. Tragen Sie dazu bei, dass sie nicht be-
schädigt wird.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1704309200

Das Wort hat nun der Kollege Florian Toncar für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Florian Toncar (FDP):
Rede ID: ID1704309300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Debatte ist zu dem geworden, was sie werden musste:
eine routinierte Auseinandersetzung, bei der es um
kleine politische Geländegewinne geht, und das in einer
Woche, in der wir uns alle zusammen etwas anders ver-
halten sollten, als es in dieser Debatte der Fall ist.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zurufe von der SPD: Oh! – Bettina Hagedorn [SPD]: Wie wäre es mit einem Spiegel? – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Außer Sie hätten die Aktuelle Stunde beantragt!)


Was sind die Fakten? Der hessische Ministerpräsident
gibt ein Interview. Dieses Interview wird auf einen Satz
reduziert. Daraus wird ein Streit der Koalition konstru-
iert, den es in dieser Form nicht gibt.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mir kommen die Tränen! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch Sie müssen das Niveau einhalten, das Sie einklagen!)


Die FDP-Fraktion ist wie viele andere der Meinung, dass
es nicht sinnvoll ist, in dieser Situation ausgerechnet die
Bildungspolitik herauszugreifen, um an die Haushalts-
konsolidierung heranzugehen.


(Beifall bei der FDP – Zuruf des Abg. Steffen Bockhahn [DIE LINKE])


– Das ist keine Überraschung, Herr Bockhahn, das wis-
sen Sie genau.


(Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Nein!)


Wir sollten etwas redlicher diskutieren. Frau Künast
und viele andere haben unter anderem die Rekordneu-
verschuldung, die unter dieser Koalition entstanden ist,
angeprangert. Ich sage Ihnen: Der Schuldenstand dieser
Bundesrepublik ist ungefähr seit 1970 von allen Bundes-
regierungen kontinuierlich – manchmal etwas schneller,
manchmal etwas langsamer – aufgebaut worden. Es gibt
hier niemanden, der frei von Mitverantwortung ist.


(Michael Leutert [DIE LINKE]: Doch! Wir! – Gegenruf des Abg. Andreas Mattfeldt [CDU/ CSU]: Das war jetzt gefährlich!)


(B)






Florian Toncar


(A) (C)



(D)(B)

– Sie sind die Allerletzten, die frei von Verantwortung
sind. Das kann man festhalten.


(Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Wir haben eure DDR-Schulden übernommen! – Gegenruf des Abg. Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Das ist nichts gegen eure Neuverschuldung in diesem Jahr!)


Wir erleben gerade, was passieren kann, wenn Staaten
so viele Schulden machen, dass sie mit der Refinanzie-
rung nicht mehr zurechtkommen, dass ihnen das Geld
ausgeht, und welche Dramatik und Geschwindigkeit das
annehmen kann. Ich glaube, dass die Folgen von dem,
was wir in Südeuropa zurzeit erleben, für uns in
Deutschland viel weitreichender sein werden, als diese
Debatte es bisher widergespiegelt hat.


(Beifall bei der FDP – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Bedrohen Sie uns jetzt?)


In diesem Thema steckt eine Brisanz und, wenn es
schlecht läuft, auch eine Dynamik, die wir ernst nehmen
müssen. Deswegen müssen wir festhalten: Die Zeiten, in
denen Politiker Wählern versprechen konnten, mehr
Geld auszugeben, als sie einnehmen, sind auf absehbare
Zeit vorbei. Jede Partei, die politisch gestalten möchte,
muss sich daran messen lassen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf des Abg. Steffen Bockhahn [DIE LINKE] – Norbert Barthle [CDU/CSU]: „Alle werden reich“! So dumm ist keiner! – Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir müssen darüber sprechen, dass unser Staatsver-
ständnis ein grundlegend anderes werden muss und dass
der Staat Prioritäten setzen muss. Herr Kollege
Bockhahn, ich weiß nicht, ob es wirklich haltbar und
klug ist und ob Sie damit das Vertrauen der Wählerinnen
und Wähler gewinnen, wenn Sie beispielsweise beantra-
gen – ich beziehe mich auf die aktuellen Anträge zum
Haushalt –, den Einzelplan des Familienministeriums
von ungefähr 6 auf ungefähr 15 Milliarden Euro zu erhö-
hen.


(Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: 17 Milliarden Euro!)


– 17 Milliarden Euro, und Sie sind auch noch stolz da-
rauf.


(Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: Weil es möglich ist!)


Ich glaube, dass die Wählerinnen und Wähler eine an-
dere Art von Politik erwarten. Solche unseriösen Ver-
sprechungen müssten spätestens seit dieser Woche der
Vergangenheit angehören.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Aber Sie jonglieren mit Milliarden innerhalb einer Woche und fragen nicht, woher das Geld kommt!)

Wir müssen uns – das erlebe ich oft in politischen
Diskussionen, Podiumsdiskussionen oder bei Beratun-
gen im Haushaltsausschuss – davon verabschieden,
mehr Geld mit politischer Schwerpunktsetzung gleich-
zusetzen; denn wer mehr Geld gibt bzw. einen Titel er-
höht, tut nicht unbedingt Gutes. Vielleicht sollte man
auch überlegen, wie man mit dem vorhandenen Geld
besser wirtschaften kann, statt die Diskussion immer so
zu führen, dass der, der mehr Geld verspricht – was er
nachher auch einlösen muss –, der Gute bzw. derjenige
ist, der das Thema ernst nimmt.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Genau!)


Wir werden mit Sicherheit im Bundeshaushalt 2011
mit einer Vielzahl von Maßnahmen auf die Situation re-
agieren müssen. Da geht es um die Subventionen.


(Michael Leutert [DIE LINKE]: Zum Beispiel Hotelsubventionen abbauen!)


Wir als FDP sind beispielsweise der Meinung, dass wir
an die Steinkohlesubventionen heran müssen. Wir sind
der Meinung, dass es bei bestimmten steuerlichen Ge-
staltungsmöglichkeiten einen Missbrauch gibt.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zum Beispiel für Hoteliers!)


Ich persönlich habe dies zum Beispiel im Bereich der
Energie- und Stromsteuer erlebt, wo sich Betriebe in
Vergünstigungen hineinbegeben, die ihnen eigentlich
nicht zustehen. Das Thema Subventionen ist ein großer
Komplex, mit dem wir uns beschäftigen werden.


(Zuruf des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


– Herr Trittin, Sie sind doch von der Partei, die auch in
der letzten Woche wieder dafür eingetreten ist, dass man
Investoren im Bereich Solarenergie Traumrenditen ga-
rantiert und das vom Stromkunden bezahlen lässt. Das
Thema Subventionsabbau sollten wir uns also alle auf
die Tagesordnung schreiben, anstatt ständig das Wort im
Munde zu führen und das Gegenteil dessen zu vertreten,
wie Sie das tun.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollten doch Niveau in der Debatte haben! Fangen Sie damit an! – Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir werden uns sicherlich um das Thema Arbeits-
markt kümmern müssen, nicht was das Leistungsniveau,
aber was die Treffsicherheit und die Effizienz von Ein-
gliederungsleistungen und -maßnahmen angeht. Wir
werden uns mit dem Personalbedarf der Bundesagentur
für Arbeit


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sonderverträge!)


und mit dem Thema Bürokratieabbau, womit wir in der
Verwaltung nachhaltig Kosten einsparen könnten, be-
schäftigen müssen.





Florian Toncar


(A) (C)



(D)(B)


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fangen Sie doch im Außenministerium damit an!)


Beispielsweise hat die FDP-Fraktion vorgeschlagen,
die Wohnkosten im ALG-II-Bereich regional differen-
ziert zu pauschalieren, weil da sehr viel Verwaltungsauf-
wand betrieben wird und sehr viele Prozesse geführt
werden. Diese Themen müssen diskutiert werden. Natür-
lich können da unterschiedliche Meinungen vertreten
werden, auch von Mitgliedern der Parteien, die die
Koalition bilden. Es ist völlig verfehlt, jeden Diskus-
sionsprozess sofort als destruktiv oder die Parteien als
zerstritten darzustellen. Dafür sind die Probleme zu
schwierig. Niemand hat heute alles im Kopf – dies sollte
man auch nicht für sich beanspruchen –, was nötig ist,
um aus dieser Lage herauszukommen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Herr Präsident, ich komme zum Schluss.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir als Koalition haben den klaren Vorsatz, die Schul-
denbremse, die es glücklicherweise im Grundgesetz gibt
und die viele im Hause nicht wollten – die Kollegin
Nahles hat das Thema Schuldenmachen als Handlungs-
spielraum bezeichnet; ich kann Ihnen das Zitat geben;
das wollen wir nicht –, einzuhalten. Wir werden das tun,
weil wir wissen und merken, wie wichtig das Thema
Verschuldung für unseren Staat und vor allem auch für
unsere Bürger ist.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Steffen Bockhahn [DIE LINKE]: 80 Milliarden in diesem Jahr! Super Erfolg!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1704309400

Das Wort hat nun Barbara Höll für die Fraktion Die

Linke.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704309500

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir erleben die tiefgreifendste Krise des
Euro-Raums: zunächst den Ausbruch in Griechenland,
inzwischen sind alle Euro-Staaten davon erfasst. Die
FDP hat dessen ungeachtet weiter von Steuersenkungen
gefaselt, die im Klartext nichts anderes als eine weitere
Umverteilung von unten nach oben bedeutet hätten. Ge-
nau das ist der Kern des Stufentarifs. Die Kanzlerin rief
Sie zurück – spät, ich sage: zu spät.

Große Krise! Die Reaktionen der Staaten der Euro-
Zone erfolgten über Nacht und ohne Parlamentsbeteili-
gung. Herr Sanio, Chef der BaFin, erklärte gestern in der
Anhörung des Haushaltsausschusses, ohne die Be-
schlüsse der Nacht hätte er am Montagmorgen nicht auf-
wachen mögen. Dann wäre die Nach-Lehman-Zeit ein
laues Lüftchen gewesen.

Die Bevölkerung hat schlicht und ergreifend Ängste.
Die häufigsten Fragen, die mir derzeit gestellt werden,
egal ob von Bürgerinnen und Bürgern im Wahlkreisbüro
oder von Bekannten, lauten: Wie geht denn das jetzt wei-
ter? Was wird mit meinem bisschen Ersparten? Wo soll
ich denn mit meinem bisschen Geld hin? Wie kann ich
das retten? – Für ein Haus oder so etwas reicht es bei den
allermeisten nicht. Die haben natürlich die Erwartung,
dass die Regierung – dafür ist sie gewählt – jetzt endlich
Antworten gibt, einen Plan hat, damit man das Gefühl
hat, dass sie weiß, was sie tut.


(Zuruf von der CDU/CSU)


Aber Sie agieren nicht, Sie reagieren nur, und das ma-
chen Sie völlig kopflos. Bestenfalls kommt ein Flicken-
teppich dabei heraus, schlimmstenfalls ein Chaos. Das
ist Ihre Art der Krisenbewältigung.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


In der Finanzkrise 2008 wurde hier im Parlament
Hals über Kopf ein Rettungsschirm für die Banken ver-
abschiedet,


(Dr. Michael Luther [CDU/CSU]: Der war gut!)


aber es herrschte Einigkeit im Parlament, dass es not-
wendig ist, ein Konjunkturprogramm aufzulegen, dass
gerade in dieser Situation die öffentliche Hand die Bin-
nennachfrage ankurbeln muss, indem man den Bürgerin-
nen und Bürgern etwas Geld gibt, damit sie kaufen kön-
nen.


(Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Seid Ihr auch für Steuersenkungen?)


Das Konjunkturprogramm war antizyklisches und damit
richtiges Agieren.


(Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Frau Höll ist für Steuersenkungen!)


Jetzt, anderthalb Jahre später, gilt das nicht mehr? Sie
haben hier noch vor Wochen verkündet, wie stolz Sie auf
Ihr Konjunkturprogramm sind, weil es erwiesenermaßen
funktioniert hat.


(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Vielleicht schauen Sie sich einmal die Wirtschaftsdaten an!)


Wir hätten es besser gemacht, wir hätten es umfangrei-
cher gemacht, aber es hat funktioniert. Die Arbeitslosig-
keit ist einigermaßen begrenzt. Es gibt keine Massen-
insolvenzen von Unternehmen.


(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Dank Engagement auf dieser Seite!)


Jetzt gilt das nicht mehr, jetzt brauchen wir das alles
nicht mehr? Jetzt ist das europaweit nicht notwendig?
Nein, Sie haben europaweit Konditionen durchgesetzt,
die krisenverschärfend wirken werden. Das ist schlicht
und ergreifend ein Skandal und stellt Sie in die Ecke;
denn Sie wissen wirklich nicht, was Sie tun.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Klaus Hagemann [SPD])






Dr. Barbara Höll


(A) (C)



(D)(B)

Entweder wollen wir nun konjunkturpolitisch wirken
oder nicht. Was im eigenen Land gilt, sollte auch europa-
weit gelten. Deshalb lautet unser Vorschlag, europaweite
Konjunkturprogramme einzuführen, wobei jedes Land
2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aufbringen sollte.
Das haben wir gestern ausgeführt.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Finanziert vom deutschen Steuerzahler! Na bravo! – Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Da werden sich Ihre kleinen Leute bedanken!)


Jetzt spielen Sie – unter Ausschaltung des Bundesta-
ges – über die Bande, indem Sie sagen, Europa schreibe
uns jetzt vor, dass wir sparen müssen. Nein, Sie wollen
streichen. In Griechenland haben Sie angefangen. Da ha-
ben Sie zum Beispiel die Streichung des Mindestlohnes
bei Jugendlichen verfügt; das wurde einfach durchge-
setzt.


(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Vertauschen Sie nicht Ursache und Wirkung!)


Vor der NRW-Wahl sind Sie zu feige gewesen, zu sagen,
wo Sie streichen wollen. Herr Koch übernimmt nun die
Vorreiterrolle und sagt, bei der Bildung könne man jetzt
streichen. Das ist absolut kurzsichtig. Denn wir wissen:
Investitionen in frühkindliche Bildung, in Bildung im
Kindesalter vor der Einschulung, in Schulen und Hoch-
schulen zahlen sich doppelt und dreifach aus.


(Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Erzählen Sie das einmal dem Berliner Senat!)


Wenn man sie nicht tätigt, schadet man erstens den Kin-
dern und Jugendlichen, vor allem mit Blick auf ihre Zu-
kunft; denn dann fehlt Wissen, das für die Entwicklung
wichtig ist. Zweitens wird es teurer. Sie wissen genau,
dass dadurch eine Vielzahl sozialer Probleme entsteht,
wo wir dann mühsam nachbessern müssen und die wir
nie gelöst bekommen. Das ist eine skandalöse Politik,
die Sie hier lostreten.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir sind uns einig: Für Investitionen in Bildung kann
man Schulden machen. Wir waren gegen diese Schul-
denbremse. Wenn ich mich recht entsinne, besteht die
Möglichkeit, trotz Schuldenbremse Schulden unter an-
derem für Bildung aufzunehmen.

Herr Kampeter – ich sehe ihn gerade nicht – hat vor-
hin großartig verkündet, man müsse in die Struktur des
Bundeshaushaltes schauen. Ja, gerne. Schauen Sie sich
die Zahlen an. Wenn wir heute die Abgaben- und Steuer-
quote des Jahres 2000 hätten, hätten wir fast keine Neu-
verschuldung gebraucht. Das ist die Realität. Schauen
Sie sich die Struktur des Haushaltes an. Sie haben doch
laufend Steuersenkungen verabschiedet. Stichwort Mö-
venpick: rund 1 Milliarde Euro, das haben wir alles in
der Portokasse. So agieren Sie.


(Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Das ist doch Quatsch!)

Machen Sie endlich eine gerechte Steuerpolitik bei
der Einkommensteuer. Setzen Sie die Körperschaftsteuer
bei der Unternehmensteuer wieder hoch; das ist möglich.
Sagen Sie endlich, dass die Reichen und Vermögenden
nun zur Kasse gebeten werden. Eine erneute Erhebung
der Vermögensteuer ist möglich und verfassungskon-
form.


(Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Nehmen wir doch das Geld, das die SED im Ausland hat!)


Durch eine Reform der Erbschaftsteuer könnten wir
mehr Geld einnehmen. Diese Anträge liegen auf dem
Tisch.

Ich bin trotz allem hoffnungsvoll. Ich habe 1997 im
Bundestag die Einführung der Tobin-Steuer gefordert.
Jetzt haben Sie zumindest bekundet, dass Sie es machen
wollen. Sie wissen, dass eine Einführung der Finanz-
markttransaktionssteuer in Höhe von 0,05 Prozent euro-
paweit etwa 27 Milliarden Euro bringen würde.


(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Eine Mär!)


Das sind Möglichkeiten. Dort ist Geld vorhanden. Des-
halb lassen Sie uns endlich handeln und zeigen Sie, ob
Sie noch einen Kopf und einen Plan haben oder nicht.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1704309600

Das Wort hat nun Priska Hinz für die Fraktion Bünd-

nis 90/Die Grünen.

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr
Koppelin, nachdem Sie acht Monate gebraucht haben,
um die finanzpolitische Realität in diesem Land wahrzu-
nehmen, wundert es mich nicht, dass Sie es nicht schaf-
fen, von Montag bis heute zu verstehen, warum diese
Aktuelle Stunde beantragt wurde.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Sie haben gesagt, dass viele beim Anhäufen des Schul-
denbergs mitgemacht haben. Stimmt, das kann ich Ihnen
nur zurückgeben. Die höchste Verschuldung ist mit dem
Haushalt 2010 eingetreten, an dem die FDP beteiligt
war. Durch Ihr Schuldenbeschleunigungsgesetz haben
Sie die öffentlichen Kassen zusätzlich belastet, den
Bund um 4 Milliarden Euro, Länder und Kommunen um
4 Milliarden Euro. Das ist nach acht Monaten Regie-
rungszeit die Bilanz der FDP in Sachen Schuldenberg.
Sie sollten einmal in den Spiegel schauen!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Es war falsch, die Haushaltskonsolidierung auf die Zeit
nach der NRW-Wahl zu verschieben. Das war nicht nur
inhaltlich falsch, sondern auch taktisch. Aber Sie haben





Priska Hinz (Herborn)



(A) (C)



(D)(B)

ja die Rechnung dafür bekommen, sowohl FDP als auch
CDU. Wir haben überhaupt kein Mitleid mit Ihnen.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt! – Florian Toncar [FDP]: Das musste jetzt noch einmal gesagt werden!)


Ich habe ja gedacht, dass Sie die Zeit bis Juni nutzen,
um sich zu orientieren, um zu überlegen, was Sie nach
der NRW-Wahl machen wollen.


(Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Ich rufe Sie nachher mal an!)


Aber nicht einmal das haben Sie geschafft. Jetzt haben
Sie folgendes Problem: Es gibt jede Menge Sparvor-
schläge aus Ihren Reihen, die sich aber widersprechen
und sich diametral gegenüberstehen. Herr Meister von
der CDU fordert, den Bundeszuschuss an die gesetz-
lichen Krankenkassen einzufrieren. Frau Flach und Herr
Spahn sind umgehend dagegen. Die Unionsministerprä-
sidenten Koch und Wulff bringen Steuererhöhungen ins
Gespräch. Seehofer sagt, dann würde die Hütte brennen.
Herr Barthle will eine Pkw-Maut einführen. Fraktions-
experten der Union, die für Verkehr zuständig sind,
zeigen sich skeptisch. Was gilt denn nun eigentlich? Sie
haben wirklich acht Monate verschlafen. Das zeigt nicht
nur der Bundeshaushalt 2010, das zeigt auch die jetzige
Debatte. Sie haben sich nicht vorbereitet. Sie sind völlig
orientierungslos, und das schadet diesem Land.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Es ist ein einmaliger Vorgang, dass ein Ministerpräsi-
dent aus den eigenen Reihen im Zuge der Haushaltskon-
solidierung ausgerechnet zum Sparen im Bereich Kin-
derbetreuung und Bildung auffordert, und das, obwohl
Frau Merkel die Bildungsrepublik ausgerufen hat. Also
vom Schwerpunkt zum Sparpunkt! Frau Merkel kann
man da nur zurufen: Wer nicht führt, der wird vorge-
führt, in diesem Fall von Herrn Koch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Den Angriff auf die Bundeskanzlerin können wir von
der Opposition, als Grüne, besonders gut verschmerzen.
Das tut uns nicht weh. Aber es geht um die Zukunftsfä-
higkeit des Landes. Das ist ein Angriff auf die Zukunfts-
fähigkeit des Landes. Wer an der Bildung spart, hat nicht
kapiert, worauf es in diesem Land ankommt.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Wir brauchen besser ausgebildete junge Menschen. Wir
brauchen weniger Schulabbrecher. Wir brauchen Kin-
derbetreuungsplätze, damit die frühe Förderung gelingt.
Heute Morgen haben wir über Aus- und Weiterbildung
diskutiert. Die Hochschulen brauchen mehr Studien-
plätze und nicht ein Sparpaket, wie es in Hessen Herr
Koch ausgerufen hat. All das brauchen wir, damit wir
tatsächlich zukunftsfähig sind, damit die Wirtschaft aus
der Wirtschaftskrise gut herausfindet, damit wir innova-
tiv sind. Das entlastet den Haushalt auf Dauer. Aber das
haben Sie nicht verstanden, und das ist das Problem die-
ser Regierung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir möchten gerne wissen, wie es mit dem 12-Mil-
liarden-Euro-Programm weitergeht. Sie haben groß ge-
tönt, dass es keine Sparrunden in Sachen Bildung geben
wird. Aber ob, wie geplant, zusätzlich investiert wird, ist
noch die Frage. Insofern ist der Haushalt eine Nagel-
probe. Darauf werden wir achten.

Wir Grüne haben Ihnen schon bei den letzten Haus-
haltsberatungen Vorschläge unterbreitet, wie es gehen
kann. Wir wollen den Haushalt konsolidieren, ja. Wir
wollen die Schulden senken, ja. Wir wollen aber auch
investieren, wo das notwendig ist, ja. Wir Grüne haben
gezeigt, wie das gehen kann. Würden Sie unseren Haus-
haltsvorschlägen folgen, könnten wir zusätzlich über
5 Milliarden Euro in den Klimaschutz investieren, über
700 Millionen Euro mehr in die Bildung investieren und
gleichzeitig 7 Milliarden Euro weniger Schulden ma-
chen.


(Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Mit Luftbuchungen!)


Auch darauf kommt es an; das haben wir doch jetzt in
der Euro-Debatte gesehen. Wir wollen die Einnahme-
basis verbreitern und das Steuersystem gerechter gestal-
ten.


(Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Erzählen Sie mal!)


So sieht intelligentes Sparen aus.


(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Intelligenz sieht anders aus!)


Der grüne Kompass zeigt in die Zukunft, während Sie
orientierungslos im Land herumirren. Wir brauchen eine
andere Gestaltung. Wir hoffen, dass dieser grüne Kom-
pass auch Ihnen irgendwann den Weg zeigen wird.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Wie ein Brummkreisel!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1704309700

Das Wort hat nun Jürgen Herrmann für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Jürgen Herrmann (CDU):
Rede ID: ID1704309800

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, je-
der hat dieses Sprichwort schon einmal gehört: Geld
regiert die Welt. Auch wenn ich dem nicht vorbehaltlos
zustimmen kann, so kann ich mich des Eindrucks nicht
erwehren, dass vieles daran stimmt.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Bei euch merkt man es aber!)






Jürgen Herrmann


(A) (C)



(D)(B)

– Bei Ihnen regiert das Geld auch Ihr politisches Han-
deln, nur in eine Richtung, die uns weiter vor die Wand
fahren lässt.


(Lachen bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Sie haben uns vor die Wand gefahren!)


Ihre Umverteilungsmentalität führt zu nichts außer zu
neuen Schulden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der LINKEN)


Wir haben in den letzten Wochen erleben müssen,
dass die Märkte unberechenbar sind. Mit moderner
Technik lassen sich von einer Sekunde auf die andere
Milliardenbeträge verschieben. Die Finanzkrise, über die
wir seit Monaten diskutieren, ist sicherlich auch ein
Ergebnis davon.

Durch die Konjunkturpakete, das Wachstumsbe-
schleunigungsgesetz, die finanziellen Hilfen für Grie-
chenland und Gewährleistungen im Rahmen eines euro-
päischen Finanzstabilisierungsprogramms haben wir
Maßnahmen auf den Weg gebracht. Ich bin mir darüber
im Klaren, dass diese Stabilisierungsmaßnahmen Geld
kosten; dieses Geld ist aber gut angelegt.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Zur Stabilisierung von Hotels, oder wie meinen Sie das?)


Herr Bockhahn und Frau Dr. Höll, es ist richtig, über
Konjunkturpakete zu sprechen; aber Sie sollten nicht,
wie wir das bei den Beratungen über den Haushaltsplan
2010 erlebt haben, Ausgabensteigerungen fordern, die
zu nichts führen, außer dass sie ein noch größeres Aus-
gabenloch hinterlassen.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Und wie weiter im Euro-Raum?)


Ich bin äußerst zufrieden damit, dass sich die Kanzle-
rin in ihrer Regierungserklärung ganz deutlich dazu
geäußert hat, was sie von den anderen Mitgliedstaaten
der Europäischen Union fordert. Sie hat auch gesagt,
dass auch wir in Deutschland bei der Haushaltskonsoli-
dierung entscheidende Dinge voranbringen müssen.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Damit hätten Sie schon 2010 anfangen können!)


Ich bin mir sicher, dass es in der Bevölkerung nicht
für alle Dinge Verständnis gibt – wir sind zweifellos
gefordert –; aber wir werden diese Dinge auf den Weg
bringen. Die Haushälter, aber auch die anderen Mitglie-
der der Koalition sind sich der Erfordernisse und der
Auswirkungen durchaus bewusst. Für den Haushalt
2010 hatten wir einen Regierungsansatz von mehr als
325 Milliarden Euro. Wir haben bewiesen, dass wir spa-
ren können: In den Haushaltsberatungen haben wir mehr
als 5 Milliarden Euro davon gespart. Das war ein erster
Schritt, die Weichen richtig zu stellen.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Sie haben die Arbeitslosenquote abgesenkt, mehr nicht! Gespart haben Sie nicht!)


– Ich weiß, dass Ihnen das nicht gefällt.

(Bettina Hagedorn [SPD]: Was Sie gesagt haben, ist nicht wahr!)


Das hat auf der Seite der Fachpolitiker natürlich keinen
Jubel hervorgerufen; aber wir sind auf dem richtigen
Weg und werden diesen Weg in den nächsten Beratun-
gen fortsetzen.

Wir haben eine Schuldenbremse in das Grundgesetz
eingebaut. Diese Schuldenbremse wird erstmals 2011
Wirkung zeigen. Strukturelle Einsparungen sind von uns
gefordert: Wir müssen in den Haushaltsberatungen min-
destens 10 Milliarden Euro einsparen, und das nicht nur
im Jahr 2011, sondern auch in den Jahren, die folgen.
Diesen Konsolidierungskurs brauchen wir. Hierbei wer-
den uns die Länder unterstützen: Die Länder sind gefor-
dert, bis zum Jahr 2020 ebenfalls ihre Hausaufgaben zu
machen. Dabei werden strukturelle Ausgaben zu berück-
sichtigen sein.

Es wird immer davon geredet, dass wir ein Ausgaben-
oder Finanzierungsproblem haben. Wenn Sie sich einmal
anschauen, wie sich die Steuereinnahmen in den letzten
Jahrzehnten entwickelt haben, werden Sie feststellen,
dass die Einnahmen des Staates massiv gestiegen sind.
Allerdings sind auch die Ausgaben – suboptimal, würde
ich sagen – nach oben getrieben worden. Letztendlich
wurde mehr Geld ausgegeben, als wir eingenommen
haben.

Die Opposition verweist immer darauf, dass es Län-
der in der Europäischen Union gibt, die deutlich weniger
Steuereinnahmen haben. Schauen Sie sich dann bitte
auch einmal die Standards in diesen Ländern an: Sie sind
vollkommen anders.

Wir werden in den anstehenden Beratungen über den
Haushalt 2011 überlegen müssen, in welche Richtung
wir gehen wollen, wo wir sparen müssen, wo Luxus bei-
seitegeschoben werden muss.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Mit den Überlegungen hätten Sie schon anfangen können!)


Sie haben gefragt, wann wir den Haushalt 2011 vorle-
gen. Sie wissen doch – Sie waren selbst in der Regie-
rung –: immer vor der Sommerpause. Gestern im Ge-
spräch mit Herrn Schäuble ist noch einmal deutlich
gemacht worden: Noch vor der Sommerpause wird es ei-
nen Regierungsentwurf für den Haushalt für das Jahr
2011 geben. Damit werden wir Ihnen gemeinsam mit un-
seren Freunden aus der Koalition aufzeigen, wie wir den
Haushalt der Bundesrepublik Deutschland über die Jahre
konsolidieren werden. Das ist keine leichte Aufgabe. Ich
lade Sie herzlich dazu ein, sich daran zu beteiligen, und
zwar nicht an einer Ausgabenorgie, sondern daran, die
Gelder gezielt und klug einzusetzen, damit wir unseren
Haushalt konsolidieren können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Bettina Hagedorn [SPD]: Das hat doch schon 2010 nicht geklappt!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1704309900

Das Wort hat jetzt Ernst Dieter Rossmann für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Rede ID: ID1704310000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Kampeter ist als Sprecher der Regierung ja so ge-
waltig eingestiegen, als ob er die ganze Welt auf sich ge-
richtet sah und meinte, man würde auf ihn gucken.

Im Tagesspiegel von gestern kann man lesen – ich zi-
tiere –: „Ein Haufen Union“. – Man darf hinzufügen: ein
Haufen Regierung.

Was ist das Problem, weshalb der Tagesspiegel zu
dieser Analyse kommt? – Das Problem ist, dass das gol-
dene Dreieck der schwarz-gelben Regierungsphiloso-
phie – es lautete immer: Jede Steuersenkung ist gut, man
will auch Leistung für die Bürger und diese möglichst
verbessern, und zwar in gewisser Beliebigkeit, siehe
Mövenpick, und man will die Haushalte gleichzeitig ent-
schulden – vor die Wand gefahren ist. Weil es vor die
Wand gefahren ist, sind Sie jetzt in Unruhe, und Sie wis-
sen nicht mehr, in welcher Richtung Sie noch die Pei-
lung haben sollen. Damit müssen Sie aber fertig werden.


(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Sie erleben mich sehr ruhig!)


Es gibt Einzelreaktionen, zum Beispiel von Herrn
Barthle, den Haushälter, der schon vor der NRW-Wahl
meinte, man müsse auch bei der Bildung, der Kinderbe-
treuung und anderen Dingen kürzen.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Quatsch!)


Daneben gibt es den hessischen Ministerpräsidenten, der
den Kochlöffel herausholt und einmal kräftig auf den
Tisch haut. Außerdem gibt es den Herrn Tillich in Sach-
sen, der sagt: Es muss bei der Mehrwertsteuer etwas ge-
schehen, weil wir mehr Mittel brauchen.

Dies ist die Gemengelage, aufgrund derer Sie sich neu
finden müssen und Sie Abschied von Ihrem falschen
goldenen Dreieck nehmen müssen; denn das ist nur
schwarz-gelb angemalt und blättert sehr – und nicht
mehr. Sie werden so nicht mehr durchkommen, und das
merken Sie auch selbst.

Nächste Beobachtung. Gestern haben wir Frau
Merkel und Herrn Kauder gehört. Das sind ja die Autori-
täten in diesem Regierungsbündnis,


(Heiterkeit der Abg. Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


und es fällt auf, dass von der FDP keine Autorität mehr
zu nennen ist. Sie haben in Bezug auf die Bildungsrepu-
blik Deutliches gesagt. Frau Merkel und Herr Kauder
haben gesagt: Die 12 Milliarden Euro stehen; das soll
ein Markenzeichen werden. – Sie haben auch gesagt:
Die 10 Prozent für Bildung und Forschung in 2015 sol-
len stehen. Es fällt auf, dass das heute hier noch von kei-
nem Sprecher der CDU/CSU und der FDP gesagt wor-
den ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir wissen natürlich, woher das kommt: Die Setzungen
der obersten Autoritäten werden gar nicht mehr richtig
getragen, Sie erkennen die Autorität von Merkel und
Kauder in Bezug auf diese Eckpunkte für die Bildungs-
republik Deutschland in der Zukunft gar nicht mehr an;
denn Sie müssen sich daran messen lassen.

Aber auch die Autorität von Merkel und Kauder wird
daran gemessen, ob bei der Haushaltsklausur heraus-
kommt, dass die 12 Milliarden Euro tatsächlich manifest
gesichert sind, und ob beim Bildungsgipfel zwischen
dem Bund und den Ländern, der drei Tage später statt-
findet, nämlich am 10. Juni 2010, herauskommt, dass die
10 Prozent im Jahre 2015 gesichert und nicht aufgescho-
ben und nicht diffundiert sind. Das würde dann Autorität
bedeuten, die in dieser Regierung vielleicht neu herge-
stellt werden kann.

Heute fällt auf: So weit sind Sie noch nicht. – Sie sind
auch deshalb noch nicht so weit, weil sich die Länder
und Kommunen, die Sie beteiligen müssen, wenn es um
die Veränderung der Republik in den Bereichen Bildung,
Forschung und Innovation geht, betrogen fühlen. Sie
sind mit dem sogenannten Wachstumsbeschleunigungs-
gesetz betrogen worden, was nichts anderes als ein Ent-
finanzierungsgesetz für die Länder und Kommunen war.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE] – Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Totaler Quatsch! Entlastungen für Familien! – Bettina Hagedorn [SPD]: Ein Griff in die Kasse!)


Das, was Sie derart aufgebaut haben, ist einfach eine
Falle. Ich will das anhand des Bundeslandes Schleswig-
Holstein aufzeigen, wo wir auch die Mövenpicks mitfi-
nanzieren mussten und wo die gleiche CDU/FDP-Lan-
desregierung jetzt das beitragsfreie Kindergartenjahr
wieder abschaffen musste. Es wurden 35 Millionen Euro
an die Hoteliers gegeben und 35 Millionen Euro von den
Eltern genommen. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Das stimmt doch überhaupt nicht! Sie reden doch wirres Zeug!)


An dieser Stelle bekommen Sie die Kurve nicht mehr,
wenn Sie nicht zu einem neuen Dreieck kommen. Dieses
Dreieck beinhaltet eine Einnahmeverbesserung durch
gerechte Steuern und eine Steuerverbesserung.

Es geht nicht mehr nur darum, die ermäßigten Mehr-
wertsteuersätze abzuschaffen. Das hat Hans Eichel ver-
sucht, und Sie haben ihn dafür als Steuererhöher denun-
ziert. Ist Herr Tillich ein Steuererhöher? Werden die
CDU-Ministerpräsidenten zu Steuererhöhern,


(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Jetzt sagen Sie einmal, welche Steuern Sie erhöhen wollen!)


oder kriegen Sie die Balance hin, was vielleicht vernünf-
tig sein könnte, indem Sie manchen ermäßigten Mehr-
wertsteuersatz wieder zurücknehmen, damit man mehr
Geld für gute, innovative Politik hat? Hierzu gehört aber
auch Gerechtigkeit, sodass Sie auch die Reichensteuer





Dr. Ernst Dieter Rossmann


(A) (C)



(D)(B)

einführen und die Spitzensteuersätze bei der Einkom-
mensteuer entsprechend erhöhen müssen.

Das war das Erste.

Zweitens müssen Sie, um zu einem neuen Dreieck zu
kommen, die richtigen Prioritäten setzen, und zwar auf
Bildung, Forschung und Innovation. Dann können Sie
die Haushaltskonsolidierung erfolgreich angehen. Wenn
das geschieht, wird dies nicht nur die CDU/CSU, son-
dern auch die FDP verändern.


(Andreas Mattfeldt [CDU/CSU]: Vor den Steuererhöhungen hätte ich gerne Sparvorschläge gehört!)


Die spannende Frage ist, ob der Umbruch, der jetzt
stattfindet, dazu führt, dass Sie sich als Regierung neu
erfinden, vielleicht dann auch mit einer neuen FDP. Es
gruselt einem manchmal bei der Entschlossenheit, mit
der Sie sich bei einer leergelaufenen Ideologie wie in ei-
ner Wagenburg sammeln.


(Florian Toncar [FDP]: Sagen Sie doch alles, was Sie schon immer mal sagen wollten!)


Auch der Koalitionspartner empfindet dieses Gruseln,
wenn er die Debatten wie gestern verfolgt. Er merkt
nämlich, dass er mit diesem Partner die Einsichten, die
er gewonnen hat, gar nicht umsetzen kann.

Fazit: Was jetzt ein Haufen Union, ein Haufen FDP
und ein Haufen Regierung ist,


(Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP]: Ein Haufen Rossmann!)


hat die Chance, von diesem Haufen zur handelnden Re-
gierung zu werden und damit in die neue Zeit zu finden.
Versuchen Sie es! Wir werden Sie dabei gerne treiben.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1704310100

Das Wort hat nun Alois Karl für die CDU/CSU-Frak-

tion.


Alois Karl (CSU):
Rede ID: ID1704310200

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Diskussion ist von
Ihnen bereits gestellt worden, Herr Koppelin. Ich formu-
liere es positiv: Wir sind eine Regierungskoalition, in der
verschiedene Parteien vertreten sind. Die Parteien haben
außerordentlich tüchtige Leute, die sich täglich Gedan-
ken machen und auch von ihrem Recht auf freie Mei-
nungsäußerung Gebrauch machen. Daran finde ich zu-
nächst nichts Schlechtes.

Wir sind in diesen Tagen in einer schwierigen Zeit.
Die Bundeskanzlerin und der Finanzminister haben das
in den letzten Tagen vielfach ausgeführt. Sie geben uns
Gelegenheit, Grundsätzliches zu diesen Themenberei-
chen zu sagen. Viele von uns machen sich ihre Gedan-
ken. Es ist gut, dass wir uns in dieser schwierigen Zeit
auseinandersetzen.

Wir sind, wie gesagt, verschiedene Parteien. Wir sind
keine Einheitsfront, und wir haben auch kein einheitli-
ches Sprachregime. Uns geben keine Politbüros vor, was
wir zu sagen haben. Ich danke herzlich denen, die sich in
den letzten Tagen so sachlich und intensiv an der Dis-
kussion beteiligt haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben zwei Hauptaufgaben: Die eine ist Sparen
und Konsolidieren. Das ist bereits angesprochen worden.
Die andere Aufgabe besteht darin, dass wir investieren
müssen, wie es schon in den letzten Jahren der Fall war.

Ich wundere mich manchmal, wie die Vergangenheit
auch von manchen aus den Reihen der SPD verdrängt
wird. Wir hatten doch den größten Konjunktur- und
Wirtschaftseinbruch seit Gründung der Bundesrepublik
vor mehr als 60 Jahren. Deshalb haben wir einiges ma-
chen müssen, was wir eigentlich von vornherein nicht
machen wollten, was uns aber aufgedrängt worden ist.

Wir haben investiert, statt in die Krise hineinzuspa-
ren, wie es in der letzten großen Wirtschaftskrise 1932
der Fall war. Tüchtige Finanzminister, Peer Steinbrück
und auch Wolfgang Schäuble, haben mit unserer Unter-
stützung das Richtige getan. Wir haben durch vielfache
Maßnahmen die Konjunktur gestützt, und wir haben in
die Menschen investiert. Wir haben viel Geld in die
Kurzarbeiterregelung investiert, um die Menschen zu
qualifizieren und sie in der Krise nicht hängen zu lassen.
Wir wissen, dass 100 000 zusätzliche Arbeitslose Mehr-
ausgaben von 2 Milliarden Euro pro Jahr bedeuten. Des-
halb war es richtig, dass wir in dieser schwierigen Zeit
gemeinsam investiert haben. Lieber Herr Hagemann,
auch das sollten Sie in einer Debatte wie dieser durchaus
erwähnen; denn wir haben eine gute Leistung vollbracht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD – Klaus Hagemann [SPD]: Stimmt!)


Wir müssten uns darüber freuen, dass die Zahl der Ar-
beitslosen dieses Jahr statt der prognostizierten
4 Millionen nur noch 3,4 Millionen betragen soll. Wir
haben eine soziale Politik betrieben, die auch Geld ge-
kostet hat. Jetzt ist das Gebot der Stunde, dass wir uns
ans Sparen und Konsolidieren machen. Jeder weiß, dass
derjenige, der Einsparungen fordert, zunächst Beifall er-
hält. Wenn es aber konkret wird und man sieht, dass die
Einsparungen einen selber betreffen, dann wird man zu-
rückhaltender. Es war richtig, dass wir die Schulden-
bremse in das Grundgesetz aufgenommen haben und uns
damit selber vorgegeben haben, wie wir in den nächsten
Jahren haushalten müssen.

Wir wissen doch, dass wir in einer alternden Gesell-
schaft leben, in der es schon heute mehr über 65-Jährige
als unter 20-Jährige gibt. Aus diesem Grunde wird es
eine der Hauptfragen sein, welche Reformen, die sich
erst in Jahrzehnten auswirken werden und von denen die
heute Alten wahrscheinlich nichts mehr haben werden,





Alois Karl


(A) (C)



(D)(B)

wir heute machen. Es ist das Gebot der Korrektheit, dass
wir den jungen Leuten in unserem Lande Perspektiven
geben. Dafür sind wir gewählt, und dafür haben wir Ver-
antwortung.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Auch den Herrschaften auf den Tribünen muss gesagt
werden, dass wir seit 40 Jahren mehr Geld in unserem
Lande ausgeben, als wir einnehmen. Das ist in einer ge-
wissen Weise eine unethische Politik. Wir müssen heute
zugeben, dass wir alle daran irgendwie beteiligt und ir-
gendwie schuldig waren. Aber es geht nicht darum, die
Vergangenheit zu bewältigen, sondern darum, die Zu-
kunft zu gewinnen. Darum sind kleinkrämerische Reden,
wie sie heute zum Teil geschwungen worden sind, das
völlig verkehrte Mittel, wenn man an diese großen Auf-
gaben herangehen will.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Bundesregierung wird in der Klausurtagung An-
fang Juni die Grundlinien vorgeben und die Weichen
stellen. Selbstverständlich haben wir Grundsätze. An
Bildung und Forschung wird als Allerletztes gespart; das
haben wir gesagt.


(Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD]: Als Allerletztes!)


Wir wollen für unsere Kinder sparen, und wir wollen
nicht an unseren Kindern sparen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1704310300

Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.


Alois Karl (CSU):
Rede ID: ID1704310400

Ich danke für den Hinweis. – Herr Tillich hat recht,

wenn er sagt, das Geld könne auch in der Bildung klug
eingesetzt werden und niemand sei davor gefeit, heute
bessere Gedanken als im letzten Jahr zu haben.

Meine Damen und Herren, der eine mag zwar der
Koch sein. Aber der Küchenchef sind wir hier im Deut-
schen Bundestag. Wir werden auf der Grundlage der
Vorschläge entscheiden, die wir hier machen. Auch die
Opposition ist aufgerufen, sich nicht nur renitent zu ver-
halten und nicht nur destruktive Vorschläge zu machen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1704310500

Herr Kollege!


Alois Karl (CSU):
Rede ID: ID1704310600

Vielmehr sollte sie sich hier an einer Aufgabe beteili-

gen, die die nächsten Generationen in unserem Lande
betreffen wird.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1704310700

Das Wort hat nun Kollege Volkmar Klein von der

CDU/CSU-Fraktion.

Volkmar Klein (CDU):
Rede ID: ID1704310800

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Was wir im Zuge dieser Aktuellen Stunde ge-
lernt haben, ist, dass Folgendes leider immer noch sehr
aktuell ist: Wir brauchen gerade auf der linken Seite die-
ses Hauses viel mehr Verständnis dafür, dass Haushalts-
konsolidierung nun wirklich ein moralisches Gebot, eine
moralische Aufforderung im Interesse unserer Kinder
ist. Dies ist leider immer noch sehr aktuell, weil es noch
längst nicht überall verstanden worden ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber zugehört haben Sie schon, oder?)


Ansonsten habe ich diese Diskussion als ziemlich
skurril empfunden. Was werfen Sie uns denn im Kern
vor?


(Zurufe von der LINKEN)


Sie werfen uns doch offensichtlich vor, dass wir es uns
in der Vorbereitung der im zweiten Halbjahr zu führen-
den Diskussionen nicht leicht machen. Aber, meine Da-
men und Herren, was denn sonst? Natürlich machen wir
es uns nicht leicht, weil es abzuwägen gilt. Auf der einen
Seite gibt es wichtige Anliegen, für die wir hier Verant-
wortung haben: Bildung zu stärken, Straßenbau zu orga-
nisieren, weil diese Infrastrukturinvestition für unsere
Zukunft ebenfalls wichtig ist, unsere Bundeswehr ord-
nungsgemäß auszustatten, sodass sie wirklich Sicherheit
für uns produzieren kann, Verantwortung für andere
Länder in Sachen Entwicklungshilfe zu übernehmen. All
dies sind doch wichtige Dinge, die abgewogen werden
müssen. Auf der anderen Seite haben wir eben auch Ver-
antwortung gegenüber den nachfolgenden Generationen.


(Dagmar Ziegler [SPD]: Eben!)


Es ist einfach ethisch unanständig, hier so zu tun, als sei
nur Ausgeben moralisch einwandfrei, nicht aber Haus-
haltskonsolidierung. Ganz im Gegenteil!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das, was wir im Hinblick auf die Zukunft und gegen-
über den nachfolgenden Generationen für moralisch an-
ständig halten, kommt doch sozusagen aus der Zukunft
zu uns zurück. Wir stellen fest, dass auch die Finanz-
märkte Zweifel haben, ob künftige Generationen tat-
sächlich so belastbar sind, wie das in dem einen oder an-
deren Land im Moment ausgetestet wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: So ein Quatsch!)


Vor diesem Hintergrund ist es richtig, nun über eine
Haushaltskonsolidierung nachzudenken, und zwar nicht
nur deshalb, weil wir sie als Selbstverpflichtung im
Grundgesetz verankert haben. Wir müssen sicherlich die
Vorgaben der Schuldenbremse einhalten. Aber wir wol-
len es auch, weil wir es für richtig und moralisch anstän-
dig halten, nicht auf Kosten künftiger Generationen zu
leben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)






Volkmar Klein


(A) (C)



(D)(B)

Deshalb ist es im Grunde auch richtig, einen Wettbewerb
– diesen kann man sicherlich ein bisschen leiser oder
hinter verschlossenen Türen durchführen, wie der eine
oder andere meint – zu starten, bei dem es um die Frage
geht, wo wir mit geringstem Schaden weniger Geld aus-
geben können. Es wäre schön, wenn man sich dabei
nicht renitent verhalten würde, wie mein Vorredner es
ausgedrückt hat, sondern wenn ein bisschen konstruktiv
mitgedacht würde.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir müssen in unserem Land einen Wettbewerb starten,
in dessen Mittelpunkt die Frage steht, wie wir mit unse-
rem Geld mehr erreichen können. Das ist die zentrale
Frage, die uns in den nächsten Monaten und Jahren lei-
ten wird.

Es wäre schön, wenn wir über die im zweiten Halb-
jahr dieses Jahres anstehenden Beratungen über den
Haushalt 2011 hinaus einen kleinen Beitrag zu einer
neuen Kultur der Stabilität, der Zukunftsorientierung
und des besseren Abwägens leisten könnten. Das wün-
sche ich mir. Es wäre diesem Hause angemessen, wenn
sich alle daran beteiligten.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1704310900

Die Aktuelle Stunde ist beendet.

Die Fraktionen haben sich verständigt, die Sitzung
jetzt für etwa zwei Stunden für Fraktionssitzungen zu
unterbrechen. Der Wiederbeginn der Sitzung wird recht-
zeitig durch Klingelsignal bekannt gegeben.

Die Sitzung ist unterbrochen.


(Unterbrechung: 13.42 bis 16.30 Uhr)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704311000

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die unterbrochene

Sitzung ist wieder eröffnet.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:

Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP

Europa 2020 – Die Wachstums- und Beschäf-
tigungsstrategie der Europäischen Union
braucht realistische und verbindliche Ziele

– Drucksache 17/1758 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
sehe, damit sind Sie einverstanden. Dann können wir so
verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin der Kollegin Gabriele Molitor für die FDP-Frak-
tion das Wort.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Gabriele Molitor (FDP):
Rede ID: ID1704311100

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Diese Woche ist von schwerwiegenden Entschei-
dungen geprägt, die über die Zukunft unseres Landes
und Europas bestimmen. Mit der heutigen Diskussion
über die Inhalte und Maßnahmen der Europa-2020-Stra-
tegie und der zu verabschiedenden Stellungnahme des
Deutschen Bundestages beraten wir, wie Wachstum und
Beschäftigung im kommenden Jahrzehnt in der Europäi-
schen Union geschaffen werden können.

Die langfristige Ausrichtung ist aber nur dann erfolg-
reich, wenn wir bei dieser Strategie Prioritäten setzen,
Probleme erkennen und gemeinsam handeln.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Im vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen benen-
nen wir unsere Vorstellungen, um der Bundesregierung
durch das Parlament Handlungsaufträge für den Euro-
päischen Rat am 17./18. Juni 2010 mit auf den Weg zu
geben.

Die Auswirkungen der derzeitigen Finanz- und Wirt-
schaftskrise sind mit ein Anstoß für die Wirtschafts- und
Beschäftigungsstrategie. Außerdem soll die Strategie das
Konzept sein, wie Europa seine Wettbewerbsfähigkeit in
der Welt sichern kann.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die Bundeskanzlerin hat zu Recht bereits in ihrer Re-
gierungserklärung am 5. Mai dieses Jahres erklärt, dass
sie sich beim besten Willen nicht vorstellen kann, wie
wir die neue Wachstumsstrategie verabschieden können,
ohne dass in konkreter Form deutlich wird, welche Leh-
ren Europa aus der Krise zieht. Erst gestern sagte sie,
dass wir uns, wenn wir Europa positiv entwickeln wol-
len, an den starken und erfolgreichen Volkswirtschaften
orientieren müssen und nicht an den Schlusslichtern.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die Länder der Europäischen Union sitzen in einem
Boot. Das merken wir in diesen Tagen ganz besonders.
Deshalb unterstützen wir die Forderung nach einer Ab-
stimmung zwischen einzelnen Langzeitstrategien der
Europäischen Union.

Es ist wichtig, Kernziele herauszuarbeiten und sich
darauf zu konzentrieren. Bisherige Entscheidungen wie
die zum Krümmungswinkel von Bananen oder das Kin-
derwagenverbot auf Rolltreppen gehören nicht in die
Zuständigkeit der EU. Sie sind eher das Ergebnis von
Regelungswut und rufen bei den Bürgern nur Kopfschüt-
teln hervor.

Es geht darum, andere Ziele zu benennen. Um noch
einmal mit den Worten der Kanzlerin zu sprechen: Es
geht um die Aufgabe, durch eine vernünftige Infrastruk-





Gabriele Molitor


(A) (C)



(D)(B)

tur und Forschungspolitik den europäischen Kontinent
zukunftsfest auszurichten.

Mit dem vorliegenden Antrag setzen wir diesen An-
spruch um und ziehen die richtigen Lehren aus der in
vielen Belangen enttäuschenden Lissabon-Strategie. Das
sieht auch die Europäische Kommission so. Sie hat we-
nige wichtige Leitlinien und Kernziele benannt, denen
wir uns zum großen Teil anschließen können. Wir wer-
den aber auch darauf achten, dass die Zielvorgaben rea-
listisch sind und sich an der Kompetenzordnung der EU-
Verträge ausrichten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Im Hinblick auf die geplante Reduzierung der Zahl
der von Armut Betroffenen kann ich nur davor warnen,
Fortschritte bei der Armutsbekämpfung einzig und allein
durch eine Übersicht zur Einkommensverteilung abzu-
bilden. Jeder in diesem Hohen Haus ist für soziale Ein-
gliederung und Armutsbekämpfung.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Die FDP auch?)


– Ich habe gerade gesagt: jeder. Da zähle ich uns mit
dazu.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Ich wollte ja nur mal nachfragen!)


Allerdings lehnen wir, CDU/CSU und FDP, das Ziel ei-
ner Armutsrisikoquote, wie sie die Kommission vor-
schlägt, ab.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ein ausschließlich quantitativ formuliertes Armutsre-
duktionsziel sagt noch gar nichts über das Wie der Re-
duktion aus. Die Armutsrisikoquote ignoriert die nicht-
monetären Sozialleistungen, zum Beispiel für präventive
Maßnahmen, für die Sicherung des Zugangs zu Bildung,
zu Kinderbetreuungseinrichtungen und zu Hilfen für Al-
leinerziehende. Hier ist Klarheit über die Zielformulie-
rung unbedingt notwendig; andere Mitgliedstaaten sehen
das im Übrigen genauso. Überdies ist es wichtig, darauf
zu achten, dass der sozialpolitische Bereich in die Zu-
ständigkeit der Mitgliedstaaten fällt.

Beim Bildungsziel muss es auch darum gehen, die
Kompetenzordnung der Mitgliedstaaten zu beachten. Des-
halb fordern wir eine objektive Berücksichtigung der spe-
ziellen Bildungswege und Bildungsangebote in Deutsch-
land, die vielfach einen dem Hochschulabschluss
ähnlichen Abschluss ermöglichen. An dieser Stelle se-
hen wir auch die von der Kommission vorgeschlagene
Quantifizierbarkeit von Bildungserfolgen sehr kritisch.
Eine reine Ausrichtung an absoluten Zahlen greift bei
der Bewertung des Bildungssystems nach unserer Auf-
fassung zu kurz.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die konkrete Umsetzung der Leitlinien und Kernziele
der neuen Wachstumsstrategie soll durch nationale Ak-
tionspläne erreicht werden. Mit den in unserem Koali-
tionsvertrag vereinbarten Maßnahmen gehen wir in die
richtige Richtung; er ist ein wichtiger Anknüpfungs-
punkt.

Inhaltlich sind die Berichterstattung zur Europa-2020-
Strategie und das auf den Stabilitäts- und Wachstumspakt
gegründete Bewertungsverfahren zwar getrennt. In der
Kombination haben wir aber die Möglichkeit, noch stär-
ker auf diejenigen innerhalb der Europäischen Union zu
achten, die sich etwas schwerer tun. Wir werden darauf
hinwirken, dass die Zusammenarbeit in diesem Bereich
verbessert wird.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Um dabei mögliche Hindernisse zu überwinden und
die Ziele von Europa 2020 zu verwirklichen, müssen alle
auf EU-Ebene verfügbaren Instrumente und insbeson-
dere der Binnenmarkt in den Dienst der Strategie gestellt
werden. Dabei sind die Leitlinien eines innovativen,
integrativen und nachhaltigen Wachstums und Wirt-
schaftens sehr richtig gewählt. Die EU muss jetzt noch
intensiver zusammenarbeiten, um sich aus der Krise zu
befreien und die richtigen Lehren aus ihr zu ziehen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704311200

Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Dr. Eva Högl

das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Eva Högl (SPD):
Rede ID: ID1704311300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-

gen! Im Gegensatz zu meiner Vorrednerin bin ich der
Auffassung: Dieser Antrag der Koalitionsfraktionen
zeigt schwarz auf weiß die Handlungsunfähigkeit der
Bundesregierung und der Koalitionsfraktionen in der
Europapolitik.


(Beifall bei der SPD)


Dieser Antrag, meine Damen und Herren, ist erschre-
ckend ideenlos. Es geht bei der Strategie Europa 2020
um die Zukunft der Europäischen Union, um nicht mehr
und nicht weniger. Es geht um die Weichenstellungen für
unsere Zukunft auf der europäischen Ebene. Gerade
jetzt, in der Krise, ist es nicht nur von ganz entscheiden-
der Bedeutung, mit welchen Antworten wir dieser Krise
begegnen, sondern auch, welche Lehren wir daraus zie-
hen.

Ich stelle fest, dass die Koalitionsfraktionen bis heute,
20. Mai, keine Vorschläge vorgelegt haben. Die Kom-
mission hat ihre Ideen am 3. März präsentiert, und der
Europäische Rat wird abschließend bereits in vier Wo-
chen darüber entscheiden. Aber die Bundesregierung hat
nichts vorgelegt, sie hat keine Ideen, und im Gegensatz
zu dem, was Sie, Frau Molitor, gesagt haben, hat sie
auch keine Lehren aus der Lissabon-Strategie gezogen.
In Bezug auf diese so wichtige Strategie zeigen die Bun-
desregierung und die Koalitionsfraktionen genau das-





Dr. Eva Högl


(A) (C)



(D)(B)

selbe Verhalten, das sie auch in der Krise, über die wir
jetzt diskutieren, und mit Blick auf das Stabilisierungs-
paket, über das wir morgen zu entscheiden haben, an den
Tag legen. Verzögern und sich weigern, zu gestalten, das
ist das Motto der Bundesregierung und der Koalitions-
fraktionen.


(Beifall bei der SPD)


Die SPD hat dagegen bereits Anfang März, noch be-
vor die Kommission ihre Vorstellungen präsentiert hat,
einen umfassenden Antrag vorgelegt. Es lohnt sich, den
Antrag zu lesen und zu studieren. Darin machen wir
nämlich sehr deutlich, wohin wir auf dem Weg nach
Europa wollen; da wird klar, dass wir im Gegensatz zu
Ihnen Konzepte für Europa haben.

Am deutlichsten wird die Ideenlosigkeit, wenn man
sich anschaut, wie Sie mit den fünf Kernzielen umgehen,
die die Kommission vorschlägt: Drei davon werden ab-
gelehnt, nämlich die wichtigen Ziele in den Bereichen
Bildung und Forschung, Armut und Beschäftigung.
Diese Ziele werden mit, wie ich finde, fadenscheinigen
Argumenten abgelehnt. Bei der Armutsbekämpfung ver-
schanzt man sich hinter der Begründung, es gebe keinen
geeigneten Indikator, um die Armut zu messen. Es geht
hier aber nur darum, ob wir die Armut auf europäischer
Ebene bekämpfen wollen, ob wir dies endlich zu einem
wichtigen Ziel machen wollen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es geht auf europäischer Ebene nur um den Willen.
Es geht darum – Stichwort „Krise“ –, mit welchen Bot-
schaften aus Europa wir unseren Bürgerinnen und Bür-
gern begegnen. Dabei geht es um nicht mehr und nicht
weniger als die Akzeptanz der Europäischen Union und
die Gestaltung unserer Demokratie. Das heißt für mich,
dass es nach der Lissabon-Strategie und nach dieser
Krise kein Weiter-so geben kann.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir können so nicht weitermachen. Deswegen brauchen
wir keine Plattitüden dergestalt: Wenn die Wirtschaft
läuft, dann funktioniert das schon mit der Sozialpolitik.


(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Das ist nun mal die Grundlage!)


Das reicht nicht aus.


(Beifall bei der SPD)


Wir müssen in der Sozial- und Beschäftigungspolitik ei-
gene Akzente setzen. Wir brauchen eine bessere Bil-
dungspolitik, eine bessere Beschäftigungspolitik und
eben auch die klare Ansage, dass wir auf europäischer
Ebene die Armut bekämpfen und reduzieren wollen.

Meine Damen und Herren, wir brauchen auch eine
bessere Koordination, und zwar nicht nur der Wirt-
schafts- und Finanzpolitik, sondern gerade auch der So-
zial- und Beschäftigungspolitik. Wir sehen bei der De-
batte über die Krise, dass wir nicht weiterkommen, wenn
wir uns dahinter verschanzen – das machen Sie mit Ih-
rem Antrag –, dass doch die Kompetenzen der Mitglied-
staaten zu wahren seien. Wir brauchen in dieser Krise
mehr Europa und mehr Abstimmung auf europäischer
Ebene.


(Beifall bei der SPD – Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Wollen Sie Lissabon infrage stellen?)


Wir wollen eine Ergänzung des Wachstums- und Sta-
bilitätspakts – das ist dringend erforderlich – um einen
sozialen Stabilitätspakt. Wir halten es für dringend erfor-
derlich, ein solches Signal zu setzen. Gerade jetzt, in die-
ser Krise, wird deutlich, dass wir im Bereich der Be-
schäftigungs- und Sozialpolitik Leitlinien festlegen und
Ansagen machen müssen.

Mich erstaunt besonders, dass der Antrag der Koali-
tionsfraktionen sogar hinter den Aussagen der Bundes-
regierung zurückbleibt. Die Bundesregierung hat näm-
lich in den Debatten, die wir geführt haben, immer
gesagt, dass sie sich sehr wohl zu den Zielen bekennt
und Überlegungen anstellt, wie man die Umsetzung aus-
gestalten kann. Ihr Antrag besagt jetzt, dass Sie diese
Ziele auf keinen Fall unterstützen wollen. Das wundert
mich doch ein bisschen. Da wird, wenn ich das noch ein-
mal sagen darf, die Ideen- und Konzeptlosigkeit ganz
deutlich.


(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: So viel zum Thema Plattitüden! – Gegenruf des Abg. Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir warten mal auf Ihre Rede, Herr Wadephul!)


– Herr Kollege Wadephul, keine Plattitüden, sondern
klare Aussagen. Sie haben keine Konzepte für Europa,
keine Konzepte für Deutschland.

Deswegen sage ich an dieser Stelle deutlich: Schauen
Sie sich an, was die SPD formuliert hat! Wir stellen we-
der, wie Sie eben eingewandt haben, den Lissabon-Ver-
trag infrage noch wollen wir Europa auf den Kopf stel-
len. Wir wollen vielmehr Europa auf die Füße stellen.
Wir wollen auf europäischer Ebene gute Politik machen.
Wir wollen eine gute Nachfolgestrategie für die Lissa-
bon-Strategie entwickeln. Im Gegensatz zu Ihnen wollen
wir Europa gestalten und für die Bürgerinnen und Bür-
ger deutlich machen, wohin der Weg geht. Da haben wir
etwas Gutes vorgelegt. Vielleicht kann sich der Deutsche
Bundestag dazu durchringen, den wundervollen Antrag
der SPD zu beschließen,


(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Oh Gott! Wenn man sich schon selber loben muss!)


nicht Ihren von Substanzlosigkeit und Ideenlosigkeit ge-
prägten Antrag, den Sie uns heute, vier Wochen vor der
entscheidenden Beschlussfassung im Europäischen Rat,
hier präsentieren.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704311400

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Johann Wadephul

für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1704311500

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ich weiß nicht so recht, ob man eigentlich wei-
nen oder lachen soll.


(Dr. Eva Högl [SPD]: Lachen! Bei Ihrer Politik weinen!)


– Ich will Ihnen gleich erklären, worum es mir geht und
was mich berührt.

Sie sprechen von Ideenlosigkeit, Sie weisen auf die
historische Stunde hin, in der sich die Europäische
Union in der Tat befindet, Sie sprechen von entscheiden-
den Weichenstellungen, vor denen wir in Europa stehen.
Dann müssen wir aber feststellen: Die sozialdemokrati-
sche Fraktion wird sich morgen bei der Abstimmung
über das Euro-Rettungspaket enthalten. Wenn hier je-
mand vor Europa versagt, dann sind Sie das. Sie sitzen
hier im Glashaus.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Dr. Wolfgang StrengmannKuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat denn hier die letzten Monate europapolitisch versagt? – Zuruf von der SPD: Versagt hat Ihre Koalition!)


Sie geben Ihre europapolitische Glaubwürdigkeit auf,
wenn Sie in einer solchen Krisensituation nicht bereit
sind, unsere Währung und damit die Idee einer politi-
schen Einigung Europas zu retten.


(Beifall bei der CDU/CSU – Ute Kumpf [SPD]: Sie können unserem Entschließungsantrag doch zustimmen!)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, in der Tat
braucht Europa nicht nur angesichts der von Frau Kolle-
gin Molitor bereits vollkommen zu Recht erwähnten Re-
gelungswut – der Krümmungsgrad der Banane ist er-
wähnt worden –, sondern auch in dieser Zeit der
Währungskrise sowohl Unterstützung als auch eine posi-
tive Vision. Ich halte dies für das Gute an dieser Strate-
gie, das wir unterstützen sollten und weshalb wir uns
auch zu ihr bekennen. Europa darf nicht nur mit Rege-
lungen identifiziert werden, Europa darf gerade in der
jetzigen Situation nicht nur mit Krise und mit notwendi-
ger Hilfe für Staaten identifiziert werden, die sich derzeit
in einer schwachen währungspolitischen Situation befin-
den. Europa braucht auch eine Wohlstandsperspektive;
nur dann werden die Menschen zu Europa stehen. Des-
wegen ist diese Strategie wichtig und gut, und deswegen
unterstützen wir sie.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Zum anderen steht darin in der Tat mehr als Armuts-
bekämpfung, obwohl diese auch wichtig und in der jetzi-
gen Situation gerade aufgrund der Währungskrise sehr
richtig und sehr notwendig ist. Denn Wachstum und Be-
schäftigung sind die Grundlage dafür, dass es den Men-
schen gut geht, dass sie Geld verdienen, dass der Staat
Steuereinnahmen hat und dass die Staaten, die sich ja
alle – so auch wir; die Bundeskanzlerin hat darauf hinge-
wiesen – in einer schwierigen finanzpolitischen Situa-
tion befinden, aus diesem Schuldenturm wieder heraus-
kommen. Nur, allein mit Sparen wird dies nicht
gelingen. Wir brauchen Wirtschaftswachstum in ganz
Europa, und deswegen ist auch dieser Ansatz richtig,
und wir unterstützen ihn.

Wir mischen uns nun, Frau Kollegin Högl, um auf das
einzugehen, was Sie gerade gesagt haben – Sie haben Ih-
ren eigenen Antrag dazu „wunderbar“ genannt; dazu
sage ich gleich noch zwei, drei Sätze –, in einer relativ
späten Phase in die Diskussion ein. Es ist nicht so, dass
alle anderen Mitgliedstaaten darauf warten, dass
Deutschland jetzt einen ganz neuen Entwurf vorlegt.
Vielmehr hat die Kommission etwas vorgelegt; darüber
wird diskutiert. Gestern hat uns das Wirtschaftsministe-
rium gesagt, wie weit der Konsens schon vorangetrieben
ist. Deswegen ist unser Antrag genau die richtige Ant-
wort, weil wir an den Vorschlag der EU-Kommission an-
knüpfen und an der einen oder anderen Stelle in der Tat
Hinweise geben, die sich von Ihrer Politik unterschei-
den.

Es ist vollkommen illusionär, jetzt Politikbereiche
einzubeziehen, die Sie genannt haben, bei denen keiner
der anderen Mitgliedsstaaten daran denkt, sie in einer
Strategie zu verarbeiten, etwa die Bildungspolitik. Die
Bildungspolitik gehört nicht zum Gemeinschaftsrecht
der Europäischen Union – die Bildungspolitik ist noch
nicht einmal nationales Recht in Deutschland; sie gehört
in die Länderhoheit –, und deswegen ist es völlig falsch,
nun den Eindruck zu erwecken, als wäre es eine der vor-
nehmsten Aufgaben dieser EU-Strategie, Bildungspoli-
tik auf die europäische Ebene zu heben. An dieser Stelle
verwechseln Sie Äpfel mit Birnen. Das gehört dort ein-
fach nicht hin, meine sehr verehrten Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Dr. Eva Högl [SPD]: Da hat das Wirtschaftsministerium aber etwas anderes gesagt!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704311600

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Strengmann-Kuhn?


Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1704311700

Ja, ich gestatte die Zwischenfrage.


(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben im Arbeits- und Sozialausschuss bereits
über dieses Thema diskutiert. Dort haben Sie die Posi-
tion vertreten, dass es bei der EU-2020-Strategie nicht
nur nicht um Bildungspolitik geht, sondern auch nicht
um Sozialpolitik. Könnten Sie hier einmal erklären, ob
Sie immer noch dieser Meinung sind? Im letzten Drittel
geht es ja um sozialpolitische Ziele, die schon in der Lis-
sabon-2010-Strategie enthalten waren, so die offene Me-





Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn


(A) (C)



(D)(B)

thode der Koordinierung und Ähnliches. Sind Sie also
immer noch der Meinung, dass die sozialpolitische
Dimension, die in der EU-2020-Strategie unter der
Überschrift „Integratives Wachstum“ angesprochen
wird, nach wie vor keine Rolle spielt?

Wenn Sie dieser Meinung sind, könnten Sie das dann
auch einmal begründen, angesichts des Widerspruchs zu
dem, was eigentlich in der Strategie, in dem Vorschlag
der EU-Kommission steht? Wäre es jetzt nicht eigentlich
auch für diese Bundesregierung an der Zeit, zu verdeutli-
chen, dass sozialpolitische Ziele neben Wachstumszielen
durchaus Ziele der Europäischen Union sind, wohl wis-
send, dass es bei deren Umsetzung um die Subsidiarität
der Mitgliedstaaten geht?


Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1704311800

Ich bin dankbar, dass ich das aufklären kann und dass

Sie, sicherlich völlig unabsichtlich, mich und meine
Fraktion falsch verstanden haben.

Niemand ist – das ist hier mehrfach betont worden –
gegen Armutsbekämpfung. Vielmehr ist das ein Ziel, das
uns politisch wohl über alle Fraktionsgrenzen und politi-
schen Grenzen hinaus eint. Die Frage ist nur: Wie geht
man mit dem Thema um? Dazu möchte ich drei Punkte
ansprechen.

Erstens. Die Kollegin Molitor hat hier – ich möchte
das nicht wiederholen – eindrücklich nachgewiesen, wa-
rum die sogenannte Armutsrisikoquote, die bisher von
der EU-Kommission genannt worden ist, völlig ungeeig-
net ist, um die Armut eines Landes zu messen.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war gar nicht meine Frage!)


Sie haben uns bisher immer vorgeworfen, dass wir die-
sen Indikator ablehnen.


(Ute Kumpf [SPD]: Sie müssen zuhören! – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habe ich nicht gefragt! Sie müssen mir zuhören!)


– Entschuldigung, aber das ist in der öffentlichen Dis-
kussion der Fall gewesen. Wenn Sie Wert darauf legen,
dass ich antworte, sollten Sie mir Gelegenheit geben, das
zu tun.


(Ute Kumpf [SPD]: Thema verfehlt!)


Sie können hinterher bewerten, ob es Ihnen ausreicht,
aber ich würde gerne versuchen, das auszuführen.


(Ute Kumpf [SPD]: Dann müssen Sie aber auch zuhören!)


Dieser Indikator ist, wie gesagt, völlig ungeeignet.

Zweitens. Niemand hat bisher einen anderen brauch-
baren Indikator dafür gefunden.

Drittens. Es ist schlicht und ergreifend so, dass man
Armut immer nur dann verringern kann, wenn es Wachs-
tum und Beschäftigung gibt. Denn nur dann sind Staaten
in der Lage, sozialpolitisch zu handeln. Arbeit ist nun
einmal die beste soziale Maßnahme. Dafür setzen wir
uns ein. Daraus muss man die Kraft schöpfen, sozialpoli-
tisch tätig zu sein. Das ist unsere Philosophie.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich warte noch immer auf die Antwort!)


Ich bin dankbar, dass Sie das Subsidiaritätsprinzip er-
wähnt haben. Ich möchte es an dieser Stelle noch einmal
erwähnen, weil es für uns in der Tat ein wichtiger Aspekt
ist. Ich möchte Ihnen das einmal entgegenhalten – Sie
können sich gerne auch andere Politikbereiche an-
schauen –: Würden Sie sich von den Dänen vorschreiben
lassen, wie man ein gutes Kündigungsschutzrecht ver-
fasst? Würden Sie sich das von den Dänen sagen lassen?


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dänen lügen nicht!)


Die Dänen haben nämlich gar kein Kündigungsschutz-
recht. Wollen Sie sich von den Briten vorschreiben las-
sen, wie das Mitbestimmungsrecht, das wir haben und
auf das wir stolz sind – Montanmitbestimmung und al-
les, was dazugehört –, auszusehen hat? Die haben näm-
lich keines. Kaum ein Land hat es.

Diese Beispiele zeigen, dass Subsidiarität auch be-
deuten kann, dass Deutschland – das ist vollkommen
richtig; dahinter stehen wir auch – eine andere Sozial-
politik macht als andere Länder. Deswegen ist das Subsi-
diaritätsprinzip richtig und muss gelebt werden. Es darf
nicht gleich bei der ersten Strategie, die wir nach dem
Lissabon-Vertrag verabschieden, konterkariert werden.
Damit führen wir die europäische Idee ad absurdum. Das
tragen wir nicht mit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Letzte Bemerkung: Der Stabilitäts- und Wachstums-
pakt ist wichtig und muss verschärft werden; darauf hat
Wolfgang Schäuble in der letzten Debatte am Freitag vor
zwei Wochen hingewiesen. Es darf nicht zu einer Ver-
quickung dieser Strategie mit dem Stabilitäts- und
Wachstumspakt kommen. Denn dieser Pakt ist ein wich-
tiger und immer wichtiger werdender Pfeiler der Euro-
päischen Union. Deswegen lehnen wir alle Vorschläge
ab, die darauf abzielen, aufgrund der vermeintlichen
Verwirklichung der EU-2020-Strategie auf Kriterien der
Stabilität zu verzichten, wie das die spanische Ratspräsi-
dentschaft Anfang des Jahres angedeutet hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Herr Zapatero hat dazugelernt. Er hat hinzugelernt,
dass er seine Haushalte in Ordnung bringen muss. Nur
so wird ein Schuh daraus. Man muss das eine tun und
darf das andere nicht lassen. Die EU-2020-Strategie ist
richtig. Stabilität ist aber noch wichtiger.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704311900

Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Alexander

Ulrich das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Alexander Ulrich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704312000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Bürgerinnen und Bürger am Bildschirm müssen
wirklich glauben, dass wir hier eine Debatte im Tollhaus
führen.


(Thomas Dörflinger [CDU/CSU]: Ja! Seit etwa 20 Sekunden!)


Europa weiß nicht, was morgen ist. Wir wissen nicht, ob
sich das, was die Bundeskanzlerin angedeutet hat, be-
wahrheiten wird. Wir machen uns Gedanken, wie Eu-
ropa 2020 aussehen könnte. Das nimmt uns keiner ab. Es
kommt einem so vor, als würde ein Haus lichterloh bren-
nen, sich aber CDU/CSU, FDP und die Kommission in
Brüssel darüber Gedanken machen, ob man das abge-
brannte Kinderzimmer renovieren sollte.


(Beifall bei der LINKEN)


Unsere Auffassung ist folgende: Wir als Bundestag
sollten die Kommission auffordern, die EU-2020-Strate-
gie als Fortsetzung der Lissabon-Strategie nicht zu
beschließen. Wir sollten uns vielmehr zuerst um die Kri-
senbewältigung kümmern, und zwar unter sozial gerech-
ten Gesichtspunkten. Wir sollten uns dann möglicher-
weise im Jahre 2011 darüber Gedanken machen, wie
man Europa in kleineren Schritten über vier oder fünf
Jahre so gestalten kann, dass sich solche Krisen, wie sie
uns zurzeit in immer kürzeren Abständen einholen, nicht
wiederholen. Deshalb wäre es gut, wenn wir uns über
Anträge unterhielten, die die Kommission dazu ver-
pflichteten.


(Beifall der Abg. Dorothée Menzner [DIE LINKE])


Bei dem, was Sie hier vorbringen, merkt man, dass
Sie nicht zurückblicken und sich fragen, warum die Lis-
sabon-Strategie gescheitert ist. Zur Verdeutlichung:
Wachstum und Forschungsausgaben sind nicht, wie ge-
plant, gestiegen. Gewachsen hingegen ist die Zahl der
Beschäftigten in Europa, die für einen Hungerlohn arbei-
ten, gewachsen ist auch die Armut und insbesondere die
Kinderarmut. Es ist fatal, dass sich CDU/CSU und FDP
überhaupt nicht darüber verständigen wollen, wie man
Armut bekämpfen kann. Man will auch keine Zahlen
mehr nennen. Man möchte nur noch lose Formulierun-
gen hineinschreiben; dabei haben lose Formulierungen
dazu beigetragen, dass die Lissabon-Strategie gescheitert
ist. Deshalb dürfen wir so nicht weitermachen.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die Grundideen der Lissabon-Strategie waren Privati-
sierung, Deregulierung und Liberalisierung. Daran ge-
messen ist die Strategie natürlich nicht gescheitert; denn
es wurde eine Umverteilung vollzogen. An der Privati-
sierung haben sehr viele, auch die Konzerne, sehr gut
verdient. Für diese, für die Sie Lobbypolitik betreiben,
war die Lissabon-Strategie ein voller Erfolg; aber für die
Masse der Menschen ist der Begriff „Lissabon“ verbun-
den mit Sozialabbau, schlechteren Lebensverhältnissen,
prekärer Beschäftigung, Kinderarmut und auch damit,
dass die Reichen immer reicher und die Armen immer
ärmer geworden sind. Das muss man deutlich zum Aus-
druck bringen.


(Beifall bei der LINKEN)


Zur Klarstellung: In Deutschland hat damals der Ar-
beitsminister Müntefering gesagt: Die nationale Umset-
zung der Lissabon-Strategie sind die Agenda 2010 und
Hartz IV. Mit europäischem Rückenwind ist sozusagen
der größte Sozialabbau in Deutschland seit dem Zweiten
Weltkrieg vorgenommen worden. Das muss man deut-
lich sagen. Frau Högl, manchmal ist es gut, Sie von der
SPD und auch die Grünen daran zu erinnern, dass Sie
dafür verantwortlich waren und nicht die jetzige Regie-
rung.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Eva Högl [SPD]: Wir haben gute Politik gemacht!)


Einer der Hauptwidersprüche der Europa-2020-Stra-
tegie ist folgender: Auf der einen Seite will man intelli-
gentes, nachhaltiges und integratives Wachstum schaf-
fen, auf der anderen Seite soll strikt gespart werden, um
die durch die Bankenrettung und Wirtschaftskrise aufge-
türmten Schulden abzubauen. Diesen Grundwiderspruch
löst man sicherlich nicht dadurch, dass man, wie im An-
trag von CDU/CSU und FDP vorgelegt, lapidar fordert,
man müsse einfach beides machen: die Strategie umset-
zen und sparen.

Lassen Sie mich den Widerspruch anhand der drei
Oberziele der Strategie – intelligentes, nachhaltiges und
integratives Wachstum – deutlich machen. Intelligentes
Wachstum soll durch Innovation und Bildung erreicht
werden. Aber wie soll das ohne Geld bzw. trotz Spardik-
taten wie in Griechenland funktionieren? Nachhaltiges
Wachstum kann nicht nur durch Marktanreize erreicht
werden, nötig sind auch Investitionen in die Klima- und
Energiewende, und auch das kostet bekanntermaßen
Geld.

Der Widerspruch zwischen Haushaltskonsolidierung
und integrativem Wachstum, dem dritten Oberziel der
neuen Strategie, lässt sich derzeit am Beispiel Griechen-
land in aller Härte studieren. Der Sparplan von EU und
IWF, der dem Land aufdiktiert wurde, sieht unter ande-
rem Folgendes vor: die Kürzung von Gehältern und
Renten, die Einschränkung der Tarifautonomie, die Lo-
ckerung des Kündigungsschutzes, Kürzungen im Ge-
sundheitswesen sowie eine Erhöhung der Mehrwert-
steuer. All diese Maßnahmen treffen vor allem die
kleinen Leute, von sozialer Integration keine Spur. In
Spanien und Portugal sieht es nicht anders aus. Gespart
wird bei den Rentnerinnen und Rentnern, bei jungen El-
tern und im öffentlichen Dienst.

Einer Sache können wir uns sicher sein: Diese unso-
zialen Sparmaßnahmen bleiben nicht auf Griechenland,
Spanien und Portugal beschränkt. Sie stellen eine Blau-





Alexander Ulrich


(A) (C)



(D)(B)

pause für die gesamte EU dar, und damit auch für
Deutschland. Deshalb ist die EU-2020-Strategie falsch.
Sie will das fortsetzen, was mit der Lissabon-Strategie
grandios gescheitert ist.

Ich fordere alle Fraktionen des Bundestages auf: For-
dern Sie die Kommission in Brüssel auf, die Strategie
dorthin zu tun, wo sie hingehört, nämlich in den Müllei-
mer. Lassen Sie uns die Krise bewältigen, aber nicht
durch Sozialabbau und unter dem Diktat von Haushalts-
konsolidierung. Wir brauchen ein Zukunftsinvestitions-
programm, damit Wachstum generiert werden kann.
Durch Sparen entsteht kein Wachstum. Durch Sparen
verringert man auch nicht die Armut.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704312100

Nächster Redner ist der Kollege Manuel Sarrazin für

die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704312200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich be-

ginne mit dem Thema Armutsrisikoquote.

Es gibt ein Argument, das man Ihnen vorhalten muss,
meine verehrten Damen und Herren von der Koalition:
Es wäre nicht so schlecht, wenn die Koalition grundsätz-
lich in dem Ziel übereinstimmen würde, dass wir uns in
Europa verbindlicher auf Standards einigen müssen und
dass das nicht nur im Stabilitäts- und Wachstumspakt
passieren kann, wo es auch passieren muss, sondern
auch in den Bereichen, die mit entscheidend dafür sind,
wie starke wirtschaftspolitische Koordinierung – oh,
welch Wunder, kein Einspruch von der FDP; Zitat aus
dem EU-Vertrag – geschehen kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Man fragt sich ja, warum Sie sich dagegen wehren,
das in Ihren Antrag hineinzuschreiben.


(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Punkt 6!)


Sie sagen, die Indikatoren sind Quatsch. Hier könnte
man zwei Argumente aufzählen. Erstens. Ich habe auch
in Ihrem Antrag keine Vorschläge dafür gelesen, wie
man das trotzdem quantitativ bemessen kann und
möchte.

Zweitens. Diesen Indikator – 60 Prozent des Median-
einkommens –, den Sie infrage stellen, nutzt die Bundes-
regierung seit Jahren selber, weil, zumindest wenn man
eine Statistik an Maßstäben berechnen möchte, die von
manchen deutschen Instituten nicht genommen werden,
es in der Statistik vielleicht besser aussieht, selber die
Lage darzustellen. Also fangen Sie hier keine Scheinde-
batte an. Das Armutsziel in der 2020-Strategie zu veran-
kern, ist richtig und wichtig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Man kann sich fragen, warum. Wir haben ja gerade
das Problem, das Herr Ulrich angesprochen hat, nämlich
dass sich die Menschen fragen, wo eigentlich das soziale
Gesicht der Europäischen Union in dieser Krise ist.


(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Ist das Ihr Part in der Europapolitik?)


Der Vertrag von Lissabon enthält ein soziales Ver-
sprechen, das Versprechen vom sozialen Fortschritt und
von sozialer Wohlfahrt. Diesem Versprechen müssen wir
gerecht werden. Herr Wadephul, ich arbeite gerne mit
Herrn Ulrich zusammen, vielleicht nicht in einer Koali-
tion, aber sonst parlamentarisch, aber wenn Sie meinen,
dass Herr Ulrich widerlegt werden muss, dann sollten
Sie einmal etwas in dem Bereich tun, anstatt immer nur
zu blockieren und zu bremsen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Da sind wir schon bei einem wunderbaren Beispiel
der aktuellen Debatte: blockieren und bremsen. Ihre
Fraktionen betreiben doch eigentlich eine Vogel-Strauß-
Politik, und zwar sowohl bei der EU-2020-Strategie als
auch bei der gesamten Krisenbewältigung. Wir brauchen
jetzt mehr Koordination in der Wirtschaftspolitik zwi-
schen den Staaten. Wir brauchen mehr Governance. Wir
brauchen verbindliche Zielerreichungen. Entschuldigen
Sie, wenn ich es so sagen muss, aber das Einzige, was
uns jetzt noch aus der Krise führt, ist, einerseits im Rah-
men des Stabilitätspaktes auf Schuldenabbau zu setzen
und für gesunde öffentliche Finanzen einzustehen und
andererseits für verbindliche wirtschaftliche Koordinie-
rung zu sorgen. Aber mit welchen Instrumenten? Zum
Beispiel mit dem Instrument der integrierten Leitlinien
und mit dem Instrument der nationalen Reformpro-
gramme, die verbindlicher geregelt werden sollten. Auch
diese Vorschläge sollte Herr Schäuble morgen in Brüssel
vortragen, wenn Sie etwas machen wollen. Wer aber die
EU-2020-Strategie nur mit Bremsen und Blockieren
begleitet, wird keinen Weg aus dieser Krise heraus auf-
zeigen können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Ich dachte, er hätte sich gemausert!)


Ich muss noch etwas zum Thema Bildungsziel sagen.
Ich finde, man sollte sich, wenn man eine anspruchsvolle
Politik betreiben möchte, nicht hinter dem deutschen Fö-
deralismus verstecken. Nach dem, was ich in der Vorbe-
reitung auf die heutige Debatte erfahren habe, ist es so-
gar so, dass inzwischen im Bildungsrat für den Bereich
Bildung und Forschung mit der Zustimmung der Bun-
desregierung ein Bildungsziel konzertiert wurde. Warum
wettern Sie hier eigentlich noch so dagegen?

Finden Sie, Ihre Bundesregierung hat in Brüssel mal
wieder nicht gut genug verhandelt? Oder finden Sie,
dass das sachlich Quatsch ist? Dann sollten Sie aber in
Ihrem Antrag andere Schwerpunktsetzungen vornehmen
und das tun, was wir auch machen, nämlich die Bundes-
regierung zu Recht kritisieren.





Manuel Sarrazin


(A) (C)



(D)(B)

Ich habe bereits gesagt – andere Redner der Opposi-
tion auch –, die EU-2020-Strategie sollte geschärft und
noch ehrgeiziger werden. Das gilt auch für den Bereich
Klimaschutz und Energie. Das gilt für den Bereich
Governance.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Sie sollte gestoppt werden!)


– Entschuldigung, die Kollegin von der SPD hat das ge-
sagt. Da hatten Sie – das muss ich zugeben – unrecht,
Herr Ulrich.

Wir setzen uns dafür ein, dass die Strategie im Sinne
des Green New Deal ausgestaltet wird, das heißt nach-
haltiges Wachstum, sparsamer Umgang mit Ressourcen,
kluge, zukunftsweisende technologische Innovationen in
Bildung, in Forschung, im Sozialen, in Kultur, um end-
lich den anscheinenden Gegensatz zwischen Herrn
Wadephul und Herrn Ulrich, der so gar nicht existiert,
Wohlstand und soziale Gerechtigkeit seien ein Gegen-
satz, aufzulösen.


(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Da gibt es schon noch einen Unterschied! Jetzt ist langsam Schluss!)


Sie mit Ihrem Gerede von Wachstum haben uns auch
nicht in eine Situation geführt, die uns jetzt ganz beson-
ders gut dastehen lässt. Wenn man wirklich nachhaltig
wachsen will, dann muss man in die Zukunft investieren.
Daran führt kein Weg vorbei.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Letzter Satz. Ich habe das Gefühl, Sie behandeln die
Strategie EU 2020 wie ein Schüler, der versucht, den
Lehrer davon zu überzeugen, weniger Hausaufgaben
aufzugeben. Aber auch in der Brüsseler Klasse landet
man so nicht unter denen mit den besten Noten, sondern
gilt als Problemschüler. Das finde ich schade.

Danke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704312300

Der Kollege Thomas Silberhorn hat nun das Wort für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Thomas Silberhorn (CSU):
Rede ID: ID1704312400

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wenn nun die Europäische Union eine neue
Strategie für Wachstum und Beschäftigung 2020 vorlegt,
dann ist das vielleicht nicht beabsichtigt gewesen, aber
durchaus sinnvoll, dass wir jetzt im Zusammenhang mit
der aktuellen Krise auf den Finanzmärkten darüber dis-
kutieren dürfen. Denn die beiden Themen hängen enger
miteinander zusammen, als man auf den ersten Blick
wahrhaben will. Eine stabile Währung, Preisstabilität ist
die Grundlage für mehr Wachstum in Europa. Anderer-
seits erleichtert wirtschaftliches Wachstum, das Haupt-
ziel dieser Strategie EU 2020 zu erreichen, nämlich die
öffentliche Verschuldung abzubauen und zu soliden
Staatsfinanzen zurückzukehren. Deswegen ist es sinn-
voll, dass wir über beides im Zusammenhang diskutieren
können.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Nun hat diese Strategie eine Vorläuferin in der soge-
nannten Lissabon-Agenda, die den Binnenmarkt zum
weltweit wettbewerbsfähigsten Raum machen wollte.
Wir können heute feststellen, dass diese Zielsetzung gut
gemeint war, aber grandios gescheitert ist. Deswegen
muss es nicht verkehrt sein, eine neue Strategie zu Pa-
pier zu bringen, die auf Wachstum und Beschäftigung
fokussiert ist. Im Gegenteil: Es ist durchaus zu begrüßen,
dass wir uns darauf konzentrieren, bei unseren wirt-
schafts- und beschäftigungspolitischen Zielen Prioritäten
zu setzen und nationales und europäisches Handeln
besser miteinander zu verzahnen.

Dabei muss gelten: Diese Ziele und Prioritäten, auf
die wir uns in der Europäischen Union verständigen wol-
len, müssen sich im Rahmen der geltenden Kompetenz-
ordnung bewegen. Sie müssen einer Subsidiaritäts-
prüfung standhalten, und sie müssen einen klaren
europäischen Mehrwert bringen. Was die Mitgliedstaa-
ten selber tun können, müssen wir nicht europaweit or-
ganisieren. Es muss klar sein, dass diese Strategie nicht
ausreichend ist, wenn sie nur zu Papier gebracht wird,
sondern sie muss tatsächlich in die Praxis umgesetzt
werden. Sonst bleibt sie so wertlos, wie es die Lissabon-
Strategie gewesen ist.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Deswegen ist es notwendig, dass wir uns auf Ziele
konzentrieren, die realistisch, verständlich und tatsäch-
lich erreichbar sind. Wenn ich mir den Vorschlag der
Kommission anschaue, sehe ich, dass dort von sich
gegenseitig verstärkenden Prioritäten, von fünf EU-
Kernzielen, von sieben Leitinitiativen, von zehn inte-
grierten Leitlinien usw. die Rede ist. Es ist also eine
ganze Fülle von geradezu verwirrenden Kategorien. Wer
soll das verstehen? Weniger wäre manchmal mehr. Des-
wegen wird es für den Erfolg der Strategie EU 2020 ent-
scheidend sein, dass wir den politischen Willen haben,
beschlossene Reformen tatsächlich in Angriff zu neh-
men und in die Praxis umzusetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich begrüße es, dass diese Strategie der Europäischen
Union einen wirksameren Überwachungsmechanismus
beinhalten soll, als es bei der Lissabon-Strategie der Fall
war. Insbesondere wollen die Staats- und Regierungs-
chefs im Europäischen Rat eine federführende Rolle
übernehmen. Ich glaube, das ist dringend notwendig.
Der Europäische Rat muss seine Funktion als Leitungs-
organ der Europäischen Union wieder hervorheben. Es
muss klar werden, dass Politiker und nicht Beamte das
Heft in der Hand halten. Deswegen ist es richtig und
wichtig, dass die Staats- und Regierungschefs deutlich





Thomas Silberhorn


(A) (C)



(D)(B)

machen, dass sie letztlich die Hauptverantwortung dafür
tragen, ob diese Strategie ein Erfolg wird.

Ich halte viel davon, dass wir hier nicht nur Papier
beschreiben, sondern auch einen Wettbewerb in Gang
setzen, welche Mitgliedstaaten die besten Ideen haben,
um die vereinbarten Ziele zu erreichen. Ich finde es sinn-
voll, dass der Bundesrat in diesem Zusammenhang ange-
regt hat, eine Rangliste der EU-Mitgliedstaaten in den
einzelnen Bereichen wie Wirtschafts-, Beschäftigungs-
und Sozialpolitik zu erstellen. Das ist der Weg, wie man
zu einem solchen Wettbewerb der besten Politikansätze
kommt.

Ich halte es für sehr gelungen, dass die Bundesregie-
rung in den bisherigen Gesprächen ihre Handschrift
durchsetzen konnte.


(Lachen bei der SPD – Dr. Eva Högl [SPD]: Das ist aber nicht erkennbar! – Ute Kumpf [SPD]: Das glauben Sie jetzt aber selber nicht!)


Die Bundesregierung hat mit Nachdruck vertreten, dass
wir uns nicht auf Ziele bei der Armutsbekämpfung und
Bildung verständigen werden, die weder mit der Kompe-
tenzordnung vereinbar sind noch eine Realisierungschance
haben. Es ist auch wichtig, dass wir die Wachstumsstrate-
gie und den Stabilitätspakt inhaltlich strikt voneinander
trennen. Wenn man beides vermengen würde, wie es die
Kommission vorgeschlagen hat, dann würde man den
Stabilitäts- und Wachstumspakt politischer Einfluss-
nahme aussetzen und inhaltlich aushöhlen. Das wäre
zum jetzigen Zeitpunkt ein geradezu fatales Signal an
die Finanzmärkte. Genau das Gegenteil ist jetzt erforder-
lich.

Auch etwas anderes ist vom Tisch, nämlich der Vor-
schlag, Lasten der Mitgliedstaaten automatisch durch
andere Mitgliedstaaten zu übernehmen, wenn einzelne
Länder der Europäischen Union ihre Ziele nicht errei-
chen können. Es gibt also keinen Blankoscheck für säu-
mige Staaten. Das ist wichtig; denn wenn diese Strategie
am Ende nicht nur geduldiges Papier, sondern in der Pra-
xis anwendbar sein soll, dann müssen wir einen Wettbe-
werb um die beste Lösung in den Mitgliedstaaten in
Gang setzen. Ich hoffe, dass der Bundesregierung dies
gelingt, wenn Anfang Juni diese Strategie beschlossen
werden soll.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704312500

Nächster Redner ist der Kollege Manfred Nink für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Manfred Nink (SPD):
Rede ID: ID1704312600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Um es gleich festzustellen: Dem vorliegenden Antrag
mangelt es mit Blick auf die europäische Wirtschafts-
politik an Ehrgeiz und Visionen.
Durch die Strategie EU 2020 soll Europa gestärkt aus
der Finanz- und Wirtschaftskrise hervorgehen. Damit
dieses Europa Wirklichkeit werden kann, brauchen wir
transparente Konzepte, klare Ziele und ein entschlosse-
nes Handeln. Nichts von alldem ist in Ihrem Antrag ent-
halten. Von Strategie kann keine Rede sein; im Gegen-
teil: Liest man Ihre Forderungen, gewinnt man den
Eindruck, dass Sie Ihrer eigenen Regierung misstrauen.
Das, was Sie da an Forderungen formulieren, sind Maß-
nahmen, die für eine gut funktionierende Bundesregie-
rung eigentlich selbstverständlich, gewissermaßen Ta-
gesgeschäft sein müssten.


(Beifall bei der SPD)


Die Kommission hat fünf messbare Kernziele vorge-
schlagen. Diese sollen in nationale Ziele umgesetzt und
bis 2020 verwirklicht werden. Bis dahin ist noch ein lan-
ger Weg, aber nur noch wenig Zeit; denn bereits im Juni
sollen im Europäischen Rat die ersten Einzelheiten ver-
abschiedet werden. Die Mitgliedstaaten sind deshalb
aufgerufen, jetzt im Dialog mit der Kommission die na-
tionalen Beiträge zu definieren. Bisher haben wir dazu
reichlich wenig von der Bundesregierung erfahren. Es ist
schon gesagt worden: Von den fünf von der Kommission
vorgeschlagenen Kernzielen ist lediglich zwei Zielen zu-
gestimmt worden, nämlich dem Ziel bezüglich der Be-
schäftigungsquote und dem Vorschlag, in Forschung und
Entwicklung zu investieren.

Auf die von der Kommission aufgestellten Leitinitia-
tiven, an denen sich die Kernziele orientieren und die
künftig für die Mitgliedstaaten bindend sein sollen,
gehen Sie nicht im Detail ein. Jetzt, nachdem es inzwi-
schen unter allen Staats- und Regierungschefs Konsens
ist, stimmen Sie wenigstens der Feststellung zu, dass es
künftig einer stärkeren wirtschaftspolitischen Koordinie-
rung bedarf. Aber wie eine effektive Koordinierung der
europäischen Wirtschaftspolitik aussehen soll und wie
die Mitgliedstaaten in die Verantwortung genommen
werden können, sagen Sie nicht.

Ich stelle weiterhin fest: Die europäische Wirtschafts-
politik ist ein Thema, welches auch bei unserem Bundes-
wirtschaftsminister bisher nicht angekommen ist. Ich
darf daran erinnern, dass die SPD-Fraktion unlängst ei-
nen Antrag für die Gestaltung der Strategie Europa 2020
vorgelegt hat. Sie hat unter anderem folgende wirt-
schaftspolitischen Ziele gefordert: Zum Beispiel hat sie
ein Angebot innovativer Technologien und Produkte ge-
fordert, die ein Wirtschaftswachstum bei verringertem
Energie- und Ressourcenverbrauch ermöglichen.


(Beifall bei der SPD)


Sie hat gefordert, dass Möglichkeiten sondiert werden,
wie Mittel für zusätzliche Investitionen generiert werden
können, um die dringend gebotene Belebung des inner-
europäischen Handels zu fördern.

All unsere Vorschläge haben Sie abgelehnt, ohne Stel-
lung dazu zu beziehen. Was hat der zuständige Wirt-
schaftsminister in dieser Hinsicht bisher vorgetragen?
Was hat er dargestellt? Nichts. Sein Handeln wird den
aktuellen wirtschaftspolitischen Herausforderungen nicht
annähernd gerecht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)






Manfred Nink


(A) (C)



(D)(B)

Die zentralen Fragen der Zukunft Europas bleiben unbe-
antwortet.

Bezeichnend ist auch der Bericht des Bundeswirt-
schaftsministers vom 17. Mai 2010 zu den Vorschlägen
der Kommission. Verehrte Kolleginnen und Kollegen,
dieser Bericht ist nicht mehr als ein kurzes, inhaltsleeres
Papier. Jede Praktikantin, jeder Praktikant hätte am ers-
ten Tag des Praktikums einen fundierteren Bericht er-
stellt.


(Anton Schaaf [SPD]: Genau!)


Das Schlimme daran: Mehr – so hat das Wirtschaftsmi-
nisterium auf Nachfrage geantwortet – sei nicht möglich
gewesen, da man noch im Verhandlungsprozess sei. Was
wird hier verhandelt?

Man muss doch zumindest Ziele benennen können.
Ich erwarte ja noch keine endgültigen Ergebnisse in al-
len Einzelheiten; aber ich denke, das Parlament sollte
darüber informiert sein, in welche Richtung die Regie-
rung gehen will. Wir fragen uns: Wo bleiben die Vor-
schläge des Ministers? Wann gedenkt die Bundesregie-
rung das Parlament und die deutsche Bevölkerung über
ihr Vorhaben und über die Maßnahmen zu unterrichten?

Es kann doch nicht sein, dass die Chancen Deutsch-
lands, Europa für die nächsten zehn Jahre mitzugestal-
ten, wegen Planlosigkeit aus der Hand gegeben werden,
ohne die weltweiten Folgen der Wirtschafts- und Finanz-
krise, der Krise Griechenlands und der Krise des Euros
zu beachten.


(Beifall bei der SPD)


Ich frage mich: Kann es sein, dass der Bundeswirt-
schaftsminister noch immer nicht begriffen hat, dass die
fundamentalen Herausforderungen, denen die euro-
päische Wirtschaft gegenübersteht, von der Politik
entschlossene Antworten verlangen? Die zunehmende
weltwirtschaftliche Verflechtung hat gezeigt: Die Welt-
wirtschaft wartet nicht auf Europa, und Europa wartet
nicht auf Deutschland. An dieser Stelle wird erneut die
Konzept- und Tatenlosigkeit der Regierung deutlich.

Als Rheinland-Pfälzer – das sage ich aus voller Über-
zeugung und in voller Ernsthaftigkeit –, der die Arbeit
von Herrn Brüderle als ehemaligem Wirtschaftsminister
von Rheinland-Pfalz kennt und schätzt, kann ich nur sa-
gen: Herr Minister, nehmen Sie die vernichtende Me-
dienschelte bezüglich Ihrer bisherigen Arbeit wie bei-
spielsweise in der Süddeutschen Zeitung vom 5. Mai
ernst. Hier muss mehr geschehen: Wir brauchen keine
reine Konsolidierungsstrategie, wir brauchen auch eine
Wachstumsstrategie. Das ist die Aufgabe von heute, und
das ist der Weg in die Zukunft. Wachen Sie auf und wer-
den Sie endlich aktiv!

Schönen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704312700

Herr Kollege Nink, das war Ihre erste Rede in diesem

Haus. Ich gratuliere Ihnen sehr herzlich und verbinde
das mit den besten Wünschen für Ihre weitere Arbeit.


(Beifall)

Als letzter Redner in dieser Debatte hat nun der Kol-
lege Dr. Stefan Kaufmann für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Stefan Kaufmann (CDU):
Rede ID: ID1704312800

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege
Nink, Sie haben Vorschläge der SPD zu Europa 2020 an-
gesprochen und kritisiert, dass es hierzu noch keine Stel-
lungnahme gibt. Zu Vorschlägen ohne ausreichende Sub-
stanz muss die Koalition, glaube ich, nicht Stellung
nehmen.

Heute Morgen haben wir hier im Plenum den Berufs-
bildungsbericht 2010 diskutiert. Dabei wurde einmal
mehr die überragende Bedeutung der beruflichen Bil-
dung für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes offenbar.
Unser System der dualen Bildung mit allen Formen und
Möglichkeiten der Aufstiegs- und Weiterbildung ist
weltweit einzigartig, und wir werden weltweit darum be-
neidet.

Was hat dieser Befund mit dem vorliegenden Antrag
der Koalitionsfraktionen zu Europa 2020 zu tun? Die
Europäische Union möchte sich mit der Strategie Europa
2020 zu quantitativen Bildungszielen in den einzelnen
Mitgliedstaaten bekennen. Dies soll eine der Maßnah-
men sein, um die Wettbewerbs- und Innovationsfähig-
keit der EU nachhaltig zu steigern. Konkret sollen
höchstens 10 Prozent eines Jahrgangs Schulabbrecher
sein – damit haben wir kein Problem – und mindestens
40 Prozent eines Jahrgangs ein Hochschulstudium absol-
vieren.

Was bedeutet das für Deutschland? Derzeit machen in
Deutschland circa 28 Prozent eines Jahrgangs einen
Hochschulabschluss, also deutlich weniger als 40 Pro-
zent. Nehmen wir jedoch die Absolventen beruflicher
Bildungsgänge, beispielsweise der Meisterausbildung
oder der Fachwirtausbildung, hinzu, so liegt die entspre-
chende Absolventenquote in Deutschland bei circa
39 Prozent. Wir müssen uns also nicht verstecken. Euro-
paweit reicht die Spannbreite bei der Hochschulabsol-
ventenquote derzeit von 23 Prozent bis über 50 Prozent.
Natürlich kommt es hierbei entscheidend darauf an, wel-
che Abschlüsse in die Quote eingerechnet werden und
wie die Bildungsgänge und Bildungssysteme in den ein-
zelnen Mitgliedstaaten ausgestaltet sind. Damit wir das
im Strategiepapier der EU formulierte ehrgeizige Absol-
ventenziel erreichen können, ist es von zentraler Bedeu-
tung, dass in die Hochschulabsolventenquote auch Ab-
schlüsse, die mit einem Hochschulabschluss qualitativ
vergleichbar sind, eingerechnet werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Dr. Eva Högl [SPD]: Sie wollen doch gar keine Bildungsziele!)


– Das stimmt doch nicht.

Nur so kann im Übrigen garantiert werden, dass unser
System der beruflichen Bildung nicht auf Dauer ausge-





Dr. Stefan Kaufmann


(A) (C)



(D)(B)

höhlt wird. Eine Erzieherin muss nicht an einer Hoch-
schule ausgebildet werden, ebenso wenig eine Kranken-
schwester, und beim Fliesenleger käme hierzulande
ohnehin niemand auf die Idee, die Ausbildung an die
Hochschule zu verlegen.

Dem unbestreitbaren Trend zur Höherqualifizierung
in einer komplexen Arbeitswelt trägt unser System der
beruflichen Bildung in hervorragender Weise Rechnung.
Dem weiteren Ausbau dualer Ausbildungsgänge ist da-
her unbedingt Priorität einzuräumen. Dies hat mir erst
gestern ein Bildungsforscher des Zentrums für Europäi-
sche Wirtschaftsforschung in einem Gespräch bestätigt.
Demnach stellt der Fachkräftemangel in den nächsten
Jahren ein deutlich größeres Problem dar als der immer
wieder beklagte Akademikermangel.

Ich verhehle nicht, dass innerhalb des Bundestages
wie auch des Bundesrates erhebliche Bedenken beste-
hen, auf EU-Ebene überhaupt quantitative Bildungsziele
festzulegen. Dies widerspricht dem Kompetenzgefüge
der Europäischen Union und insbesondere dem Subsi-
diaritätsprinzip. Es besteht kein Zweifel, dass für die in-
haltliche und strukturelle Entwicklung des Bildungssys-
tems allein die Mitgliedstaaten – im Falle Deutschlands
die Bundesländer – und nicht Brüssel verantwortlich
sind.

Es ist im Vorfeld des Europäischen Rates allerdings
nicht gelungen, einen Verzicht der EU auf quantitative
Bildungsziele im Strategiepapier durchzusetzen. Umso
dringender ist es daher, den bildungspolitischen Beson-
derheiten der einzelnen Mitgliedstaaten dadurch Rech-
nung zu tragen, dass beim Definieren des Absolventen-
ziels im Juni eben auch solche Abschlüsse beruflicher
Bildungsgänge einbezogen werden, die Hochschulab-
schlüssen vergleichbar sind. Nur dann nämlich achtet die
EU auch bei der Umsetzung ihrer Ziele die unterschied-
lichen Wege des Kompetenzerwerbs und damit die Bil-
dungshoheit der Mitgliedstaaten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die ursprünglich sehr verengte, rein formale Sicht der
EU auf bloße Hochschulabschlüsse kann mithin nicht
aufrechterhalten werden. Dies gilt umso mehr, wenn die
EU tatsächlich am 40-Prozent-Ziel festhält.

Darüber hinaus muss es dabei bleiben, dass die Bun-
desregierung quantitativen Festlegungen beim Kernziel
Bildung nur zustimmt, wenn dies in Abstimmung mit
den für den Bildungsbereich zuständigen Bundesländern
geschieht. Dies ist in den Ziffern 5 b und 5 c der
Schlussfolgerungen des Europäischen Rates vom März
auch so vorgesehen. Dort wird ausdrücklich auf die Fest-
legung nationaler Ziele unter Berücksichtigung der na-
tionalen Gegebenheiten abgestellt.

Es darf jedenfalls unter keinen Umständen eine
schleichende Kompetenzverlagerung weg von der bisher
praktizierten offenen Koordinierung im Bildungsbe-
reich geben. Eine Gleichbehandlung des Bildungsbe-
reichs mit vergemeinschafteten Politikbereichen muss
verhindert werden. Darüber sollte auch hier im Hause
Einigkeit bestehen.
In diesem Sinne bitte ich um Unterstützung für den
Koalitionsantrag.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704312900

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1758 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Klaus Ernst,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Korrektur der Überleitung von DDR-Alters-
sicherungen in bundesdeutsches Recht

– Drucksache 17/1631 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe,
damit sind Sie einverstanden. Dann können wir so ver-
fahren.

Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Dr. Martina Bunge für die Fraktion Die Linke
das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Martina Bunge (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704313000

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Es ist eine Legende, dass es den Ostrentnerinnen
und -rentnern durchweg gut geht. Natürlich wirkt sich
eine lange, kaum unterbrochene Erwerbsbiografie güns-
tig auf die Rente aus. Verkannt wird aber, dass die Rente
für fast alle das einzige Alterseinkommen ist. Private
Vorsorge war nicht üblich, Betriebsrenten gab es kaum.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: War das ein soziales System!)


Außer Acht gelassen wird bei Ihren Durchschnittsbe-
trachtungen, dass hier Äpfel mit Birnen verglichen wer-
den. Mit dem Rentenüberleitungsgesetz erhielten alle
eine Rente nach SGB VI. Zusatzversorgungen und sons-
tige Besonderheiten blieben außen vor.

Es ist klar: Wenn im Osten alle Berufsgruppen – also
auch Akademikerinnen und Akademiker, Beschäftigte
des öffentlichen Dienstes, Pädagogen oder Ärztinnen –
in den Durchschnitt eingerechnet werden, dann wird die-
ser verfälscht, weil im Westen Beamte oder Freiberufler
in berufsständischer Versorgung bei der Berechnung des
Durchschnitts außen vor bleiben.


(Anton Schaaf [SPD]: So ist es!)






Dr. Martina Bunge


(A) (C)



(D)(B)

Dahinter steckt aber auch, dass 1991 bei der Renten-
überleitung etliche DDR-Regelungen bewusst nicht
überführt wurden. Diesen Problemkreisen widmet sich
unser Antrag. Da uns häufig vorgeworfen wird, wir wür-
den uns nur um Personen mit vermeintlichen Privilegien
oder besonderer Staatsnähe kümmern, lassen Sie mich,
obwohl ich nur vier Minuten Redezeit habe, die Spann-
breite der Probleme aufzeigen. Die Beschäftigten des
Gesundheits- und Sozialwesens mit einem besonderen
Steigerungsfaktor werden nicht anerkannt. Zu nennen
sind weiter die Geschiedenen ohne Versorgungsaus-
gleich, die Zuwendungen für Ballettmitglieder, nachdem
sie die Bühne verlassen haben, die Bergleute aus der
Braunkohleveredelung, diejenigen, die Angehörige ge-
pflegt haben ebenso wie mithelfende Familienangehö-
rige von Handwerkern und Selbstständigen. Handwerker
sind in der DDR bei Gott nicht mit Glacéhandschuhen
angefasst worden, aber was Sie machen – zehn bis
15 Jahre setzen Sie auf dem Rentenkonto gleich null –,
ist beschämend.


(Beifall bei der LINKEN)


Dazu gehören auch zweite Bildungswege, Aspirantu-
ren und vereinbarte längere Studienzeiten von Spitzen-
sportlerinnen und -sportlern. Das ist übrigens ein Grund
für die Erfolge von DDR-Athletinnen und -Athleten; es
ist nicht immer anderes, was Sie vermuten und vorbrin-
gen.

Aber weiter zur Rente: Negiert werden im Ausland
erworbene Rentenansprüche und freiwillige Beiträge.
Sie waren zwar mit 3 bis 12 Mark in der Tat niedrig, aber
man konnte auch eine gediegene 3- bis 4-Raum-Woh-
nung für 50 bis 60 Mark mieten. Damit ergibt sich eine
völlig andere Relation. Subventionierte Preise haben
nämlich die niedrigen Bruttolöhne gestützt. Diese sind
jetzt wiederum die Grundlage für die Rentenberechnung.
Das ist ein weiteres Problem.

Zu den Betroffenen gehören nicht nur die eingangs er-
wähnten Akademikerinnen und Akademiker, sondern
auch Beschäftigte von Bahn und Post, die eine historisch
gewachsene Alterssicherung hatten. Vergessen wir nicht:
Die Wertneutralität des Rentenrechts wurde verletzt, in-
dem willkürlich in die Rentenformel eingegriffen wurde.
Für als staatsnah Eingestufte gilt nicht die Beitragsbe-
messungsgrenze, sondern für die Berechnung wird nur
der Durchschnitt zum Ansatz gebracht.

Gregor Gysi hat vielen von Ihnen vor fast einem Jahr
an dieser Stelle bei der Beratung unserer 17 Anträge ver-
sprochen: Wenn Sie nichts tun, dann werden wir Sie in
der neuen Legislaturperiode daran erinnern, damit Sie
tätig werden. Wir halten Wort.


(Beifall bei der LINKEN)


Was tun Sie? Was tut die Bundesregierung? Vage Ver-
sprechen, selbst von der Kanzlerin. Das hilft aber nicht
bei den Existenznöten, die viele haben. Sie kündigt an,
sie will DDR-Hinterlassenschaften in der Rente endlich
aufarbeiten. Die FDP hat in der letzten Legislaturperiode
als Opposition einen eigenen Antrag mit fast allen von
uns aufgezeigten Problemen eingebracht. Der Lösungs-
vorschlag war zwar nicht toll,

(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber systemkonform!)


aber was passiert jetzt? Wir sind mitten in der Legisla-
turperiode, aber es geschieht nichts.

Nehmen Sie unseren Antrag als Gedankenstütze! Ich
denke, hier sind Hausaufgaben zu machen, die bisher
keine Bundesregierung erledigt hat. Seien Sie nicht wei-
ter borniert und ignorant! DDR-Biografien müssen aner-
kannt werden. Es ist gelebtes Leben, das sich auch in
den Altersbezügen widerspiegeln muss.


(Beifall bei der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704313100

Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.


Dr. Martina Bunge (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704313200

Für meine Fraktion gilt: Solange Sie nichts tun, wer-

den wir Sie in dieser Sache nicht in Ruhe lassen.


(Beifall bei der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704313300

Nächster Redner ist der Kollege Frank Heinrich für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1704313400

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Bunge, ich möchte
einen Schritt zurückgehen und am Anfang etwas allge-
meiner bleiben. Denn auch Ihr Antrag ist am Anfang
sehr vergangenheitsorientiert – um es so kurz zu sagen.

Die Übertragung des Rentensystems West auf das
Rentensystem Ost war eine großartige gesellschaftliche
Leistung, von der man nicht wissen konnte, dass sie so
ausgeht, wie wir es zum Schluss geschafft haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Das steht auch drin!)


– Das wollte ich damit einfach in den Raum stellen.

Die schwierigen Ausgangsbedingungen, die man gar
nicht oft genug in Erinnerung rufen kann, waren das von
Ihnen gerade geschilderte in Berufsgruppen zergliederte
und um Sonderversorgungssysteme angereicherte DDR-
Rentenrecht.


(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Das bundesdeutsche ist genauso gegliedert!)


– Das bundesdeutsche hatte auch seine Eigenarten. – Es
handelte sich um einen hochkomplizierten Vorgang ohne
vergleichbares Beispiel in der Geschichte. Kein Patent-
rezept war vorhanden, auf das man hätte zurückgreifen
können.

Bei dieser komplexen Angelegenheit stand man vor
der Wahl, entweder ein Tabellenwerk zu nehmen und es
– aus westlicher Sicht – dem Osten überzustülpen, um





Frank Heinrich


(A) (C)



(D)(B)

alles bis ins Feinste für jede einzelne Person festzulegen,
oder sich bei seinem Vorgehen einiger Leitplanken zu
bedienen. Das Tabellenwerk wurde aus verständlichen
Gründen abgelehnt, weil es dabei um eine Aufgabe ge-
gangen wäre, die vom bürokratischen Aufwand her
kaum zu überbieten gewesen wäre, und weil dadurch
keinesfalls mehr Gerechtigkeit entstanden wäre. Die ge-
schaffenen Leitplanken und Eckpunkte, die wir jetzt dis-
kutieren und auch früher schon immer wieder diskutiert
haben – Sie haben selber die 16 Anträge und den Geset-
zesvorschlag angesprochen, den Herr Gysi im letzten
Jahr eingebracht hatte –, sind, wie wir alle wissen, in
Abhängigkeit von den tatsächlichen Entgelten und nach
einer nach bestem Wissen und Gewissen eingeführten
Regelung, was die Stichtage und die Rentenhöhe angeht,
entstanden.

Dass Sie jetzt das Wort „Willkür“ in den Mund ge-
nommen haben und dieses Wort in Ihrem Antrag min-
destens zweimal vorkommt, kommt mir aus Ihrer Rich-
tung als etwas schwierig vor. Eine Linie wurde gezogen,
die dem Thema, den Menschen und den zusammen-
wachsenden Systemen nach dem besten Wissen und Ge-
wissen der damals Verantwortlichen am nächsten kam.
Es war nie der Anspruch, und es gab auch nie die Mög-
lichkeit, 40 Jahre DDR mit diesem Rentensystem ein-
fach ungeschehen zu machen. Oder sollten dadurch
entstehende Kunstrenten, die letztendlich jeglicher
Rechtsgrundlage entbehrt hätten, den Bürgern in den al-
ten Bundesländern zur solidarischen Mitbezahlung vor-
gelegt werden? Es sollte nicht nach dem Rosinenpicker-
prinzip gehen. Trotzdem ist offensichtlich, dass durch
die errungene Linie ein Teil von Betroffenen eher Ge-
winner und ein anderer Teil von Betroffenen eher Verlie-
rer sind. Das liegt in der Sache selbst, nämlich den Leit-
planken, begründet.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Kompliziertheit dieser zu überführenden oder
miteinander zu vereinbarenden Systeme bringt eine Auf-
gabe mit sich, die sich in dem ausdrückt, was wir heute
hier vor uns haben. Wie schon gesagt, die BRD war
nicht in der Lage, alle Ungerechtigkeiten der ehemaligen
DDR auszugleichen, und darüber hinaus ist das Renten-
system wahrlich nicht der Reparaturbetrieb des Erwerbs-
lebens.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Noch gestern habe ich mit jemandem gesprochen, der
zu den in Ihrem Antrag angesprochenen Personengrup-
pen gehört. Er sagte mir Folgendes: Wir unterstützen
diesen Antrag in keinster Weise. – Denn es geht dieser
Gruppe nicht um eine gerechte Rente, sondern vielmehr
um eine leistungsgerechte Altersversorgung, die weit
mehr als nur Rente ist.


(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Das habe ich doch gesagt!)


Es geht um eine Anerkennung von Lebensleistung.
Darum ist eine Differenziertheit nötig, die in dem An-
trag, den Sie jetzt stellen, nicht vorkommt. Was in die-
sem Werk zusammenfließt, war eine gemeinschaftliche
Leistung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern so-
wie von Arbeitgebern als Beitrags- und Steuerzahler, die
letztlich hohe Anerkennung verdient. Die Grundlage war
ein hohes Maß an Kompromissbereitschaft und -fähig-
keit. Ganz im Sinne des bundesdeutschen Rentensys-
tems, das auf den Gleichheitsgrundsatz setzt, wurde mit
der Übertragung dieses Systems Gewaltiges geleistet.

Die Gerichte, sowohl das Bundesverfassungsgericht
als auch Sozialgerichte, haben in mehreren Verfahren
sehr deutlich gemacht, dass die durch den Einigungsver-
trag geschaffene Lösung und die entsprechenden Fristen
und Leitlinien sicher sind.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704313500

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Dr. Bunge?


Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1704313600

Bitte schön.


Dr. Martina Bunge (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704313700

Herr Kollege Heinrich, Sie sind ja im A-und-S-Aus-

schuss und in dieser Problematik neu. Sie kommen aus – –


(Ute Kumpf [SPD]: Und er kommt aus dem Westen!)


– Ja, aber ich glaube, Ihr Wahlkreis ist jetzt im Osten?


Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1704313800

Ich bin im Wahlkreis Chemnitz, richtig.


Dr. Martina Bunge (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704313900

Dieser Bürger aus Ihrem Wahlkreis, mit dem Sie ge-

sprochen haben, hat gesagt, es gehe ihm nicht um die
Rentenüberleitung, sondern um eine gerechte Altersver-
sorgung. Sie interpretieren nun unseren Antrag und sa-
gen, dazu stehe nichts drin. Haben Sie zur Kenntnis ge-
nommen, dass ich gerade in meiner Rede gesagt habe,
dass das Problem für viele, die eine Zusatz- und Sonder-
versorgung hatten, darin besteht, quasi in die Renten ge-
stopft worden zu sein, um es salopp zu formulieren? Si-
cherlich handelt es sich bei der Rentenüberleitung um
eine historische Leistung; das steht auch in unserem An-
trag. Aber es sind viele Probleme entstanden. Wir schla-
gen in unserem Antrag für die Überleitung von DDR-
Alterssicherungen in bundesdeutsches Recht ein System
sui generis vor, das nur für begrenzte Zeit und für eine
bestimmte Personengruppe gilt. Wenn Sie nun trotzdem
etwas anderes behaupten, dann haben Sie entweder un-
seren Antrag nicht richtig gelesen, oder Sie können ihn
nicht interpretieren.


Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1704314000

Die Frage, die ich aus Ihren Ausführungen heraus-

lese, beantworte ich wie folgt: Ja, ich habe Ihren Antrag
gelesen, genauso wie dieser Bürger, der aus einer der
Gruppen kommt, die Sie angesprochen haben. Was ich
vorgetragen habe, ist seine Interpretation Ihres Antrags.
Ich habe ihn zitiert. Es ist seine Auffassung, dass er sich
in Ihrem Antrag nicht wiederfindet. Das ist meine kurze
Antwort auf Ihre Frage.





Frank Heinrich


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wenn wir unser Rentensystem, um das wir oft benei-
det werden und auf das wir stolz sein können, und damit
die Umlagefinanzierung nicht aufs Spiel setzen wollen,
müssen wir mit den daraus erwachsenden Härten, Ver-
werfungen und Randschwächen leben. Aber die meisten
dieser Verwerfungen und der – nur zu verständlich – ge-
fühlten Ungerechtigkeiten sind nicht bei der Umwand-
lung des DDR-Rentensystems entstanden, sondern auf-
grund der Gerechtigkeitsverhältnisse damals in der
DDR, die mit meinem heutigen Verständnis von Gerech-
tigkeit nicht mehr ganz so viel zu tun haben.

Sie reden von den Durchschnittszahlen. Dabei werden
manchmal Einzelschicksale nicht berücksichtigt; das ist
richtig. Sie als Linke konzentrieren sich in Ihrem Antrag
auf die Besonderheiten, die weggefallen sind, unter-
schlagen aber die Vorteile, die den Menschen durch das
gesamtdeutsche System letztlich zugute gekommen sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es können nicht alle Vorteile des DDR-Rentensystems
mit dem bundesdeutschen System kombiniert werden.
Das ist erstens nicht finanzierbar – hierzu halten Sie sich
in Ihrem Antrag übrigens sehr bedeckt. Und zweitens:
Wäre dies denn letztlich gerecht? Dazu habe ich sehr
viele Bedenken in meinem Wahlkreis gehört. Das Ge-
rechtigkeitsempfinden spielt meiner Meinung nach eine
große Rolle in dieser Auseinandersetzung. Jeder ostdeut-
sche Bürger und jede ostdeutsche Bürgerin, der bzw. die
sich durch eines der Sonderversorgungssysteme der
DDR eine höhere Rente erhofft hat und diese nun nicht
bekommt, wird zwangsläufig enttäuscht sein. Fakt ist,
dass ein Großteil der ostdeutschen Rentner durch die
Rentenüberleitung erhebliche finanzielle Verbesserun-
gen hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Politik kann nicht – das wissen wir nicht nur aus die-
sem Bereich – allen in gleichem Maß gerecht werden.
Die Problematik besteht darin, dass Menschen, die zu
DDR-Zeiten lange Jahre schwer gearbeitet haben, Ver-
sprechungen gemacht wurden, die mit dem Ende des
Systems nicht eingelöst werden konnten. Dass sich diese
Menschen nun benachteiligt fühlen, ist absolut verständ-
lich. Aber dass das jetzt gültige Rentensystem diese un-
gedeckten Schecks einlösen soll, die es selber nicht aus-
gestellt hat, ist schlicht nicht finanzierbar.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Vielleicht ist es auch an der Zeit, sich dieser Realität
endlich zu stellen, anstatt weiter unbegründete Hoffnun-
gen zu schüren und jahraus, jahrein zu vertrösten. Ich
denke, es geht an dieser Stelle sogar weiter. In dem Mo-
ment, wo Sie unberechtigte Hoffnungen schüren, werden
Sie den Rentnerinnen und Rentnern in diesem Land
nicht gerecht.


(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Ihre Bundeskanzlerin macht das doch! Auf dem letzten Seniorentag wieder!)

Wir wollen keine neuen Ungerechtigkeiten schaffen. Wir
werden ganz genau hinschauen, wo es Ungerechtigkei-
ten gibt, die beseitigt werden müssen. Wir werden den
Wechselwirkungen und den materiellen Verwerfungen,
die bei diesem Bemühen entstehen können, entgegentre-
ten. Wir werden das genau im Blick behalten.

Noch einige Worte zu dem letzten Satz Ihres Antrags,
zur Angleichung des Rentenwerts Ost an den Renten-
wert West.

Die CDU/CSU-Fraktion hat den hohen Anspruch, be-
reits zur Mitte der Legislaturperiode im gemeinsamen
Rentenrecht eine Lösung zu finden. Dazu hat sich vor
etwa zehn Tagen der Regierungsbeauftragte für die
neuen Bundesländer, unser Innenminister Thomas de
Maizière, eindeutig geäußert: Wir werden an einer Lö-
sung arbeiten, die Gerechtigkeit schafft – das ist ein Zitat –,
und zwar entsprechend unserem Koalitionsvertrag. –
Dazu sind allerdings genaues und sorgfältiges Arbeiten
und eine Prüfung notwendig, wobei Sie dabei herzlich
willkommen sind. Dieses Projekt steht für eine intensive,
verantwortungsvolle Auseinandersetzung der Regie-
rungskoalition mit dem Thema Rente – das wollten Sie
uns eben absprechen –, eine Suche nach einem Konsens,
der möglichst breit sein sollte, und eine gerechte Lösung,
die Ungerechtigkeiten oder Verwerfungen bei dieser An-
gleichung ausschließt. Auch hier wird ähnlich viel Kom-
promissfähigkeit nötig sein wie vor 20 Jahren. Ich bin si-
cher, dass wir zu einem gerechten Ergebnis kommen
werden. Nach meiner Erkenntnis werden dazu bereits
erste Berechnungen bzw. Kalkulationen angestellt. Sie
alle wissen, dass es sich hierbei rein rechnerisch und
haushälterisch um eine große Aufgabe handelt. Ich bin
zuversichtlich, dass wir im Gegensatz zur Wendezeit ei-
nen Vorteil haben: Wir stehen nicht ganz so unter Zeit-
druck. So können wir die nötigen Schritte maßvoll und
hoffentlich in guter Zusammenarbeit auch mit den ande-
ren Parteien in diesem Hause angehen.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Ja, die sterben alle weg! Das ist es!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704314100

Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Anton Schaaf

das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Anton Schaaf (SPD):
Rede ID: ID1704314200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr ge-

ehrte Frau Bunge, auch wenn man aus Sicht der Betrof-
fenen berechtigte Anliegen aufgreift, bin ich immer sehr
vorsichtig, wenn man die gesetzliche Rentenversiche-
rung als Reparaturbetrieb begreift.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


So wie sie aufgebaut ist, ist sie lohn- und beitragsbezo-
gen. Sie spiegelt also die Lebensleistung real wider. Sie
kann nicht Dinge ausgleichen, die nicht stattgefunden
haben, und sie kann nicht Defizite von Menschen, die zu





Anton Schaaf


(A) (C)



(D)(B)

kurz gekommen sind, ausgleichen. Sie kann nicht unge-
deckte Schecks, die einmal in der DDR ausgestellt wor-
den sind, einlösen. Das muss man begreifen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich sage damit nicht, dass all die Anliegen, die Sie, Frau
Bunge, in Ihrem Antrag formuliert haben, unberechtigt
sind. Das sage ich in keinster Weise, aber ich warne da-
vor, die Rentenversicherung als Reparaturbetrieb zu be-
trachten. Wir delegitimieren sonst die Lohn- und Bei-
tragsbezogenheit der Rentenversicherung, und damit
delegitimieren wir auch Solidarität und Parität in diesem
System. Ich wäre an der Stelle sehr vorsichtig.


(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Wenn wir bei den Personengruppen, die Sie aufgelis-
tet haben – die könnte man im Einzelnen einmal durch-
gehen; ich greife nachher einen Punkt auf –, berechtigte
Interessen ausmachen, dann muss man anders darüber
diskutieren. Ich persönlich sage: Da hilft uns am Ende
nicht die gesetzliche Rentenversicherung alleine, son-
dern man muss so etwas wie ein Rentenüberleitungsab-
schlussgesetz beschließen, in dem eventuelle Fragen ge-
klärt werden. Das muss übrigens im Zusammenhang mit
der Frage der Ost-West-Angleichung geschehen. Ich
fand die Kommunikation, die dazu in den letzten Tagen
stattgefunden hat, spannend. Im Koalitionsvertrag dieser
christlich-liberalen Koalition – auch ich habe mir diese
Begrifflichkeit angewöhnt, damit Sie sie nicht dauernd
benutzen müssen –


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Sehr schön!)


steht, dass die rentenrechtliche Angleichung zwischen
Ost und West in dieser Legislaturperiode geregelt wer-
den soll. Dabei lege ich Wert auf das Wort „rentenrecht-
lich“. Das heißt, für die Menschen wird wahrscheinlich
materiell nichts dabei herauskommen. Auch das ist rela-
tiv klar bei dieser Begrifflichkeit. Im Koalitionsvertrag
steht: für diese Legislaturperiode. Dann gibt es einen
kleinen Parteitag der CDU, auf dem beschlossen wird,
dass es eine rentenrechtliche Angleichung von Ost und
West gibt. Da steht aber nichts mehr davon, dass das in
dieser Legislaturperiode geschehen soll.


(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Genau!)


Schauen Sie einmal hin. Wahrscheinlich gibt es zu viele
Wahlen im Osten. Wenn materiell nichts dabei heraus-
kommt, dann kann man das nicht machen. Das ist völlig
klar. Dann sagt der Kollege Kolb, die Ost-West-Anglei-
chung müsse man noch in diesem Jahr auf den Weg brin-
gen, die ersten Pflöcke müssten eingeschlagen werden.
Das habe ich zumindest gelesen. Daraufhin kontert die
Arbeitsministerin gleich und sagt: Um Himmels willen,
in diesem Jahr können wir gar nichts machen, weil wir
so sehr mit dem SGB II beschäftigt sind. Da passiert gar
nichts. – Ich bin gespannt, wie diese Regierung an der
Stelle das, was sie den Menschen im Osten versprochen
hat, einlösen will. Dabei erkenne ich unsere eigenen De-
fizite an, nämlich dass es uns in der letzten Legislatur-
periode nicht gelungen ist, tatsächlich einige Schritte vo-
ranzukommen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Immerhin!)


Das will ich überhaupt nicht bezweifeln. Nur: Wenn das
als Arbeitsplan in einen Koalitionsvertrag hineinge-
schrieben wird, erwartet man auch Konkretes dazu; denn
die Menschen haben einen Anspruch darauf, dass das,
was sie gewählt haben, dann auch real Politik wird. Das
ist der Anspruch, den Sie immer formuliert haben.

Jetzt konkret zum Antrag. Wenn man Ansprüche aus-
findig macht und auflistet, darf es nicht dabei bleiben,
sie aufzulisten, sondern man muss auch sagen – das ge-
hört zur Seriosität dazu –, wie man es denn machen will
und wie man es denn rechtfertigen kann.

Sie sprechen beispielsweise die Geschiedenen an. Es
gab in der DDR keinen Versorgungsausgleich. Wie soll
man jetzt, 20 Jahre nach Wiederherstellung der Einheit,
einen Versorgungsausgleich über das Rentenversiche-
rungssystem ordentlich darstellen? Das geht schlichtweg
nicht, wenn man nicht neue Ungerechtigkeiten schaffen
will. Wenn man es seriös meint, muss man auch Antwor-
ten auf die Frage geben, wie das gemacht werden soll,
wie man den berechtigten Interessen dieser Menschen
eventuell gerecht werden kann. Über das Rentenversi-
cherungssystem können Sie das aus meiner Sicht in
keinster Weise darstellen.

Das ist genau der Punkt bei vielen Dingen, die Sie
aufgelistet haben, zum Beispiel bei den Beschäftigten im
Bereich Braunkohle. Gibt es nicht rentenrechtliche
Wechselwirkungen in den Westen hinein, wenn man da
die Zugeständnisse macht?

Dann haben Sie Anwälte und ähnliche Gruppen ange-
sprochen. Es gab in der DDR keine Versorgungswerke,
die wir hätten übernehmen können oder die wir in west-
deutsche Versorgungswerke hätten überführen können.
Das sind technische Probleme. Deswegen hat man im
Zusammenhang mit dem Renten-Überleitungsgesetz
beschlossen, die Menschen in die Rentenversicherung
hineinzunehmen; damit hatten sie einen gesicherten An-
spruch im Alter. Das war eine herausragende Leistung.
Übrigens – das sage ich sehr gerne; es ist auch das erste
Mal, dass ich das in dieser Form in einem Antrag von Ih-
nen zum Thema Rente gelesen habe –: Die Übernahme
in die Rentenversicherung ist für die allermeisten Men-
schen in der DDR, für 4 Millionen Rentnerinnen und
Rentner, völlig glatt gelaufen.


(Zuruf von der LINKEN)


– Nein, ich habe nie darauf abgestellt, dass Sie staatsnahe
und parteinahe Leute im Besonderen im Fokus hätten;
das unterstelle ich nicht. Aber ich kann die Kolleginnen
und Kollegen verstehen, die sich an der Stelle verdammt
schwertun, zu springen und zu sagen: Alles, was da ver-
sprochen worden ist, wird jetzt auch gewährt. – Ich kann
verstehen, dass viele Menschen, insbesondere Opfer die-
ses Staates oder dieses Systems, ihre Schwierigkeiten
damit haben. Insofern habe ich ganz klar eine andere
Meinung als Sie,





Anton Schaaf


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


und die begründe ich auch. Das waren Menschen, die in
der DDR, als sie noch gearbeitet haben, partei- oder
staatsnah, in der Regel besondere Privilegien hatten.


(Maria Michalk [CDU/CSU]: So ist es!)


Diese besonderen Privilegien vor dem Hintergrund des-
sen, dass sie nicht Opfer dieses Staates und dieses Sys-
tems waren, einfach auf die Rente zu übertragen, halte
ich zumindest aus Sicht der Opfer und der anderen Men-
schen, die in der DDR gelebt haben, für ziemlich proble-
matisch.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Katja Mast [SPD])


Wir werden Sie von der Regierung jetzt an dem mes-
sen müssen, was Sie zum Thema Ost-/West-Rente auf
den Weg bringen. Sie werden sagen müssen, wie es mit
der Angleichung des Rentenwertes aussieht. Es geht da-
bei nicht nur um die rein rechtliche Frage der Anglei-
chung, sondern auch um die Frage des Rentenwertes. Sie
werden darlegen müssen, was sie mit dem Höherwer-
tungsfaktor machen wollen; denn der ist für die Men-
schen ganz entscheidend, die jetzt noch nicht in Rente
sind, sondern arbeiten, und zwar durchschnittlich für viel
weniger Geld arbeiten als im Westen. Was machen wir
also mit dem Höherwertungsfaktor? Ich sage Ihnen: Eine
rentenrechtliche Ost-/West-Angleichung, die nur recht-
lich an dem Thema schraubt und nicht die Frage beant-
wortet, was wir im Hinblick auf die Menschen machen,
die jetzt nur unterdurchschnittlich verdienen können,
kann nicht im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer im Osten der Republik sein.

Ich bin auf Ihre schlüssigen Antworten gespannt. Wir
werden uns an der Debatte beteiligen. Ich sage noch ein-
mal: Lasst uns die Einzelfragen nicht innerhalb des Ren-
tenrechts regeln, sondern lasst sie uns als sozialpoliti-
sche Fragen regeln, auch vor dem Hintergrund dessen,
dass es um die Herstellung von Gerechtigkeit geht! Da-
mit wäre ich einverstanden. Lasst uns ansonsten
schauen, dass die Ost-/West-Frage nicht auf eine rechtli-
che Frage reduziert wird, sondern für die Menschen im
Osten tatsächlich substanziell und materiell beantwortet
wird!

Danke.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704314300

Nächster Redner ist der Kollege Dr. Heinrich Kolb

für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1704314400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Das Thema, das wir jetzt hier debattieren, ist wichtig,
aber es ist alles andere als neu. Neu ist – da pflichte ich
Herrn Kollegen Schaaf bei –, dass ein Antrag der Linken
mal nicht mit Kampfparolen beginnt, sondern mit einer
Art Lob für die damalige schwarz-gelbe Bundesregie-
rung, die das Renten-Überleitungsgesetz und das An-
spruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz 1991
formuliert hat.


(Zuruf der Abg. Dr. Martina Bunge [DIE LINKE])


– Das muss man einmal besonders hervorheben. Das ist
nicht der Normalfall bei Ihren Vorlagen, Frau Kollegin
Bunge.

Die beiden Gesetze damals waren eine große histori-
sche Leistung, die die Leistungsfähigkeit unseres Sozial-
staates allen Menschen in den neuen Ländern deutlich
vor Augen geführt hat.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Sie waren ein entscheidender Beitrag zur Verwirkli-
chung der deutschen Einheit. Wäre das westdeutsche
Rentensystem damals sofort auf die neuen Länder über-
tragen worden, hätte es dort Anfang der 90er-Jahre nicht
die starken Rentensteigerungen von bis zu 30 Prozent
pro Jahr geben können. Millionen von Menschen haben
wir damit einen Lebensstandard im Alter gesichert, den
sie jedenfalls zu DDR-Zeiten in keiner Weise erhoffen
konnten.

Ich freue mich, Herr Kollege Schaaf, dass die Koali-
tion sich in dieser Legislaturperiode vorgenommen hat,
eine Vereinheitlichung des Rentenrechts Ost/West vor-
zunehmen, also ein einheitliches Recht einzuführen.
20 Jahre nach der Wiedervereinigung ist das überfällig.
Für mich ist auch wichtig, darauf hinzuweisen, dass der
Rentenwert Ost gegenüber dem Rentenwert West seit
2004 nicht mehr spürbar aufgeholt hat. Deswegen soll-
ten wir jetzt die Umstellung vornehmen. In den neuen
Bundesländern gibt es zunehmend Gebiete, wo die
Durchschnittsverdienste über denen in den ärmeren Re-
gionen der alten Bundesländer liegen. Der Sachverstän-
digenrat der Bundesregierung hat in seinem aktuellen
Gutachten deswegen ausdrücklich die Rechtsanglei-
chung als Handlungsoption empfohlen. Das werden wir
sicherlich zu einem späteren Zeitpunkt noch debattieren,
Herr Kollege Schaaf.

Ich will mich jetzt auf den vorliegenden Antrag kon-
zentrieren. Er berührt viele in der Regel eher kompli-
zierte Sonderfälle. Bis heute wirken sich nämlich einige
Besonderheiten des DDR-Rentenrechts aus, die man
nicht ohne Weiteres ausräumen kann, Frau Kollegin
Bunge; das müssen Sie zugestehen.

Die Fälle lassen sich in drei Gruppen zusammenfas-
sen: solche, die aus rechtlichen, politischen oder anderen
Gründen zu DDR-Zeiten keine Rentenversicherungsbei-
träge leisten konnten; solche, deren Rentenansprüche
aus DDR-Zeiten nicht mit dem SGB VI kompatibel sind
und deswegen nicht überführt werden konnten; solche,
deren Anwartschaften ins SGB VI anstelle anderer Ver-
sorgungssysteme übergeleitet wurden, weil es kein bun-
desdeutsches Äquivalent zur DDR-Regelung gab.





Dr. Heinrich L. Kolb


(A) (C)



(D)(B)

Man sieht schon an dieser zusammenfassenden Be-
schreibung, wie komplex und unterschiedlich die Fälle
sind. Glauben Sie mir: Wir haben viele Gespräche mit
Betroffenen geführt und noch viel mehr Briefe erhalten,
und wir haben uns auch viele Gedanken gemacht, wie
man die Ungerechtigkeiten beheben kann, ohne neue zu
schaffen.

Besonders schwierig wird die Sache dadurch, dass
– was ein Stück weit paradox ist – ein Teil der Betroffe-
nen fordert, dass das frühere DDR-Recht heute keine
Wirkung mehr entfalten soll, und ein anderer Teil genau
das Gegenteil fordert, nämlich dass ihre Ansprüche nach
dem früheren Recht komplett anerkannt werden. Daher,
Frau Bunge, ist es viel schwerer, allen Interessen gerecht
zu werden, als die Linke uns – ich wäre fast geneigt, zu
sagen: wie so oft – glauben machen will.

Sie haben darauf hingewiesen, dass wir bereits in der
letzten Legislaturperiode, ziemlich genau vor einem
Jahr, eine Debatte über das gleiche Thema hatten. Da-
mals gab es auch eine Anhörung mit einem recht klaren
Ergebnis: Die Sachverständigen empfahlen keine Kor-
rektur der geltenden Gesetze. Ich erinnere mich an die
Erläuterung, wie viele Sondersysteme in der Altersver-
sorgung der DDR bestanden haben und dass diese zum
Teil gar nicht kodifiziert waren. Jedenfalls machten uns
die Sachverständigen sehr deutlich, dass jede Nachjus-
tierung zu neuen Ungleichbehandlungen, also zu neuen
Ungerechtigkeiten führen würde.


(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Das kommt auf die Sachverständigen an!)


Deswegen will ich hier noch einmal den Vorschlag
einführen, den wir damals gemacht haben. Die FDP-
Fraktion bevorzugt nach wie vor das Modell eines Nach-
versicherungsangebotes. Damit bleiben wir in dem
bewährten Gesamtmodell der Rentensystematik. Das hat
sich auch bewährt, als 1992 die Rentenberechnung aus
dem früheren Angestelltenversicherungsgesetz ins
SGB VI überführt worden ist. Wir wollen eine solche
Lösung für alle Versicherten auf dem Boden der Bei-
tragsäquivalenz, eine Nachversicherungslösung auf frei-
willigem Wege. Den Betroffenen wird dadurch die
Chance gegeben, ihre nicht in das SGB VI übertragenen
oder aus anderen Gründen ausgeschlossenen Renten-
ansprüche geltend zu machen. Frau Bunge, wichtig ist:
Die Höhe einer nachträglichen Beitragsentrichtung ist an
dem auszurichten, was zu DDR-Zeiten zur Erlangung ei-
nes vergleichbaren Anspruchs hätte aufgewendet werden
müssen. Ich denke, selbst wenn man eine Verzinsung der
so ermittelten Beiträge vornimmt, dürfte ein solches An-
gebot auf großes Interesse stoßen und dürfte eine attrak-
tive Verzinsung der nachzuentrichtenden Beiträge ge-
währleistet sein.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704314500

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Dr. Bunge?


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1704314600

Ja. Bitte sehr.

Dr. Martina Bunge (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704314700

Herr Kolb, ich versuche, es ganz kurz zu machen. Ich

folge Ihnen aufmerksam.

Können Sie mir bitte sagen, wie sich ein Professor,
der jetzt in Rente geht oder der in den 90er-Jahren ohne
Vertrauensschutz in Rente gegangen ist, der nach 45 Ar-
beitsjahren 1 400 Euro Rente bekommt und ein Häus-
chen mit Bibliothek hat – das soll ja zum Lebensstil ge-
hören –, mit diesem Alterseinkommen nachversichern
soll? Er hat doch Beiträge gezahlt.


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1704314800

Frau Kollegin Bunge, ich denke, die Frage ist: Rech-

net sich das insgesamt, kann also das eingesetzte Kapital
eine angemessene Verzinsung erwirtschaften? Das
müsste nach dem, was ich vorgetragen habe, der Fall
sein. Dann kann es im Einzelfall auch zumutbar sein,
dass ein Betroffener für seine Nachversicherung einen
kleinen Kredit aufnimmt, den er in der Folge aufgrund
höherer Rentenversicherungsanwartschaften zurückzah-
len kann. Das rechnet sich im Einzelfall; davon bin ich
überzeugt. Das ist eine Frage der Verzinsung und der zu-
vor zu erbringenden Beiträge. Das ist der einzige Weg,
den ich sehe, eine systemkonforme Behebung des geltend
gemachten Unrechts vorzunehmen. Ansonsten würde es
schwer werden, ja unmöglich sein, die beschriebenen
Ungerechtigkeiten zu beseitigen.

Herr Kollege Schaaf, die christlich-liberale Koalition


(Anton Schaaf [SPD]: Sonst hätte ich es noch mal gesagt!)


hat festgelegt, die Angleichung des Rentenrechts in Ost
und West grundsätzlich anzugehen. Ich denke, das ist der
Rahmen, in dem auch die noch bestehenden Ungleichge-
wichte behandelt werden müssen; das sehen auch Sie so.
Dabei wären auch die Modalitäten der Nachversicherung
für jede Gruppe einzeln festzulegen. Das wird irgend-
wann in dieser Legislaturperiode – ich kann Ihnen nicht
sagen, wann genau – geschehen.

Um Ihre Bemerkung, Herr Schaaf, aufzugreifen, kann
ich Ihnen eines sagen: Die Deutsche Rentenversicherung
hat, was die Vereinheitlichung des Rentenrechts angeht,
festgestellt, dass man diese zu jedem Zeitpunkt vorneh-
men kann, allerdings mit einem ausreichenden organisa-
torischen Vorlauf. Klar ist: Zum 1. Juli 2010 ist das nicht
mehr zu schaffen; das wäre zu kurzfristig. Zum 1. Juli
2011 wäre das aber möglich. Es gibt in dieser Legislatur-
periode noch weitere Rentenanpassungszeitpunkte. Zu
geeignetem Zeitpunkt werden wir wieder auf dieses
Thema zu sprechen kommen. Für heute bedanke ich
mich für Ihre Aufmerksamkeit.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Wissen Sie, dass die Leute 80, 90, 95 Jahre alt sind?)







(A) (C)



(D)(B)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704314900

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der

Kollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn das Wort.


(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Heute ist in der Leipziger Volkszeitung ein Artikel mit
der Überschrift „Rentner am Rand der DDR“ zu lesen.
Darin geht es um Untersuchungen eines Historikers, der
sich mit der Situation der Senioren in der DDR auseinan-
dergesetzt hat.


(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Ich bin nicht für die DDR verantwortlich! Es geht um das Jetzt!)


In diesem Artikel, der sehr interessant ist, wird Dierk
Hoffmann – so heißt der Wissenschaftler – wie folgt zi-
tiert:

Sie

– damit sind die Rentnerinnen und Rentner gemeint –

lebten am Rande der sozialistischen Arbeitsgesell-
schaft. Die SED hat die knappen Geldressourcen
vor allem dafür eingesetzt, die Löhne und Gehälter
in der volkseigenen Industrie zu erhöhen. Da blieb
für die Rentner weniger übrig.


(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Die durften dann in den Westen ausreisen!)


Das heißt, die Renterinnen und Rentner waren in der
DDR eine diskriminierte, benachteiligte Gruppe.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)


Das muss man als Vorbemerkung deutlich machen.

Die Ergebnisse aller Untersuchungen, die es zu die-
sem Thema gibt, zeigen, dass die Rentnerinnen und
Rentner diejenigen sind, die von der deutschen Einheit
am meisten profitiert haben. Nicht nur, wenn man aus-
schließlich die Höhe der Rente, sondern auch, wenn man
das Gesamteinkommen berücksichtigt, kommt man zu
dem Schluss: Es waren die Rentnerinnen und Rentner,
die stark profitiert haben, während es andere Gruppen
gab, die durch die Einheit eher benachteiligt worden
sind. Auch diese Vorbemerkung muss man hinzufügen.
Es ist ja schon gelobt worden, dass dies auch im vorlie-
genden Antrag zur Kenntnis genommen wird.

Vielleicht noch ein kleiner Hinweis an die FDP. Dass
die Ansprüche der Rentnerinnen und Rentner der DDR
so gut in unser System überführt werden konnten, liegt
natürlich daran, dass wir ein umlagefinanziertes Renten-
system hatten und haben. Mit mehr Kapitaldeckung, die
die FDP immer noch und immer wieder fordert – damals
haben Sie dies besonders nachdrücklich gefordert –,
wäre all das nicht möglich gewesen,


(Anton Schaaf [SPD]: Das ist wohl wahr!)


weil die Rentnerinnen und Rentner dann gar keine Ren-
tenansprüche gehabt hätten.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Insofern ist es für uns wichtig, dass die Umlagefinanzie-
rung auch in Zukunft Kern und Basis der Alterssiche-
rung in Deutschland ist.

Nun aber zurück zum Renten-Überleitungsgesetz. Es
ist zu betonen, dass es hier nicht darum ging, beide Sys-
teme in irgendeiner Form zu fusionieren oder das Ren-
tensystem der DDR eins zu eins in das deutsche Renten-
recht zu überführen. Es ist aber in Einzelfällen zu
Benachteiligungen gekommen. Wir haben durchaus Ver-
ständnis dafür, dass manche diese Überführungsregeln
als Aberkennung der Lebensleistung und als Diskrimi-
nierung empfinden. Andererseits sagen wir: Es gibt kein
Patentrezept, mit dem jeder Einzelfall gerecht bewertet
werden kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Insofern halten wir eine grundlegende Korrektur des
Renten-Überleitungsgesetzes für nicht sinnvoll.

Nichtsdestotrotz gibt es natürlich Probleme. Sie ha-
ben diverse Einzelgruppen benannt; auch wir haben sie
uns angeschaut und werden noch einmal genauer hin-
schauen. Im Osten wird es in Zukunft enorme Armuts-
probleme geben; da besteht Handlungsbedarf. Unsere
Antwort auf die Probleme besteht aus drei Punkten:

Erstens. Wir werden uns die einzelnen Gruppen ge-
nauer anschauen und prüfen, ob Handlungsbedarf be-
steht. Das wird aber sicherlich die Ausnahme sein. In der
letzten Legislaturperiode haben wir bereits einen Antrag
zur Versorgung für in der DDR Geschiedene gestellt; das
werden wir auch in dieser Legislaturperiode tun.

Zweitens. 20 Jahre nach der deutschen Einheit ist es
aus unserer Sicht endlich an der Zeit, dass es ein einheit-
liches Rentenrecht gibt. Zum einen betrifft das den aktu-
ellen Rentenwert, der möglichst bald in Ost und West
gleich hoch sein muss. Zum anderen betrifft das die Be-
rechnung der Entgeltpunkte; hier sollte es in Zukunft
keine Aufwertung der Einkommen im Osten mehr ge-
ben. Jetzt benachteiligte Gruppen im Osten würden von
der Angleichung des aktuellen Rentenwertes profitieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Drittens. Bei der Berechnung der Entgeltpunkte soll-
ten die Einkommen im Osten nicht einseitig aufgewertet
werden. Es gibt nämlich nicht nur im Osten, sondern
auch im Westen niedrige Einkommen. Vor dem Hinter-
grund der ansteigenden Altersarmut im Osten, aber auch
im Westen sagen wir: Wir brauchen eine Garantierente,
ein Minimum der Leistungen aus der Rentenversiche-
rung in Ost und West, mit der sichergestellt wird, dass
zumindest langjährig Versicherte eine Rente erhalten,
die über dem Grundsicherungsniveau liegt. Nach 30 Jah-
ren Versicherungszeit sollten Rentnerinnen und Rentner
mindestens 30 Entgeltpunkte haben, also mindestens
etwa 800 Euro Rente erhalten. Damit würden wir sowohl
den aktuellen als auch den zukünftigen Problemen der
Altersarmut gerecht werden.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(D)(B)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704315000

Ich schließe die Aussprache.

Zwischen den Fraktionen ist es verabredet, die Vor-
lage auf Drucksache 17/1631 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. – Ich sehe, dass
Sie damit einverstanden sind. Dann ist das so beschlos-
sen.

Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 9 auf:

Beratung des Antrags der Bundesregierung

Fortsetzung der deutschen Beteiligung an der
internationalen Sicherheitspräsenz im Kosovo
auf der Grundlage der Resolution 1244 (1999)

des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen
vom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Techni-
schen Abkommens zwischen der internationa-
len Sicherheitspräsenz (KFOR) und den Re-
gierungen der Bundesrepublik Jugoslawien

(jetzt: Republik Serbien) und der Republik

Serbien vom 9. Juni 1999

– Drucksache 17/1683 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)

Rechtsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

Hier ist es verabredet, eine halbe Stunde zu debattie-
ren. – Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann ist
das so beschlossen.

Ich erteile das Wort dem Bundesminister Dr. Guido
Westerwelle.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-
wärtigen:

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den letzten
20 Jahren hat der westliche Balkan uns sehr schmerzlich
daran erinnert, dass Frieden in Europa nicht selbstver-
ständlich ist. Wir mussten die leidvolle Erfahrung ma-
chen, dass Europa in den 90er-Jahren nicht in der Lage
war, die Rückkehr von Krieg und Zerstörung auf dem ei-
genen Kontinent zu verhindern. Die Erfahrung aus den
90er-Jahren, als Krieg und Zerstörung auf unserem eige-
nen Kontinent stattfanden, ist eine Mahnung, die zeigt:
Die europäische Einigung hat als Friedensprojekt eben
ausdrücklich nicht ausgedient. Gerade in diesen Tagen
sollte man das noch einmal sagen, meine sehr geehrten
Damen und Herren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie des Abg. Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Zwei Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung ist die
Lage im Kosovo stabil. Die Verbesserung der Sicher-
heitslage ist der Erfolg des jahrelangen Einsatzes von
KFOR. Dieser Erfolg spiegelt sich auch in der veränder-
ten Aufgabenstellung von KFOR wider: Weil KFOR er-
folgreich war, können wir die Soldatinnen und Soldaten
seit dem vergangenen Jahr verstärkt für die Ausbildung
von Sicherheitskräften im Kosovo einsetzen. Weil
KFOR erfolgreich war, können wir jetzt, gemeinsam mit
unseren Verbündeten, die Missionsstärke deutlich ver-
kleinern. Das Mandat, das ich dem Bundestag heute ge-
meinsam mit dem Bundesverteidigungsminister vorlege,
sieht eine Reduzierung der Obergrenze der Kräfte der
Bundeswehr von 3 500 auf 2 500 vor. Wir sind zuver-
sichtlich, dass bald weitere Reduzierungen möglich wer-
den. Militärisches Eingreifen – darin sind wir uns in die-
sem Hause einig – ist immer nur das allerletzte Mittel
der internationalen Politik. Dies ist eine Konstante der
deutschen Außenpolitik. Unser Ziel ist ein Kosovo, das
ohne ausländische Truppen für seine eigene Sicherheit
sorgen kann, und auf diesem Weg sind wir ein gutes
Stück vorangekommen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Auf dem langen und sehr schwierigen Weg nach Eu-
ropa muss das Kosovo noch enorme Herausforderungen
bewältigen. Das hat die EU-Kommission in ihrem Fort-
schrittsbericht 2009 festgestellt, und das soll auch nicht
verschwiegen werden. Die Defizite bei der Bekämpfung
von Korruption und organisierter Kriminalität wurden
darin ausdrücklich angemahnt. Trotz Wachstumsraten
zwischen 4 und 5 Prozent ist das Kosovo immer noch
das wirtschaftliche Schlusslicht in Europa. Über all diese
Probleme habe ich Anfang Mai mit Präsident Fatmir
Sejdiu gesprochen, und ich bin zuversichtlich, dass er
sowie seine ganze Regierung diese Probleme seines Lan-
des auch energisch angehen. Er kann dabei auf die Un-
terstützung Europas zählen. Mit der Rechtsstaatsmission
EULEX hat die Europäische Union Verantwortung über-
nommen. Sie will das Kosovo dabei unterstützen, zu ei-
nem gleichberechtigten und ebenbürtigen Teil Europas
zu werden.

Der Schlüssel zu einer europäischen Zukunft liegt vor
allem im Kosovo selbst. Das Kosovo soll schrittweise
für die Sicherheit im eigenen Land sorgen. Die Polizei
Kosovos hat in den letzten Monaten die Verantwortung
für serbisch-orthodoxe Klöster und andere schutzbedürf-
tige Kulturstätten übernommen. Das hört sich in
Deutschland nicht sehr spektakulär an; aber angesichts
einer Geschichte der gegenseitigen Verletzungen ist es
eine wirklich beachtliche Leistung, ein bedeutender
Fortschritt. Wir sind immer leicht dabei, zu kritisieren,
wenn etwas von dem, was wir uns vorgenommen haben,
nicht gelingt. Aber wenn etwas gelingt, was wir uns ge-
meinsam überparteilich in diesem Hause vorgenommen
haben, dann darf dies auch einmal erwähnt werden und
positive Resonanz finden, so meine ich, liebe Kollegin-
nen und Kollegen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Mit der Unabhängigkeit sind die Kosovo-Albaner zur
Mehrheit in ihrem Staat geworden. Mit der Anerken-
nung des Staates Kosovo verbindet die internationale
Gemeinschaft die Erwartung, dass das Kosovo mit die-
ser neuen Machtverteilung verantwortungsvoll umgeht.





Bundesminister Dr. Guido Westerwelle


(A) (C)



(D)(B)

Die Verfassung des neuen Staates garantiert die Sicher-
heit und Gleichberechtigung auch für die Kosovo-Ser-
ben, die dort lebenden Roma und andere Minderheiten.
Erst dann, wenn alle Ethnien im Kosovo in Freiheit und
Sicherheit leben können, wird das Kosovo zur Ruhe
kommen. Die Kommunalwahlen vom Herbst letzten
Jahres haben gezeigt, dass die Trennlinien zwischen den
ethnischen Gruppen nicht so eindeutig sind, wie es radi-
kale Kräfte aller Gruppierungen immer wieder behaup-
ten. In den mehrheitlich von ethnischen Serben bewohn-
ten Gebieten im Süden des Kosovo haben sich viele
Menschen gegen einen Wahlboykott und für die Teil-
nahme entschieden. Auch das ist bemerkenswert und
sagt etwas über die Bevölkerung aus.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Frieden im Kosovo wird es aber auf Dauer nicht ge-
gen Serbien, sondern nur mit Serbien geben. Dafür müs-
sen wir die verantwortungsbewussten Kräfte im Kosovo
wie auch in Serbien stärken. Wir haben den Präsidenten
Boris Tadic darin bestärkt, eine Politik der Verständi-
gung und des Ausgleichs entschlossen zu verfolgen. Vor
dem Mut und der Durchsetzungskraft, mit der er sich ge-
gen diejenigen wendet, die auf Konfrontation und Zwie-
spalt setzen, habe ich – ich glaube, dass ich das nicht nur
für mich, sondern für die allermeisten Kollegen in die-
sem Hause sage – sehr großen Respekt. Die große Mehr-
heit der Menschen in Serbien und im Kosovo ist es leid,
dass ihnen die Demütigungen, Zerstörungen und Morde
der Balkankriege den Weg in die Zukunft verstellen.
Niemand wird die Opfer dieser Zeit vergessen. Kosovo
und Serbien gehen denselben Weg in die Zukunft. Es ist
ein europäischer Weg, über den wir sprechen.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dass der westliche Balkan heute eine europäische
Perspektive hat, ist nicht zuletzt ein Verdienst der Solda-
tinnen und Soldaten der Bundeswehr. Deswegen will ich
damit schließen – nicht als Pflichtübung, sondern in un-
ser aller Namen von Herzen sprechend –: Sie verdienen
unsere Anerkennung und unsere Unterstützung. Ich
danke ihnen wie auch ihren Familien, Freunden und An-
gehörigen. Ihr Mut und ihre Tapferkeit machen diesen
Einsatz erst möglich. Ich bitte um eine breite Zustim-
mung für dieses Mandat.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704315100

Gernot Erler hat das Wort für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Gernot Erler (SPD):
Rede ID: ID1704315200

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Die SPD-Bundestagsfraktion wird einer Fortset-
zung der deutschen Beteiligung an der Absicherung der
Friedensregelung für Kosovo durch die KFOR-Mission
mit großer Mehrheit zustimmen. Wir sehen dies als ei-
nen noch notwendigen Beitrag im Rahmen eines nun
schon über zehn Jahre andauernden, sehr breiten Enga-
gements Deutschlands für eine gute Zukunft des Kosovo
und der gesamten Westbalkanregion.

In diesem breiten Engagement finden wir sehr ver-
schiedene Elemente. Das hat schon mit der Aufnahme
der Flüchtlinge in den Jahren 1998 und 1999 begonnen.
Bis heute leben 300 000 Kosovaren in Deutschland.
Dazu gehört die prominente Rolle Deutschlands als Ge-
ber für den Wiederaufbau. Mit den von Deutschland be-
reitgestellten Mitteln – allein 42 Millionen Euro im ver-
gangenen Jahr – liegen wir hinter den Vereinigten
Staaten an zweiter Stelle. Diese Mittel wurden für ver-
schiedene Schwerpunkte verwendet: Aufbau der öffent-
lichen Verwaltung, Demokratisierung, Stärkung der
Zivilgesellschaft, Bildungsmaßnahmen, aber auch Infra-
struktur wie Wassermanagement und Stromversorgung.

Zu unserem Engagement für den Kosovo zählt auch
die Unterstützung von EULEX, der bis heute größten
Rechtsstaatsmission der Europäischen Union mit über
2 600 Fachleuten – darunter etwa 1 000 Einheimische –,
sowie des Aufbaus einer multiethnischen Justiz und ei-
ner Polizei sowie einem Zollwesen. Wir sind ungewöhn-
licherweise auch mit exekutiven Aufgaben betraut.
Deutschland leistet nicht nur finanzielle Hilfen, sondern
stellt auch circa 80 Polizisten sowie 25 Experten, Rich-
ter, Staatsanwälte und Rechtsfachleute.

Zu unserem Engagement gehören auch die langjäh-
rige Unterstützung der Ahtisaari-Mission und die Unter-
stützung der Troika bei ihrem Versuch, eine Einigung
mit Serbien zu erreichen. Als das nicht funktionierte, ge-
hörte dazu auch unsere frühe Anerkennung der Erklä-
rung der Selbstständigkeit des Kosovo, und zwar nur
vier Tage nach der Unabhängigkeitserklärung. Heute ha-
ben sich dieser Anerkennung 66 Staaten angeschlossen.

Wir unterstützen den Kosovo bei seinem Bemühen, in
die regionale Zusammenarbeit einbezogen zu werden.
Häufig ist das nur unter dem Label UNMIK, der Mission
der Vereinten Nationen, möglich und mit der Unterstüt-
zung der Arbeit des internationalen zivilen Repräsentan-
ten, der gleichzeitig Sonderbeauftragter der EU ist und
für die vorläufig noch überwachte Souveränität des Ko-
sovo eine wichtige Rolle spielt.

Das alles zeigt: KFOR, die militärische Absicherung
des Friedens- und Stabilisierungsprozesses im Kosovo,
ist Teil eines breiten politischen und finanziellen Gesamt-
engagements Deutschlands, um dessen Details wir uns
immer wieder kümmern müssen. Zum Glück können wir
heute sagen – hierin muss man dem Außenminister zu-
stimmen –: Es ist verantwortbar, die Präsenz von KFOR
schrittweise zu reduzieren, weil sich die Sicherheitslage
im Kosovo insgesamt verbessert hat, was für die Min-
derheiten und ihren aktiven Anteil am politischen Leben
im Kosovo besonders wichtig ist – besonders im Süden
des Kosovo wird das umgesetzt –, und weil heute blutige
Ausschreitungen wie die vom März 2004 – wir haben
und werden sie nicht vergessen – kaum noch denkbar er-
scheinen. Auch andere Aufgaben sind erledigt. Zum Bei-
spiel ist das Kosovo Protection Corps zum Sommer letz-





Dr. h. c. Gernot Erler


(A) (C)



(D)(B)

ten Jahres aufgelöst worden. Es gibt gute Fortschritte bei
der Aufstellung eigener Sicherheitskräfte im Kosovo un-
ter dem Titel Kosovo Security Force.

Das bedeutet, dass man die Truppenstärke von KFOR
durch das sogenannte „Gate 1“ schon zum 1. Februar
dieses Jahres von 14 000 auf 10 000 Kräfte reduzieren
konnte. Es macht daher Sinn, die Obergrenze des deut-
schen Anteils, wie es im Antrag der Bundesregierung
steht, von 3 500 auf 2 500 Kräfte herabzusetzen und sich
auf eine – mit der KFOR etwa über die Stufen
5 500 Mann, 2 500 Mann bis hin zum Abzug – weitere
Reduzierung vorzubereiten.

Es gibt aber auch Probleme. Noch ist das, was in der
gegenwärtigen Phase von KFOR als „deterrent pre-
sence“ bezeichnet wird – also die abschreckende Anwe-
senheit –, notwendig, also nicht verzichtbar, schon allein
deswegen, um jeden Rückschritt betreffend die Sicher-
heitslage auszuschließen, aber auch, um den dringlichen
Erwartungen der internationalen Gemeinschaft, was
weitere Reformbemühungen im Kosovo angeht, Nach-
druck zu verleihen. Solange die EU-Kommission, wie in
ihrem letzten Fortschrittsbericht vom 14. Oktober 2009
niedergelegt, Grund dazu hat, mangelnde Fortschritte bei
der Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit und beim Auf-
bau des Justizsystems im Kosovo zu beklagen, solange
dringend Erfolge im Kampf gegen Korruption, Drogen-
handel, organisierte Kriminalität und sogar Kinderarbeit
angemahnt werden müssen, so lange kann es nicht zu ei-
nem Ende der überwachten Souveränität kommen.

Gerade gestern, am 19. Mai, hat die sehr angesehene
internationale Organisation zur Politberatung ICG, die
International Crisis Group, einen neuen Bericht zum
Thema „Rechtsstaatlichkeit im unabhängigen Kosovo“
veröffentlicht. Die ICG konstatiert Fortschritte, insbe-
sondere im Bereich der Sicherheit von Minderheiten,
aber kommt sehr kritisch und eindrucksvoll auf die
Schwächen des kosovarischen Justizsystems zu spre-
chen. Ich möchte den Kernsatz aus diesem Gutachten
vorlesen: Im Zivilrecht ist es für Bürger wie Einheimi-
sche und internationale Firmen praktisch unmöglich,
ihre Rechte vor Gericht einzuklagen. – Dann wird darauf
hingewiesen, dass das häufig dazu führt, dass Auseinan-
dersetzungen nicht vor Gericht, sondern auf andere Art,
inklusive Gewaltanwendung, ausgetragen werden.
Solange diese Gefahr noch vorhanden ist, müssen wir im
Rahmen von KFOR mit reduzierten Kräften vor Ort ver-
treten bleiben.

Ich möchte mit zwei klaren Erwartungen abschließen,
die ich an die Bundesregierung richte. Die erste Erwar-
tung hat etwas mit dem Reduzierungsprozess bei KFOR
zu tun. Wir müssen verhindern, dass bei diesem weiteren
Reduktionsprozess Unordnung entsteht. Ich denke
daran, dass die Franzosen angekündigt haben, dass sie
bei „Gate 2“, also bei der nächsten Reduzierungsstufe,
alle Truppen abziehen wollen. Wenn das zu einer Art
Wettlauf wird, wer am schnellsten wieder draußen ist,
kann das für den Kosovo gefährlich werden. Meine Her-
ren Bundesminister, versuchen Sie, das zu verhindern;
denn das wäre katastrophal für das Land.
Zweitens – hier knüpfe ich gerne an die Schlussbe-
merkung von Ihnen, Herr Dr. Westerwelle, an –: Es ist
schon wichtig, sich immer bewusst zu sein, wie wichtig
für alles Konstruktive, was im Kosovo und im Westbal-
kan passiert, die verbindliche europäische Perspektive
ist. Es ist gut, dass Sie das hier erwähnt haben. Besser
wäre es gewesen, wenn schon im Koalitionsvertrag zum
Ausdruck gekommen wäre, dass das, was einst im
Juni 2003 im Europäischen Rat von Thessaloniki gesagt
worden ist, weiterhin verbindlich gilt. Ohne diese politi-
sche Perspektive der europäischen Integration wird es
keine Motivation für nachhaltigen Fortschritt in der
Region geben. Deswegen möchte ich das hier noch ein-
mal sehr deutlich ansprechen. Wir sollten zusammen
eine solche Sicherheit geben.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704315300

Herr Bundesminister Karl-Theodor zu Guttenberg hat

das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bun-
desminister der Verteidigung:

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen!
Meine Herren! Kollege Erler, wir erinnern uns sicherlich
noch alle genau an Thessaloniki. Thessaloniki gilt in sei-
nen Grundausrichtungen. Das ist natürlich – das haben
Sie angesprochen – an entsprechende Fortschritte, die
aus der Region zu kommen haben, gebunden. Es ist aber
wichtig, sich an diesen Bogen, an diesen Brückenschlag
zu erinnern, der im Jahre 2003 über viele Grenzen hin-
weg in großer Ernsthaftigkeit vollzogen wurde.

Für manche ist es der vergessene Einsatz. Ich finde,
nichts könnte falscher sein, als das in diese Richtung zu
drängen. In der öffentlichen Berichterstattung ist es um
den Kosovo tatsächlich vergleichsweise ruhig geworden.
Jetzt kann man sagen, das verdanken wir – das ist auch
so – natürlich dem Einsatz unserer Soldatinnen und Sol-
daten. Wir verdanken es auch zahlreichen diplomati-
schen Bemühungen, die auf den Weg gebracht wurden;
sie wurden im Einzelnen angesprochen. Wir verdanken
es aber auch dem Engagement vieler Vereinigungen zum
Beispiel – das darf ich einmal mit Blick zu Ihnen, Herr
Erler, sagen – aus unserem Land, der Südosteuropa-Ge-
sellschaft, die sich hier sehr eingebracht und immer wie-
der versucht hat, die Dinge miteinander zu verknüpfen,
dort kritisch zu sein, wo man kritisch sein musste, aber
eben auch konstruktive Impulse zu geben.

Meine Damen und Herren, zur Stunde – wir diskutie-
ren heute ja auch über die Zahlen – versehen etwa
1 500 deutsche Soldatinnen und Soldaten in unserem Auf-
trag ihren Dienst bei KFOR, fern der Heimat und auch un-
ter fordernden Bedingungen. Wir neigen derzeit dazu, im
Wesentlichen nur einen Einsatz und die entsprechenden
Herausforderungen zu benennen. Die Bedingungen für
unsere Soldatinnen und Soldaten sind auch im Kosovo





Bundesminister Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg


(A) (C)



(D)(B)

fordernd. Vor dem Hintergrund erinnere ich daran, dass
das einiges abfordert. Sie haben wesentlichen Anteil da-
ran, dass das Kosovo heute ein unabhängiger demokrati-
scher Staat ist. Was noch 2007 als Schreckgespenst an
die Wand gemalt wurde, hat sich zum Glück nicht bestä-
tigt, bei aller Wachsamkeit, die wir weiterhin an den Tag
legen müssen. Das Jahr 2004 wurde erwähnt. Wir alle
waren erschrocken über das, was sich dort ereignet hat,
weil man auch damals glaubte, es sei um den Kosovo ru-
hig geworden – und das war es nicht.

Wir können jetzt mit Erleichterung und, glaube ich
– das müssen wir gar nicht verhehlen –, mit einem ge-
wissen Stolz auf diese KFOR-Operation blicken, müssen
uns aber eben diese Wachsamkeit erhalten, eine Wach-
samkeit, die an die nächsten und notwendigen Schritte
zu binden ist. Herr Kollege Westerwelle hat auf einige
Defizite hingewiesen; auch Sie haben auf einige Defizite
verwiesen, die aus dem Land selbst heraus noch zu behe-
ben sind. Hier müssen wir die Unterstützung geben, die
wir geben können.

Sicherheitspolitisch ist die Lage weitgehend stabil.
Ich möchte noch eine andere Zahl nennen. Mittlerweile
sind wir im Kosovo von anfangs mehr als 50 000 Solda-
ten bei nunmehr unter 10 000 Soldaten. Schon das steht
für eine Erfolgsgeschichte. Man darf auch einmal benen-
nen, dass Auslandseinsätze eine Erfolgsgeschichte sein
können. Unser deutscher Beitrag konnte von ursprüng-
lich 6 400 Soldaten – das war im Jahre 2000 – auf eben-
jene 1 500 Soldaten reduziert werden.

KFOR ist heute, bildlich gesprochen, nicht mehr die
„Feuerwehr“, die in der ersten Linie steht; wir haben uns
mittlerweile in die dritte Reihe begeben können. Die
erste Reihe bilden nun die kosovarischen Sicherheits-
kräfte selbst. Die Rechtsstaatsmission EULEX wurde
genannt. Auch sie hat sich als ein richtiges und sehr
schlüssiges Instrument erwiesen.

Wir haben, wenn man so will, mit KFOR die Rolle eines
Stabilitätsankers übernommen. Wir sind damit in der
dritten Reihe, haben aber alle Aufmerksamkeit. Die
dritte Reihe ist kein schwacher Platz. Das ermöglicht die
Absenkung der personellen Obergrenze von 3 500 auf
2 500 Soldaten, die wir nun vornehmen. Jetzt mag man
fragen: Wenn man dort 1 500 Soldaten hat, weshalb setzt
man die Obergrenze bei 2 500 an? Ich glaube, dass es
wichtig ist, für den Fall einer Lageverschlechterung
einen erforderlichen Spielraum zu haben. Eine Lagever-
schlechterung kann sich immer ergeben. Das ist in mei-
nen Augen generell im Blick zu behalten, wenn wir über
Obergrenzen bei Auslandseinsätzen sprechen.

Die wesentliche Rolle von KFOR ist – das haben Sie,
Herr Erler und Herr Kollege Westerwelle, angesprochen –,
die abschreckende Präsenz, die „deterrent presence“, wie
es etwas martialisch umschrieben ist, zu bewahren. Sie
hat aber Sinn und ist als Stabilitätselement vorerst unver-
zichtbar. Sie bleibt auch unverzichtbare Voraussetzung
für den Ausbau staatlicher Strukturen, um den Defiziten
zu begegnen, für den Ausbau wirtschaftlich funktionsfä-
higer Strukturen – hier ist weiterhin die Achillessehne
des Kosovo; die wirtschaftliche Entwicklung ist nicht so,
dass es einem Tränen der Euphorie in die Augen treibt –
und insbesondere für den kulturellen und interethnischen
Aussöhnungsprozess.

Hier kommt es – ja, das ist vollkommen richtig –
maßgeblich auf die Rolle Serbiens an. Wenn wir in den
Norden des Kosovo blicken, sehen wir, dass dort noch
Eskalationspotenzial besteht. Auch dies zeigt, dass wir
die personellen Spielräume brauchen, um dort gegebe-
nenfalls eine Präsenz vorhalten zu können und einer
möglichen Eskalation entgegenzuwirken. Die zweige-
teilte Stadt Mitrovica steht weiterhin paradigmatisch für
das hier noch vorhandene Eskalationspotenzial.

Zwischenfälle sind erfreulicherweise in letzter Zeit
ausgeblieben. Das kann diesen nächsten Schritt rechtfer-
tigen. Aber ich will eines gern aufgreifen: Für uns alle
sollte gelten: together in, together out. Das ist sehr neu-
deutsch. – Da schüttelt es den Kollegen Westerwelle.
Die englische Aussprache von KFOR ist für ihn schon
zu viel, und dann auch das noch.


(Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Auswärtigen: Das ist zu viel verlangt! Demnächst werden Sie auch noch NATO englisch aussprechen!)


– Nein, um Gottes willen. Das werde ich mit Sicherheit
nicht tun. – In diesem Zusammenhang ist es wichtig, zu
sagen, dass einseitige, unilaterale Schritte nicht von Nut-
zen sind. Dieses Signal senden wir auch an unsere Part-
ner im Rahmen von KFOR.

Ich glaube, insgesamt können und müssen wir von ei-
ner Erfolgsgeschichte sprechen. Wir sollten das mit dem
Dank an unsere Soldatinnen und Soldaten verbinden, die
diesen verdient haben. Dieser Einsatz ist nicht verges-
sen, unsere Soldaten sind nicht vergessen. Ich bitte um
die Unterstützung für die Verlängerung dieses Einsatzes.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704315400

Für die Fraktion Die Linke hat Paul Schäfer das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Paul Schäfer (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704315500

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der

Kommandant der NATO-Truppen im Kosovo, General
Bentler, hat vor wenigen Wochen festgestellt, der militä-
rische Auftrag sei erfüllt. Nein, das ist nicht ganz richtig;
er hat gesagt, er sei „weitgehend erfüllt“. Er hat weiter
gesagt – das möchte ich zitieren –:

Es gibt keine Bedrohung mehr von außen. … Alle
Herausforderungen, die im Kosovo noch zu meis-
tern sind, haben nicht militärische Natur. Es geht
um soziale, politische, wirtschaftliche Fragen …

Das ist der O-Ton von General Bentler. Wenn das so ist,
dann ist es doch nur folgerichtig, sich auf die Lösung ge-
nau dieser Fragen zu konzentrieren, zum Beispiel auf die
nach wie vor hohe Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen.
Man muss die wirtschaftlichen Fragen angehen. Wenn





Paul Schäfer (Köln)



(A) (C)



(D)(B)

das, was der zuständige NATO-Kommandant sagt, rich-
tig ist, dann wäre es auch folgerichtig, die Truppen nicht
in Trippelschritten, sondern möglichst rasch abzuziehen.
Genau das ist die Aufgabe.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Bundesregierung bleibt in ihrem Antrag die Ant-
wort auf die Frage, warum man die Bundeswehr im
Kosovo behalten sollte, schuldig. Noch einmal: Es gibt
keine militärische Bedrohung von außen; das sagt der
NATO-Kommandant. Dass man für die Ausbildung der
kosovarischen Sicherheitskräfte, die 2 500 Mann umfas-
sen sollen, 10 000 Soldaten benötigt, das halte ich für
völlig abwegig. Wir werden daher der Verlängerung des
KFOR-Mandats nicht zustimmen.


(Dr. Karl A. Lamers [Heidelberg] [CDU/ CSU]: Das war klar!)


Die Linke ist dafür, die Bundeswehr dort abzuziehen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich weiß, dass man die Aussage, der militärische Auf-
trag sei weitgehend erfüllt, als Erfolg interpretieren
kann. Der Minister hat das gerade getan. Durch die
NATO-Brille mag das wohl so scheinen.

Ich will drei Einwände bringen:

Erstens. Die Sache steht politisch und rechtlich weiter
auf wackeligen Füßen.

Zweitens. Eine nachhaltige wirtschaftliche und so-
ziale Entwicklung ist nicht zu erkennen. Das Stichwort
vom Schlusslicht Kosovo ist gefallen.

Drittens. Die internationalen Verwerfungen, die die-
ser selbstmandatierte Militäreinsatz der NATO hervorge-
rufen hat, sind und bleiben erheblich.

Zum Ersten: Kosovo hat sich einseitig für unabhängig
erklärt. Die UNO-Resolution 1244, auf die sich die Mili-
tärpräsenz stützt, sieht eine solche Sezession nicht vor.
Deshalb hat die Stationierung der Bundeswehr dort un-
seres Erachtens keine ausreichende rechtliche Grund-
lage. Außerdem ist der internationale Status nach wie
vor ungeklärt. Nach wie vor weigert sich die Mehrzahl
der UNO-Mitgliedstaaten, die Sezession des Kosovo an-
zuerkennen. Sie lässt das beim Internationalen Gerichts-
hof prüfen.

Bezüglich der politischen Ansprüche, die die NATO
bei ihrer Militärintervention formuliert hat, die auch der
Grund für das Eingreifen waren, muss man fragen: Kann
man da von einem Erfolg reden? Ist die Mission, ein
multiethnisches Kosovo zu schaffen, nicht mit den
NATO-Luftangriffen zerstört worden? Jetzt sagt der
Kommandant, die Rückkehr von Kosovo-Serben müsse
wesentlich stärker gefördert werden. Bitte sehr, aber das
hören wir seit zehn Jahren. Das ist ein hilfloser Appell.
Auch das kennzeichnet die Realität dort.

Zum Zweiten: Das öffentliche Gemeinwesen des Ko-
sovo hängt am Tropf internationaler Unterstützungsleis-
tungen. Es sind erhebliche Transfersummen dorthin ge-
flossen, aber es gibt keine funktionierenden
wirtschaftlichen und sozialstaatlichen Strukturen. Die
Stichworte „Korruption“ und „organisierte Kriminali-
tät“ sind genannt worden. Meines Erachtens hat sich
auch dort gezeigt, dass Quasi-Protektorate und Korrup-
tion siamesische Zwillinge sind und bleiben.

Zum Dritten: Was die internationalen Entwicklungen
betrifft, ist das Ganze eher abschreckend. Dieser Krieg
hat zur Schwächung der UNO und der OSZE geführt
und war der Auftakt zur Verschärfung anderer Autono-
mie- und Sezessionskonflikte über Europa hinaus. Ohne
den Sündenfall Kosovo würde es heute anders um Ab-
chasien und Südossetien stehen, und die UNO hätte an-
dere Handhabemöglichkeiten, um dort politische Lösun-
gen zu finden.


(Beifall bei der LINKEN)


Wer der Region also eine neue Perspektive eröffnen
will, der muss die militärische Intervention beenden, der
muss die Stärkung des internationalen Rechts im Blick
haben, sich also auf völkerrechtlich gesicherten Pfaden
bewegen und alles daransetzen, dass die Kräfte der Aus-
söhnung und der Vernunft in der Region gestärkt wer-
den. Das geht nur durch eine viel intensivere Unterstüt-
zung zivilgesellschaftlicher Projekte. Die Alternative zu
einem militärisch eingefrorenen Konflikt ist ein zivil ge-
löster Konflikt. Genau das wollen wir. Dafür steht die
Linke.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704315600

Omid Nouripour ist der nächste Redner für

Bündnis 90/Die Grünen.


Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704315700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Noch

vor wenigen Tagen hat sich der UN-Sicherheitsrat mit
dem Kosovo beschäftigt. In der Debatte war immer wie-
der zu hören, dass der Kosovo zwar stabil, aber poten-
ziell fragil sei, und das, lieber Herr Kollege Schäfer, ist
der Grund, warum unser Engagement weiterhin ge-
braucht wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Es geht darum, das, was an Sicherheit und Frieden bisher
hergestellt worden ist, in dieser kritischen Situation nicht
aufs Spiel zu setzen. Das ist der Grund, warum wir der
Meinung sind, dass unser Einsatz dort fortgesetzt wer-
den muss, zumindest zurzeit.

Womit Sie aber recht haben, ist die Feststellung, dass
das alles nicht funktioniert, wenn man die sozialen Pro-
bleme dort nicht angeht. Es gibt eine wunderbare Maß-
zahl – sie ist nicht in der Sache wunderbar, macht es aber
sehr anschaulich –: die Jugendarbeitslosigkeit; sie liegt
bei über 60 Prozent. Das ist ein Riesenproblem. Wir
wünschen uns von der Bundesregierung, dass sie in der
EU dafür eintritt, dass man sich gerade in den Bereichen
Bildung und Ausbildung mehr anstrengt, weil das der
einzige – zivile – Weg ist, wie man eine langfristige Lö-





Omid Nouripour


(A) (C)



(D)(B)

sung für den Kosovo, die Sie gerade gefordert haben, er-
reichen kann.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der Kosovo ist ein unfertiger Staat. Die Probleme
sind bekannt: Der Aufbau der Administration, der Justiz-
und Zollverwaltung etc., leidet unter Korruption und or-
ganisierter Kriminalität. Es gibt große Probleme in die-
sen Bereichen, die noch angegangen werden müssen.

Wir müssen auch selbstkritisch feststellen: Die Ver-
schachtelung von UNMIK und EULEX ist nicht immer
hilfreich, sie ist nicht in allen Bereichen besonders ge-
lungen. Manches muss verbessert werden. Das muss die
Bundesregierung innerhalb der Europäischen Union zur
Sprache bringen.

Eine isolierte Lösung für den Kosovo wird es nicht
geben. Wir brauchen einen regionalen Ansatz, allen vo-
ran – das ist zu Recht gesagt worden – mit Serbien. Es ist
von zentraler Bedeutung, der serbischen Bevölkerung
klarzumachen, dass Serbien eine EU-Perspektive hat,
dass sie die Chance haben wird, die historische Teilung
Europas, die weitgehend überwunden ist, sich am West-
balkan aber noch zeigt, zu überwinden. Auch Serbien
muss eines Tages die Chance bekommen, in die Europäi-
sche Union zu kommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Dabei darf man Bosnien nicht vergessen; auch Bosnien
ist in diesem Zusammenhang alles andere als unwichtig.

Meine Damen und Herren, die KFOR-Mission und
unsere Soldatinnen und Soldaten genießen vor Ort gro-
ßen Respekt. Das liegt daran, dass sie eine gute Arbeit
machen. Deshalb möchte ich den Soldatinnen und Sol-
daten an dieser Stelle im Namen meiner Fraktion unse-
ren herzlichen Dank aussprechen.

Die Truppenstärke von KFOR liegt jetzt unter 10 000
Soldaten. Deshalb ist es richtig, dass wir die Obergrenze
für das Mandat jetzt auf 2 500 Soldaten absenken. Die
Bundesregierung gibt uns so verdammt wenige Möglich-
keiten, sie zu loben, dass ich unterstreichen will: Diese
Entscheidung ist richtig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


– Sie müssen mir zu Ende zuhören: Konterkariert wird
diese Entscheidung von einer falschen Entscheidung,
nämlich der Unterzeichnung des Rückübernahmeabkom-
mens mit dem Kosovo. Es gibt Warnungen vom UNHCR,
von den Vereinten Nationen, von der OSZE, von den
Menschenrechtsorganisationen, von den Flüchtlings-
organisationen. Sie alle sagen: Zwangsrückführungen in
den Kosovo – insbesondere von Roma und Angehörigen
anderer ethnischer Minderheiten – sind schlicht unver-
antwortlich. Das muss an dieser Stelle gesagt werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Nicht nur, dass diese Personen keinerlei soziale Perspek-
tive, keinerlei Chance auf rechtliche Gleichbehandlung
haben: Dadurch, dass diese Personen in dieses Land ge-
schickt werden – noch einmal: in ein potenziell fragiles
Land –, setzen Sie die Stabilität des Landes aufs Spiel.
Mit dem Anspruch, die Arbeit unserer Soldatinnen und
Soldaten wirksam zu unterstützen, ist das nicht verein-
bar.

Deshalb meine Bitte: Denken Sie darüber nach, die
Unterzeichnung dieses Abkommens, zumindest zum jet-
zigen Zeitpunkt, auszusetzen – Abschiebungen in den
Kosovo konterkarieren unser Engagement dort –, und
sorgen Sie für eine Aufenthaltsgewährung aus humanitä-
ren Gründen!

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704315800

Philipp Mißfelder ist der nächste Redner für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1704315900

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Zunächst einmal zu dem Beitrag meines Kolle-
gen Nouripour: Herzlichen Dank für die gute Beschrei-
bung der Situation im Kosovo. Ich glaube, dass die Ei-
nigkeit, die wir – bis auf die Linkspartei, die sich leider
auch an dieser Stelle wenig verantwortungsbewusst
zeigt – bei dieser Mission demonstrieren, die Kontinuität
des Einsatzes sehr gut widerspiegelt.

Kollege Nouripour hat es gesagt: Es sind große Fort-
schritte zu erkennen. Sie werfen rechtliche Fragestellun-
gen auf. Damit will ich auf Ihren letzten Punkt eingehen:
Es ist natürlich so, dass wir in Deutschland bei Fragen,
die Flüchtlinge und Asyl betreffen, klare rechtliche Vor-
gaben mit nachprüfbaren Kriterien haben. Aufgrund der
Stabilität, die es im Kosovo – trotz aller Schwierigkei-
ten – gibt, können wir unsere rechtlichen Maßstäbe, was
Abschiebung angeht, guten Gewissens anwenden. Des-
halb unterstütze ich das, was wir dort auf den Weg brin-
gen. Wir hatten in den letzten Jahren so viel Erfolg, dass
wir unsere rechtlichen Kriterien weiterhin aufrechterhal-
ten können; deshalb die konsequente Abschiebung,
wenn der Tatbestand nicht mehr erfüllt ist, weil sich die
Situation im Heimatland wesentlich verbessert hat, man
also keinen Anspruch auf Aufenthaltsgewährung mehr
hat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reden Sie doch einmal mit den Roma!)


Der zentrale Punkt, bei dem wir wieder übereinstim-
men, ist die Zukunft des Kosovo. Herr Schäfer, ich bin
nicht damit einverstanden, dass Sie das Argument eines
vermeintlich multiethnischen Kosovo – man kann sich ja





Philipp Mißfelder


(A) (C)



(D)(B)

wirklich darüber streiten, inwiefern der Begriff „multi-
ethnisch“ so anzuwenden ist – erst verschleiernd, dann
aber doch offensichtlich dafür nutzen, eine politische
Diskussion zu führen – Sie haben gesagt, wir hätten die
NATO-Brille auf –, die eigentlich in eine Zeit gehört, in
der es die Konfrontation zwischen der NATO und einem
anderen Machtbündnis gab.

Sie haben in Ihrer Argumentation von dem Vehikel
der angeblich multiethnischen Gesellschaft gesprochen.
Diese Stellungnahme zeugt von anderen politischen In-
teressen außerhalb Deutschlands und vor allem auch in-
nerhalb der Region, was ich Ihnen nicht so einfach
durchgehen lassen will. Ich bin tatsächlich der Meinung,
dass wir Serbien und auch die Kosovaren selber immer
wieder auffordern müssen, einen gemeinsamen Weg in
Richtung Europa zu gehen. Dieser Weg kann nur ge-
meinsam begangen werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb ist jeder Versuch, die Struktur des Kosovo so
für seine Zwecke zu interpretieren, wie Sie das hier ge-
tan haben, aus meiner Sicht nicht zulässig.

Vor diesem Hintergrund und nach den Gesprächen,
die wir in den letzten Monaten geführt haben, bin ich der
Meinung, dass der Schwerpunkt unseres Engagements in
Zukunft natürlich auf der Unterstützung des zivilen Auf-
baus liegen muss. Als uns der kosovarische Bildungs-
minister vor ein paar Monaten besucht hat, wurde uns in
all den Gesprächen, die wir mit ihm geführt haben, klar-
gemacht, wie wichtig die Themen Bildung und Ausbil-
dung und der Aufbau wirtschaftlicher Strukturen für das
Kosovo selbst sind. Das müssen wir weiterhin unterstüt-
zen. Der Rahmen, den wir dafür bieten, ist eben, dass wir
diese Mission auf Grundlage der Resolution der Verein-
ten Nationen weiterhin durchführen.

Selbstverständlich hätten wir es gerne, dass der Ein-
satz nach so langer Zeit so erfolgreich ist, dass ein mili-
tärisches Engagement nicht mehr notwendig ist. Ich
denke aber, dass durch die Herabsetzung der Obergrenze
und den durch beide Minister skizzierten Verlauf dieser
Mission deutlich wird, dass es sich um einen erfolgrei-
chen Einsatz handelt.

Um die Ernsthaftigkeit unserer Bemühungen im zivi-
len Sektor deutlich machen zu können, brauchen wir na-
türlich weiterhin diese militärische Komponente, die im
Übrigen – das ist ja nicht isoliert von den Menschen vor
Ort oder isoliert in der Region zu sehen – auf breiteste
Akzeptanz dort stößt. Das darf man auch nicht außer
Acht lassen. Deshalb sollten wir die Verantwortlichen,
die es im Kosovo schwer genug haben, eine vernünftige
Zukunft zu gestalten, auch in dieser Debatte unterstüt-
zen, indem wir sagen: Unser Engagement gilt erstens
dem Aufbau der Zivilgesellschaft, und dies wird zwei-
tens auch dadurch unterstrichen, dass wir uns unserer
militärischen Verantwortung stellen. – Es ist nämlich
richtig gesagt worden: Noch ist nicht alles von dem er-
reicht, was wir uns vorgenommen haben, sondern unser
Einsatz ist weiterhin notwendig.

Deshalb wünsche ich unseren Soldatinnen und Solda-
ten auch in diesem Einsatz weiterhin viel Erfolg mit hof-
fentlich, wie der Herr Bundesverteidigungsminister
deutlich gemacht hat, möglichst wenigen Zwischenfäl-
len, sodass ihre Präsenz zwar notwendig ist, aber schon
vorauseilend eine Konsequenz hat, nämlich die, dass
durch die starke Militärpräsenz auch weiterhin gar keine
bzw. kaum einmal Zwischenfälle geschehen, sondern die
politische Stabilität obsiegt.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704316000

Zu einer Kurzintervention gebe ich Hans-Christian

Ströbele das Wort.


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh nein!)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Kollege Mißfelder, ich wehre mich wieder dage-
gen, dass Sie auch mich vereinnahmen, indem Sie sagen,
wir alle seien dieser Auffassung. Sie müssen vorsichtig
sein und sich immer erst bei mir erkundigen, ob Sie mich
da mit einbeziehen können.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sie können sich ja nicht jedes Mal herausnehmen, Herr Ströbele!)


Das war aber nicht der inhaltliche Grund meiner
Kurzintervention, sondern ich möchte zwei Bemerkun-
gen der beiden Minister widersprechen.

Sie haben unisono – ich glaube, der Außenminister
zweimal – erklärt, das sei ein äußerst erfolgreicher Ein-
satz der Bundeswehr gewesen, und der Verteidigungs-
minister hat sogar von einer Erfolgsgeschichte dieses
Einsatzes gesprochen.

Die Älteren unter uns, vor allem Dienstältere im Par-
lament wie ich, erinnern sich, dass der Einsatz seinerzeit
am Ende der Bombardierung und des Krieges gegen Ser-
bien beschlossen wurde und dass die Stationierung der
Truppen im Kosovo damals mit Zustimmung der serbi-
schen Regierung, auch von Milosevic, erfolgte. Man
kann vielleicht von einer erzwungenen Zustimmung re-
den, aber immerhin ist die Stationierung mit Zustim-
mung Serbiens erfolgt.

Zu dem Auftrag der KFOR-Truppe, die in den Ko-
sovo geschickt worden ist, gehörte eine ganze Reihe von
Aufgaben, von denen zwei ganz wesentlich waren: Sie
sollte erstens die multiethnische Entwicklung des Ko-
sovo garantieren. Zweitens sollte sie garantieren, dass
der Kosovo nicht unabhängig wird. Lesen Sie es nach!
Das war damals eine der Bedingungen Serbiens für die
Zustimmung: dass der Kosovo nicht selbstständig wird,
sondern weiterhin ein autonomer Teil Serbiens bleiben
soll.

Diese beiden wichtigen und zentralen Punkte, die da-
mals zur Zustimmung Serbiens geführt haben, sind nicht
eingehalten worden. Auch nach der Stationierung der
KFOR-Truppe im Kosovo sind Zehntausende Roma und
andere mit Gewalt vertrieben worden. Die Dörfer haben
gebrannt. Die Menschen sind mit körperlicher Gewalt





Hans-Christian Ströbele


(A) (C)



(D)(B)

bedroht, verletzt oder vertrieben worden. Einzelne sind
auch getötet worden. Unterhalten Sie sich einmal mit
den Roma, die noch heute in den Nachbarländern in La-
gern leben oder die nach Deutschland gekommen sind!

Das heißt, die multiethnische Entwicklung ist nicht
erreicht worden. Das andere Ziel, die Verhinderung der
Selbstständigkeit des Kosovo, ist ebenfalls nicht erreicht
worden. Der Verteidigungsminister feiert es sogar als
großen Erfolg, dass der Kosovo jetzt ein unabhängiger
Staat geworden ist. Das war aber nicht der Auftrag der
deutschen Soldaten, die damals dort hingeschickt wor-
den sind.

Ich bitte darum, keine Geschichtsklitterung zu betrei-
ben.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704316100

Herr Kollege Ströbele, eine Kurzintervention darf

drei Minuten nicht überschreiten, die jetzt schon mehr
als vorbei sind.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich belasse es bei diesen Richtigstellungen, dass Sie
mit Ihren Einschätzungen nicht richtig liegen, sondern
versuchen, die Geschichte zu verfälschen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704316200

Möchte einer der Angesprochenen antworten? – Herr

Mißfelder, bitte schön.


Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1704316300

Ich werde Sie in Zukunft, wenn ich die Grünen für

ihre verantwortungsbewusste Außenpolitik lobe, immer
davon ausnehmen,


(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)


weil Sie darauf bestanden und mich direkt angesprochen
haben. Das verspreche ich Ihnen als Erstes.

Zweitens, Herr Kollege Ströbele, möchte ich keine
historischen Vergleiche anstellen. Die Geschichtsbücher
zu diesem Thema sind größtenteils noch gar nicht ge-
schrieben. Es sind aber Argumente genannt worden, die
von ganz anderen Personen ins Feld geführt worden
sind. Ihre Argumentation halte ich für falsch.


(Beifall des Abg. Michael Brand [CDU/CSU])


Tatsächlich war es Auftrag der deutschen Soldaten
und der internationalen Gemeinschaft, zur Stabilität bei-
zutragen. Das ist auch gelungen. Sie haben von brennen-
den Dörfern gesprochen. Ich nehme Ihre Anregung ernst
und werde mich mit Vertretern der Roma treffen. Sie
können mir sicherlich sagen, mit wem ich am besten
sprechen sollte.

Ich bitte Sie aber, dass Sie sich vor Augen halten, wie
1998 die Situation im Kosovo war, und sich dann fragen,
ob das, was Sie heute dazu gesagt haben, dem Ernst der
damaligen Situation angemessen ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Christian Lange [Backnang] [SPD])



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704316400

Damit schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1683 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die in der Tagesordnung aufgeführt sind. – Damit sind
Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und b sowie
Zusatzpunkt 7 auf:

10 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Konstantin von Notz, Katja Dörner, Volker
Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Sexuellen Missbrauch effektiv bekämpfen –
Netzsperren in Europa verhindern

– Drucksache 17/1584 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Jan Korte, Herbert Behrens, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Keine Internetsperren in EU-Richtlinie auf-
nehmen

– Drucksache 17/1739 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien

ZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten

(Tuchenbach)

der Fraktion der SPD

Sexuellen Missbrauch von Kindern europa-
weit effektiv bekämpfen – Opferschutz stär-
ken

– Drucksache 17/1746 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien

Hierzu ist es verabredet, eine halbe Stunde zu debat-
tieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.

Der Kollege Dr. Konstantin von Notz hat das Wort für
Bündnis 90/Die Grünen.






(A) (C)



(D)(B)


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Und wieder müssen wir hier über Internet-
sperren reden. Wir müssen dies tun, obwohl wir wissen,
dass Netzsperren ineffektiv, unverhältnismäßig und kon-
traproduktiv sind. Wir Grüne fordern seit langem wirk-
same Maßnahmen zum Schutz von Kindern vor sexuel-
lem Missbrauch. Umso enttäuschender ist das, was wir
jetzt an Vorschlägen von der EU-Kommission vorgelegt
bekommen. Es scheint so, als stünde der europäischen
Ebene und damit auch uns die hier längst abgeschlossene
Debatte über die Sinnlosigkeit von Internetsperren er-
neut bevor. Das ist höchst unerfreulich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])


Dieses Parlament hat sich intensiv mit dem Ansatz
der Internetsperren beschäftigt. Nach langen Diskussio-
nen sind wir fraktionsübergreifend zu dem Schluss ge-
kommen, dass es sich um ein gänzlich untaugliches Mit-
tel handelt.


(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Das ist falsch!)


Aus diesem Grund haben wir uns ebenfalls fraktions-
übergreifend auf den Grundsatz „Löschen statt Sperren“
geeinigt.


(Dr. Patrick Sensburg [CDU/CSU]: Das ist richtig!)


Das war eine richtige Entscheidung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Die jüngste Kriminalitätsstatistik weist im Bereich
der Darstellung von Kindesmissbrauch im Netz einen er-
freulichen Rückgang der Straftaten um über 40 Prozent
auf. Dennoch bleibt viel zu tun. Wir wissen, es gibt viele
Ansatzpunkte, den Kampf noch schlagkräftiger und er-
folgreicher zu führen: Noch immer mangelt es den Straf-
verfolgungsbehörden an qualifiziertem Personal. Es man-
gelt an einer angemessenen technischen Ausstattung. Es
mangelt an finanzieller Unterstützung von Beschwerde-
stellen wie Inhope. Außerdem brauchen wir dringend
bessere internationale Abkommen, selbst mit Ländern
wie den USA, mit denen die Zusammenarbeit nach wie
vor schwierig ist. In all diesen Bereichen können wir mit
geringem Aufwand eine Menge erreichen. Trotzdem tun
Sie, meine Damen und Herren von Union und FDP,
nichts, um effektiv Abhilfe zu schaffen.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Ungeheuerlich!)


Zudem stellt sich die Frage, ob die EU mit ihren Vor-
schlägen nicht deutlich über ihre Kompetenzen hinaus-
geht. Sowohl der Wissenschaftliche Dienst als auch das
Europareferat des Bundestages haben ganz erhebliche
Zweifel an der Einhaltung des Subsidiaritätsgrundsatzes
angemeldet. Was macht die vermeintliche Rechtsstaats-
partei FDP, was machen CSU und CDU, die sich sonst
nie genug als Wahrer deutscher Gesetzgebungsinteres-
sen gerieren können? Sie verhindern die Klärung dieser
wichtigen Frage, indem sie gestern im Rechtsausschuss
unseren Antrag gegen die Stimmen der gesamten Oppo-
sition von der Tagesordnung nehmen


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unglaublich!)


und so die Einspruchsfrist vorsätzlich verstreichen las-
sen. Das ist ein absolutes Armutszeugnis, meine Damen
und Herren.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Während der Deutsche Bundestag nun also schwarz-
gelb-bedingt weiter über Netzsperren diskutieren muss,
läuft in unserer Gesellschaft eine breite Debatte über
Missbrauch, der in Schulen, Sportvereinen, aber vor al-
lem auch in Familien stattfindet. Hier zu handeln ist das
Gebot der Stunde.

Bisher haben wir als Opposition in dem Glauben, dass
Sie endlich wirklich tätig werden, vieles hingenommen.
Wir haben hingenommen, dass Sie ein Gesetz, das ord-
nungsgemäß im Bundestag verabschiedet und vom Bun-
despräsidenten unterschrieben wurde, auf verfassungs-
rechtlich höchst fragwürdige Weise nicht anwenden.
Anstatt nun endlich aus den Fehlern der Vergangenheit
zu lernen, fechten Sie über Europa Ihren koalitionsinter-
nen Streit aus. Wir sind nicht länger gewillt, dieser kon-
traproduktiven Placebopolitik weiter zuzuschauen. Des-
wegen fordern wir: Legen Sie endlich den „Aktionsplan
zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexueller
Gewalt und Ausbeutung“ neu auf und entwickeln Sie
eine Strategie, die sich nicht mit dem Aufstellen sinnlo-
ser Stoppschilder beschäftigt, sondern uns tatsächlich im
Kampf gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern
weiterbringt. Wenn es Ihnen mit dem schwarz-gelben
Koalitionsvertrag und Ihrer Erklärung gegenüber dem
Bundespräsidenten, warum Sie Teile des Zugangs-
erschwerungsgesetzes nicht anwenden, auch nur ansatz-
weise ernst ist, bleibt Ihnen überhaupt keine andere
Wahl: Stimmen Sie unserem Antrag zu!

Ganz herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704316500

Ansgar Heveling ist der nächste Redner für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Ansgar Heveling (CDU):
Rede ID: ID1704316600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es gehört zum politischen Alltag, zu erleben, dass be-
stimmte Begriffe eine Art Pawlow’schen Reflex – na-
mentlich bei der Opposition – auslösen. Unter Inkauf-
nahme erheblicher politischer Ermüdungstendenzen
wird dann die x-te Variation ein und desselben Themas
in die Debatte eingebracht. Bedauerlicherweise ist bei





Ansgar Heveling


(A) (C)



(D)(B)

aller Wiederholung oft – genauso wie jetzt – nicht fest-
zustellen, dass die alte Weisheit „Repetitio est mater stu-
diorum“ zutrifft. Unser aktueller, den Pawlow’schen Re-
flex auslösender politischer Begriff ist das Wort
„Netzsperren“. Sobald es in irgendeinem Kontext auf-
taucht, springt die Opposition auf und über jedes hinge-
haltene Stöckchen. Jetzt ist es wieder einmal so weit.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat denn damit angefangen? Ihre Frau von der Leyen! Es ist nicht unsere Erfindung gewesen!)


Weil in dem Vorschlag für eine Richtlinie des Euro-
päischen Parlamentes und des Rates zur Bekämpfung
des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeu-
tung von Kindern sowie Kinderpornografie in Art. 21
ein Passus zur Sperrung des Zugangs von Webseiten, die
Kinderpornografie enthalten, formuliert wird, haben wir
es gleich mit einem bunten Strauß von Anträgen von
SPD, Grünen und Linken zu tun. Unterschiedlich wort-
reich und mit deutlich verschiedener Begründungstiefe
– von ein paar dürren Zeilen bei den Linken bis hin zu
einer anerkennenswert weitreichenden Auseinanderset-
zung mit dem Thema bei den Grünen –


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herzlichen Dank!)


werden in gehölzartiger Verästelung riesige Argumenta-
tionskulissen aufgebaut.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Burkhard Lischka [SPD]: Darüber muss ich jetzt richtig nachdenken! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind ein richtiger Literat, Herr Kollege!)


Entkleidet man die Anträge dieses ganzen Drumherums
und führt sie auf ihren Kern zurück, dann stellt man fest,
dass es eigentlich nur um die hier bereits mehrfach ge-
führte Auseinandersetzung geht, nämlich die Frage, ob
man für „Löschen statt sperren“ oder für „Löschen vor
sperren“ steht. Ersteres ist der gemeinsame Tenor der
Anträge der Opposition.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und des Koalitionsvertrages!)


Unser hiesiges geltendes Gesetz zur Bekämpfung von
Kinderpornografie in Kommunikationsnetzen geht in § 1
Abs. 2 den zweitgenannten Weg und konstituiert die
Möglichkeit des Sperrens einer Internetseite nur, „soweit
zulässige Maßnahmen, die auf die Löschung des Tele-
medienangebots abzielen, nicht oder nicht in angemesse-
ner Zeit erfolgversprechend sind“.


(Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Genau so steht es im Gesetz!)


Die Debatte hierzu haben wir vor nicht allzu langer Zeit
an dieser Stelle bereits geführt. In diese Richtung bewegt
sich im Übrigen auch der Richtlinienentwurf, der den
Mitgliedstaaten aufgibt, die erforderlichen Maßnahmen
zu treffen, „damit Webseiten, die Kinderpornografie ent-
halten oder verbreiten, aus dem Internet entfernt wer-
den“. Mithin steht nicht allein das Sperren von Internet-
seiten im Mittelpunkt der vorgesehenen Richtlinie.
Vielmehr greift der Entwurf das Thema „Löschen von
Internetseiten“ ebenso auf und gibt den Mitgliedstaaten
auf, vorbehaltlich angemessener Schutzvorschriften
eben auch die erforderlichen Maßnahmen zu treffen,
„damit der Zugang von Internet-Nutzern zu Webseiten,
die Kinderpornografie enthalten oder verbreiten, ge-
sperrt wird“.

Die Forderungen der Opposition hierzu zielen nun
– genauso wie in der Vergangenheit – darauf ab, dem
Staat die Alternativität von Schutzmaßnahmen aus der
Hand zu schlagen.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Glauben Sie das? – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir halten Sie davon ab, sinnlose Dinge zu tun!)


Hier genauso wie schon bei den jüngsten Debatten über
das Gesetz zur Bekämpfung von Kinderpornografie in
Kommunikationsnetzen stellt sich nach wie vor die
Frage, ob es klug ist, sich aller alternativer Handlungs-
möglichkeiten zu berauben.


(Christine Lambrecht [SPD]: Fragen Sie Ihren Koalitionspartner!)


Auch mit den aktuellen Anträgen gelingt es der Opposi-
tion unserer Ansicht nach nicht, diese Frage substan-
ziiert zu beantworten.


(Beifall bei der CDU/CSU – Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Fragen Sie die Justizministerin!)


Unbestritten ist die Möglichkeit des Sperrens von Inter-
netseiten nach dem erfolglosen Versuch des Löschens
nicht der Königsweg; das steht außer Frage. Aber es ist
eben eine Handlungsmöglichkeit. Solange kein anderer
tragfähiger Weg aufgezeigt wird, sind wir der Ansicht,
dass sich der Staat dieser Option nicht berauben darf.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die heutigen Anträge der Opposition bleiben jeden-
falls die Antwort auf eine tragfähige Alternative erneut
schuldig. Unseres Erachtens eröffnet eigentlich nur der
Antrag der Grünen die Möglichkeit einer Auseinander-
setzung mit dieser Frage. So ist die Aussage, es fehle
derzeit vor allem an einer mehrdimensional angelegten
Strategie zur Bekämpfung von sexuellem Missbrauch
von Kindern, fraglos richtig. Aber was ist die Schlussfol-
gerung daraus? Die Schlussfolgerung kann doch gerade
nicht sein, den Weg zur Mehrdimensionalität zu versper-
ren, indem man mit dem Diktum „Löschen statt sperren“
Alternativstrategien ausschließt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Schlussfolgerung kann doch nicht sein, bei einem
Medium, das sich bekanntermaßen nicht um Staatsgren-
zen schert, was zweifellos auch einer seiner Vorzüge ist,
Möglichkeiten zu einem einheitlichen Vorgehen in Eu-
ropa zu torpedieren.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: So ist es!)






Ansgar Heveling


(A) (C)



(D)(B)

Dies alles ließe sich dann hinnehmen, würden die An-
träge wenigstens Anregungen für neue Wege für die ge-
forderten mehrdimensionalen Strategien liefern.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704316700

Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen von Notz zulassen?


Ansgar Heveling (CDU):
Rede ID: ID1704316800

Ja.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704316900

Bitte schön.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Vielen Dank, Herr Kollege. – Kennen Sie einen einzi-
gen Fall – das betrifft auch Polizeibeamte –, bei dem es
nicht gelungen ist, eine relevante Seite aus dem Internet
zu löschen? Kennen Sie einen einzigen Fall, da Sie hier
für das Sperren plädieren?


Ansgar Heveling (CDU):
Rede ID: ID1704317000

Das Problem tritt in dem Moment auf, in dem die

Sperrung dem nationalen Zugriff entzogen ist, dann,
wenn eine Seite nicht über nationale Regelungen erfolg-
reich gelöscht werden kann.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nennen Sie ein Land, bei dem das so ist! – Gegenruf des Abg. Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Russland! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


– Russland, die Niederlande.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN], an die CDU/CSU-Fraktion gewandt: Wenn die Seite gelöscht ist, kann sie nicht mehr gesperrt werden!)


– Sprechen Sie jetzt mit mir oder mit den Kollegen?


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704317100

Herr von Notz, Sie haben eine Frage gestellt. Es wäre

vielleicht angebracht, der Antwort des Kollegen zu lau-
schen.


Ansgar Heveling (CDU):
Rede ID: ID1704317200

Es gibt tatsächlich Aussagen des BKA, die ich aus

dem Stegreif nicht wiedergeben kann, aber sie sind uns
vorgetragen worden. Ich kann das gerne klären, und
dann können wir uns darüber austauschen. Das Bundes-
kriminalamt ist im Moment beauftragt, entsprechende
Informationen zu sammeln. Es gab dazu schon eine Zwi-
scheninformation, die ich gerne besorgen werde. Dann
können wir uns darüber austauschen.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Damit auch die Grünen mal schlauer werden!)


Zurück zum Thema. Ich sprach von Anregungen der
Opposition, die über reine inputorientierte Aussagen von
schlichter Allgemeingültigkeit wie eine personelle und
technische Stärkung der Strafverfolgungsbehörden oder
den weiteren Ausbau der internationalen Zusammenar-
beit hinausgehen. Keine Frage, da gehen wir mit Ihnen
d’accord; aber das sind Allgemeinplätze. Ist das der
mehrdimensionale Ansatz? Es klingt eher wie ein dünner
Aufguss. Auch personell und technisch gestärkte Straf-
verfolgungsbehörden bedürfen vor allem wirksamer und
schlagkräftiger Instrumente.


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: So ist es!)


Summa summarum bleibt es dabei: Das Löschen von
Internetseiten ist fraglos der wünschenswerte Weg zur
Beseitigung kinderpornografischer Inhalte. Da er aber an
Grenzen stößt, bedarf es Alternativen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Solange aber keine anderen wirksamen Möglichkeiten
aufgezeigt werden, darf man sich der Sperrmöglichkeit
aus unserer Sicht nicht endgültig begeben.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Opposition ihrerseits ist jedenfalls wieder einmal
den Beweis für neue Konzepte schuldig geblieben. Dann
aber ist und bleibt es unklug, andere Wege einfach per se
blockieren zu wollen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704317300

Burkhard Lischka hat jetzt das Wort für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Burkhard Lischka (SPD):
Rede ID: ID1704317400

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr

Kollege Heveling, ich bin auf die Rede des Kollegen
Buschmann gespannt, weil ich nicht weiß, für wen Sie
hier gesprochen haben, als Sie „wir“ gesagt haben. Ich
weiß nicht, ob Sie für die Unionsfraktion oder auch für
die FDP-Fraktion gesprochen haben. An dem Beifall
habe ich gesehen, dass da doch Uneinigkeit besteht.

Der Anlass für unsere heutige Debatte ist allerdings
– das wissen Sie – ein EU-Richtlinienvorschlag, der
dazu dienen soll, den sexuellen Missbrauch und die se-
xuelle Ausbeutung von Kindern zu bekämpfen. Die Fra-
gen, die durch diesen Richtlinienvorschlag aufgeworfen
werden, gehen weit, so finde ich, über das Streitthema
Internetsperren hinaus. Es stellt sich die Frage, wie wir
Straftäter in diesem Bereich überführen können, wie wir
Kinderpornografie im Internet tatsächlich bekämpfen
können, wie wir den Missbrauch von Kindern verhin-
dern können und wie wir die Prävention stärken können.

Zu den Zahlen. Sie wissen, 12 000 Fälle von Kindes-
missbrauch und 6 700 Fälle von Kinderpornografie ha-
ben wir pro Jahr. Das sind zumindest die aktuellen Zah-
len der Polizeilichen Kriminalstatistik des BKA. Wir alle
gemeinsam wissen: Die Dunkelziffer ist extrem hoch.





Burkhard Lischka


(A) (C)



(D)(B)

Allein die Ermittlungsstelle Kinderpornografie in dem
Bundesland, aus dem ich komme, dem Bundesland
Sachsen-Anhalt, sichtet derzeit 365 Millionen Bilder
und Filme.

Jetzt liegt ein Richtlinienvorschlag der EU vor. Brüs-
sel will die Rechtsharmonisierung, um konsequenter ge-
gen Kinderpornografie im Internet und gegen sexuellen
Missbrauch von Kindern vorgehen zu können. Mit dem
Ziel stimmen wir als SPD-Fraktion überein, aber an
mehr als einer Stelle – nicht nur bei den Internetsperren
– sagen wir deutlich: Stopp, so dann nicht! – Ich will das
an drei Beispielen deutlich machen:

Das erste Thema ist schon angesprochen worden: die
Internetsperren. Da gilt für uns die Maxime: „Löschen
statt sperren.“


(Zurufe von der FDP: Aha!)


Wir wollen Kinderpornografie im Internet bekämpfen.
Sie wissen, dass Internetsperren teilweise ungenau sind
und technisch leicht umgangen werden können. Meine
Überzeugung ist, dass sie zumindest keinen wesentli-
chen Beitrag im Kampf gegen Kinderpornografie leis-
ten, dass im Gegenteil eine Infrastruktur aufgebaut wird,
die viele Bürgerinnen und Bürger unter dem Blickwinkel
der Freiheits- und Bürgerrechte zu Recht kritisch sehen.
Internetsperren sind deshalb aus unserer Sicht der fal-
sche Weg.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte: Der
Richtlinienvorschlag, so wie er jetzt vorliegt, würde das
Ende des deutschen dreistufigen Jugendschutzes bedeu-
ten. Die Unterscheidung zwischen Kindern und Jugend-
lichen, die wir derzeit haben, würde künftig entfallen,
und das wäre aus unserer Sicht der falsche Weg; denn
der Differenzierung zwischen Kindern und Jugendlichen
liegt die richtige Überlegung zugrunde, dass die Schutz-
würdigkeit von Kindern und Jugendlichen unterschied-
lich zu beurteilen ist. Es ist eben nicht das Gleiche, ob es
sich um ein 10-jähriges Kind oder um einen fast 18-jäh-
rigen Jugendlichen handelt. So wie der Richtlinienvor-
schlag jetzt konzipiert ist, würde beispielsweise auch der
verliebte 18-Jährige in ganz gefährliches Fahrwasser
manövriert werden. Nach dem Wortlaut des Vorschlags
macht sich nämlich ein 18-Jähriger strafbar, der bei sei-
ner 17-jährigen Freundin über das Internet anklopft und
sich mit ihr zu Intimitäten verabredet, wenn es in der
Folgezeit zu diesen Intimitäten kommt. Das ist natürlich
Unsinn. Das geht an der Lebenswirklichkeit vorbei.


(Beifall der Abg. Christine Lambrecht [SPD])


Wir Sozialdemokraten wollen – genau wie die EU –
das Grooming, das heißt die Anbahnung sexuellen Miss-
brauchs über das Internet, unter Strafe stellen. Wir wollen
aber nicht Heranwachsende und Gleichaltrige bei ihren
ersten ganz normalen sexuellen Kontakten kriminalisie-
ren.


(Beifall bei der SPD)

Der dritte Punkt, den wir zu kritisieren haben: Der
Richtlinienvorschlag dient – so der Titel – der Bekämp-
fung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Aus-
beutung von Kindern. Ich befürchte allerdings, dass die-
ser Titel doch sehr viel mehr verspricht, als an der einen
oder anderen Stelle gehalten werden kann, vor allen Din-
gen beim Opferschutz. Wir erleben in diesen Tagen und
Wochen, wie aus allen Winkeln der Republik neue Mel-
dungen über Kindesmissbrauch an die Öffentlichkeit
dringen, Meldungen aus Internaten, Schulen, sozialen
Einrichtungen, Kirchen und Sportvereinen. Jahrzehnte-
lang haben die Opfer geschwiegen. Für dieses Schwei-
gen gibt es sicherlich sehr viele Gründe, auch sehr viele
individuelle Gründe, zum Beispiel Furcht, Scham, Hilf-
losigkeit oder Sprachlosigkeit. Aber eines ist auch offen-
bar geworden: Für viele gab es in der Vergangenheit
schlicht und einfach keine Anlaufstelle, an die sie sich
als Kinder und Jugendliche, als Opfer hätten wenden
können. Es wurde nicht gesprochen über solche Dinge;
so wird ein Priester in diesen Tagen in einer großen deut-
schen Tageszeitung zitiert. Nur, eine Gesellschaft, die
über das Thema „sexueller Missbrauch“ nicht spricht,
die es verdrängt, die es tabuisiert, wird den Kampf gegen
den sexuellen Missbrauch nicht gewinnen können.


(Beifall der Abg. Christine Lambrecht [SPD])


Deshalb brauchen wir mehr Anlaufstellen und mehr
Vertrauenspersonen, an die sich unsere Kinder und Ju-
gendlichen in ihrer Not wenden können. Wir brauchen
mehr Schulungsprogramme für Eltern, Lehrer, Erzieher
und Ärzte, damit sie sexuellen Missbrauch erkennen und
adäquat reagieren können.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)


Wir brauchen mehr entsprechende Lerninhalte und Ge-
spräche in unseren Schulen und Kindergärten, damit
Kinder und Jugendliche in allen Situationen sexuellen
Missbrauchs, auch in der Familie, das selbsterhaltende
Nein lernen können.

Zur Prävention, die sich der Richtlinienvorschlag auf
die Fahnen geschrieben hat, gehört auch: Wir brauchen
mehr Therapieangebote für pädophile Täter. 220 000
Männer in Deutschland haben pädophile Neigungen; die
Anzahl der entsprechenden Therapieeinrichtungen hin-
gegen können Sie an einer Hand abzählen. Das müssen
wir ändern, sowohl in Deutschland als auch in Europa.
Wir können natürlich keine der Taten, die jetzt nach
Jahrzehnten öffentlich werden, im Nachhinein ungesche-
hen machen. Aber wir können etwas für unsere Kinder
und Kindeskinder tun. Das sind wir nicht zuletzt den Op-
fern der Vergangenheit schuldig.

Noch einen Satz zu unserer gestrigen Rechtsaus-
schusssitzung. Wir hatten uns eigentlich vorgenommen,
über das Thema inhaltlich zu debattieren. Der Richtlinien-
vorschlag stand auf der Tagesordnung. Die Regierungs-
fraktionen haben ohne irgendeine erkennbare inhaltliche
Begründung das Thema von der Tagesordnung genom-
men und vertagt. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Erstens
halte ich das für keinen guten Stil.





Burkhard Lischka


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zweitens sagt das möglicherweise viel über den internen
Zustand der Regierungsfraktionen aus. Politische Pro-
bleme löst man nicht dadurch, dass man sie vertagt.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Gerade dieses Thema hätte es verdient, gestern behan-
delt zu werden.

Recht herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704317500

Marco Buschmann hat das Wort für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Marco Buschmann (FDP):
Rede ID: ID1704317600

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Es gibt Themen, die das Hohe Haus einen, und
dazu gehört die Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs
von Kindern und der Verbreitung der entsprechenden
Missbrauchsdarstellungen, also dessen, was man ge-
meinhin Kinderpornografie nennt.

Der Missbrauch von Kindern gehört zu den schlimms-
ten Straftaten, und die Verbreitung der Aufzeichnung die-
ser Straftaten perpetuiert den Missbrauch. Deshalb müs-
sen wir die Verbreitung der Missbrauchsdarstellungen
effektiv bekämpfen, auf allen Verbreitungskanälen, auch
im Internet.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zustimmung des Abg. Memet Kilic [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Mit dem Stichwort „Internet“ sind wir beim politi-
schen Kern der heutigen Debatte. Herr Kollege Lischka,
ich finde es gut, dass Sie hier auch andere Aspekte vor-
getragen haben. Aber machen wir uns nichts vor: Das In-
ternet ist heute der politische Knackpunkt.


(Burkhard Lischka [SPD]: Für die Regierungsfraktionen! – Christine Lambrecht [SPD]: Für uns nicht!)


Auch zwei der drei vorliegenden Anträge ranken sich
ausschließlich um dieses Thema.

Dazu ist Folgendes zu sagen: Ich teile ausdrücklich
die Bewertung, dass das Prinzip „Löschen statt sperren“
für die effektive Bekämpfung von Missbrauchsdarstel-
lungen im Internet sorgt. Internetsperren überzeugen
mich nicht, weil sie leicht zu umgehen sind


(Burkhard Lischka [SPD]: Herrn Heveling steht schon der Mund offen!)


und das Problem der Verbreitung mithin nicht lösen. Im
schlimmsten Fall könnten die für das Sperren erforderli-
chen Sperrlisten von den kranken Menschen sogar als
Wegweiser genutzt werden, um an die Inhalte, nach de-
nen sie auf der Suche sind, zu gelangen.


(Beifall bei der FDP, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Abgesehen davon freue ich mich über den Sinnes-
wandel, der in diesem Haus stattgefunden hat. Das rich-
tet sich einmal an die SPD. Noch am 18. Juni 2009 hat
Ihre Fraktion der Einführung von Netzsperren in das
deutsche Recht die parlamentarische Mehrheit ver-
schafft, und immerhin ein Großteil der Grünen hat sich
bei der Frage enthalten.


(Zuruf von der FDP: Hört! Hört! – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das war ein Kleinteil!)


Dass hier ein Fortschritt stattgefunden hat, finde ich sehr
gut. Heute wenden Sie sich gegen das Instrument, für
das Sie vor kurzem noch gestritten haben.


(Christine Lambrecht [SPD]: Was machen Sie denn in der Koalition?)


„Löschen statt sperren“ heißt bei Ihnen offenbar, das Ge-
dächtnis zu löschen und sich besserer Einsicht nicht zu
versperren. Diesen Lernfortschritt kann ich nur begrü-
ßen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Christine Lambrecht [SPD]: Das kennzeichnet aber keinen aus der CDU/ CSU!)


Aber bei aller Sympathie: Hinter Ihren Anträgen
steckt doch ein durchsichtiges politisches Manöver, das
mit der Sache selber nichts zu tun hat. Sie versuchen be-
wusst, den Eindruck zu erwecken, man müsse die Bun-
desregierung für die Frage der Netzsperren sensibilisie-
ren oder auf den Pfad der Tugend zurückführen. Denn
alle drei Oppositionsfraktionen haben einen Antrag nach
Art. 23 Abs. 3 Grundgesetz gestellt. Ein entsprechender
Beschluss führt zu einer Verpflichtung der Bundesregie-
rung, sich mit den Stellungnahmen, wie es in der Kom-
mentarliteratur heißt – ich zitiere –,


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zitieren Sie lieber mal aus Ihrer Koalitionsvereinbarung!)


auseinanderzusetzen und dies mit der gebotenen
Sorgfalt und Rücksichtnahme auf die in der jeweili-
gen „Stellungnahme“ zum Ausdruck gebrachten
Auffassungen des Bundestages.

Mittels dieser Anträge tun Sie so, als ob die Bundes-
regierung das Thema Netzsperren gerade nicht mit der
gebotenen Sorgfalt behandeln würde und in die falsche
Richtung unterwegs wäre.


(Burkhard Lischka [SPD]: Ja! Das stimmt ja auch! Sie vertagen das Thema! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach was! Lesen Sie die Anträge doch mal!)


Da liegen Sie schlichtweg falsch.





Marco Buschmann


(A) (C)



(D)(B)


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann stimmen Sie doch zu!)


Die neue Bundesregierung unter Beteiligung der FDP
hat bislang keinen Zweifel an ihrer Auffassung gelassen,


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben doch bislang nichts gemacht!)


was den Umgang mit Netzsperren angeht.


(Christine Lambrecht [SPD]: Das hat sich aber eben noch ganz anders angehört! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dass ich nicht lache! Wir konnten doch hören, was eben von der CDU gesagt wurde!)


Nehmen Sie die verfassungsrechtliche Prüfung des
Zugangserschwerungsgesetzes durch den Bundespräsi-
denten. Hier hat die Bundesregierung dem Herrn Bun-
despräsidenten ihre abgestimmte Auffassung mitgeteilt.
Beteiligt waren das Bundesjustizministerium, das Bun-
desinnenministerium und das Bundeskanzleramt. In der
schriftlichen Stellungnahme, die bekannt geworden ist,
heißt es:

Die gegenwärtige Bundesregierung beabsichtigt
eine Gesetzesinitiative zur Löschung kinderporno-
graphischer Inhalte im Internet. Bis zum Inkrafttre-
ten dieser Regelung wird sich die Bundesregierung
auf der Grundlage des Zugangserschwerungsgeset-
zes ausschließlich und intensiv für die Löschung
derartiger Seiten einsetzen, Zugangssperren aber
nicht vornehmen.

Kurz gesagt: Die Bundesregierung folgt dem Prinzip
„Löschen statt sperren“.


(Beifall bei der FDP – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, ja! Und was sagt die CDU/CSU-Fraktion dazu? Das ist völlig unverantwortliche Politik! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Was ist denn bloß bei Ihnen los? Gibt es etwa schon wieder eine Koalitionskrise?)


Sogar im Zusammenhang mit der hier zur Debatte
stehenden Richtlinie ist die Bundesjustizministerin be-
reits aktiv geworden. In einem Brief an die zuständige
EU-Kommissarin Malmström heißt es, wie zu hören
war,


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was zitieren Sie denn da schon wieder? Ich will jetzt mal eine Stellungnahme hören!)


dass für kinderpornografische Inhalte der Grundsatz
„Löschen statt sperren“ gelten sollte und dass Netzsper-
ren kein wirksames Mittel zur Bekämpfung dieser In-
halte sind.


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unverantwortlich!)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704317700

Herr Kollege, ich unterbreche Ihren Redefluss nur un-

gern. Aber Herr Ströbele würde Ihnen gerne eine Zwi-
schenfrage stellen, wodurch sich Ihre Redezeit verlän-
gern würde.


Dr. Marco Buschmann (FDP):
Rede ID: ID1704317800

Bitte, Herr Kollege Ströbele.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704317900

Bitte schön.


(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Gebt ihm doch mal Redezeit! Dann muss er nicht so oft Zwischenfragen stellen!)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe nur eine ganz kurze Frage.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist schön!)


Herr Kollege, für welche Bundesregierung sprechen
Sie?


(Christine Lambrecht [SPD]: Das wollte ich auch noch fragen! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das wurde doch vorhin schon mal gefragt!)



Dr. Marco Buschmann (FDP):
Rede ID: ID1704318000

Ich spreche für die Bundesregierung, die sich gegen-

über dem Herrn Bundespräsidenten im Zusammenhang
mit der materiellen Prüfung des Gesetzes, dem die SPD
die parlamentarische Mehrheit verschafft hat, geäußert
hat – das war wohl klar –, also für die jetzige Bundesre-
gierung.


(Beifall bei der FDP – Christine Lambrecht [SPD], an die CDU/CSU gewandt: Warum klatschen Sie denn gar nicht? – Burkhard Lischka [SPD]: Das, was Sie gerade gesagt haben, muss aber noch mal geklärt werden!)


Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die Äußerun-
gen vonseiten der Bundesregierung, die ich vorhin
erwähnt habe, machen deutlich, dass die Bundesregie-
rung – in Deutschland herrscht Gewaltenteilung – aus-
reichend sensibilisiert und auf dem richtigen Weg ist.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das stimmt doch überhaupt nicht!)


Die FDP-Fraktion bestärkt die Bundesregierung auf ih-
rem Weg.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach! Sie regieren doch nicht ohne Unterleib, oder doch?)


Wir stärken allen beteiligten Bundesministern den Rü-
cken. Wir sehen keinen Grund, warum wir durch Stel-
lungnahmen nach Art. 23 Abs. 3 Grundgesetz den Ein-
druck erwecken sollten, als würde die Bundesregierung
hier eine andere Haltung einnehmen oder einen anderen
Weg einschlagen.





Marco Buschmann


(A) (C)



(D)(B)


(Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Kabarett, was Sie hier vortragen!)


Der Weg der Bundesregierung ist richtig, und er heißt:
„Löschen statt sperren“.


(Beifall bei der FDP – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Alaaf und Helau! Das ist doch wohl unglaublich! Wer glaubt denn so etwas? Die CDU/CSU jedenfalls schweigt betreten! – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Peinlich, peinlich! – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kommt jetzt die Gegenrede von der CSU? – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die FDP-geführte Bundesregierung hat beschlossen! Jetzt haben wir es gehört! – Burkhard Lischka [SPD]: Vielleicht sagt die Bundesregierung ja mal etwas dazu!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704318100

Die Kollegin Halina Wawzyniak hat das Wort für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Halina Wawzyniak (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704318200

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Lieber Herr Buschmann, ich schließe mich der
Frage meines Freundes Hans-Christian Ströbele an:


(Zurufe: Oh! Oh! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Da haben wir wieder etwas geklärt! Das ist heute ja ein interessanter Abend! Das muss ich wirklich sagen!)


Wer ist hier die Bundesregierung? Sie, Herr Buschmann,
sind offensichtlich gegen Netzsperren; das nehme ich Ih-
nen ab, und das finde ich löblich. Allerdings hörte sich
das, was der Kollege Heveling gerade ausgeführt hat, ein
bisschen anders an.


(Andrea Astrid Voßhoff [CDU/CSU]: Das darf es ja wohl auch!)


Insofern würde ich gerne wissen, ob Sie sich in diesem
Punkt einig sind oder nicht.

Ich habe heute im Bundesministerium der Justiz am
runden Tisch „Sexueller Kindesmissbrauch in Abhän-
gigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffent-
lichen Einrichtungen und im familiären Bereich“ teilge-
nommen. Dort beraten Sachverständige, die Bundes-
regierung und Abgeordnete aller Fraktionen, wie man
das Problem der sexualisierten Gewalt gegen Kinder
umfassend angehen kann und muss. Ich halte diese Art
der Debatte für ausgesprochen sinnvoll und hilfreich.


(Ulrike Flach [FDP]: Sehen Sie!)


Deshalb werden wir weiter an diesem runden Tisch teil-
nehmen.

Hier geht es nun aber um Netzsperren. Dazu sage ich
Ihnen: Jedes staatliche Handeln muss sich an einem
rechtsstaatlichen Kriterienkatalog messen lassen. Sie
müssten das besser wissen.


(Zuruf von der FDP: Ja, besser als Sie!)


Das heißt, staatliche Maßnahmen müssen in einem ord-
nungsgemäßen Verfahren zustande kommen, der Grund-
satz der Verhältnismäßigkeit muss beachtet werden, und
schließlich sind die möglichen – auch die ungewünsch-
ten – Folgen der Maßnahmen zu würdigen. Offensicht-
lich hat die gesamte Opposition – auch ich – erhebliche
Zweifel daran, dass die von der EU-Kommission ge-
wünschten Maßnahmen diesen Maßstäben standhalten.

Ich möchte kurz auf das Verfahren eingehen. Sie ha-
ben gestern im Rechtsausschuss – darauf wurde bereits
hingewiesen – die Stellungnahme der Grünen, eine soge-
nannte Subsidiaritätsrüge, mit Ihrer Koalitionsmehrheit
einfach vom Tisch gewischt.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Armutszeugnis!)


Damit sind die Fristen für die Einreichung einer solchen
Rüge nicht mehr einzuhalten. Mit ein bisschen Stil hät-
ten Sie einfach dagegenstimmen können, anstatt mit die-
sem formalen Mittel eine Debatte zu verhindern.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Dass die von Stil redet, ist ja schon der Hammer!)


Ich finde, das ist für Ihr Verständnis vom Umgang mit
der Opposition bezeichnend. Damit wird im Übrigen die
Option der Nutzung eines im Lissabon-Vertrag vorgese-
henen demokratischen Instruments ausgehebelt.

Die Sperrung von Webseiten ist nicht dazu geeignet,
Kinderpornografie zu verhindern. Vielmehr schafft sie
durch die damit einhergehende Etablierung einer Sperr-
infrastruktur enorme Gefahren für die Meinungsfreiheit.
In Dänemark sind die geheimen Sperrlisten öffentlich
geworden. Ergebnis: 90 Prozent der gesperrten Seiten
waren ohne kinderpornografischen Inhalt.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704318300

Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage von

Herrn Grosse-Brömer von der CDU/CSU-Fraktion zu-
lassen?


Halina Wawzyniak (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704318400

Ja, selbstverständlich.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704318500

Bitte schön.


Michael Grosse-Brömer (CDU):
Rede ID: ID1704318600

Liebe Frau Kollegin Wawzyniak, ist es vielleicht so,

dass sich die Zahl der Zugriffe auf diese Seiten in Skan-
dinavien, teilweise auch in Italien, durch das Sperren um
40 Prozent und mehr reduziert hat?


(Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Hört! Hört!)






Michael Grosse-Brömer


(A) (C)



(D)(B)

Können Sie mir, wenn das so ist, zustimmen, dass man
dann beim Sperren von kinderpornografischen Seiten
nicht von einem völlig ineffektiven Mittel reden kann,
sondern allenfalls davon, dass es keinen hundertprozen-
tigen Erfolg hat? Aus dieser Tatsache resultiert, dass zu-
mindest eine Fraktion im Deutschen Bundestag sagt:
Eine Senkung der Zugriffszahlen um 40 Prozent ist es
uns wert, nicht vollständig auf dieses effiziente Mittel zu
verzichten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Christine Lambrecht [SPD]: Da müssen Sie Herrn Buschmann fragen!)



Halina Wawzyniak (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704318700

Herr Grosse-Brömer, ich weiß nicht, wer hier von ei-

nem „völlig ineffektiven Mittel“ gesprochen hat. Das Zi-
tat stammt sicherlich nicht aus meiner Rede; ich habe
das nicht gesagt. Sie können das im Protokoll nachlesen.
Im Übrigen handelt es sich nicht um eine Frage der Effi-
zienz, sondern der Angemessenheit. Das Mittel der Sper-
rung ist angesichts der Folgen nicht angemessen.


(Beifall bei der LINKEN)


Das Beispiel Dänemark zeigt, dass unsere Vermu-
tung, dass die Freiheit des Internets insgesamt einge-
schränkt werden soll, nicht völlig aus der Luft gegriffen
ist. Es liegt der Verdacht nahe, dass nunmehr europaweit
eine Sperrinfrastruktur geschaffen werden soll, die dem
freiheitlichen Gedanken eines weltweiten, offenen Inter-
nets total widerspricht. Ich sage Ihnen schon heute, dass
es nicht lange dauern wird, bis Lobbyisten der Musik-
und Unterhaltungsindustrie ihre Begehrlichkeiten im
Hinblick auf die Nutzung dieser Sperrinfrastruktur
durchsetzen werden.

Es ist nicht zu bestreiten, dass sich unsere Gesell-
schaft durch das Internet verändert hat. Wir sollten aber
nicht der Versuchung erliegen, das Internet zu verteufeln
und der digitalen Gesellschaft und der Netzgemeinschaft
wegen eines Problems, das eigentlich kein Problem des
Internets ist, künstlich Schranken aufzuerlegen. Wir soll-
ten uns davor hüten, das Internet zu überwachen und zu
zensieren. Wir sollten die Freiheit des Internets nicht
durch blinden Aktionismus kaputtmachen. Wir sollten,
so wie es Frau Leutheusser-Schnarrenberger in der Stutt-
garter Zeitung vom 3. Mai schrieb, die „Freiheit des In-
ternets bewahren“. – Jetzt könnten Sie von der FDP ein-
mal klatschen; schließlich ist das Ihre Ministerin.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Bewahren Sie also die Freiheit des Internets! Bewah-
ren Sie die Freiheit Europas! Missbrauchen Sie Europa
nicht als Hintertür bei der Einführung von Internet-
sperren!


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704318800

Patrick Sensburg hat das Wort für die CDU/CSU-

Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Wolfgang Wieland [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt kommt die Geschlossenheit der Koalition wieder zum Tragen!)



Dr. Patrick Sensburg (CDU):
Rede ID: ID1704318900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Ich verstehe die Heiterkeit der Oppositionsfrak-
tionen nicht angesichts dessen, dass es um einen Inhalt
geht, der sich mit der Richtlinie zur Bekämpfung des
sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutung
von Kindern sowie der Kinderpornografie, also mit den
abscheulichsten Verbrechen an Kindern, beschäftigt.


(Christine Lambrecht [SPD]: Das war jetzt billig!)


Da Sie wissen, was da passiert – zwei bis drei Jahre alte
Kinder werden sexuell missbraucht, bis zum Tode –, ver-
stehe ich die Heiterkeit auf der Oppositionsbank nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind hier die Oberkrawallos, und dann so etwas! Das ist ja wohl lächerlich! Das Allerletzte ist das!)


Nach Angaben der Kommission werden pro Tag 200
neue kinderpornografische Bilder oder Videos ins Netz
gestellt. Es geht um den Schutz unserer Kinder, und wir
müssen lernen, dass wir das nicht zulassen, was wir auch
im normalen Leben nicht zulassen: DVDs und CDs in
dieser Art würden wir nie erlauben, sondern sie konfis-
zieren, und das muss auch für das Internet gelten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich dachte eigentlich, dass wir uns einig wären – Herr
von Notz, hören Sie einmal ganz kurz zu –, wenn es um
den Inhalt und das Ziel der Richtlinie geht. Aber bei
Bündnis 90/Die Grünen und auch bei der SPD scheint
schon der Inhalt nicht mehr akzeptabel zu sein. Wenn ich
dann unter dem Aspekt der strafrechtlichen Konsequenz


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie mal, was Sie genau meinen!)


– ich zitiere es gerade –, unter dem Aspekt des Schutzes
der Kinder vor solchen Verbrechen lese, das natürliche
Bedürfnis von Jugendlichen nach Sexualität müsse re-
spektiert werden – das steht in Ihrem Antrag –


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In welchem Antrag steht das?)


– das steht in Ihrem Antrag zum heutigen Tag unter
Randnummer 6 im letzten Satz; ich lege Ihnen dies
gleich vor; ich habe es dabei –, dann frage ich mich: Was
hat das mit dem Schutz von Jugendlichen vor diesen
Verbrechen zu tun?

Herr von Notz, noch zur Erklärung – Sie mögen ja
vielleicht zu dem, was Sie eben gesagt haben, dazuler-
nen; Herr Lischka, das betrifft leider auch Sie –:





Dr. Patrick Sensburg


(A) (C)



(D)(B)


(Burkhard Lischka [SPD]: Zum Zuhören gehört auch Verstehen!)


Wenn Sie sich Art. 8 der Richtlinie ansehen, dann erken-
nen Sie, dass es in der Richtlinie für genau die Fälle, die
Sie eben zitiert haben, Ausnahmetatbestände gibt.


(Burkhard Lischka [SPD]: Das sieht Ihr eigenes Ministerium in Niedersachsen anders!)


Entweder Sie müssen die Richtlinie noch einmal richtig
lesen, oder ich verstehe Ihren Antrag nicht. Er scheint
rein populistisch gemeint zu sein.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Kommen wir zur Subsidiarität. Im Kern greifen Sie
das Subsidiaritätsprinzip und die Kompetenzordnung,
die sich gerade aus Art. 21 des Richtlinienvorschlags er-
gibt, an. Es ist wohl klar, dass sich die Richtlinie in den
Art. 3 bis 5 mit dem Strafrecht beschäftigt und es auch in
Art. 7 um Beihilfe und Anstiftung geht. Nach Art. 82 und
83 Abs. 1 AEUV kann die EU „Mindestvorschriften …
im Bereich besonders schwerer Kriminalität“ regeln. Er-
klären Sie mir einmal, meine Damen und Herren von der
Opposition, warum Kinderpornografie keine besonders
schwere Kriminalität ist und warum die EU hierfür nicht
zuständig sein soll.


(Beifall bei der CDU/CSU – Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Das würde mich auch interessieren!)


Der Europäische Gerichtshof hat schon mehrfach ent-
schieden, zuletzt 2002 und 2009 in den Entscheidungen
zu British American Tobacco, dass die Schwerpunkt-
theorie in diesem Fall gilt. Lassen Sie mich also deutlich
feststellen, dass der hier diskutierte Art. 21 des Richt-
linienvorschlags Teil eines strafrechtlichen Gesamtkon-
zepts gegen Kinderpornografie ist und somit an dieser
Stelle kein Bruch des Subsidiaritätsprinzips vorliegt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Auch der Bundesrat Österreichs ist am 4. Mai zu dem
Ergebnis gekommen, dass das Subsidiaritätsprinzip nicht
verletzt ist. Italien hat in der Abgeordnetenkammer am
18. Mai zugestimmt und Schweden im Rechtsausschuss
des Reichstags am 6. Mai. Eine Stellungnahme nach
Art. 23 Abs. 3 Grundgesetz ist daher hier nicht angesagt.


(Burkhard Lischka [SPD]: Sie haben sich ja noch nicht einmal inhaltlich positioniert!)


Statt bei einem solchen Thema Geschlossenheit im ge-
samten Plenum zu zeigen und hier nicht in formales
Streiten zu verfallen, machen Sie genau das. Das ist
Populismus.


(Beifall bei der CDU/CSU – Burkhard Lischka [SPD]: Die anderen Länder haben es nicht vertagt!)


Übrigens ist es auch keine Beschränkung der Mei-
nungsfreiheit, wenn wir sagen: Als Ultima Ratio sperren
wir Seiten. Oder wollen Sie mir sagen, dass das Einstel-
len von so abscheulichen Dingen unter die Meinungs-
freiheit des Art. 5 Grundgesetz fällt?

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie es doch mal! Nehmen Sie mal Stellung!)


Es ist auch keine Beschränkung der Informationsfreiheit.
Oder wollen Sie mir sagen, dass es ein Recht gibt, sich
im Internet über gequälte Kinder zu informieren? Hier
ist auch kein Recht der informationellen Selbstbestim-
mung verletzt.


(Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja ein unterirdisches Niveau, was Sie hier verbreiten!)


Oder wollen Sie mir sagen, dass es ein Recht gibt, sich
über diese Dinge zu informieren? Es sind doch gerade
die Kinder, die in ihrem Recht auf informationelle
Selbstbestimmung verletzt sind.


(Beifall bei der CDU/CSU – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Die Koalition scheint tief gespalten zu sein!)


Herr von Notz, Sie waren es, die uns in der Diskus-
sion im Februar in Bezug auf dieses Thema Populismus
vorgeworfen haben. Sind die Argumente, die Sie eben
vorgebracht haben, nicht sehr viel mehr von Populismus
gekennzeichnet?


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn daran Populismus?)


Wenn Sie dann sagen, es gebe hier eine Zensur, halte
ich dem entgegen: Zensur meint Vorzensur. Das ist das,
was wir unter Zensur verstehen. Dazu muss ich ganz
ehrlich sagen: Vorzensur bezieht sich auf Werke geisti-
ger Art. Sie wollen mir doch nicht sagen, dass Kin-
derpornografie im Internet geistige Werke sind, bei de-
nen wir Vorzensur betreiben. Das ist wirklich großer
Quatsch.


(Beifall bei der CDU/CSU – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie unterbelichtet kann man eigentlich argumentieren?)


Gemeinsam mit der FDP werden wir weitere Alterna-
tiven suchen. Dazu gehört zum Beispiel das gezielte Fil-
tern von Filmen und Bildern. So können wir genau die
inkriminierten Inhalte herausfiltern. Rechtlich ist dies
zum Teil möglich.

Letztlich sage ich auch, dass der Richtlinienvorschlag
in Art. 21 Abs. 2 das Löschen vor Sperren beinhaltet.
Das steht doch in der Richtlinie. Deswegen weiß ich gar
nicht, welches Problem Sie damit haben. Die Regie-
rungskoalition hat den richtigen Weg eingeschlagen.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Welchen denn?)


Es geht aber auch darum, dass effektives Löschen nicht
immer notwendig ist. Herr von Notz, in Amerika wird
eine Vielzahl der Internetseiten nicht gelöscht und bleibt
monatelang freigeschaltet. Nur die IP-Adresse wird ge-
ändert. Ihre Anträge sind daher inhaltlich und formal-
rechtlich falsch und deswegen auch abzulehnen.

Danke schön.





Dr. Patrick Sensburg


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU – Burkhard Lischka [SPD]: Sie setzen sich ja nicht einmal inhaltlich damit auseinander! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Durchgefallen!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704319000

Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen

Konstantin von Notz das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herzlichen Dank. – Herr Kollege Sensburg, das war
unterirdisches Niveau.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Diese Debatte erfordert eine gewisse Differenzierung,
damit man sich nicht gegenseitig die Förderung sexuel-
len Missbrauchs vorwirft. Diese Differenzierung lassen
Sie hier wirklich unter den Tisch fallen und argumentie-
ren auf unterstem Niveau. Wir wollen hier aber eine dif-
ferenzierte Debatte führen. Wenn Sie den Kern nicht er-
kennen, dann erläutert Ihr Koalitionspartner Ihnen
diesen sicher gern.

Es geht darum, dass die Internetsperren höchst ineffi-
zient sind. Die Zahlen, die hier genannt wurden, sind alle
nicht überprüft worden und sind daher nicht fest.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Hauptsache Ihre sind fest!)


– Nein, das sind sie nicht. – Sie selbst sprechen sich im
Koalitionsvertrag gegen Internetsperren aus, weil Sie an
der Wirksamkeit zweifeln.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wenn Sie mit mir reden wollen, dann machen wir das gleich draußen!)


– Ja, ich rede auch mit Ihnen. Sie schreien hier ja herum.

Ich sage Ihnen: Wenn Sie wirklich effektiv gegen
Kindesmissbrauch und die Darstellung von Kindesmiss-
brauch im Internet vorgehen wollen, dann müssen Sie
andere Maßnahmen ergreifen, die sehr viel leichter um-
zusetzen sind. Sie sollten aber nicht versuchen, Sperr-
instrumente zu installieren, die der Sache letztlich nicht
dienen.


(Ingo Wellenreuther [CDU/CSU]: Das ist doch kein Widerspruch!)


Hören Sie den Expertinnen und Experten zu! Viele Leute
werden Ihnen sagen, dass das der richtige Weg ist. Ihre
unterirdische Art, hier zu diskutieren, ist es jedenfalls
nicht.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704319100

Herr Kollege Sensburg zur Erwiderung. Bitte schön.

Dr. Patrick Sensburg (CDU):
Rede ID: ID1704319200

Herr Kollege von Notz, Ihrer Bewertung schließe ich

mich nicht an; das werden Sie verstehen. Ich werde sie
auch nicht kommentieren. Uns ist klar, dass sowohl das
Löschen als auch das Sperren möglich ist. Dass das
Sperren von Seiten, die man nicht löschen kann, zumin-
dest als Option möglich sein sollte, ist eigentlich auch je-
dem klar. Das ist inzwischen sogar der Internet Commu-
nity klar.


(Burkhard Lischka [SPD]: Von welcher Community sprechen Sie? Ist es eine aus dem Sauerland?)


Dort sagt man nämlich auch: Das Sperren von Internet-
seiten hat Erfolg.

Sie müssen sich noch einmal anhören, was Herr
Grosse-Brömer eben gesagt hat: Es gibt eine Vielzahl
von Ländern, in denen das Sperren wunderbar funktio-
niert. Genau das machen wir als Ultima Ratio. Wenn Sie
im Koalitionsvertrag einmal nachlesen, wie es funktio-
niert, dann sind Sie schlauer


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da müssen Sie mal reinschauen!)


und dann brauchen Sie auch nicht solche Kommentare
abzugeben.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Jetzt ist eine Kurzintervention von Herrn Buschmann notwendig! Wo ist die FDP? – Gegenruf des Abg. Marco Buschmann [FDP]: Die Geschäftsordnung gibt mir nicht die Möglichkeit! – Gegenruf des Abg. Christian Lange [Backnang] [SPD]: Selbstverständlich! Das ist ja noch schwächer!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704319300

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/1584, 17/1739 und 17/1746 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann
ist das so beschlossen.

Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 11 a und b
auf:

a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP

Modellversuch „Begleitetes Fahren mit 17“ in
das Dauerrecht überführen

– Drucksache 17/1573 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dirk
Fischer (Hamburg), Arnold Vaatz, Volkmar Vogel

(Kleinsaara), weiterer Abgeordneter und der

Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

Patrick Döring, Oliver Luksic, Werner Simmling,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Erwerb von Zweiradführerscheinen erleich-
tern

– Drucksache 17/1574 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattie-
ren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann
ist das so beschlossen.

Der Kollege Gero Storjohann hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Gero Storjohann (CDU):
Rede ID: ID1704319400

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wir beraten heute zwei Anträge der christlich-
liberalen Koalition zum Führerscheinrecht, die von Ih-
nen in den Ausschüssen hoffentlich wohlwollend behan-
delt werden und Ihre Zustimmung erfahren. Mein Kol-
lege Thomas Jarzombek wird zum Bereich Anpassung
des Führerscheinwesens im Einzelnen sprechen. Ich be-
fasse mich in erster Linie mit dem Modellversuch „Be-
gleitetes Fahren mit 17“.

Im Jahre 2004 hat Niedersachsen ohne rechtliche
Grundlage einen Modellversuch auf den Weg gebracht.
Wir im Verkehrsausschuss waren schon lange dafür, hat-
ten aber nie eine Mehrheit. Mittlerweile haben sich andere
Bundesländer diesem Weg peu à peu angeschlossen. Alle
machen beim Projekt „Begleitetes Fahren mit 17“ mit.
Das finden wir toll. Wir als christlich-liberale Koalition
vertreten die Auffassung, dass sich begleitetes Fahren
mit 17 bewährt hat. Die Ergebnisse des Modellversuchs
sind ausschließlich positiv.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das Projekt verläuft nicht nur positiv, es ist auch bei
den Fahranfängern und ihren Eltern gleichermaßen po-
pulär. Es steigert die Verkehrssicherheit auf unseren
Straßen. Deshalb bitten wir die Bundesregierung mit
dem vorliegenden Antrag, das Modellprojekt mit
Wirkung zum 1. Januar 2011 in das Dauerrecht zu über-
führen. Hierzu bitten wir die Bundesregierung um ent-
sprechende Vorschläge zur Änderung des Straßenver-
kehrsgesetzes und der Verordnung über die Zulassung
von Personen zum Straßenverkehr.

Wie war das 2005? Damals lehnte die rot-grüne Bun-
desregierung einen Gesetzesvorschlag der CDU/CSU-
Fraktion zum begleiteten Fahren mit 17 ab. Mit diesem
Vorschlag forderten wir damals, frühzeitig bundesein-
heitliche Vorgaben für den beginnenden Modellversuch
aufzuzeigen. Aber aus parteipolitischen Gründen, die
wir durchaus nachvollziehen können, wurde der Vor-
schlag der Unionsfraktion von Rot-Grün abgelehnt.


(Sören Bartol [SPD]: Oh!)

– Auch von Sören Bartol. – Etwas später brachte die
Bundesregierung einen eigenen Antrag gleichen Inhalts
ein. Wir haben diesem rot-grünen Antrag damals zuge-
stimmt, weil wir uns als Urheber dieser Idee verstanden
haben.

Der Weg zu diesem finalen Antrag, den wir heute be-
raten, war lang, aber wer neue Wege beschreiten will
und innovative Ideen hat, muss manchmal dicke Bretter
bohren. Deshalb wollen wir uns heute für das Dauerrecht
aussprechen. Wir freuen uns besonders, dass alle Zweif-
ler und Kritiker, die es lange Zeit gegeben hat, mittler-
weile überzeugt sind.

Teilnehmer des Modellversuchs haben die Möglich-
keit, bereits mit sechzehneinhalb Jahren Fahrunterricht
in einer Fahrschule zu nehmen. Ab einem Alter von
17 Jahren können sie den Pkw-Führerschein erwerben.
Bis zur Volljährigkeit darf man zwar ans Steuer, aber nur
gemeinsam mit einer registrierten Begleitperson.

Diese Begleitperson muss mindestens 30 Jahre alt
sein und mindestens fünf Jahre im Besitz eines Pkw-
Führerscheins sein. Hierdurch ist gewährleistet, dass es
sich um eine Person mit ausreichender Verkehrserfah-
rung handelt. Auswertungen des Modellversuchs haben
ergeben, dass es sich meistens um die Eltern der Fahran-
fänger handelt. Das ist wiederum ein Wermutstropfen,
weil das deutlich macht, dass nie mehr als 30 Prozent der
Zielgruppe dieses Projekt in Anspruch nehmen werden.
Das liegt an der Entwicklung unserer Gesellschaft.

Seit 2004 haben bereits 380 000 junge Frauen und
Männer am „BF 17“ teilgenommen. 2008 nahmen be-
reits 25 Prozent aller Fahranfänger der Führerschein-
klassen B und BE am begleiteten Fahren teil. Derzeit ge-
hört es fest zum Alltag der Familien in Deutschland. Die
Frage, wann heute ein heranwachsendes Kind mit dem
Machen des Führerscheins anfängt, stellt sich automa-
tisch im Alter von 17. Was als kontroverses verkehrspo-
litisches Projekt begann, ist zur Lebenswirklichkeit in
Deutschland geworden.

In der Fahrschule lernen Jugendliche die theoreti-
schen und praktischen Grundfertigkeiten zum Führen ei-
nes Kraftfahrzeugs. Doch Routine und Erfahrung im
Umgang auch mit schwierigen Verkehrssituationen kön-
nen sich nur langfristig entwickeln. Die wenigen Mo-
nate, die man Fahrstunden nimmt, sind dafür in der Re-
gel nicht ausreichend.

Das Unfallrisiko junger Fahrer ist deutlich überdurch-
schnittlich: Die Gruppe der 18- bis 24-Jährigen ist die
gefährdetste aller Altersgruppen im Straßenverkehr. Ob-
wohl sie nur 8,3 Prozent der Gesamtbevölkerung darstel-
len, beträgt ihr Anteil an den Verunglückten und Getöte-
ten im Straßenverkehr 20 Prozent. Ein Grund hierfür
– das haben wir festgestellt – ist die mangelnde Fahr-
praxis. Das begleitete Fahren setzt hier an und schafft
Abhilfe.

Neben die professionelle Fahrschulausbildung wird
ergänzend ein eigenständiges Vorbereitungselement ge-
setzt. Die Jugendlichen haben länger Zeit, das Fahren
unter Aufsicht zu üben. Wir haben uns damals zum Ziel
gesetzt, dass man mindestens 500 Kilometer begleitet





Gero Storjohann


(A) (C)



(D)(B)

fahren sollte, damit es sinnvoll ist. Man sollte nicht ein-
fach den Führerschein mit 17 Jahren erwerben, dann
nicht mehr üben und nicht begleitet fahren, aber mit
18 Jahren dann plötzlich selbstständig fahren. Die
Untersuchungen haben ergeben, dass durchschnittlich
2 400 Kilometer in Begleitung zurückgelegt werden.
Auch das unterstreicht die Sinnhaftigkeit und die Rich-
tigkeit unserer damaligen Entscheidung.

Die Fahranfänger berichten, dass sie sich sicherer
fühlen. Darüber hinaus beruhigt es sie, dass sie für den
Ernstfall einen erfahrenen Autofahrer neben sich sitzen
haben. Auch die Eltern sind eine Sorge los. Wir haben
also nicht nur ein gesteigertes subjektives Sicherheits-
empfinden, sondern die Zahlen der BASt belegen auch
objektiv eine Erhöhung der Verkehrssicherheit.

Gegenüber den Fahranfängern, die ihre Fahrerlaubnis
auf herkömmliche Weise erwarben, zeigten sich die Teil-
nehmer am begleiteten Fahren verkehrssicherer. Sie be-
gingen im ersten Jahr des selbstständigen Fahrens rund
20 Prozent weniger Verkehrsverstöße und waren in
22 Prozent weniger Unfälle verwickelt.

Zu Beginn des Modellversuchs gab es kritische Stim-
men, die hinterfragten, ob 17-Jährige verantwortungs-
voll genug seien, um bereits einen Führerschein zu besit-
zen. Die Bedenken haben sich nicht bewahrheitet.
Deshalb sind wir froh, in diese Problematik eingestiegen
zu sein und eine Lösung aufgezeigt zu haben. Daher
bitte ich Sie um Unterstützung unseres Antrags.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704319500

Die Kollegin Kirsten Lühmann spricht für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Kirsten Lühmann (SPD):
Rede ID: ID1704319600

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! Liebe

Kolleginnen! Das Abwerfen eines Pkws aus zehn Metern
Höhe soll einen Aufprall mit 50 km/h auf ein stehendes
Hindernis simulieren. – Die Deutsche Verkehrswacht
setzt beim Thema Verkehrssicherheit auf spektakuläre
Mittel, um junge Fahrerinnen und Fahrer für die Gefah-
ren des Straßenverkehrs zu sensibilisieren. „Hast du die
Größe? Fahr mit Verantwortung!“ fordert der Deutsche
Verkehrssicherheitsrat. Auch die bundesdeutsche Anti-
raserkampagne „Runter vom Gas!“ will auf die dramati-
schen Folgen zu schnellen Fahrens aufmerksam machen.

Zahlreiche Maßnahmen in den letzten Jahren haben
dafür gesorgt, dass unsere Straßen sicherer geworden
sind: 2007 hat die Große Koalition ein Alkoholverbot für
Fahranfänger eingeführt. Im selben Jahr hat der frühere
Verkehrsminister Tiefensee die Nachrüstung von Lkw
mit besseren Spiegeln vorgeschrieben, um den toten
Winkel zu vermindern. Bußgelder für gefährliche Ver-
kehrsdelikte wurden erhöht, und die anfangs erwähnten
Verkehrssicherheitskampagnen wurden in Zusammen-
arbeit mit dem Verkehrsministerium weiter modernisiert
und besser auf die Zielgruppen ausgerichtet.

Der Erfolg dieser Maßnahmen kann sich sehen las-
sen: Noch nie gab es auf Deutschlands Straßen so wenig
Verkehrstote wie heute. Von mehr als 21 300 im Jahr
1970 ist die Zahl auf 4 500 im Jahr gesunken. 2009 hat
sich diese positive Entwicklung fortgesetzt. 4 050 Ver-
kehrstote sind ein neuer Tiefstand. Bei den jungen Ver-
kehrsteilnehmerinnen und -teilnehmern zwischen 18 und
24 Jahren ist die Zahl der Getöteten ebenfalls gesunken,
und zwar seit 1991 um 63 Prozent von 2 750 auf 1 010.

Aber – das wurde bereits von meinem Vorredner ge-
sagt – in keiner anderen Altersgruppe war und ist das Ri-
siko, im Straßenverkehr zu verunglücken, derart hoch.
Junge Fahrerinnen und Fahrer haben immer noch ein
dreifach höheres Unfallrisiko als alle anderen Alters-
gruppen. Statistisch gesehen – ich habe es einmal an-
dersherum aufgezäumt – verunglückt alle sechs Minuten
ein 18- bis 24-Jähriger, alle acht Stunden stirbt ein jun-
ger Mensch dieser Altersgruppe an den Folgen eines
Verkehrsunfalls. Gründe für das hohe Unfallrisiko jun-
ger Fahrerinnen und Fahrer sind der Wunsch, sich zu be-
weisen, Lebenseinstellungen und mangelnde Erfahrung,
insbesondere bei der Risikoabschätzung, die sich zu ei-
nem gefährlichen Mix vermengen.

Es wird wahrscheinlich nie gelingen, die Risikoquote
von jugendlichen Fahranfängern auf die von älteren und
erfahrenen Autofahrern zu reduzieren. Trotzdem zeigen
internationale Studien und die positiven Entwicklungen
der Unfallzahlen in den letzten Jahren: Das unverhältnis-
mäßig hohe Risiko der Fahranfänger muss nicht als un-
vermeidlich hingenommen werden. Die zentrale Forde-
rung der Unfallforschung lautet deshalb zu Recht: Die
Erteilung der Fahrerlaubnis darf nicht das Ende des
Lernprozesses sein, sondern es muss – im Gegenteil –
der Anfang eines praxisorientierten Lernens werden.

Ein jugendlicher Fahranfänger muss Erfahrungen sam-
meln. Der Modellversuch „Begleitetes Fahren mit 17“ be-
stätigt diese Forderungen der Unfallforschung. Er zeigt
einen Weg, wie junge Fahrerinnen und Fahrer bereits vor
ihren ersten selbstständigen Autofahrten Fahrpraxis er-
werben können. Sicher haben einige von uns die glei-
chen Erfahrungen gemacht, die ich zurzeit mache.
Unsere jüngste Tochter macht seit einem halben Jahr be-
gleitet ihre ersten Fahrerfahrungen. Sie ist von drei
Töchtern die einzige, die dieses Angebot wahrgenom-
men hat. Damit liegen wir leicht unter dem Schnitt. Nach
den mir vorliegenden Zahlen nehmen 50 Prozent das
Angebot wahr. Herr Storjohann, ich habe da andere Zah-
len als Sie. Nach der von Ihnen genannten Zahl würden
wir im Durchschnitt liegen; wir können uns aussuchen,
welche Zahlen wir nehmen. Sowohl bei unserer Tochter
als auch bei ihren Bekannten, die ebenfalls ihre Fahr-
erlaubnis mit 17 Jahren machten, sind die Akzeptanz
und die Einsicht in die Vorteile des begleiteten Fahrens
erstaunlich hoch.

Auch die uns vorliegenden Ergebnisse der Evaluation
zum begleiteten Fahren sind ermutigend; die Zahlen
wurden von meinem Vorredner genannt. Wir Sozialde-
mokraten haben bereits früh auf diese Erkenntnis ge-





Kirsten Lühmann


(A) (C)



(D)(B)

setzt. Herr Storjohann, es scheint ein Kind mit mehreren
Vätern oder Müttern zu sein. Jedenfalls hat der damalige
Verkehrsminister der rot-grünen Bundesregierung, Kurt
Bodewig, im Mai 2002 bei der Bundesanstalt für Stra-
ßenwesen eine Projektgruppe eingerichtet. Sie hatte den
Auftrag, ein Modell zu erarbeiten, durch das jugendli-
chen Fahranfängern der Start in das selbstständige
Fahren erleichtert werden sollte. Auf dem 41. Verkehrs-
gerichtstag im Januar 2003 wurden die Ergebnisse vor-
gestellt und gefordert, die rechtlichen Voraussetzungen
zu schaffen, damit interessierte Bundesländer loslegen
können.

Der vorliegende Antrag der Regierungskoalition legt
richtig dar: „Begleitetes Fahren mit 17“ ist ein Erfolgs-
modell. Es muss in das Dauerrecht überführt werden.
Aber mit diesen uns vorliegenden Befunden sind die
Fragen zur Wirksamkeit des begleiteten Fahrens mit 17
noch nicht abschließend geklärt. Der Evaluationszeit-
raum ist einfach zu kurz. Die statistischen Zahlen sind
ermutigende Trends. Ob sich die Zahlen verstetigen,
bleibt abzuwarten. Wir fordern deshalb, die Beobach-
tung der Folgen weiterzuführen, um zu prüfen, ob eine
längerfristige Wirksamkeit des begleiteten Fahrens in
dem Maße, wie wir es jetzt sehen, gegeben ist.

Ihr Antrag hat noch einen weiteren Schönheitsfehler:
„Begleitetes Fahren mit 17“ ist ein Ausbildungsweg, der
von Jahr zu Jahr von immer mehr Jugendlichen genutzt
wird, aber eben nur von der Hälfte derjenigen, die dies in
Anspruch nehmen können. Wie wollen Sie die Jugendli-
chen erreichen, die sich nicht daran beteiligen wollen
oder können, weil sie zum Beispiel niemanden als Bei-
fahrer benennen können? Das sind wahrscheinlich genau
die jungen Fahrenden mit dem überproportionalen Un-
fallrisiko. Gerade sie hätten es nötig, unter Aufsicht
Fahrpraxis vermittelt zu bekommen. Wir fordern Sie auf,
Impulse und Ideen zu diesem Thema vorzulegen.

Ich möchte, dass verkehrsauffällige junge Fahrer und
Fahrerinnen dazu verpflichtet werden, an speziellen
Fahrsicherheitstrainings teilzunehmen. Dazu gehören
zum Beispiel Fahrübungen, die den Teilnehmenden zei-
gen, welche Risiken das Fahren bei herabgesetztem
Reibwert, zum Beispiel bei starkem Regen oder Schnee-
fall, mit sich bringt. Die zurzeit üblichen Fahrproben bei
Nachschulungen von Heranwachsenden mit Fahrerlaub-
nis auf Probe stellen doch eher Placebos dar und eignen
sich kaum für Erfahrungsgewinn oder eine dauerhafte
Bewusstseinsänderung.

In dem zweiten uns vorliegenden Antrag fordern Sie,
den Erwerb von Zweiradführerscheinen zu erleichtern.
Es geht dabei um die Umsetzung der Dritten EG-Führer-
schein-Richtlinie. Die in dem Gesetzentwurf vorgeschla-
genen Erleichterungen beim Erwerb von Zweiradfahr-
erlaubnissen unter bestimmten Bedingungen bewerten
wir positiv. Personen, die im motorisierten Straßenver-
kehr Erfahrungen vorweisen können, unbürokratischer
den Erwerb von weiteren Fahrerlaubnisklassen zu er-
möglichen, ist sinnvoll und birgt keine zusätzlichen Ge-
fahren im Straßenverkehr.

Diese EU-Richtlinie führt unter anderem eine neue
Fahrerlaubnisklasse AM für das Führen zweiräderiger
Kleinkrafträder ein. Das entspricht dem Mopedführer-
schein, der frühestens mit 16 Jahren erworben werden
kann. Die Richtlinie ermöglicht das Herabsetzen der Al-
tersgrenze auf 14 Jahre, verpflichtet uns aber nicht dazu.

Sie fordern die Herabsetzung auf 15 Jahre. Mit dieser
Forderung haben wir Probleme. Sie mögen mir jetzt vor-
werfen, durch meine langjährige Tätigkeit als Polizeibe-
amtin sei ich in diesem Punkt einseitig geprägt. Sie ha-
ben recht. Ich habe zu viele tödlich verunfallte junge
Zweiradfahrer gesehen und ihren Eltern die schreckliche
Nachricht überbracht. Aber meine Erfahrungen sind lei-
der nicht einseitig, sondern decken sich mit den Ein-
schätzungen von Fachleuten. Der Deutsche Verkehrs-
sicherheitsrat und die Deutsche Verkehrswacht gehen
davon aus, dass die Unfallzahlen steigen werden, wenn
das Mindestalter herabgesetzt wird. Jugendliche in die-
sem Alter haben bereits ein erhöhtes Unfallrisiko.

Der Mofaführerschein, der in vielen Bundesländern
ein fester und wichtiger Bestandteil der schulischen Ver-
kehrserziehung ist, erfüllt unserer Ansicht nach völlig
den Zweck, Jugendliche behutsam an das motorisierte
Fahren heranzuführen. Das Mofa ist ausreichend, um
auch im ländlichen Raum Mobilität für Jugendliche bis
zu einem Alter von 16 Jahren sicherzustellen. In Öster-
reich, wo die Altersgrenze bereits herabgesetzt wurde,
haben sich die Mopedunfälle bei 15-Jährigen in einem
Zeitraum von zehn Jahren vervierzehnfacht. Solche Risi-
ken sind nicht hinzunehmen. Wir sollten im Ausschuss
insbesondere über diesen Punkt noch einmal eingehend
diskutieren, auch im Sinne der Verkehrssicherheit und
der jungen Menschen.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704319700

Der Kollege Oliver Luksic hat jetzt das Wort für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Oliver Luksic (FDP):
Rede ID: ID1704319800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir beraten mit diesen beiden Anträgen heute über
wichtige Verbesserungen des Straßenverkehrsrechts. Ich
freue mich, dass es der Koalition gelungen ist, gleich
mehrere sinnvolle und richtige Punkte in die Anträge
aufzunehmen. Wir wollen und werden mit diesen Maß-
nahmen zwei Dinge erreichen: erstens mehr Sicherheit,
sowohl für die Fahrerinnen und Fahrer selbst als auch für
die anderen Verkehrsteilnehmer, und zweitens mehr Mo-
bilität, insbesondere für junge Verkehrsteilnehmer in
ländlichen Gebieten. Wir wollen mit unserer Initiative
junge Menschen mobiler machen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)






Oliver Luksic


(A) (C)



(D)(B)

Lassen Sie mich zunächst auf unseren Antrag zum be-
gleiteten Fahren mit 17 eingehen. Als Saarländer habe
ich schon immer ein wenig neidisch über die Grenze
nach Frankreich geschaut, wo das schon lange erlaubt
ist. Seit 1983 gibt es dort conduite accompagnée. Es hat
sich dort genauso bewährt, wie wir das auch für
Deutschland vorhergesagt haben. Es hat sich als sinnvoll
erwiesen, die langjährige Forderung der Liberalen nach
einer Einführung in Deutschland umzusetzen. Auf Län-
derebene ist dies bereits umfassend geschehen.

Wenn man sich die Evaluationsergebnisse der BASt,
der Bundesanstalt für Straßenwesen, zu diesem Modell-
versuch der Länder anschaut, dann muss man sagen,
dass die Fakten positiv sind. Allein die hohe Anzahl der
Teilnehmer – 380 000 seit 2004, jedes Jahr steigend –
zeigt, dass die Bereitschaft der Jugendlichen zur frühen
Ausbildung hoch ist. Wichtiger aber ist, dass es 22 Pro-
zent weniger Unfälle und 20 Prozent weniger Verkehrs-
verstöße im Vergleich zu den Jugendlichen gibt, die ih-
ren Führerschein ohne die begleitete Phase erwerben.
Ich glaube, diese Zahlen sprechen für sich. Sie machen
deutlich: Die Verkehrssicherheit wird dadurch deutlich
erhöht, dass die jugendlichen Fahrer früher und in Be-
gleitung an den Verkehr herangeführt werden.


(Beifall des Abg. Patrick Döring [FDP])


Besonders erfreulich ist – das zeigt die Evaluation –,
dass die positiven Effekte auf das Fahrvermögen der
Fahranfänger nicht nur kurzfristig sind, sondern dauer-
haft wirken.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


All diese Punkte zeigen uns, dass der Modellversuch
erfolgreich war und ist und ins Dauerrecht überführt
werden sollte. Ich kann die Kolleginnen und Kollegen
der Opposition nur auffordern, dem Antrag zuzustim-
men. Ich glaube, die Fakten sprechen für sich. Wir
machen mit diesem Antrag einen wichtigen Schritt zur
Stärkung der Fahrausbildung. Natürlich gibt es darüber
hinausgehend noch Verbesserungsmöglichkeiten. Es
stimmt natürlich, dass mehr Jugendliche daran teilneh-
men müssen. Man kann zumindest darüber nachdenken,
wie in Österreich eine zweite Stufe einzuführen, wenn
der Führerschein dadurch nicht teurer wird.

Neben dem begleiteten Fahren widmen wir uns heute
im Rahmen der Umsetzung der Dritten EG-Führer-
schein-Richtlinie auch Neuregelungen bei den Zweirad-
führerscheinen. Es ist gut und richtig, dass die Bundes-
regierung diese Richtlinie frühzeitig in deutsches Recht
umsetzt.

Die beiden Hauptziele dieser Neuregelung sind: Er-
halt und Verbesserung der Sicherheit im Straßenverkehr
sowie Entbürokratisierung und Erleichterung beim Er-
werb von Zweiradführerscheinen. Für uns ist klar:
Erfahrene Fahrer dürfen beim Aufstieg innerhalb der
einzelnen Motorradklassen nicht mit Fahranfängern
gleichgestellt werden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Beim Aufstieg in den neuen Klassen – von A1 nach
A2 und von A2 nach A – kann man wohl davon ausge-
hen, dass nach zwei Jahren nur noch eine Einweisung
und eine praktische Prüfung erforderlich sind; die theo-
retischen Kenntnisse sind dann offensichtlich vorhan-
den.

Auch für Inhaber des alten Führerscheins der Klasse 3
– diese Klasse enthält die Genehmigung für das Führen
von Krafträdern bis 125 Kubikzentimeter Hubraum, also
der neuen Klasse A1 – macht die Koalition etwas Sinn-
volles: Es wäre ungerecht, diese Verkehrsteilnehmer
beim Aufstieg in die Klasse A2 zu benachteiligen. Daher
sind eine praktische Prüfung und eine Überprüfung der
für die Klasse A2 spezifischen Kenntnisse ausreichend.

Bei der Führerscheinklasse AM, der neuen Moped-
klasse, wollen wir die Möglichkeit, die uns die EU-
Richtlinie gibt, nutzen und wie zahlreiche andere euro-
päische Länder, beispielsweise Österreich und Frank-
reich, vom Mindestalter, das in der Richtlinie vorge-
schlagen wird, abweichen. Was den Vergleich von
Zahlen angeht, muss man sagen: Wenn die Jugendlichen
vorher noch nicht fahren durften, ist es klar, dass die
Vergleichszahlen gestiegen sind, Frau Lühmann. Die
Mobilität junger Menschen, gerade in Flächenländern,
wird – das ist einer der Hauptaspekte – deutlich gestärkt.
Das wollen wir als Koalition.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Auch unter dem Aspekt der Verkehrssicherheit ist die
Absenkung des Mindestalters um ein Jahr nicht so pro-
blematisch, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag.


(Daniela Raab [CDU/CSU]: Genau!)


Der Erwerb des neuen Mopedführerscheins setzt näm-
lich eine solide Ausbildung voraus. Ein gut ausgebilde-
ter 15-Jähriger auf einem Zweirad der Klasse AM stellt
im Vergleich zu einem 15-Jährigen auf einem Mofa
– diese dürfen sich derzeit mit weniger Ausbildung auf
der Straße bewegen – keine Bedrohung der Verkehrs-
sicherheit dar. Im Gegenteil: Verantwortungsvolles Ver-
halten im Straßenverkehr kann durch die Absenkung des
Mindestalters auf 15 Jahre bereits ein Jahr früher erlernt
und gefestigt werden. Das ist gut für die Verkehrssicher-
heit. Wer sich anschaut, welche Faktoren bei Unfällen
15- bis 18-Jähriger mit Zweirädern eine Rolle spielen
– unangemessene Geschwindigkeit, Fehler bei der Vor-
fahrt und beim Wenden und Abbiegen –, sieht, dass das
alles Punkte sind, an denen durch eine bessere Ausbil-
dung gearbeitet werden kann.

Wenn unsere Argumente Sie nicht überzeugen, will
ich darauf hinweisen, dass der Verkehrsminister von
Mecklenburg-Vorpommern, SPD, das, was wir vorschla-
gen – Mopedführerschein AM mit 15 –, ebenfalls befür-
wortet. So falsch kann das, was wir vorschlagen, also
nicht sein.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Lassen Sie mich abschließend sagen, dass wir mit
dem begleiteten Fahren mit 17 und mit den Erleichterun-
gen beim Erwerb von Zweiradführerscheinen die Sicher-
heit auf der Straße stärken und die Mobilität insbe-
sondere junger Menschen verbessern. Das sind die





Oliver Luksic


(A) (C)



(D)(B)

Leitlinien unserer Arbeit zur Verbesserung der Sicher-
heit im Straßenverkehr, jetzt und in der Zukunft.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704319900

Thomas Lutze hat das Wort für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Thomas Lutze (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704320000

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-

legen! Ich bin sehr dankbar, dass wir heute trotz der Ban-
ken- und Euro-Krise einmal über vermeintlich irdische
Themen reden können.

Es geht im Grundsatz darum, inwieweit Jugendliche
unter 18 Jahren die volle Verantwortung für ihr Handeln
im Straßenverkehr übernehmen können. Uns Erwachse-
nen erscheint diese Frage auf den ersten Blick vielleicht
nebensächlich. Junge Menschen sind jedoch in großer
Erwartung, ein Fahrzeug selbst steuern zu können. Viele
zählen die Wochen und Tage, bis sie endlich – von links
im Übrigen – einsteigen können. Mir ging es vor rund
zwanzig Jahren nicht anders.


(Sören Bartol [SPD]: Sie sind immer rechts eingestiegen! – Heiterkeit)


Zu den Anträgen. Sie beantragen unter anderem, dass
das Fahren mit 17 in Begleitung eines Erwachsenen bun-
desweit umgesetzt wird. Als Linke stimmen wir dem
ohne Vorbehalt zu. Alle Pilotprojekte – auch die in dem
Bundesland, aus dem der Kollege von der FDP und ich
kommen – haben gezeigt, dass die öffentlich geäußerten
Vorbehalte der Vergangenheit offensichtlich gegen-
standslos sind. Selbst die Versicherungskonzerne – die ja
bei der Versicherung junger Fahrzeugführerinnen und
Fahrzeugführer besonders sensibel, genauer gesagt:
teuer, sind – geben mittlerweile Beitragsnachlässe, wenn
ein Jugendlicher an diesem Programm teilgenommen
hat.

Im Antrag mit dem Titel „Erwerb von Zweiradführer-
scheinen erleichtern“ sind auch die Punkte 1 und 3 un-
strittig. Wer mehrere Jahre Fahrpraxis hat, sollte einen
erleichterten Zugang zu einer höherliegenden Führer-
scheinklasse erhalten. Die Anforderungen an die theore-
tischen Kenntnisse sind beim Erwerb eines Führer-
scheins für einen Motorroller oder ein Motorrad nicht
viel anders. Die Praxis ist, das ist richtig dargestellt, sehr
verschieden.

Bei der Herabsetzung der Altersgrenze für die Nut-
zung von Zweirädern sind wir nicht so optimistisch wie
die Antragstellerinnen und Antragsteller. Mehrere ein-
flussreiche Organisationen sagen, dass das Unfallrisiko
bzw. die Unfallgefahr und damit die Gefahr von schwe-
ren Verletzungen in der genannten Altersgruppe beson-
ders hoch sind. Allen ist bekannt, dass selbst ein kleiner
Unfall mit einem Zweirad ganz andere körperliche Fol-
gen haben kann als ein vergleichbarer Unfall mit einem
Pkw. Zweiräder haben bekanntlich keine Knautschzone,
dafür ist aber – das betrifft jetzt genau junge Leute – der
Spaßfaktor deutlich höher als bei einem Pkw.

Ein wichtiger Faktor ist hier die sogenannte Risikobe-
reitschaft. Ob ein 14- oder 15-Jähriger das Risiko immer
richtig einschätzen kann, bezweifelt nicht nur die Linke.
Wir plädieren dafür, dies im Ausschuss noch einmal un-
aufgeregt zu debattieren.

Dennoch, liebe Kolleginnen und Kollegen vor allen
Dingen von der Union, wenn Sie hier und heute Ihre An-
träge auf Herabsetzung der Altersgrenzen ernst meinen,
wovon ich einmal ausgehe, dann geben Sie doch viel-
leicht auch an anderer Stelle, zum Beispiel bei der He-
rabsetzung des Wahlalters, Ihren Widerstand auf.


(Beifall bei der LINKEN)


Wer es als 16- oder 15-Jähriger schafft, eine nicht ganz
einfache Fahrprüfung zu bestehen, der kann auch die
Politik von CDU und Linken verantwortungsbewusst
unterscheiden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704320100

Nächster Redner ist der Kollege Winfried Hermann

für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704320200

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und

Herren! Ich hätte meine Rede jetzt fast damit eröffnen
können, dass wir selten so undogmatisch diskutiert ha-
ben wie heute und dass es einen fraktionsübergreifenden
Konsens und keine Ideologie mehr gibt. Durch den
Schlusssatz des Kollegen Lutze wird dann aber doch ge-
zeigt, dass es immer noch einen Drive gibt, irgendetwas
Politisches für eine bestimmte Richtung herauszuholen.

Ich glaube, über die heute zu behandelnden Themen
kann man wirklich sachlich diskutieren, und das haben
auch alle Rednerinnen und Redner getan.

Ich denke, dass es eine große Übereinkunft darüber
gibt, dass sich dieser fünfjährige Modellversuch „Be-
gleitetes Fahren ab 17“ gelohnt hat. Ich fand es auch
richtig, dass wir ihn unternommen haben und dass man
das in allen Bundesländern ausprobiert hat. Die Ergeb-
nisse sind sehr positiv. Die Unfallzahlen – das haben alle
in ihren Reden belegt – sind deutlich zurückgegangen.
Das ist für mich und für uns die Hauptbegründung, um
zu sagen: Das ist ein gutes Modell; lasst uns das jetzt in
einem Gesetz umsetzen. – Ich glaube, dafür gibt es auch
eine breite Unterstützung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das ist übrigens auch ein schönes Beispiel dafür, dass
man jungen Menschen tatsächlich mehr Verantwortung
übertragen und mehr Mobilität ermöglichen kann und
trotzdem nichts an Sicherheit verliert, sondern im Ge-
genteil: Diese Methode ist sicherer als die Methode, dass





Winfried Hermann


(A) (C)



(D)(B)

man mit 18 Jahren den Führerschein machen und dann
einfach unbegleitet losfahren kann.

An dieser Stelle will ich kritisch anmerken: Wir soll-
ten uns auch Gedanken darüber machen, wie wir die
drastisch hohen Unfallzahlen – sie sind überdurchschnitt-
lich hoch – bei den 18- bis 25-jährigen Fahranfängern re-
duzieren können. Besonders auffällig ist, dass es über-
wiegend junge Männer sind und dass überwiegend zu
schnell gefahren wird. Verantwortlich dafür ist also die
Kraftmeierei, in jungen Jahren zu glauben, man könne
beim Fahren fliegen. Das geht dann meistens schief, weil
man dann zwar tatsächlich fliegt, aber gegen den Baum.
Ich glaube, diese Herausforderung müssen wir anneh-
men.

In dem zweiten Antrag, den wir behandeln, geht es
um die Erleichterung beim Erwerb eines Führerscheins
für Zweiräder. Ich glaube, auch das ist bürokratisch sehr
viel einfacher und zu rechtfertigen; das ist eine gute Re-
gelung. Auch diese werden wir unterstützen.

Beim vierten Punkt in diesem Antrag geht es um die
Erleichterung beim Erwerb eines Mopedführerscheins
durch das Herabsetzen des Alters auf 15 Jahre. Das ist
aus unserer Sicht problematisch.

Hier möchte ich gerne auch noch einmal an Sie alle
appellieren. Sie haben hinsichtlich des begleiteten Fah-
rens darauf hingewiesen, dass es einen Sicherheitsge-
winn gebracht hat, und Sie haben Statistiken bemüht,
also haben Sie sie sich auch angeguckt. Bei einem Blick
in die Statistiken ist es unübersehbar, dass die 10- bis
15-Jährigen und die 15- bis 25-Jährigen Hochrisikogrup-
pen im Verkehrswesen sind. Selbst diejenigen, die noch
kein Moped oder Mofa haben, verunfallen relativ häufig
im Straßenverkehr durch zu schnelles Fahren mit dem
Rad. Es ist ein Problem, dass sich diese jungen Men-
schen ihrer Verantwortung noch nicht bewusst sind


(Patrick Döring [FDP]: Dass sie nicht ausgebildet sind!)


und sich schwertun, die Geschwindigkeit und die Folgen
im Straßenverkehr einzuschätzen. Damit tun sie sich ex-
trem schwer.

Deswegen glauben wir, dass es nicht zu verantworten
ist, in diesem Wissen das Mindestalter zu senken, zumal
die Europäische Union ein Mindestalter von 16 Jahren
als Regelfall ansieht; Ausnahmen sind möglich.

Ich darf Sie, liebe Koalitionäre, daran erinnern, dass
Sie sonst immer das EU-Recht eins zu eins umsetzen
wollen. Jetzt, wo Sie die Möglichkeit dazu hätten, wol-
len Sie es lockern. Ich glaube, dass das eher als Zuschlag
an die Branche zu verstehen ist. Sie haben die verschie-
denen Forderungen in Ihrem Antrag begründet. Erstaun-
licherweise haben Sie aber genau diesen Punkt nicht be-
gründet. Sie hätten ihn auch nicht begründen können.
Denn der einzige Grund dafür ist, dass sich die Lobby
der zweiradproduzierenden Industrie mehr Kundschaft
wünscht.


(Patrick Döring [FDP]: Mehr Verkehrssicherheit! – Gegenruf der Abg. Kirsten Lühmann [SPD]: Die gibt es dadurch nicht!)

Ich finde, das ist das schwächste Argument.

Sicherheit geht vor. Lassen Sie uns darüber noch ein-
mal im Ausschuss verhandeln. In den anderen Punkten
können wir uns selbstverständlich einigen, und vielleicht
ist das auch in diesem Punkt möglich.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704320300

Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege

Thomas Jarzombek für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Thomas Jarzombek (CDU):
Rede ID: ID1704320400

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin

sehr erfreut, zusammenfassend festzustellen, dass fast
alle unsere Vorschläge in diesem Hause einen breiten
Konsens finden. Der einzige Punkt, in dem es offensicht-
lich unterschiedliche Einschätzungen gibt, ist das Min-
destalter für den Erwerb der Fahrerlaubnis der
Klasse AM, das wir von 16 auf 15 Jahre senken wollen.

Das hier skizzierte Problem ergibt sich nicht unbe-
dingt erst durch motorisierten Verkehr. Mein Fundstück
für heute ist ein Zitat, das von dem Schriftsteller Mark
Twain überliefert ist, der in seiner Jugend unter anderem
auf einem großen Mississippi-Dampfer als Schiffsjunge
gearbeitet und dort ausgiebig das Fluchen gelernt hat.
Jahre später, als Mark Twain bereits verheiratet war, ka-
men Fahrräder auf. Der Dichter befasste sich sofort mit
diesen neuartigen Vehikeln, kehrte aber von seiner ersten
Ausfahrt reichlich mitgenommen zurück. Seiner Frau er-
klärte er sofort, er wisse jetzt erst richtig, was Fluchen
heiße. „Aber du hast mir doch versprochen, nicht mehr
zu fluchen“, warf ihm seine Frau vor. „Ich habe ja auch
gar nicht geflucht“, erwiderte Mark Twain, „das taten die
Leute, die ich über den Haufen gefahren habe“.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)


Insofern braucht es – das hat der Ausschussvorsitzende
gut skizziert – dafür zuweilen gar keine Motorisierung.

Wir wollen dennoch gerade in den ländlichen Räu-
men mehr Mobilität für Jugendliche, auch für 15-Jäh-
rige. Es gibt einige gute Argumente, die dafürsprechen.
Mit dem Mofaführerschein ab 15 sind wir in Deutsch-
land relativ konservativ. Andere Länder nutzen die EU-
Richtlinien anders aus. Italien und Spanien zum Bei-
spiel, die schon eher als heißblütig angesehen werden
können, erlauben das Mopedfahren bereits ab 14 Jahren.

Die BASt hat festgestellt, dass gerade im Bereich der
Mopeds auch unsere Maßnahmen für mehr Verkehrssi-
cherheit getragen haben. Die Zahl der Verkehrstoten in
diesem Bereich ist um 10 Prozent zurückgegangen.

Die Zahlen, die wir aus Österreich hören, finde ich,
ehrlich gesagt, wenig nachvollziehbar. Wie kann sich die
Zahl der Verkehrsunfälle vervierzehnfachen, wenn das
Fahren ab 15 vorher gar nicht erlaubt war und man des-
halb eigentlich von null ausgehen muss? Das ist mit mei-





Thomas Jarzombek


(A) (C)



(D)(B)

nem mathematischen Verständnis nur bedingt kompati-
bel.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ein weiterer Punkt ist die Frage nach dem heutigen
Status quo bei den 15-Jährigen; denn sie dürfen schon
motorisiert fahren, nämlich mit einem 25 km/h schnellen
Mofa. Winfried Hermann fährt neuerdings auch ein
25 km/h schnelles Pedelec ohne irgendwelche Auflagen,
ohne Einweisung und Prüfung.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Ist das nicht allgemeingefährlich?)


Ich habe gehört, dass bei manchen Jugendlichen der
Wunsch aufkommt, diese Geräte, wie es neudeutsch
heißt, zu pimpen, also die Geschwindigkeit zu erhöhen.
Dem setzen wir an dieser Stelle eine deutlich bessere
Ausbildung entgegen: einen richtigen Führerschein mit
allem Drum und Dran.

Dies bringt mich zu dem nächsten Punkt: Als hier vor
einigen Jahren über die Frage diskutiert wurde, wie es
mit der Sicherheit des begleiteten Autofahrens ab 17 sei,
gab es von der BASt ebenfalls große Bedenken, was die
Verkehrssicherheit anbetrifft. Sie sehen, dass diese Be-
fürchtungen sich überhaupt nicht erfüllt haben. Im Ge-
genteil, wir alle haben heute festgestellt, dass dies eine
große Erfolgsgeschichte für uns ist. Am Ende ist sich
auch die Landschaft in den Verbänden nicht einig. Ge-
nauso viele, wie dagegen sind, sind auch dafür. Nicht zu-
letzt haben wir gestern noch mit dem ADAC gespro-
chen, der uns gesagt hat: Wir erkennen zumindest keinen
Fortschritt in der Sicherheit, weshalb wir nicht dafür
sind; aber ob es unbedingt schlechter wird, wissen wir
halt auch nicht.

Mein letzter Punkt: Ganz unabhängig von diesem
Thema können wir gemeinsam noch eine ganze Menge
machen, was die Fahrsicherheit gerade im Bereich der
Mopeds und der Jugendlichen betrifft. Ein Thema
könnte zum Beispiel sein, hier mehr ABS zu etablieren
und, was eben auch die Kollegin von den Sozialdemo-
kraten angesprochen hat, noch mehr Motivation für
Fahrsicherheitstrainings zu finden, was für die jungen
Leute sicherlich eine wirklich hilfreiche Sache ist, die
wir fördern müssen.

Deshalb danke ich Ihnen, dass Sie an so vielen Stellen
zustimmen. Ich hoffe, dass Sie sich eine Zustimmung
zur Klasse AM noch überlegen; denn Sie wollen mit Si-
cherheit nicht, dass man hinterher sagt, dass unsere Ju-
gendlichen flotter unterwegs sind als die Opposition.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704320500

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/1573 und 17/1574 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Christoph Strässer, Angelika Graf (Rosenheim),
Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD

Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpakt über ein
Individualbeschwerdeverfahren ratifizieren

– Drucksache 17/1049 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe,
damit sind Sie einverstanden. Dann können wir so ver-
fahren.

Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Ullrich Meßmer für die SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Ullrich Meßmer (SPD):
Rede ID: ID1704320600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Albert

Einstein hat einmal gesagt:

Ein Großteil der Geschichte ist erfüllt vom Kampf
um die Menschenrechte, einem ewigen Streit, bei
dem niemals ein endgültiger Sieg zu erringen ist.
Aber in diesem Kampf zu ermüden, würde den Un-
tergang der Gesellschaft bedeuten.

Diese Aufforderung gilt bis heute, und sie wird auch in
Zukunft gelten. Besonders in Zeiten der Globalisierung
sind arbeitende Menschen auf international gültige Re-
geln angewiesen, und sie brauchen verbindliche, ja, ga-
rantierte Rechte, die sie auch nach Ausschöpfung des na-
tionalen Beschwerdewegs erstreiten können, nicht nur in
anderen Ländern, sondern sicherlich auch bei uns in
Deutschland.


(Beifall bei der SPD)


WSK-Rechte, die im UN-Sozialpakt festgeschrieben
sind, schützen weltweit Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen, sozialen und
kulturellen Rechte. Ich sage: Das ist gut so in einer Welt,
die, wie wir zurzeit erleben, von einem starken Finanz-
kapitalismus getrieben ist. Dort müssen sich die Men-
schen auch wiederfinden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat
nun, exakt 60 Jahre nach der Allgemeinen Erklärung der
Menschenrechte, das Zusatzprotokoll zum UN-Sozial-
pakt über ein Individualbeschwerdeverfahren angenom-
men. Ein prominenter Termin, meine Damen und Her-
ren, für ein nicht weniger prominentes Anliegen; denn
erst durch das Zusatzprotokoll wird der UN-Sozialpakt,





Ullrich Meßmer


(A) (C)



(D)(B)

werden die sogenannten WSK-Rechte den bürgerlichen
und politischen Rechten gleichgesetzt.

Erst wenn der Zugang zu entsprechenden individuel-
len Beschwerdemechanismen sichergestellt ist, erfüllt
sich der allgemein anerkannte Grundsatz der Unteilbar-
keit und der Interdependenz aller Menschenrechte.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das Zusatzprotokoll tritt dann in Kraft, wenn es zehn
Staaten ratifiziert haben. 31 haben es bislang unterzeich-
net, darunter zehn aus Europa. Bedauerlicherweise zählt
Deutschland nicht dazu. Dabei hat Deutschland das Zu-
standekommen des UN-Sozialpakts konstruktiv begleitet
und auch bei den internationalen Verhandlungen über
das Fakultativprotokoll aktiv und konkret mitgearbeitet.
Umso erstaunlicher ist das jetzige Zögern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die aktive Rolle Deutschlands zeigt sich nicht zuletzt da-
rin, dass es bisher alle Kernabkommen des UN-Men-
schenrechtsschutzes anerkannt hat, alle Fakultativproto-
kolle zum UN-Sozialpakt – mit Ausnahme des erwähnten
Zusatzprotokolls – unterzeichnet hat und sich weltweit
im Bereich der WSK-Rechte engagiert.

Auch im Vorfeld der bereits unterzeichneten Abkom-
men und Zusatzprotokolle gab es viele Diskussionen und
– genauso wie in anderen Ländern – immer wieder Be-
denken. Vor allen Dingen wird vor einer drohenden Be-
schwerdeflut gewarnt. Wenn wir uns ansehen, wie es in
der Vergangenheit war, können wir überprüfen, ob es tat-
sächlich eine Beschwerdeflut gegeben hat. Ich meine,
dass bei ganzen 22 Individualbeschwerdeverfahren ge-
gen die Bundesrepublik Deutschland in den letzten Jah-
ren von einer Beschwerdeflut oder einer überbordenden
Zahl an Beschwerden weiß Gott keine Rede sein kann.
Wenn man die Analyse fortsetzt, stellt man fest, dass da-
von 17 Verfahren abgewiesen, zwei Verfahren abgebro-
chen wurden und es sich bei einem Verfahren um eine
nicht festgestellte Rechtsverletzung handelt. Am Ende
bleibt eine einzige tatsächlich bewiesene Rechtsverlet-
zung aufgrund einer Individualbeschwerde übrig. Wer
angesichts dessen behauptet, es gebe eine Beschwerde-
flut oder es werde mit dem Ausland Politik gegen das In-
land gemacht, irrt sich. Die Zahlen geben das insgesamt
nicht her.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Man kann das aber auch beispielhaft an dem UN-Über-
einkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskrimi-
nierung der Frau sehen. Hier hat Deutschland das Zu-
satzprotokoll über ein Individualbeschwerdeverfahren
ratifiziert. Aber viel entscheidender ist: Bereits hier sind
die WSK-Rechte in Form von sozialen Rechten enthal-
ten. Zur befürchteten Beschwerdeflut darf man feststel-
len: Es gab eine einzige Beschwerde, und diese wurde
dann als unzulässig abgewiesen. Vor dem Hintergrund
dieser Erfahrung kann von einer Beschwerdeflut weiß
Gott keine Rede sein.
Die Gegner einer Ratifizierung führen immer wieder
an, die WSK-Rechte seien teilweise so unbestimmt for-
muliert, dass internationale Kontrollinstanzen daraus fal-
sche Schlussfolgerungen bei einem Abgleich zum Bei-
spiel mit dem deutschen Arbeits- und Sozialrecht ziehen
könnten. Zudem wird befürchtet, dass Organisationen
diese Beschwerdeverfahren oft nutzen, um eigene Ziele
zu verfolgen und zu befördern, die nicht im Einklang mit
dem Beschwerdeverfahren und den WSK-Rechten ste-
hen. Ich will gar nicht bestreiten, dass wir uns mit eini-
gen Konfliktfeldern zu befassen haben. So wird zum
Beispiel in der Diskussion das WSK-Recht auf freie ge-
werkschaftliche Betätigung als eine Gefahr für das
Streikverbot für Beamte in Deutschland gesehen. Nicht
alle, aber viele sehen dieses Streikverbot als Anachronis-
mus. Auch ich persönlich finde, dass es sich hier um ei-
nen Anachronismus in Europa und damit eher um ein in-
nenpolitisches Thema handelt.


(Beifall bei der SPD)


Oder es wird angeführt, dass das WSK-Recht auf un-
gehinderten Zugang zu Bildung im Widerspruch zur
Einführung von Studiengebühren in einigen Bundeslän-
dern stehen könnte. Ich will an dieser Stelle sehr deutlich
sagen: Ich sehe das genauso wie eine Reihe von Bundes-
ländern, die dafür zuständig sind. Hessen und das Saar-
land haben die Studiengebühren abgeschafft, sodass ein
solches Verfahren erst gar nicht nötig werden wird.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Angesichts der Tatsache, dass dieses individuelle Be-
schwerdeverfahren erst möglich wird, wenn der gesamte
Rechtsweg in Deutschland ausgeschöpft ist, was bei uns
auch den Gang zum Bundesverfassungsgericht, in das
wir alle ein sehr hohes Vertrauen haben – das gilt auch
für die Anerkennung weltweiter Rechte –, einschließt,
kann man sagen, dass die Unterzeichnung dieses Ab-
kommens nicht dazu führen würde, dass wir insgesamt
mehr Beschwerdeverfahren bekämen und dass sich die
Bundesrepublik Deutschland blamieren könnte. Ich weiß
allerdings auch, dass wir die innenpolitische Diskussion
darüber führen müssen.

Warum riskieren wir eigentlich in dieser Frage den
internationalen Ruf Deutschlands, gerade wenn es über-
wiegend um die Rechte der Leistungsträger der Gesell-
schaft geht, nämlich um die Rechte der Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer in der Gesellschaft?


(Beifall bei der SPD)


Haben nicht die Erfahrungen mit den bereits bestehen-
den Individualbeschwerdemechanismen deutlich ge-
zeigt, dass Deutschland wegen seines Rechtssystems
und seines im internationalen Vergleich durchaus guten
Sozialsystems keine Sorge vor einer Klageflut haben
muss? Aus meiner Sicht ergeben sich aus der Ratifizie-
rung des Zusatzprotokolls keinerlei neue Verpflichtun-
gen über jene hinaus, zu denen sich Deutschland als Ver-
tragsstaat des UN-Sozialpakts ohnehin verpflichtet hat.
Deshalb würde ich gerne denen, die zweifeln und zö-
gern, mit Erlaubnis der Frau Präsidentin ein Zitat vortra-
gen.






(A) (C)



(D)(B)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704320700

Herr Kollege, bitte das Zitat als Schlusswort, weil Sie

die Redezeit schon überschritten haben.


Ullrich Meßmer (SPD):
Rede ID: ID1704320800

Ich möchte einen Konservativen zitieren, der alles

Notwendige zu dem gesagt hat, wohin auch wir mit un-
serem Antrag kommen müssen:

Es ist besser, unvollkommene Entscheidungen
durchzuführen, als beständig nach vollkommenen
Entscheidungen zu suchen, die es niemals geben
wird.

Diesen Rat hat uns niemand anderer als Charles de
Gaulle gegeben. Diesem Rat folgen wir mit unserem An-
trag.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704320900

Das Wort hat nun der Kollege Jürgen Klimke für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Jürgen Klimke (CDU):
Rede ID: ID1704321000

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir sprechen
heute über ein Thema, das jeden Zuschauer und jede Zu-
schauerin, jeden Zuhörer und jede Zuhörerin interessiert.
Es ist ein wichtiges Thema. Nur, ich bin nicht ganz si-
cher, ob auch nach den Ausführungen von Herrn
Meßmer zum Beispiel unsere Gäste auf der Zuschauer-
tribüne wirklich verstehen, worum es überhaupt geht.
Vielleicht darf ich versuchen, den Sachverhalt aus mei-
ner Sicht kurz darzustellen.

Wir behandeln die Frage, inwieweit es künftig jedem
Deutschen möglich ist, vor internationalen Gerichten
persönlich zu klagen, sein eigenes Recht dann internatio-
nal einzufordern, wenn insbesondere soziale und kultu-
relle Rechte vom deutschen Staat nicht anerkannt oder
eingeschränkt werden und vor deutschen Gerichten nicht
durchsetzbar sind. Diese neue Klageoption wird dann
möglich sein, wenn alle deutschen und europäischen Ge-
richte das eigene Anliegen abgelehnt haben. Jeder hat
dann eine weitere Option, die eigenen Rechte durchzu-
setzen. Damit diese Erweiterung gelingen kann, muss
Deutschland ein sogenanntes Fakultativprotokoll zu dem
internationalen UN-Sozialpakt unterzeichnen. Darum
geht es. Die SPD fordert eine rasche Unterzeichnung.
Ich möchte Ihnen erklären, warum diese Zeichnung,
wenn sie übereilt erfolgt, kontraproduktiv ist. Mit Zu-
stimmung der Präsidentin darf ich dazu aus einem Brief
zitieren. Dieser Brief wurde am 3. September 2009 von
den ehemaligen SPD-Bundesministern für Arbeit und
Soziales sowie für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung, Olaf Scholz und Heidemarie Wieczorek-
Zeul, geschrieben. Der Brief der Minister ist eine Ant-
wort auf ein Schreiben der Generalsekretärin von Amne-
sty International Deutschland, Dr. Monika Lüke. Darin
wird Folgendes festgestellt: „Wir bitten Sie daher um
Verständnis, dass die Bundesregierung ihre Prüfung
noch nicht in einem Zeitraum abschließen kann, der ihr
eine Zeichnung des Fakultativprotokolls noch im Sep-
tember erlauben würde. Das schließt aber eine Zeich-
nung zu einem späteren Zeitpunkt nicht aus.“ –


(Christoph Strässer [SPD]: Jetzt haben wir Mai!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, insbe-
sondere lieber Herr Strässer, dieser Zeitpunkt ist noch nicht
gekommen. Die Dauer der Prüfung ist nicht absehbar, da
sich die Ressortabstimmung zwischen den einzelnen betei-
ligten Ressorts komplexer gestaltet, als angenommen
wurde. Ich erachte es als absolut nachvollziehbar, dass
sich die Bundesregierung die nötige Zeit nimmt, damit
alle juristischen Bedenken ausgeräumt werden können.
Alle beteiligten Vertreter der Bundesregierung – das ist
auch schon gesagt worden – streben einen zügigen Ab-
schluss der Beratungen an.

Die deutsche Regierung handelt bedacht und mit an-
gemessenem Sachverstand. Daher sollten wir eher die
Frage stellen, warum Sie auf einmal eine sofortige Prü-
fung fordern. Der Sinn dieser Antragstellung erschließt
sich mir nicht. Warum also plötzlich dieser Antrag?

Die SPD sollte in den elf Jahren ihrer Regierungsver-
antwortung gelernt haben, dass Prüfungen unserer
Ministerien sorgfältig und lückenlos sein müssen. Haben
Sie von der SPD in den sechs Monaten Opposition ver-
gessen, wie nachhaltig ministeriale Arbeit funktioniert?


(Christoph Strässer [SPD]: Wir haben gut vorgearbeitet!)


Haben Sie vergessen, wie Ihre Position, die Position Ih-
rer Minister, die ich gerade zitiert habe, noch vor sechs
Monaten war? Natürlich haben Sie es vergessen; sonst
würden Sie heute nicht diese Forderung nach einer ra-
schen Ratifizierung stellen.

Wieder einmal zeigt sich, dass die SPD, gerade was
Gesetze betrifft, versucht, alles sehr schnell und unge-
prüft durchzudrücken. Die Arbeitsweise, mit der heißen
Nadel zu stricken, ist mittlerweile ziemlich legendär.
Wir haben erfahren müssen, dass das Verfassungsgericht
in Karlsruhe Gesetze kassiert hat, die von der rot-grünen
Koalition gekommen sind, weil sie rechtlich nicht halt-
bar waren.


(Christoph Strässer [SPD]: Es gibt ein internationales Abkommen!)


Diese Nachlässigkeit – gelinde gesagt – machen wir
nicht mit. Dazu bringen Sie uns nicht. Das Thema, über
das wir heute diskutieren, ist zu wichtig, als dass wir
atemlos der Forderung nach einer raschen Ratifizierung
hinterherlaufen sollten.


(Tom Koenigs [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagen wir Ihnen morgen auch!)


Der gleichen Ansicht war die letzte Bundesregierung
und ist auch die jetzige Bundesregierung. Aus diesem





Jürgen Klimke


(A) (C)



(D)(B)

Grund werden wir Ihrem Antrag nicht folgen, sondern
ihn ablehnen.

Die Ablehnung des Antrags heißt aber nicht, dass wir
den Schutz der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen
Rechte, der sogenannten WSK-Rechte, und ihre juristi-
sche Durchsetzbarkeit verneinen; ganz im Gegenteil:
Die Koalition ist für starke Rechte der Bürger in der UN-
Weltgemeinschaft. Es ist richtig, dass die UN die WSK-
Rechte nicht mehr als Stiefkinder des internationalen
Menschenrechtsschutzes behandeln. Der UN-Sozialpakt
hat die WSK-Rechte zu Recht gestärkt, waren sie doch
dem Vorurteil ausgesetzt, im Gegensatz zu den bürgerli-
chen und den politischen Rechten keine richtigen, keine
einklagbaren Menschenrechte zu sein. Die Bundesregie-
rung vertritt ohne Zweifel mit Nachdruck die WSK-
Rechte, indem sie die Einklagbarkeit dieser Rechte und
damit auch den Inhalt des heute diskutierten Fakultativ-
protokolls als grundsätzlich richtig erachtet.

Im Übrigen war es die letzte Bundesregierung unter
Beteiligung der CDU/CSU, die die Verhandlungen in
New York kraftvoll, aktiv – das wurde ja schon gesagt –
und konstruktiv vorangetrieben hat. Gerade aus diesem
Grunde können Sie uns mit Ihrem Antrag heute nicht in-
direkt unterstellen, dass wir die Ratifizierung des Fakul-
tativprotokolls verhindern oder verzögern wollen. Wir
sind genau der gegenteiligen Auffassung. Die Koalition
will die WSK-Rechte zukünftig stärker in der Konzep-
tion der Entwicklungs- und Menschenrechtspolitik
verankern. Der Prozess, der mit dem Meilenstein der
Wiener Menschenrechtskonvention von 1993 begann, ist
noch nicht beendet. Auch an dieser Stelle müssen die
WSK-Rechte immer wieder betont und angemahnt wer-
den.

Ich möchte daran erinnern, dass die Diskussion um
die WSK-Rechte in den vergangenen Jahren gleich
durch mehrere Entwicklungen an neuem Schwung ge-
wonnen hat. Nicht zu vernachlässigen ist in diesem
Zusammenhang der Mechanismus, den alle Menschen-
rechtskonventionen auf UN-Ebene zu eigen haben. Die-
ser Mechanismus besagt, dass die Einhaltung der von
den Staaten in dem betreffenden Vertrag übernommenen
völkerrechtlichen Verpflichtungen immer wieder über-
prüft werden muss. Wie andere UN-Menschenrechts-
pakte auch, verpflichtet der Sozialpakt die Staaten,
regelmäßig über Maßnahmen zu berichten, die sie zur
Verwirklichung dieser Rechte ergriffen haben. Zu diesen
Maßnahmen gehört, dass der Staat einen Aktionsplan er-
stellt, der Angaben darüber enthält, wie er die volle Ver-
wirklichung der WSK-Rechte erreichen will. Diese Be-
richte werden dem UN-Ausschuss für wirtschaftliche,
soziale und kulturelle Rechte, dem Sozialausschuss, vor-
gelegt. Gerade dieser Sozialausschuss hat Deutschland
in der Wahrung der WSK-Rechte immer gute Noten ge-
geben.

Die bisherigen Möglichkeiten der Klage vor den ver-
schiedenen deutschen und europäischen Gerichten er-
scheinen mir daher durchaus ausreichend. Sollten zu-
sätzliche Möglichkeiten der Klage vor internationalen
Gerichten eine weitere Verbesserung bringen, werden
wir von der CDU/CSU-Fraktion uns nicht dagegen sper-
ren. Die genaue Prüfung dieser Option ist aber unab-
dingbar. Aus diesem Grunde muss die Bundesregierung
genau untersuchen, wie eine weitere Einklagemöglich-
keit den Gesamtinteressen des deutschen Staates wirk-
lich dient.

Selbst der von der SPD ins Feld geführte Experte Pro-
fessor Dr. Riedel, der mehrfach bei Expertensitzungen
der beratenden Ministerien einbezogen wurde, merkt an,
dass die Zahl der zu erwartenden Justizfälle – auch Sie
haben es gesagt, Herr Meßmer – auf der Grundlage des
Fakultativprotokolls verschwindend gering sein wird.
Folglich treibt uns bei dem derzeitigen Prüfverfahren der
Bundesregierung nicht eine möglicherweise eintretende
oder vorhandene mögliche Annahme einer massenhaften
sozialen Ungerechtigkeit gegenüber den deutschen Bür-
gern.

Zudem möchte ich auch dem Argument von Herrn
Meßmer widersprechen, dass die Ratifizierung keine
neuen Verpflichtungen für den deutschen Staat ergebe.
Woher nehmen Sie eigentlich die Gewissheit, wenn Ih-
nen alle Experten eine weitreichende Prüfung vorschla-
gen?

In diesem Zusammenhang möchte ich besonders die
Frage der Überlappung von UN-Menschenrechtsmecha-
nismen aufwerfen. Es ist die Verpflichtung der Bundes-
regierung, hier mögliche Gesetzesfallen zu ermitteln und
in die Gesamtbewertung einzuarbeiten. Schon deswegen
wäre eine rasche Ratifizierung kontraproduktiv.

Selbst wenn man auf dem Standpunkt steht, dass die
WSK-Beschwerdeverfahren nicht von einer generellen
Reform des UN-Rechtssystems abhängig gemacht wer-
den sollten, ist die derzeit laufende Prüfung nicht zu ver-
nachlässigen.

Des Weiteren ist von der Bundesregierung zu prüfen,
ob die Justiziabilität dieser Rechte insgesamt mit dem
Argument infrage gestellt werden kann, dass es sich bei
den im Sozialpakt verankerten Rechten eben nicht um
von einzelnen Personen einklagbare Rechte, sondern nur
um allgemeine Zielformulierungen von nur geringer Be-
stimmtheit mit dem Ziel einer sukzessiven Umsetzung in
den einzelnen Staaten handelt.

Mit einer ungeprüften Ratifizierung läuft man zusätz-
lich Gefahr, dass die Gerichtsentscheidungen des Sozial-
paktes in Deutschland als nicht rechtsbindend anerkannt
werden könnten. Charakter und Vollzug der Strafen im
Rahmen der nationalen Strafrechte müssen beachtet wer-
den. Sie können doch nicht ernsthaft nur Empfehlungen
in Bezug auf einen Einzelfall als Ergebnis der Verfahren
wollen.

Schließlich sind Bedenken berechtigt, dass ein Indivi-
dualbeschwerdeverfahren weitaus mehr Arbeitsaufwand
für das jeweilige Kontrollorgan bedeutet und folglich
zeitnahe Entscheidungen kaum möglich sind. Auch Be-
fürchtungen hinsichtlich eines gewissen Qualitätsverlus-
tes der gesamten Kontrolltätigkeit des Fachausschusses
sind nicht von der Hand zu weisen. In diesem Zusam-
menhang ist auch das Stichwort „Überlastung“ zu nen-
nen. Ein gutes Beispiel ist der Europäische Gerichtshof





Jürgen Klimke


(A) (C)



(D)(B)

für Menschenrechte, der sich wegen Überlastung refor-
mieren will.

Abschließend sei gesagt, dass der internationale Men-
schenrechtsschutz in den vergangenen Jahrzehnten be-
reits erfreuliche Fortschritte gemacht hat, insbesondere
was Rechtsetzung und Überprüfungsmechanismen be-
trifft. Die größten Defizite sind naturgemäß bei der
Durchsetzung bzw. bei der Verwirklichung des Schutzes
zu finden.

Diesen Bereich in enger Verbindung mit dem Monito-
ring weiter auszubauen und zu verbessern, muss das An-
liegen der Staatengemeinschaft und der Zivilgesellschaft
sein. Die Individualbeschwerde kann einen wesentlichen
Beitrag zur Institutionalisierung bzw. Verrechtlichung
der Menschenrechte leisten. Daher sollte sie nach einge-
hender Prüfung durch die Bundesregierung Teil eines je-
den Menschenrechtsabkommens sein.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704321100

Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Katrin

Werner das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Werner (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704321200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Die Linke unterstützt das Anliegen
des vorliegenden Antrags. Es ist für uns selbstverständ-
lich, dass wir die Rechte von Betroffenen stärken wol-
len, deren wirtschaftliche, soziale und kulturelle Men-
schenrechte verletzt werden. Der vorliegende Antrag
verweist insbesondere auf das Recht auf angemessene
Unterbringung, das Recht auf Nahrung und das Recht
auf Wasser. Die Unterzeichnung des Zusatzprotokolls ist
für uns unstrittig und unverzichtbar.

Aber in ihrem Antrag lobt die SPD ihre Regierungsbi-
lanz in der internationalen Menschenrechtspolitik. Die
Linke meint, zur nachträglichen Beschönigung von Rot-
Grün und Schwarz-Rot besteht nicht der geringste An-
lass. Auch in dieser Frage entdeckt die SPD erst reich-
lich spät und in der Opposition plötzlich Handlungsbe-
darf in Bereichen, die sie in ihrer eigenen Regierungszeit
vernachlässigt hat.

Ausgerechnet unter Rot-Grün wurden die finanziellen
Zusagen in der Entwicklungszusammenarbeit nicht ein-
mal zur Hälfte erfüllt. Frau Wieczorek-Zeul hat als Bun-
desministerin das zugesagte Ziel, 0,7 Prozent des Brutto-
inlandsprodukts für Entwicklungshilfe zur Verfügung zu
stellen, weit verfehlt. Ich frage: Stellt sich die SPD so
etwa die aktive und konstruktive Rolle vor, von der sie in
ihrem Antrag spricht?


(Ulrike Flach [FDP]: Hört! Hört!)


Allerdings sieht es auch unter der jetzigen schwarz-
gelben Bundesregierung kaum besser aus.


(Christoph Strässer [SPD]: Ach! Ehrlich?)

Vor der Wahl wollte Herr Niebel von der FDP das Bun-
desministerium, das er nun als Minister führt, sogar ab-
schaffen. Das lässt Schlimmes befürchten. Das Protokoll
liegt schon seit Dezember 2008 vor, und die Bundesre-
gierung hat nicht zu den Erstunterzeichnern gehört. Von
einer Vorbildfunktion bei den Menschenrechten kann so-
mit keine Rede sein. Dies gilt leider für die frühere und
die jetzige Bundesregierung.

Meine Damen und Herren, es lässt sich eine deutliche
Kontinuität bei der Vernachlässigung der Menschen-
rechtspolitik feststellen. Das gilt insbesondere im eige-
nen Land. Seit Hartz IV sind 2,5 Millionen Kinder von
Armut betroffen. Von Sassnitz bis München müssen im-
mer mehr arme und wohnungslose Menschen Suppenkü-
chen aufsuchen, um wenigstens eine warme Mahlzeit am
Tag zu bekommen. Immer mehr Menschen müssen zu
den Tafeln gehen, um sich mit Grundnahrungsmitteln
wie Milch, Mehl und Gemüse zu versorgen. Die Linke
sagt: Alle Menschen haben das Recht auf einen ange-
messenen Lebensstandard.


(Beifall bei der LINKEN)


Dem werden wir nicht einmal im eigenen Land gerecht
und in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit
auch nicht. Dies muss sich endlich ändern.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke unterstützt ein Individualbeschwerdever-
fahren zum UN-Sozialpakt. Aber im Unterschied zur
SPD sehen wir keinen Grund zum Lob der Regierung.
Weder unter Rot-Grün noch unter Schwarz-Gelb wurde
den Menschenrechten der erforderliche Stellenwert ein-
geräumt.


(Beifall bei der LINKEN – Manfred Grund [CDU/CSU]: Schon fertig?)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704321300

Nächster Redner ist der Kollege Pascal Kober für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1704321400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat
das Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpakt über ein Indivi-
dualbeschwerdeverfahren am 10. Dezember 2008 ange-
nommen, 60 Jahre nach der Verkündung der Allgemei-
nen Erklärung der Menschenrechte. Im UN-Sozialpakt
geht es um den Schutz elementarer Rechte. Es geht zum
Beispiel um das Recht auf Ernährung, das Recht auf Ge-
sundheit, das Recht auf Bildung und das Recht auf Ar-
beit. Das sind elementare Rechte, zu denen sich die
christlich-liberale Koalition bekennt und für deren För-
derung und Umsetzung sie sich weltweit einsetzt.


(Beifall bei der FDP)


Die wertegeleitete Außenpolitik und Entwicklungs-
hilfepolitik dieser christlich-liberalen Koalition hat sich
aber nicht nur zum Ziel gesetzt, für diese wirtschaftli-
chen, sozialen und kulturellen Rechte weltweit einzutre-





Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)

ten. Sie hat sich auch zum Ziel gesetzt, die Schaffung der
Voraussetzungen für die Gewährung der wirtschaftli-
chen, sozialen und kulturellen Rechte weltweit zu beför-
dern. Zu diesen Voraussetzungen gehören zum Beispiel
die Stärkung rechtsstaatlicher Strukturen und vor allem
die Armutsbekämpfung. Erinnern möchte ich in diesem
Zusammenhang an den Einsatz unserer beiden Bundes-
minister Guido Westerwelle und Dirk Niebel für die in-
ternationale Anerkennung eines Menschenrechtes auf
Wasser und Sanitärversorgung.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Mit dem Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpakt über
ein Individualbeschwerdeverfahren wurde ein Kommu-
nikationsverfahren als Rechtsmittel beschlossen. Der
UN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle
Rechte ist damit nicht mehr nur für das Berichtsprü-
fungsverfahren, sondern auch für internationale Be-
schwerdeverfahren und Untersuchungsverfahren vor Ort
zuständig. Bisher gab es als Mittel zur Überprüfung der
Einhaltung der sogenannten WSK-Rechte innerhalb der
Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen nur die Staaten-
berichte, in denen Rechenschaft über die Menschen-
rechtssituation abgelegt und Verbesserungsmaßnahmen
vorgeschlagen werden mussten.

Tritt nun das Zusatzprotokoll in Kraft, können Einzel-
personen im Rahmen des Individualbeschwerdeverfah-
rens bzw. Gruppen vor einem internationalen Gremium
Beschwerde gegen ihren Staat einlegen. Voraussetzung
für die Einklagbarkeit der WSK-Rechte ist dabei freilich
die Ausschöpfung des nationalen Rechtswegs.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion, in
Ihrem vorliegenden Antrag fordern Sie die Bundesregie-
rung nun auf, das Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpakt
über ein Individualbeschwerdeverfahren zu zeichnen und
zu ratifizieren. Sie begründen dies unter anderem damit,
dass durch die Ratifizierung des Zusatzprotokolls – abge-
sehen von den ohnehin vorhandenen Verpflichtungen zur
Einhaltung des UN-Sozialpaktes – keine zusätzlichen
Verpflichtungen auf Deutschland zukommen.

Nun ist aber generell zu bedenken, dass durch die Ein-
führung des Individualbeschwerdeverfahrens – darauf sind
Sie, Herr Meßmer, selbst eingegangen – der Arbeitsauf-
wand beim jeweiligen Kontrollorgan dramatisch ansteigen
könnte, was schnelle und effektive Entscheidungswege
erschweren würde. Ein bedauerliches Negativbeispiel für
eine solche Entwicklung sehen Sie beim Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte, dessen Funktionsfähig-
keit aufgrund der explosionsartigen Zunahme der Zahl
der Streitfälle in den letzten Jahren praktisch gelähmt
wurde. Gegen ein Individualbeschwerdeverfahren sprä-
che auch, dass es ausreichend Rechtswege auf regionaler,
nationaler, aber auch auf internationaler Ebene gibt, auf
die man zum Schutz seiner wirtschaftlichen, sozialen und
kulturellen Rechte zurückgreifen könnte.

Zudem ist der Nutzen des Individualbeschwerdever-
fahrens beschränkt, da die Entscheidungen über die Be-
schwerden keine rechtsverbindlichen Urteile sind, son-
dern Empfehlungen in Bezug auf den Einzelfall, woraus
sich dann allgemeine Zielformulierungen ergeben, die
die Staaten Schritt für Schritt umsetzen sollen.

All die Punkte, die ich aufgeführt habe, bedeuten nun
aber nicht, dass Individualbeschwerdeverfahren keinen
Sinn machen. Man muss in diesem Zusammenhang frei-
lich positiv anmerken, dass die mangelnde Rechtsbin-
dung und Durchsetzbarkeit ein Defizit ist, das wir im ge-
samten Völkerrecht finden, sodass man das Verfahren
der Individualbeschwerde in Fachkreisen trotz der man-
gelnden Rechtsbindung als ein wichtiges Instrument des
internationalen Menschenrechtsschutzes betrachtet.


(Beifall der Abg. Marina Schuster [FDP])


Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesrepublik
hat die Verhandlungen zur Verabschiedung des Zusatz-
protokolls aktiv und konstruktiv begleitet. Um die Fra-
gen zu klären, die sich im Hinblick auf eine Ratifizie-
rung des Zusatzprotokolls von deutscher Seite ergeben,
findet zurzeit auf Ressortebene ein Überprüfungsverfah-
ren statt; gegebenenfalls werden diese Fragen noch in
diesem Monat sogar auf Staatssekretärsebene bespro-
chen. Ich denke, wir sollten im Sinne einer vernünftigen
und effizienten Arbeit dieses Parlaments und der Regie-
rung die Ergebnisse dieses Überprüfungsverfahrens ab-
warten.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704321500

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Tom

Koenigs für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704321600

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wir unterstützen das Anliegen des SPD-Antra-
ges. Wir brauchen ein Individualbeschwerdeverfahren
zum UN-Sozialpakt. Menschenrechtsverletzungen sind
immer Einzelfälle. Jedes Menschenrechtsabkommen
muss deswegen individuelle Beschwerden ermöglichen,
und zwar auf allen Ebenen. Die Menschenrechte und
dieses Abkommen sind zum Schutz jedes einzelnen
Menschen da; sie umfassen individuelle Rechte. Folg-
lich muss jeder einzelne Mensch die Möglichkeit haben,
eine Verletzung seiner Rechte vor Gericht zu bringen
und öffentlich zu machen, und zwar auf allen Ebenen,
auch auf internationaler Ebene.

Durch die Individualbeschwerde können Menschen,
deren Rechte verletzt wurden, nicht nur ihr Recht be-
kommen, sondern auch die öffentliche, staatliche Aner-
kennung, dass sie dieses Recht haben. Damit wird, so-
weit das eben geht, die Würde dieser Menschen
wiederhergestellt. Es gibt deshalb keinen Grund, dass es
zwar beim Zivilpakt die Möglichkeit zur individuellen
Beschwerde auf internationaler Ebene gibt, beim Sozial-
pakt aber nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


1973 hat Deutschland den Sozialpakt ratifiziert. Die
WSK-Rechte gelten also seit fast 40 Jahren. Seit andert-
halb Jahren wäre es auch Deutschland möglich, das Indi-





Tom Koenigs


(A) (C)



(D)(B)

vidualbeschwerdeverfahren zuzulassen. Die Prüfung
hätte also auch zum Ende kommen können. 31 Staaten
haben es bisher ratifiziert, Deutschland aber nicht.

Gerade im Bereich der WSK-Rechte sind Individual-
beschwerdeverfahren sinnvoll; denn die Kritiker der
WSK-Rechte sagen ja immer, diese Rechte seien zu ab-
strakt. Der Sprecher der CDU/CSU hat sich sogar zu der
Äußerung verstiegen, man müsse prüfen, ob dies nicht
nur allgemeine Ziele und nicht knallharte Rechte seien.
Individualbeschwerden machen aber deutlich, wie diese
kollektiven Rechte auf die einzelnen Lebensgeschichten
und Schicksale der Menschen einwirken. Dadurch wer-
den Menschenrechte greifbar. Individuelle Beschwerde-
verfahren zeigen anschaulich, dass WSK-Rechte ganz
konkrete Ansprüche bedeuten.

Bislang gab es nur den Staatenbericht zum UN-So-
zialpakt, in dem überprüft wurde, ob die Staaten den So-
zialpakt einhalten. In ihm bleiben aber die Menschen-
rechte des Einzelnen relativ allgemein und relativ diffus,
meist in Statistiken versteckt. Durch das Individualbe-
schwerdeverfahren werden Menschenrechte auch für
Nichtexperten, auch für die Opfer, greifbar und ver-
ständlich. Einzelfälle sind anschaulich. Die Opfer wer-
den sichtbar, ihre Geschichten werden öffentlich und
nachvollziehbar. Rechtsträger müssen ihre Rechte ein-
fordern können, und dies durch alle Instanzen. Das ist
ein Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Außenpolitisch engagiert sich Deutschland bereits
über viele Regierungen hin für die WSK-Rechte. Wir ha-
ben jetzt auch gehört, dass offensichtlich die gegenwär-
tige Regierung dies wieder will. Dann frage ich: Wie
lange wollen Sie denn noch prüfen? So lange wie bei der
ILO-Resolution?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


In Ihrem Koalitionsvertrag steht wenigstens, Menschen-
rechtspolitik sei eine zentrale Konstante. Fangen Sie
bitte damit an, machen Sie es gleich und prüfen Sie nicht
bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704321700

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1049 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Wie ich sehe, sind
Sie damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 13 a bis e auf:

a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des
Bundeswaldgesetzes

– Drucksache 17/1220 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus

b) Unterrichtung durch die Bundesregierung

Waldbericht der Bundesregierung 2009

– Drucksache 16/13350 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Petra
Crone, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Bundeswaldgesetz nachhaltig gestalten –
Schutz und Pflege des Ökosystems für heutige
und künftige Generationen

– Drucksache 17/1050 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Behm, Undine Kurth (Quedlinburg), Ulrike
Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Das Bundeswaldgesetz novellieren und ökolo-
gische Mindeststandards für die Waldbewirt-
schaftung einführen

– Drucksache 17/1586 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Gesine Lötzsch,
Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE

Bundeswaldgesetz ändern – Naturnahe Wald-
bewirtschaftung fördern

– Drucksache 17/1743 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe,
auch damit sind Sie einverstanden. Dann werden wir so
verfahren.

Als erster Rednerin erteile ich der Ministerin für Er-
nährung, Landwirtschaft, Verbraucherschutz und Lan-





Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

desentwicklung aus dem Land Niedersachsen das Wort,
unserer ehemaligen Kollegin Astrid Grotelüschen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Astrid Grotelüschen (CDU):
Rede ID: ID1704321800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Abgeord-

nete! Nur wenige Gesetze haben langfristig Bestand.
Das Bundeswaldgesetz, das wir in der nächsten halben
Stunde diskutieren werden, wurde im Jahr 1975 verkün-
det und gehört sicherlich zu denjenigen Gesetzen, die
diese Langfristigkeit widerspiegeln. Das liegt daran,
dass sein Ziel, nämlich die Erhaltung des Waldes und die
Förderung der Forstwirtschaft, damals wie heute von
großer Bedeutung war bzw. ist.

Geänderte gesellschaftliche Ansprüche an unseren
Wald und an dessen Bewirtschaftung erfordern jedoch in
bestimmten Abständen eine gewisse Prüfung oder gege-
benenfalls Weiterentwicklung des rechtlichen Rahmens.
Deshalb möchte ich Ihnen im Folgenden darstellen, wa-
rum die Änderungen, die wir in der nächsten halben
Stunde diskutieren, sehr notwendig sind.

So bedarf es, auf die Praxis bezogen, seitens der forst-
lichen Zusammenschlüsse einer weiteren Größenent-
wicklung, damit diese als Marktpartner gegenüber der
Holzindustrie, die sich ja in den letzten Jahren sehr stark
konzentriert hat, als Gegengewicht wieder eine gewisse
Augenhöhe bekommen. Das kann nur durch den Zusam-
menschluss bestehender Forstbetriebsgemeinschaften zu
forstwirtschaftlichen Vereinigungen geschehen.

Die Waldbesitzer in Deutschland haben gemäß dem
Bundeswaldgesetz die Möglichkeit, sich zur Überwin-
dung von Strukturmängeln in privatrechtlichen Zusam-
menschlüssen zu organisieren. Diese forstwirtschaftli-
chen Zusammenschlüsse garantieren eine optimale
Sicherstellung und Beratung bzw. Betreuung der zahlrei-
chen Besitzer kleinstrukturierter Waldflächen. In Nieder-
sachsen hat die überwiegende Zahl der Besitzer von
Kleinprivatwald – die durchschnittliche Größe liegt bei
12,8 Hektar – diese Chance bereits genutzt. Rund
70 Prozent der Besitzer von Nichtstaatswald haben sich
bereits in ungefähr 108 Forstgemeinschaften organisiert.

Die nach bisherigem Recht vorhandene starke Be-
schränkung der Aufgaben von forstwirtschaftlichen Ver-
einigungen führt dazu, dass sie nicht mehr den heutigen
Erfordernissen des Holzmarktes und vor allen Dingen
auch nicht mehr denen an eine professionelle Struktur ei-
ner solchen Organisation entsprechen.


(Peter Bleser [CDU/CSU]: Richtig!)


Auf Bundesebene wird daher schon seit längerem über
eine Änderung des Abschnitts zu forstwirtschaftlichen
Zusammenschlüssen im Bundeswaldgesetz diskutiert.
Dies ist bisher, wie ich finde, ohne die dringend notwen-
digen Erfolge geschehen.


(Peter Bleser [CDU/CSU]: Das lag an der Vorgängerregierung!)

Die Zusammenschlüsse haben daher in zulässiger
Weise, aber mit großem Aufwand, andere, aber eher
komplizierte rechtliche Konstruktionen entwickelt. Des-
halb muss es unser Hauptziel sein, diesen forstwirt-
schaftlichen Vereinigungen umgehend die Möglichkeit
zu geben, im Sinne einer integrierten Entwicklung für
den ländlichen Raum als Dienstleister erfolgreich und
vor allen Dingen innovativ tätig zu werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Vermarktung des Holzes stellt die Haupteinnah-
mequelle für die Waldbesitzenden dar. Dies bedeutet,
dass die forstwirtschaftlichen Vereinigungen den Ver-
kauf des Holzes für die Mitglieder nicht nur koordinie-
ren sollen, sondern das Holz auch selber vermarkten dür-
fen. Zudem würde den Zusammenschlüssen in allen
Bundesländern die angestrebte Änderung des Bundes-
waldgesetzes außerordentlich dabei helfen, sich zukünf-
tig in einfacher Weise marktangepasst entwickeln zu
können.

Der vorliegende Entwurf nutzt außerdem die Chance,
in zwei weiteren Punkten Rechtsklarheit zu schaffen.
Der nachwachsende Rohstoff Holz wird sowohl bei Kurz-
umtriebsplantagen als auch bei Agroforstsystemen auf
landwirtschaftlichen Flächen produziert. Diese genann-
ten Kulturformen gleichen eher einer landwirtschaftli-
chen Nutzung und sind mit einer ordnungsgemäßen und
nachhaltigen Bewirtschaftung im Sinne des § 11 des
Bundeswaldgesetzes nicht vereinbar.

Mit der Herausnahme der bisherigen Definition des
Waldes können wir in Zukunft Diskussionen über Zu-
ordnungen vermeiden; das Bundeswaldgesetz stellt näm-
lich bei der Zuordnung zum Wald zurzeit ausschließlich
auf das äußere Erscheinungsbild ab. Damit es keine
Missverständnisse gibt, möchte ich aber ergänzend da-
rauf hinweisen, dass historische Wirtschaftsformen wie
der Niederwald oder der Mittelwald aufgrund ihres
Wuchsverhaltens und ihrer Struktur natürlich weiterhin
Wald bleiben.

Die zweite Klarstellung ist mit dem vorgesehenen Zu-
satz zur Frage der Haftung beim Betreten des Waldes
vorgesehen. Das Bundeswaldgesetz gestattet jeder-
mann, den Wald auch außerhalb der Wege zu betreten.
Dabei hat sich – das wissen wir alle – das Erholungsver-
halten der Besucher sehr stark verändert. Die Ausschil-
derung von Wanderwegen lenkt insgesamt natürlich
mehr Besucher in den Wald. Zudem führen neue Erho-
lungsformen – auch das wissen wir; ich will nur
Mountainbiking als Beispiel nennen – zu veränderten
Gefährdungssituationen im Wald. Gleichzeitig werden
Waldbesitzer durch Vorschriften aus unterschiedlichen
Rechtsbereichen – hier sei nur das Natur- und das Arten-
schutzrecht genannt – gezwungen, gefährliche Situatio-
nen, die zum Beispiel durch Totholz entstehen können,
zu dulden. Es besteht andererseits jedoch für den Wald-
besitzer nicht das Recht, der Verkehrssicherungspflicht
über ein dauerhaftes Sperren nachzukommen.

Die Änderung in unserem Entwurf stellt daher klar,
dass der Waldbesitzer für waldtypische Gefahren, wie es
zum Beispiel das Totholz darstellt, nicht haftet. Damit





Ministerin Astrid Grotelüschen (Niedersachsen)



(A) (C)



(D)(B)

wird die geltende Rechtsprechung in das Gesetz über-
nommen. Das ist also schon gelebte Praxis.

Ich hoffe, dass ich Ihnen anhand dieser wenigen Bei-
spiele – ich habe nur sechs Minuten Redezeit und die
Uhr läuft gegen mich – darstellen konnte, warum wir
eine Anpassung des Waldgesetzes einfordern. Ich bitte
daher den Bundestag, den vom Bundesrat eingebrachten
Gesetzentwurf weiter zu beraten, und ich hoffe, dass Sie
ihn als Gesetz verabschieden.

Herzlichen Dank fürs Zuhören.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1704321900

Frau Ministerin, Sie haben schon bald nach Ihrer

Wahl in den Deutschen Bundestag Ihre neue jetzige Auf-
gabe als Ministerin in Niedersachsen übernommen. Dies
war nun Ihre erste Rede in diesem Haus, nicht nur in der
Funktion als Ministerin.


(Zurufe von Abgeordneten der CDU/CSU: Oh! – Peter Bleser [CDU/CSU]: Und gleich Ministerin!)


Herzlichen Glückwunsch dazu, verbunden mit den bes-
ten Wünschen für Ihre weitere Arbeit!


(Beifall)


Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Crone für die
SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Petra Crone (SPD):
Rede ID: ID1704322000

Guten Abend! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine

lieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und
Herren! Wir unternehmen heute den dritten Anlauf, das
Bundeswaldgesetz zu novellieren.


(Peter Bleser [CDU/CSU]: Richtig!)


Aller guten Dinge sind drei. Viele Fragen sind unter den
Fraktionen völlig unstrittig.


(Peter Bleser [CDU/CSU]: Auch richtig!)


Auch forstwirtschaftliche und Naturschutzakteure geben
grünes Licht.

In Kürze: Modernisierungsbedarf – das wurde eben
schon gesagt – besteht in der Abgrenzung der Begriffe
„Agroforstsysteme“ und „Kurzumtriebsplantagen“ vom
Begriff „Wald“. KUPs werden vor allem als Option für
die steigende Holznachfrage und unter gewissen Anfor-
derungen als Alternative mit positiven Wirkungen für
biologische Vielfalt und Böden verstanden.

Zukünftig wollen wir die Besitzer kleiner Wälder
stärken. Sie können ihr Holz zu fairen Bedingungen nut-
zen und auf den Markt bringen. Dafür erweitern wir den
Aufgabenkatalog der forstwirtschaftlichen Vereinigun-
gen.

Diskussionsbedarf besteht momentan noch bei der
Verkehrssicherungspflicht. Ich bin aber zuversichtlich,
dass eine Lösung im berechtigten Interesse der Waldbe-
sitzer gefunden wird. Aber dieser Punkt führt uns leider
schon hinaus aus der schönen, seltenen Einigkeit. Sobald
Belange des Naturschutzes angesprochen werden, endet
die Kooperation.


(Peter Bleser [CDU/CSU]: Das wäre aber nicht nötig gewesen! – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Verweigern Sie sich!)


Cornelia Behm, Christel Happach-Kasan, Georg
Schirmbeck – er ist heute nicht da – und Kirsten
Tackmann – Sie, meine lieben Kollegen und Kollegin-
nen, kümmern sich schon seit vielen Jahren verdienst-
voll um den Wald.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Peter Bleser [CDU/CSU]: Oh! Da haben Sie mich aber vergessen!)


Inwieweit einige von Ihnen zum Scheitern der ersten
beiden Anläufe einer Novellierung beigetragen haben,
dazu will ich keine Mutmaßungen anstellen.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Also wir waren unschuldig!)


Als neue wald- und forstpolitische Sprecherin der
SPD-Bundestagsfraktion will ich drei Punkte anspre-
chen.

Erstens. Wem der Wald am Herzen liegt, der sollte be-
reit sein, Gesetze, die zum Teil seit 1975 nicht mehr an-
gefasst wurden, zu ändern.

Zweitens. Meine politischen Forderungen für unseren
Wald sind realistisch, aber auch maximal.


(Beifall bei der SPD)


Drittens. Ich sehe trotz Konfliktpotenzial, dass die Ge-
meinsamkeiten größer sind als die Gegensätze.


(Peter Bleser [CDU/CSU]: Das ist schon mal was!)


Wir müssen unser Waldgesetz jetzt an die geänderten
Zeiten anpassen. Die nächsten 20, 30 Jahre sind für den
Klimawandel entscheidend. Der Wald muss mit immer
extremeren Wetterlagen klarkommen. Die Abgase aus
Verkehr und Landwirtschaft setzen ihn noch immer unter
Stress. Laut Waldbericht verbleiben die Schäden auf ho-
hem Niveau. Es mangelt an alten Wäldern, an Alt- und
Totholz. Beim Artenrückgang ist keine Trendwende zu
verzeichnen. Ich erinnere hier an unsere international
wie national eingegangenen Verpflichtungen zum Schutz
der biologischen Vielfalt.

Das alles lässt nur einen Schluss zu: Wir brauchen
Mindeststandards im Naturschutz für die gesamte Wald-
fläche.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir wissen inzwischen so viel über ökologische und
ökonomische Zusammenhänge im Wald und in der
Forstwirtschaft. Dieses Wissen muss sich in einem mo-
dernen Bundeswaldgesetz wiederfinden.





Petra Crone


(A) (C)



(D)(B)

Darum will die SPD-Bundestagsfraktion die „gute
fachliche Praxis“ im Bundeswaldgesetz verankern. Im-
mer höre ich ein verstärktes Raunen allein bei der Nen-
nung dieser drei Worte. Deshalb sage ich es einmal so:
Wir müssen unsere Wälder in die Lage versetzen, aus
sich heraus zu funktionieren. Die Nutzung des Waldes
stresst ihn. Das ist letzten Endes nicht zu vermeiden. Un-
sere Pflicht ist es aber, den Stress für das Ökosystem auf
ein Minimum zu beschränken.


(Zuruf von der CDU/CSU: Wie äußert sich denn Stress im Wald?)


Der SPD ist klar: Der Wald muss wirtschaftlich genutzt
werden. Doch wir wollen, dass das naturnah geschieht.
Viele Forstbetriebe, auch bei mir im Sauerland, tun das
in vorbildlicher Weise. Ich kann aber nicht alle Formen
der Waldbewirtschaftung gleichsam loben. Es gibt Wald-
besitzer, die sehr verantwortungsvoll vorgehen, und an-
dere, die das nicht tun.

Wenn wir die „gute fachliche Praxis“ im Gesetz ver-
ankern, hauen wir den schwarzen Schafen der Branche
empfindlich auf die Finger. Denn die bereichern sich
doch auf Kosten der naturnahen Waldwirtschaft. Mit der
Aufnahme in das Bundeswaldgesetz binden wir alle
Forstbetriebe an ein Mindestniveau des Naturschutzes.
Damit schaffen wir auch wettbewerbsrechtlich einen
einheitlichen Rahmen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, ich
glaube auch nicht, dass die „gute fachliche Praxis“ im
Bundeswaldgesetz alle Probleme löst. Aber ohne sie
wird es auch nicht gehen. Sie ist ein wichtiges Instru-
ment der Naturschutzpolitik im Wald. Warum geht nicht
beim Wald, was doch bei der Landwirtschaft geht? Da
ist es verankert.

Klar brauchen wir naturnahe Waldwirtschaft, braucht
es Vertragsnaturschutz, Beratungen, Zertifizierungen
und in Zukunft vermehrt wohl auch ein Honorierungs-
system von Natur- und Klimaschutzleistungen. Der Mix
aus den Instrumenten macht es.

Sicher kennen Sie die umfangreiche wissenschaftli-
che Arbeit zu den Bausteinen einer Naturschutzpolitik
im Wald des BfN. Die kommt zu dem Schluss: Mit den
Kriterien der „guten fachlichen Praxis“ sind keine gra-
vierenden ökonomischen Auswirkungen zu befürchten.
Auch die forstliche Förderung bliebe weitgehend unbe-
einträchtigt.

Wir schlagen ja auch eine Regelungsverteilung zwi-
schen Bund und Ländern vor. Da bleibt viel Spielraum
für die Präzisierung bei den Ländern.

Ein Naturschutz, der keine gesellschaftspolitische
Akzeptanz hat, wird langfristig scheitern. Eine Bewirt-
schaftung, die unsere Wälder und ihre Lebensformen
empfindlich stört oder sogar zerstört, hat schon heute
keine gesellschaftspolitische Akzeptanz mehr.

Daher meine Bitte an Sie: Setzen wir uns noch einmal
an einen Tisch und beraten wir über die gesetzliche Ver-
ankerung der GfP. Hier können wir alle gemeinsam ei-
nen guten Aufschlag schon vor dem Internationalen Jahr
der Wälder 2011 machen.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704322100

Das Wort hat die Kollegin Dr. Christel Happach-

Kasan von der FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Rede ID: ID1704322200

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Liebe Frau Kollegin Crone, eine solche
Charmeoffensive der SPD-Fraktion habe ich in diesem
Hause relativ selten erlebt. Ich bedanke mich ausdrück-
lich für Ihre netten Worte. Herzlichen Dank dafür!


(Beifall bei der FDP und der SPD)


Die beiden Beiträge haben deutlich gemacht: Wir alle
sind uns über die Notwendigkeit, das Bundeswaldgesetz
zu ändern, einig. Die Anträge der Oppositionsfraktionen
spiegeln dies durchaus wider, auch wenn wir nicht in al-
len Punkten so weit gehen wollen, wie die SPD-Kollegin
es hier dargestellt hat. Man muss allerdings feststellen:
Obwohl wir uns alle einig sind, dass das Waldgesetz ge-
ändert werden muss, hat es die Große Koalition nicht auf
den Weg gebracht. Mit der gegenseitigen Blockierung
haben damals die Koalitionspartner dem Land gescha-
det.


(Peter Bleser [CDU/CSU]: Lieber nichts als etwas Falsches!)


Ich hoffe, lieber Kollege Bleser, dass wir das jetzt schaf-
fen und ein ordentliches Waldgesetz auf den Weg brin-
gen werden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


– Vielen Dank für den Beifall von allen Seiten.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Nicht von allen!)


Es ist ausgeführt worden: Im Bestreben, die Biodiver-
sität im Wald zu erhöhen, sind die Totholzanteile im
Wald schrittweise erhöht worden. Das bedeutet, dass
mehr Insektenarten ein Heim finden. Totholz stärkt die
Biodiversität, aber gleichzeitig wird das Gefährdungsri-
siko für Waldbesucher erhöht. Tote Bäume sind eben
nicht so stabil wie lebende. Wir haben das Recht auf
freies Betreten der Wälder. Waldbesitzer dürfen ihre
Wälder nicht absperren. Deswegen wollen wir – das ist
hier von verschiedenen Seiten dargestellt worden –, dass
Waldbesitzer nicht für waldtypische Gefahren haften.
Verschiedene Gerichtsurteile zeigen uns, dass wir mit
dieser Formulierung eine ganze Reihe von Konflikten
vermeiden können. Ich denke mir auch, dass wir allein
durch die Diskussion über waldtypische Gefahren dazu
beitragen, dass sich Waldbesucher bewusst werden, dass
es diese waldtypischen Gefahren gibt, und sich entspre-
chend verhalten. Ein Waldweg ist eben kein glattes Par-
kett. Man kann dort stolpern.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)






Dr. Christel Happach-Kasan


(A) (C)



(D)(B)

Holz ist unser wichtigster nachwachsender Rohstoff.
Das Cluster „Forst und Holz“ trägt entscheidend zur
wirtschaftlichen Stärkung der ländlichen Räume bei.
1,2 Millionen Beschäftigte, 170 Milliarden Euro Um-
satz, das hat schon eine ganz erhebliche Bedeutung. Vor
fünf Jahren wurden 60 Prozent des nachwachsenden
Holzes genutzt. Inzwischen sind es 90 Prozent. Es ist at-
traktiver geworden, Holz einzuschlagen. Die verstärkte
energetische Nutzung hat dazu einen Beitrag geleistet.
Es ist aber auch deutlich, dass wir keine Übernutzung
unserer Wälder haben; das ist gut.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir wollen, dass das so bleibt. Deswegen gibt es in
verschiedenen Regionen Deutschlands – wir haben hier
im Bundestag in der letzten Legislaturperiode darüber
diskutiert – Projekte in Kurzumtriebsplantagen, Holz für
die energetische und stoffliche Nutzung zu produzieren.
Wettbewerbsfähigkeit mit anderen Produktionen von
Biomasse wird nur erreicht, wenn wir für solche Pro-
jekte – es gibt sie in Schleswig-Holstein genauso wie in
Sachsen, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg –
endlich Rechtssicherheit schaffen. Der Wissenschaftli-
che Beirat des Agrarministeriums hat schon 2007 auf die
Vorzüge von Kurzumtriebsplantagen hingewiesen.
Florian Schöne vom NABU hat bei einer Anhörung der
FDP-Bundestagsfraktion deutlich gemacht, dass in Ener-
gieholzplantagen die pflanzliche und tierische Biodiver-
sität vergleichsweise gut und deutlich besser als in Dau-
erkulturen von Mais ist. Es ist selten so, dass Ökologie
und Ökonomie derartig Hand in Hand gehen. Deswegen
wollen wir diese gesetzliche Änderung.


(Beifall der Abg. Gitta Connemann [CDU/ CSU])


Ich freue mich sehr, dass das Bundesforschungsministe-
rium in der Ausschreibung „Nachhaltiges Landmanage-
ment“ auch einem Projekt den Zuschlag gegeben hat, in
dem wissenschaftliche Fragestellungen der Produktion
und Bereitstellung von Dendromasse untersucht werden
sollen, sprich: Kurzumtriebsplantagen.

In verschiedenen Regionen Deutschlands erfolgen auf
bestimmten Flächen land- und forstwirtschaftliche Nut-
zung parallel. Das soll möglich bleiben; das ist unser fes-
ter Wille. Ein Offenhalten der Landschaft kann aber nur
über die Bewirtschaftung der Flächen erreicht werden.
Ohne Pflege und Bewirtschaftung von Wiesen, Bachtä-
lern, Almweiden, ja sogar von ehemaligen Wattflächen
– Beispiel: das Katinger Watt in Schleswig-Holstein –
wächst dort Wald; denn die potenzielle Vegetation in
Deutschland ist Wald. Wenn dort Wald wächst, dann ist
es nach der Definition unseres Bundeswaldgesetzes
Wald.


(Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Von besonderer Bedeutung sind die Alpund Almbauern!)


– Sehr geehrter Herr Kollege, ich bitte Sie herzlich, eine
Zwischenfrage zu stellen, damit wir darüber diskutieren
können, mir aber nicht in die Redezeit hineinzufunken.
Das finde ich nicht in Ordnung.

(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU)


Herr Präsident, würden Sie bitte?


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704322300

Herr Kollege Müller, wollen Sie Ihrer Auftragsfrage

nachkommen? – Bitte.


(Heiterkeit)



Dr. Gerd Müller (CSU):
Rede ID: ID1704322400

Sehr geschätzte Frau Kollegin, welche Bedeutung

messen Sie in diesem Zusammenhang der deutschen
Alm- und Alpwirtschaft bei?


Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Rede ID: ID1704322500

Werter Herr Kollege, ich bedanke mich für diese

Frage und möchte ausdrücklich hinzufügen, dass ich Sie
nicht herausgefordert habe, aber Ihr Begehren in Ihren
Augen ablesen konnte. So gut funktioniert die Zusam-
menarbeit.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nur beim Wald!)


Ich glaube, dass die Almwirtschaften im Alpengebiet
genauso wie andere Bergwirtschaften in anderen Mittel-
gebietsregionen in Deutschland eine herausragende Be-
deutung haben. Ich bin sehr mit Ihnen einer Meinung,
dass wir Flächen mit landwirtschaftlicher und forstwirt-
schaftlicher Nutzung vom Waldbegriff ausnehmen soll-
ten. Wenn aber infolge der natürlichen Entwicklung – das
passiert auch in Deutschland – auf einer solchen Fläche,
auf der die landwirtschaftliche Nutzung nicht mehr er-
folgt, ein Wald wächst, wenn sie mit Waldbäumen be-
stockt ist, dann ist diese Fläche Wald und kann damit
keine Direktzahlungen im Sinne der Landwirtschaft
mehr erzielen.


(Heiterkeit und Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Gerd Müller [CDU/CSU]: Im Namen meiner Almbauern bedanke ich mich sehr!)


– Herr Kollege, ich bedanke mich für diese freundliche
Frage.

Der dritte Änderungsbedarf – auch das ist hier schon
dargestellt worden – besteht bei den forstwirtschaftli-
chen Zusammenschlüssen, die wir stärken wollen. Bei
der Bewirtschaftung der sehr vielen kleinen Privatwälder
sind sie von entscheidender Bedeutung.

Wir haben drei Anträge der Opposition vorliegen. Der
Antrag der SPD hat eine sehr pragmatische Handschrift.
Herzlichen Dank dafür. Der Antrag der Grünen, liebe
Kollegin Cornelia Behm, ist ein bisschen kleinteilig ge-
raten.


(Cornelia Behm [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habt ihr aber nötig, dass man es so detailliert aufschreibt!)






Dr. Christel Happach-Kasan


(A) (C)



(D)(B)

Ich hatte beim Lesen den Eindruck, dass wir für alle
10 Hektar Wald eine eigene Verordnung brauchen, damit
wir allen Ansprüchen gerecht werden können. Ich finde
es ein bisschen schade, dass sich die Grünen nicht mit
dem Waldbericht der Bundesregierung beschäftigt haben
und die Erkenntnisse, die dort sehr deutlich und an-
schaulich niedergelegt wurden, nicht in ihrem Antrag
verwertet haben. Das wäre meines Erachtens wichtig ge-
wesen, damit wir eine fachlich gute Diskussion hierzu
bekommen. Die Definition der guten fachlichen Praxis
im Bundesgesetz erübrigt sich nach meiner Auffassung.
Der Waldbericht zeigt auf, dass Waldbesitzer mit ihrem
Eigentum weitgehend verantwortlich umgehen.

Wir sollten uns auf die gesetzlichen Regelungen be-
schränken, die wirklich erforderlich sind. Mir macht die
weiterhin hohe Zahl der tödlichen Arbeitsunfälle im
Wald – bis zu 20 pro Jahr – sehr viel mehr Sorge als feh-
lende Paragrafen.

In diesem Sinne hoffe ich auf eine gute und konstruk-
tive Diskussion.

Danke schön.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704322600

Das Wort hat die Kollegin Kirsten Tackmann von der

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704322700

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Gäste! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Seit Jahren ist es absolut un-
strittig, dass wir dringend eine Novellierung des Bundes-
waldgesetzes brauchen. Die Opposition ist an dem
Thema immer drangeblieben. Deswegen bin ich froh,
dass jetzt der Bundesrat die Initiative ergriffen hat. Mit
der Koalition wäre das wahrscheinlich nichts geworden.

In drei Punkten sind sich alle fünf Fraktionen in die-
sem Haus einig: Erstens soll die Agroforstwirtschaft aus
dem Begriff „Wald“ herausgenommen werden. Zweitens
wollen wir die Verkehrssicherungspflicht der Rechtspre-
chung anpassen. Und drittens wollen wir den Kleinpri-
vatwaldbesitzerinnen und -besitzern etwas unter die
Arme greifen.

Zum Thema Agroforst: Flächen zum Energieholzan-
bau und Ackerflächen mit einem kombinierten Anbau
von Bäumen und Kulturpflanzen sollen im Sinne des
Bundeswaldgesetzes kein Wald mehr sein, damit man
das Holz auch kurzfristig nutzen kann. Damit wird
gleichzeitig die seit über 200 Jahren bestehende Tren-
nung zwischen Forstwirtschaft und Landwirtschaft et-
was aufgeweicht. Hierbei geht es zum einen um seit
Jahrhunderten bekannte Mischnutzungen wie Streuobst-
wiesen oder sogenannte Hudewälder, also die Kombina-
tion zwischen Wald und Weidehaltung. Zum anderen
geht es aber auch um relativ neue Ideen wie den Energie-
holzanbau auf Kurzumtriebsplantagen oder die Pflan-
zung von Baumreihen in Getreidefeldern. Allerdings
müssen wir bei dieser Türöffnung aus unserer Sicht auch
das Risiko im Blick behalten. Kurzumtriebsplantagen
dürfen nicht zu großflächigen Monokulturen werden.
Der sogenannten Vermaisung der Landwirtschaft darf
nicht die sogenannte Verpappelung folgen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir wollen allerdings auch keine Beschränkung der
Agroforstsysteme auf den Pflanzenbau – darum ging es
gerade in der Debatte –, wie es jetzt befürchtet wird.
Forst- und Tierhaltungssysteme auf einer Fläche müssen
eingeschlossen werden, damit die Neuregelungen auch
für Almbeweidung und Hudewälder gelten.

Zur Verkehrssicherungspflicht: Niemand will die
Waldeigentümer aus ihren Pflichten entlassen, die Linke
schon gar nicht. Art. 14 des Grundgesetzes gilt: Eigen-
tum verpflichtet und muss zum Gemeinwohl verwendet
werden.

Aber natürlich hat der Wald nicht nur ökologische
und forstliche Funktionen. Er ist auch Erholungsraum.
Seine öffentliche Zugänglichkeit ist für uns unverzicht-
bar, und zwar unabhängig von der Eigentumsform. Das
gilt gerade in der Nähe von Städten. Ein erholsamer
Waldspaziergang ist für die Forstwirtschaft ja der pure
Lobbyismus. Ich möchte aber natürlich niemandem zu-
muten, durch herabstürzende Äste oder umstürzende
Bäume verletzt zu werden. Solche Risiken gibt es im
Wald, wenn wir ihn nicht parkähnlich aufräumen wollen.
Daher ist es aus unserer Sicht sinnvoll, abseits von stark
genutzten Waldwegen auf die Pflicht zur Fällung von
kranken oder toten Bäumen zu verzichten. Dabei geht es
eigentlich nur um die Anpassung der Regelungen an die
gängige Rechtsprechung.

Zum Kleinprivatwald: Die Unterstützung der Klein-
privatwaldbesitzer ist aus unserer Sicht längst überfällig
und dringend erforderlich; denn sie liegt in unser aller
Interesse, weil es hier auch um die Mobilisierung von
Holzreserven geht, die dringend gebraucht werden und
den Nutzungsdruck vom restlichen Wald etwas wegneh-
men.

Diese drei Änderungen reichen uns als Linken nicht
aus. Darum fordern wir in unserem Antrag, die soge-
nannte ordnungsgemäße Forstwirtschaft so zu formulie-
ren, dass naturnahe Wälder erreicht werden. Dazu
gehören aus unserer Sicht ganz klar: die Wahl standort-
gerechter, einheimischer Baumarten; kahlschlagfreies
Wirtschaften; die Gestaltung der Waldränder als Biotop-
übergang von Wald zu Acker und Wiese; die Reduzie-
rung der Bodenbearbeitung und -verdichtung; die Ver-
meidung von Pflanzenschutz- und Düngemitteln; ange-
passte Wilddichten, die eine natürliche Verjüngung des
Waldes ermöglichen; der Verzicht auf gentechnisch ver-
ändertes Pflanz- und Saatgut. Nicht zu vergessen: Zu ei-
ner fachgerechten Waldbewirtschaftung gehört qualifi-
ziertes Personal in bedarfsgerechter Anzahl. Ich freue
mich sehr auf die Diskussion im Ausschuss.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704322800

Das Wort hat die Kollegin Cornelia Behm von der

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704322900

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Das Bundeswaldgesetz ist 35 Jahre alt gewor-
den. Wenn ich meine Kollegen anschaue, muss ich
sagen: Mit 35 ist man noch jung. Aber ein Gesetz, das
sich mit Ökosystemen befasst, ist mit 35 Jahren ange-
sichts der stark veränderten Umweltbedingungen schon
in die Jahre gekommen. Dass Novellierungsbedarf
besteht, darüber gibt es, glaube ich, keinen Streit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deswegen hat ja auch die Koalition in ihren Koalitions-
vertrag geschrieben: „Das Bundeswaldgesetz wird no-
velliert.“ Gekommen ist aber nichts.

Jetzt hat der Bundesrat dem Druck aus der Gesell-
schaft, vor allen Dingen aus der Holzbranche, nachgege-
ben und eine Novelle vorgelegt, aber nur eine Mikrono-
velle. Sie sind wirklich beim kleinsten gemeinsamen
Nenner stehen geblieben. Sie haben sich der Verkehrs-
sicherungspflicht angenommen, Sie haben sich der
Kurzumtriebsplantagen und sogar der Agroforstsysteme
angenommen, und Sie wollen die Vermarktung durch
forstwirtschaftliche Zusammenschlüsse verbessern. Das
alles ist unstrittig.

Ich will zu zwei von diesen Punkten etwas sagen. Bei
der Verkehrssicherungspflicht wollen Sie – so steht es in
der Begründung – im Grunde genommen nur die gültige
Rechtsprechung gesetzlich festlegen. Das entspricht in
keiner Weise den Erwartungen: Es entspricht weder den
Erwartungen der Waldbesitzer noch denen der Forstleute
noch denen der Naturschützer.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Nötig wäre eine Lockerung der Verkehrssicherungs-
pflicht durch eine räumlich differenzierte Betrachtung:
An den Hauptverkehrswegen muss tatsächlich Sicherheit
herrschen. Im Waldesinnern ist es jedoch zumutbar, dass
man mit waldtypischen Gefahren rechnet und entspre-
chend umsichtig ist.

Zu den Kurzumtriebsplantagen. Im Koalitionsvertrag
kommen nur Kurzumtriebsplantagen vor und keine
Agroforstsysteme. Das finde ich ziemlich schwach; denn
es ist leider nicht so, wie meine Kollegin Christel
Happach-Kasan sagt, dass Kurzumtriebsplantagen eine
hohe Biodiversität aufweisen. Kurzumtriebsplantagen
sind Monokulturen von Forstpflanzen auf dem Acker
und nichts anderes.

Wenn der NABU spricht, dann spricht er von wahr-
haften Agroforstsystemen. Diese Agroforstsysteme sind
nicht nur in der Lage, die Ertragsfähigkeit von Agrarflä-
chen zu erhöhen, sondern auch die Biodiversität. Daran
sollte man insbesondere im UN-Jahr der Biodiversität
denken und entsprechende Regelungen treffen.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es ist mein Anliegen, dass man nicht nur, wie es unser
Staatssekretär will, bestehende Agroforstsysteme wie
Streuobstwiesen und Almweiden schützt, sondern dass
man sich in diesem Hause verstärkt darum bemüht, dass
neue Agroforstsysteme angelegt werden.

Ich komme jetzt zu den wesentlichen Defiziten – ich
habe ja von einer Mikronovelle gesprochen –: Sie haben
sich nicht dazu hinreißen lassen, Standards zu setzen für
klimaplastische Wälder, die die Leistungen für den Na-
turhaushalt auf Dauer sicherstellen.

Wir haben Ihnen in der vergangenen Legislaturperiode
einen Antrag vorgelegt, und wir haben Ihnen auch dieses
Mal wieder einen Antrag vorgelegt, in dem die notwendi-
gen Mindestanforderungen stehen, um die Ziele, die wir
alle haben – darüber haben wir ja oft genug gesprochen;
sie sind unstrittig –, zu erreichen, nämlich naturnahe,
vitale Wälder, Biodiversität der Waldökosysteme, Erhö-
hung der CO2-Speicherung, Versorgung mit dem nach-
wachsenden Rohstoff Holz und auch Schutz vor Über-
nutzung.


(Peter Bleser [CDU/CSU]: Alles unstrittig!)


Dafür gibt es einen breiten gesellschaftlichen Kon-
sens; nur: Die Koalition sperrt sich.


(Peter Bleser [CDU/CSU]: Nein!)


Sie sagt: Es gibt keinen Regelungsbedarf, die Waldbesit-
zer handeln eigenverantwortlich, und die machen schon
alles schön im Sinne der Nachhaltigkeit. – Sie wissen es
aber doch selbst: Die Wirklichkeit sieht anders aus.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident, lassen Sie mich noch ein paar Sätze
sagen. – Gerade auch in den ostdeutschen Bundeslän-
dern sehe ich zunehmend, dass es eine neue Klasse der
Waldbesitzer gibt, die einzig und allein gewinnorientiert
ist.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Aber nicht in Thüringen! Sie sind alle gemeinwohlorientiert!)


Meine Damen und Herren von der Koalition, damit, die-
sen Interessen nachzugeben, erweisen Sie dem Wald,
dem Klimaschutz, der Biodiversität und damit auch der
Zukunft der ländlichen Regionen einen Bärendienst.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir bleiben dran, wir wollen eine Makronovelle, und
dafür werde ich mich auch weiterhin einsetzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704323000

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt

erteile ich dem Kollegen Alois Gerig von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)


Alois Gerig (CDU):
Rede ID: ID1704323100

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Der Wald hat für unser Land eine
überragende Bedeutung. Deshalb kommt auch der No-
vellierung des Waldgesetzes eine überragende Bedeu-
tung zu.

Da 31 Prozent unseres Landes mit Wäldern bedeckt
sind, prägen sie nicht nur das Landschaftsbild in vielfäl-
tiger Weise, sondern sie bilden auch die grüne Lunge für
unsere Bürger.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Als CO2-Speicher sind unsere Wälder aktive Klima-
schützer und für uns Menschen unverzichtbar, weil sie
einen wichtigen Beitrag für die Trinkwasserversorgung
und den Immissionsschutz leisten. Sie dienen als Le-
bensraum für Pflanzen und Tiere zur Bewahrung der
Schöpfung und zum Erhalt der Artenvielfalt. Für uns
Menschen sind sie ein wichtiger Raum für Ruhe und
Erholung.

Neben all den wichtigen, unersetzbaren ökologischen
Funktionen gewinnt auch die ökonomische Seite unserer
Wälder mehr und mehr an Bedeutung. Sie sind einerseits
ein unverzichtbarer Rohstofflieferant als Grundlage für
eine leistungsfähige Holzindustrie, die gerade im ländli-
chen Raum für Wertschöpfung und Arbeitsplätze sorgt,
und bieten andererseits die Grundlage für nachwach-
sende Rohstoffe im Bereich der alternativen Energien.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Koalition will die vielfältigen Funktionen des Wal-
des erhalten und zum Wohle von Mensch und Umwelt
noch weiter ausbauen.

Zu den wichtigsten Gesetzesänderungen in aller
Kürze, weil wir uns in dem Bereich ja relativ einig sind:

Erstens. Kurzumtriebsplantagen und Agroforst-
systeme sind vom Waldbegriff des Bundeswaldgesetzes
auszunehmen, weil es sich bei der Art der Bewirtschaf-
tung um eine ackerbauliche Nutzung handelt, die aber
genauso auf Nachhaltigkeit ausgelegt ist.

Holz ist mit Abstand der wichtigste Energieträger im
Bereich der erneuerbaren Energien in Deutschland, und
deshalb ist genügend Energieholz eine wichtige Voraus-
setzung, um die erneuerbaren Energien in Deutschland
auszubauen und unsere ehrgeizigen Klimaschutzziele zu
erreichen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ein zweites Anliegen des Gesetzentwurfes ist, die
Waldbesitzer bei der Verkehrssicherungspflicht zu ent-
lasten. Von den Waldbesitzern wird einerseits aus Natur-
schutzgründen verlangt, vermehrt Totholz und umgefal-
lene Bäume im Wald zu belassen, wodurch sich
andererseits mehr Gefahrensituationen für die – glückli-
cherweise zahlreicher werdenden – Naherholungssu-
chenden ergeben können. Da der Wald für alle zugäng-
lich ist und dies auch bleiben soll und muss, dürfen die
Waldbesitzer nicht zur Haftung für waldtypische Gefah-
ren herangezogen werden.
Als Drittes ist im Gesetzentwurf vorgesehen, die
Aufgaben der forstwirtschaftlichen Vereinigungen zu
erweitern. Um den Waldeigentümern zukünftig den
Holzverkauf zu erleichtern, will der Gesetzentwurf errei-
chen, dass die forstwirtschaftlichen Vereinigungen das
Holz ihrer Mitglieder auch vermarkten dürfen. Dies
stärkt die Waldbesitzer auf einem Holzmarkt, der mehr
und mehr durch Konzentrationsprozesse auf der Abneh-
merseite gekennzeichnet ist, wie die Kollegin Happach-
Kasan bereits ausgeführt hat.

Alles in allem geht der Gesetzentwurf des Bundesra-
tes in die richtige Richtung. Die CDU/CSU will diesen
Gesetzentwurf unterstützen, weil er wichtige Vorgaben
unserer Koalitionsvereinbarung aufgreift.

Ich danke dem Land Niedersachsen, heute durch die
ehemalige Kollegin Frau Ministerin Astrid Grotelüschen
vertreten, dass dieser Gesetzentwurf über den Bundesrat
in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht wurde.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


In unseren Beratungen im Bundestag, zu denen auch
eine Anhörung am 7. Juni gehört, sollte nun überlegt
werden, ob noch Ergänzungen am Gesetzentwurf erfor-
derlich sind. Diverse Gedanken dazu haben wir bereits
eingebracht.

Was nach unserer Auffassung nicht explizit im Bun-
deswaldgesetz festgeschrieben werden sollte, ist die gute
fachliche Praxis in der Waldwirtschaft, liebe Kollegin-
nen von der Opposition. Denn der Waldbericht 2009
macht unter anderem deutlich, dass die Waldstrukturen
in Deutschland sehr vielfältig sind. Deshalb tritt die
Union dafür ein, die gute fachliche Praxis wie seither
von den Ländern durch Vorgaben für eine ordnungs-
gemäße Forstwirtschaft regeln zu lassen. Die nachhal-
tige Wirtschaftsweise ist ohnehin bereits festgeschrie-
ben.

Eine Neustrukturierung würde zu einem hohen Kon-
trollaufwand und damit zu noch mehr Bürokratie für alle
Beteiligten führen. Aus meiner Sicht sollten wir viel-
mehr darauf achten, dass in der Forstverwaltung und in
der Forstwirtschaft auch in Zukunft genügend gut ausge-
bildete Fachkräfte eingesetzt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die Bundesregierung hat erfreulicherweise angekün-
digt, im Herbst dieses Jahres die Waldstrategie 2020
vorzulegen. Auch deshalb lehnen wir weitergehende An-
träge der Opposition zum jetzigen Zeitpunkt ab.

Die nicht leichte Aufgabe für die Zukunft besteht da-
rin, den Wald zu schützen, geänderte Nutzungsansprü-
che mit der Leistungsfähigkeit des Waldes in Einklang
zu bringen und den Wald auf die Klimaveränderungen
vorzubereiten. Lassen Sie uns mit der Novellierung des
Waldgesetzes die richtigen Rahmenbedingungen dafür
schaffen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704323200

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/1220, 16/13350, 17/1050, 17/1586
und 17/1743 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan-
den? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so
beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 sowie Zusatz-
punkt 8 auf:

14 Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Kaczmarek, Dirk Becker, Marco Bülow, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Naturnahen Wasserhaushalt durch Schutz
und Renaturierung von Nass- und Feuchtge-
bieten fördern – Hochwassergefahren min-
dern, Klima schützen

– Drucksache 17/1748 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Nicole
Maisch, Undine Kurth (Quedlinburg), Dorothea
Steiner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Auenschutzprogramm vorlegen

– Drucksache 17/1760 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sich
um die Reden der Kollegen Ingbert Liebing, Josef
Göppel, CDU/CSU, Oliver Kaczmarek, SPD, Horst
Meierhofer, FDP, Sabine Stüber, Die Linke, Nicole
Maisch, Bündnis 90/Die Grünen.1)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/1748 und 17/1760 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die
Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
zung der Richtlinie des Europäischen Parla-
ments und des Rates über Endenergieeffizienz
und Energiedienstleistungen

– Drucksache 17/1719 –

1) Anlage 2
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Auch zu diesem Tagesordnungspunkt wollen wir die
Reden zu Protokoll nehmen. Es handelt sich um die Re-
den der Kollegen Thomas Bareiß und Dr. Georg
Nüßlein, CDU/CSU, Rolf Hempelmann, SPD, und
Klaus Breil, FDP, sowie der Kolleginnen Dorothée
Menzner, Die Linke, und Ingrid Nestle, Bündnis 90/Die
Grünen.2)

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/1719 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 sowie die Zu-
satzpunkte 9 und 10 auf:

16 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Ilja
Seifert, Dr. Martina Bunge, Heidrun Bluhm, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Konven-
tion über die Rechte von Menschen mit Behin-
derungen vorlegen

– Drucksache 17/1578 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus

ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Monika Lazar, Katja Dörner, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Bericht der Bundesregierung über die Lage
behinderter Menschen und die Entwicklung
ihrer Teilhabe umfassender und detaillierter
vorlegen

– Drucksache 17/1762 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

ZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Markus
Kurth, Elisabeth Scharfenberg, Katja Dörner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

2) Anlage 3





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

Handlungsaufträge aus dem UN-Übereinkom-
men über die Rechte von Menschen mit Behin-
derungen

– Drucksache 17/1761 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-
schlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Ilja Seifert von der Fraktion Die Linke
das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704323300

Politische Entscheidungen … müssen sich an den
Inhalten der UN-Konvention über die Rechte der
Menschen mit Behinderungen messen lassen.

Das ist ein Zitat aus dem Koalitionsvertrag, Herr Prä-
sident, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen. Aber was haben Sie denn bisher politisch ent-
schieden? Sie haben die Kriegseinsätze verlängert. Das
erhöht höchstens die Zahl der behinderten Menschen,
hilft ihnen aber nicht. Sie haben den Haushalt 2010 ver-
abschiedet und darin nicht einmal der Bundeszentrale für
politische Bildung den Auftrag erteilt, wenigstens über
das Vorhandensein der UNO-Konvention, geschweige
denn über ihre Inhalte, aufzuklären. Außerdem haben
Sie sehr viel Geld für Banken ausgegeben.

Dies wiederum lässt bei Menschen mit Behinderun-
gen große Befürchtungen erwachsen, dass Teilhabe-
sicherung und Nachteilsausgleich oder eine Veränderung
der Eingliederungshilfe auf den Sankt-Nimmerleins-Tag
verschoben werden. Das alles sind Dinge, die Menschen
mit Behinderungen wirklich helfen würden.


(Beifall bei der LINKEN)


Aber Sie haben es bisher nicht für nötig erachtet, ir-
gendeine Debatte zu führen oder gar irgendeine Ent-
scheidung für Menschen mit Behinderungen und die
Weiterentwicklung der Behindertenpolitik zu treffen.
Deshalb bietet die Linke Ihnen heute die Möglichkeit,
erstmalig in dieser Legislaturperiode über dieses Thema
zu reden. Das Thema lautet: Verbesserung der Teilhabe-
möglichkeiten für Menschen mit Behinderungen. Bei Ih-
nen nur Zögern und Zaudern!

Unsere Initiative, unser Antrag, diese Debatte heute
zu führen, will nichts anderes als eine Beschleunigung
und Verbesserung der Arbeit an der Umsetzungskonzep-
tion für die UNO-Konvention.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir

– ich zitiere wiederum Ihren Koalitionsvertrag –

treten für eine tatsächliche Teilhabe von Menschen
mit Behinderungen am gesellschaftlichen Leben
ein.

Ja, wo denn bitte? Wo treten Sie denn dafür ein? Bis jetzt
haben Sie dafür noch gar nichts getan.

Unser Ziel ist,

– wiederum Zitat Koalitionsvertrag –

die Rahmenbedingungen für Menschen mit und
ohne Behinderungen positiv zu gestalten.

Ja, dann tun Sie es doch bitte, und lassen Sie Ihr Zögern
und Zaudern!


(Beifall bei der LINKEN)


Ich sage Ihnen einmal, was Sie schon hätten tun kön-
nen: Sie hätten Barrierefreiheit als Kriterium für öffentli-
che Ausschreibungen verpflichtend einführen können.
Das haben Sie nicht gemacht, genau wie Ihre Vorgänger-
regierung, die das nicht einmal bei den Konjunkturpro-
grammen getan hat. Sie hätten eine Optimierung des
Persönlichen Budgets vornehmen können. Sie hätten die
Elternassistenz einführen können. Sie hätten – das habe
ich vorhin schon einmal gesagt – die Bundeszentrale für
politische Bildung damit beauftragen können, eine ent-
sprechende Kampagne einzuleiten. Dies hätte nicht ein-
mal Geld gekostet. Sie hätten, liebe Damen und Herren
von der Regierung, in jeder Ihrer Reden erwähnen kön-
nen, dass es in unserem Land Menschen mit Behinde-
rung gibt, die das Recht haben, von Ihnen wahrgenom-
men zu werden, und teilhaben wollen. Das hätte
überhaupt nichts gekostet, hätte aber gezeigt, dass Sie
wissen, dass Sie eine Verpflichtung haben, für diese
10 Prozent der Bevölkerung etwas zu tun.


(Beifall bei der LINKEN)


Das haben Sie unterlassen. Wir registrieren Zögern und
Zaudern.

Nun setzen Sie endlich eine Arbeitsgruppe ein, die ei-
nen Aktionsplan erarbeiten soll. Aber über die Ergeb-
nisse soll erst im März nächsten Jahres im Kabinett bera-
ten werden, anderthalb Jahre nach der Bundestagswahl,
zwei Jahre nach Inkrafttreten der Konvention als Bun-
desgesetz. Übrigens findet die Beteiligung der Betroffe-
nen an der Erarbeitung dieses Aktionsplans auf der
Spielwiese statt. Der Beauftragte der Bundesregierung
für die Belange behinderter Menschen darf mit den Ver-
bänden und deren Vertreterinnen und Vertretern so tun,
als ob irgendeine Beteiligung stattfände. Die eigentliche
Arbeitsgruppe ist im Arbeitsministerium angesiedelt.





Dr. Ilja Seifert


(A) (C)



(D)(B)

Das ist alles andere als die Umsetzung des Mottos
„Nicht ohne uns über uns!“.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Konvention böte gute Chancen, ein Nutzen-für-
alle-Konzept zu etablieren. Lassen Sie es uns gemein-
sam tun! Überwinden wir gemeinsam das Zögern und
Zaudern rasch und gut!


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704323400

Das Wort hat jetzt die Kollegin Maria Michalk von

der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Maria Michalk (CDU):
Rede ID: ID1704323500

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Die Rechte der Menschen mit Behinderung sind
seit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonven-
tion vor gut einem Jahr in Deutschland eben nicht nur
allgemeine Bürgerrechte, sondern ein Umsetzungsauf-
trag, der alle angeht; darin sind wir uns einig. Wir wissen
und erkennen an, dass Diskriminierung und gesellschaft-
liche Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung ein
Verstoß gegen fundamentale Menschenrechte sind.
Diese gilt es zu schützen, zu respektieren und durchzu-
setzen, und das auf nahezu jedem Politikfeld. Trotzdem
kennt jeder von uns gelebte Beispiele, wo gerade das
nicht geschieht. Deshalb setzt die UN-Konvention in der
Tat einen Akzent zur allgemeinen öffentlichen und allge-
genwärtigen Diskussion über den Wert unseres mit-
menschlichen Zusammenlebens und die Verantwortung
füreinander.

Viele politische Entscheidungen berühren die Be-
lange von Menschen mit Behinderung. Es handelt sich
tatsächlich um ein Querschnittsthema. Ich verweise aus-
drücklich auf viele gesetzliche Regelungen in unserem
Land, die in all den Jahren gemeinsam erstritten und er-
kämpft, aber auch umgesetzt wurden. Mir ist es ein be-
sonderes Bedürfnis, daran zu erinnern, welche großarti-
gen ideellen und materiellen Hilfen vor allem Familien,
Betroffene und Einrichtungen in den neuen Bundeslän-
dern in den vergangenen 20 Jahren in der Betreuung von
behinderten Menschen erfahren haben. Viele wissen,
welche Zustände zuvor herrschten. Wir danken, dass es
heute wesentlich besser ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Nicht alles ist aber perfekt; auch darin sind wir uns ei-
nig. Wir wissen, dass wir immer wieder mit Umset-
zungsproblemen zu kämpfen haben. Uns beschweren
Schnittstellensituationen, in denen sich die Betroffenen
ob der Diskussion, wer eigentlich zuständig ist oder wer
nicht, im Regen stehen gelassen fühlen. Deshalb hat die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion ein objektives Interesse
daran, unseren Regelmechanismus an den Zielen der
UN-Behindertenrechtskonvention auszurichten.


(Mechthild Rawert [SPD]: Oh! Da müssen ja viele Gesetze geändert werden!)

Wir werden nicht alles auf einmal machen. Es müssen
Prioritäten gesetzt werden, und darüber findet eine im-
mer stärkere öffentliche Diskussion statt. Nach wie vor
sehen wir große Handlungsfelder. Ich möchte drei nen-
nen: die Barrierefreiheit, die Bildung und den Arbeits-
markt.

Zum ersten Feld, der Barrierefreiheit. Das ist ein wei-
tes Feld, und deshalb ist die Barrierefreiheit zentral in
dieser Konvention. Eine konsequent barrierefreie Um-
welt ist elementar für die umfassende gesellschaftliche
Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Ob im öffent-
lichen Nahverkehr, in öffentlichen Gebäuden, in Arzt-
praxen, in Privatwohnungen, in Restaurants, in Hotels
oder in der Tele- und Internetkommunikation, am Ar-
beitsplatz, im Theater oder im Supermarkt – hier erlebt
der betroffene Mensch seine wahre Teilhabe. Hier ent-
scheidet sich unter anderem, ob er glücklich oder eben
auch unglücklich ist. Es muss für Menschen mit Behin-
derung selbstverständlich sein, sich überall, vom Kino
bis zum Internetportal, unbehindert bewegen zu können.
Je mehr das jeder von uns allen verinnerlicht, desto
selbstverständlicher wird das in unserer Gesellschaft
werden. Wer dabei ist, braucht nicht mehr integriert zu
werden. Ohne Barrierefreiheit keine Inklusion und um-
gekehrt.

Der zweite Schwerpunkt ist die Bildung. Wir wissen:
Die Grundlagen für die berufliche Zukunft werden mit
der Schulbildung gelegt. Gerade wenn es um die Ausbil-
dung von Kindern mit Behinderung geht, haben wir in
Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern ein Um-
denken nötig. Wir sind mit der Ratifizierung der UN-
Konvention aufgefordert, für diese Kinder gleich gute
Startbedingungen zu schaffen. Das bisherige zweiglei-
sige Konzept von Förder- und Regelschulen gehört der
Vergangenheit an.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])


Die Konvention macht klare Vorgaben, wie die Schule in
Zukunft aussehen wird. Eine inklusive Bildung von An-
fang an, also vom Kindergarten bis zur Universität, lau-
tet das Ziel. Auch hier gilt: Wer von klein auf nie ausge-
schlossen war, der muss auch später als Jugendlicher und
Erwachsener nicht integriert werden. Aber noch einmal:
Wir werden nicht alles auf einmal umsetzen, wir werden
Schritt für Schritt an dieser Verwirklichung arbeiten.


(Mechthild Rawert [SPD]: Das muss in dieser Legislaturperiode geschehen!)


Alle, Bund und Länder gleichermaßen, haben den Vor-
gaben der Konvention zugestimmt. Daher gibt es jetzt
keine Ausflüchte mehr. So konsequent will ich das hier
formulieren. Das Ziel muss mit vereinten Bundes- und
Länderkräften gemeinsam umgesetzt werden. Der Auf-
bau eines inklusiven Schulsystems lässt sich nicht allein
mit pädagogisch ausgefeilten Konzepten oder angepass-
ten Schulgesetzen stemmen. Ganz wesentlich ist, dass
sich in den Köpfen aller Beteiligten ein Wandel voll-
zieht. Dieser neue Ansatz, diese notwendige Reform
wird mit Sicherheit zunächst bei vielen auf Skepsis oder





Maria Michalk


(A) (C)



(D)(B)

auch Vorurteile stoßen, was wir hier und da schon erle-
ben können. Aber wir brauchen Eltern, Lehrer, Schüler,
die Medien, die Kommunalpolitiker, ja, eigentlich alle,
um dieses schöne Ziel zu erreichen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Unsere politische Aufgabe ist es, sie für die immensen
Vorteile der inklusiven Bildung zu gewinnen, zu sensibi-
lisieren.


(Beifall des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE] – Zuruf von der LINKEN: Fangen Sie mit Ihrer Frau Ministerin an!)


Wer die Vielfalt der Menschen bereits im Kindergarten
und in der Schule erfährt, für den wird das gemeinsame
Miteinander am Arbeitsplatz oder in der Freizeit ganz
selbstverständlich werden. Das ist ein großer Gewinn,
ein Schritt hin zu einer toleranten Gesellschaft, in der
niemand aufgrund seiner Behinderung ausgeschlossen
wird. So wollen wir unser Zukunftshaus bauen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Als dritte Säule hat die Beschäftigung eine Schlüssel-
funktion. Das ist eine Komponente, um die wir alle rin-
gen müssen. Nicht nur in Zeiten der Finanz- und Wirt-
schaftskrise haben es Menschen mit Behinderung
besonders schwer, auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu
fassen. Das ist kein Geheimnis. Doch unabhängig davon
unterlag die gesamte Berufswelt in den vergangenen
Jahrzehnten einem starken Wandel, dem sich alle Arbeit-
nehmer ausgesetzt sehen. Unsere heutige auf Wissen ba-
sierende Dienstleistungsgesellschaft erwartet als Kern-
kompetenzen Bildung und lebenslanges Lernen. Sie sind
die Voraussetzung für alle Menschen geworden. In der
Vergangenheit hat die Bundesregierung viele Instru-
mente entwickelt – das wird wohl niemand hier bestrei-
ten können –, um auf die besonderen Bedürfnisse von
Menschen mit Behinderung einzugehen und diese in
eine reguläre Beschäftigung zu integrieren.

Doch leider zeigt die aktuelle Arbeitslosenstatistik
auch, dass wir offensichtlich nicht effizient genug
gewirkt haben. Hier gilt es, den Hebel anzusetzen. Was
funktioniert, ist weiter zu fördern. Doch darüber hinaus
sind neue Möglichkeiten auszuhandeln und umzusetzen.

Fest steht: Wir sind aktuell noch weit von einer inklu-
siven Arbeitswelt entfernt. Hier gilt es, in den Köpfen
der Arbeitgeber bestehende Barrieren abzubauen. Men-
schen mit Behinderung sind leistungsfähige Arbeitneh-
mer. Sie sind zum Teil auch selber Arbeitgeber, also
Unternehmer. Das sollten wir in der Diskussion auch
öffentlich stärker hervorheben, und wir sollten ihre Leis-
tungen auch würdigen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])


Wichtige Voraussetzungen sind natürlich immer die
äußeren Bedingungen. Sie müssen den Bedürfnissen
angepasst sein. Einschränkungen gehen nicht auf ein
individuelles Defizit zurück – so will ich es einmal for-
mulieren –, sondern das Defizit ergibt sich aus den be-
stehenden Hürden, die den Menschen in der konkreten
Situation im Wege stehen. Diese einzudämmen und zu
beseitigen, ist die konkrete Aufgabe. Damit tut sich man-
cher Arbeitgeber schwer. Wir möchten noch einmal
daran erinnern, dass Arbeitgeber materielle Unterstüt-
zung erhalten können. Viele nutzen diese Möglichkeit
auch. Leider aber ist es immer noch weit verbreitet, diese
Mühe mit der Zahlung der Behindertenabgabe zu umge-
hen. Auch das müssen wir stärker öffentlich thematisie-
ren. Wir müssen das Problem gemeinsam lösen.

Sie merken, meine Damen und Herren: Die Anforde-
rungen sind hoch. Die Vorgaben der UN-Konvention
sind komplex und deshalb nicht von heute auf morgen
umsetzbar. Aber wir müssen unsere Anstrengungen
intensivieren. Darin sind wir uns einig. Das ist der ein-
zige gemeinsame Nenner, den ich in den drei jetzt zur
Debatte stehenden Anträgen finde.

Die Bundesregierung arbeitet aktuell an dem dafür
notwendigen nationalen Aktionsplan. Sie tut es intensiv
unter Beteiligung der Betroffenen und aller Verbände
und Interessenvertretungen. Sie arbeitet mit Hochdruck,
aber auch – das füge ich hinzu – mit Ruhe; denn mit dem
nationalen Aktionsplan werden die fundamentalen Wei-
chen für die Umsetzung gestellt. Alle Aspekte, die für
Menschen mit Behinderung wichtig sind, werden zur
Kenntnis genommen und einbezogen. Das ist der
Anspruch, dem sich unsere Bundesregierung im Bundes-
ministerium für Arbeit und Soziales stellt. Dazu trifft sie
sich mit den Interessenvertretern von Menschen mit Be-
hinderung. Sie werden als Experten in eigener Sache in
die konzeptionelle Vorbereitung eingebunden; das kann
wohl niemand bestreiten; das ist Fakt.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das kostet Zeit, die wir uns, wie ich finde, aber auch
gönnen sollten.

An diesem Vorgehen wird deutlich: Das Prinzip der
Inklusion ist der Leitgedanke bereits in der Planungs-
phase; das geht nicht auf die Schnelle. Menschen mit
Behinderung können ihre Kritik, aber auch ihre Erfah-
rung von Anfang an mit einbringen und damit den Um-
setzungsprozess konstruktiv beeinflussen und, wenn es
gut geht, sogar beschleunigen.

Was bereits bei den Verhandlungen im Entstehungs-
prozess der Konvention als Leitlinie galt, wird auch wei-
terhin gelten. „Nicht über uns ohne uns!“ lautet der Leit-
satz.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Bundesregierung ist auf einem sehr guten Weg.
Wir werden diesen Prozess als Parlament auch weiterhin
gut begleiten. Wir wissen, das wird auch unser Parla-
ment erreichen. Lieber Kollege Dr. Seifert, ich kann
Ihnen jetzt nicht ersparen, zu sagen: Ich wundere mich
sehr darüber, dass Sie in Ihrem Antrag den
30. November als Zielpunkt formulieren. Sie wissen
doch, dass alle Behindertenverbände und alle Interessen-
vertreter dem vorgesehenen Zeitplan zugestimmt haben.





Maria Michalk


(A) (C)



(D)(B)

Wir haben jetzt die Möglichkeit, viele Dinge, die
noch nicht richtig umgesetzt sind, gemeinsam zu gestal-
ten und auf den Weg zu bringen.

Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704323600

Das Wort hat die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm von

der SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Rede ID: ID1704323700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Frau Michalk, schade, dass Sie bzw. Ihre Fraktion kei-
nen Antrag bzw. Gesetzentwurf vorgelegt haben. So ha-
ben wir nur Ihre schönen Worte.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Richtig!)


Die Linken und Bündnis 90/Die Grünen haben An-
träge vorgelegt. Sie fordern die Bundesregierung auf, die
UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit
Behinderungen umzusetzen. Wir begrüßen diese Initia-
tive.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Gitta Connemann [CDU/ CSU]: Wo ist Ihr Antrag, Frau Hiller-Ohm?)


Die Umsetzung der UN-Konvention ist auch für uns
überaus wichtig.

Es ist gut, dass wir heute, trotz der späten Stunde, un-
sere Reden halten, statt sie, Herr Seifert, wie leider
schon oft bei diesem Thema zu Protokoll zu geben und
auf diese Weise in Ordnern verschwinden zu lassen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE])


Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, Ihr
Antrag geht in die richtige Richtung. Wir hätten uns je-
doch konkretere Forderungen gewünscht.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Sie hätten ja einen Antrag vorlegen können!)


Auch lassen Sie die komplizierten föderalen Verflech-
tungen weitgehend unberücksichtigt. Gleiches gilt für
die Arbeit in den Ländern. Hier geht der Antrag über-
haupt nicht auf das ein, was dort bereits angestoßen
wurde.

Inhaltliche Schwierigkeiten sehe ich unter folgenden
sieben Gesichtspunkten.

Erstens. Der Antrag verwendet den Begriff der Inklu-
sion und fordert, dass dieser, wie Sie es ausdrücken, „er-
schlossen“ wird. Die SPD-Bundestagsfraktion ist der
Meinung, dass man eher die Definition von Inklusion
stärker herausheben sollte. Der Begriff muss nicht neu
erschlossen, sondern klarer definiert werden.


(Beifall bei der SPD)

Wir bedauern sehr, dass für die deutsche Übersetzung
der UN-Behindertenrechtskonvention auf Betreiben der
von CDU und CSU regierten Bundesländer darauf
bestanden wurde, Inklusion mit „Einbeziehung“ und
„Integration“ zu übersetzen. Diese Übersetzung ist irre-
führend. Während Inklusion von einer unmittelbaren Zu-
gehörigkeit von Menschen mit Behinderung in der Ge-
sellschaft ausgeht, sieht die deutsche Übersetzung dies
aus der Außenperspektive, und zwar aus der Sicht der
Menschen ohne Behinderung. Einbeziehung bedeutet,
jemanden hereinholen; Inklusion dagegen bedeutet eine
unmittelbare gesellschaftliche Zugehörigkeit. Das ist es,
was wir wollen.


(Beifall bei der SPD)


Insofern braucht man den Begriff nicht neu zu erschlie-
ßen, wie Sie es sagen, sondern man muss ihn klar defi-
niert anwenden. Das muss Teil des Aktionsplans sein.

Zweitens. Die Bemerkungen zur Teilhabesicherung
im Antrag werfen eine grundlegende Frage auf. Es liest
sich hier so, als ob eine Trennung zwischen dem Persön-
lichen Budget einerseits und dem Ausbau der Versor-
gungsinfrastruktur andererseits vorgenommen werden
soll. Das eine darf das andere aber nicht ausschließen. Es
gibt Bedarfe, die sicherlich besser durch eine vorzuhal-
tende Infrastruktur bedient werden sollten. Dazu zählen
zum Beispiel die Integrationsfachdienste, Dienste in öf-
fentlichen Einrichtungen oder medizinische Dienste.
Bedarfe, die sich anhand der Nachfrage aus Persönlichen
Budgets ergeben, kommen hinzu. Der heute vorliegende
Antrag stellt diese Kombination zwar in Aussicht, aller-
dings aus unserer Sicht viel zu unbestimmt. Ich rate Ih-
nen, Herr Seifert: Werden Sie konkreter;


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Jederzeit!)


sonst – da bin ich mir sicher – überfordern Sie diese
Bundesregierung mit selbstständigem Denken.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und der LINKEN – Gitta Connemann [CDU/CSU]: Ha, ha, ha! Sie sind so unglaublich komisch, Frau Kollegin! Ich lache mich tot!)


Drittens. Auch was den Punkt der beruflichen Teil-
habe anbelangt, bleibt der Antrag leider unkonkret. Der
Aktionsplan muss dringend mit einer Reform der Ein-
gliederungshilfe verknüpft werden. Wir brauchen hier
aber konkrete Aussagen zum Beispiel zur Zukunft der
Werkstätten und der Integrationsämter, zur beruflichen
Rehabilitation und auch zur Rolle der Kostenträger.

Viertens. Was der Antrag zum selbstbestimmten Woh-
nen sagt, ist vollkommen richtig. Allerdings sind wir
hier schon weiter.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704323800

Frau Kollegin Hiller-Ohm, erlauben Sie eine Zwi-

schenfrage des Kollegen Seifert?


Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Rede ID: ID1704323900

Das möchte ich jetzt nicht, Herr Seifert.





Gabriele Hiller-Ohm


(A) (C)



(D)(B)


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Da entgeht Ihnen etwas! – Gitta Connemann [CDU/CSU]: Spontaneität ist nicht Ihre Sache!)


– Wir haben dazu noch andere Gelegenheiten. Unsere
Berichterstatterin, Frau Silvia Schmidt, kann das direkt
mit Ihnen klären, wenn Ihnen das recht ist.

Was im Antrag zum selbstbestimmten Wohnen steht,
ist richtig. Allerdings sind wir hier schon weiter. Ich zi-
tiere aus dem Eckpunktepapier der Bund-Länder-Ar-
beitsgruppe der Arbeits- und Sozialministerkonferenz:

Die notwendige Unterstützung des Menschen mit
Behinderungen orientiert sich nicht mehr an einer
bestimmten Wohnform.

Weiter heißt es:

Die bisherigen Regelungen zur Zumutbarkeit sind
nicht mehr erforderlich. Das Wunsch- und Wahl-
recht wird weiterhin gewährleistet.

Fünftens: zur Statistik. Die von der Konvention gefor-
derten Daten müssen selbstverständlich auch in den Be-
hindertenbericht der Bundesregierung einfließen. Wir
fordern, den Bericht und seine Rechtsgrundlage auch da-
hin gehend zu überprüfen.

Sechstens. Was den Punkt „Armut und Behinderun-
gen“ im Antrag betrifft, begrüßen wir die Stoßrichtung
ausdrücklich. Aber auch hier muss viel deutlicher her-
vorgehoben werden, dass keine Sonderbehandlung, son-
dern Inklusion angestrebt wird.


(Beifall bei der SPD)


Es geht um Teilhabe und Leben inmitten der Gesell-
schaft. Die sozialen Gründe, warum Menschen mit Be-
hinderung von Armut bedroht sind, müssen aufgezeigt
werden. Hier von spezifischen Bedarfen zu sprechen, ist
aus unserer Sicht inhaltlich zu dünn und nicht zielfüh-
rend.

Siebtens. Schlussendlich hegen wir große Bedenken,
ob ein Ultimatum zum 30. November 2010 sinnvoll ist;
da stimme ich Ihnen, Frau Kollegin Michalk, zu. Selbst-
verständlich wollen wir die Situation von Menschen mit
Behinderung verbessern, und selbstverständlich wollen
auch wir die schnelle Umsetzung der UN-Konvention.
Ein Hauruckverfahren zulasten der Betroffenen lehnen
wir jedoch ab.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Hauruck nach anderthalb Jahren!)


Meine Damen und Herren, auch die Anträge des
Bündnisses 90/Die Grünen gehen in die richtige Rich-
tung. Aber auch hier vermissen wir den einen oder ande-
ren wichtigen Aspekt, zum Beispiel die Reform der
Eingliederungshilfe nach den Vorgaben der UN-Kon-
vention. Wir müssen wirksam verhindern, dass am Ende
des Persönlichen Budgets nicht doch wieder eine statio-
näre Unterbringung praktiziert wird, obwohl andere
Wünsche bestehen.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo nehmen Sie das denn her? Das steht nicht in unserem Antrag!)

Im Hinblick auf den entsprechenden Antrag der Grü-
nen befürchte ich in diesem Zusammenhang einen Deu-
tungsspielraum, der von der Bundesregierung ausgenutzt
werden kann. Der hessische Ministerpräsident hat
bereits anklingen lassen, dass alle Leistungen, auch oder
vielleicht besonders solche im sozialen Bereich, auf den
Prüfstand gestellt werden sollen. Umso wichtiger ist es,
Diskussionen über mögliche Leistungskürzungen von
Anfang an zu verhindern.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Und wo sollen wir sparen?)


Ich komme zum Schluss. Wir brauchen eine starke In-
klusion, einen starken politischen Durchsetzungswillen
und natürlich auch die nötige Durchsetzungskraft. Die
heute vorliegenden Anträge, in denen wichtige Fragen
gestellt werden, bieten einen guten Aufschlag. Die SPD-
Fraktion wird einen eigenen Antrag vorlegen, in dem wir
alle bemängelten Aspekte aufgreifen und dem wir hier in
diesem Hause gemeinsam zustimmen können.

Danke.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704324000

Das Wort hat jetzt die Kollegin Gabriele Molitor von

der FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Gabriele Molitor (FDP):
Rede ID: ID1704324100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da-

zugehören von Anfang an und ohne Wenn und Aber, das
ist es, was Menschen mit Behinderung möchten. Unser
Ziel muss es sein, ein selbstverständliches Miteinander
von behinderten und nicht behinderten Menschen zu
erreichen; das ist unsere Aufgabe. Lieber Herr Seifert,
ich hätte mich sehr darüber gefreut, wenn Sie in Ihrem
Redebeitrag darauf eingegangen wären und konkrete
Vorschläge dazu eingebracht hätten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Das habe ich doch gemacht!)


Die UN-Behindertenrechtskonvention markiert einen
Meilenstein auf dem Weg zu einer selbstbestimmten
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Das Zauberwort
– es ist heute Abend schon häufiger genannt worden –
heißt Inklusion. Damit ist gemeint, dass sich die Gesell-
schaft und nicht der Einzelne auf die Rahmenbedingun-
gen der Menschen mit Behinderung einzustellen hat.


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Genau!)


Wir verstehen Behinderung nämlich nicht als Schwäche,
sondern sie ist Teil menschlicher Normalität, und Behin-
derte gehören nicht an den Rand der Gesellschaft, son-
dern sie sind wichtiger Teil von uns.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Richtig!)






Gabriele Molitor


(A) (C)



(D)(B)

Die Konvention hat aber nicht nur eine neue Denk-
richtung vorgegeben, sondern ein Umdenken eingeleitet;
ein Bewusstseinswandel ist im Gang. Dabei müssen wir
sehr behutsam sein, also nicht blind dafür sein, inwiefern
Inklusion vor Ort schon gelebt wird. Wir würden viele
Menschen vor den Kopf stoßen, wenn wir jetzt so täten,
als müssten wir von Bundesseite jetzt erst alles in Gang
setzen und anstoßen. Diesen Eindruck erwecken aber die
uns vorgelegten Anträge. Darin ist nur die Rede davon,
gesetzliche Fristen zu verschärfen, Sanktionen einzufüh-
ren usw.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Da haben Sie aber nur die Hälfte gelesen!)


Natürlich müssen wir handeln. Deutschland hat den
Willen dazu unter Beweis gestellt; denn die Behinder-
tenrechtskonvention wurde 2009 ratifiziert.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Nach langem, zähem Ringen!)


Wir sollten aber darauf schauen, was die Betroffenen
wollen, die eine oder sogar mehrere Behinderungen ha-
ben: Was sind ihre Wünsche und Möglichkeiten? Des-
wegen haben wir in der Koalition gesagt: Wir wollen ei-
nen Aktionsplan aufsetzen. Wir haben hier einen Anstoß
gegeben und bewusst eine sehr offene Formulierung ge-
wählt, weil wir hier keine Vorgaben machen wollen.


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Genau!)


Vielmehr wollen wir in der Diskussion mit allen zusam-
men ein Konzept entwickeln, wie wir das Leben mitei-
nander verbessern können. Das ist unser Ansatz.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Es gibt bereits viele wichtige und gute Ansätze. Ich
möchte zwei Stichpunkte nennen: die unterstützte Be-
schäftigung und das Persönliche Budget. Es geht darum,
diese positiven Beispiele weiterzuentwickeln. Wir kön-
nen in der Praxis schon viele gute Modelle beobachten,
zum Beispiel die integrativen Kindertagesstätten,


(Mechthild Rawert [SPD]: Viel zu wenige!)


die in meinen Augen eine Erfolgsgeschichte sind.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Mechthild Rawert [SPD]: Wie viel Prozent?)


– Natürlich können es noch mehr werden; das möchte
ich gar nicht in Abrede stellen. Aber ich möchte die inte-
grativen Kindertagesstätten zumindest nennen.

Daneben gibt es Integrationsfirmen. Ich habe mir in
meinem Wahlkreis verschiedene Integrationsfirmen an-
gesehen. Dort wird die Teilhabe von Menschen mit Be-
hinderungen am Arbeitsleben schon unmittelbar gelebt.
Die Teilhabe am Arbeitsleben ist ein wichtiges Anlie-
gen. Vor allen Dingen die kleinen Betriebe und die Mit-
telständler nehmen ganz bewusst Menschen mit Behin-
derungen in ihren Betrieben auf, weil sie feststellen, dass
diese sehr gute Arbeit leisten können. Es profitieren also
alle davon.
Ein anderer Bereich ist heute schon angesprochen
worden, auch wenn er nicht unmittelbar in die Zustän-
digkeit des Bundes fällt: der Bildungsbereich. Der Bil-
dungsbereich hat eine wichtige Funktion; denn der Über-
gang von der Schule in die Berufsausbildung hat
natürlich eine große Bedeutsamkeit. Es geht uns Libera-
len darum, den Bildungsbereich weiter zu öffnen, damit
mehr behinderte Kinder Regelschulen besuchen können.
Ich sage hier aber ausdrücklich: Ich möchte nicht die
Möglichkeiten der Förderschulen in Abrede stellen. Es
geht doch darum, jedem Kind das seinen Fähigkeiten
entsprechende Bildungsangebot zu unterbreiten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Mechthild Rawert [SPD]: Die Kollegin Michalk wollte sie abgeschafft haben! – Gegenruf der Abg. Maria Michalk [CDU/CSU]: Das habe ich nicht gesagt!)


Gerade im Bildungsbereich geht es auch darum, die
Kommunen einzubeziehen. Wir können nicht einfach
fordern, Schulen weiter auszubauen, ohne zu sagen, wie
wir das finanzieren wollen. Das ist ein wichtiger Punkt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Maria Michalk [CDU/CSU]: Schritt für Schritt!)


Es geht darum, die Kommunen bei dieser wichtigen
Frage an die Hand zu nehmen.

Wir Liberale wollen diesen Aktionsplan, weil er für
die Umsetzung der Konvention so wichtig ist. Deswegen
haben wir uns in der Koalitionsvereinbarung dafür stark-
gemacht. Es geht aber nicht darum, jetzt einen Wettlauf
zu starten: Wer ist schneller?


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Wer ist besser? Das ist die entscheidende Frage!)


Es geht vielmehr darum, mit Bedacht zu schauen, alle
einzubeziehen und tatsächlich zu besseren Konzepten zu
gelangen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Mit der Umsetzung der UN-Konvention gehen wir
eine große Aufgabe an. Viele Politikfelder müssen ein-
bezogen werden; aber davor scheuen wir uns nicht. Wir
werden hier Konzepte vorlegen; wir sind schon an der
Arbeit. Lassen Sie uns nicht nur darauf schauen, welche
Defizite vorhanden sind! Lassen Sie uns vielmehr die
guten Beispiele zum Vorbild nehmen! Auf diese Sicht-
weise kommt es an. Wenn wir das beachten, werden wir
hier zum Erfolg kommen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704324200

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

der Kollege Markus Kurth von Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.






(A) (C)



(D)(B)


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704324300

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Wenn man diese Debatte verfolgt und die Redner
und Rednerinnen der Regierungskoalition gehört hat, so
fällt doch zweierlei auf: erstens die Widersprüchlichkeit
zwischen den Absichten und Zielen, die Sie verkünden,
und dem tatsächlichen Handeln der Regierungskoalition,
und zweitens die Unverbindlichkeit, die letztlich in Ihren
Aussagen steckt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Maria Michalk [CDU/CSU]: Das ist ja nicht wahr!)


Ganz offensichtlich gibt es Widersprüche oder Un-
klarheiten, inwieweit Sie mit der Umsetzung der Ziele
der UN-Konvention überhaupt Ernst machen wollen.


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Das ist eine Kommunikationspanne!)


Wenn Frau Molitor sagt, dass man nicht unbedingt in ei-
nen Wettlauf eintreten müsse, und ganz allgemein von
der Verbesserung der Bedingungen spricht, dann ver-
misse ich das klare Bekenntnis, dass es selbstverständ-
lich auch gesetzgeberischen Handlungsbedarf gibt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD])


Ziele, die Sie in Richtung Bildung und Arbeit formuliert
haben, lassen sich ohne gesetzgeberische Änderungen
nicht umsetzen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der SPD)


Wie erklären Sie sich dann aber, dass zum Beispiel
Staatssekretär Brauksiepe im Arbeits- und Sozial-
ausschuss am 3. März, als wir dieses Thema schon
behandelten, eindeutig erklärte, es gebe keinen gesetzge-
berischen Handlungsbedarf, jedenfalls sehe die Bundes-
regierung ihn nicht? Klären Sie das einmal auf!


(Ulrike Flach [FDP]: Vielleicht ist der einfach schlauer!)


Der zweite Punkt sind diese sehr allgemeinen Aussa-
gen. Ich fürchte, das setzt sich in dem Aktionsplan der
Bundesregierung fort. Warum klammern Sie beispiels-
weise den großen Bereich der Eingliederungshilfe für
Menschen mit Behinderungen, vom finanziellen Volu-
men und von den betroffenen Lebensbereichen her der
bedeutendste Bereich, aus dem Aktionsplan aus?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das müssen Sie wirklich einmal erklären. Sie haben her-
vorragende Vorlagen zum Beispiel durch das Eckpunkte-
papier der Arbeits- und Sozialministerkonferenz, die
sich sehr gut mit den Zielen der UN-Konvention verbin-
den ließen. Ich kann Ihnen auch sagen, was Sie ganz
konkret streichen könnten, nämlich den Mehrkostenvor-
behalt, wenn es um das Wunsch- und Wahlrecht geht,
unabhängige Assistenz bei der Wahrnehmung des Per-
sönlichen Budgets und viele andere Punkte mehr, die wir
bereits seit Jahren in unsere Anträge zur Reform der Ein-
gliederungshilfe schreiben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Maria Michalk [CDU/CSU]: Das ist ein neues Instrument! Das braucht seine Zeit!)


Vor einem weiteren Thema drückt sich die Bundesre-
gierung. Frau Michalk, ich habe es jetzt mit Freuden ge-
hört, als Sie sagten, wir müssten die Mehrgliedrigkeit im
Bildungssystem überwinden und brauchten als Ziel den
gemeinsamen Unterricht. Aber auf acht mündliche Fra-
gen der Grünen-Fraktion hat die Bundesregierung die
Verantwortung für den Bildungsbereich in Gänze von
sich gewiesen;


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Das ist gemeinsame Verantwortung von Bund und Ländern! Haben Sie das überhört?)


sie hat ihre gesamtstaatliche Verantwortung verleugnet.
Dabei wäre das wichtig. Art. 8 der UN-Konvention er-
legt der Bundesregierung die Pflicht auf, wirksame
Kampagnen zur Bewusstseinsbildung einzuleiten, ge-
rade im Bildungssystem. Das ist der Schlüssel für die
von Ihnen beschworenen Veränderungen in den Köpfen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Was es bedeuten kann, wenn aus diesem Parlament
und von dieser Regierung keine klaren Bekenntnisse zu
den Zielen und Rechten der UN-Konvention kommen,


(Gabriele Molitor [FDP]: Sie haben nicht zugehört!)


zeigt sich in der bayerischen Provinz. Es liegt nämlich
ein gemeinsames Schreiben des Bayerischen Städtetags,
des Bayerischen Gemeindetages und des Bayerischen
Landkreistages vor, das mit Einsparmöglichkeiten im so-
zialen Bereich aufwartet. Das müssen Sie sich einmal
angucken. Darin wird offensiv das Wunsch- und Wahl-
recht der Menschen mit Behinderungen infrage gestellt;
es soll eingeschränkt werden. In stationären Einrichtun-
gen sollen Einbettzimmer eher zur Ausnahme werden,
und Menschen mit Behinderungen und deren Verwandte
sollen an den Kosten der Eingliederungshilfe weitaus
stärker beteiligt werden. Das sind kleinteilige und wirk-
lich mit ganz kleiner Münze vorgenommene Sparvor-
schläge, die an der Notwendigkeit einer systemischen
Veränderung des Systems der Leistungserbringung weit
vorbeigehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dabei wäre mehr Wirtschaftlichkeit mit mehr Selbst-
ständigkeit von Menschen mit Behinderungen absolut zu
verbinden. Wir sehen, dass hier von den bayerischen
Kirchturmpolitikern, die in diesen Verbänden sitzen, fast
schon der Versuch vorsätzlicher Menschenrechtsverlet-
zungen unternommen wird.


(Maria Michalk [CDU/CSU]: Das geht aber jetzt zu weit!)


Ich fordere Sie als Bundesregierung auf – wir werden
auch unseren Teil beitragen –, nach den Kriterien der
UN-Menschenrechtskonvention jetzt ein gutes Stück vo-
ranzukommen und hier nicht mehr zuzuwarten.

Vielen Dank.





Markus Kurth


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704324400

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/1578, 17/1762 und 17/1761 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Vierten Buches Sozialgesetz-
buch und anderer Gesetze
– Drucksache 17/1684 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss

Wir werden die Reden dazu zu Protokoll nehmen. Es
handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kolle-
gen Peter Wichtel und Max Straubinger, CDU/CSU,
Anette Kramme, SPD, Johannes Vogel, FDP, Katja
Kipping, Die Linke, und Markus Kurth, Bündnis 90/Die
Grünen.


Peter Wichtel (CDU):
Rede ID: ID1704324500

Seit der Konstituierung des Deutschen Bundestages

im Herbst des vergangenen Jahres hat die Bundesregie-
rung auf dem Feld der Arbeits- und Sozialpolitik bereits
deutliche Erfolge erwirken können. Die laufenden Ge-
setzgebungsvorhaben und nicht zuletzt die jüngsten sta-
tistischen Daten des Arbeitsmarktes verdeutlichen das
nachhaltige Engagement der christlich-liberalen Koali-
tion. Mit der Verlängerung der bewährten Sonderrege-
lung der Kurzarbeit und der Jobcenterreform kann die
soziale Sicherung der Menschen auch in wirtschaftlich
herausfordernder Zeit gewährleistet werden. Insbeson-
dere der Rückgang der Zahl der Erwerbslosen im Monat
April um 162 000 verdeutlicht den Erfolg der arbeits-
markt- und sozialpolitischen Instrumente der Bundes-
regierung.

Auch in dem heute vorliegenden Antrag geht es um ei-
nen weiteren und bedeutsamen Schritt, um unsere sozia-
len Sicherungssysteme den wirtschaftlichen Strukturen
anzupassen und entscheidend zu verbessern. Der Ent-
wurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Vierten
Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze soll die
Sozialgesetzgebung durch vereinzelte Modifikationen
den gegebenen Herausforderungen anpassen. Damit
wird eine Rechtsgrundlage geschaffen, um den Sozial-
staat weiter zu festigen und das Vertrauen der Bürgerin-
nen und Bürger in die Sicherungssysteme zu stärken.

So sieht der Entwurf vor, den Deutschen Gewerk-
schaftsbund in das elektronische Entgeltnachweis-
verfahren ELENA einzubeziehen. Der DGB soll als Ver-
treter der Arbeitnehmerinteressen unmittelbar in das
Verfahren zur Festlegung der technischen Vorschriften
für die Datensätze integriert werden. Das von der
Bundesregierung vorgesehene Anhörungsrecht zur Ge-
nehmigung der gemeinsamen Grundsätze im ELENA-
Verfahren soll dabei auf gleiche Weise auf die Gewerk-
schaften erstreckt werden, wie es bisher für die Be-
teiligung der Arbeitgeberverbände geregelt ist. Ent-
sprechend der Vertretung der Arbeitgeber durch die
Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände
sieht die Regierung daher die Beteiligung des Deutschen
Gewerkschaftsbundes vor. Die Intention des elektroni-
schen Entgeltnachweisverfahrens, Kosten einzusparen
und Bürokratie abzubauen, wird so weiter nachhaltig
verfolgt. Wirtschaftlichkeit und Effektivität gehen hier
Hand in Hand.

Weitere entscheidende Bausteine des vorliegenden
Gesetzentwurfes tangieren die gesetzliche Unfallversi-
cherung. So sollen die Unfallversicherungsträger zu-
künftig verpflichtet sein, eine Regelung zur Verletzten-
geldberechnung bei nicht kontinuierlicher
Arbeitsverrichtung in ihre Satzungen zu integrieren.
Eine derartige Ermächtigung war bisher optional, dem-
entsprechend haben nicht alle Unfallversicherungsträ-
ger davon auch Gebrauch gemacht. Auch die Berück-
sichtigung von Arbeitseinkommen aus selbstständiger
Tätigkeit wird als obligatorisch verankert. So wird ge-
setzlich festgeschrieben, dass das Verletztengeld auch in
atypischen Fällen bei selbstständig Tätigen seine Funk-
tion als Entgeltersatz erfüllt. Als Beispiel diene hier der
Fall, in welchem die selbstständige Tätigkeit erst im
Laufe des Bemessungszeitraums aufgenommen wurde.
Auch hier wird deutlich, dass wir die soziale Sicherheit
der Menschen und deren Vertrauen in den Sozialstaat
weiter nachhaltig stärken werden.

Ein zentraler Bestandteil des Gesetzentwurfes be-
schäftigt sich dagegen mit dem System der gesetzlichen
Unfallversicherung. Im Oktober 2008 wurde mit dem
Unfallversicherungsmodernisierungsgesetz eine ebenso
notwendige wie effektive Änderung der bestehenden
Strukturen der Versicherungsträger beschlossen. Ziel
des UVMG war unter anderem die Straffung der Organi-
sation durch eine Reduzierung der gewerblichen Berufs-
genossenschaften auf freiwilliger Basis. Die Umsetzung
der Zielvorgabe, die Träger bis zum 31. Dezember des
vergangenen Jahres auf 9 zu reduzieren, wurde aller-
dings nicht vollständig erreicht. Die Trägerzahl durch
freiwillige Fusionen hat sich bis zum Ablauf der Frist
auf 13 reduziert. Vor diesem Hintergrund gilt es nun, mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf eine Rechtsgrundlage
zu verabschieden, um die Straffung der Organisation des
Systems erfolgreich abzuschließen. Dazu soll der Ge-
setzgeber ermächtigt werden, die noch notwendigen Fu-
sionen herbeizuführen.

Dabei gilt es deutlich zu betonen, dass der Grundsatz
des Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Un-
fallversicherung – Vorrang für die Selbstverwaltung –
sich grundsätzlich bewährt hat. Daher sollen die Einzel-
heiten der Fusionen, entsprechend der bereits dem
UVMG zugrunde liegenden Zurückhaltung des Gesetz-
gebers, auch weiterhin von der Selbstverwaltung ent-
schieden werden. Auch die bestehenden Regelungen des
Siebten Buches Sozialgesetzbuch bezüglich freiwilliger

Peter Wichtel


(A) (C)



(D)(B)

Fusionen von gewerblichen Berufsgenossenschaften
werden weiterhin gelten. Der vorliegende Gesetzentwurf
der Bundesregierung bestimmt neben den Fusionspart-
nern lediglich die Fristen für das weitere Verfahren. So
wird ein zeitnaher Abschluss der Neuorganisation des
Systems der gesetzlichen Unfallversicherung gewähr-
leistet.

Auch die im vorliegenden Entwurf vorgesehene Frist
für die Fusionen bis zum 1. Januar 2011 ist überaus an-
gemessen. Die Verhandlungen zwischen der Berufsge-
nossenschaft Nahrungsmittel und Gaststätten und der
Fleischerei-Berufsgenossenschaft konnten zwar bisher
nicht innerhalb der gesetzten Frist erfolgreich abge-
schlossen werden. Andere Berufsgenossenschaften ha-
ben vergleichbar schwierige Verhandlungen aber positiv
gestaltet und letztendlich fusioniert. Rufe nach eine Ver-
längerung der Frist sind unbegründet und zudem nicht
zielführend. Die Fusionshindernisse sind nicht im zeitli-
chen Bereich zu suchen. Vielmehr erscheint es notwen-
dig, mit einer zeitlich angemessenen Grenze den Fu-
sionsdruck auf die Beteiligten aufrecht zu erhalten.

Abschließend betrachtet eröffnet der vorliegende
Entwurf nicht nur die Möglichkeit, das Unfallversiche-
rungsmodernisierungsgesetz erfolgreich abzuschließen.
Das Dritte Gesetz zur Änderung des Vierten Buches So-
zialgesetzbuch und anderer Gesetze wird die Sozialge-
setzgebung den gegebenen und zukünftigen Herausfor-
derungen anpassen und so die Wirtschaftlichkeit und die
Effektivität des Sozialsystems nachhaltig steigern. Da-
bei geht es um nicht mehr und nicht weniger als die so-
ziale Sicherung der Bürgerinnen und Bürger und deren
Vertrauen in den Sozialstaat.

Es ist unsere Aufgabe, mit einer verantwortungsvol-
len und nachhaltigen Arbeits- und Sozialpolitik die
Grundlage für soziale Sicherheit und Gerechtigkeit zu
schaffen. Dieser Verantwortung kommen wir, auch mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf, jetzt und in Zukunft
nach.


Max Straubinger (CSU):
Rede ID: ID1704324600

Der heute eingebrachte Gesetzentwurf sieht die Ver-

längerung einzelner befristeter arbeitsmarktpolitischer
Instrumente vor. Verlängert werden die Entgeltsiche-
rung für ältere Arbeitnehmer, der Eingliederungs-
zuschuss für Ältere, die Maßnahmen zur Weiterbildung
älterer beschäftigter Arbeitnehmer und die Regelung zur
erweiterten Berufsorientierung. Durch die Verlängerung
wird es ermöglicht, die Wirkung über einen längeren
Zeitraum besser beurteilen zu können; das schafft den
für eine Evaluation erforderlichen zeitlichen Spielraum.
Die arbeitsmarktpolitischen Instrumente sollen bis zum
Jahr 2011 überprüft werden.

Da noch nicht alle Berufsgenossenschaften den ge-
fassten Beschluss des Hauptverbandes der gewerblichen
Berufsgenossenschaften vom 1. Dezember 2006 zur Re-
duzierung der Anzahl der Berufsgenossenschaften um-
gesetzt haben, soll diesem mit dem heutigen Gesetzent-
wurf Nachdruck verliehen werden. Deshalb sieht der
Gesetzentwurf eine Fristsetzung zur Fusion zum 1. Ja-
nuar 2011 vor. Ich würde es aber sehr begrüßen, wenn
Zu Protokoll
die betroffenen Berufsgenossenschaften die Fusionsge-
spräche noch einmal mit großem Nachdruck betreiben
würden und versuchten, ihre Bedenken in Gesprächen
mit der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung und
ihren jeweiligen Fusionspartnern auszuräumen. Im Hin-
blick auf eine nachhaltige, kostengünstige Verwaltung
müssen die gesteckten Ziele der Organisationsreform
der gesetzlichen Unfallversicherung und des Beschlus-
ses des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenos-
senschaften vom 1. Dezember 2006 baldmöglichst er-
reicht werden.

Der Bundesrat kritisiert in seiner Stellungnahme die
Herausnahme der im Referentenentwurf zum vorliegen-
den Gesetzentwurf ursprünglich vorgesehenen Strei-
chung der Einrichtung der Weiterleitungsstellen. Dieser
Kritik schließe ich mich an. Diese mit dem Gesetz zur
Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Kranken-
versicherung ab 1. Januar 2011 eingeführte Regelung,
nach der Arbeitgeber auf Antrag die Meldungen zur
Sozialversicherung, Beitragsnachweise und sämtliche
Zahlungen ab dem 1. Januar 2011 an eine sogenannte
Weiterleitungsstelle ihrer Wahl einreichen können, führt
zu Doppelstrukturen. Sie schafft umfangreiche und kos-
tenaufwendige Schnittstellen, ohne den Arbeitgebern
nennenswerte Vorteile zu verschaffen.

Die Weiterleitungsstellen sollen die Meldungen zur
Sozialversicherung, die Beiträge zur Sozialversicherung
und die Beitragsnachweise vom Arbeitgeber entgegen-
nehmen und an die zuständigen Einzugsstellen, also die
Krankenkassen, weiterleiten. Arbeitgeber, die weiterhin
wie bisher direkt mit der oder den Krankenkassen ab-
rechnen wollen, können allerdings auch das bisherige
Verfahren einfach fortsetzen. Dies ist eine unbefriedi-
gende Lösung, die verbessert werden sollte, was bisher
aber nicht geschehen ist. Sie bewirkt nach Auffassung
der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberver-
bände, BDA, keine signifikanten Einsparmöglichkeiten
oder qualitativen Verbesserungen der Prozesse des Bei-
tragseinzuges.

Für den Arbeitgeber würde sich lediglich der Zah-
lungsmodus auf einen Überweisungsvorgang reduzie-
ren, was im Zeitalter des Onlinebanking keine spürbare
Ersparnis mit sich brächte. Die Einrichtung der zentra-
len Weiterleitungsstellen brächte aber Kosten mit sich,
die letztlich aus von Arbeitnehmern und Arbeitgebern zu
tragenden Beitragseinnahmen zu finanzieren sind.

Zudem ist zu befürchten, dass zahlungsunwillige und
nicht zahlungsfähige Arbeitgeber die Nichtabführung
von Sozialversicherungsbeiträgen verschleiern können,
indem sie unterschiedliche Angaben gegenüber den
Krankenkassen bzw. den zentralen Weiterleitungsstellen
machen.

Bei einem Ausfall würden nicht nur Einnahmen aus
Krankenversicherungsbeiträgen verloren gehen, betrof-
fen wäre vielmehr der Gesamtsozialversicherungsbei-
trag, also die Beitragseinnahmen aus der Kranken-,
Renten-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung.

Der Normenkontrollrat wies in seiner Stellungnahme
vom 18. März 2010 darauf hin, dass durch die Automa-



gegebene Reden

Max Straubinger


(A) (C)



(D)(B)

tisierung der Datenerfassung und Datenübermittlung
ein wesentlicher Grund für die Weiterleitungsstellen in
ihrer derzeit vorgesehenen Form entfallen ist. Es stellt
sich daher die berechtigte Frage, ob die zu erwartenden
geringen Einsparungen bei den Unternehmen die Kos-
ten der Krankenkassen zum Einrichten und Betreiben
der Weiterleitungsstellen rechtfertigen.

Das Thema Beitragseinzug ist grundsätzlicher Natur.
Ich plädiere daher dafür, den Beitragseinzug weiter bei
den Krankenkassen zu belassen und die vorgesehenen
Beitragsweiterleitungsstellen in dieser Form nicht ein-
zurichten.


Anette Kramme (SPD):
Rede ID: ID1704324700

Mit dem Dritten Gesetz zur Änderung des Vierten

Buches Sozialgesetzbuch werden verschiedene Vor-
schläge und Anregungen zu einzelnen sozialpolitischen
Regelungen aufgegriffen sowie die veränderte Recht-
sprechung berücksichtigt. Jenseits der hier formulierten
technischen Änderungen und der Umsetzung neuer
Rechtsprechung enthält der Gesetzentwurf der Bundes-
regierung allerdings auch Regelungen, die sehr wohl
von politischer Bedeutung sind.

An erster Stelle ist hier die Formulierung eines neuen
§ 225 SGB VII zu nennen, mit dem die Neuorganisation
der gewerblichen Berufsgenossenschaften umgesetzt
werden soll.

Mit dem von der damaligen Großen Koalition be-
schlossenen Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen
Unfallversicherung, UVMG, vom 30. Oktober 2008 war
gerade auch die Neuorganisation der Unfallversiche-
rungsträger der Deutschen Gesetzlichen Unfallversi-
cherung vorgesehen. Die 26 gewerblichen Berufsgenos-
senschaften sollten bis zum 1. Januar 2010 zu 9 Trägern
fusionieren. Hierdurch sollte – so die damalige Geset-
zesbegründung – „die Bildung ausgewogener und nach-
haltig leistungsfähiger Träger“ sowie „eine Erhöhung
der Effizienz der Verwaltungen und Einsparungen bei
den Verwaltungskosten“ erreicht werden. Dieser freiwil-
lige Fusionsprozess ist – mit allen Schwierigkeiten, die
so etwas mit sich bringt – weitgehend erfolgreich ver-
laufen. Dieser Prozess ist damit ein Beleg für die funk-
tionierende Selbstverwaltung. Allerdings wurde die Zahl
von 9 Trägern nicht ganz erreicht; gegenwärtig existie-
ren noch 13 Träger. Es ist daher sachgerecht, dass
nunmehr – wie bereits im UVMG für diesen Fall ange-
kündigt – eine gesetzliche Vorgabe erfolgt, welche Be-
rufsgenossenschaften bis zum 1. Januar 2011 zu gemein-
samen Trägern fusionieren sollen. Die vorgeschlagene
Regelung wird dabei nicht nur von den übrigen Unfall-
versicherungsträgern erwartet, sondern sie wird auch
von den Sozialpartnern unterstützt. Auch die SPD-Bun-
destagsfraktion trägt diese Regelung mit.

Allerdings verstehe ich natürlich, dass gerade die
kleineren Berufsgenossenschaften ganz grundsätzlich
befürchten, im Rahmen eines großen Trägers ihre bran-
chenspezifischen Belange nicht ausreichend vertreten zu
können. Dies gilt insbesondere für die branchenbezo-
gene Prävention, die die Kernaufgabe der Unfallversi-
cherung darstellt. Hier bin ich für Vorschläge offen, wie
Zu Protokoll
diesen Bedenken im Gesetzgebungsverfahren noch bes-
ser Rechnung getragen werden kann. Den Vorschlag des
Bundesrates, den dieser in seiner Stellungnahme zum
Gesetzentwurf vom 7. Mai 2010 unterbreitet hat, näm-
lich eine Verlängerung der Frist um neun Monate, finde
ich dabei nicht sinnvoll: Wenn der bisherige Appell, frei-
willig zu fusionieren, nicht gefruchtet hat, so wird auch
die Verschiebung des Stichtages, bis zu dem die beteilig-
ten Berufsgenossenschaften eine Fusion erreichen sol-
len, nicht fruchten. Sinnvoller scheint mir ein Vorschlag
zu sein, den Bedenken im Rahmen der neuen Selbstver-
waltung Rechnung zu tragen, indem Transparenz und
Mitwirkung im Rahmen der Vertreterversammlung ver-
bessert werden: Hier könnte überlegt werden, bei Fusio-
nen von mehr als vier Trägern größere Vertreterver-
sammlungen zuzulassen, als dies durch die jetzige
Maximalgröße von 60 Mitgliedern ermöglicht wird. Be-
reits in der allgemeinen Begründung zum UVMG war
diese Begrenzung bei Trägern, die aus Fusionen hervor-
gehen, als nicht notwendig formuliert worden; aller-
dings fehlte eine gesetzliche Normierung. Sinnvoller-
weise sollte man diese Regelung nicht als Dauerlösung
eröffnen, sondern für einen Übergangszeitraum ermög-
lichen: Hier wäre zum Beispiel an den Ablauf der nächs-
ten auf die Fusion folgenden Sozialwahlperiode zu den-
ken, also an den Zeitraum bis 2017. Mit einer derartigen
Lösung würde sowohl den Interessen der bereits fusio-
nierten Berufsgenossenschaften als auch der jetzt noch
vor der Fusion stehenden Berufsgenossenschaften ge-
dient.

Die im Gesetzentwurf vorgesehenen Regelungen, die
den Datenschutz berühren, sind teilweise kritisch zu be-
werten. Für die SPD-Bundestagsfraktion gilt der
Grundsatz, dass personenbezogene Arbeitnehmerdaten
nur für die benötigten Zwecke verwendet werden und
dass im Hinblick auf den Grundsatz der Datensparsam-
keit nur anlassbezogene Daten ermittelt werden dürfen.

Es ist daher zu begrüßen, dass künftig bei der
Schwarzarbeitsbekämpfung hierzu die verschiedenen
Dienststellen intensiv zusammenarbeiten und Daten
austauschen können. Allerdings erscheint es nicht ver-
hältnismäßig, einen automatisierten Zugriff auf die bei
der Datenstelle der Rentenversicherungsträger gespei-
cherten Sozialdaten zuzulassen und dazu als Begrün-
dung bereits einen „gewissen Anfangsverdacht“ für eine
Steuerstraftat genügen zu lassen. Zumindest muss si-
chergestellt sein, dass nur dann auf die Daten zugegrif-
fen wird, wenn zum einen ein dringender Verdacht auf
Scheinselbstständigkeit, Kettenbetrug im Baugewerbe,
Scheinrechnungen oder auf unrichtige Angaben hin-
sichtlich des Umfanges der Beschäftigung von Arbeit-
nehmern besteht und zum anderen ohne die Daten ein
Beweis nicht möglich ist.

Letztendlich möchte ich noch einen Punkt anspre-
chen, bei dem die Bundesregierung vom Referentenent-
wurf bis zum Gesetzentwurf offensichtlich der Mut ver-
lassen hat; ich spreche vom Verzicht auf die Streichung
der sogenannten Weiterleitungsstellen. Die Möglichkeit,
dass Arbeitgeber ab dem 1. Januar 2011 für alle Be-
schäftigten die Meldungen zur Sozialversicherung, die
Beitragsnachweise und sämtliche Zahlungen an eine



gegebene Reden

Anette Kramme


(A) (C)



(D)(B)

Weiterleitungsstelle ihrer Wahl richten, ist im Rahmen
des Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der ge-
setzlichen Krankenversicherung auf Wunsch der CDU/
CSU geschaffen worden. Die SPD-Bundestagsfraktion
unterstützte zwar das Ziel, Arbeitgeber vom Verwal-
tungsaufwand zu entlasten; doch war sie skeptisch, ob
dies mit den Weiterleitungsstellen tatsächlich erreicht
wird. Sie fürchtete, dass – im Gegenteil – ein Verwal-
tungsmehraufwand erzeugt wird, da die Umlagesätze für
die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, U1, und bei Mut-
terschaft, U2, bei den einzelnen Krankenkassen differie-
ren, sodass allein schon deshalb auch in Zukunft arbeit-
nehmerbezogene Stammdaten geführt werden müssen.

Mittlerweile ist auch die Bundesvereinigung der
Deutschen Arbeitgeberverbände zu der Auffassung ge-
kommen, dass die Einrichtung von Weiterleitungsstellen
keine signifikanten Einsparmöglichkeiten oder qualita-
tive Verbesserungen beim Beitragseinzug mit sich brin-
gen würde. Da neben den Krankenkassen auch die Ren-
tenversicherung und die Unfallversicherung sowie der
DGB die Einrichtung von Weiterleitungsstellen für über-
flüssig erachten, fordert die SPD-Bundestagsfraktion
die Bundesregierung auf, dem Votum des Bundesrates zu
folgen, und die ursprünglich im Referentenentwurf vor-
gesehene Streichung vorzunehmen.


Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1704324800

Heute beraten wir ein umfangreiches Gesetzesvorha-

ben der Bundesregierung. Wir haben in vielerlei Hin-
sicht Änderungsbedarf, dem wir nun umfassend nach-
kommen werden. Um niemanden zu langweilen, werde
ich nicht näher auf die vielen redaktionellen Anpassun-
gen eingehen, die im SGB-IV-Änderungsgesetz enthalten
sind. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass hier im
Hause Dissens über Interpunktionsfragen herrscht. Das
unterstelle ich jetzt einfach einmal.

Stellvertretend lassen sich einige Punkte aus dem Pa-
ket herausgreifen, an denen sich zeigen lässt, dass
manchmal auch mit kleinen Änderungen sinnvolle Wir-
kungen erzielt werden können. Nehmen wir etwa die
Einfügung in den § 28 b SGB IV. Das damit geschaffene
Anhörungsrecht für den Deutschen Gewerkschaftsbund
halte ich für eine zweckmäßige Ergänzung. Die bishe-
rige Regelung, die bei der Meldepflicht im Rahmen der
Sozialversicherung die Beteiligung diverser Akteure
vorsieht, normiert bisher auch explizit die teilnehmende
Rolle der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitge-
berverbände. Da erscheint es nur angemessen, die Ar-
beitnehmerseite nicht außen vor zu lassen. Dies gilt
umso mehr angesichts der umfangreichen Datenerfas-
sung im Zusammenhang mit ELENA. Ich bin mir sicher,
dass der DGB ein guter Anwalt des Arbeitnehmerdaten-
schutzes sein wird.

Ferner ist die Neuorganisation der gewerblichen Be-
rufsgenossenschaften ein wichtiger Punkt. Die gesetzli-
chen Unfallversicherungen sind ein relativ altes System.
Ihre Anfänge gehen schließlich bis ins 19. Jahrhundert
zurück. Es ist sicherlich nicht übertrieben, zu behaup-
ten, dass sich seither ein grundsätzlicher Wandel der In-
dustrie- und Dienstleistungsgesellschaft vollzogen hat.
Zu Protokoll
Dieser Wandel hat sich aber nicht in der Organisation
der Berufsgenossenschaften niedergeschlagen; vielmehr
wurden alte Strukturen beibehalten. Dies hat schließlich
auch zu einer starken Beitragsspreizung geführt, außer-
dem zu einer bisweilen überproportionalen Steigerung
der Beitragssätze bei einzelnen Berufsgenossenschaften.
Völlig zu Recht – das sage ich gerne an die Adresse der
Opposition – hat deswegen noch die schwarz-rote Bun-
desregierung der vergangenen Legislaturperiode darauf
hingewiesen, dass manche „strukturschwachen Bran-
chen die Beitragssatzsteigerungen nicht mehr alleine
tragen können“.

Abgesehen von der Beitragssatzproblematik ist
schließlich eine zu stark aufgegliederte Trägerland-
schaft nicht mehr aktuell und allgemein nicht wün-
schenswert. Ein zeitgemäßes Sozialversicherungssystem
sollte mindestens auch verwaltungstechnischen Effi-
zienzgesichtspunkten genügen. Durch eine Bündelung
der Kräfte und Straffung der Organisationsstrukturen
lässt sich dies gewährleisten. Insofern begrüßt die FDP-
Fraktion die im Gesetzentwurf vorgesehene Fusionsver-
pflichtung der Berufsgenossenschaften Nahrungsmittel
und Gaststätten und Fleischerei einerseits sowie der Be-
rufsgenossenschaften Metall Nord Süd, Maschinenbau
und Metall, Hütten und Walzwerke als auch Holz ande-
rerseits. Im Übrigen werden wir hier nur hinsichtlich
der Rahmenbedingungen gesetzgeberisch tätig; die kon-
krete Ausgestaltung überlassen wir den Akteuren selbst.

Als Liberalen freut mich auch besonders, dass wir mit
dem neuen § 83 a SGB IV eine Informationspflicht bei
der unrechtmäßigen Kenntniserlangung von Sozialdaten
einrichten werden. Somit verbessern wir den Daten-
schutz merklich, was gerade in einem so sensiblen Be-
reich wie demjenigen der Sozialversicherung von größ-
ter Bedeutung ist. Hier werden nicht nur empfindliche
personenbezogene Daten erhoben und übermittelt, son-
dern schlechterdings auch eine große Menge an Daten.
So notwendig dies alles ist, so notwendig ist es auch, an
dieser Stelle für einen lückenlosen Datenschutz zu sor-
gen. Gut, dass wir dem hiermit gerecht werden. Damit
erreichen wir ein einheitliches Schutzniveau.

Abschließend möchte ich bemerken, dass auch die
Änderung des Alterssicherungsgesetzes der Landwirte
wichtige liberale Anliegen berücksichtigt. Denn wir ver-
einfachen eine Informationspflicht und machen so den
betroffenen Bürgerinnen und Bürgern einfach das Leben
leichter. Durch die widerlegbare Fingierung der Fort-
geltung des Befreiungsantrags von der Versicherungs-
pflicht bei einer Wiederaufnahme der einschlägigen
sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit reduzieren wir
den Aufwand erheblich, den die jeweiligen Personen
sonst betreiben müssen. Häufig genug wird aus Un-
kenntnis kein neuer Befreiungsantrag gestellt, sodass
Beitragsrückstände entstehen. Dies wird bald ein Ende
haben, was ich ausdrücklich begrüße.

Ich denke, das Gesetz zeigt, dass auch bei weniger
spektakulären Vorgängen sauber, solide und sorgfältig
gearbeitet wird. Die Bundesregierung steht im Großen
wie im Kleinen für eine solche Vorgehensweise. Ich



gegebene Reden

Johannes Vogel (Lüdenscheid)



(A) (C)



(D)(B)

werbe um breite Zustimmung und danke Ihnen für Ihre
Aufmerksamkeit.


Katja Kipping (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704324900

Der uns vorliegende Gesetzentwurf soll das Vierte

Buch Sozialgesetzbuch sowie weitere Gesetze an sehr
vielen Stellen aus recht unterschiedlichen Gründen än-
dern. Laut Aussage der Bundesregierung ergibt sich die-
ser umfangreiche Änderungsbedarf nicht zuletzt aus
einer Vielzahl von Anregungen, unter anderem des Bun-
desrechnungshofes, des Petitionsausschusses, der Ar-
beitgeber und Gewerkschaften sowie der Sozialver-
sicherungsträger und nicht zuletzt auch als Konsequenz
aus der Rechtsprechung. Weiterhin seien noch viele re-
daktionelle Änderungen erforderlich.

Mit dem Gesetzentwurf wird eine Reihe von Zielen
verfolgt; die wichtigsten möchte ich hier gern noch ein-
mal benennen: die Schaffung eines Anhörungsrechtes
für die Gewerkschaften zum ELENA-Datensatz, eine
Fristsetzung für die Fusion einzelner Berufsgenossen-
schaften, die Umsetzung eines Vorschlags des Petitions-
ausschusses zur Berücksichtigung von Arbeitseinkom-
men beim Verletztengeld und die Vereinfachung des
Verfahrens bei Entscheidungen über die Prozesskosten-
hilfe.

Uns liegt zu diesem Gesetzentwurf auch eine Stel-
lungnahme des Bundesrates vor. In dieser werden einige
der geplanten Änderungen kritisiert, beispielsweise dass
die vorgesehene Beschränkung des Anhörungsrechts bei
ELENA ausschließlich auf den Deutschen Gewerk-
schaftsbund beschränkt werden soll. Die Bundesländer
fordern stattdessen ein solches Recht für alle Gewerk-
schaften. Weiterhin hält die Länderkammer die vorgese-
henen Fristen für die Fusion einiger Berufsgenossen-
schaften für „zu knapp bemessen“. Darüber hinaus regt
der Bundesrat einige Klarstellungen und Prüfungen an.
In ihrer Gegenäußerung lehnt die Bundesregierung die
Vorschläge des Bundesrates jedoch weitgehend ab.

Aus Perspektive der Linken ist der Gesetzentwurf un-
problematisch. Bei den Vorgaben zu den Fristen zur Fu-
sion einiger Berufsgenossenschaften sehen wir keinen
dringlichen Veränderungsbedarf. Zur Forderung nach
einer Ausweitung des Anhörungsrechts bei ELENA
– wenn Sie mir diese Bemerkung an dieser Stelle ge-
statten –: ELENA an sich sehen wir als Linke nach wie
vor mehr als kritisch; denn während die bei ELENA
schon heute ersichtlichen Risiken in erster Linie im
Bereich des Datenschutzes riesig sind, zeigen sich die
vermeintlichen Vorteile ziemlich mickrig. Die Frage der
Gewerkschaften sollte auf alle Fälle im Zuge der anste-
henden weiteren parlamentarischen Beratung noch ein-
mal erörtert werden.

Auf einen Punkt möchte ich noch näher eingehen: Si-
cher haben auch Sie von verschiedenen Krankenkassen
Schreiben erhalten, in denen darauf hingewiesen wurde,
dass im Referentenentwurf vorgesehen war, die durch
das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetz-
lichen Krankenversicherung festgelegte Einführung von
sogenannten Weiterleitungsstellen wieder zu streichen.
Um es noch einmal zu erläutern: Für Sozialversiche-
Zu Protokoll
rungsbeiträge waren ab 2011 zentrale Weiterleitungs-
stellen geplant. Die Vorstellung „einer Beitragseinzugs-
stelle“ für alle SV-Beiträge stand bei dieser Regelung
Pate – ganz gleich, bei welchen Kassen die Arbeitneh-
mer versichert sind. Der Vorteil für die Arbeitgeber läge
auf der Hand. Arbeitgeber hätten nur noch mit einer
Stelle zu tun. Es würde keine Rolle mehr spielen, bei wel-
chem Versicherungsträger die Arbeitnehmer kranken-
versichert sind. Die Kassen kritisieren diese zusätzliche
Stelle als „kostenintensive Doppelstruktur“; auch die
Arbeitgeberverbände sähen aufgrund der modernen Da-
tentechnik keinen Vorteil mehr, was nun insgesamt die
Einrichtung von Weiterleitungsstellen überflüssig oder
gar kontraproduktiv macht.

Dieses Vorhaben wurde verständlicherweise von den
Krankenkassen begrüßt: Nun taucht es allerdings im
vorliegenden Gesetzentwurf nicht wieder auf. Hierzu
wären im weiteren parlamentarischen Verfahren im Aus-
schuss die Hintergründe und Begründungen zu klären.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704325000

Wir haben uns in den letzten Wochen viel mit den in-

ternationalen Finanzmärkten und mit der durch Speku-
lation entstandenen Unsicherheit beschäftigt. Das war
gut und notwendig. Die EU hat damit begonnen, den
Zockern an den Finanzmärkten die Rote Karte zu zeigen.
Wir müssen denen, die keine echten Werte schaffen, son-
dern eher als Scharlatane unterwegs sind, sehr deutlich
machen, dass sie nicht auf die Solidarität unserer Ge-
sellschaft zählen dürfen.

Ganz anders sieht es mit den vielen Millionen hart ar-
beitenden Menschen in Deutschland aus. Sie zahlen re-
gelmäßig Beiträge in unsere Sozialversicherungen und
haben ein gutes Recht darauf, dass die Politik diese Sys-
teme auch gesetzgeberisch immer auf dem neuesten
Stand hält. So können Unsicherheiten in der Rechtsan-
wendung vermieden und Kosten der Bürokratie gesenkt
werden. Auch die eine oder andere Anpassung redaktio-
neller Natur aufgrund von Anmerkungen, zum Beispiel
aus Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, ist not-
wendig.

Die Fusionen bestimmter Berufsgenossenschaften auf
freiwilliger Basis sind in den letzten Jahren erfolgreich
gewesen. Das spart Verwaltungskosten, und dieser Weg
muss fortgesetzt werden. Wir dürfen allerdings dort, wo
auf freiwilliger Basis keine Verbesserungen erfolgt sind,
auch nicht davor zurückschrecken, gegebenenfalls auf
gesetzgeberischem Wege für Fusionen zu sorgen; denn
es geht um den effektiven Einsatz von Sozialversiche-
rungsbeiträgen. Das ändert nichts daran, dass der Vor-
rang der Selbstverwaltung sich in der gesetzlichen
Unfallversicherung bewährt hat. Der Gesetzentwurf be-
stimmt neben den zu fusionierenden Berufsgenossen-
schaften nur eine Frist, bis zu der die Fusion zu erfolgen
hat. Ein großes Maß an Eigenverantwortung und Selbst-
verwaltung ist also gesichert.

Nicht nur der Datenschutz allgemein, sondern auch
und gerade der Sozialdatenschutz sollte uns allen ein
besonderes Anliegen sein; denn derjenige, dessen Daten
hier verarbeitet werden, kann nicht darüber bestimmen,



gegebene Reden





Markus Kurth


(A) (C)



(D)(B)

ob seine Daten erfasst werden. Als in den Sozialversi-
cherungssystemen versicherter Arbeitnehmer muss er
hinnehmen, dass Daten erhoben und erfasst werden.
Umso wichtiger ist es, sicherzustellen, dass alle mit den
Daten in Kontakt kommenden Institutionen regelmäßig
überprüft werden. Es muss sichergestellt sein, dass alle
organisatorischen und technischen Maßnahmen getrof-
fen worden sind, die einen Missbrauch oder eine unnö-
tige Weitergabe von Daten verhindern. Hierzu gehört
auch eine angemessene Bußgeldbewährung bei einem
Verstoß gegen die Informationspflicht bei unrechtmäßi-
ger Erlangung der Kenntnis von Sozialdaten.

Unser sozialpartnerschaftliches Modell der sozialen
Sicherung ist international ein Exportschlager. Viel-
leicht wirkt es auf den ersten Blick nicht sexy. Aber es ist
sicher, krisen- und zukunftsfest. Die gesetzliche Unfall-
versicherung, die wir hier in kleinen Details verbessern,
wird zum Beispiel in China gerade in großen Schritten
eingeführt. Hunderttausende Menschen kommen dort
pro Jahr in eine gesetzliche Unfallversicherung nach
deutschem Vorbild. Auf diesem Erfolg dürfen wir uns
nicht ausruhen; aber darauf kann man Stolz sein. Solidi-
tät wird auf Dauer über windige Geschäftemacher sie-
gen, die Menschen damit ködern, dass mit null Einsatz
15 Prozent Rendite zu erwirtschaften sind. Lassen sie
uns Deutschland zur sozialen und ökologischen Indus-
trie- und Dienstleistungsgesellschaft des 21. Jahrhun-
derts machen, die es nicht nötig hat, sich im Kasinokapi-
talismus zu verzocken.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704325100

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/1684 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Valerie Wilms, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Schutz der Meere vor Vermüllung und ande-
ren Verschmutzungen

– Drucksache 17/1763 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus

Auch hierzu sollen die Reden zu Protokoll genom-
men werden. Es handelt sich um die Reden der Kollegin-
nen und Kollegen Ingbert Liebing und Josef Göppel,
CDU/CSU, Frank Schwabe, SPD, Angelika Brunkhorst,
FDP, Sabine Stüber, Die Linke, und Dr. Valerie Wilms,
Bündnis 90/Die Grünen.1)

1) Anlage 4
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1763 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:

Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten
Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung
des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung
„Deutsches Historisches Museum“

– Drucksache 17/1400 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Kultur und Medien (22. Ausschuss)


– Drucksache 17/1751 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Strobl (Heilbronn)

Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Reiner Deutschmann
Dr. Lukrezia Jochimsen
Claudia Roth (Augsburg)


Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-
schlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Thomas Strobl von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Thomas Strobl (CDU):
Rede ID: ID1704325200

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Zugegeben, es hat etwas länger gedauert;
aber heute ist es so weit.


(Jens Ackermann [FDP]: Was lange währt, ist gut!)


Nach intensiven und kontroversen Beratungen innerhalb
dieses Hohen Hauses, aber auch außerhalb des Parla-
ments können wir die Gesetzesnovelle zum Deutschen
Historischen Museum heute zum Abschluss bringen.
Zentral geht es um folgende Frage: Wie kann die ge-
plante Ausstellung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“,
die dem Gedenken einer der schrecklichen Entwicklun-
gen im Kontext der nationalsozialistischen Expansion
und Vernichtungspolitik und ihren Folgen gewidmet ist,
am sinnvollsten organisiert werden, um den Anspruch
von Wissenschaftlichkeit und Wahrhaftigkeit zu erfül-
len? Die dem Bundestag nun vorliegende Novelle hat,
wie ich finde, auf diese Frage eine sehr gute Antwort ge-
funden und verdient deshalb, mit großer Mehrheit ange-
nommen zu werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es gilt, auch und gerade mit Blick auf den eigentlichen
Kerngedanken des Gesetzes, nämlich die Versöhnung,
zu handeln. Zur Versöhnung kommt es durch Erinne-





Thomas Strobl (Heilbronn)



(A) (C)



(D)(B)

rung, vor allem aber durch objektive Aufarbeitung des
Vergangenen.

Ich möchte es noch einmal in Erinnerung rufen: Nicht
beabsichtigt sind qualitative, inhaltliche Änderungen zur
ersten Fassung des Gesetzes aus dem Jahre 2008. Bei der
im Mittelpunkt der Novelle stehenden unselbstständigen
Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ soll es um
rein organisatorische Änderungen gehen. Beispielsweise
wird der Stiftungsrat von 13 auf 21 Mitglieder vergrö-
ßert. Auch dem wissenschaftlichen Beraterkreis sollen
mehr Personen angehören, und zwar bis zu 15 Personen
anstatt der bisher maximal neun Personen. Dadurch soll
eine Verbreiterung des wissenschaftlichen Spektrums er-
reicht werden, nicht zuletzt auch mit Blick auf eine inter-
nationale Besetzung.

In diesem Zusammenhang sind zuletzt immer wieder
Vorwürfe erhoben worden, durch diese Verbreiterung
würde dem Bund der Vertriebenen ein zu großer Einfluss
eingeräumt und es sei eine Majorisierung des Stiftungs-
rates durch die Vertriebenenorganisation zu befürchten.
Dies ist nachgerade absurd.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich will gerne kurz Nachhilfe in Sachen Mathematik er-
teilen, die man insbesondere bei der Linken nötig zu ha-
ben scheint. Majorisierung, also Dominanz im Sinne ei-
ner Mehrheitsherrschaft, läge in einem Gremium von
21 Personen bekanntlich erst ab einer Anzahl von min-
destens zwölf Mitgliedern vor. Das ist das Doppelte des
Anteils, den das Stiftungsgesetz für Vertreter des Vertrie-
benenbundes vorsieht. Sechs Mitglieder darf der Bund
der Vertriebenen stellen, was – wie immer man es auch
drehen und wenden und welch obskure Rechenkunst-
stückchen man auch anstellen mag – bei 21 Mitgliedern
ganz bestimmt keine Mehrheit darstellt, sondern weniger
als ein Drittel, also eine deutliche Minderheit.

Richtig ist lediglich, dass der Bund der Vertriebenen,
wie übrigens andere Organisationen auch, zahlenmäßig
stärker im Stiftungsrat vertreten sein wird. Das ist aber
doch nur recht und billig; denn wer, wenn nicht die Ver-
triebenen selbst, hat allen moralischen Anspruch auf an-
gemessene Berücksichtigung in einer Stiftung, die der
Aufarbeitung der Tragödie Vertreibung dienen soll!


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


In den Rat der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöh-
nung“ gehören deshalb notwendigerweise, ja zuvörderst
die Vertriebenen selbst. Ansonsten machte die Veranstal-
tung keinen Sinn, sie wäre eine Farce.

Dem stimmt übrigens – wofür ich sehr dankbar bin –
prinzipiell der Vizepräsident dieses Hohen Hauses, der
Kollege Wolfgang Thierse, zu. In einem vor wenigen Ta-
gen erschienenen Zeitungsbeitrag hebt der SPD-Kollege
die Rolle hervor, die die Vertriebenen in der Geschichte
unserer Republik gespielt haben. Er beschreibt und
rühmt zu Recht die von den Heimatvertriebenen und
Entrechteten geleistete Hilfe beim Wiederaufbau nach
1945. Er betont das rastlose Engagement dieser Millio-
nen Bundesbürger zugunsten der Versöhnung und der
Völkerverständigung und bezeichnet es als mustergültig,
was von dieser Gruppe in gesamtstaatlichem Interesse
erreicht wurde.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Und er hat recht damit!)


Ich gehe sogar so weit, zu sagen: Die Vertriebenen
sind ganz wesentlich mit dafür verantwortlich, dass aus
der nun über 60-jährigen Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland eine Erfolgsgeschichte geworden ist. Es
gilt, diese bemerkenswerte Leistung hervorzuheben. Es
soll deshalb betont werden, wie beeindruckend es ist,
dass eine Gruppe von Bundesbürgern mit besonderer
Leiderfahrung sich zu keinem Zeitpunkt ins Schnecken-
haus der Selbstbemitleidung zurückgezogen hat, sondern
seit Jahrzehnten politisch konstruktiv und offen am Bau
des gemeinsamen Hauses Europa, das unser Schicksal
und unsere Zukunft gleichermaßen ist, mitarbeitet.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Das wird leider nicht immer anerkannt!)


Dass nun diese Gruppe und der von Frau Kollegin
Steinbach so engagiert geführte Verband vor dem ge-
schilderten Hintergrund alles Recht der Welt haben, die
eigene Stimme zu erheben, wenn es darum geht, die Er-
innerung an das erfahrene Unrecht und Leid wachzuhal-
ten, ist für mich klar und die logische Konsequenz aus
dem zuvor Gesagten. Das, denke ich, haben die Heimat-
vertriebenen verdient. Ich finde, das schulden wir ihnen
über alle Parteigrenzen hinweg.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die im Geiste der Versöhnung gehaltene Stiftung, die
durch die Novelle übrigens auch eine höhere demokrati-
sche Legitimation bekommt, weil die Mitglieder vom
Bundestag und nicht länger von der Bundesregierung be-
rufen werden, kann nun ihre verantwortungsvolle Arbeit
aufnehmen.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Genau so ist es! – Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Das gibt es doch nicht!)


Dass sie das rasch tun kann, ist zu wünschen; denn un-
sere gesamte Gesellschaft in Deutschland und darüber
hinaus wird von der Stiftungsarbeit profitieren.

Ich danke Ihnen fürs Zuhören.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704325300

Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Thierse von

der SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1704325400

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ich

wiederhole, was ich schon mehrfach gesagt habe: Die





Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)

SPD-Fraktion steht grundsätzlich hinter dem Stiftungs-
projekt „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“.


(Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Aber?)


In der Koalitionsvereinbarung von 2005 hatten wir
mit der CDU/CSU das Sichtbare Zeichen verankert und
2008 die Konzeption und den Gesetzentwurf für die Stif-
tung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ auf den Weg ge-
bracht und verabschiedet. An allem habe ich maßgeblich
mitgewirkt.

Mit dem Beschluss des Deutschen Bundestages von
2008 ist die Erinnerung an Flucht und Vertreibung in ein
neues Stadium übergegangen. Das Parlament hat sie zu
seiner Sache gemacht. Sie ist nicht mehr Eigentum der
professionellen Vertriebenen des BdV und ist deren ide-
eller und moralischer Verwaltung und vor allem jedwe-
dem Alleinanspruch entzogen. Bei allen Verdiensten der
Vertriebenen in der Geschichte der Bundesrepublik ist
dies ein neuer Schritt; das ist ganz wichtig. Der Deutsche
Bundestag hat die Erinnerung an diesen Teil deutscher
und europäischer Geschichte zur Angelegenheit der ge-
samten Republik, der gesamten Gesellschaft gemacht.
Deshalb darf die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöh-
nung“ nicht der verlängerte Arm der Vertriebenen sein.
Dem widerspricht die jetzt vorgesehene Verdoppelung
der Sitze des BdV im Stiftungsrat.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das ist nicht richtig!)


Ziel der Stiftung ist einerseits, an die Opfer von Flucht
und Vertreibung zu erinnern, und andererseits – das war für
die Sozialdemokraten immer der maßgebliche Aspekt –,
durch historische Wahrheit zur Versöhnung beizutragen.


(Beifall bei der SPD)


Diesem Anliegen hat der quälende Streit um die Beteili-
gung Erika Steinbachs im Stiftungsrat geschadet, wie an
den Rücktritten des polnischen Historikers Tomasz
Szarota, der tschechischen Wissenschaftlerin Kristina
Kaiserova und von Helga Hirsch als Mitglieder des wis-
senschaftlichen Beirats deutlich geworden ist.


(Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Das hat überhaupt nichts mit Frau Steinbach zu tun!)


Die Ausweitung des Einflusses des Bundes der Ver-
triebenen durch die Erhöhung der Mitgliederzahl im
Stiftungsrat trägt nicht dazu bei, den entstandenen Scha-
den wieder gutzumachen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das Gegenteil ist der Fall. Statt Vertrauen in das Pro-
jekt zu schaffen, was ich mir wünsche, gibt die Gesetzes-
novellierung eher Anlass zu Misstrauen. Natürlich kön-
nen wir als Abgeordnete schwerlich etwas dagegen
haben, dass künftig der Deutsche Bundestag über die
Besetzung des Stiftungsrates entscheidet. Selbstver-
ständlich nicht! Aber durch die Blockabstimmung aller
Mitglieder des Stiftungsrates bleibt – ganz nüchtern be-
trachtet – der Einfluss des Deutschen Bundestages auf
die Besetzung doch eher gering. Es ist auch schwerlich
etwas dagegen einzuwenden, dass die Anzahl der Mit-
glieder des wissenschaftlichen Beirates erhöht wird.
Aber diese Änderung und die Erhöhung der Anzahl der
Stiftungsratsmitglieder sind doch lediglich kosmetische
Änderungen, die verbergen sollen, dass der Einfluss des
BdV ausgeweitet werden soll. Deswegen haben doch
Frau Steinbach und der BdV das so begrüßt: weil sie
mehr Einfluss als Erfolg sehen. Das soll nun ein biss-
chen kaschiert werden.

Die vorliegende Gesetzesänderung ist eben das Er-
gebnis eines erfolgreichen Erpressungsversuchs des BdV.
Daran führt kein Weg vorbei.


(Beifall bei der SPD – Gitta Connemann [CDU/ CSU]: Erpressungsversuch ist doch eine ganz ungeheure Unterstellung, Herr Kollege! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


Den zwischen BdV und Bundesregierung erzielten
Kompromiss hatten wir bereits im Februar deutlich kriti-
siert. Deshalb werden wir dem jetzt in Gesetzestext ge-
gossenen Ergebnis nicht zustimmen.

Der ganze Vorgang ist – das kann ich Ihnen nicht er-
sparen – für die Regierungskoalition durchaus peinlich.
Deshalb ist nachvollziehbar, dass die CDU/CSU-Frak-
tion den Gesetzentwurf ursprünglich ohne Debatte still-
schweigend durchwinken wollte. Dabei hätte, liebe
Kolleginnen und Kollegen, die Änderung des Stiftungs-
gesetzes auch Chancen für einen Neuanfang der Stiftung
bedeuten können; das hat meine Kollegin Angelica
Schwall-Düren in der Ersten Lesung ausführlich darge-
legt. Deswegen nenne ich nur einige Stichworte: Warum
ist nur der BdV im Stiftungsrat vertreten und nicht auch
andere Vereine oder Projekte, die seit Jahren erfolgrei-
che Versöhnungsarbeit leisten? Es gibt viel mehr als den
BdV. Warum sind nicht ausländische Vertreter im Stif-
tungsrat, sondern nur im wissenschaftlichen Beirat, wa-
rum nicht auch ein Vertreter der muslimischen Gemein-
schaft?


(Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Weil es eine deutsche Stiftung ist!)


Diese sinnvollen Änderungen waren nicht möglich, weil
die Bundesregierung neuerlich mit dem BdV hätte ver-
handeln müssen. Das zeigt einmal mehr die ganze Pein-
lichkeit des Streits.

Der Streit hat es nicht leichter gemacht, das Projekt
zum Erfolg zu führen. Dieses Projekt kann nur gelingen
– und ich wünsche mir das Gelingen des Projektes –,
wenn es nicht ein nationales, sondern ein nachbarschaft-
lich europäisches Projekt wird.


(Beifall bei der SPD)


Dabei geht es nicht darum, wie in vielen Zuschriften im-
mer wieder behauptet und vom BdV befeuert, dass pol-
nische oder tschechische Wissenschaftler den Deutschen
ihr Geschichtsbild diktieren wollten. Zur historischen
Wahrheit gehört nicht nur die Sichtweise der professio-
nellen Vertriebenen, sondern auch die Perspektive unse-
rer europäischen Nachbarn.





Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


(Stephan Mayer [Altötting] [CDU/CSU]: Was sind denn professionelle Vertriebene?)


– Sie wissen genau, wen ich meine.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Nein, das wissen wir nicht, Herr Kollege Thierse! Was sind professionelle Vertriebene? Das ist eine Frechheit!)


Wie kann das Projekt jetzt noch gelingen? Ausgewie-
sene Experten mit internationalem Ruf müssen ermun-
tert werden, im wissenschaftlichen Beirat mitzuarbeiten.
Dabei kann an die erfolgreiche Arbeit internationaler
Expertengremien angeknüpft werden. Seit Jahren arbei-
ten deutsche, polnische und tschechische Wissenschaft-
ler in Historikerkommissionen gemeinsam an dem
Thema. Bisher wurde es versäumt, diese Arbeit für die
Stiftung ausreichend nutzbar zu machen.

Wir brauchen endlich einen diskussionswürdigen Ent-
wurf für die Ausstellungskonzeption. Seit der Verab-
schiedung des Stiftungsgesetzes im Herbst 2008 gibt es
keine bemerkbaren Fortschritte. Zahlreiche Fragen sind
nach wie vor ungeklärt. Was soll in der Ausstellung dar-
gestellt werden? Welches Wissen soll sie vermitteln?
Wie soll sich diese Ausstellung von anderen Ausstellun-
gen zu dem Thema unterscheiden? Welche Vertreibungs-
geschichten sollen dargestellt werden? Diese Fragen
sollten gemeinsam mit anderen, mit internationalen re-
nommierten Historikern diskutiert werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir Sozialdemokraten werden alles uns Mögliche und
Erlaubte dafür tun, dass das uns wichtige Anliegen, der
Opfer von Flucht und Vertreibung im Geiste der Versöh-
nung zu gedenken, umgesetzt wird.

In Deutschland brauchen Erinnerungs- und Gedenk-
projekte einen langen Atem. Das zeigen das Holocaust-
mahnmal und die Dauerausstellung des Deutschen His-
torischen Museums. Der Streit und die Debatten darüber
haben jeweils viele Jahre gedauert. Das hat aber nicht
geschadet, im Gegenteil. Die Diskussion auch über die-
ses Projekt muss offen und gemeinsam mit unseren
Nachbarn geführt werden. Die deutsche Geschichte ge-
hört nun einmal nicht nur uns Deutschen. Sie ist eine eu-
ropäische Angelegenheit. Das ist auch in Ordnung so.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704325500

Das Wort hat der Kollege Patrick Kurth von der FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Patrick Kurth (FDP):
Rede ID: ID1704325600

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Liebe Gäste auf der Besuchertribüne! Herzlich be-
grüße ich – das sei mir erlaubt – meine Eltern an diesem
späten Abend.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Guter Junge! Gut erzogen!)


Meine Damen und Herren, man kann nicht behaupten,
dass dieses Thema heimlich an der Öffentlichkeit vorbei-
gegangen ist. Vorbeigegangen aber sind aufgrund der per-
sonellen Diskussionen und aller anderen Debatten, die
geführt worden sind, der ernsthafte Hintergrund und die
Notwendigkeit dieser Gesetzesänderung. Wie notwendig
die Rückkehr zur Versachlichung der Diskussion ist, er-
kennt man leider auch an den Begrifflichkeiten, die hier
zum Teil gebraucht werden. Herr Thierse – wir arbeiten in
anderen Gremien sehr gut zusammen –, ich finde es nicht
richtig, wenn Sie der Bundesregierung und dem Deut-
schen Bundestag allen Ernstes bei einer derart sensiblen
Debatte und in diesem historischen Kontext vorwerfen,
erpressbar zu sein.


(Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Es war doch so!)


Es ist nicht richtig, hier das Wort Erpressung zu verwen-
den.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Doch! – Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich habe mir einmal angeschaut, was das Wort Er-
pressung – Sie haben das heute auch in einer Pressemit-
teilung verwendet – eigentlich bedeutet. Ein wesentli-
ches Merkmal der Erpressung ist, dass der Erpresser in
verwerflicher und eigensinniger Gesinnung einen Vorteil
für sich selbst einseitig und zum Schaden des Erpressten
erstrebt.


(Beifall der Abg. Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE] – Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, genau!)


Das heißt, er profitiert von etwas. – Schauen wir uns ein-
mal an, wer hier profitiert. Die Kirchen profitieren. Der
Zentralrat der Juden profitiert. Der BdV profitiert, und
der Deutsche Bundestag profitiert. Sind das alles Erpres-
ser?


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Der wissenschaftliche Beraterkreis wird spürbar ver-
größert. Der größte Profiteur ist der Stiftungszweck
selbst, weil die Meinungsbildung im Stiftungsrat auf ein
breiteres gesamtgesellschaftliches Fundament gestellt
wird.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Genau richtig!)


Die wissenschaftliche Fundiertheit wird wesentlich bes-
ser gewährleistet. Die Besetzung des Stiftungsrates ist
jetzt demokratischer gestaltet, weil der Bundestag die
Mitglieder wählt. Die Tatsache, dass er eine Gesamtliste
wählt, ist keine Ausnahme, sondern bei solchen Ent-
scheidungen die Regel.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Ein guter Vorschlag des Staatssekretärs!)






Patrick Kurth (Kyffhäuser)



(A) (C)



(D)(B)

Von daher bitte ich Sie, Herr Thierse, und vielleicht
auch nachfolgende Rednerinnen und Redner: Gehen Sie
in solch sensiblen Debatten bitte sorgsam mit Begriffen
wie „Erpressung“ um. Sie diskreditieren sonst das gute
und umsichtige Ergebnis und von vornherein die Arbeit
der Stiftung im In- und Ausland.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Da sind wir sorgsamer als Sie!)


Ich bitte Sie, zur sachlichen Debatte zurückzukehren.
Wir reden über „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. Das
ist der Name der Stiftung. Der FDP geht es dabei um
zwei gleichberechtigte Absichten, um zwei gleichbe-
rechtigte Interessen. Erstens geht es uns um Vergangen-
heitsbetrachtung und Erinnerung, ja. Zweitens geht es
uns darum, Lehren für die Zukunft daraus zu ziehen, und
um die Zukunftsausrichtung aktueller Politik. Wir betrei-
ben die Aufarbeitung im Rahmen dieser Stiftung – das
ist auch bei ähnlichen Projekten unser Anspruch – nicht
nur wegen der notwendigen Vergangenheitsbewältigung
oder wegen des erforderlichen Erinnerns, sondern wir
betreiben diese Aufarbeitung auch, um auf die Zukunft
gerichtet urteilsfähig zu bleiben. Urteilsfähigkeit heißt in
diesem Zusammenhang, aus den historischen Ereignis-
sen Konsequenzen für unser zukünftiges Handeln und
für unsere Beurteilungskraft zu ziehen.

Zur Vergangenheitsbetrachtung: Wir wissen – das ist
unbestritten – um die deutsche Schuld. Wir wissen, dass
das Deutsche Reich einen furchtbaren Krieg mit einem
bis dahin unbekannten Ausmaß an Verbrechen über Eu-
ropa gebracht hat. Aber wir wissen auch um die Schre-
cken der Vertreibung und die schrecklichen Folgen, die
diese Flucht mit sich brachte. In der gesamten Diskus-
sion – auch bei der Stiftung – darf es nicht darum gehen,
Krieg und Kriegsfolgen gegeneinander aufzurechnen.
Die Verbrechen der Deutschen werden nicht kleiner
durch Verbrechen an Deutschen, und die Verbrechen der
Deutschen rechtfertigen nicht Verbrechen an Deutschen.
Wir dürfen Verbrechen nicht gegeneinander aufwiegen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Leid und Schuld sind immer individuell. Aber – auch
das muss gesagt werden – der Holocaust und die Taten
der Naziherrschaft haben einen herausragenden Stellen-
wert und müssen diesen herausragenden Stellenwert
immer besitzen.

Zur Zukunftsausrichtung: Um es klar zu sagen: Wenn
man die Behandlung des Themas Vertreibung aus-
schließlich tatsächlich Vertriebenen überlässt, ist das
Thema in gar nicht allzu ferner Zeit aus dem gesell-
schaftlichen Verständnis heraus.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Das geht natürlich nicht. Das Thema muss wach bleiben,
weil Vertreibung auch heute noch ein vorhandenes und
bestehendes Problem ist. Nicht nur die Vertreibung der
Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg soll thematisiert
werden, sondern auch das Schicksal von Vertriebenen
anderer Nationen. Dies ist bis heute aktuell und hält bis
heute an.
Die Stiftungsorgane müssen jetzt so schnell wie mög-
lich ihre Arbeit aufnehmen. Die Stiftung muss jetzt
anfangen, zielgerichtet inhaltliche Arbeit zu leisten. Der
bis jetzt bestehende Schwebezustand, der die Stiftung
auch in der internationalen Wahrnehmung schwächt,
muss so schnell wie möglich beendet werden. Ich bitte
Sie deshalb alle um Ihre Zustimmung zu dieser gelunge-
nen Novelle.

Ich bedanke mich sehr herzlich.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704325700

Das Wort hat die Kollegin Lukrezia Jochimsen von

der Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704325800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vor

total leeren Tribünen – mit Ausnahme der Eltern des
Kollegen Kurth, die dankenswerterweise da sind – dis-
kutieren wir jetzt als letzten Tagesordnungspunkt über
eines der großen Themen der Erinnerungskultur. Ich
finde, die Art, wie wir darüber diskutieren, ist dem nicht
angemessen. Statt eine groß angelegte Debatte mit der
Öffentlichkeit zu führen, treibt die Regierungskoalition
ihren Gesetzentwurf zur Errichtung der Stiftung „Flucht,
Vertreibung, Versöhnung“ fast unter Ausschluss der Öf-
fentlichkeit durchs Parlament.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Wo soll der Gesetzentwurf denn sonst verabschiedet werden?)


Der Grund: So soll ein Skandal versteckt werden.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Das ist doch Unsinn!)


– Doch: Der Skandal der Erpressung der Bundesregie-
rung durch den Bund der Vertriebenen.


(Beifall bei der LINKEN)


Alle Hauptpunkte des neuen Gesetzes gehen auf For-
derungen des Bundes der Vertriebenen zurück, der sich
als Interessenvertretung damit eine Bundesstiftung zur
Beute macht.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Die FDP gehört nicht zum BdV!)


Die sechs Vertreter des Bundes der Vertriebenen – ich
bleibe dabei; ich kann rechnen – dominieren als größte
Einzelgruppe den Stiftungsrat, während zum Beispiel
der Bundestag nur vier Vertreter in den Stiftungsrat ent-
senden darf.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Rechnen? Abrechnen!)


Während im geltenden Gesetz ein zweistufiges Beru-
fungsverfahren festgelegt war – die Organisationen be-
nennen, aber das Kabinett entscheidet über die Benen-
nungen und beruft –, darf der Bundestag jetzt nur über





Dr. Lukrezia Jochimsen


(A) (C)



(D)(B)

ein fertiges Personalpaket mit 21 feststehenden Benen-
nungen entscheiden. Zitat:

Der Wahl liegt ein Gesamtvorschlag zugrunde, der
nur als Ganzes angenommen oder abgelehnt wer-
den kann.

„Nur als Ganzes angenommen oder abgelehnt“, das
nenne ich ein völlig undemokratisches Verfahren.


(Heike Brehmer [CDU/CSU]: Das müssen Sie gerade sagen!)


Während es von den Koalitionsfraktionen auch noch als
besonderes Beispiel für Transparenz und als Stärkung
der Rolle des Parlaments verkauft wird, nenne ich es
eine Missachtung des Parlaments.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich frage mich, welche Abgeordnete und welcher Abge-
ordnete mit ein bisschen Selbstrespekt so etwas mit sich
machen lässt.

Was ist aus dem prestigereichen Vorhaben mit dem
Motto „Sichtbares Zeichen“ von 2005 geworden? Ein
Geschacher über die Personalie Steinbach. Eine Beschä-
digung des deutsch-polnischen Verhältnisses. Ein Grün-
dungsdirektor, der behauptet, dass in der Geschichte der
Bundesrepublik – wohlgemerkt: der Bundesrepublik –
das Schicksal der Vertriebenen nicht angemessen behan-
delt worden sei. Eine Institution, die von internationalen
Wissenschaftlern verlassen wurde. Insgesamt ein Scha-
densfall für die Erinnerungspolitik.

Die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ ist
wahrlich auf einem schlechten Weg. Die parlamentari-
sche Zustimmung hat dramatisch abgenommen. Wäh-
rend das vorige Gesetz vom Dezember 2008 mit der
Zustimmung der Stimmen von CDU/CSU, SPD und
FDP bei Enthaltung der Grünen verabschiedet wurde
und nur die Linksfraktion es ablehnte, ist das heute ganz
anders.


(Otto Fricke [FDP]: Sie lehnen es doch immer noch ab!)


Sie haben immer gesagt, es gehe Ihnen um große
Zustimmung des Parlaments. Sie wissen ganz genau,
dass Sie diese große Zustimmung des Parlaments nicht
haben: Alle drei Oppositionsparteien lehnen heute die
Gesetzesänderungen ab.


(Zuruf von der FDP: Wie wollen Sie das schon wissen? – Stephan Mayer [Altötting] [CDU/ CSU]: Schlimm genug!)


Das sind über 46 Prozent, fast die Hälfte der Abgeordne-
ten.


(Otto Fricke [FDP]: Jeder hat ein anderes Verständnis von Opposition!)


Die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ ist jetzt
ein reines CDU/CSU-FDP-Projekt. Das mag die Koali-
tionsfraktionen nicht stören; doch nach dem heutigen
Abend können sie nicht mehr behaupten, dass diese
Institution der Erinnerungskultur von einer großen
Mehrheit des Bundestages gewollt sei. Das ist eigentlich
das Einzige, was heute gut ist, und einiger Trost an die-
sem Abend.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Sie hätten den Gesetzentwurf doch in jedem Fall abgelehnt!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704325900

Das Wort hat jetzt die Kollegin Tabea Rößner von

Bündnis 90/Die Grünen.


Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704326000

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Die Gesetzesnovelle zur Stiftung „Flucht, Vertrei-
bung, Versöhnung“ ist reine Camouflage;


(Otto Fricke [FDP]: Direkt ein militärischer Begriff! Das ist ja gut!)


denn hier werden Tatsachen beschönigt und nicht beim
Namen genannt. Es geht doch nicht wirklich darum, „der
Komplexität der Aufgabenstellung“ der Stiftung „besser
Rechnung zu tragen“, wie es in dem Entwurf hochtra-
bend heißt. Es geht einzig und allein darum, einen Streit
innerhalb der Koalition durch einen faulen Kompromiss
beiseitezuschieben. Wenn Sie ehrlich wären, würden Sie
das eingestehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Kanzlerin Merkel ließ den Konflikt um die Ansprü-
che von Frau Steinbach und ihres Bundes der Vertriebe-
nen monatelang treiben, ohne politisch zu entscheiden.
Statt Verantwortung zu übernehmen, duckte die Kanzle-
rin sich weg und riskierte damit eine Verschlechterung
der Beziehungen zu unseren östlichen Nachbarländern.
Der nun vorliegende Gesetzentwurf ist Ausdruck der
Schwäche und der Handlungsunfähigkeit der Regierung
Merkel/Westerwelle. Er wird dem Stiftungszweck nicht
gerecht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Wenn es wirklich um die Sache ginge, dann wäre jetzt
ein Neustart des Projektes nötig gewesen, durch den das
ursprüngliche Anliegen der Stiftung wieder in den Vor-
dergrund gerückt worden wäre, nämlich die Versöhnung
und die Darstellung der europäischen Dimension von
Flucht und Vertreibung.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Oppositionsreden dienen doch auch der Versöhnung!)


Ich frage mich: Warum muss die Zahl der Vertreter
des Bundes der Vertriebenen im Stiftungsrat von drei auf
sechs verdoppelt werden, während andere Gruppen gar
nicht vertreten sind, Gruppen, die in besonderem Maße
Opfer von Vertreibung waren, wie zum Beispiel Roma
und Sinti?





Tabea Rößner


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Wer im 20. Jahrhundert über Flucht und Vertreibung re-
det, der kommt auch an Muslimen als Opfer nicht mehr
vorbei.

Um das Einknicken vor den Ansprüchen von Frau
Steinbach zu kaschieren, musste die Koalition eine noch
stärkere Vergrößerung des Stiftungsrates von 13 auf jetzt
vorgeschlagene 21 Mitglieder vornehmen. Doch die
Erfahrung zeigt, dass sich mit einer solchen Ausweitung
die Handlungsfähigkeit eines Gremiums nicht verbes-
sert, sondern dass die Abläufe noch komplizierter wer-
den.


(Jens Ackermann [FDP]: Deshalb haben die Grünen auch eine Doppelspitze!)


Dass statt zwei nunmehr vier Mitglieder des Deut-
schen Bundestages dem Stiftungsrat angehören sollen,
ist nur auf den ersten Blick positiv zu bewerten. Offen
bleibt ja, welche Fraktionen einbezogen werden sollen.


(Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU]: Die Opposition will ja gar nicht!)


Stark kritikbedürftig ist auch das Wahlverfahren; Frau
Jochimsen hat es gesagt.


(Otto Fricke [FDP]: Rot-Rot-Grün hat nicht geklappt!)


Es ist nicht demokratisch, sondern folgt dem Prinzip
„Friss, Vogel, oder stirb“, wenn dem Deutschen Bundes-
tag ein Listenvorschlag unterbreitet wird, der nur unver-
ändert angenommen oder abgelehnt werden kann. Ein
selbstbewusstes Parlament kann eine derartige Regelung
nicht zulassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es gibt Anlass zu großer Sorge, dass sich die auslän-
dischen Vertreter aus dem wissenschaftlichen Beirat der
Stiftung zurückgezogen haben;


(Lars Lindemann [FDP]: Woher wissen Sie das denn?)


denn ohne eine angemessene Beteiligung von renom-
mierten Wissenschaftlern und Fachleuten aus den Nach-
barländern verliert die Stiftung ihre Glaubwürdigkeit
und kann sie nicht funktionieren.

Die Stiftung braucht, wie gesagt, keine Camouflage
für einen faulen Kompromiss, sondern einen ernsthaften
und grundlegenden Neustart, mit dem der pro-europäi-
sche Versöhnungsgedanke gestärkt wird.


(Zuruf von der CDU/CSU: Machen wir!)


In der vorgelegten Form lehnt die Fraktion von Bünd-
nis 90/Die Grünen die Novelle ab.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Sebastian Blumenthal [FDP]: Dafür sind Sie ja mit vielen Leuten hierhin gekommen!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704326100

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

nun der Kollege Stephan Mayer von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1704326200

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Kolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Mit der heutigen
Beschlussfassung über den vorliegenden Gesetzentwurf
wird endlich das Kapitel einer langwierigen und alles
andere als einfachen Diskussion darüber abgeschlossen,
wie der Stiftungsrat der Stiftung „Flucht, Vertreibung,
Versöhnung“ besetzt werden soll. Der heute vorliegende
Gesetzentwurf ist ein guter und ausgewogener Kompro-
miss, der meines Erachtens von allen Beteiligten getra-
gen werden kann, die an den Verhandlungen beteiligt
waren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich bin insbesondere froh darüber, dass mit der heuti-
gen Beschlussfassung endlich auch die Zeit der Irritatio-
nen und der Verunsicherungen darüber zu Ende geht,
wie es mit dem Ausstellungs-, Dokumentations- und Be-
gegnungszentrum im Deutschlandhaus am Anhalter
Bahnhof hier in Berlin weitergehen soll. Damit werden
Gott sei Dank aber auch all diejenigen in Deutschland
und andernorts Lügen gestraft, die dachten, man müsse
der Stiftung und dem Begegnungszentrum nur genügend
Klötze zwischen die Beine werfen, dann würden diese
schon scheitern. Das Zentrum gegen Vertreibung wird
entstehen, und es wird unter einer stärkeren Beteiligung
derjenigen entstehen, die am stärksten und am intensivs-
ten mit dem Thema verbunden sind, nämlich der Vertrie-
benen und deren Nachkommen.

Herr Kollege Thierse, ich muss schon sagen: Ich per-
sönlich finde es unsäglich, dass Sie hier von „professio-
nellen Vertriebenen“ gesprochen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie werden damit dem Leid und dem Schicksal von
15 Millionen Deutschen, die nach dem Zweiten Welt-
krieg vertrieben wurden oder flüchten mussten, in keiner
Weise gerecht.


(Dr. h. c. Wolfgang Thierse [SPD]: Herr Mayer, im Unterschied zu Ihnen weiß ich, wovon ich rede!)


Ich finde dies umso unerträglicher – das sage ich an
dieser Stelle auch ganz deutlich –, da ich weiß, dass Sie
in Breslau geboren wurden. Man muss einfach darauf
hinweisen, dass nicht derjenige vertrieben wurde, der
persönlich Schuld auf sich geladen hatte, sondern ob
man vertrieben wurde oder nicht, hing einzig und allein
von dem Umstand ab, ob man in dem – in Anführungs-
zeichen – falschen Wohnort lebte oder nicht.





Stephan Mayer (Altötting)



(A) (C)



(D)(B)


(Dr. h. c. Wolfgang Thierse [SPD]: Das weiß ich! – Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Bestreitet das jemand?)


Es gilt, auch das an dieser Stelle zu sagen. Hier von
„professionellen Vertriebenen“ zu sprechen, halte ich für
herabwürdigend. Ich kann nur mein Unverständnis und
Kopfschütteln zum Ausdruck bringen. Ich finde es er-
bärmlich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ebenso unerträglich und unverschämt finde ich, dass
Sie das Wort Erpressung in den Mund nehmen. Erpres-
sung ist ein Straftatbestand. Mit was hätte denn der BdV,
der Bund der Vertriebenen, erpressen sollen? Er hatte
doch gar kein Erpressungspotenzial.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir jeden Tag in der Zeitung gelesen!)


Das sagen Sie, Herr Thierse, als jemand, der vor kurzem
selber straffällig geworden ist. Das halte ich für eine
Brüskierung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD – Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das reicht ja wohl! – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt reicht es aber!)


Die SPD und auch die anderen Oppositionsfraktionen
haben heute deutlich gezeigt, welch Geistes Kind sie
sind.


(Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Aha!)


Dies finde ich umso bedauerlicher, meine lieben Kolle-
ginnen und Kollegen von der SPD, als es Peter Glotz
war, ein hochanerkannter und hochprofilierter Politiker
aus Ihren Reihen, der zusammen mit Erika Steinbach im
Jahr 2000 die Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“
gegründet hat.


(Dr. Lukrezia Jochimsen [DIE LINKE]: Er würde das heute auch anders machen!)


Gerade deshalb hätte ich persönlich es für außer-
ordentlich nachvollziehbar und gut verständlich gehal-
ten, wenn die Dame, auf deren Initiative das Zentrum ge-
gen Vertreibungen in Berlin entsteht, im Stiftungsrat
hätte mitarbeiten dürfen. Das war leider nicht möglich.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber es war keine Erpressung, sondern ein Akt des
Aufeinanderzugehens, dass der BdV und insbesondere
seine Präsidentin die Hand ausgestreckt und damit erst
die Grundlage für den jetzt gefundenen Kompromiss ge-
schaffen haben.


(Dr. Angelica Schwall-Düren [SPD]: Wir hatten ein Gesetz! Das musste beachtet werden!)


Frau Steinbach, eine hochanerkannte, profilierte und ins-
besondere – das möchte ich an dieser Stelle betonen – in-
tegre Kollegin, hat die Hand ausgestreckt.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Dennoch ist es richtig, dass mit diesem Kompromiss
eine deutlich verstärkte Vertretung der Vertriebenen der
22 Landsmannschaften des BdV im Stiftungsrat möglich
ist. Das möchte ich an dieser Stelle sagen, weil hier die
Frage aufgeworfen wird, warum nicht die anderen Ver-
triebenenorganisationen, sondern der BdV zum Zuge
kommt.

Der BdV ist nun einmal der Dachverband der Heimat-
vertriebenen in Deutschland.


(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Heimatvertriebenen! Aber es gibt auch andere!)


Man kann darüber streiten, wie viele Mitglieder er hat.
Ich sage aber offen: Egal, ob es 2 Millionen oder
1,5 Millionen sind, der BdV ist und bleibt die Dachorga-
nisation von 22 Landsmannschaften der Heimatvertrie-
benen in Deutschland und hat deshalb aus meiner Sicht
das Recht, im Stiftungsrat entsprechend vertreten zu
sein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Um was ging es Ihnen in dieser Diskussion? Ihnen
ging es doch nur darum, den BdV zu diskreditieren.


(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist überhaupt nicht wahr!)


Ihnen ging es doch nur darum, die Präsidentin des BdV
in ein Licht des Revanchismus und des Reaktionären zu
rücken.


(Beifall der Abg. Dorothee Bär [CDU/CSU] – Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn man das Thema ernst nehmen würde, würde man andere einbeziehen!)


Dies ist Ihnen Gott sei Dank nicht gelungen. Wir sind
mit diesem Gesetzentwurf einen deutlichen Schritt wei-
tergekommen.

Ich persönlich halte es auch für außerordentlich be-
grüßenswert, dass die Bedeutung der Stiftung auch da-
durch gehoben wird, dass dieses Hohe Haus in Zukunft
darüber befinden wird, wer im Stiftungsrat mitarbeiten
wird.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Das steigert die Bedeutung der Stiftung erheblich.
Zuallerletzt möchte ich noch darauf hinweisen, dass

die Erweiterung des wissenschaftlichen Beirats von
9 auf 15 Personen zu begrüßen ist. Damit wird eine pro-
fundere und auch breitere Einbeziehung von Wissen-
schaftlern möglich.

Ich würde es außerordentlich begrüßen, wenn sich
insbesondere auch Historiker aus Tschechien und Polen
bereiterklären würden, vorurteilsfrei und aufgeschlos-
sen mitzuarbeiten, nach dem Grundsatz, dass nur echte
Aufklärung und Wahrheit die Grundlage für wahre Ver-
ständigung und Versöhnung sein können. Dazu soll die
Stiftung dienen.





Stephan Mayer (Altötting)



(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


In diesem Sinne kann ich nur der Hoffnung Ausdruck
verleihen, dass wir in Zukunft wieder zur Ruhe und
Sachlichkeit zurückkehren, damit diese wichtige Stif-
tung ihrer Arbeit nachgehen kann und das Zentrum ge-
gen Vertreibungen in Berlin möglichst zügig und gewis-
senhaft weiterentwickelt werden kann.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704326300

Herr Kollege Mayer, ich rüge Ihren Vorwurf gegen-

über dem Kollegen Thierse, er sei straffällig. Er ist nicht
straffällig, und er ist auch nicht verurteilt. Das ist kein
parlamentarischer Sprachgebrauch im direkten Umgang
miteinander.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten
Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes zur Errich-
tung einer Stiftung „Deutsches Historisches Museum“.
Der Ausschuss für Kultur und Medien empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1751, den
Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der
FDP auf Drucksache 17/1400 anzunehmen. Ich bitte die-
jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:

Erste Beratung des von den Abgeordneten
Burkhard Lischka, Dr. Peter Danckert, Sebastian
Edathy, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Vereinfachung des Verfahrens nach der
Grundstücksverkehrsordnung

– Drucksache 17/1426 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

Interfraktionell wird wiederum vorgeschlagen, die
Reden zu Protokoll zu nehmen. Es handelt sich um die
Kolleginnen und Kollegen Dr. Jan-Marco Luczak, CDU/
CSU, Burkhard Lischka, SPD, Marco Buschmann, FDP,
Heidrun Bluhm, Die Linke, Wolfgang Wieland,
Bündnis 90/Die Grünen.1)

1) Anlage 5
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/1426 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Sahra Wagenknecht, Klaus Ernst,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Unternehmensmitbestimmung lückenlos garan-
tieren

– Drucksache 17/1413 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden der Kolleginnen und Kollegen Gitta Connemann
und Ulrich Lange, CDU/CSU, Ottmar Schreiner, SPD,
Sebastian Blumenthal, FDP, Jutta Krellmann, Die Linke,
und Beate Müller-Gemmeke, Bündnis 90/Die Grünen.


Gitta Connemann (CDU):
Rede ID: ID1704326400

Wir debattieren heute einmal mehr einen Antrag aus

der Villa Kunterbunt. Dort lebte ein kleines Mädchen
namens Pippi Langstrumpf nach dem Motto „Ich mach’
mir meine Welt, widde, widde, wie sie mir gefällt“. Pippi
lebte in einem Land der Fantasie, der Illusion, abseits
der Realität – wie die Fraktion der Linken. Dies zeigt
der vorliegende Antrag. Denn sein Hauptmerkmal ist die
Ignoranz der Sach- und Rechtslage.

Die Fraktion der Linken widmet sich nunmehr den
Unternehmen, die nicht in inländischen Rechtsformen
wie der GmbH oder der AG, sondern in einer ausländi-
schen Rechtsform wie der britischen „Limited“ oder der
niederländischen „B.V.“ firmieren. Eine wachsende
Zahl von großen Unternehmen, die in Deutschland an-
sässig seien, werde laut Darstellung der Linken diese
ausländischen Rechtsformen nutzen, um das deutsche
Mitbestimmungsrecht zu unterlaufen. Deshalb müsse
unsere nationale Unternehmensbestimmung nach dem
Drittelbeteiligungsgesetz – für Unternehmen mit 500 bis
2 000 Beschäftigten – und dem Mitbestimmungsgesetz
– für Unternehmen mit mehr als 2 000 Beschäftigten –
gesetzlich auf diese ausländischen Rechtsformen ausge-
weitet werden.

Die einzige Aussage, die im Antrag der Linken der
Realität entspricht, ist die Zahl 37. Ja, es ist richtig, dass
in Deutschland 37 Unternehmen mit mehr als 500 Be-
schäftigten in einer ausländischen Rechtsform betrieben
werden. Aber das war es dann auch schon. Denn dem
stehen folgende Zahlen gegenüber: In Deutschland un-
terliegen etwa 700 Unternehmen dem Mitbestimmungs-
gesetz, hälftige Beteiligung der Arbeitnehmervertreter
im Aufsichtsrat, und weitere 1 500 Unternehmen dem
Drittelbeteiligungsgesetz, Drittelbeteiligung der Arbeit-
nehmer im Aufsichtsrat. Die Zahl von 37 ausländischen
Gesellschaften ist dagegen verschwindend gering. Dies

Gitta Connemann


(A) (C)



(D)(B)

entspricht 1,68 Prozent der großen Unternehmen. Es
gibt also keine Flut von Unternehmen, die in ausländi-
sche Rechtsformen stürzen. Das von den Linken be-
schriebene Phänomen einer allgemeinen Tendenz der
Mitbestimmungsumgehung ist also lediglich ein Produkt
ihrer Fantasie. Die verschwindend geringe Zahl macht
deutlich, dass bei den großen Gesellschaften eine Mitbe-
stimmungsumgehung nicht im Vordergrund steht. Schon
die Sachlage wird also falsch beschrieben.

Leider setzt sich das bei der Darstellung der Rechts-
lage fort. Vor der Aufsetzung des Antrages hätte den Lin-
ken eine Befassung mit dem Europarecht gutgetan. Denn
dann hätte man gewusst, dass eine Ausweitung der deut-
schen Mitbestimmung auf ausländische Gesellschafts-
formen mit dem Europarecht nicht vereinbar ist. Die
herrschende Meinung in der rechtswissenschaftlichen
Literatur sieht in einer solchen einen Verstoß gegen den
europäischen Grundsatz der Niederlassungsfreiheit.
Der Europäische Gerichtshof hat in seinen Grundsatz-
entscheidungen zur Niederlassungsfreiheit wiederholt
Folgendes festgestellt: Gesellschaften, die nach dem
Recht eines anderen EU- oder EWR-Mitgliedsstaats
wirksam gegründet worden sind, sind auch in Deutsch-
land in ihrer ausländischen Rechtsform anzuerkennen,
und zwar selbst dann, wenn sie überwiegend oder gar
ausschließlich in Deutschland tätig sind, siehe nur
Rechtssachen Centros, Überseering, Inspire Art, Sevic
und Cartesio.

Eine englische Private Limited Company, Limited,
und eine niederländische Besloten Vennootschap, B. V.,
sind also als solche zu behandeln, ohne dass es darauf
ankommt, wo die Gesellschaft geschäftlich aktiv ist.
Denn es gilt die sogenannte Gründungstheorie. Danach
sind die gesellschaftsrechtlichen Verhältnisse eines Un-
ternehmens nach dem Recht zu beurteilen, nach dem es
gegründet wurde. Was die Reichweite des ausländischen
Gesellschaftsrechts angeht: Das Gesellschaftsstatut um-
fasst dabei alle Aspekte der gesellschaftsrechtlichen
Verfassung des Unternehmens. Dazu gehört nach herr-
schender Auffassung in der rechtswissenschaftlichen
Literatur, zum Beispiel Ulmer/Habersack/Henssler,
Spahlinger/Wegen, Junker, auch die Unternehmensmit-
bestimmung. Eine in Deutschland operierende Gesell-
schaft aus dem Ausland unterliegt daher nur dann
unseren nationalen Regelungen zur Unternehmensmit-
bestimmung, wenn das berufene ausländische Gesell-
schaftsrecht dies vorsieht. Einer Ausweitung der Unter-
nehmensmitbestimmung auf ausländische Rechtsformen
von EU- oder EWR-Mitgliedstaaten scheitert deshalb an
den rechtlichen Hürden, die der Europäische Gerichts-
hof zum Schutz der Niederlassungsfreiheit errichtet hat;
siehe nur Junker, Henssler, Riegger, Horn, Veit/Wichert,
Müller-Bonanni. Uns als nationalem Gesetzgeber ist es
also europarechtlich verwehrt, den Geltungsbefehl der
deutschen Gesetze zur Unternehmensmitbestimmung auf
Auslandsgesellschaften zu erstrecken.

Die Linken ignorieren mit Ihrem Antrag die Sach-
und Rechtslage. Entsprechend ihres Vorbildes Pippi
Langstrumpf machen Sie sich die Welt eben so, wie diese
ihnen gefällt. So darf aber kein Gesetzgeber arbeiten.
Zu Protokoll
Drei mal drei ergibt eben nicht sechs. Deshalb werden
wir ihren Antrag ablehnen.


Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1704326500

Mit ihrem Antrag fordert Die Linke gesetzliche

Bestimmungen dafür zu schaffen, dass die deutschen
Vorschriften für das Mitbestimmungsrecht auch für Ge-
sellschaften mit ausländischer Rechtsform, die in
Deutschland ihren Verwaltungssitz haben, gelten.

Wie ist die derzeitige Rechtslage? Unterliegt eine in
Deutschland tätige Gesellschaft einem ausländischen
Gesellschaftsstatut, ist das ausländische Mitbestim-
mungsrecht anzuwenden, wenn es im Gründungsstaat
der Gesellschaft überhaupt Mitbestimmungsregelungen
gibt.

Wenn man den Antrag liest, möchte man meinen, in
Deutschland habe die große Mitbestimmungsflucht be-
gonnen. Die von den Linken wie so häufig ignorierte Re-
alität zeigt ein ganz anderes Bild.

Die Fraktion Die Linke zitiert die Hans-Böckler-Stif-
tung. Deren empirische Arbeit habe ergeben, dass sich
die Anzahl ausländischer Kapitalgesellschaften mit in-
ländischem Verwaltungssitz oder Zweigniederlassung
und mitbestimmungsrelevanter Größe zwischen Januar
2006 und November 2009 um zehn auf insgesamt 16 Un-
ternehmen erhöht hat. Im gleichen Zeitraum hat sich die
Anzahl deutscher Personengesellschaften mit ausländi-
schem Komplementär in mitbestimmungsrelevanter
Größe ebenfalls um zehn auf insgesamt 21 erhöht. Beide
Fallgestaltungen zusammen ergeben den von der Frak-
tion Die Linke genannten Anstieg von 17 auf 37 Unter-
nehmen.

Nach einer Studie der Universität Jena zum Drit-
telbeteiligungsgesetz fallen unter dieses Gesetz circa
1 500 Unternehmen, vom Mitbestimmungsgesetz werden
circa 700 Unternehmen erfasst. Wer ernsthaft die ge-
nannten Zahlen miteinander vergleicht, sieht sofort: Es
ist kein wirkliches Problem in unserer Gesellschaft. Bei
diesem Zahlenverhältnis kann nicht von einem drängen-
den Problem gesprochen werden.

Selbst die von der Linksfraktion zitierte Hans-
Böckler-Stiftung räumt freimütig ein, dass, wie schon die
Biedenkopf-Kommission richtigerweise erkannt hat, an-
gesichts von 700 quasi paritätisch mitbestimmten und
von circa 1 500 drittelbeteiligten Unternehmen die Un-
tersuchungsergebnisse nicht auf eine verbreitete Flucht
schließen lassen, die die deutsche gesetzliche Mitbestim-
mung infrage stellen könnte. Aber diese Schlussfolge-
rung verschweigt die Fraktion Die Linke, was von dieser
populistischen Partei eigentlich auch nicht anders zu er-
warten ist.

Tatsächlicher gesetzlicher Handlungsbedarf besteht
immer dann, wenn Unternehmen eine vermeintliche ge-
setzgeberische Lücke dazu ausnutzen, um sich uner-
wünschte Vorteile zu verschaffen. Dies ist aber aufgrund
der Untersuchungsergebnisse nicht erkennbar. In den
genannten 37 Firmen wurde eine andere Rechtsform
nicht gewählt, um das deutsche Mitbestimmungsrecht zu
umgehen. Ausländische Investoren haben mit ihrem Sys-



gegebene Reden

Ulrich Lange


(A) (C)



(D)(B)

tem Erfahrung und fügen sie in unser System ein. Es ist
grundsätzlich zu begrüßen, dass es zu Wahlmöglichkei-
ten und einem Wettbewerb der Gesellschaftsrechtssys-
teme innerhalb Europas gekommen ist. Eine Einschrän-
kung der Niederlassungsfreiheit unter – das wurde
bereits oben angesprochen – Missbrauchsgesichtspunk-
ten ist meines Erachtens nicht zu rechtfertigen.

Ich möchte noch darauf hinweisen, dass der Vor-
schlag der EU-Kommission zur Errichtung der Europäi-
schen Privatgesellschaft, EPG, den Zugang kleiner und
mittelständischer Unternehmen zum europäischen Bin-
nenmarkt erleichtern soll.

Bereits mit ihrer Anfrage vom 24. März 2009
– Drucksache 16/12526 – hat die Linksfraktion eine an-
gebliche Mitbestimmungsflucht thematisiert. Geben Sie
doch auf und kommen Sie auf den Boden unserer Ar-
beitswelt zurück. Ihr populistischer Antrag wird in die-
sem Hause keine Mehrheit finden, da kein aktueller
Handlungsbedarf besteht. Am besten ziehen Sie ihn ein-
fach zurück.


Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1704326600

Deutschland ist das einzige Land in der EU, in dem

die Reallöhne im Durchschnitt nicht gestiegen sind, son-
dern seit bald zwei Jahrzehnten stagnieren. Das bedeu-
tet: Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden in
Deutschland am wachsenden Wohlstand real nicht mehr
beteiligt. Dieser Umstand spiegelt sich auch in der his-
torisch niedrigen Lohnquote und der steigenden Armut
trotz Arbeit sehr gut wider. Ursächlich hierfür ist das
Shareholder-Value-Prinzip, das einzig und allein das Ei-
gentümerinteresse nach raschen und hohen Profiten in
den Mittelpunkt des unternehmerischen Wirtschaftens
stellt. Um dieses Ziel zu erreichen, verlieren Instrumente
der Mitbestimmung zunehmend an Einfluss. Immer mehr
Beschäftigte müssen auf Mitbestimmungsrechte verzich-
ten. Durch Mitbestimmung soll die alleinige Orientie-
rung der Unternehmen an der Profitmaximierung aber
gerade verhindert werden.

In Deutschland sorgen das Drittelbeteiligungsgesetz,
das Mitbestimmungsgesetz und das Montanmitbestim-
mungsgesetz für eine demokratische Teilhabe der Beleg-
schaft und ihrer Vertreter an unternehmerischen Ent-
scheidungen: in Kapitalgesellschaften mit mehr als 500
Beschäftigten stellen die Arbeitnehmer ein Drittel der
Sitze im Aufsichtsrat, in Kapitalgesellschaften mit mehr
als 2 000 Beschäftigten ist der Aufsichtsrat paritätisch
besetzt. Allerdings hat der Vorsitzende des Aufsichtsra-
tes, der immer der Anteilseignerseite angehört, eine
Doppelstimme. In der Montanindustrie, die aus histori-
schen Gründen eine Sonderstellung innehat, wird der
Aufsichtsrat paritätisch besetzt. Vor und in der Wirt-
schafts- und Finanzkrise haben Belegschaftsvertretun-
gen immer wieder Alternativkonzepte zu Standortverla-
gerungen oder Massenentlassungen eingebracht. Sie
haben für die langfristigen Interessen ihres Unterneh-
mens gekämpft. Ohne dieses Engagement hätte uns die
Krise viel stärker getroffen.

Nun gilt es, die Unternehmensmitbestimmung an die
veränderten Rahmenbedingungen anzupassen. Auf-
Zu Protokoll
grund einer jüngeren Rechtsprechung des EuGH zur
völligen Niederlassungsfreiheit können in Deutschland
ansässige Unternehmen mit einer ausländischen Rechts-
form geführt werden. In der Folge versuchen eine stei-
gende Zahl von Unternehmen, die deutsche Mitbestim-
mung hierdurch zu umgehen. Das bedeutet mittlerweile:
Während 2006 nur 17 in Deutschland ansässige Firmen
mit mindestens 500 Beschäftigten sich über eine auslän-
dische Rechtsform wie zum Beispiel eine britische
Limited, eine niederländische B.V. oder eine US-ameri-
kanische Incorporated der deutschen Mitbestimmung
entziehen konnten, waren es laut dem Boeckler-Impuls
5/2010 der Hans-Böckler-Stiftung im November 2009
bereits 37. Weder Mitbestimmungsgesetz noch Drittelbe-
teiligungsgetz greifen in diesem Umfeld. Für die Be-
schäftigten heißt das: keine demokratische Teilhabe am
Unternehmen und damit keine Mitbestimmungsrechte.
Es ist aber auch eine ungerechte Behandlung gegenüber
allen anderen Unternehmen mit deutscher Rechtsform,
die ihrer Belegschaft Mitbestimmungsrechte einräumen.

Die Mitbestimmung in Unternehmen ist ein wesentli-
cher Eckpfeiler unserer sozialen und demokratischen
Gesellschaftsordnung. Mitbestimmung hat sich bewährt.
Die Interessen der Menschen müssen im Vordergrund ei-
nes sozial verantwortbaren Wirtschaftens stehen – Stake-
holder müssen Vorrang haben, Nachhaltigkeit muss vor
Kurzfristigkeit stehen. Mitbestimmungskritiker sagen,
die unternehmerische Mitbestimmung sei nicht mehr
zeitgemäß, sei Störfaktor und Standortnachteil in Eu-
ropa. Die Kritiker irren. Es handelt sich nicht um einen
„Irrtum der Geschichte“. Mitbestimmung ist zeitgemä-
ßer denn je. Das ist die Lehre aus der jüngsten Wirt-
schaftskrise. Mitbestimmung ist ein Standortvorteil: Sie
erhöht Motivation und Produktivität der Mitarbeiter und
trägt wesentlich zum nachhaltigen wirtschaftlichen Er-
folg von Unternehmen bei. Volkswirtschaften profitieren
von der Unternehmensmitbestimmung. Unternehmen
mit ausgedehnter Mitbestimmung weisen eine gerech-
tere Einkommensverteilung auf, besitzen eine gute wirt-
schaftliche Attraktivität, verfügen über eine starke Welt-
marktposition, und der soziale Frieden ist weitestgehend
sichergestellt. Unternehmensmitbestimmung ermöglicht
zuvörderst die Kontrolle wirtschaftlicher Macht.

Selbstverständlich sollen Unternehmen wettbewerbs-
fähig und profitabel bleiben. Unternehmensmitbestim-
mung widerspricht dem nicht: Analysen zum Beispiel
von Dr. Sigurt Vitols aus dem Jahr 2006 zeigen, dass die
Mitbestimmung keine negativen Auswirkungen auf die
Eigenkapitalrendite und Börsenbewertung von Unter-
nehmen hat. Die Volkswagen AG lebt das vor: Eine ex-
zellente Marktposition ist bei Volkswagen nicht trotz,
sondern wegen einer starken Mitbestimmung und damit
einer rechtlichen und wirtschaftlichen Gleichstellung
von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern erreicht
worden. In der „Financial Times“ von heute ist zu lesen,
dass die Volkswagen AG sich auf einem massiven Ex-
pansionskurs befinde. Neben der paritätischen Mitbe-
stimmung schreibt das VW-Gesetz im Falle von Stand-
ortverlagerung und Errichtung von Produktionsstätten
eine Zweidrittelmehrheit im Aufsichtsrat vor. Die EU-
Kommission hat in dieser Regelung – Art. 4, Abs. 2 VW-



gegebene Reden

Ottmar Schreiner


(A) (C)



(D)(B)

Gesetz – keine Verletzung der Kapitalverkehrsfreiheit
gesehen.

Um Standortverlagerungen zu erschweren und die
Unternehmensmitbestimmung zu stärken, sollten wir
auch über eine diesbezügliche Erweiterung der Mitbe-
stimmungsrechte auf alle Kapitalgesellschaften disku-
tieren. Jedes dritte Großunternehmen und sogar jedes
zweite Kleinunternehmen kehrt nach einiger Zeit nach
Deutschland zurück. Vieles wäre den Unternehmen und
der Belegschaft erspart geblieben, hätte ein Mitsprache-
recht der Arbeitnehmerseite existiert.

Die Europäische Rechtsprechung billigt den nationa-
len Gesetzgebern auch einen Spielraum für den Schutz
von Arbeitnehmerinteressen zu. Lassen Sie uns gemein-
sam diesen Spielraum für die Arbeitnehmerinnen und
die Arbeitnehmer nutzen. Die SPD hat bereits im Juni
2007 in ihrem Bericht zur Zukunft der Mitbestimmung in
Deutschland und Europa und im Beschluss des SPD-
Präsidiums vom 15. März 2010 eine Anpassung der Un-
ternehmensmitbestimmung an die Europäisierung und
Internationalisierung der Unternehmen gefordert.
Meine Partei und ich wollen die deutsche Mitbestim-
mung gesetzlich auf Auslandsgesellschaften und Unter-
nehmen mit europäischer Rechtsform mit inländischem
Verwaltungssitz ausdehnen, einen gesetzlichen Mindest-
katalog zustimmungsbedürftiger Geschäfte im Auf-
sichtsrat einführen, die paritätische Mitbestimmung
schon auf Unternehmen mit mehr als 1 000 Beschäftig-
ten ausweiten. Das wäre auch ein wirksamer Schutz ge-
gen die schlimmsten Auswirkungen des Finanzmarkt-
kapitalismus.

Lassen wir nicht zu, dass der soziale Frieden durch
die Umgehung der Unternehmensmitbestimmung ge-
fährdet wird. Politik, Wirtschaft und Gewerkschaften
stehen hier gemeinsam in der Verantwortung. Darum
lassen Sie uns gemeinsam für mehr Mitbestimmung und
demokratische Teilhabe in Deutschland und in Europa
arbeiten.


Sebastian Blumenthal (FDP):
Rede ID: ID1704326700

In dem vorliegenden Antrag fordert die Fraktion Die

Linke, die gesetzlichen Voraussetzungen dafür zu schaf-
fen, dass die deutschen Vorschriften über die unterneh-
merische Mitbestimmung – namentlich die des Drittel-
beteiligungsgesetzes und des Mitbestimmungsgesetzes –
auch für Gesellschaften mit ausländischer Rechtsform
gelten, die in Deutschland ihren Verwaltungssitz haben.
Um diese Forderung zu bewerten, sollten wir uns zu-
nächst mit den im Antrag und in der Begründung formu-
lierten Behauptungen beschäftigen. So wird behauptet:

Neue Untersuchungen zeigen allerdings, dass die
Umgehung der deutschen Mitbestimmungsgesetze
und die Gefahr einer „Flucht aus der Mitbestim-
mung“ zunehmen. … Wie eine aktuelle Studie von Ju-
risten der Hans-Böckler-Stiftung ergab, ist die Um-
gehung deutscher Mitbestimmungsregelungen mit
Hilfe ausländischer Rechtsformen mittlerweile zu ei-
nem drängenden Problem geworden: Die Zahl der in
Deutschland ansässigen Unternehmen, die in
Deutschland mindestens 500 Beschäftigte und eine
Zu Protokoll
rein ausländische Rechtsform oder eine Kombination

(zum Beispiel Limited & Co. KG)

stiegen.

Bei der erwähnten Quelle handelt es sich um die Stu-
die „Mitbestimmungsrelevante Unternehmen mit aus-
ländischen/kombiniert ausländischen Rechtsformen“
aus dem Jahr 2010.

Die erwähnte Studie der Hans-Böckler-Stiftung ist im
Antrag der Fraktion Die Linke nicht im Wortlaut wieder-
gegeben worden – aus gutem Grund. Denn die Bewer-
tung der Studie fällt – im Gegensatz zur eben wiederge-
gebenen Behauptung – sehr differenziert aus. So heißt es
in der Studie im Wortlaut:

Die vorliegende Untersuchung beweist einerseits,
dass weiterhin das von Mitbestimmungskritikern
zuweilen verbreitete Bild einer Sturmflut von Aus-
landsgesellschaften, die unter Vermeidung der Mit-
bestimmung in Deutschland tätig werden, nicht mit
der Realität übereinstimmt. Andererseits ist festzu-
stellen, dass die Zahl der mitbestimmungsrelevan-
ten Fälle seit Abschluss der Biedenkopfkommission
deutlich zugenommen hat (von 17 auf 37). Dies
stützt die Forderung, durch eine Erstreckung der
Mitbestimmungsgesetze auf Auslandsgesellschaf-
ten Rechtssicherheit herzustellen.

Es wird also zunächst festgestellt, dass – anders als die
Linke in ihrem Antrag zu suggerieren versucht – keine
Rede davon sein kann, dass die Gefahr einer „Flucht aus
der Mitbestimmung“ droht. Vielmehr wird von der
Hans-Böckler-Stiftung sogar klargestellt – Zitat –:


(quasi ten und von circa 1 500 drittelbeteiligten Unternehmen lassen diese Zahlen nicht auf eine verbreitete Flucht, die die deutsche gesetzliche Mitbestimmung in Frage stellen könnte, schließen. Wenn wir uns im Ausschuss dieses Themas annehmen, gilt es also, sehr sorgfältig zu prüfen, ob und inwiefern uns – entgegen der Einschätzung der HansBöckler-Stiftung – eine „verbreitete Flucht“ aus der Mitbestimmung bevorsteht und ob ein Reformbedarf bei der Unternehmensmitbestimmung gegeben ist. Das Problem ist erkannt: Deutsche Unternehmen un terlaufen die Mitbestimmung, indem sie von der deutschen in eine ausländische Rechtsform wechseln. Eine Regierungskommission empfahl schon 2006 zur Unternehmensmitbestimmung, falls nötig, „Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Mitbestimmung zu treffen“. Wenn diese Lücke von Unternehmen genutzt wird, dann muss der Gesetzgeber tätig werden. Nun ist es soweit: Es gibt einen Anstieg von 17 auf 37 Unternehmen, die diese Lücke in den letzten drei Jahren ausnutzten. Bekannte Namen wie H & M, McDonald’s Deutschland, Air Berlin, Kühne + Nagel und die Modekette Esprit sind dabei. Bei mehreren Fäl gegebene Reden Jutta Krellmann len lässt sich eine gezielte Antimitbestimmungsstrategie nachweisen: Hätten H & M, Esprit und Kühne + Nagel die Rechtsform nicht gewechselt, wäre die Mitbestimmung von Beschäftigten im Aufsichtsrat durch die gestiegene Beschäftigtenzahl fällig gewesen. Sie werden sagen: Von 17 auf 37, das ist immer noch nicht viel. Aber wie groß soll der Schaden werden, bevor gehandelt wird? Etwas rückgängig machen ist schwerer als sofort zu handeln. Das erleben wir ja gerade bei dem Thema Leiharbeit. Oder steht jemandem vielleicht der Sinn nach einer schleichenden Aushöhlung der Unternehmensmitbestimmung? Betriebsräte und die Arbeitnehmervertreterinnen und -vertreter in Aufsichtsräten sind für Beschäftigte ein wichtiger Bestandteil der Demokratie in der Arbeitswelt. Sie darf auf keinen Fall aufs Spiel gesetzt werden! In Unternehmen mit über 500 Beschäftigten besteht eine Drittelbeteiligung im Aufsichtsrat. In Unternehmen mit über 2 000 Beschäftigten stellen Arbeitnehmervertreter die Hälfte der Aufsichtsratsmitglieder. Die Mehrheit bleibt trotzdem immer bei den Anteilseignern, da der Vorsitzende doppelt zählt – und den wählen nur die Anteilseigner. Der Aufsichtsrat kontrolliert und berät den Vorstand, prüft den Jahresbericht und entscheidet bei zustimmungspflichtigen Geschäften. Ganz wichtig: Der Aufsichtsrat wählt den Vorstand. So haben Beschäftigteninteressen auch in der Unternehmensführung ein Gewicht. Diese Mitbestimmung wird nun bewusst umgangen, indem Unternehmen von einer deutschen zu einer ausländischen Rechtsform wechseln. Es wäre sträflich, sollte das so weitergehen: Mitbestimmung hat sich in Deutschland bewährt! Ganz praktisch sprechen fünf Gründe für die Annahme unseres Antrags: Erstens. In der Krise hat sich gezeigt: Arbeitnehmermitbestimmung hilft, kurzfristige Unternehmensstrategien zu verhindern und stärkt eine gute Unternehmensführung. Zweitens. Die Lücke im Gesetz wird geschlossen, und die Benachteiligung von Beschäftigten in Unternehmen mit ausländischer Rechtsform hat ein Ende. Drittens. Mitbestimmung über Aufsichtsräte und Betriebsräte verbessert nachweislich die Produktivität des Unternehmens. Viertens. Der Anteil von Frauen in Aufsichtsräten ist fast ausschließlich durch die Arbeitnehmerseite gewachsen: Auch hier leistet die AN-Mitbestimmung eine wichtige Aufgabe. Fünftens. Die Anwendung der deutschen Unternehmensmitbestimmung auf Unternehmen ausländischer Rechtsformen ist EU-konform; das ist durch ein Gutachten bestätigt worden. Wenn man sich all diese Argumente vor Augen führt, sollte man zu dem Ergebnis kommen, dass es besser ist, über die Ausweitung von Mitbestimmung zu diskutieren statt nur über deren Verteidigung. Es ist an der Zeit, dass die Bundesregierung Gesetze macht, durch die die Zu Protokoll Probleme der Menschen aufgegriffen werden, und zwar um ihre Lebensumstände zu verbessern und nicht zu verschlechtern. Wir sind so freundlich und weisen kontinuierlich auf Missstände hin: Nun seien auch Sie, die Bundesregierung, so mutig, etwas zu tun. Schließen Sie, die Bundesregierung, die Mitbestimmungslücke und machen Sie sich nicht mitschuldig an der Aushöhlung der Unternehmensmitbestimmung in Deutschland. Für die Linke ist klar: Es ist an der Zeit, die Mitbestimmung in Deutschland, in Europa und weltweit zu stärken. Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Jutta Krellmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704326800




(A) (C)


(D)(B)


Auch wir beobachten mit Sorge, dass die Errungen-
schaften der deutschen Unternehmensmitbestimmung
durch Unternehmen mit ausländischen Rechtsformen,
beispielsweise die britische Limited oder die holländi-
sche B. V., untergraben wird. Dazu gehören auch deut-
sche Scheinauslandsgesellschaften, die ausländische
Rechtsformen mit dem Ziel nutzen, die deutsche Unter-
nehmensmitbestimmung zu umgehen.

Diese Unternehmen können aufgrund der Rechtspre-
chung des Europäischen Gerichtshofs zur Niederlas-
sungsfreiheit als ausländische Kapitalgesellschaften in
ihrer ursprünglichen Rechtsform in Deutschland, unter
Anwendung eines ausländischen Gesellschaftsstatuts,
tätig werden und so die Mitbestimmung umgehen.

Diese Tatsache wurde bereits 2006 in der Regie-
rungskommission zur Modernisierung der deutschen
Unternehmensmitbestimmung diskutiert. Aufgrund der
wenigen Fälle wurde damals auf eine Empfehlung an
den Gesetzgeber, die Bestimmungen zur Unternehmens-
mitbestimmung auf alle Unternehmen – auch auf die
ausländischen Rechtsformen – auszudehnen, verzichtet.

Nach wie vor ist die Umgehung der Unternehmens-
mitbestimmung kein Massenphänomen. Dennoch ist die
Zahl dieser Unternehmen mittlerweile deutlich –, von
17 Unternehmen in 2006 auf heute 37 Unternehmen –,
gestiegen. Deswegen muss die Bundesregierung handeln
und, wie in dem Antrag der Fraktion Die Linke gefor-
dert, die Unternehmensmitbestimmung lückenlos auf
alle Unternehmensformen ausdehnen. Das gilt für alle
Formen der Unternehmensmitbestimmung nach dem
Drittelbeteiligungsgesetz und dem Mitbestimmungsge-
setz.

Diese Umgehung der deutschen Mitbestimmungs-
rechte ist nicht gerecht; denn die Beschäftigten werden
anders behandelt und haben weniger Partizipations-
rechte.

Die Unternehmensmitbestimmung ist eine historische
Errungenschaft, die wesentlicher Bestandteil unserer
Demokratie ist. Damit müssen wir behutsam umgehen,
und wir müssen alles dafür tun, dass diese Errungen-
schaft bewahrt wird. Sie stiftet soziale Wertschätzung
und gesellschaftlichen Zusammenhalt und könnte ein
Mittel sein, die großen Unternehmen wieder stärker auf
das Gemeinwohl zu verpflichten.



gegebene Reden





Beate Müller-Gemmeke


(A) (C)



(D)(B)

Wir haben hier eine rechtliche Lücke, und jedes Un-
ternehmen, das diese Lücke nutzt, macht dieses Problem
größer. Deswegen fordern wir die Regierung auf, mit ei-
ner gesetzlichen Regelung nicht länger zu warten.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704326900

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/1413 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Kekeritz, Ute Koczy, Thilo Hoppe, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Die Ziele der Bundesregierung in der Weltge-
sundheitsorganisation neu ausrichten

– Drucksache 17/1581 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)

Ausschuss für Gesundheit

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden der Kolleginnen und Kollegen Sabine Weiss,
CDU/CSU, Karin Roth, SPD, Helga Daub, FDP, Niema
Movassat, Die Linke, Uwe Kekeritz, Bündnis 90/Die
Grünen.


Sabine Weiss (CDU):
Rede ID: ID1704327000

Zunächst einmal: Wir alle sind froh darüber, dass die

Bundesrepublik Deutschland nach neun Jahren Absti-
nenz wieder im Exekutivrat der Weltgesundheitsorgani-
sation vertreten ist. Und wir sind uns, glaube ich, auch
alle darüber einig, dass wir mit Dr. Ewold Seeba einen
hochqualifizierten und höchst engagierten Vertreter in
diesen Exekutivrat entsandt haben. Seine Arbeit und die
Arbeit seines Teams werden wir als Parlamentsab-
geordnete mit allen Kräften unterstützen.

Deutschland ist drittgrößter Geldgeber der Weltge-
sundheitsorganisation, und das auch in Zeiten der welt-
weiten Finanz- und Wirtschaftkrise. Uns ist daran gele-
gen, dass jeder einzelne Euro, den unsere steuerzahlende
Bevölkerung in die WHO investiert, ein gut angelegter
Euro ist; Geld, mit dem wir die weltweite Gesundheit
stärken. Es geht um die Gesundheit der Menschen welt-
weit, wohlgemerkt, nicht allein um die Gesundheit der
Industriezweige, die auf diesem Gebiet ihr Geld verdie-
nen, oder um die Gesundheit derjenigen, die sich Medi-
kamente und ärztliche Versorgung finanziell leisten kön-
nen.

Wir wollen eine starke und leistungsfähige WHO,
auch darin sind wir uns, denke ich, einig in diesem
Hause. Wir wollen eine Weltgesundheitsorganisation,
die ihre ehrgeizigen Ziele erreichen kann: den „best-
möglichen Gesundheitszustand aller Völker“, wie es
ihre Verfassung formuliert. Diesem Auftrag stellt sich
auch die Bundesregierung während ihrer dreijährigen
Mitgliedschaft im Exekutivrat.

Nun haben die Antragstellerinnen und Antragsteller
der Grünen viel Mühe und Fleiß darauf verwendet, die
ihrer Meinung nach vorrangigen Aufgabenbereiche
darzustellen. Das Ganze steht dann auch noch unter der
Überschrift: „Die Ziele der Bundesregierung in der
Weltgesundheitsorganisation neu ausrichten.“

Sie haben in Ihrem Antrag selbst erfreulich oft festge-
stellt, dass der Arbeitsansatz der Bundesregierung
grundsätzlich begrüßenswert ist. Auf dieser Basis lässt
sich ja schon einmal gut arbeiten. Warum dann aller-
dings die Ziele der Bundesregierung neu ausgerichtet
werden müssen, bleibt mir doch schleierhaft.

Im Grunde sind wir uns doch darüber einig, dass die
Schwerpunkte Stärkung von Gesundheitssystemen und
Pandemievorsorge unbestritten in den Zielkatalog gehö-
ren. Sie hätten gern den Bereich der Medikamentenver-
sorgung dezidiert auf die Agenda gehoben. Ich hatte,
ehrlich gesagt, nie den Eindruck, als sei dieses Aufga-
benfeld von der Agenda abgesetzt gewesen. Im Gegen-
teil: Der kostengünstige Zugang zu wichtigen Arzneimit-
teln für die Transformations- und Entwicklungsländer
steht seit Jahren ganz oben auf unserer Aufgabenliste.

Die Bundesregierung unter Kanzlerin Angela Merkel
ist seit Jahren dabei, Wege zu eröffnen, dass die ärmeren
Länder der Welt Zugang zu kostengünstigen Medika-
menten erhalten, und dies nicht nur für die gängigen
Krankheiten, sondern auch und gerade bei den „verges-
senen Krankheiten“, bei denen die Hersteller zunächst
einmal wenig lukrative Vermarktungschancen sehen.

Allerdings, das habe ich auch schon bei der Beratung
Ihres Antrags zum Thema Generika gesagt, im Mittel-
punkt muss die Frage der Qualität der Arzneimittel ste-
hen. Der weltweite Gesundheitsmarkt ist, Patent hin
oder her, eine lukrative Einnahmequelle und der Tum-
melplatz etlicher rücksichtsloser bis krimineller Ge-
schäftemacher. Hier reicht die plakative Forderung
„Versorgung von Entwicklungsländern mit Generika si-
chern“ nicht aus.

Dieses Thema muss der Deutsche Bundestag auch
nicht als neues Ziel für die Arbeit in der WHO definie-
ren. Da sind dicke Bretter zu bohren.Da ist die WHO seit
Jahren dran, und dabei wird sich der Vertreter der Bun-
desregierung im Exekutivrat auch nicht in die zweite
Reihe stellen, und wir alle tun gut daran, ihn dabei zu
unterstützen.

Mit dem Arbeitsschwerpunkt „Pandemievorsorge“
scheinen sich die Antragstellerinnen und Antragsteller
der Grünen etwas schwer zu tun. Aber auch da steht zu-
nächst einmal kein Dissens im Raum: Das Thema selbst
wird als wichtig anerkannt. Unterschiede gibt es, was
die Rolle der WHO im aktuellen Pandemiegeschehen
rund um die Schweinegrippe angeht.

Die Sichtweise der Antragsteller scheint eindeutig:
Die WHO hat sich in die Fänge der Pharmaindustrie
begeben, viel zu früh den Pandemiefall ausgerufen, eine
überflüssige Produktion von Impfstoff veranlasst und

Sabine Weiss (Wesel I)



(A) (C)



(D)(B)

darüber hinaus die Versorgung der ärmeren Länder gar
nicht mehr im Blick gehabt. Die Glaubwürdigkeit der
WHO habe darunter gelitten und nun solle die Bundes-
regierung dafür sorgen, dass dies wieder ins Lot kommt. –
Dies ist eine politische Sichtweise, die durchaus nicht
von allen geteilt werden muss. Dr. Seeba ist da ganz
anderer Auffassung, ich zitiere:

Die WHO spielt in der globalen Gesundheitsde-
batte eine zentrale, zum Teil normsetzende Rolle.
Hervorzuheben sind die Internationalen Gesund-
heitsvorschriften von 2005, die sich aktuell im Zu-
sammenhang mit der Influenza A/H1N1, der so ge-
nannten Schweinegrippe, bewährt haben …

Auch die Generaldirektorin der WHO stellte bei der
Eröffnung der 62. Weltgesundheitsversammlung in Genf
die Rolle der WHO bei der Pandemievorsorge am Bei-
spiel der Schweinegrippe deutlich und positiv heraus.

Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grü-
nen, von einer Glaubwürdigkeitskrise der WHO beim
Thema Pandemie sprechen, so mag das Ihre politische
Auffassung sein. Sie muss dennoch nicht von allen
geteilt werden. Vor allem ist sie jedenfalls kein Grund,
hier eine Neuausrichtung der Ziele der Bundesregierung
vorzunehmen. Die Pandemievorsorge ist erklärtes Ziel
der WHO, und die Bundesregierung als Mitglied im Exe-
kutivrat der Weltgesundheitsorganisation steht voll und
ganz hinter diesem Ziel.

Im Übrigen ist Ihre Argumentation zur Rolle der
WHO nicht ganz ohne Widersprüche. Auf der einen Seite
fordern Sie eine internationale Führungsrolle der Welt-
gesundheitsorganisation. So steht es in Ihrem Antrag für
den Bereich der Stärkung der Gesundheitssysteme.
Gleichzeitig attestieren Sie der WHO einen „dramati-
schen Glaubwürdigkeitsverlust“ beim Thema Pande-
mievorsorge. Das ist in meinen Augen keine glückliche
Methode, für eine weltweite Akzeptanz der WHO zu sor-
gen. Wenn ich einen Partner stärken will, darf ich ihm
nicht im gleichen Atemzug einen „dramatischen Glaub-
würdigkeitsverlust“ bescheinigen.

Wir haben durch unsere Mitgliedschaft im Exekutiv-
rat die Chance, die Rolle der WHO mitzubestimmen,
ihre Arbeit und Effektivität kritisch zu hinterfragen und
gleichzeitig an den Stellschrauben zu drehen, die am
Ende zu weltweiter Stärkung und Anerkennung führen.
Da braucht es aber keine Neuausrichtung der Ziele, so
wie es der vorliegende Antrag Glauben macht.

Sie beschreiben im wesentlichen Punkte, die hier im
Deutschen Bundestag und im Alltagsgeschäft von Bun-
desregierung und WHO-Vertretung unstrittig und selbst-
verständlich sind. Da brauchen wir keine Neuausrich-
tung, und darüber müssen wir uns hier und heute nicht
erneut verständigen.Da, wo Ihr Antrag zuspitzt, im
Bereich Pandemievorsorge, im Bereich Generika-Ver-
sorgung und beim Thema der sektoralen Budgethilfe,
kommen Sie zu politischen Schlussfolgerungen, die wir
im Einzelnen nicht unbedingt teilen. Von daher wird die
CDU/CSU Ihrem Antrag nicht zustimmen. Wir sollten
unsere Zeit und Anstrengung weniger darauf verwenden,
Zu Protokoll
gemeinsame Zielsetzungen immer wieder neu einzufor-
dern, sondern diese tatsächlich auch zu erreichen.


Karin Roth (SPD):
Rede ID: ID1704327100

Die Weltgesundheitsorganisation, WHO, hat in den

vergangenen Jahren in hervorragender Weise dazu bei-
getragen, die Weltgesundheit in den Mittelpunkt der öf-
fentlichen Wahrnehmung zu rücken. Vieles, was in den
Industrieländern selbstverständlich ist, fehlt in den Ent-
wicklungsländern mit verheerenden Auswirkungen. Die
WHO als Sonderorganisation der Vereinten Nationen
muss sich aus meiner Sicht für die Realisierung der Mil-
lenniumsziele im Bereich Gesundheit, zum Beispiel der
Bekämpfung der Mütter- und Kindersterblichkeit, der
Bekämpfung von HIV/Aids, Tuberkulose, Malaria und
den Zugang zu bezahlbaren Medikamenten, in besonde-
rem Maße einsetzen. Die Verantwortung für eine Verbes-
serung der Weltgesundheit kann von den 193 Mitglied-
staaten nur sehr unterschiedlich wahrgenommen
werden, weil den Entwicklungsländer die finanziellen
Mittel fehlen, die Bevölkerung beispielsweise mit ausrei-
chend kostengünstigen Medikamenten zu versorgen oder
ein funktionierendes Gesundheitssystem bereitzustellen.

Trotzdem, so scheint es jetzt zu sein, haben laut der
Generaldirektorin der WHO, Frau Dr. Margaret Chan,
die Entwicklungsländer und die Geberstaaten erkannt,
dass schlechte Gesundheitsdienste zu weitreichenden
volkswirtschaftlichen Verlusten führen. Diese „revolu-
tionäre“ Erkenntnis muss dazu führen, dass die Investi-
tionen in die Gesundheitssysteme ebenso wie in die
Gesundheitsvorsorge eine hohe Priorität in der Ent-
wicklungszusammenarbeit erhalten.

Es ist schon beschämend, dass das Millenniumsziel,
die Müttersterblichkeit entscheidend zu reduzieren, bis
zum Jahr 2010 kaum erfolgreich umgesetzt wurde. Im-
mer noch sterben jährlich rund 530 000 Mütter, weil sie
nicht ausreichend während Schwangerschaft und Ge-
burt versorgt wurden. Es ist Frau Dr. Chan zuzustim-
men, dass hier dringender Handlungsbedarf besteht.
Die Frage ist nur, welche Rolle kann hierbei die WHO
spielen?

Inwieweit hat zum Beispiel die WHO darauf gedrun-
gen, in allen von ihr verfolgten Programmen zur Verbes-
serung der Gesundheitsversorgung auf die Gleichstel-
lung der Geschlechter im Rahmen einer Genderstrategie
zu achten? Es ist doch bekannt, dass gerade Frauen in
den Entwicklungsländern die tragende Rolle für eine
nachhaltige Entwicklung zukommt und sie gleichzeitig
am stärksten von den Problemen in der Gesundheitsver-
sorgung und der mangelnden Prävention betroffen sind.

Die Qualität der Gesundheitsversorgung hängt auch
von der ausreichenden Verfügbarkeit medizinischen
Personals ab. Deshalb muss die WHO darauf drängen,
dass ihr Verhaltenskodex für die Rekrutierung medizini-
schen Personals international eingehalten wird. Die
Bundesregierung ist aufgefordert, dies auch auf natio-
naler Ebene einzuhalten.

Beim Thema HIV/Aids sind durchaus Erfolge zu ver-
zeichnen; das ist auch bitter nötig, denn in den letzten



gegebene Reden

Karin Roth (Esslingen)



(A) (C)



(D)(B)

20 Jahren gab es einen Anstieg der HIV-Infizierten von
7,5 Millionen Betroffenen auf über 33 Millionen im Jahr
2008. Täglich infizieren sich 7 400 Menschen neu. Täg-
lich sterben 5 500 Menschen an HIV/Aids, dabei tragen
die Frauen die Hauptlast dieser Epidemie. In Subsa-
hara-Afrika sind 60 Prozent der Infizierten weiblich.
Diese weltweite Epidemie, die jedoch vor allem das süd-
liche Afrika trifft, ist eine Herausforderung für alle, ins-
besondere für die betroffenen Länder, die Geberstaaten,
die Wissenschaft, die Pharmaindustrie und die Hilfsor-
ganisationen.

Die WHO hat eine globale Verantwortung für den
Aufbau der Gesundheitssysteme. Dabei geht es um eine
bessere Betreuung der Patienten und einen effizienteren
Einsatz der Medikamente, um eine höhere Wirksamkeit
zu erreichen. Die Verbesserung der Verfügbarkeit der
Medikamente und vor allem der Wirksamkeit durch
nachhaltige Therapiebegleitung auf der einen Seite ist
für die Menschen in den Entwicklungsländern existen-
ziell. Dazu gehört auch die Bezahlbarkeit der Medika-
mente, indem beispielsweise der Zugang zu und die Pro-
duktion von Generika nicht behindert, sondern gefördert
werden. Auf der anderen Seite geht es auch um die Ent-
wicklung von Medikamenten zur Prävention und damit
um die Verhinderung von Epidemien. Ein leuchtendes
Beispiel der Präventivmedizin ist die Ausrottung der
Pocken schon vor 30 Jahren. Jetzt geht es darum, die
drei großen Krankheiten mehr als bisher ins Visier zu
nehmen.

Ein wichtiges Feld zur Entwicklung von Medikamen-
ten für die vernachlässigten Krankheiten ist die Unter-
stützung globaler Forschungsnetzwerke im Rahmen von
Produktentwicklungspartnerschaften, PDPs. Hierzu be-
darf es einer mit den Akteuren abgestimmten Vorgehens-
weise, um Doppelstrukturen zu vermeiden. In Zukunft
muss geklärt werden, wie die Zusammenarbeit zwischen
WHO, dem Global Fund, GAVI und anderen multilate-
ralen Initiativen abgestimmt werden kann.

Die WHO müsste eine führende, koordinierende Rolle
bei der Festlegung der Forschungsinitiativen auch für
die vernachlässigten Krankheiten übernehmen und da-
bei gemeinsam mit ihren Mitgliedstaaten und der EU
entsprechende Forschungsprogramme initiieren.

Die WHO mit ihrer globalen Expertise seit über
60 Jahren muss im Rahmen der globalen Gesundheits-
politik eine aktive Rolle spielen. Dazu muss sie von den
Mitgliedstaaten finanziell in die Lage versetzt werden.
Eine Unterstützung der multilateralen Organisationen
steht dabei nicht im Widerspruch zu einer effizienten
deutschen Entwicklungspolitik.

Wenn die WHO zusätzlich auf freiwillige Beiträge der
Mitgliedstaaten angewiesen ist, um ihre Arbeit zu leis-
ten, so stellt sich die Frage, ob nicht ein anderer Finan-
zierungsmechanismus notwendig ist, um ein nachhalti-
ges Wirken zu gewährleisten. Im Rahmen der Diskussion
über die Reformen innerhalb der WHO sollte die Bun-
desregierung ihr bisheriges Engagement bestätigen und
prüfen, ob nicht zusätzliche freiwillige Beiträge zur Ver-
besserung der notwendigen Koordinierungsaufgaben
erforderlich sind.
Zu Protokoll
Es ist keine Frage, der Weltgesundheitsorganisation
kommt in der jetzigen Phase der Globalisierung eine be-
deutendere Rolle als bisher zu. Vieles muss multilateral
geregelt werden, ohne die nationale Verantwortung au-
ßer Acht zu lassen. Die neuen globalen Netzwerke, die
im Rahmen von Stiftungen und anderen Nichtregie-
rungsorganisationen zusätzliche sinnvolle Arbeit
leisten, sollten stärker als bisher auch in kooperative
Strukturen der WHO aufgenommen werden. Das Zusam-
menwirken aller in der globalen Gesundheitspolitik Ver-
antwortlichen kann somit zu einer größeren Dynamik
und auch zu mehr Effizienz führen.


Helga Daub (FDP):
Rede ID: ID1704327200

Vorab möchte ich den Kollegen und Kolleginnen von

Bündnis 90/Die Grünen sagen, dass ich mich sehr freue,
dass sie in ihrem Antrag so viel Lob für die Arbeit der
Bundesregierung finden.

Und ich bin sicher, dass ihre Erwartungen auch er-
füllt werden, wenn es um die Rolle Deutschlands im Exe-
kutivrat der WHO geht. Als drittgrößter Geber zum re-
gulären Haushalt der Weltgesundheitsorganisation hat
Deutschland eine starke Stimme, die die Bundesregie-
rung dafür nutzen muss und nutzen wird, essenzielle Bei-
träge zur Verbesserung der Weltgesundheit zu leisten.

Gesundheit ist die Voraussetzung für Entwicklung.
Gesundheit ist im Koalitionsvertrag zu Recht als einer
der Schlüsselsektoren der Entwicklungszusammenarbeit
genannt worden. Die Einsetzung des Unterausschusses
„Gesundheit in den Entwicklungsländern“ ist nur ein
Zeichen des Willens, diesen Bereich zum Erfolg zu füh-
ren. Das heißt, der Deutsche Bundestag erkennt die Be-
deutung des Themas an und will sich den drängenden
Fragen zur Gesundheitsversorgung in Entwicklungslän-
dern nachdrücklich widmen. Die Fortschritte bei der
Erreichung der Gesundheits-Milleniums-Ziele sind noch
nicht zufriedenstellend, das wissen wir natürlich – über
Partei- und Fraktionsgrenzen hinweg.

Auch stimmen wir als FDP in vielen Bereichen den
Schwerpunktsetzungen der Vorgängerregierungen in
diesem Bereich zu, sei es die Stärkung der Gesundheits-
systeme oder die bessere Koordinierung der vielen glo-
balen Initiativen. Es ist wichtig, dass dies weitergeführt
wird.

Wo wir aber Handlungsbedarf sehen, ist in der Um-
setzung der gesteckten Ziele und in gewisser Weise auch
in Bezug auf die Maßnahmen. Finanzierung von Ge-
sundheit ist für uns ein produktives Investment, das dem
Dreiklang von Armutsbekämpfung, Menschenrechten
und Wirtschaftswachstum zugutekommt. Nur gesunde
Menschen sind in der Lage, sich selbst zu helfen.

Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass dort, wo
Regierungen noch nicht einmal in der Lage sind, eine
Basisgesundheitsversorgung zu gewährleisten, viele pri-
vate und gemeinnützige Projekte mit der Bereitstellung
von Absicherungen gegen Gesundheitsrisiken einen
wichtigen Beitrag leisten. Damit ist die Zusammenarbeit
mit Nichtregierungsorganisationen und dem Privatsek-
tor in Deutschland und in den Partnerländern zentral



gegebene Reden

Helga Daub


(A) (C)



(D)(B)

für den Erfolg unserer Politik. Die Rolle der WHO als
Koordinator darf hier nicht unter-, aber auch nicht
überschätzt werden. Bereits jetzt ist die WHO intensiv in
Initiativen zur Gesundheitssystemstärkung involviert.

Erlauben Sie mir, an dieser Stelle darauf hinzuwei-
sen, dass die als Beispiel – und es ist ein gutes Beispiel –
genannte Plattform der GAVI Alliance, des GFATM und
der Weltbank seit einigen Monaten nicht mehr „Joint
Platform For Health Systems Strengthening“ heißt, son-
dern „Health System Funding Platform“.

So einig wir uns in den Grundsätzen der Stärkung der
Gesundheitssysteme und der internationalen Zusam-
menarbeit auch sind – die Frage der Finanzierungs-
möglichkeiten bewerten wir als Liberale anders. Gut
50 Prozent unserer Gesundheitsmittel werden über mul-
tilaterale Kanäle geleitet. Selbstverständlich bleibt
Deutschland aktiver Mitspieler und Partner auf globaler
Ebene. Aber: Multilaterale Ansätze sind nicht automa-
tisch effizienter als bilaterale. Die FDP-Fraktion be-
grüßt ausdrücklich die Initiative des BMZ, dass bei jeder
einzelnen Organisation detailliert geprüft werden soll:
Wie effizient arbeitet sie? Welche Möglichkeiten des in-
haltlichen Einflusses bieten sich? Und vor allem: Wie
transparent gestaltet sich die Kontrolle der verwendeten
Mittel?

Effizienz und Transparenz: Das sind auch die
Gründe, warum wir die Budgethilfe, auch die sektorale
Budgethilfe, wesentlich differenzierter betrachten als
die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Der For-
derung ihres Antrags, zur Gesundheitssystemstärkung
das Instrument der sektoralen Budgethilfe verstärkt he-
ranzuziehen, können wir daher keinesfalls zustimmen.

In der Frage, wie die Rahmenbedingungen für die
Verfügbarkeit von essenziellen Medikamenten verbes-
sert werden können, liegen wir erfreulicherweise über
Koalitions- und Fraktionsgrenzen hinweg sehr nah bei-
einander. So stimmen wir in der Einschätzung überein,
dass die WHO ihre Kooperation mit der World Trade
Organisation, WTO, und der World Intellectual Property
Organisation, WIPO, verstärken möge. Ich würde die
Aufzählung gerne noch um die United Nations Confe-
rence on Trade and Development, UNCTAD, ergänzen.

Aus unserer Zusammenarbeit im AWZ kennen wir
bereits unsere abweichenden Meinungen bezüglich Han-
delsabkommen und -einschränkungen bei Medikamen-
ten, insbesondere Generika. Auch wir begrüßen natür-
lich den möglichst umfassenden Zugang zu
Medikamenten, insbesondere für die ärmsten Länder.
Allerdings darf man hier auch den Schutz der Bevölke-
rung dieser Länder nicht außer Acht lassen. Kontrollen
gewährleisten auch Schutz vor minderwertigen Medika-
menten oder gar Fälschungen. Im Hinblick auf Schwel-
lenländer sollte versucht werden, eine Balance zwischen
gesundheits- und handelspolitischen Zielen zu errei-
chen.

Unsere inhaltlichen Differenzen beschränken sich
also auf einige wenige Punkte. Auch wenn wir dem An-
trag aus den genannten Gründen nicht zustimmen kön-
nen, bin ich zuversichtlich, dass wir gemeinsam in den
Zu Protokoll
zuständigen Ausschüssen zielführende Akzente setzen
und politische Rahmenbedingungen schaffen können,
um die Stärkung von Gesundheitssystemen weiter voran-
zubringen und dem deutschen Sitz im Exekutivrat der
WHO auch und gerade von entwicklungspolitischer
Seite gestaltendes Gewicht geben können.


Niema Movassat (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704327300

Die Gesundheitslage ist für die meisten Menschen auf

der Welt auch im 21. Jahrhundert katastrophal: Knapp
13 Millionen Menschen sterben jährlich an Krankhei-
ten, die eigentlich behandelbar wären. Jährlich sterben
2 Millionen Menschen an Malaria, weil ihnen der nötige
Zugang zu den unbezahlbaren und patentierten Arznei-
mitteln fehlt. Auf der anderen Seite verdienen Firmen
Milliarden an Blockbustern für Wohlstandsleiden wie
Haarausfall, Schlaf- oder Erektionsstörungen. Laut
WHO ist knapp ein Drittel der Weltbevölkerung vom Zu-
gang zu lebenswichtigen Arzneimitteln abgeschnitten.
Die Generaldirektorin der WHO, Margaret Chan,
musste die sogenannte internationale Gemeinschaft erst
vor wenigen Wochen erneut dazu aufrufen, sich unver-
züglich für die Umsetzung der UN-Entwicklungsziele
einzusetzen. Vier der acht im Jahr 2000 anvisierten
Ziele befassen sich mit Gesundheitsfragen.

Die bisherige Bilanz ist ein erbärmliches Zeugnis für
die mangelnde Solidarität der Industriestaaten. Europa,
die USA und Japan verbrauchen alleine 83 Prozent der
weltweiten Arzneimittel. Immer noch hat die Sicherung
der eigenen Wirtschaftsinteressen Vorrang vor Men-
schenleben. In den Bereichen Verbesserung der Mütter-
gesundheit wurden gerade einmal 9 Prozent, bei der
Verringerung der Kindersterblichkeit 32 Prozent der
Millenniumsmarken erreicht. Zur tatsächlichen Umset-
zung der Millenniumsziele wären schon vor Jahren eine
Abkehr vom neoliberalen Dogma und eine Hinwendung
zu einer gerechten Weltwirtschaftsordnung unabdingbar
gewesen. Nur so hätten Entwicklungsländer eigene
funktionierende Gesundheitssysteme aufbauen können.

Der vorliegende Antrag der Grünen trägt den Titel
„Die Ziele der Bundesregierung in der Weltgesundheits-
organisation neu ausrichten“. Darin steht nichts Fal-
sches, aber leider auch nichts, wodurch die vorhande-
nen Probleme grundsätzlich gelöst werden könnten.
Wenn wir nicht endlich bereit sind, mehr finanzielle Mit-
tel zur Verfügung zu stellen und die richtige Politik auch
gegen die Interessen der Pharmaindustrie durchzuset-
zen, wird sich die Situation nicht verbessern. Institute
mit dem Forschungsschwerpunkt „vernachlässigte
Krankheiten“, zum Beispiel das Max-Planck-Institut für
Infektionsbiologie, brauchen endlich mehr öffentliche
Finanzmittel. Die Linke hat ihre Vorstellungen zu diesem
Thema bereits in der letzten Legislaturperiode in dem
Bundestagsantrag „Öffentlich finanzierte Pharmainno-
vationen zur wirksamen Bekämpfung von vernachlässig-
ten Krankheiten in den Entwicklungsländern einsetzen“
detailliert dargestellt.

Die Bundesregierung muss sich auf europäischer
Ebene endlich dafür einsetzen, dass im Sinne der Be-
schlüsse der WHO keine weitere Verschärfung des welt-



gegebene Reden

Niema Movassat


(A) (C)



(D)(B)

weiten Schutzes von Verwertung- und Eigentumsrechten
an pharmazeutischen Innovationen stattfindet. Dies be-
trifft TRIPS-plus-Bestimmungen ebenso wie die ACTA-
Verhandlungen. Die EU und mit ihr Deutschland betrei-
ben verhängnisvollerweise derzeit jedoch eine entge-
gengesetzte Strategie. Das kurz vor dem Abschluss ste-
hende Freihandelsabkommen der EU mit Indien
gefährdet die weltweite Versorgung von Aids-Kranken
mit bezahlbaren antiretroviralen Medikamenten massiv.
„Ärzte ohne Grenzen“ bezieht derzeit 80 Prozent der zur
Behandlung von HIV-Kranken benötigten Präparate
vom indischen Generikamarkt. Sollten die Patentlaufzei-
ten verlängert und eine Datenexklusivität, wie von der
EU geplant, umgesetzt werden, hätte dies unmittelbare
Folgen für die Überlebenschancen Hunderttausender
Menschen. Dies sind nur zwei von zahlreichen Beispie-
len, die die grundsätzliche Stoßrichtung der von der EU
derzeit mit mehreren Ländern angestrebten Freihandels-
abkommen verdeutlichen.

Mit großem politischen Druck drängt die Europäi-
sche Union zum Abschluss von Abkommen, die soziale,
ökologische und menschenrechtliche Auswirkungen auf
die Menschen in den betroffenen Ländern ausblendet.
Die Linke lehnt diese Freihandelsabkommen grundsätz-
lich ab. Nur solidarische Wirtschaftsbeziehungen, die
den Bedürfnissen der Menschen Vorrang einräumen vor
den Interessen internationaler Konzerne, werden die
Gesundheitslage in den Ländern des Südens nachhaltig
verbessern.


Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704327400

Die globale Gesundheit verbessern, das ist der Auf-

trag der Weltgesundheitsorganisation. Deutschland ist
drittgrößter Geber zum regulären Haushalt und noch bis
2011 Mitglied des Exekutivrates, der die WHO-Ver-
sammlung vorbereitet. Damit haben wir einen besonde-
ren Einfluss und eine herausragende moralische
Verpflichtung, wichtige Weichenstellungen zur Verbesse-
rung der globalen Gesundheit voranzutreiben.

Die Bundesregierung verkennt die Realität, wenn sie
die Gesundheit in Entwicklungsländern einseitig durch
das Engagement vor Ort nachhaltig verbessern will und
dabei weitere Faktoren wie Patentrecht, Medikamenten-
handel, Forschung und Entwicklung stiefmütterlich be-
handelt. Wir müssen uns vor Ort engagieren, Wirkung
wird dies aber nur zeigen, wenn die internationalen
Rahmenbedingungen stimmen, auf die die Bundesregie-
rung direkt über die EU und vor allem in der WHO Ein-
fluss nehmen muss. Diese Einflussnahme ist bisher lei-
der nicht zu erkennen. Zwei Beispiele:

Forschung und Entwicklung finden noch immer größ-
tenteils in Westeuropa und Nordamerika statt; doch lei-
der profitieren Entwicklungsländer kaum davon. Seit
vielen Jahrzehnten hat es keine ausreichenden politi-
schen Vorgaben gegeben. Im Gegenteil: Die EU gene-
riert sich mehr als Interessenvertreter der europäischen
Pharmaindustrie. Zwischen 1974 und 2004 kamen 1 556
neue Medikamentenwirkstoffe auf den Markt. Acht Me-
dikamente entfallen auf Malaria, Tuberkulose und alle
anderen – völlig vernachlässigten – Tropenkrankheiten.
Zu Protokoll
Auf der anderen Seite werden jedes Jahr Potenzmittel im
Wert von circa 4 Milliarden Dollar verkauft. Der Markt
der Lifestyle-Medikamente wächst unaufhaltsam.

Das Problem besteht seit Jahrzehnten. Die Kanzlerin
hat es im Juni 2009 immerhin geschafft, die Zuständig-
keit für diese Forschung in ihrem Kabinett zu klären; sie
liegt nun beim Forschungsministerium. Viel passiert ist
in der Förderung der Forschung zu vernachlässigten
Krankheiten trotzdem nicht, und in der Schwerpunktset-
zung der Bundesregierung für die WHO taucht der
Punkt überhaupt nicht auf.

Ebenso wenig sind Generikaproduktion und -handel
Teil der Agenda der Bundesregierung in der WHO. Die
Gesundheitssituation in den Entwicklungsländern ver-
langt solidarisches, globales Handeln. Die Menschen
dort sind auf günstige Generika angewiesen! Momentan
nutzen 92 Prozent derjenigen, die in Entwicklungslän-
dern gegen HIV behandelt werden, Generika, die meis-
ten davon aus Indien.

Mit den TRIPS-Verhandlungen und im Rahmen der
Doha-Erklärung von 2001 wird zu Recht international
anerkannt, dass die öffentliche Gesundheit weltweit
über dem Recht auf Patentschutz und Profit steht. Trotz-
dem versucht die EU mit starker Unterstützung der Bun-
desregierung derzeit ein Freihandelsabkommen mit
Indien abzuschließen, das einen strikten Patentschutz
beinhaltet. Völlig inakzeptabel ist, dass dieses ange-
strebte TRIPS-Plus-Abkommen noch schärfere Bedin-
gungen enthalten soll als international üblich. Damit
würde die Generikaproduktion massiv behindert. Für
viele Menschen in den Entwicklungsländern würde dies
einem Todesurteil gleichkommen.

Das gleiche Muster findet sich auch in Verhandlun-
gen zu Freihandelsabkommen mit lateinamerikanischen
Staaten. Die Bundesregierung macht sich international
unglaubwürdig. Es ist elementar, hier ein international
kohärentes Vorgehen zu entwickeln, welches die Medi-
kamentenversorgung in Entwicklungsländern gewähr-
leistet. Dies müsste Schwerpunkt der deutschen Bemü-
hungen in der WHO sein. Leider verzichtet die
Bundesregierung darauf.

Der Fokus der Bundesregierung, die Gesundheits-
systeme in Entwicklungsländern zu stärken, ist grund-
sätzlich zu begrüßen. Der internationale Schwung, der
derzeit in diese Debatte kommt, muss genutzt und voran-
getrieben werden. Gute, letztlich multilaterale Ansätze
kommen zum Beispiel vom Globalen Fonds zur Bekämp-
fung von HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose, von GAVI,
DNDi und der Weltbank. Die WHO muss hier eine Füh-
rungsrolle übernehmen, die Initiativen bündeln und zu-
sammenführen.

Ein wesentlicher Aspekt dieser Ansätze ist die Ge-
meinnützigkeit. Leider wird auch im Bereich „Gesund-
heitssysteme und soziale Sicherung“ immer deutlicher,
dass die Regierungskoalition die Bedeutung der Ge-
meinnützigkeit nicht verstanden hat. Die deutsche Versi-
cherungswirtschaft, unterstützt durch die Bundesregie-
rung und gefördert durch das BMZ, greift in den
inzwischen schwer umkämpften internationalen Mikro-



gegebene Reden





Uwe Kekeritz


(A) (C)



(D)(B)

versicherungsmarkt ein. Gleichzeitig unterstützt die
Bundesregierung massiv den Fonds „Leapfrog“, der
stolz auf seiner Homepage verkündet, er generiere
„strong returns for investors“! Die schwarz-gelbe
Koalition muss sich entscheiden, ob sie sich für die „Re-
turns“ der deutschen Versicherungswirtschaft einsetzen
will oder ob sie zum Aufbau eines tragfähigen Versiche-
rungswesens in den Entwicklungsländern beitragen will.
Momentan bestehen diesbezüglich erhebliche Zweifel.

Die Systematik ist klar: Sobald deutsche und europäi-
sche Interessen auf dem Spiel stehen, taucht die Bundes-
regierung entwicklungspolitisch ab, ignoriert Fragen
der globalen Gesundheit und verschreibt sich vorwie-
gend der Wirtschaftsförderung. Selbst wo ein durchaus
begrüßenswerter Schwerpunkt gesetzt wird, in diesem
Fall bei der Gesundheitssystemförderung, kann es sich
die Bundesregierung offensichtlich nicht verkneifen, auf
die Schaffung von Exportmärkten für deutsche Firmen
zu setzen. Es ist grundsätzlich nichts dagegen einzuwen-
den, wenn von deutscher Entwicklungszusammenarbeit
auch deutsche Firmen profitieren. Entwicklungspolitik
kann aber kein Mittel zur Förderung deutscher Groß-
konzerne sein.

Neben dem Schwerpunkt Gesundheitssystemstärkung
möchte die schwarz-gelbe Koalition die Pandemievor-
sorge ins Visier nehmen. Die WHO hat im Zuge der so-
genannten Schweinegrippepandemie massiv an Glaub-
würdigkeit verloren – bei uns in Deutschland, aber vor
allem international in Entwicklungs- und Schwellenlän-
dern. Warum wurde die Definition der Pandemiestufe 6
geändert? Welche Rolle spielten große Pharmakonzerne
in diesem Prozess? Zum Beispiel sind einige Mitglieder
der „Strategic Advisory Group of Experts“, SAGE, die
die WHO zur Impf- und Immunisierungspolitik berät,
nachweislich finanziell von Pharmaunternehmen ab-
hängig. Mittlerweile steht das Pandemiemanagement
der WHO weltweit in scharfer Kritik.

Im Januar hat es im Europarat eine sehr aufschluss-
reiche Anhörung zu diesem Thema gegeben, die die
Zweifel am Vorgehen der WHO vergrößert hat. Einer
Einladung zu einer zweiten Anhörung des Europarates
Ende März ist die WHO überhaupt nicht mehr gefolgt.
Vor allem in Entwicklungs- und Schwellenländern regt
sich zusehends Widerstand gegen das Vorgehen der
WHO. Wir können von Glück reden, dass die sogenannte
Schweinegrippe ein Fehlalarm war. Bei einer wirklichen
Gefahr wäre es schlecht um die Versorgung der Men-
schen in Entwicklungsländern bestellt gewesen. Mexiko
musste sich Impfdosen von Kanada leihen. Indonesien
stellte bereits 2007 während der so genannten Vogel-
grippe die Zusammenarbeit mit der WHO ein, da die
Impfstoffversorgung für Entwicklungsländer katastro-
phal war.

Es liegt nun an der schwarz-gelben Koalition zu han-
deln und die Initiative zu ergreifen. An Ansatzpunkten
mangelt es nicht: Die WHO muss die Kooperation mit
WTO und WIPO verstärken. Dabei muss sie mit Unter-
stützung der Bundesregierung das Thema globale Ge-
sundheit vehement auf die Tagesordnung bringen. Wir
erleben derzeit in vielen bi- und multilateralen Verhand-
lungen starke Angriffe auf TRIPS-Flexibilitäten zur
Sicherung der öffentlichen Gesundheit. Die WHO muss
hier ein ernstzunehmender Gegenspieler werden.

Die Forschung zu vernachlässigten Krankheiten wird
in der WHO diskutiert; hier gibt es viele gute Ansätze. In
der Praxis gehen die Entwicklungen jedoch nur langsam
voran und werden häufig von der Zivilgesellschaft ge-
trieben. Hier bedarf es eines klaren Bekenntnisses der
Bundesregierung und einer schnellen Umsetzung von
Programmen in Deutschland und international über die
WHO.

Die Gesundheitssystemstärkung muss sowohl in der
WHO als auch bilateral vorangetrieben werden. Wo im-
mer es die Governance-Kriterien zulassen, muss durch
sektorale Budgethilfe ein langfristig selbsttragendes
System in Eigenregie der Partnerländer unterstützt wer-
den.

Die Vorgänge im Zusammenhang mit der H1N1-Pan-
demie müssen aufgeklärt werden, und es müssen Kon-
zepte entwickelt werden, wie in Zukunft eine objektive
Beurteilung der Lage und eine globale Versorgung aller
Menschen erreicht werden können. Die WHO hat hierzu
bereits eine Kommission eingesetzt. Die Bundesregie-
rung muss sicherstellen, dass diese nicht zur Farce wird,
dass umfassend aufgeklärt wird und dass konkrete Vor-
schläge ausgearbeitet werden.

Deutschland ist nach neun Jahren Pause seit 2009
wieder im Exekutivrat der WHO vertreten, und wir ha-
ben Einfluss auf die zukünftige Ausrichtung der WHO.
Es wird Zeit, dass wir das kleinkarierte egozentrische
Denken hinter uns lassen und das vorantreiben, was Ziel
der WHO ist: die globale Gesundheit!


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704327500

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/1581 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Kunert, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Barbara Höll,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Für eine immissions- und baurechtliche Privi-
legierung von Sportanlagen

– Drucksache 17/1742 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden der Kolleginnen und Kollegen Dr. Michael Paul,
CDU/CSU, Ute Vogt und Hans-Joachim Hacker, SPD,
Judith Skudelny, FDP, Katrin Kunert, Die Linke,
Winfried Hermann, Bündnis 90/Die Grünen.

(A) (C)



(D)(B)


Dr. Michael Paul (CDU):
Rede ID: ID1704327600

Der Sport leistet für die Aktivierung und den Zusam-

menhalt einer modernen Gesellschaft unverzichtbare
Beiträge, die es zu fördern gilt. Darüber besteht Einig-
keit, und genau so haben es die Koalitionspartner der
CDU/CSU- und der FDP-Fraktion im Koalitionsvertrag
festgeschrieben.

In dem Antrag der Linksfraktion, der hier heute bera-
ten wird, ist zu lesen, dass zur Erfüllung dieser Förde-
rungsaufgabe ein hinreichender Zugang zu Sportange-
boten bestehen muss. Weiter sei die Bundesregierung
aufgrund ihrer gesamtstaatlichen Verantwortung in der
Pflicht, Rahmenbedingungen für die Entfaltung des
Breitensports zu schaffen. Und, dass zu diesem Zweck
eine ausreichende Zahl an wohnortnahen und gut zu er-
reichenden Sportanlagen vorgehalten oder geschaffen
werden müsse.

Auch in diesem Punkt besteht Einigkeit. Der Sport,
hier insbesondere der Schul-, Universitäts- und Breiten-
sport, ist für eine motorische Entwicklung vor allem von
Kindern und Jugendlichen, aber ebenso für die Gesund-
heit aller anderen Bevölkerungsgruppen unerlässlich.
Rechtlich verbindliche Regelungen dafür zu schaffen,
dass der Sport von allen Teilen der Gesellschaft ausge-
übt werden kann, ist daher eine wichtige Aufgabe der
Politik.

Diese wichtige Aufgabe hat die damalige christlich-
liberale Bundesregierung bereits im Jahre 1991 erkannt.
Sie hat sich dieser Verantwortung gestellt und mit der
18. BImSchV, der sogenannten Sportanlagenlärmschutz-
verordnung, genau diese rechtlich verbindlichen Rege-
lungen geschaffen. Diese Verordnung, die eine Konkreti-
sierung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes darstellt,
bewirkt nämlich genau das, was der hier diskutierte An-
trag nach Aussage der Linksfraktion zum Ziel hat:
Sportanlagen werden, als Bereicherung des sozialen
und kulturellen Lebens, durch diese Verordnung mit den
ihnen gebührenden Privilegien versehen und eben nicht
genauso behandelt, wie etwa eine störende Industriean-
lage.

Dass diese Privilegierung greift und rechtlich Be-
stand hat, zeigt sich auch mit Blick auf die Rechtspre-
chung zu diesem Thema. Anders, als es uns die Links-
fraktion hier weismachen will, gibt es nämlich nicht
etwa Hunderte Verfahren, bei denen im Konflikt zwi-
schen Sportbelangen und Anwohnerinteressen dem Brei-
ten- oder Spitzensport eine Absage erteilt worden wäre.
Ich sage es noch konkreter: Die Recherche in den Recht-
sprechungsdatenbanken belegt, dass schon die Zahl der
Fälle, in denen ein Gerichtsverfahren überhaupt nur er-
öffnet wurde, seit der Einführung der 18. BImSchV dras-
tisch zurückgegangen ist. Die Zahl der Entscheidungen
zulasten des Weiterbetriebes einer Sportanlage in diesen
Verfahren tendiert sogar gegen null.

Die Linksfraktion scheint nun der Auffassung zu sein,
die Privilegierung ginge nicht weit genug. Nur so ist zu
verstehen, dass in ihrem Antrag gefordert wird,
Sportlärm solle gar nicht erst als Lärm im Sinne des
Bundes-Immissionsschutzgesetzes qualifiziert werden.
Das heißt im Klartext, dass Gerichtsverfahren der An-
Zu Protokoll
wohner gegen Sportanlagen grundsätzlich erfolglos wä-
ren. Eine solche Regelung wäre verfassungsrechtlich
äußerst bedenklich – schließlich würde durch sie den
Anwohnern der grundgesetzlich garantierte effektive
Rechtsschutz abgeschnitten.

Gerade im Fall von Lärmemissionen verbietet sich
zudem eine pauschale Beurteilung der Umgebungsbe-
einträchtigung. Die Störungsintensität hängt vielmehr
entscheidend von der Lautstärke, der Bebauung, der
Frequenz und dem Wiederholungstakt ab. Es ist daher
zwingend notwendig, in jedem einzelnen Fall zu bewer-
ten, wie intensiv die Belastung der Umgebung tatsäch-
lich ist.

Unter diesen Aspekten frage ich mich, wie die Forde-
rung nach bedingungsloser Privilegierung der Sportan-
lagen mit der im selben Antrag von der Linksfraktion ge-
stellten Forderung nach einem angemessenen Ausgleich
der Belange der Sporttreibenden und der Anwohner in
Einklang zu bringen sein soll. Ein solcher Ansatz ist völ-
lig ungeeignet, wenn nicht das Kind mit dem Bade aus-
geschüttet werden soll.

Vielmehr ist durch die Sportanlagenlärmschutzver-
ordnung, die im JURIS-Ausdruck auf elf Seiten Text aus-
schließlich und umfassend dieses Thema behandelt, ein
Rechtsregime gegeben, dass den Besonderheiten dieser
Konstellation, der Privilegierungsnotwendigkeit von
Sportanlagen einerseits und dem ebenso erforderlichen
Anwohnerschutz andererseits, angemessen Rechnung
trägt.

Das Gleiche gilt auch für die Änderungen, die die
Linksfraktion im Bereich des Bauplanungsrechts vor-
schlägt, nämlich jede Sportanlagen bedingungslos in je-
dem Wohngebiet zuzulassen.

Die Einrichtung von reinen Wohngebieten und Klein-
siedlungsgebieten durch den Gesetzgeber dient dem be-
rechtigten Interesse der Anwohner, vor Beeinträchtigun-
gen durch andere bauliche Nutzungen geschützt zu sein.
Gleichwohl ist das Interesse der Bewohner dieser Ge-
biete an ortsnah eingerichteten Sportanlagen im Gesetz
durch eine Zulassungsmöglichkeit für diese Anlagen be-
rücksichtigt. Dass die Zulassung von Sportanlagen an
bestimmte Kriterien geknüpft ist und einer besonderen
Prüfung im Einzelfall bedarf, ist wiederum nur dem an-
gemessenen Ausgleich zwischen Anwohnerinteressen
und dem Interesse der Sporttreibenden geschuldet. Eine
pauschale, bedingungslose Zulassung aller Arten von
Sportanlagen, wie sie hier gefordert wird, ist daher in
solchen Wohngebieten fehl am Platze.

Der Gedanke, der dem hier diskutierten Antrag zu-
grunde liegt, nämlich den Breitensport für alle Alters-
gruppen und insbesondere für Kinder und Jugendliche
zu ermöglichen, ist allerdings richtig und auch als Auf-
gabe der Koalition bestimmt worden.

Durch die hier vorgeschlagene Umsetzung würden
aber völlig unnötig die präzisen Regelungen des bereits
bestehenden Rechtsregimes beseitigt und durch genera-
lisierte Regelungen ersetzt, die eine Berücksichtigung
der ebenfalls berechtigten Anwohnerinteressen nicht
mehr ermöglichen.



gegebene Reden

Dr. Michael Paul


(A) (C)



(D)(B)

Eine solche bewusste Verschlechterung des Rege-
lungszustandes, durch die obendrein keine direkte Ver-
besserung für die Sportförderung erreicht wird, kann
und wird durch die CDU/CSU-Fraktion nicht unterstützt
werden.


Ute Vogt (SPD):
Rede ID: ID1704327700

Diese Initiative für eine immissions- und baurecht-

liche Privilegierung von Sportanlagen wäre nicht not-
wendig, wenn die Bundesregierung ihrer Arbeit nach-
kommen und die Beschlüsse des Parlaments umsetzen
würde. Denn am 2. Juli letzten Jahres hat das Parlament
im Rahmen eines Antrags, Drucksache 16/13578, unter
anderem Folgendes beschlossen:

Zudem wird die Bundesregierung aufgefordert, …
die Lärmschutzbestimmungen gemeinsam mit den
Bundesländern so zu verändern, dass Sport- und
Spielplätze nicht mehr so stark in ihrer Nutzung
eingeschränkt und somit dringend benötigte Bewe-
gungsräume eingeengt werden. Hierzu sind mögli-
che kurzfristige Vorschläge zu unterbreiten …

Nur war es aufgrund der Bundestagswahl jedenfalls
dem sozialdemokratischen Teil der damaligen Regie-
rung leider nicht mehr möglich, dieses Votum umzuset-
zen. Aber ich wüsste nicht, was den christdemokrati-
schen Teil, der damals wie heute regiert, daran hindert,
diesen Beschlüssen Taten folgen zu lassen.

Es besteht großer Handlungsbedarf! Es sind nicht
nur Sportplätze, denen das Aus droht. Auch die Zahl der
Bolzplätze wird immer kleiner, weil Anwohner gegen
diese klagen – und sich dabei auf das Bundes-Immis-
sionsschutzgesetz berufen. Auch in meinem Wahlkreis
Stuttgart sind bereits Sport- und Bolzplätze von Schlie-
ßung bedroht oder nur noch unter großen Einschrän-
kungen nutzbar. Für Jugendliche gerade in größeren
Städten ist dies eine fatale Entwicklung. Auf den Bolz-
plätzen findet Integration statt, bewegen sich Jugendli-
che, statt fernzusehen, und dort können sie Zeit sinnvoll
miteinander verbringen. Man kann sich Kampagnen für
mehr Bewegung, gesunde Ernährung und bewusstere
Lebensweisen komplett sparen, wenn gleichzeitig die
Freiräume und Spielflächen immer weniger werden.
Wenn nicht bald Maßnahmen ergriffen werden, werden
immer mehr Plätze schließen müssen. Diese dann wie-
der in Betrieb zu nehmen, dürfte sicher um einiges
schwieriger werden, als bestehende Anlagen zu erhal-
ten.

Der vorliegende Antrag schweigt jedoch über alles,
was über Sportplätze hinausgeht, und greift damit zu
kurz. Richtig ist, dass viele Vereine darauf angewiesen
sind, dass wir den gesetzlichen Rahmen ändern, weil
sonst vielerorts der Breitensport nicht mehr stattfinden
kann. Aber der SPD geht es nicht allein um den organi-
sierten Sport. Wir möchten auch denjenigen Jugendli-
chen eine Chance geben, die nicht in Vereinen, sondern
eben auf Bolzplätzen ihre Freizeit verbringen. Ich will
offen sagen: Ich bin mir nicht sicher, ob die im Antrag
vorgeschlagene Lösung in Form einer Einzelauflistung
von Ausnahmen in § 3 Bundes-Immissionsschutzgesetz
der zielführende Ansatz ist, der unsere Probleme lösen
Zu Protokoll
kann. Aber wir wissen, dass wir schnell eine gesetzliche
Neuregelung brauchen.

Die Bundesregierung hat bereits den Auftrag, uns Lö-
sungsansätze vorzuschlagen. Ich fordere sie daher auf,
die notwendigen Vorschläge nicht nur in Bezug auf
Sportstätten schnell vorzulegen, sondern gleich den vor-
liegenden SPD-Antrag zur Privilegierung von Kinder-
lärm und die Verbesserung der Nutzung von Bolzplätzen
dabei einzubeziehen. Das Thema verdient eine ausführ-
liche Debatte, und es erfordert ein zügiges Handeln der
Bundesregierung.


Hans-Joachim Hacker (SPD):
Rede ID: ID1704327800

Sport gehört zum Leben, Sport gehört in unser Leben.

Als wichtiger Teil gesellschaftlicher Aktivitäten gehören
damit kleinere und größere Sportplätze oder Sporthallen
in unsere Mitte. Das führt immer wieder zu Konflikten;
denn es bleibt nicht aus, dass die Sportlerinnen und
Sportler angefeuert werden, dass es auch Geräusche
gibt, wenn der Ball in ein Tor fliegt oder gegen eine
Wand prallt. Wir wollen aber, dass Sport in unseren
Städten und Gemeinden „um die Ecke“ getrieben wer-
den kann, dass man nicht weit raus in unbewohnte Ge-
genden fahren muss, um Fußball oder Tennis zu spielen.
Wir können die Konflikte um Lärm nicht wegdiskutieren.
Wir brauchen dazu Rücksichtnahme und Toleranz –
Rücksicht auf Anwohnerinnen und Anwohner, Toleranz
für Sportlerinnen und Sportler.

Der Deutsche Bundestag hat sich schon mehrfach mit
dem Thema Sport und Lärm beschäftigt. Ich möchte nur
an einen Antrag erinnern. Im vergangenen Jahr
beschloss der Bundestag den Antrag „Sport fördert
Integration“. Mit diesem Beschluss der damaligen Ko-
alitionsfraktionen wurde die Bundesregierung aufgefor-
dert, kurzfristig Vorschläge zu unterbreiten, die Lärm-
schutzbestimmungen gemeinsam mit den Bundesländern
so zu verändern, dass Sport- und Spielplätze nicht mehr
so stark in ihrer Nutzung eingeschränkt werden. Das ist
auch Ziel des Antrags der Linken. Aufgrund des Bundes-
tagsbeschlusses bedürfte es dieses Antrags überhaupt
nicht, denn der Bundestag hat sich schon unmissver-
ständlich geäußert.

Ich habe die Bundesregierung vor wenigen Wochen
dazu befragt, wie sie mit diesem Beschluss des Bundes-
tages in diesem Punkt bisher umgegangen ist. Leider
kam als Antwort nur, dass die Bundesregierung hier wei-
ter prüft, welche Änderungen im Lärmschutzrecht vor-
genommen werden müssen. Ich wünschte mir, dass es
hier etwas schneller ginge. Die Startphase für die
schwarz-gelbe Bundesregierung ist wahrlich vorbei.

Wir haben bei der Problematik des Kinderlärms von
Kindertageseinrichtungen – ich verweise auf den SPD-
Antrag dazu – Ähnliches diskutiert und warten auch hier
darauf, dass die Bundesregierung reagiert. Der Antrag
der Linken muss in den Fachausschüssen debattiert wer-
den. Wir sind uns sicher in der Intention des Antrages ei-
nig, dafür haben wir bereits den benannten Beschluss
gefasst. Ob das Bundesimmissionsrecht in dieser Form
geändert werden muss oder ob nach der vorgeschlage-
nen Änderung noch Fragen offen bleiben oder ob sie zu



gegebene Reden

Hans-Joachim Hacker


(A) (C)



(D)(B)

weit geht – Stichwort: große Fußballstadien –, das soll-
ten wir eingehend fachlich diskutieren.


Judith Skudelny (FDP):
Rede ID: ID1704327900

Die Fraktion Die Linke fordert in ihrem Antrag Ände-

rungen des Bundesimmissionsschutzgesetzes und der
Baunutzungsverordnung. Die Änderungen sollen zum ei-
nen bewirken, dass Lärm aus Sportanlagen nicht mehr
als störender Lärm qualifiziert wird. Zum anderen for-
dert der Antrag eine Erhöhung der festgelegten Lärm-
grenzwerte auch in reinen Wohngebieten und – durch
Änderung der Baunutzungsverordnung – eine grund-
sätzliche Zulässigkeit von Sportanlagen in Wohngebie-
ten.

Die FDP ist gegen eine generelle Privilegierung von
Sportanlagen. Wenn es sich um Bolzplätze handelt, also
kleinere Spielplätze ohne technische Infrastruktur wie
Umkleiden, Duschen usw., und diese mitten in Wohnge-
bieten gelegen sind, ist die Situation anders zu beurtei-
len. Hier ist es sinnvoll, diese zumindest für Kinder bis
14 Jahren in reinen Wohngebieten zu privilegieren.
Denn nur durch die Ansiedlung solcher Freizeiträume in
unmittelbarer Nähe zur schützenden Umgebung, bei-
spielsweise dem Elternhaus, ist gewährleistet, dass Kin-
der diese Bolzplätze wirklich nutzen. Sportanlagen da-
gegen sind bereits ausreichend geschützt.

Die 18. Bundesimmissionsschutzverordnung – Sport-
anlagen-Lärmschutzverordnung – regelt die Emissions-
werte für Sportanlagen. Diese sind unterschiedlich hoch
ausgestaltet für Gewerbegebiete, Mischgebiete, reine
Wohngebiete etc. Da Sportanlagen im Regelfall eher au-
ßerhalb von Wohngebieten angesiedelt sind, sind die un-
terschiedlichen Lärmgrenzwerte für unterschiedliche
Siedlungsräume eine praktikable Lösung.

Das im Antrag genannte Beispiel der Anlage in Ber-
lin-Kreuzberg ist dagegen ein Sonderfall und taugt nicht
dazu, den Antrag zu begründen. Auf dem vom Berliner
Senat finanziell unterstützten Gelände wird seit den
60er-Jahren Fußball gespielt. Kinder- und Jugend-
mannschaften des Fußballclubs S. C. Berliner Amateure
trainieren wochentags zwischen 16.00 und 21.00 Uhr.
Im Wege gerichtlicher Verfügungen hatten Anwohner in
der Vergangenheit allerdings erstritten, dass keine Tril-
lerpfeifen mehr genutzt werden dürfen. Außerdem muss
das Flutlicht wochentags ab 21.00 Uhr abgeschaltet
werden. Und sonntags darf nur bis 15.00 Uhr trainiert
werden. Die getroffenen Einschränkungen für die Trai-
ningszeiten sind meiner Meinung nach gerechtfertigt.
Unter 16-Jährige haben, in Anlehnung an das Jugend-
schutzgesetz, bis 22.00 Uhr zu Hause zu sein. Insofern
fügt sich eine bis maximal 21.00 Uhr andauernde Trai-
ningszeit zuzüglich Umkleiden und Heimfahrt in eine
übliche Praxis ein.

Neben diesem nicht allgemein gültigen Beispiel der
Berliner Sportanlage versucht die Linke in ihrem An-
trag, arm gegen reich auszuspielen. Der Verweis auf die
vermeintlich klagewütigen Eigentümer von Luxuswoh-
nungen ist aber keine Begründung für die Forderungen.
Lärmschutz ist für die FDP kein Problem von wohlha-
benden Bevölkerungsschichten. Auch sozial schwache
Zu Protokoll
Menschen können von Lärm krank werden. Selbst ein
dahinterstehender Einwand, ärmere Menschen würden
mangels finanzieller Mittel nicht so häufig vor Gericht
ziehen, trägt nicht: Durch die Möglichkeit der Prozess-
kostenhilfe können auch diese gerichtlich gegen den
Lärmverursacher vorgehen. Auf diesem Weg können
auch finanzschwächere Menschen ihre berechtigten In-
teressen durchsetzen!

Fakt ist: Der demografische Wandel zwingt uns zu
angemessener Interessenabwägung, ohne die eine
Gruppe über die andere zu stellen. Denn die Zahl der
Rechtsstreitigkeiten nimmt nicht etwa aufgrund mangel-
hafter Gesetze zu. Sie nimmt zu aufgrund einer geringe-
ren Toleranz von Mensch zu Mensch. Die Anzahl älterer
Mitbürger in der Gesellschaft wächst. Wir wissen alle,
dass ältere Menschen ruhebedürftiger sind. Die subjek-
tive Schwelle, ab wann Lärm als störend empfunden
wird, liegt demzufolge bei mehr Menschen niedriger als
noch vor einigen Jahren oder Jahrzehnten.

Ich finde es im Sinne eines guten Miteinanders grund-
falsch, pauschal zugunsten einer Gruppe zu entscheiden.
Das aber will der vorliegende Antrag. Er will Sportan-
lagen regelmäßig privilegieren. Die Lösung darf aber
nicht heißen: Privilegierung des einen und Ausschluss
des anderen. Die Lösung muss vielmehr „Denken im
Vorfeld“ heißen – zum Beispiel durch intelligente Flä-
chenplanung.

Was der vorliegende Antrag hier verschweigt: Durch
eine Ausschöpfung der bereits zur Verfügung stehenden
politischen Instrumente – hier maßgeblich ein intelli-
gentes Bauplanungsrecht – hätte die Situation in der
Berliner Körtestraße entscheidend entschärft werden
können. Denn ein Bebauungsplanverfahren hätte die Zu-
kunft des Sportplatzes sichern können. Dieser wurde
aber von Linken und Grünen im Bezirk abgelehnt. Das
richtige Agieren auf kommunaler Ebene hätte den An-
trag also vielleicht überflüssig gemacht.


Katrin Kunert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704328000

Die Linke befasst sich in diesem Plenum nicht zum

ersten Mal mit der gesellschaftlichen Bedeutung des
Sports. Im Fokus steht heute der Breitensport, der nach
wie vor von unschätzbar großer Bedeutung für unsere
Gesellschaft ist. Die rund 90 000 Turn- und Sportver-
eine mit ihren etwa 27 Millionen Mitgliedern fördern be-
reits im frühen Kindesalter soziale Kompetenzen und die
Fähigkeit des respektvollen Umgangs von Menschen un-
terschiedlichster sozialer und kultureller Herkunft. Die
Stärke des Breitensports liegt gerade darin, dass die für
ein friedliches und solidarisches Miteinander in der Ge-
sellschaft erforderlichen Fähigkeiten quasi spielend
erlernt werden. Örtliche Sportvereine sowohl im ländli-
chen Raum als auch in den Städten haben die Fähigkei-
ten, die Einwohnerinnen und Einwohner eines Dorfes
oder eines Stadtviertels auf vielfältige Weise zusammen-
zubringen. Zu denken ist hierbei nicht nur an die Begeg-
nungen im Rahmen sportlicher Wettkämpfe, sondern
auch im Rahmen von Vereinsfesten und Veranstaltungen.

Auch wenn wir in Bezug auf die eben genannten posi-
tiven Impulse des Sports von einer großen Zustimmung



gegebene Reden

Katrin Kunert


(A) (C)



(D)(B)

in diesem Hause ausgehen können, müssen wir leider
zunehmend zur Kenntnis nehmen, dass es für Sportlerin-
nen, Sportler und Sportvereine in der Praxis immer
schwieriger wird, ihre Aktivitäten in einem angemesse-
nen Rahmen auszuüben. Wir stellen fest, dass die Akzep-
tanz für den Breitensport und die damit verbundene
sportliche Betätigung zumindest in Teilen der Gesell-
schaft abnimmt. Ähnlich wie bei den Klagen gegen den
sogenannten Kinderlärm kommt es im Bereich von
Sportanlagen in zunehmendem Maße zu gerichtlichen
Auseinandersetzungen zwischen Betreibern und Nutze-
rinnen und Nutzern der Anlagen auf der einen und den
Anwohnerinnen und Anwohnern auf der anderen Seite.

Damit keine Missverständnisse entstehen: Die Frak-
tion Die Linke möchte die Anwohnerinnen und Anwoh-
ner von Sportanlagen keinesfalls ihrer legitimen Rechte
berauben, sich gegen eine übermäßige Lärmbelästigung
zu wehren. Selbstverständlich sind Sportanlagen stets
auch nach immissionsrechtlichen Gesichtspunkten zu
beurteilen. Auch wenn man sportlichen Aktivitäten einen
noch so hohen gesellschaftlichen Wert beimisst, ist klar,
dass sich die von Sportanlagen ausgehenden Immissio-
nen störend auf die Anwohnerinnen und Anwohner aus-
wirken können. Die Aufgabe des Gesetzgebers und der
Gerichte besteht mithin darin, dafür zu sorgen, dass die
Belange der Anwohnerinnen und Anwohner und der
Nutzerinnen und Nutzer von Sportanlagen in einen an-
gemessenen Ausgleich gebracht werden.

Nun häufen sich jedoch Fälle, in denen die Klagen
von Anwohnerinnen und Anwohnern dazu führen, dass
Sportplätze, die zum Teil seit Jahrzehnten in Betrieb
sind, Auflagen erteilt bekommen, die den sportlichen Be-
trieb nahezu unmöglich machen. So verbietet zum Bei-
spiel ein Gericht den Betreibern eines seit Jahrzehnten
bestehenden Fußballplatzes den Spielbetrieb am Sonn-
tagnachmittag, weil eine Nachbarin zuvor geklagt hatte.
Jeder, der sich im Vereinsfußball auskennt, weiß, wie
wichtig der Sonntag als Spieltag ist.

Der Deutsche Olympische Sportbund vertritt die Auf-
fassung, dass breitensportliche Betätigung dort möglich
sein soll, wo die Menschen leben. Dem stimmen wir zu,
da eine Verlagerung von Sportanlagen in weniger be-
wohnte Randgebiete oder Industriegebiete in vielen Fäl-
len dazu führt, dass bestimmte gesellschaftliche Grup-
pen letztlich von deren Nutzung ausgeschlossen werden
und der Breitensport so sein Potenzial nicht voll
ausspielen kann. Im Deutschen Bundestag ist eine Ver-
ständigung darüber notwendig, in welchem Ausmaß
Lärmimmissionen von Sportanlagen in bewohnten Ge-
bieten zumutbar sind.

Wir sind der Meinung, dass die legitimen Ruhebe-
dürfnisse von Anwohnerinnen und Anwohnern rechtlich
geschützt werden können, ohne dass die Belange der
Sporttreibenden komplett zurückgestellt werden müssen.
Wir fordern, dass die von Sportanlagen ausgehenden
Lärmimmissionen in der Regel nicht mehr als schädli-
che Umwelteinwirkung angesehen werden. Außerdem
zeigen praktische Erfahrungen, dass bereits eine mini-
male Erhöhung der maßgeblichen Immissionsrichtwerte
in der Sportanlagenlärmschutzverordnung dazu führen
Zu Protokoll
würde, dass der Spielbetrieb auf Sportplätzen, etwa in
Form des sonntäglichen Fußballspiels, nicht mehr so
ohne Weiteres verboten werden kann. Ich bitte daher um
Zustimmung zu unserem Antrag.


Winfried Hermann (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704328100

Die Linke verweist in ihrem Antrag auf die große ge-

sellschaftliche Bedeutung des Breitensports und darauf,
dass alle gesellschaftlichen Gruppen hinreichend Zu-
gang zu Angeboten des Breitensports haben sollen. Die
Linke sieht den Bund in der Pflicht, die Rahmenbedin-
gungen für eine angemessene Entwicklung des Breiten-
sports zu optimieren.

Richtig ist: Die Sportvereine können ihrer Aufgabe
nur dann nachkommen, wenn genügend Sportanlagen
im Wohnumfeld zur Verfügung stehen. Immissionen
durch Aktivitäten in Sportanlagen möchte die Linke
rechtlich nicht mit den Immissionen durch Gewerbe-
oder Verkehrslärm gleichgesetzt wissen, da es sich bei
Ersterem um eine Ausdrucksform und Begleiterschei-
nungen sozialen Verhaltens handelt. Sportanlagen soll-
ten deswegen nicht in erster Linie als regelungsbedürf-
tige Störungen, sondern als Bereicherung des sozialen
und kulturellen Lebens angesehen werden. Konkret for-
dert die Linke in ihrem Antrag von der Bundesregierung
einen Gesetzesentwurf, der sportliche Anlagen immissi-
ons- und baurechtlich privilegiert.

Dies soll durch eine Reihe von Maßnahmen gesche-
hen: Ergänzung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes,
§ 3 Abs. 1 – von Sportanlagen ausgehender Lärm stellt
in der Regel keine schädliche Umwelteinwirkung im
Sinne dieses Gesetzes dar –; Angleichung der Immis-
sionsrichtwerte für reine Wohngebiete an die für all-
gemeine Wohngebiete und Kleinsiedlungsgebiete in der
Sportanlagenlärmschutzverordnung; Aufhebung der
festgelegten Ruhezeiten für Sonn- und Feiertage; Ergän-
zung der 18. Verordnung zur Durchführung des Bundes-
Immissionsschutzgesetzes – Übergangsfristen zur Ein-
haltung der Immissionsrichtwerte sollen durch die zu-
ständige Behörde bis 2020 bzw. in Ausnahmefällen bis
2022 gewährt werden können –; Änderung der Baunut-
zungsverordnung: Anlagen, die sportlichen Zwecken
dienen, sollen in der Regel zulässig kategorisiert wer-
den, nicht nur in Ausnahmefällen.

Jetzt ist die Frage zu stellen: Ist eine Neuregelung der
Lärmschutzvorschriften an dieser Stelle notwendig oder
kontraproduktiv? Schließlich plant die Linke mit der
Einfügung in den Definitionsteil des Bundes-Immis-
sionsschutzgesetzes, § 3, eine grundsätzliche Neujustie-
rung. Aber ist es richtig, dass in der Praxis immer und
überall der Lärm von Sportanlagen keine schädlichen
oder belastenden Folgen für die Umgebung hat? Hier
differenziert die Linke überhaupt nicht zwischen wohn-
ortnahen Bolzplätzen, auf denen die Kinder und Jugend-
lichen aus der Umgebung spielen, und kommerziell
genutzten Sportstätten, auf denen sich mitunter Zehntau-
sende Zuschauer unter Flutlicht und erheblichem Lärm
aufhalten.

Mit den Vorschlägen will die Linke mit Blick auf die
Anlage unterschiedslos Lärmschutzstandards aufwei-



gegebene Reden





Winfried Hermann


(A) (C)



(D)(B)

chen. Dies scheint uns überhaupt nicht der geeignete
Weg. Sinn und Zweck der 18. Verordnung zur Durchfüh-
rung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes war schließ-
lich, einen Kompromiss zwischen Sporttreibenden,
Sportveranstaltern und Anwohnern zu finden. Man kann
aus unserer Sicht durchaus die Frage stellen, ob die Re-
gelungen auch für kleine, nicht kommerziell genutzte
Sportanlagen in Wohngebieten angemessen sind oder ob
es hier Neuregelungen braucht.

Selbstverständlich gibt es einen deutlichen Unter-
schied zwischen Lärm, der durch Industrieanlagen oder
Verkehr entsteht, und Lärm, den Kinder und Jugendliche
auf öffentlichen Sportplätzen verursachen. Deswegen
müssen beide Lärmbeeinträchtigungen auch unter-
schiedlich behandelt werden. Sporttreibende Menschen
sollen in unserer Gesellschaft nicht als Ärgernis wahr-
genommen werden. Wir sollten vielmehr froh sein, wenn
sich Menschen sportlich betätigen und nicht nur zu
Hause vor dem Fernseher, der Spielkonsole oder dem
Computer sitzen, vor allem Kinder.

Für uns Grüne hat der Breitensport eine sehr hohe
gesellschaftliche Bedeutung! In unserem Sportpro-
gramm haben wir ausgeführt, dass die Rahmenbedin-
gungen für den Breitensport verbessert werden müssen.
Denn Spiel und Sport machen nicht nur Spaß, sondern
sind menschliche Grundbedürfnisse. Regelmäßige
sportliche Betätigung fördert außerdem Gesundheit, Le-
bensfreude, soziales Miteinander und Lernvermögen.
Dies sollte die Gesellschaft auch anerkennen, selbst
wenn es für die eine oder den anderen, der in der Nach-
barschaft von Sportanlagen wohnt, nicht immer auf
Wohlwollen stößt. Das gilt auch für spielende Kinder im
Garten oder auf der Straße. Wir wollen nicht weniger
Menschen auf den Straßen, Plätzen und eben auch in
Sportanlagen sehen, die sich körperlich betätigen, son-
dern mehr davon.

Leider wurde auch in der Stadtplanung bisher viel zu
wenig Rücksicht darauf genommen, Möglichkeiten für
körperliche Betätigungen zu schaffen. Dennoch: Wenn
Anlagen in dicht bewohnten Gegenden liegen und hoch-
frequentiert sind, müssen die Sporttreibenden und ihre
Zuschauer auf dafür vorgesehenen Anlagen Rücksicht
nehmen, auf die Bedürfnisse von Anwohnern in dicht be-
wohnten Gegenden. Eine rechtliche Lösung des Pro-
blems ist nicht so einfach, wie es sich die Linke, nach ih-
rem Antrag zu urteilen, macht. Die Problematik bedarf
der Anhörung von Fachleuten und einer eingehenden
Beratung in den Ausschüssen.

Mit uns ist eine derart pauschale Absenkung von
Lärmschutzstandards nicht zu machen; ich sage dies mit
Bedacht auch als Sportpolitiker. Überdies finde ich es
schon erstaunlich, dass der Linken etwa beim Fluglärm
kein Grenzwert scharf genug ist. Aber wo es nebenbei
auch um eine fortbestehende Privilegierung der Sport-
stätten in den neuen Ländern geht – die schon Über-
gangsfristen von 10 Jahren für Lärmschutzmaßnahmen
erhielten –, ist der Linken der Schutz der Bevölkerung
vor Lärm doch sehr wenig wert. Die Politik muss eine
Regelung finden, die Spiel und Sport im Wohngebiet er-
möglicht und zugleich auch Anwohnerinteressen be-
rücksichtigt. Lauten kommerziellen Spektakelsport al-
lerdings sollten wir keineswegs privilegieren zulasten
der Anwohner.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704328200

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/1742 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstan-
den? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Behm, Friedrich Ostendorff, Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Hofabgabe als Voraussetzung für den Bezug
einer Altersrente für Landwirte abschaffen
– Drucksache 17/1203 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für Arbeit und Soziales

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden auch
diese Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich
um die Kolleginnen und Kollegen Marlene Mortler,
CDU/CSU, Heinz Paula, SPD, Dr. Edmund Peter
Geisen, FDP, Alexander Süßmair, Die Linke, Cornelia
Behm, Bündnis 90/Die Grünen.


Marlene Mortler (CSU):
Rede ID: ID1704328300

In den letzten zehn Jahren haben sich die Politik, die

Verbände und die Praktiker mehrmals intensiv und er-
gebnisoffen mit der sogenannten Hofabgabeklausel be-
schäftigt. Als Ergebnis dieser Diskussion, die sämtliche
Argumente für und wider eine Abgabeverpflichtung be-
rücksichtigt hat, steht die Erkenntnis, dass die Hofabga-
beklausel grundsätzlich erhalten werden sollte. Grund-
lage ist das Gesetz über die Alterssicherung der
Landwirte. Hier ist klar festgelegt, dass Voraussetzung
für den Bezug einer Rentenleistung grundsätzlich die
Abgabe des Unternehmens ist.

Diese Abgabeklausel ist nach wie vor ein notwendiges
strukturpolitisches Instrument. Sie erhält und verbessert
die Flächengrundlage für die wirtschaftenden Betriebe.
Sie sorgt dafür, dass gut ausgebildete, motivierte Be-
triebsleiter ans Ruder kommen, weil der rechtzeitige Ge-
nerationswechsel gefördert wird. Diese Klausel wirkt
schließlich der Zersplitterung von Bewirtschaftungsflä-
chen sowie einer Überalterung der aktiven landwirt-
schaftlichen Unternehmerinnen und Unternehmer entge-
gen. Es ist auch ein Erfolg deutscher Politik, dass unsere
aktiven Landwirte im Durchschnitt europaweit die
jüngsten sind.

Der Bund gibt jährlich rund 3,8 Milliarden Euro für
die landwirtschaftlichen Sozialsysteme aus. Diese Ei-
genständigkeit der Systeme wollen wir erhalten. Dafür
sind auch „Gegenleistungen“ wie die Hofabgabeklausel
notwendig. Eine derart einschneidende Regelung findet
sich – darauf weisen die Antragsteller zu Recht hin – im

Marlene Mortler


(A) (C)



(D)(B)

Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung nicht. Da-
her ist es richtig, dass die Beiträge zur Alterssicherung
der Landwirte gegenüber der gesetzlichen Rentenversi-
cherung eine bessere Rentabilität aufweisen. Auch wenn
unterstellt wird, dass nur der 10-prozentige Vorteil ge-
genüber der gesetzlichen Rentenversicherung bei Ab-
schaffung der Hofabgabeklausel gestrichen wird, würde
dies am Ende 10 Prozent niedrigere Renten bedeuten.
Das darf nicht das Ziel sein!

Sie unterstellen uns weiter, dass eine Abschaffung der
Hofabgabeklausel die Beiträge zu den landwirtschaftli-
chen Altersrenten vervielfachen würde. Das ist eine
Phantomdiskussion. Sie hat mit der Realität nichts zu
tun, und sie ist sachlich schlichtweg falsch.

Ich kann auch eine Diskriminierung jüngerer Ehegat-
ten nicht erkennen. Die Möglichkeit, das Unternehmen
an einen jüngeren Ehegatten abzugeben, wurde erst vor
wenigen Jahren ausgeweitet. Das deckt zwar nicht alle
Fälle ab; aber eine Abgabe unter Ehegatten kann jetzt bis
zu einem maximalen Altersunterschied von zehn Jahren,
das heißt ab dem 55. Lebensjahr des nicht rentenberech-
tigten Ehegatten, bewirkt werden. Dies ändert allerdings
nichts an der Tatsache, dass die Unternehmensabgabe
grundsätzlich an die nachfolgende Generation stattfin-
den soll. Genau diesem Gedanken trägt die gerade er-
wähnte Erleichterung bei der „Ehegattenabgabe“ Rech-
nung.

Für den Fall, dass Hofnachfolger aufgrund ihres Al-
ters noch nicht dazu in der Lage sind, das landwirt-
schaftliche Unternehmen als Betriebsleiter zu überneh-
men, besteht die Möglichkeit, dass der übernehmende
Elternteil, also meist die Mutter, den landwirtschaftli-
chen Betrieb fortführt, bis die Nachfolge in die nächste
Generation geregelt werden kann. Diesen Aspekt lassen
die Antragsteller völlig außer Acht. Also auch hier ha-
ben wir schon Verbesserungen für die Praxis erreicht.
Hofabgabe hin oder her: Probleme, die sich zum Bei-
spiel bei der gewerblichen Tierhaltung, bei Schwierig-
keiten der Verpachtung von Steillagenweinbauflächen
oder der Nichtgewährung der Bäuerinnenrente bei feh-
lender Hofabgabe durch den Ehegatten ergeben, sind zu
lösen.

Eine generelle Abschaffung der Hofabgabeklausel
lehnen wir ab, auch wenn uns bewusst ist, dass die Hof-
abgabe dann besonders schwerfällt, wenn es keinen
Nachfolger gibt und der Renteneintritt damit automa-
tisch zur Einstellung der Betriebstätigkeit führt. Den-
noch hat die intensive Diskussion unter den aktiven
Landwirten gezeigt, dass sich die überwältigende Mehr-
heit ohne Vorbehalt für eine Beibehaltung der Hofabga-
beklausel ausspricht. CDU und CSU haben es sich im-
mer zum Grundsatz gemacht, auf die Praktiker zu hören.
Deshalb lehnen wir den vorliegenden Antrag ab.


Heinz Paula (SPD):
Rede ID: ID1704328400

Eine Petition eines Landwirte-Ehepaares aus Nord-

rhein-Westfalen beschäftigt seit einiger Zeit meine Kol-
leginnen und Kollegen aus dem Petitionsausschuss: Ein
Ehepaar, das in naher Zukunft das Rentenalter erreicht,
wehrt sich aus unterschiedlichen Gründen gegen die
Zu Protokoll
Hofabgabe als Voraussetzung dafür, ihre Rente aus der
Alterssicherung der Landwirte zu erhalten.

Auch eine Übertragung an einen gemeinnützigen Hof
ist ihnen nicht möglich, solange sie im Vorstand des als
Verein eingetragenen Hofes bleiben. Dies ist gesetzlich
so vorgeschrieben. Behalten sie bei Eintritt in das Ren-
tenalter ihren Hof oder bleiben sie in einer führenden
Position des gemeinnützigen Vereins, müssen sie auf ihre
Alterssicherung aus der AdL verzichten.

Das Ehepaar sieht sich gegenüber anderen Rentnern
– auch im Sinne des Gleichheitsgrundsatzes im Grund-
gesetz – benachteiligt. Sie empfinden diese Regelung als
in hohem Maße ungerecht. Sie fordern, dass das Gesetz
zur Alterssicherung für Landwirte, ALG, geändert wird.
5 Prozent der in Deutschland wirtschaftenden Land-
wirte – so sagen es die Zahlen – sehen diese Regelung
als Beschneidung ihrer Grundrechte an und fühlen sich
gegenüber anderen Berufsgruppen benachteiligt. Zu-
meist aus sehr individuellen Gründen.

Einige klagten vor dem Bundesverfassungsgericht.
Alle hohen Gerichte haben bisher die sogenannte Hof-
abgabeklausel als verfassungsgemäß bestätigt. Eine Be-
nachteiligung gegenüber anderen Berufsgruppen sei
nicht gegeben.

Sie von den Grünen fordern in dem uns vorliegenden
Antrag die Abschaffung der Hofabgabeklausel. Sie be-
zeichnen sie als – ich zitiere – „nicht mehr zeitgemäß
und in höchstem Maße ungerecht.“ Als Begründung füh-
ren Sie den demografischen Wandel an. Die Hofabgabe-
klausel beschleunige das Höfesterben und den Struktur-
wandel. Sie bezeichnen es als zutiefst ungerecht, wenn
die Landwirte ihre Beiträge vierzig Jahre lang zahlen,
ihnen die Rente aber am Ende verwehrt wird, wenn sie
ihren Hof nicht abgeben. Sie bezeichnen es als skanda-
lös, dass ein Landwirt seine Rente verliert, wenn er sei-
nen Hof an einen zehn Jahre jüngeren Ehegatten über-
schreibt. Sie führen an, dass das bessere Beitrags-
Leistungs-Verhältnis der AdL gegenüber der gesetzli-
chen Rentenversicherung keine Verweigerung der Ren-
tenzahlungen bei Beibehaltung des Hofes rechtfertigt.

Sie übersehen jedoch dabei, dass jeder Landwirt sei-
nen Hof und 1,5 Hektar Land behalten darf, dass Ren-
tenempfänger anderer Berufsgruppen zwar 400 Euro
dazuverdienen, nicht jedoch ein Unternehmen weiter-
führen dürfen. Sie übersehen, dass das Bundesverfas-
sungsgericht die Regelung der Hofabgabe mehrfach als
mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt hat. Und Sie
übersehen eines: Die Hofabgabe war bisher immer poli-
tisch gewollt, und zwar parteiübergreifend.

1957 wurde die Notwendigkeit einer Alterssicherung
für selbstständige Landwirte anerkannt. Als Vorausset-
zung für den Erhalt der Alterssicherung gilt seitdem die
Abgabe des Hofes bzw. des landwirtschaftlichen Unter-
nehmens. Auch nach der Reform des Agrarsozialgesetzes
1995 wurde das Instrument der Hofabgabe beibehalten.
In § 11 Abs. 1 Satz 3 des Gesetzes zur Alterssicherung
für Landwirte, ALG, ist festgelegt, dass Landwirte An-
spruch auf Altersrente haben, wenn sie das Unternehmen
der Landwirtschaft abgegeben haben.



gegebene Reden

Heinz Paula


(A) (C)



(D)(B)

Die Pflicht zur Abgabe des Hofes wurde hauptsäch-
lich aus agrarstrukturellen Gründen eingeführt. Markt-
orientierung und erhöhte Produktivität auf größeren
Flächen waren das Ziel. Das war sinnvoll. Und es war
erfolgreich. Es war beabsichtigt, der jüngeren Genera-
tion rechtzeitig die Chance zu geben, den Hof der Eltern
– oder in einigen Fällen auch von Fremden – zu über-
nehmen. Und damit auch rechtzeitig die Verantwortung
für den Hof.

Deutschland ist das Land mit den jüngsten Landwir-
ten in Europa. Die jüngere Generation ist mutiger, inno-
vativer und kreativer. Sie gehen oft neue Wege und su-
chen Marktnischen, scheuen weniger Veränderungen als
die ältere Generation. Sie erhalten die Wettbewerbsfä-
higkeit und verbessern damit auch die Einkommenssi-
tuation der landwirtschaftlichen Betriebe.

Heutzutage ist es allerdings so, dass viele Kinder an-
dere Wege gehen. Die Zahl der Übergaben eines Hofes
an die eigenen Kinder sinkt stetig. Die alternative Über-
nahme geschieht häufig durch fremde, expansionswil-
lige Landwirte, durch Nebenerwerbslandwirte und grö-
ßere Agrarbetriebe, die auch Flächen aufkaufen, die
nicht unmittelbar in der Nähe ihrer Unternehmen liegen.
Daher wollen die Landwirte häufig ihre, in vielen Fällen
eher kleinen Höfe, Unternehmen und Genossenschafts-
anteile behalten und so lange weiterwirtschaften, wie es
eben geht. Der Hof und die Landwirtschaft ist seit vielen
Jahren ihr Lebensmittelpunkt, den sie nicht mit Beginn
des Rentenalters verlassen wollen.

Die Betriebsabgabe wird in vielen Fällen umgangen.
Das stellen die Kollegen und Kolleginnen der Grünen in
ihrem Antrag fest. In wie vielen genau, wissen sie und
wissen wir nicht. Meine Fraktion tendiert dazu, sich die-
ser Realität zu stellen. Wir können nicht die Augen vor
der Tatsache verschließen, dass die Hofabgabeklausel
für viele Landwirte anscheinend eine erhebliche Ein-
schränkung ihres späteren Lebens bedeutet.

Neben der rechtzeitigen Übergabe der landwirtschaft-
lichen Unternehmen an die jüngere Generation verfolgte
die Hofabgabe noch ein anderes Ziel: Die Verpachtung,
der Verkauf beziehungsweise die Auflösung pachtfrei
werdender Flächen sollte die Hofkonzentration fördern.
Es war beabsichtigt, aus vielen kleineren einige größere
Höfe zu schaffen. Diese konnten besser und wettbe-
werbsfähiger wirtschaften. Die rechtzeitige Hofabgabe
sollte die Flächen leichter für andere zugängig machen.
Somit sollte der Strukturwandel in der Landwirtschaft
unterstützt werden. Diese Ziele entsprachen der damali-
gen Ausrichtung unserer Agrarpolitik und waren durch-
aus sinnvoll.

Heute sehen wir vieles in einem anderen Licht. Agrar-
politik ist nicht mehr nur Agrar- und Wirtschaftspolitik.
Sie ist zugleich Umweltpolitik, Tierschutzpolitik, Ver-
braucherpolitik, Tourismuspolitik. Sie ist multifunktio-
nal. Nicht mehr die Größe eines landwirtschaftlichen
Unternehmens ist ausschlaggebend, sondern die Art und
Weise der landwirtschaftlichen Bewirtschaftung. Spätes-
tens in der zurzeit laufenden Diskussion um die Neuaus-
richtung der gemeinsamen europäischen Agrarpolitik
bekommen Merkmale wie Erhaltung der Artenvielfalt,
Zu Protokoll
Sicherung der Bodenfunktion und der Wasserhaushalte,
Tierschutz und Klimaschutz einen weitaus höheren Stel-
lenwert. Dies sollten wir beachten, wenn wir über eine
mögliche Abschaffung der Hofabgabeklausel diskutie-
ren.

Die Alterssicherung der Landwirte ist seit jeher als
Teilsicherung konzipiert. Sie ist bewusst so gestaltet,
dass sie als zusätzliche Geldleistung zum betrieblichen
Anteil wirkt. Sie wird ausdrücklich als staatlich geför-
derte Geldleistung definiert. Die Höhe der Alterssiche-
rung für Landwirte beträgt 475 Euro. Der Ehegatte er-
hält 224 Euro. Diese Leistungen sind unabhängig von
der Unternehmensgröße. Zusätzliche Rentenleistungen
erhalten die Landwirte unter anderem durch die private
Altersvorsorge.

Die Hofabgabeklausel war immer eng an die hohen
Bundeszuschüsse gebunden. Keine andere Berufsgruppe
in Deutschland erhält derart hohe Zuschüsse wie die
Landwirte. 70 Prozent der AdL werden durch Steuermit-
tel finanziert.

Die Hofabgabe wurde auch als Ausgleich für die ho-
hen Zuzahlungen definiert. Durch dieses Instrument
werden die hohen Bundeszuschüsse quasi legitimiert.

Bisher ist die Hofabgabe politisch gewollt. Es liegt an
uns, diese Klausel abzuschaffen oder zu ändern. Auf das
Sozialversicherungssystem als Ganzes wird die Abschaf-
fung keine Auswirkungen haben.

In vielen Punkten stimme ich den Kolleginnen und
Kollegen der Grünen zu. Aber ich sehe auch: Die Hof-
abgabe hat sich über Jahre bewährt und war auch an ih-
ren Zielen gemessen sehr erfolgreich. Ich sehe auch,
95 Prozent der Landwirte und landwirtschaftlichen Un-
ternehmen haben keine Probleme mit der Abgabe.

Das ist also kein Thema, was man in einem Schnell-
schuss einfach so abhandelt. Das Für und das Wider
wollen sorgsam abgewogen sein: Was sagen die Betrof-
fenen zu diesem Thema? Was sagt der Bauernverband?
Was sagt die AbL? Was sagen diejenigen, für die Pflicht
zur Hofübergabe kein Problem darstellt? Gibt es Mög-
lichkeiten, nur Teile dieser Klausel zu ändern, eine Här-
tefallregelung einzuführen, damit beispielsweise das zu
Anfang erwähnte Ehepaar seinen Hof behalten kann,
obwohl die für die Tiere notwendige Fläche einen hal-
ben Hektar zu groß ist? Welche Möglichkeiten gibt es,
Problemen solcher Art zu begegnen?

Wir suchen das Gespräch mit den Betroffenen. Wir
wollen die Meinungen und Sichtweisen der anderen Be-
teiligten hören. Erst dann werden wir entscheiden, was
möglich und nötig ist. Meine Fraktion wird sich daher
– trotz einiger Übereinstimmungen – bei der Abstim-
mung zu diesem Antrag enthalten.


Dr. Edmund Peter Geisen (FDP):
Rede ID: ID1704328500

Mit der Hofabgabe als Voraussetzung für den Bezug

einer Altersrente für Landwirte verfolgte der Gesetzge-
ber 1957 ein agrarstrukturpolitisches Ziel: Die Jung-
landwirte sollten die Chance erhalten, ihr Wissen und
Können und damit häufig den Mut zur Modernisierung



gegebene Reden

Dr. Edmund Peter Geisen


(A) (C)



(D)(B)

in die landwirtschaftlichen Betriebe einzubringen. Das
Ziel war erfolgreich: Die Hofabgabe hat entscheidend
dazu beigetragen, dass die deutschen Landwirte im
Durchschnitt jünger sind als Ihre Kollegen in den ande-
ren EU-Staaten.

Nun ist das Gesetz zur Alterssicherung der Landwirte
schon ein halbes Jahrhundert in Kraft – und die Land-
wirtschaft hat einen tiefgreifenden Strukturwandel hin-
ter sich: Von den knapp 1,5 Millionen Betrieben Mitte
der 50er-Jahre waren 2008 noch rund 380 000 übrig.
Während ein Landwirt 1950 zehn Menschen mit Nah-
rungsmitteln versorgte, ernährt er 2006 schon 127 Men-
schen. Die durchschnittlichen Betriebsgrößen haben
sich mehr als verdoppelt, viele Haupterwerbsbetriebe
sind zu Nebenerwerbsbetrieben geworden. Und inzwi-
schen kommen auf 100 aktive Beitragszahler in der
landwirtschaftlichen Rentenkasse rund 250 Rentenemp-
fänger.

Diesem Strukturwandel in der Landwirtschaft will
und muss die Bundesregierung Rechnung tragen. So
übernimmt der Bund, ähnlich wie im Bergbau, mit der
1995 eingefügten Defizitdeckung inzwischen rund
70 Prozent der Kosten der Alterssicherung der Land-
wirte. Bei den Bergleuten liegt das Verhältnis Beiträge
zu Bundesmittel sogar bei eins zu sechs.

Aber führt der Strukturwandel wirklich dazu, dass die
Hofabgabe zutiefst ungerecht ist, sogar das Höfesterben
beschleunigt und deshalb abgeschafft werden muss, wie
Bündnis 90/Die Grünen im vorliegenden Antrag verlan-
gen?

Ich habe während meiner Zeit im Petitionsausschuss
mehrere Petitionen erhalten, die diese These stützen: Da
war zum Beispiel der Fall eines Landwirtes, der den Hof
nicht an seine Frau abgeben konnte, weil diese wesent-
lich jünger war als er. Oder der des Landwirtes, der sei-
nen gepachteten Betrieb aufgrund der wirtschaftlichen
Situation weder zu einem angemessenen Preis verpach-
ten noch ihn stilllegen konnte, da seine zu erwartende
Rente unter Sozialhilfeniveau lag.

Auch habe ich viele Gespräche geführt mit Landwir-
ten, die vehement für eine Abschaffung plädieren – vor
allem, weil die angestrebte Förderung des Generatio-
nenwechsels mangels Interesse gar nicht oder nur zum
Schein zustande komme und weil in Eigentumsrechte
eingegriffen werde. Spricht man hingegen mit Vertretern
des Deutschen Bauernverbandes, so kommt man zu dem
Schluss, dass dies alles doch eher Einzelfälle sind und
die breite Mehrheit mit der aktuellen Regelung zufrieden
ist.

Mein Fazit: Ja, ich halte die Hofabgabeverpflichtung
für reformbedürftig und fordere die Bundesregierung
auf, zu prüfen, inwieweit der strukturelle Wandel in der
Landwirtschaft Anpassungen notwendig macht. Ich halte
jedoch zum gegenwärtigen Zeitpunkt nichts davon, die
Hofabgabeklausel komplett abzuschaffen. Hier erwarte
ich auch mit Spannung, ob und wie möglicherweise die
Gerichte entscheiden.

Das eindeutige Votum der Landjugend ist für mich
ausschlaggebend: Wir müssen den Junglandwirten die
Zu Protokoll
Chance lassen, den Hof zu übernehmen – um ihnen ihre
Zukunft nicht zu verbauen und um modernes Know-how
und Management in die Betriebe zu bringen. Es gilt, ge-
meinsam mit dem Berufsstand eine befriedigende Lö-
sung für alle zu finden. Dafür setze ich mich ein.


Alexander Süßmair (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704328600

Im Antrag 17/1203 fordert die Fraktion Bündnis 90/

Die Grünen, die Hofabgabeklausel für den Bezug der
Altersrente für Landwirtinnen und Landwirte zu strei-
chen. Als Argument wird angeführt, dass es zutiefst un-
gerecht und nicht mehr zeitgemäß sei, diese Regelung
beizubehalten. Bezieher von Renten aus der normalen
gesetzlichen Rentenversicherung müssten auch nicht,
wenn sie das Alter für den Bezug der Rente erreicht hät-
ten, nachweisen, dass sie ihre Beschäftigung aufgegeben
hätten. Das ist zwar formal richtig; trotzdem ist das
Prinzip der Rentenversicherung so, dass Beschäftigte,
die in den Ruhestand gehen, ihre bisherige Stelle aufge-
ben und dann sozial über die Rentenversicherung ver-
sorgt werden, und nicht so, dass Menschen nach Eintritt
in die Rente normal weiterarbeiten.

Agrarpolitisch wird die Verpflichtung zur Hofabgabe
damit begründet, dass der Betrieb von Landwirten, die
Rente beziehen wollen, freigegeben wird für einen Nach-
folger. Vergessen darf man dabei nicht, dass das gesamte
System der landwirtschaftlichen Alterssicherung staat-
lich hoch subventioniert ist. Die Betriebe müssen des-
halb nur geringe Beiträge zur Rentenversicherung zah-
len und erhalten selbst bei den Beiträgen noch
Zuschüsse, wenn sie bestimmte Einkommensgrenzen un-
terschreiten. Außerdem dürfen auch Landwirte, die in
Rente gehen und ihren Betrieb abgeben, weiterarbeiten.
Sie bekommen ihre Rente und dürfen zuverdienen, also
genau so wie Beschäftigte, die in den Ruhestand gehen.
Nur ihren Betrieb müssen sie weitervererben oder ver-
pachten.

Die Debatte um die Aufgabe der Hofabgabeklausel in
der Rentenversicherung, konzentriert sich gerade auf
die Regionen in Deutschland, in denen die Strukturen
nach wie vor ungünstig sind und die Landwirtschaft
heute kein angemessenes Einkommen garantieren kann.
Würde man jetzt landwirtschaftlichen Betriebsleitern
eine Rente aus der landwirtschaftlichen Alterssicherung
zahlen, die allein vom Alter der Person abhängt, ent-
spräche dies auch noch einer Art Quersubventionierung
der landwirtschaftlichen Erzeugung. Dies könnte dazu
führen, dass Landwirte länger als wirtschaftlich sinnvoll
ihren Betrieb fortführen. In Anbetracht der Überalte-
rung landwirtschaftlicher Betriebe würde diese einen
Generationenwechsel noch erschweren. Aber gerade um
den Generationenwechsel geht es in dieser Regelung.
Die Landjugend in Deutschland fordert daher, auf jeden
Fall die Hofabgabeklausel beizubehalten. Die Linke
sieht daher den Antrag der Grünen mit Skepsis.

Ein Aspekt der bisherigen Regelung erscheint aber
auch aus unserer Sicht völlig unsinnig, nämlich die
Nichtgewährung einer Rente an Landwirte, wenn sie ih-
ren Betrieb an zehn Jahre jüngere Ehegatten übertra-
gen. Es ist diskriminierend und nicht nachvollziehbar,



gegebene Reden





Alexander Süßmair


(A) (C)



(D)(B)

warum ältere Ehegatten einen Betrieb weiterführen dür-
fen, jüngere aber nicht. Diese Regelung ist auch für die
Linke völlig unhaltbar, vor allem, da sie in erster Linie
Frauen diskriminieren dürfte, die häufiger in diese Si-
tuation geraten als Männer.


Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704328700

Seit der letzten Legislaturperiode beschäftige ich

mich als Abgeordnete mit der Frage der Hofabgabe-
klausel. Dabei wurde ich mit ziemlich absurden Fällen
konfrontiert. So wuchs meine Überzeugung, dass die Ab-
gabe des eigenen Hofes als Voraussetzung dafür, dass
Landwirte eine Altersrente bekommen, zutiefst unge-
recht und schon längst nicht mehr zeitgemäß ist.

Als besonders skandalös und diskriminierend emp-
finde ich es, dass Landwirten die Rente verweigert wird,
wenn sie ihren Hof an mehr als zehn Jahre jüngere Ehe-
gatten abgeben. Dafür gibt es keinen vernünftigen
Grund; denn man sollte annehmen, dass es für Ehegat-
ten, die das Rentenalter noch nicht erreicht haben,
selbstverständlich ist, die Erwerbstätigkeit fortzusetzen.
Es ist doch absurd, wenn in einer solchen Situation der
eigene Hof abgegeben werden muss. Das gilt umso mehr
für Ehegatten, die mehr als zehn Jahre vor Erreichen der
Regelaltersgrenze stehen. Diese Regelung führt das vor-
gebliche Ziel der Hofabgabeklausel, für eine jüngere Al-
tersstruktur bei den Landwirten zu sorgen, völlig ad ab-
surdum.

Besonders von den Absurditäten der Hofabgabeklau-
sel betroffen sind auch diejenigen Landwirte, die gemäß
EALG begünstigtes Land von der BVVG gekauft haben.
Diese Landwirte dürfen das Land aus durchaus guten
Gründen 15 Jahre lang – bis vor wenigen Jahren waren
es 20 Jahre – nicht veräußern; andernfalls wird der
Kauf rückabgewickelt. Wenn diese Landwirte nun die
Regelaltersgrenze erreichen, dürfen sie das Land also
nicht verkaufen, sondern allenfalls verpachten. Warum
aber soll ein Altenteiler gezwungen sein, seinen Hof zu
verpachten statt zu verkaufen, wenn er schon mit der Er-
werbstätigkeit aufhört?

Wenn man sich mit Landwirten unterhält, dann hört
man, dass in der Praxis oft Scheinpachtverträge ge-
schlossen werden, um der Hofabgabeklausel Genüge zu
tun. Das heißt, die Hofabgabeklausel entspricht nicht
der sozialen Realität auf dem Lande und wird den Be-
dürfnissen der Landwirte überhaupt nicht gerecht. Es ist
ganz offensichtlich, dass viele Landwirte ihren Hof ent-
weder nicht abgeben wollen oder können – sei es, weil
ihnen der Hofnachfolger fehlt, sei es, weil sie die Arbeit
auf dem Hof weiterhin brauchen, um finanziell über die
Runden zu kommen, sei es, weil ihnen sonst der Lebens-
inhalt fehlt. Kann es richtig sein, diese Landwirte in
diese rechtliche Dunkelgrauzone zu drängen?

Noch etwas zu der Behauptung, ohne Hofabgabe-
klausel würden die Bundeszuschüsse zur Alterssiche-
rung der Landwirte in Höhe von 2,3 Milliarden Euro
komplett gestrichen und demzufolge würden die Bei-
träge um ein Mehrfaches steigen. Hat jemals jemand
von Ihnen den Landwirten diese Kürzung angedroht?
Gibt es hier im Hause wirklich eine Fraktion, die den
Landwirten 2,3 Milliarden Euro an Zuschüssen für die
landwirtschaftlichen Alterskassen streichen will, nur
weil durch die Abschaffung der Hofabgabeklausel ein
paar Millionen Euro an Renten zusätzlich ausgezahlt
werden müssen? Das kann ich mir bei allen Meinungs-
unterschieden zwischen uns beim besten Willen nicht
vorstellen. Trotzdem will zumindest der Bauernverband
die Landwirte glauben machen, dass die Koalition ge-
nau das tun werde. Ich denke, das sollten Sie nicht auf
sich sitzen lassen und umgehend richtigstellen.

Richtig ist, dass die Alterskassenbeiträge der Land-
wirte um ein paar Euro steigen müssten. Das aber ist ge-
rechtfertigt. Denn bisher ist es der kleine Teil der Land-
wirte, die ihren Rentenanspruch vollständig verlieren,
die allen Landwirten die Senkung der Rentenbeiträge
um diese paar Euro finanzieren. Zukünftig darf es je-
doch nicht mehr so sein, dass eine kleine Gruppe von
Landwirten diese geringfügige Senkung der Beiträge für
alle Landwirte zahlt. Solidarität muss hier wieder vom
Kopf auf die Füße gestellt werden.

Unter den Landwirten wächst der Widerstand gegen
die Hofabgabeklausel, das lässt sich aus den Rückmel-
dungen, die ich bekomme, deutlich ablesen. Das zeigt
sich nicht zuletzt an den laufenden Klagen aus Westfa-
len. Wir Bündnisgrüne wollen jedoch nicht warten, bis
diese Klagen juristisch entschieden sind. Denn eigent-
lich wäre es besser, das Thema politisch zu entscheiden.
Mit unserem Antrag wollen wir Sie daher auf unsere
Seite ziehen und erreichen, dass die Bundesregierung in
dieser Frage endlich umsteuert und die überkommene
Hofabgabeklausel abschafft.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704328800

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/1203 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Jan Korte, Ulla Jelpke, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE

Ehegattennachzug ohne Sprachhürden ermög-
lichen

– Drucksache 17/1577 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden auch
diese Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich
um die Kolleginnen und Kollegen Reinhard Grindel und
Stephan Mayer, CDU/CSU, Rüdiger Veit, SPD, Hartfrid

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

Wolff, FDP, Sevim Dağdelen, Die Linke, Memet Kilic,
Bündnis 90/Die Grünen.


Reinhard Grindel (CDU):
Rede ID: ID1704328900

Der Antrag der Fraktion Die Linke ist integrations-

feindlich, er ist frauenfeindlich und er geht von falschen
rechtlichen Voraussetzungen aus. Deshalb lehnen wir
ihn ab. Aus jeder Zeile dieses unverantwortlichen An-
trags ist Realitätsverweigerung herauszulesen. Sie ha-
ben aus den Fehlern der Multi-Kulti-Politik nichts ge-
lernt. Linke Ideologen haben daran geglaubt, und tun
das offenbar vereinzelt immer noch, dass sich die Aus-
länder in unserem Land nach einiger Zeit automatisch
integrieren würden und deshalb auf eine sachgerechte
Steuerung der Zuwanderung verzichtet werden könne.
Erst der von der CDU/CSU 2005 herbeigeführte Kurs-
wechsel, mit dem wir zu einer konsequenten Integra-
tionspolitik gekommen sind unter dem Motto „Fördern
und Fordern“, hat zu einer deutlichen Verbesserung der
Sprachkompetenz unserer ausländischen Mitbürger und
damit auch zu einem deutlich besseren Miteinander von
Zuwanderern und Aufnahmegesellschaft geführt. Das
will die Linke mit ihrem Antrag torpedieren. Sie wollen
Parallelgesellschaften zementieren, weil sie glauben,
daraus politisches Kapital schlagen zu können. Sie wol-
len eine andere Republik. Wir wollen das nicht.

Der Antrag ist integrationsfeindlich, weil er auf ein
Instrument der Zuwanderungspolitik verzichten will, mit
dem es gelungen ist, auch ausländischen Familien, die
bisher um alle unsere Integrationsangebote einen gro-
ßen Bogen gemacht haben, die klare Botschaft zu ver-
mitteln: Ohne Deutsch geht es nicht! Es ist doch eine
alte Erfahrung in der Integrationsarbeit, dass gerade
schlecht integrierte Familien diejenigen sind, bei denen
es auch nach einem teilweise jahrzehntelangen Aufent-
halt leider noch üblich ist, dass sich junge Frauen und
Männer nicht aus ihrem persönlichen Wohnumfeld oder
Freundeskreis Ehepartner suchen, sondern dies in der
alten Heimat ihrer Eltern tun. Die nachziehenden Ehe-
gatten kommen in aller Regel in eine Familie, in der kein
Deutsch gesprochen wird und in der dann vor allem die
Kinder ohne jegliche Deutschkenntnisse aufwachsen.
Damit haben sie von Anfang an keine guten schulischen
und beruflichen Perspektiven. Mit dem verpflichtenden
Nachweis einfacher Deutschkenntnisse erwerben die
nachziehenden Ehegatten schon vor ihrem Aufenthalt in
unserem Land erste Sprachkenntnisse. In den Kursen,
zum Beispiel der Goethe-Institute, lernen sie darüber hi-
naus etwas über Sitten und Gebräuche in Deutschland,
erlangen wichtige Kenntnisse über Fragen des alltägli-
chen Lebens und erfahren auch etwas über unseren
Staatsaufbau und unsere Gesetze. Den nachziehenden
Ehegatten ist Deutschland also nicht so fremd, und sie
erfahren, wie wichtig es ist, durch den Erwerb von
Deutschkenntnissen besser in unserem Land leben zu
können. Es gibt keinen Grund, auf diese wichtige Vorbe-
reitung auf ein Leben in Deutschland zu verzichten. Und
wir bringen auf diesem Weg deutsche Sprachkenntnisse
auch in Familien, die bisher zu abgeschottet in unserem
Land gelebt haben.
Zu Protokoll
Der Antrag ist auch frauenfeindlich. Wir wissen
durch die Ausländerbehörden, Selbsthilfegruppen und
unsere Visastellen im Ausland, dass es nach wie vor in
einem erheblichen Umfang Zwangsehen gibt. Die Linke
verweigert mit ihrem Antrag den zuziehenden Ehefrauen
das Recht, sich gegen Zwangsehen überhaupt zur Wehr
setzen zu können. Das muss doch nun wirklich jeder-
mann einsichtig sein: Was helfen denn die schönsten
Beratungsangebote und Krisentelefone, wenn die betrof-
fenen Frauen schon allein mangels ausreichender
Sprachkenntnisse noch nicht einmal in der Lage sind,
überhaupt die Polizei um Hilfe zu rufen, wenn ihnen Ge-
walt angetan wird. Außerdem wird in den vorbereiten-
den Sprachkursen durch die geschulten Mitarbeiter na-
türlich sehr genau hingesehen, ob man vielleicht Fälle
von Zwangsehen erkennen und noch vor der Übersied-
lung nach Deutschland Hilfe holen und Beratungsange-
bote machen kann. Wir stärken die betroffenen Frauen,
sich gegen Gewalt und Zwang zur Wehr zu setzen. Die
Linke will aus ideologischer Verblendung die zwangs-
verheirateten Frauen ihrem Schicksal überlassen. Ich
sage es nochmal: Das ist in schlimmer Weise frauen-
feindlich und mit uns nicht zu machen. Die Zahlen über
die Entwicklung des Ehegattennachzugs sprechen eine
deutliche Sprache und werden von der Linken bewusst
fehlinterpretiert. Nach einem Einbruch beim Familien-
nachzug unmittelbar nach der Einführung des Sprach-
nachweises sind die Zahlen jetzt wieder deutlich höher.
Das ist logisch, weil viele nachziehende Ehegatten erst
einmal die Sprachkenntnisse erwerben mussten. Wenn
sich jetzt gerade bei Frauen aus den Ländern, in denen
klassischerweise Zwangsehen vorkommen, die Zahlen
noch auf einem niedrigeren Niveau bewegen, kann das
vernünftigerweise nur so interpretiert werden, dass es
sich dabei eben um Frauen handelt, die früher noch als
Zwangsverheiratete nach Deutschland verbracht
worden wären. Es sagt Ihnen jeder informierte Sozial-
arbeiter oder ehrenamtliche Integrationslotse oder die
Stadtteilmütter in Neukölln, dass es für manche funda-
mentalistisch geprägte Familie eben nicht mehr attrak-
tiv ist, eine junge Frau zwangsweise zu verheiraten,
wenn sie Deutsch kann und damit in der Lage ist, sich
selbst zu helfen und zu wehren. Die von Ihnen kritisier-
ten Zahlen sind also gerade ein Beleg dafür, dass unser
Konzept aufgegangen ist.

Die Linke bewertet auch die Rechtslage völlig falsch.
In einem bemerkenswert deutlichen Urteil hat das Bun-
desverwaltungsgericht die neuen Spracherfordernisse
für in jeder Hinsicht rechtmäßig erklärt. Es hat damit
übrigens auch einigen in den Reihen unseres früheren
Koalitionspartners widersprochen, die, wie etwa der
Abgeordnete Edathy, in infamer Weise unserer damals
eigentlich gemeinsam beschlossenen Regelung die Ver-
fassungsmäßigkeit abgesprochen haben. Die Regelung,
so die Bundesverwaltungsrichter, dient der Integration
und verhindert Zwangsehen. Es handele sich deshalb um
einen rechtmäßigen Ausgleich des privaten Interesses an
einem ehelichen und familiären Zusammenleben im
Bundesgebiet mit gegenläufigen öffentlichen Interessen.
Die Richter haben es auch als zulässig angesehen, dass
auf eine allgemeine Härtefallregelung verzichtet wurde,
aus der zutreffenden Überlegung heraus, dass damit die



gegebene Reden

Reinhard Grindel


(A) (C)



(D)(B)

ganze Vorschrift leerlaufen würde. In dem konkreten
Fall, der vom Bundesverwaltungsgericht entschieden
wurde, handelte es sich sogar um eine Analphabetin.
Die Richter haben gleichwohl einen Zeitraum von einem
Jahr, in dem man unschwer die einfachen Deutschkennt-
nisse erwerben kann, als zumutbar betrachtet.

Anders als die Linke es behauptet, ist nach dem Urteil
des Gerichts die Regelung auch mit dem Europarecht
vereinbar, weil die Richtlinie über die Familienzusam-
menführung die EU-Mitgliedstaaten ausdrücklich er-
mächtigt, den Nachzug der Betroffenen von der Erfül-
lung von Integrationsanforderungen abhängig zu
machen. Insofern ist ein anderslautendes Urteil des
EuGH bezogen auf den Familiennachzug von Dritt-
staatsangehörigen zu EU-Bürgern, das sich einseitig an
der Freizügigkeit orientiert, auch völlig unverständlich.
Die Richter in Straßburg will ich von hier aus nach-
drücklich auffordern, ihre Rechtsprechung zu korrigie-
ren. Sie ist integrationsfeindlich.

Die Bundesverwaltungsrichter haben es gleichwohl
auch als zulässig erachtet, dass der Gesetzgeber für eine
Reihe von Drittstaaten wie etwa die USA oder Japan
Ausnahmeregelungen erlassen hat. Ich will dazu ergän-
zen, dass es integrationspolitisch natürlich einen großen
Unterschied macht, ob ein Ehegatte auf Dauer in
Deutschland lebt oder seinem Partner nur für eine vo-
rübergehende berufliche Tätigkeit in Deutschland nach-
folgt. Es ist sicher auch ein Unterschied, ob ein Ehegatte
fließend Englisch oder Französisch oder eben Türkisch,
Kurdisch oder Arabisch spricht.

CDU/CSU und FDP haben in ihrem Koalitionsver-
trag vereinbart, die praktische Umsetzung der Regelung
über den Spracherwerb zu überprüfen. Dabei geht es
etwa um eine organisatorische Vereinfachung der Er-
bringung des Nachweises über den Spracherwerb. Die
Goethe-Institute haben hier eine gewisse Monopolstel-
lung, die nicht notwendig ist. Gleichzeitig muss es dabei
bleiben, dass auch in unseren Visastellen in Zusammen-
hang mit der Anhörung des nachzugswilligen Familien-
mitglieds eine Prüfung der Sprachkompetenz stattfinden
kann. Die Evaluation des verpflichtenden Sprachnach-
weises wird zügig abgeschlossen. Insbesondere aber
auch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts bestä-
tigt, dass das Instrument als solches rechtlich zulässig,
und integrations- sowie frauenpolitisch dringend er-
wünscht ist.


Stephan Mayer (CSU):
Rede ID: ID1704329000

Angesichts dessen, dass nunmehr auch das Bundes-

verwaltungsgericht am 30. März 2010 die Regelungen
zum deutschen Aufenthaltsrecht als verfassungs- und
europarechtskonform bestätigt hat – vgl. Urteil des
BVerwG v. 30.03.2010 – 1 C 8.09V – sind die rechtlichen
Ausführungen der Linken zur angeblichen Verfassungs-
und Europarechtswidrigkeit in ihrem Antrag schlicht
falsch und nicht haltbar.

Aber auch bereits vor dem Urteil des Bundesverwal-
tungsgerichts haben alle Verwaltungsgerichte, die mit
der Überprüfung von abgewiesenen Anträgen auf Ehe-
gattennachzug wegen fehlender Deutschkenntnisse be-
Zu Protokoll
schäftigt waren, die bestehende Rechtslage für verfas-
sungsgemäß und europarechtskonform gehalten – vgl.
VG Ansbach, Urteil vom 20. Oktober 2009; VG Berlin,
Urteil vom 11. März 2009; VG Freiburg, Urteil vom
20. November 2009. Die Regelungen des Gesetzes über
den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration
von Ausländern im Bundesgebiet stünden insbesondere
im Einklang mit den Vorgaben der EU-Richtlinie 2003/
86/EG zur Familienzusammenführung vom 22. Septem-
ber 2003.

Schließlich ermächtigt gerade Art. 7 Abs. 2 der Richt-
linie die Mitgliedstaaten, von Drittstaatsangehörigen zu
verlangen, dass sie vor dem Nachzug Integrationsmaß-
nahmen durchgeführt haben. Den Nachweis über die
erfolgten Integrationsmaßnahmen müssen die Antrag-
steller auch gemäß Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Richtlinie
bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung und nicht erst
nach erfolgter Einreise vorlegen. Dass dies auch nicht
wegen Unzumutbarkeit gegen den Grundsatz der Ver-
hältnismäßigkeit verstößt, wurde ebenfalls durch die
Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte bereits festge-
stellt und nunmehr durch das Bundesverwaltungsgericht
in der zuvor bereits zitierten Entscheidung auch oberge-
richtlich bestätigt.

Ein Anspruch auf Ehegattennachzug besteht daher
nach deutschem Recht gemäß § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2
AufenthG nur, wenn sich der Ehegatte zumindest auf
einfache Art in deutscher Sprache verständigen kann.
Dieser Nachweis kann auch durch die erfolgreiche Ab-
legung eines Sprachtests im Ausland erbracht werden.
Hierbei handelt es sich schlicht um eine wünschens-
werte und erforderliche Voraussetzung für die
Integration der nachziehenden Ehegatten. Schließlich
ist die Basis jeglicher Integration das Erlernen der
Sprache. Sie ist Voraussetzung für die freie Entfaltung
der eigenen Persönlichkeit und die Eingliederung in die
Gesellschaft. Ich sehe daher auch keinen Anlass für eine
Änderung des bestehenden Rechts.

Wie das Bundesverwaltungsgericht in seiner Ent-
scheidung zutreffend festgestellt hat, ist das Spracher-
fordernis in § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG auch mit
dem besonderen Schutz zu vereinbaren, den Ehe und
Familie nach dem Grundgesetz genießen. Art. 6 GG
gewährt nach der Rechtsprechung des Bundesverfas-
sungsgerichts keinen Anspruch auf Einreise und Aufent-
halt zu einem hier lebenden Familienangehörigen, son-
dern verpflichtet zu einem schonenden Ausgleich des
privaten Interesses an einem ehelichen und familiären
Zusammenleben im Bundesgebiet mit gegenläufigen
öffentlichen Interessen. Dies hat das Bundesverfas-
sungsgericht bereits in seiner Entscheidung vom 12. Mai
1987 – Az. 2 BvR 1226/83, 2 BvR 101/84, 2 BvR 313/84 –
klargestellt. Es verstoße insbesondere auch nicht gegen
das Schutz- und Förderungsgebot von Art. 6 Abs. 1 und
Abs. 2 Satz 1 GG, wenn den Betroffenen zugemutet
würde, in das jeweilige Heimatland überzusiedeln, so-
fern sie zeitlich unbegrenzt die Lebensgemeinschaft mit
ihren Ehegatten sogleich herstellen wollten. Dieser Auf-
fassung wird die derzeit geltende Regelung, die ein
Zusammenleben im Bundesgebiet im Übrigen regelmä-



gegebene Reden

Stephan Mayer (Altötting)



(A) (C)



(D)(B)

ßig nur für einen überschaubaren Zeitraum verhindert,
gerecht.

Die Vorschrift ist im Übrigen auch nicht deshalb ver-
fassungswidrig, weil sie keine allgemeine Ausnahmere-
gelung für Härtefälle enthält. Falls die deutschen
Sprachkenntnisse aus nicht zu vertretenden Gründen in-
nerhalb eines angemessenen Zeitraums nicht erworben
werden können und keine zumutbare Möglichkeit be-
steht, die Lebensgemeinschaft im Ausland herzustellen,
kann der verfassungsrechtlich gebotene Interessenaus-
gleich einfachgesetzlich auf andere Weise, etwa durch
die Erteilung einer vorübergehenden Aufenthaltserlaub-
nis zum Zwecke des Spracherwerbs – § 16 Abs. 5
AufenthG – herbeigeführt werden.

Abschließend möchte ich noch etwas zu den von der
Linken aufgeführten Zahlen zu angeblich gescheiterten
Sprachtests von zuzugswilligen Ehegatten ausführen.
Die bisherigen Erkenntnisse aus einer noch nicht voll-
ständig abgeschlossenen Evaluierung der geltenden
Rechtslage legen im Gegensatz zu den Schilderungen im
Antrag der Linken das Ergebnis nahe, dass zuzugswilli-
gen Ehegatten in den Herkunftstaaten auch tatsächlich
ausreichende und zumutbare Möglichkeiten zum Erwerb
einfacher deutscher Sprachkenntnisse und zum Ablegen
der Sprachprüfung zur Verfügung stehen. Die Zahl der
zum Ehegattennachzug erteilten Visa sank zwar un-
mittelbar nach Einführung des Sprachnachweiserfor-
dernisses. Im langjährigen Vergleich konnte allerdings
auch bereits vor der Einführung des Spracherfordernis-
ses ein Rückgang bei Erteilung der Visa zum Ehegatten-
nachzug festgestellt werden. In den letzten Monaten ist
zudem die Zahl der Visa wieder angestiegen. Dies
belegt, dass Schwankungen in diesem Bereich nicht un-
üblich sind.

Es liegen somit weder die in dem Antrag geschilder-
ten rechtlichen noch die tatsächlichen Voraussetzungen
für ein Einschreiten des Bundestages vor.


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1704329100

Mit dem vorliegenden Antrag möchten die Kollegin-

nen und Kollegen von der Linken das im August 2007 im
Rahmen des sogenannten Richtlinienumsetzungsgeset-
zes eingeführte Erfordernis des Spracherwerbs für Ehe-
gatten vor der Einreise nach Deutschland abschaffen.
Ich brauche nicht daran erinnert zu werden, dass diese
Regelung unter der Großen Koalition eingeführt worden
ist, also auch von uns mitgetragen wurde. Ebenso richtig
ist jedoch, dass ganz viele von uns – ich gehöre auch
dazu – die Einführung des Spracherwerbs für falsch ge-
halten haben. Das zeigen insgesamt fünf Erklärungen
von SPD-Bundestagsabgeordneten nach § 31 Geschäfts-
ordnung und nicht zuletzt 21 Gegenstimmen und 5 Ent-
haltungen zum zweiten Richtlinienumsetzungsgesetz.

Diese Zerrissenheit in der eigenen Fraktion hat zum
Beispiel der Kollege Sebastian Edathy in seiner Rede
vom 14. Juni 2007 zum Ausdruck gebracht, indem er
klar sagte, dass man dem Richtlinienumsetzungsgesetz
zustimmen wird, obwohl es so schwerwiegende Mängel
aufweist wie die Einführung ebendieses Spracher-
werberfordernisses. Auch ich habe dem Gesetzentwurf
Zu Protokoll
zwar zugestimmt, aber in einer gesonderten Erklärung
deutlich gemacht, mit wie viel Bauchschmerzen und mit
wie vielen Zugeständnissen. Schon in dieser Erklärung
habe ich die Einführung des Spracherwerberfordernis-
ses als eindeutig negativ und als eine Verschlechterung
beim Familiennachzug beschrieben. Dass viele von uns
dem Gesetzentwurf dennoch zugestimmt haben, liegt
einzig und allein darin, dass die Kompromisse, insbe-
sondere die Verschärfungen im Familienzusammenzug,
der „Preis“ für die erstmalige Einführung einer gesetz-
lichen Altfallregelung waren.

Diese Altfallregelung hat dazu beigetragen, dass für
einen Teil der bis dahin bei uns nur mit einer Duldung
lebenden Menschen der Teufelskreis nach dem Motto
„Hast du keine Arbeit, bekommst du keine Aufent-
haltserlaubnis; hast du keine Aufenthaltserlaubnis, be-
kommst du keine Arbeit“ durchbrochen werden konnte.
Hier ging es um Menschen, die bereits seit zum Teil sehr
langer Zeit bei uns gelebt haben. Maßgeblich um ihnen
eine Perspektive zu geben, habe ich damals dem Gesetz
zugestimmt.

Die Einführung des Spacherwerberfordernisses sollte
neben der Verbesserung der Integrationschancen für
nachziehende ausländische Ehegatten vor allem ein Mit-
tel zur Bekämpfung von Zwangsehen sein. Bis heute
kenne ich keine einzige Studie oder irgendwelches Zah-
lenmaterial, welches belegen würde, dass die Anzahl der
Zwangsehen nach Einführung der Neuregelungen im
Ehegattennachzug zurückgegangen wäre. Eine Rege-
lung, deren Wirksamkeit nicht plausibel ist, ist jedoch
überflüssig und im Grunde schon deswegen abzuschaf-
fen.

Zudem ist es für mich und viele von uns nach wie vor
schwierig, zu akzeptieren, dass die Regelung eben nicht
alle nachziehenden Ehegatten betrifft, sondern nur An-
wendung findet auf bestimmte Gruppen und Ethnien. Ich
selbst habe diese Regelung sogar immer für verfas-
sungsrechtlich höchst problematisch gehalten und es an
dieser Stelle auch gesagt. Nach wie vor bin ich davon
überzeugt, dass sich beispielsweise zwangsverheiratete
Frauen viel besser aus einer Zwangsehe befreien kön-
nen, wenn sie bereits in Deutschland sind, als wenn sie
im Herkunftsland aufgehalten werden.

Allerdings gibt es, was die rechtliche Bewertung
des Spracherwerberfordernisses anbelangt, seit dem
30. März 2010 ein Urteil des Bundesverwaltungsgerich-
tes. In einer Entscheidung kommt das Bundesverwal-
tungsgericht zu dem Ergebnis, dass das Beherrschen
von einfachen Deutschkenntnissen als Voraussetzung
für den Ehegattennachzug sowohl mit Art. 6 Grundge-
setz als auch mit der EU-Familienzusammenführungs-
richtlinie im Einklang steht. Die Entscheidung des
Bundesverwaltungsgerichtes muss man nicht teilen;
ich jedenfalls sehe sie sehr kritisch. Zudem sind schon
Fälle vorgekommen, in denen das Bundesverfassungs-
gericht gegen das Bundesverwaltungsgericht entschie-
den hat.

Aber man wird jetzt nicht mehr ohne Weiteres sagen
können – schon gar nicht, ohne sich mit den Argumenten
unseres obersten Verwaltungsgerichts auseinanderzu-



gegebene Reden

Rüdiger Veit


(A) (C)



(D)(B)

setzen –, dass die Neuregelung des Familiennachzugs
pauschal gegen das Grundrecht auf Schutz der Ehe und
Familie, Art. 6 Grundgesetz, und die Familienzusam-
menführungsrichtlinie verstößt. Genau das macht die
Fraktion Die Linke aber pauschal in weiten Teilen der
Begründung ihres Gesetzentwurfes, ohne sich auch nur
ein einziges Mal mit den Argumenten des Bundesverwal-
tungsgerichtes auseinanderzusetzen. Das ist, mit Ver-
laub, nicht gerade gründlich erarbeitet.

Ich habe zudem den Eindruck, dass bei dem in dem
Antrag genannten Zahlenmaterial nicht viel sorgfältiger
gearbeitet wurde. Vor ziemlich genau einem Jahr, im
Mai 2009, haben wir in der SPD-Querschnittsarbeits-
gruppe „Migration und Integration“ das Thema „Inte-
gration von Migrantinnen“ behandelt. In einem The-
menblock ging es um die Frage der Wirksamkeit der
neuen Regelungen zum Ehegattennachzug. In diesem
Zusammenhang berichteten Staatsministerin Professor
Dr. Böhmer, Beauftragte für Migration, Flüchtlinge und
Integration, und Dr. Griesbeck, Vizepräsident des Bun-
desamtes für Migration und Flüchtlinge, dass die Zah-
len der erteilten Visa zum Familienzusammenzug 2008,
also kurz nach Einführung der Regelung, zurückgegan-
gen seien, sich aber bereits 2009 wieder auf dem Niveau
von 2007 befänden. Das mir vorliegende Zahlenmate-
rial, das ich in Vorbereitung mit meiner Stellungnahme
zum vorliegenden Antrag beim BAMF eingeholt habe,
bestätigt diese Aussage.

Zudem berichtete Frau Kollegin Professor
Dr. Böhmer in der vorerwähnten Sitzung unserer Quer-
schnittsarbeitsgruppe, dass sie auf einer Reise in die
Türkei erfahren habe, die türkische Regierung stehe dem
Ehegattennachzugsanforderungen nach wie vor kritisch
gegenüber, allerdings vornehmlich deshalb, weil es sich
um eine gesetzliche Regelung handelt und nicht, weil sie
nicht vom Inhalt der Regelung überzeugt sei. Schon aus
den dargestellten handwerklichen Mängeln, die der An-
trag der Fraktion Die Linke aufweist – das heißt wegen
der fehlenden Auseinandersetzung mit dem Urteil des
Bundesverwaltungsgerichtes und wegen des unsauber
aufgeführten Zahlenmaterials –, wobei es sich nicht um
Kleinigkeiten handelt, über die großzügig hinweggese-
hen werden könnte, empfehle ich, den Antrag abzuleh-
nen.

Zudem erzwingt das Zahlenmaterial kein sofortiges
und umgehendes Handeln. Andere Regelungen, zum Bei-
spiel die Schaffung eines wirksamen, dauerhaften und
fortlaufenden Bleiberechts, sind aus meiner Sicht im
Moment dringender.

Ich will auch heute nicht verheimlichen, dass die Ehe-
gattennachzugsregelungen innerhalb der SPD-Fraktion
nach wie vor umstritten sind. Anlässlich der Debatte
zum zweiten Richtlinienumsetzungsgesetz habe ich ge-
sagt: „Für mich ist das Richtlinienumsetzungsgesetz ein
schmerzhafter Kompromiss. Einige von uns sagen: Wir
wollen einen Spracherwerb im Herkunftsland. Andere,
auch in unseren Reihen, sagen: Das halten wir für ver-
fassungswidrig und kritikwürdig.“

Auch nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerich-
tes gehöre ich immer noch zu der zweiten Gruppe. Aus
Zu Protokoll
meiner Sicht wäre es zumindest politisch das Richtige,
die Erschwernisse im Ehegattennachzug wieder abzu-
schaffen. Wenn sich das Zahlenmaterial diesbezüglich
ändert, werden wir über einen eigenen Gesetzesentwurf
beraten.

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Seit der Änderung des Aufenthaltsgesetzes im Jahre

2007 durch die Koalition aus Union und SPD wird von
Personen, die ein Visum zum Zwecke des Ehegatten-
nachzuges nach Deutschland beantragen, die Fähigkeit
zur Verständigung in deutscher Sprache „auf einfache
Art“ verlangt. In der Umsetzung der gesetzlichen Vorga-
ben hat sich hinsichtlich des Erwerbs und des Nachwei-
ses der erforderlichen Sprachkenntnisse eine Praxis he-
rausgebildet, die die Antragsteller vor zusätzliche, in
Einzelfällen unzumutbare Hürden stellt. Dazu gehörte
hinsichtlich des Nachweises von Sprachkenntnissen der
ausschließliche Verweis auf Kurse und Prüfungen der
Goethe-Institute. Zudem waren die deutschen Auslands-
vertretungen angewiesen, nur in Ausnahmefällen auch
andere Sprachzertifikate als das Sprachzertifikat „Start
Deutsch 1“ des Goethe-Instituts anzuerkennen.

Die FDP hatte diese Regelung auch deshalb kriti-
siert: Weder existieren in allen Ländern Goethe-Insti-
tute, noch ist es zumutbar, dass Antragsteller bis zu
dreimonatige Sprachkurse in Hunderten von Kilometern
Entfernung von ihrem Wohnort oder sogar in Nachbar-
ländern absolvieren müssen und somit weder ihrer
Erwerbstätigkeit nachgehen können noch über eine
ständige Unterkunft verfügen. Eine regelmäßige
Sprachkursteilnahme unter solchen Umständen kann
unzumutbar sein. Eine einmalige Teilnahme an einer
Sprachstandserhebung kann dagegen durchaus auch bei
einem gewissen Aufwand zumutbar sein, weil dadurch
die Einreiseerlaubnis für Deutschland im Rahmen des
Ehegattennachzugs erworben wird. Deshalb muss es
möglich sein, einen entsprechenden Sprachnachweis
auch ohne Kursteilnahme zu erbringen, wenn die
Sprachkenntnisse auf anderem Wege erworben wurden.
Wichtig ist, dass die sprachliche Qualifikation verläss-
lich erhoben wurde.

Ein Problem entstand zudem aus der Privilegierung
nichtdeutscher EU-Bürger: Unionsbürger müssen keine
Sprachkenntnisse vorweisen; auch mögliche Familien-
angehörige aus Nicht-EU-Staaten benötigen beim Fami-
liennachzug zu in Deutschland lebenden Unionsbürgern
keine Sprachkenntnisse. Diese Ungleichbehandlung
führt im Ergebnis zu Ehen erster und zweiter Klasse. An-
statt beim Nachweis der Deutschkenntnisse auf die
Staatsangehörigkeit desjenigen abzuheben, der seinen
Ehegatten in die Bundesrepublik nachholen möchte, ha-
ben wir 2007 vorgeschlagen, im Sinne der Gleichbe-
handlung unter Berücksichtigung der Rechtsprechung
des EuGH auf die Staatsangehörigkeit des nachziehen-
den Ehegatten abzuheben. Ebenso fehlt eine allgemeine
Härtefallregelung.

In der Koalitionsvereinbarung ist festgelegt, dass der
grundsätzliche Ansatz, den Beginn des Spracherwerbs
für Ehegatten schon vor Zuzug hierher beginnen zu las-



gegebene Reden

Hartfrid Wolff (Rems-Murr)



(A) (C)



(D)(B)

sen, sinnvoll ist. Zuwanderer sind in Deutschland will-
kommen. Sie sind aber selbst auch klar gefordert. Die
deutsche Sprache, die Grund- und Menschenrechte so-
wie Demokratie und Rechtsstaat sind das für alle gel-
tende Fundament unserer Gesellschaft. Die Linke will,
wie sie auch mit dem vorliegenden Antrag beweist, et-
was anderes: Sie will die Abschaffung der Nachzugsre-
gelung. Damit will sie, wie immer in ihren Anträgen zur
Migrationspolitik, die Akzeptanz von Ausländern in
Deutschland erschweren und die deutsche Gesellschaft
desintegrieren, indem sie falsche Erwartungen weckt
und statt Engagement nur Anspruchsdenken fördert. Die
FDP hat hingegen mit der Union vereinbart, dass die
Probleme, die durch die Nachzugsregelung 2007 ent-
standen sind, behoben werden sollen. Wir wollen die
Möglichkeiten verbessern, im Ausland Deutsch zu ler-
nen, und wir wollen den Sprachnachweis organisato-
risch vereinfachen. Dabei soll vor allem das Monopol
des Goethe-Instituts gelockert werden.

Ein Wort noch zu dem in diesem Zusammenhang stets
gemachten Verweis auf Art. 6 Grundgesetz. Der Schutz
der Familie, auf den Art. 6 GG den Staat verpflichtet,
entbindet die zu schützenden Familien nicht von der
Pflicht, auf zumutbare Weise Verantwortung für unsere
Zivilgesellschaft zu übernehmen. Art. 6 GG ist von den
Vätern und Müttern des GG nie als Freibrief für unkon-
trollierte und bedingungslose Zuwanderung nach
Deutschland gedacht gewesen. Bis heute wird er von der
Rechtssprechung auch nicht so interpretiert. Familien-
nachzug sollte zudem vor allem bedeuten, dass bei Zu-
wanderung bestehende Familien bei Inte-
grationsbereitschaft eine Zuzugsmöglichkeit erhalten
sollen. Die Kultivierung von desintegrierten Parallel-
gesellschaften durch systematische und von Großfamilien-
clans organisierte Verheiratung von Zuwanderern oder
Zuwandererkindern mit Partnern aus dem Herkunfts-
land ist nicht gewollt und mit dem Grundanliegen von
Art. 6 GG nicht vereinbar.

Die Linken verwenden jeden beliebigen Vorgang aus
der Zuwanderungspolitik, um einer ungesteuerten Zu-
wanderung das Wort zu reden. Wachsende Belastungen
für die sozialen Sicherungssysteme und ansteigende
Ausländerfeindlichkeit nehmen die Linken dafür billi-
gend in Kauf. Wir Liberalen haben mit der Union dage-
gen eine Steuerung der Zuwanderung nach zusammen-
hängenden, klaren, transparenten und gewichteten
Kriterien vereinbart. Wir wollen eine neue Kultur des
Willkommens, die nicht falsche Versprechungen auf Kos-
ten anderer Leute macht, sondern Chancen und Per-
spektiven eröffnet, für die, die nicht nur „territorial“
nach Deutschland kommen, sondern auch in seiner
Sprache und Kultur sowie seiner Gesellschaft mit ihren
Grundwerten ankommen wollen, und diejenigen aner-
kennt, die das geschafft haben.


Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704329200

Wir beraten vorliegend einen Antrag meiner Frak-

tion, weil die seit Ende August 2007 geltende Neurege-
lung, wonach im Rahmen des Ehegattennachzugs bereits
vor der Einreise deutsche Sprachkenntnisse nachzuwei-
sen sind, zu einer erheblichen Einschränkung des Ehe-
Zu Protokoll
gattennachzugs geführt hat. 2008 lag die Zahl der zum
Ehegattennachzug erteilten Visa um 22 Prozent unter
dem Wert von 2006. Direkt nach Inkrafttreten der Neure-
gelung gab es einen drastischen Einbruch der Visum-
zahlen um weltweit 40 Prozent, bezogen auf die Türkei
gar um 67,5 Prozent.

Es ist nicht hinnehmbar, dass die Bundesregierung
die Betroffenen dafür verantwortlich macht. Nicht an-
ders ist die Bemerkung der Bundesregierung in ihrer
Antwort auf meine Kleine Anfrage mit der Drucksachen-
nummer 17/1112 zu verstehen. Laut Bundesregierung
haben sich diejenigen, die die Deutschprüfung im Aus-
land nicht bestanden haben, oftmals einfach nicht aus-
reichend auf die Prüfung vorbereitet. Das ist eine Un-
verschämtheit! Es ist der gezielte Versuch, über die
eingeführten diskriminierenden Regelungen zum Ehe-
gattennachzug hinwegzutäuschen und die bestehenden
Probleme auf die Betroffenen abzuwälzen.

Ließen sich die geforderten Sprachkenntnisse leicht
und schnell erwerben, hätte die Zahl der erteilten Visa
im ersten Quartal 2008, das heißt vier bis sieben Monate
nach Inkrafttreten der Regelung, in etwa wieder dem
Wert von vor der Gesetzesänderung entsprechen müs-
sen; tatsächlich aber lag sie immer noch um mehr als
30 Prozent darunter. Nur 64 Prozent aller Prüfungsteil-
nehmenden weltweit bestanden im Jahr 2009 den
Deutschtest, der Voraussetzung für den Ehegattennach-
zug ist. Nicht erfasst wird dabei, wie viele Versuche die
Betroffenen unternehmen mussten, um den Sprachtest zu
bestehen. Vermutlich schafft nur etwa die Hälfte aller
nachzugswilligen Ehegatten die Hürde des Sprachtests
im ersten Anlauf.

Problematisch ist auch, dass die Erfolgsaussichten,
den Sprachkurs zu bestehen, dann größer sind, wenn
Kurse am Goethe-Institut absolviert wurden. Doch viele
Betroffene haben keinen Zugang zu einem Sprachkurs
eines Goethe-Instituts im Ausland. Viele können sich
diesen auch schlicht nicht leisten. Denn um Sprachkurse
besuchen zu können, müssen die Betroffenen oftmals in
weiter entfernte Städte reisen, sie müssen sich dort eine
Unterkunft nehmen und können in der Zeit des Sprach-
erwerbs nicht erwerbstätig sein. Besonders prekär ist
die Situation in Afrika, Asien und Lateinamerika. Für
die Bundesregierung aber ist all dies zumutbar. Vermut-
lich hält es die Bundesregierung auch für zumutbar, un-
ter Brücken schlafen zu müssen, wenn das Geld für
Übernachtungsmöglichkeiten nicht ausreicht.

All das ist wenig überraschend, denn das Ziel der
Neuregelung ist die soziale Selektion beim Ehegatten-
nachzug und der Ausschluss sogenannter bildungsferner
und sozial ausgegrenzter Menschen. Diese Selektions-
wirkung wurde von der Bundesregierung sogar mehr
oder weniger eingeräumt. So hält sie finanzielle Belas-
tungen in Höhe mehrerer Tausend Euro aufgrund von
sich hinziehenden Visumverfahren ausdrücklich für zumut-
bar; sehen Sie dazu die Bundestagsdrucksache 16/10732,
Fragen 11 und 15. Die vorgegebenen Ziele einer angeb-
lichen Bekämpfung von Zwangsverheiratungen oder ei-
ner Förderung der Integration können nach Auffassung
aller fachkundigen Verbände mit Sprachtests im Ausland



gegebene Reden

Sevim Daðdelen


(A) (C)



(D)(B)


Sevim Dağdelen
gar nicht erreicht werden. Im Gegenteil: Der Druck auf
Zwangsverheiratete im Ausland dürfte sich häufig sogar
noch vergrößern, und die Integration in Deutschland
wird durch die Hürde des Spracherwerbs im Ausland
ganz klar behindert und verzögert.

Die Bundesregierung täuscht aber nicht nur die Öf-
fentlichkeit, indem sie den Betroffenen die Verantwor-
tung für ihre Situation zuschiebt. Sie täuscht die Öffent-
lichkeit überdies in dem Sinne, dass sie eine nach
Angaben der Bundesregierung bereits im Jahr 2009 fer-
tiggestellte Evaluierung der Auswirkungen der Neurege-
lung der Sprachnachweise beim Ehegattennachzug
nicht veröffentlicht. Dabei handelt es sich nicht einmal
um eine unabhängige Evaluierung, sondern um eine in-
terne Bewertung. Doch vermutlich passen der Bundesre-
gierung die Fakten nicht ins politische Konzept und las-
sen sich kaum beschönigen. Denn selbst im Rahmen
einer vom Ministerium veranlassten Evaluierung dürfte
die Notwendigkeit zumindest einer Härtefallregelung für
Ausnahmefälle offenkundig geworden sein. Eine solche
Härtefallregelung als Minimallösung, wie von der FDP
noch vor kurzem im Parlament gefordert wurde, wird
aber von der CDU/CSU abgelehnt.

Die Linke hat die Neuregelung von Beginn an als eine
verfassungswidrige Einschränkung des Familiennach-
zugs und als eine Selektion nach Nützlichkeitskriterien
abgelehnt. Verfassungs- und europarechtliche Bedenken
wurden auch von zahlreichen Sachverständigen im Rah-
men der Anhörung zum EU-Richtlinienumsetzungsge-
setz im Innenausschuss des Bundestages 2007 vorgetra-
gen. Die Verwirklichung eines Grundrechts darf nicht
vom Geldbeutel der Betroffenen oder ihrer Fähigkeit
zum Fremdsprachenerwerb abhängig gemacht werden.

Völlig unverständlich ist, warum das Bundesverwal-
tungsgericht in seiner Entscheidung zum Ehegatten-
nachzug vom 30. März 2010 die europarechtlichen Fra-
gen nicht dem Europäischen Gerichtshof zur Prüfung
und Entscheidung vorgelegt hat. Nicht nachvollziehbar
ist auch, dass sich das Bundesverwaltungsgericht im Er-
gebnis über die inhaltlichen Argumente und mühsam do-
kumentierten Einzelfälle hinwegsetzt, die die Verfas-
sungs- und Europarechtswidrigkeit der Neuregelung
belegen. Stattdessen wurde offenbar unkritisch die durch
nichts zu belegende Behauptung der Großen Koalition
einer angeblich beabsichtigten Verhinderung von
Zwangsverheiratungen und Erleichterung der Integra-
tion übernommen. Tatsächlich ist die Regelung familien-
feindlich, diskriminierend und sozial selektierend. Für
die Betroffenen ist sie mit einer Zwangstrennung auf un-
bestimmte Zeit, erheblichen Kosten und psychischen Be-
lastungen verbunden.

Die Linke ist nach wie vor fest davon überzeugt, dass
die Regelung gegen den Grundsatz der Verhältnismäßig-
keit verstößt und mit Art. 6 des Grundgesetzes unverein-
bar ist. Damit stehen wir nicht alleine. Der Deutsche
Gewerkschaftsbund bewertete in einer Stellungnahme
die Neuregelung als nicht zu akzeptierende soziale Se-
lektion. Auch der Paritätische Wohlfahrtsverband for-
derte in seiner Bilanz vom 27. August 2009 „Ein Jahr
nach der Reform des Zuwanderungsgesetzes“ die Ab-
Zu Protokoll
schaffung der Nachweispflicht von einfachen Sprach-
kenntnissen als Voraussetzung für den Ehegattennach-
zug. Es handele sich um eine soziale Selektion, die mit
dem grundgesetzlich geschützten Recht auf Ehe und Fa-
milie nicht vereinbar sei. Selbst der Präsident des Deut-
schen Roten Kreuzes und ehemalige Bundesinnenminis-
ter Rudolf Seiters, CDU, forderte in einem Brief vom
9. Oktober 2008 an den damaligen Bundesinnenminister
Wolfgang Schäuble aufgrund der Erfahrungen des DRK
mit der Neuregelung eine Ausnahme- bzw. Härtefallre-
gelung bis hin zur Rückgängigmachung der Gesetzes-
verschärfung.

In ihrem Antrag fordert die Linke eine sofortige Rück-
nahme der diskriminierenden Beschränkungen des Ehe-
gattennachzugs. Das Parlament sollte im Interesse der
Menschen nicht darauf warten, dass uns der Europäi-
sche Gerichtshof oder das Bundesverfassungsgericht
diesen Job abnimmt. Aus all diesen sowie weiteren
Gründen und Erfahrungen haben wir unseren Antrag
eingebracht. Es muss Schluss sein mit der für alle offen-
sichtlichen Diskriminierung. Deshalb bitten wir um Un-
terstützung des Antrags.


Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704329300

Seit der Einführung des Spracherfordernisses beim

Ehegattennachzug im Jahr 2007 kommt es bei der Ertei-
lung der Aufenthaltserlaubnis zu Verzögerungen, die so-
gar Jahre ausmachen können. In dieser Zeit müssen die
Ehegatten getrennt voneinander leben und Härten ver-
schiedenster Art ertragen. Der Spracherwerb im Aus-
land ist oft kaum möglich, da es zum Beispiel in ländli-
chen Regionen an Schulungsmöglichkeiten fehlt. In der
Regel werden von den Auslandsvertretungen zum Nach-
weis der Deutschkenntnisse nur Zertifikate des Goethe-
Institutes anerkannt. Jedoch existieren Goethe-Institute
nicht in allen Regionen, nicht einmal in allen Ländern.
Zudem sind die Sprachkurse allzu oft mit hohen Kosten
verbunden, die für viele Menschen eine erhebliche Be-
lastung bedeuten. Kurse beim Goethe-Institut sind
teuer; oft übersteigen die Kosten ein durchschnittliches
Monatsgehalt in den Herkunftsländern.

Die Pflicht, Deutsch im Herkunftsland unter schwie-
rigen Bedingungen zu lernen, trifft sozial schwache Per-
sonen besonders heftig. Auch für Personen ohne oder
mit nur wenig Erfahrung mit Bildungseinrichtungen
stellt das Spracherfordernis eine erhebliche Hürde dar.
So kann die Regelung etwa für Analphabeten zu einem
dauerhaften Einreisehindernis führen. Das Spracherfor-
dernis verfehlt die Ziele, die es erreichen soll. Es wirkt
Zwangsehen nicht entgegen und trägt zur Integration
der nachziehenden Ehegatten nicht bei. Somit kann es
die Eingriffe in Art. 6 Grundgesetz nicht rechtfertigen.

Die Einführung des Sprachnachweises wurde von der
Großen Koalition damit begründet, dass Sprachkurse
Zwangsverheiratungen verhindern. Belege dafür gibt es
nicht. Sprachkurse können zwar die individuelle Hand-
lungsfähigkeit und damit die persönliche Autonomie
steigern; wie Sprachwissenschaftlerinnen und Sprach-
wissenschaftler jedoch zeigen, gelingt das nur dann,
wenn sie kontextbezogen stattfinden und mit Orientie-



gegebene Reden





Memet Kilic


(A) (C)



(D)(B)

rungen im Gesellschafts- und Unterstützungssystem des
Zielstaates verbunden sind. Derartiges „Empower-
ment“ durch Sprachkurse ist daher erst im Zielland,
etwa im Rahmen der Integrationskurse, nicht aber durch
Fernlehrkurse vor der Einreise zu gewährleisten. Das
Spracherfordernis ist also nicht geeignet, Zwangsver-
heiratungen entgegenzuwirken.

Die Einschränkung des Grundrechts auf Ehe- und Fa-
milienleben ist zudem unverhältnismäßig. Denn sie be-
trifft eine große Zahl von Einwanderinnen und Einwan-
derer, während Zwangsehen nur in wenigen Ländern und
hier jeweils nur bei kleinen Bevölkerungsgruppen ge-
schlossen werden. Auch nach Aussagen der Bundesre-
gierung spielen Zwangsverheiratungen beim Ehegatten-
nachzug überhaupt nur in Ausnahmefällen eine Rolle.

Der Eingriff in das Recht auf familiäres Zusammenle-
ben in Deutschland ist auch durch das Ziel der Integra-
tion nicht gerechtfertigt. Denn es gibt mildere Mittel,
durch die der intendierte Zweck besser erreicht wird.
Sprachen lernt man am besten dort, wo sie gesprochen
werden. Nur dann ist gewährleistet, dass das in den Kur-
sen erworbene Wissen praktisch umgesetzt und eingeübt
wird, nicht zuletzt mithilfe der hier lebenden Familien-
angehörigen und Freunde und unterstützt durch die
Sprachanwendung im Alltag. Kurz: Der Spracherwerb
im Inland ist viel leichter, schneller, kostengünstiger und
weitaus weniger belastend für die Betroffenen als im
Ausland.

In Bezug auf den Ehegattennachzug zu Deutschen
stellt die Regelung zudem eine „Inländerdiskriminie-
rung“ dar. Denn der Nachzug zu Deutschen wird anders
behandelt als der Nachzug zu Unionsbürgerinnen und
Unionsbürgern. Während Ehegatten deutscher Staats-
angehöriger vor der Einreise Sprachkenntnisse nach-
weisen müssen, sind Ehegatten von Unionsbürgerinnen
und Unionsbürgern von dieser Verpflichtung befreit.
Letztere können sich auf die vorteilhafteren Regelungen
des gemeinschaftsrechtlichen Freizügigkeitsrechts beru-
fen. Mangels sachlicher Rechtfertigung dieser Un-
gleichbehandlung steht die Regelung nicht im Einklang
mit Art. 3 Grundgesetz.

Das Spracherfordernis gilt auch nicht für alle Ehe-
gatten von Ausländerinnen und Ausländern. So müssen
beispielsweise Ehegatten von Staatsangehörigen aus
Ländern, mit denen Deutschland enge wirtschaftliche
Beziehungen pflegt, Sprachkenntnisse nicht nachweisen.
Ausgenommen von der Nachweispflicht sind auch Ehe-
gatten von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern
sowie die Ehegatten von Hochqualifizierten, Selbststän-
digen und Forscherinnen und Forschern. Diese Bevor-
zugung bestimmter Drittstaatsangehöriger ist im Hin-
blick auf den vorgeblichen Zweck des Sprachnachweises
sachfremd.

Wir betrachten die Regelungen zum Spracherwerb
beim Familiennachzug als menschenunwürdig, verfas-
sungswidrig und überflüssig. Daher haben wir uns in
unserem Gesetzentwurf mit der Drucksachennum-
mer 17/1626 für ihre Abschaffung ausgesprochen.

Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704329400

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/1577 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstan-
den? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel
Sarrazin, Viola von Cramon-Taubadel, Ulrike
Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu dem Vorschlag
der Europäischen Kommission für eine Ver-
ordnung des Europäischen Parlaments und
des Rates über die Bürgerinitiative
KOM(2010) 119 endg.; Ratsdok. 8399/10
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes

Europäische Bürgerinitiative – Für mehr Bür-
gerbeteiligung in der EU

– Drucksache 17/1781 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)

Petitionsausschuss

Ausweislich der Tagesordnung werden die Reden zu
Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden der
Kolleginnen und Kollegen Thomas Dörflinger, Karl
Holmeier, CDU/CSU, Michael Roth, SPD, Dr. Stefan
Ruppert, FDP, Dr. Dieter Dehm, Die Linke, Manuel
Sarrazin, Bündnis 90/Die Grünen.


Thomas Dörflinger (CDU):
Rede ID: ID1704329500

Zu den vielen positiven Neuigkeiten, die der Vertrag

von Lissabon in die europäische politische Realität ge-
bracht hat, gehört die Europäische Bürgerinitiative
nach Art. 11 Abs. 4 EUV. Insofern ist es gut, im Lichte
des Verordnungsvorschlags des Europäischen Parla-
ments und des Rates im Deutschen Bundestag eine De-
batte hierüber zu führen, auch wenn – und dies schicke
ich voraus – im uns heute vorliegenden Antrag wenig zu
finden ist, was unsere Zustimmung finden kann. An vie-
len Punkten ist der Vorschlag der Kolleginnen und Kol-
legen des Europäischen Parlaments und des Rates ziel-
führender. Ich will dies schlaglichtartig aufzeigen:

Erstens. Der Verordnungsvorschlag gibt als Richt-
schnur für das Mindestalter der Antragsteller das Wahl-
alter in den Mitgliedstaaten an. Wir halten dies für ziel-
führend. Der Vorschlag des Antrags der Grünen geht
von einem Mindestalter von 16 Jahren aus; dies korres-
pondiert nicht mit den Bestimmungen des deutschen
Wahlgesetzes.

Zweitens. Bündnis 90/Die Grünen fordern ein einklag-
bares Recht auf obligatorische Befassung der Kommis-
sion mit einer formal erfolgreich eingereichten Initiative.
Das liegt nicht in der Intention der Vertragsautoren von
Lissabon. Ein solches Recht, die Europäische Kommis-
sion habe sich mit eingereichten Vorlagen zu befassen,
hat im Übrigen nicht einmal der Deutsche Bundestag.

Thomas Dörflinger


(A) (C)



(D)(B)

Drittens. Bündnis 90/Die Grünen fordern, den An-
tragstellern müsse eine informelle Vorabberatung durch
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kommission zur
Verfügung gestellt werden. Mit Verlaub: Das ist etwas zu
viel des Guten und käme der Praxis gleich, dass der Pe-
titionsausschuss beim Deutschen Bundestag die Peten-
ten selbst vorab berät.

Viertens. Bündnis 90/Die Grünen fordern, dass die
1 Million benötigter Unterschriften aus mindestens ei-
nem Viertel der Mitgliedstaaten stammen solle. Der Ver-
ordnungsvorschlag geht von einem Drittel aus. Wenn
man weiß, dass die grüne Position in der von der Kom-
mission durchgeführten Anhörung insbesondere von Or-
ganisationen vertreten wurde, wird die Absicht etwas
deutlicher. Hier soll offensichtlich befreundeten Organi-
sationen der Zugang erleichtert werden; Klientelpolitik
im klassischen Sinne. Diese Auffassung teilen wir nicht.

Man kann trefflich darüber streiten, ob eine Zulässig-
keit vorab durch die Kommission oder ex ante geprüft
werden sollte. Im Interesse möglicher Initianten sollte es
liegen, dass der Fall vermieden wird, dass mit verhält-
nismäßig großem Aufwand eine Initiative gestartet und
durchgeführt wird, von der sich nachher herausstellt, sie
war überhaupt nicht zulässig. Die Hoffnung, alleine
durch diesen Prozess werde schon eine europäische öf-
fentliche Debatte ausgelöst, scheint mir dagegen eher
virtueller Natur zu sein.

Letzte Bemerkung: Die Europäische Bürgerinitiative
soll die repräsentative Demokratie und damit das Parla-
ment ergänzen und nicht ersetzen; sie soll auch nicht in
Teilen Aufgaben der Legislative übernehmen. Insofern
können wir den vorgelegten Antrag nicht mittragen.


Karl Holmeier (CSU):
Rede ID: ID1704329600

Demokratie hat Konjunktur – und das inmitten einer

Wirtschafts- und Finanzkrise. Nachdem durch den Ver-
trag von Lissabon bereits die Mitwirkungsmöglichkeiten
des Europäischen Parlamentes und die Einbindung der
nationalen Parlamente in den europäischen Gesetzge-
bungsprozess verbessert wurden, setzen wir nun auf eu-
ropäischer Ebene ein weiteres Zeichen zur Stärkung der
Demokratie.

Wir geben den Startschuss für ein echtes europäi-
sches Volksbegehren – die Europäische Bürgerinitiative.
Den Grundstein dafür haben wir bereits im Vertrag von
Lissabon gelegt, und derzeit diskutieren wir mit der Eu-
ropäischen Kommission und unseren europäischen
Partnern die Einzelheiten für das konkrete Verfahren zur
Ausgestaltung der Bürgerinitiative.

Doch lassen Sie mich vielleicht zunächst kurz erläu-
tern, worum es bei dieser Europäischen Bürgerinitiative
eigentlich genau geht und was sie bedeutet. In ihrem Zu-
sammenhang wird viel von der sogenannten partizipato-
rischen Demokratie gesprochen, im Gegensatz zur re-
präsentativen Demokratie, die wir hier als Abgeordnete
im Deutschen Bundestag praktizieren. Da es sich jedoch
bei der Europäischen Bürgerinitiative um ein Instrument
handelt, das direkt für die Bürgerinnen und Bürger ge-
schaffen wurde, sollten wir uns vielleicht bei der Erläu-
Zu Protokoll
terung dieses Instruments etwas verständlicher ausdrü-
cken.

Die Europäische Bürgerinitiative ist, wie eingangs
bereits kurz erwähnt, eine Art Volks- oder Bürgerbegeh-
ren auf europäischer Ebene. Sie erlaubt den Unionsbür-
gern erstmals in der Geschichte der EU, europäische
Rechtsvorschriften direkt anzuregen – mit der Samm-
lung von mindestens einer Million Unterschriften zu ei-
nem ganz konkreten Thema. Die Bürger können mit die-
sen Unterschriften die Kommission auffordern, konkrete
Gesetzesvorschläge auf europäischer Ebene vorzulegen.
Dies gilt selbstverständlich nur im Rahmen der Kompe-
tenzen, die die EU hat. Das sogenannte Prinzip der be-
grenzten Einzelermächtigung und das Subsidiaritäts-
prinzip bleiben also gewahrt.

In Deutschland ist uns das von Länder- und Kommu-
nalebene bereits bekannt. Im Bund gibt es so etwas
nicht, dafür aber nun in Europa. Das ist ein Meilenstein
für die Demokratie. Wir sind damit in Europa also sogar
ein Stück weiter als in Deutschland.

Ziel der Europäischen Bürgerinitiative ist es, einen
spürbaren Akzent zu setzen, um die EU bürgernäher zu
machen. Wir von der CDU/CSU haben immer klarge-
macht, dass wir nicht nur ein starkes, sondern vor allem
auch ein bürgernahes Europa wollen. Das haben wir in
unseren Wahlprogrammen und auch im Koalitionsver-
trag festgeschrieben. Mit der Europäischen Bürgerinitia-
tive setzen wir dies nun um. Die Menschen in der EU
können sich mit dieser Initiative selbst Gehör verschaf-
fen und erhalten die Möglichkeit, selbst ein Wort mitzu-
reden. Die Europäische Bürgerinitiative hat damit einen
immensen symbolischen Wert und ist ein Beleg dafür,
dass es der EU ernst damit ist, sich um die Belange ihrer
Bürgerinnen und Bürger zu kümmern.

Außerdem soll die Bürgerinitiative grenzüberschrei-
tende europaweite Debatten fördern, weniger auf natio-
nale Themen und nationale Interessen begrenzt, sondern
verstärkt auf gesamteuropäische Themen. Damit leisten
wir einen bedeutenden Beitrag zur Förderung der euro-
päischen Identität.

Ziel bei der Ausgestaltung der europäischen Bürger-
initiative muss es sein, dass die Bürgerinnen und Bürger
dieses Instrument aktiv nutzen. Es darf nicht nur ein
populistisches Vehikel für Oppositionsparteien oder
auch für Mitgliedstaaten sein, deren Vorstellungen zu
bestimmten Themen nicht mehrheitsfähig sind. In diesen
Tagen beschleicht mich jedoch der Eindruck, dass diese
Initiative für die Bürger genau hierzu missbraucht wird.

Ich bin der Letzte, der hohe bürokratische Hürden für
die Bürgerinitiative fordert. Ich sehe mich eher als
Kämpfer für Bürokratieabbau an allen Fronten. Posi-
tion von CDU und CSU war es auch von Anfang an, die
Europäische Bürgerinitiative unbürokratisch, unkompli-
ziert und praktikabel auszugestalten. Aber es muss na-
türlich auch hinreichend sichergestellt sein, dass dieses
Instrument tatsächlich ein Instrument der Bürgerinnen
und Bürger wird und eben nicht als populistisches Mittel
missbraucht werden kann.



gegebene Reden

Karl Holmeier


(A) (C)



(D)(B)

Genauso muss sichergestellt sein, dass es keinen
Missbrauch durch fingierte Unterschriften gibt. Das ist
nicht einfach, denn die Nachprüfung von einer Million
Unterschriften in ganz Europa ist verständlicherweise
eine echte Herausforderung. Ich bin jedoch zuversicht-
lich, dass wir das in den aktuellen Verhandlungen in den
Griff bekommen.

Was die Forderung der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angeht, das Mindestalter auf 16 Jahre festzule-
gen, denke ich, ist es sinnvoll, sich hier am Wahlrecht für
das Europäische Parlament zu orientieren. Die Europäi-
sche Bürgerinitiative ist ein demokratisches Instrument
auf europäischer Ebene und wir sollten hier in Europa
keine unterschiedlichen Altersgrenzen einführen.

Insgesamt sind wir mit dem, was zurzeit von der Eu-
ropäischen Kommission vorgelegt wurde, auf einem sehr
guten Weg. Dem aktuellen Verordnungsvorschlag stehen
keine wesentlichen Bedenken entgegen. Ich halte daher
auch eine besondere Intervention des Deutschen Bun-
destages nicht für erforderlich. Dies gilt insbesondere
auch im Hinblick auf den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen, den ich vor dem Hintergrund
meiner Ausführungen ablehne.

Angesichts der bedeutenden gesamteuropäischen He-
rausforderungen, vor denen wir in diesen Tagen stehen,
ist diese Europäische Bürgerinitiative ein Signal für uns
alle, für unseren europäischen Gemeinsinn, die gemein-
same Solidarität in Europa und die gemeinsame Identi-
tät.


Michael Roth (SPD):
Rede ID: ID1704329700

Denk ich an Europa in der Nacht, bin ich um den

Schlaf gebracht. – Man muss nicht erst Heinrich Heines
berühmtes Zitat in abgewandelter Form bemühen, um
das beherrschende Thema dieser Tage in den Blick zu
nehmen: Wird das vereinte Europa die dramatische
Krise überstehen? Oder endet eine wohl einmalige Er-
folgsgeschichte europäischer Integration, weil wir vor
einem ungezügelten Raubtierkapitalismus und einer
wachsenden Entsolidarisierung als Staaten- und Bürger-
union kapitulieren?

Trotz aller berechtigten Sorge: Von Schwarzmalerei
halte ich nichts. Anlass zu Optimismus ist sicher auch
das neue Instrument der Europäischen Bürgerinitiative.
Mit dem Vertrag von Lissabon und der Bürgerinitiative
wagen wir mehr Demokratie. Gerade jetzt ist nicht ein
Weniger, sondern ein Mehr an Bürgerbeteiligung in Eu-
ropa entscheidend. Bürgerinnen und Bürger haben eine
Chance verdient, sich stärker in den Entscheidungspro-
zess der EU einzubringen. Wir Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten haben uns schon im Verfassungskon-
vent für eine Europäische Bürgerinitiative stark ge-
macht, und das mit Erfolg! Heute debattieren wir über
die konkrete Umsetzung. Endlich liegt ein Verordnungs-
entwurf der EU-Kommission auf dem Tisch.

Die SPD will die Bürgerinnen und Bürger zur Teil-
habe in der EU ermuntern. Die Europäische Bürgerini-
tiative ist ein wichtiger Baustein direkter Demokratie.
Die Europäische Bürgerinitiative ist stets als ein Glanz-
Zu Protokoll
stück des Verfassungsvertrages bzw. des Vertrages von
Lissabon bewertet worden. Jetzt muss das Projekt mög-
lichst unbürokratisch und bürgerfreundlich ausgestaltet
werden, damit es wirken und von der Bevölkerung auch
angenommen werden kann. Meine Fraktion hat sich
bereits mit einer ausführlichen Stellungnahme am öf-
fentlichen Konsultationsprozess der Europäischen Kom-
mission zur Ausgestaltung der Europäischen Bürgerini-
tiative beteiligt. Denn bis auf die Mindestanzahl von
1 Million Unterschriften aus einer bestimmten Anzahl
von Mitgliedstaaten schreibt der Vertrag von Lissabon
nicht viel zur Durchführung einer Europäischen Bürger-
initiative vor. Deshalb sind viele der Forderungen, die
die Grünen-Fraktion in ihrem Antrag nennt, durchaus
unterstützenswert.

Das Quorum für die Anzahl der Unterstützer pro Mit-
gliedsland hat die Kommission selbst herabgesetzt. Das
ist schon einer unserer ersten Erfolge. Der ursprüngli-
che Prozentsatz von 0,2 Prozent der Bevölkerung hätte
beispielsweise für Deutschland bedeutet, dass sich un-
gefähr 160 000 Bürgerinnen und Bürger hätten beteili-
gen müssen. Wenn ich mich recht entsinne, fand selbst
die Petition an den Deutschen Bundestag zu den umstrit-
tenen Internetsperren nicht einmal 140 000 Unterzeich-
ner. Das zeigt: Eine Mindestanzahl von 160 000 war
einfach zu hoch angelegt. Das haben im Konsultations-
verfahren nicht nur wir bemängelt, sondern auch eine
Vielzahl weiterer Akteure – auch aus anderen Mitglied-
staaten. Der aktuelle Vorschlag fußt zwar auf einer kom-
plizierten Berechnungsgrundlage; aber die erforderli-
che Unterstützerzahl wurde für Deutschland damit auf
72 000 vermindert. Das ist gut so.

Der nun vorliegende Vorschlag der Kommission legt
jedoch in vielen Bereichen die Messlatte weiterhin zu
hoch an. Der Rat und das Parlament sind nun in der
Pflicht, im weiteren Verfahren, die zu hohen Hürden im
Interesse der Bürgerinnen und Bürger herabzusetzen.
Wir werden sehr genau beobachten, wie sich die Bun-
desregierung in den Verhandlungen verhalten wird.

Ich möchte einige weitere Punkte benennen, die zu
korrigieren sind, damit dieses Instrument für die Orga-
nisatorinnen und Organisatoren von Bürgerinitiativen
vereinfacht wird. Nur dann wird es den EU-Bürgerinnen
und -Bürgern möglich sein, sich über die Grenzen der
Mitgliedstaaten hinaus zu vernetzen, gemeinsame Anlie-
gen zu verfolgen und mitzugestalten. Eine Schicksalsge-
meinschaft muss auch immer Gestaltungsgemeinschaft
sein.

Erstens sollte die Mindestanzahl der Mitgliedstaaten,
die im aktuellen Vorschlag bei neun liegt, auf ein Viertel,
also derzeit sieben Mitgliedstaaten, herabgesetzt wer-
den. Mit Unterstützern aus sieben Mitgliedstaaten ist ein
europäisches Interesse ausreichend gewährleistet. Wir
unterstützen damit den Vorschlag des Europäischen
Parlaments.

Zweitens spricht sich meine Fraktion für eine Verlän-
gerung des Zeitraums von 12 auf 18 Monate aus. Die
Vernetzung der Organisatorinnen und Organisatoren
aus mehreren EU-Mitgliedstaaten bedeutet einen sehr
hohen Aufwand. Dem muss mit einem angemessenen



gegebene Reden

Michael Roth (Heringen)



(A) (C)



(D)(B)

Zeitraum Rechnung getragen werden. Wenn die nötige
Anzahl von Unterstützern von 1 Million vor Ablauf die-
ser Zeit erreicht wird, beginnt die Arbeit der Kommis-
sion eben früher.

Drittens ist die im vorliegenden Entwurf vorgeschrie-
bene Angabe der Personalausweisnummer fraglich.
Diese Vorgabe kennt auch das deutsche Petitionsrecht
nicht. Aus welchem Grund sollte diese Erschwernis für
eine Bürgerinitiative auf europäischer Ebene gelten, die
schlussendlich keine Pflicht, sondern lediglich eine Auf-
forderung zum Handeln des europäischen Gesetzgebers
beinhaltet?

Unsere Position werden wir als SPD-Fraktion in ei-
nem eigenen Antrag im Deutschen Bundestag detailliert
darstellen, und wir werden die Bundesregierung auffor-
dern, sich für weitere Vereinfachungen im Sinne der
Bürgerfreundlichkeit einzusetzen. Die Abwehrhaltung
der Kolleginnen und Kollegen der CDU gegen direktde-
mokratische Elemente vermag ich nicht nachzuvollzie-
hen. Zeigen Sie jetzt, ob Ihnen das Projekt einer EU der
Bürgerinnen und Bürger ebenso wichtig ist wie uns. De-
mokratie und Europa werden von oben nicht funktionie-
ren, sondern nur von unten.

Nur wenn das gelingt, werden wir die Akzeptanz der
EU bei den Bürgerinnen und Bürgern steigern. Noch
scheint diese vielen Menschen als bürokratisch-techno-
kratisches Ungetüm. Brüssel ist vielen fern. Das verhin-
dert die Herausbildung eines europäischen Bewusst-
seins, das wir auch zur Bewältigung von Krisen
dringend benötigen. Die Europäische Bürgerinitiative
vermag Debatten auf europäischer Ebene anzustoßen.
Wir brauchen diese europaweiten Debatten auch, um
mehr Menschen an die Wahlurnen bei den Wahlen zum
Europäischen Parlament zu bewegen. Das Europäische
Parlament als einziges demokratisch legitimiertes Or-
gan der EU verdient das Interesse und die Anerkennung
der Wählerinnen und Wähler.

Die Menschen in der EU verstehen nicht, warum sie
die Kosten der Krise, die schamlose Banker und Speku-
lanten verursacht haben, allein schultern sollen. Erfreu-
lich, dass diese Einsicht jetzt doch, wenn auch verspätet
und im Schneckentempo, bei der schwarz-gelben Koali-
tion durchdringt.

Wenn die Europäische Bürgerinitiative jetzt schon ge-
nutzt werden könnte, hätte ich keinen Zweifel am erfolg-
reichen Ausgang einer Initiative zur Zügelung der Fi-
nanzmärkte. Es hätte den konservativen und liberalen
Kräften in der EU längst den Wind aus den Segeln ge-
nommen und sie endlich zu mutigen Schritten zur weit-
reichenden Finanzmarktregulierung gezwungen. Der
Beschluss der Sozialdemokratischen Parteien Deutsch-
lands und Österreichs vom 17. Mai 2010 war nur der
erste Schritt einer europaweiten Mobilisierung für das
gemeinsame Anliegen, die Märkte wieder dem Primat
der Politik unterzuordnen. Es ist wünschenswert, dass
sich Rat und Europäisches Parlament schnell auf ge-
nannte Korrekturen verständigen und die Verordnung
zur Durchführung einer Europäischen Bürgerinitiative
schnell in Kraft treten kann. Wir haben schon genug Zeit
vertan.
Zu Protokoll
In der heutigen Ausgabe der „Süddeutschen Zeitung“
formuliert ein Journalist zutreffend: „Auch Tiefpunkte
haben einen Höhepunkt“. Der Tiefpunkt, den wir in der
Wirtschaft und auf den Finanzmärkten gerade erleben,
kann zu einem Höhepunkt des Interesses für Europa
werden. Selten hat Europapolitik so viel Aufmerksamkeit
wie dieser Tage erhalten. Diese Chance gilt es zu nutzen.


Dr. Stefan Ruppert (FDP):
Rede ID: ID1704329800

Demokratie lebt von der Beteiligung der Bürger am

Geschehen in Gesellschaft und Staat. Selbst ein reprä-
sentatives System, wie es in Deutschland und der Euro-
päischen Union zu finden ist, kann immer noch um Ele-
mente der direkten Demokratie, das heißt durch stärkere
und unmittelbare Einbeziehung des Bürgerwillens, be-
reichert werden. Das ist ein wichtiger Grundsatz libera-
ler Politik. Mit der Europäischen Bürgerinitiative, die
zuerst im Verfassungsvertrag der EU Erwähnung fand
und dann erfreulicherweise in den Vertrag von Lissabon
übernommen wurde, wird erstmals ein bedeutsames di-
rektdemokratisches Instrument auf der europäischen
Ebene geschaffen. Es soll den Bürgern eine unmittelbare
Teilnahme am europäischen Gesetzgebungsverfahren
ermöglichen.

Aus demokratietheoretischer Sicht kann die Europäi-
sche Bürgerinitiative eine Lücke im politischen System
der EU in Bezug auf Bürgerpartizipation und Kontrolle
der europäischen Politik füllen. Diese ist vor allem
durch die Ausweitung der qualifizierten Mehrheitsent-
scheidungen im Rat der EU im Zuge der vergangenen
Vertragsrevisionen entstanden. So sind mit der Schaf-
fung der Europäischen Bürgerinitiative eine Vielzahl
von Chancen für das politische System der Europäi-
schen Union verbunden: zum ersten eine direkte Mitwir-
kung der Bürger am Gesetzgebungsverfahren und damit
auch eine mögliche Erweiterung des Wissens und des
Verständnisses für europäische Politik, zum zweiten eine
Stärkung von Pluralismus in der EU, da auch Minder-
heiten stärker Berücksichtigung finden werden. Letztlich
kann die Europäische Bürgerinitiative auch einen Bei-
trag zur Herausbildung von transnationalen Diskursen
leisten. Es erscheint jedoch ein wenig illusorisch, von
dem Instrument den Aufbau einer europäischen Öffent-
lichkeit zu erwarten, wie es im Antrag der Grünen an-
klingt; denn die Bürgerinitiative wird wohl vor allem
von Minderheiten genutzt werden. Nichtsdestotrotz ist
die Schaffung des neuen direktdemokratischen Elements
auf europäischer Ebene ein bedeutsamer Schritt.

Welche Praxis sich hinsichtlich der Europäischen
Bürgerinitiative in den kommenden Jahren einspielen
wird, hängt in hohem Maße von der konkreten Ausge-
staltung der Verordnung ab. Hier muss es aber eine sinn-
volle Balance zwischen Effektivität und Nutzerfreund-
lichkeit des neuen Instruments einerseits und Schutz vor
Missbrauch der Europäischen Bürgerinitiative anderer-
seits geben. Gerade dieses Gleichgewicht lassen die im
Antrag der Grünen gestellten Forderungen doch etwas
vermissen.

Ich möchte jedoch zuerst die Kernelemente des An-
trags benennen, die bei uns Liberalen ausdrücklich auf



gegebene Reden

Dr. Stefan Ruppert


(A) (C)



(D)(B)

Zustimmung stoßen. Zum einen ist die geforderte Min-
destanzahl der Mitgliedstaaten, aus denen die Unter-
stützungsbekundungen kommen müssen, mit sieben, was
einem Viertel entspricht, zu begrüßen. Auch das von der
EU-Kommission vorgeschlagene degressiv proportio-
nale System zur Bestimmung der Mindestanzahl der
Bürger pro Land, die für eine erfolgreiche Bürgerinitia-
tive notwendig sind, befürworten wir. Darüber hinaus
kann aus unserer Sicht die Forderung unterstützt wer-
den, dass eine Zulässigkeitsprüfung durch die Kommis-
sion bereits zum Zeitpunkt der Registrierung und nicht
erst, wie im ursprünglichen Entwurf vorgesehen, nach
der Sammlung von 300 000 Unterstützungen erfolgt.

Der Antrag der Grünen bleibt aber hinter dem An-
spruch zurück, das Instrument der Europäischen Bür-
gerinitiative gegenüber Missbrauch zu schützen. Zwar
wird im Antrag beispielsweise thematisiert, die Bürger-
initiative vor der Instrumentalisierung und Durchset-
zung rein nationaler Interessen zu bewahren; konkrete
Vorschläge dazu kommen bei ihnen jedoch nicht zur
Sprache. Vielmehr ist erkennbar, dass sie mit ihren sehr
freizügigen und weitreichenden Forderungen die Hür-
den zu niedrig ansetzen und deshalb die Effektivität der
Europäischen Bürgerinitiative gefährden. In diesem Zu-
sammenhang ist etwa der Zeitraum für die Sammlung
von Unterschriften zu nennen, der mit zwölf Monaten zu
lang ist. Auch das von ihnen geforderte einheitliche
Mindestalter von 16 Jahren zur Teilnahme an der Initia-
tive ist unverhältnismäßig. Obwohl sie die von uns favo-
risierte Kopplung der Teilnahme an die Altersgrenze für
die Wahlen zum Europäischen Parlament als „rück-
schrittlich“ bezeichnen, müssen sie dennoch anerken-
nen, dass sich eine klare Mehrheit im Anhörungsverfah-
ren für diese Regelung ausgesprochen hat.

Abschließend sei auf die in ihrem Antrag sehr weitrei-
chend skizzierten Widerspruchs- und Einklagungsrechte
verwiesen, die nicht unproblematisch sind. Im Grünbuch
der Kommission wie auch im ersten Verordnungsvor-
schlag wurden solche Forderungen gar nicht themati-
siert. Auch im Konsultationsverfahren spielten sie ledig-
lich am Rande eine Rolle. So kann ich abschließend nur
zu dem Urteil kommen, dass ihrem Antrag trotz einiger
positiv hervorzuhebender Punkte in der Summe die not-
wendige Balance fehlt, um eine solide Grundlage für
eine effektive und missbrauchssichere Ausgestaltung der
Europäischen Bürgerinitiative zu liefern.


Dr. Jörg-Diether Dehm-Desoi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1704329900

Die Lektüre des Antrags Ihrer Fraktion hat mich rat-

los zurückgelassen: Ich frage mich, ob wir von densel-
ben vertraglichen Grundlagen ausgehen. Gleich im
Feststellungsteil nehmen Sie positiv Bezug auf Art. 11
Abs. 4 des Lissabon-Vertrags, mit dem die Europäische
Bürgerinitiative, EBI, eingeführt und in ihren Grundzü-
gen umrissen wird. In dem Zusammenhang stellen Sie
fest – ich zitiere –: „Die EBI verkörpert ein neues Ele-
ment partizipatorischer Demokratie. Der Einfluss mög-
lichst vieler Bürgerinnen und Bürger auf die politische
Willensbildung wird die demokratische Arbeitsweise der
EU bereichern. Das neue Instrument bietet der EU eine
einzigartige Chance, näher an die Bürgerinnen und Bür-
Zu Protokoll
ger zu rücken …“ Ich frage mich, an welcher Stelle Sie
in Art. 11 Abs. 4 des Lissabon-Vertrags eine „einzigar-
tige Chance“ für mehr Bürgerbeteiligung und wo Sie
Ansatzpunkte für eine demokratischere EU entdecken
konnten. Mir ist dies nicht gelungen.

Der Wortlaut des entsprechenden Artikels liest sich
wie folgt – ich zitiere aus dem Vertragstext –: „Unions-
bürgerinnen und Unionsbürger … können die Initiative
ergreifen und die Europäische Kommission auffordern,
im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge zu
Themen unterbreiten, zu denen es nach Ansicht jener
Bürgerinnen und Bürger eines Rechtsakts der Union be-
darf, um die Verträge umzusetzen.“ Nach meiner Lesart
dieser Passage eröffnet sie keine Chancen für eine di-
rekte Beteiligung der EU-Bürgerinnen und -Bürger an
der politischen Gestaltung, ganz im Gegenteil. Im Text
wird sogar jede effektive Beteiligung ausgeschlossen.
Lassen Sie mich diese Einschätzung, mit der ich im Üb-
rigen keineswegs allein stehe, sondern die von meiner
Fraktion sowie von zahlreichen Bürgerrechtsorganisa-
tionen wie zum Beispiel von „Mehr Demokratie e. V.“
geteilt wird, begründen:

Erstens. Nach Vertragslage kann eine EBI die EU-
Kommission lediglich dazu auffordern, Vorschläge für
Rechtsakte – also „EU-Gesetzesvorschläge“ – zur Um-
setzung der EU-Verträge zu entwickeln. Damit ist ausge-
schlossen, dass Vertragsänderungen oder Ergänzungen
des Lissabon-Vertragswerkes eingefordert werden kön-
nen. Beispielsweise ließe sich die Aufnahme einer sozia-
len Fortschrittsklausel in den Lissabon-Vertrag, wie dies
unter anderem von meiner Fraktion, aber auch von Ge-
werkschaften und zivilgesellschaftlichen Initiativen ver-
langt wird, nicht über eine Bürgerinitiative verwirkli-
chen, da dies eine Primärrechtsänderung darstellt.
Damit bleibt die EBI ein zahnloses Instrument, das den
Bürgerinnen und Bürgern eine Beteiligung an den wich-
tigsten europapolitischen Fragen von vornherein ver-
weigert.

Zweitens. Dies zeigt sich auch daran, dass sich die
Initiatorinnen und Initiatoren von Bürgerinitiativen nur
an die EU-Kommission und nicht an das EU-Parlament
oder den Rat wenden können.

Drittens. Last, but not least enthält der Vertragstext
keinerlei Formulierungen, die die Kommission inhalt-
lich und politisch an die von einer Bürgerinitiative erho-
benen Forderungen binden. Es ist somit theoretisch
möglich, dass die Kommission ein Bürgerinnen- oder
Bürgeranliegen zwar aufgreift, daraus aber einen Vor-
schlag einer EU-Verordnung mit komplett anderer poli-
tischer Stoßrichtung entwickelt.

Der Lissabon-Vertrag hat die EU nicht demokrati-
scher gemacht, sondern er hat bestehende Demokratie-
defizite festgeschrieben. Das gilt, liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen, auch ganz konkret für die di-
rektdemokratischen Elemente. Art. 11 Abs. 4 EUV stutzt
die angeblich mit „Lissabon“ angestrebten erweiterten
Mitbestimmungsrechte auf den Status unverbindlicher
Massenpetitionen zurück. Eine undemokratische EU,
die eine wirkliche, direkte Beteiligung ihrer Mitbürge-
rinnen und Mitbürger am politischen Prozess verhin-



gegebene Reden

Dr. Diether Dehm


(A) (C)



(D)(B)

dert, schadet der europäischen Idee. Anstatt politische
und soziale Integration zu ermöglichen, fördert sie Des-
integration und den Rückfall in Nationalismen. Davor
hat die Linke immer gewarnt, und auch darum haben
wir gegen den Lissabon-Vertrag geklagt.

Die EBI in ihrem jetzigen Zuschnitt trägt dieser Ge-
fahr keine Rechnung. Dabei haben Erfahrungen aus ver-
schiedenen EU-Mitgliedstaaten gezeigt, dass die Erwar-
tungen der Bürgerinnen und Bürger schnell frustriert
werden, wenn einerseits die organisatorischen und for-
malen Voraussetzungen einer direkten Beteiligung zu
hoch angesetzt und andererseits die Bürgerinitiativen
keine politisch bindende Wirkung für die Regierenden
haben und somit ignoriert werden können, wenn das
Volk nicht nach der Pfeife der Mächtigen tanzen will.
Wer direktdemokratische Einflussmöglichkeiten großar-
tig ankündigt und zugleich die Bedingungen dafür so zu-
schneidet, dass wirkliche Mitsprache per definitionem
ausgeschlossen wird, riskiert wachsende Politikverdros-
senheit und die Abkehr der Bürgerinnen und Bürger von
jeder demokratischen Mitgestaltung – ob fahrlässig
oder bewusst, lasse ich hier einmal dahingestellt.

Der Vorschlag der EU-Kommission für eine Verord-
nung über die Europäische Bürgerinitiative vom 6. April
diesen Jahres – KOM (2010) 119 – an das Europäische
Parlament und an den Rat, auf die sich der Antrag von
Bündnis 90/Die Grünen bezieht, und in dem die genauen
Verfahren und Bedingungen für die EBI festgelegt wer-
den, riskiert genau dies. Er ist unter Demokratiege-
sichtspunkten in höchstem Maße ungenügend. Erwar-
tungsgemäß werden von der Kommission die oben
angesprochenen elementaren Mängel des Vertragstextes
mit keiner Silbe angesprochen; es werden keine vertrag-
lichen Änderungen oder Korrekturen angeregt, die eine
wirkliche Demokratisierung der EU gewährleisten wür-
den.

Darüber hinaus setzt die EU-Kommission die For-
malkriterien für Bürgerinitiativen unverhältnismäßig
hoch an: Dies betrifft beispielsweise die Mindestbedin-
gungen des Quorums, die neben der Festlegung der
Mindestzahl der Unterstützerinnen und Unterstützer auf
insgesamt 1 Millionen Unionsbürgerinnen und -bürger
auch vorschreibt, dass die Initiative eine festgelegte
Mindestzahl von Unterstützerinnen und Unterstützern in
mindestens 30 Prozent der Mitgliedstaaten findet. In An-
betracht der Tatsache, dass die EBI derzeit nur auffor-
dernden und keinen verbindlichen Charakter hat, ist
dies nur als Schikane zu bewerten, die sich besonders
gegen Graswurzelbewegungen mit begrenzten finanziel-
len und organisatorischen Mitteln richtet. Auch die Vor-
schriften zur Unterschriftensammlung, die neben dem
Namen, der Adresse und des Geburtsdatums der Unter-
stützerin oder des Unterstützers auch die Angabe zur
Ausweis- und Sozialversicherungsnummer verlangen,
erschweren die Sammlung von Unterstützungsbekun-
dungen erheblich und unnötig. Einige dieser und weite-
rer Hürden, die die Kommission der direkten Bürgerbe-
teiligung entgegenstellt, werden zwar im Antrag der
Grünen angesprochen; allerdings vermisse ich dort die
nötige Vehemenz.
Zu Protokoll
Bezeichnend ist, dass im Grünen-Antrag das fakti-
sche Vetorecht, das sich die EU-Kommission in ihrem
Vorschlag selbst einräumt, nicht als das bezeichnet wird,
was es ist: Es ist nach meiner Auffassung ein Skandal,
dass sich die Kommission in Art. 4 ihres Vorschlags
selbst das Recht nimmt, eine Bürgerinitiative durch
Nichtregistrierung bereits im Vorfeld zu verhindern. Die
Kriterien sind jedoch derart vage formuliert, dass sie
leicht politisch missbraucht werden können. Die Mög-
lichkeit, „unangemessene“ Initiativen zu verhindern, er-
öffnet der Kommission Tür und Tor für willkürliche Ent-
scheidungen gegen politisch unliebsame Initiativen.
Dass der Kommissionsvorschlag weder hier noch bei
der Zulässigkeitsprüfung, Art. 8, Einspruchsrechte der
Initiatorinnen und Initiatoren von Bürgerinitiativen vor-
sieht, spricht Bände.

Mit ihrem Vorschlag zur EBI wirft die EU-Kommis-
sion die bekannten Nebelkerzen. Es ist schade, dass Sie,
verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
sich erneut davon blenden lassen. Damit eine demokra-
tische EU und eine direkte Bürgerinnen- und Bürgerbe-
teiligung an europapolitischen Prozessen Realität wer-
den können, bedarf es weit mehr als der – zweifellos
richtigen, letztlich aber kosmetischen – Korrekturen am
Kommissionsvorschlag, die Sie hier und heute einfor-
dern. Wir von der Linken bleiben dabei: Der Lissabon-
Vertrag muss grundlegend korrigiert und die EU muss
durch effektive und bindende Instrumente der Bürgerbe-
teiligung wirklich demokratisiert werden.


Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1704330000

Wir alle wissen, Europa steht vor wegweisenden Ent-

scheidungen. Mit der Zustimmung zu den Griechenland-
Hilfen in der vergangenen Sitzungswoche und der Ein-
führung eines europäischen Rettungsschirms sind die
Hausaufgaben noch lange nicht gemacht. Wir müssen
die Probleme bei den Wurzeln packen und die Ursachen
für die Krise bekämpfen. Die Finanzmärkte müssen um-
fassend reguliert, die Regeln für die Euro-Zone grundle-
gend reformiert werden. Die europäische Gestaltung der
Wirtschaftspolitiken und die Nachhaltigkeit öffentlicher
Haushalte werden noch Monate Platz eins der europäi-
schen Agenda einnehmen. Bei der Tragweite, die diese
Entscheidungen haben und haben werden, sollte uns al-
len eines besonders am Herzen liegen: die Interessen
der Bürgerinnen und Bürger Europas. Sie müssen mitge-
nommen werden auf dem Weg zu mehr europäischer In-
tegration, ihre Stimmen müssen Gehör finden bei der
künftigen Ausgestaltung der EU. Die Bürgerinnen und
Bürger müssen mitentscheiden, in welchem Europa sie
leben möchten.

Mit dem Vertrag von Lissabon, genauer gesagt, mit
der darin verankerten Bürgerinitiative bekommen die
EU-Bürgerinnen und Bürger ein neues Instrument der
Partizipation. Künftig werden eine Million Bürgerinnen
und Bürger die Kommission auffordern können, im Rah-
men ihrer Befugnisse geeignete Rechtsetzungsvor-
schläge zur Umsetzung der EU-Verträge vorzulegen.
Wir Bündnisgrünen sehen in dieser neuen Bestimmung
die einmalige Chance, die EU noch näher an ihre Bürge-
rinnen und Bürger zu rücken. Wir haben uns bereits im



gegebene Reden





Manuel Sarrazin


(A) (C)



(D)(B)


Februar an der Konsultation beteiligt und der Kommis-
sion mitgeteilt, wie wir uns die Ausgestaltung der Bür-
gerinitiative konkret vorstellen. Aus den Koalitionsfrak-
tionen habe ich bisher zu dem Thema allerdings herzlich
wenig gehört.

Ich freue mich, wenn künftig vermehrt grenzüber-
schreitende Debatten zu europäischen Fragen stattfin-
den und der Aufbau einer europäischen Öffentlichkeit

extrem aufwendig, sondern für alle Beteiligten eine Zu-
mutung. Es bedarf niedriger Hürden und unkomplizier-
ter Regeln. Nur so werden sich auch Privatpersonen so-
wie kleinere und weniger gut vernetzte Organisationen
ermutigt fühlen, eigene Initiativen zu starten.

Gleichzeitig muss aber auch gewährleistet werden,
dass die Europäische Bürgerinitiative nicht als Deck-
mantel für nationale Interessen dient. Meine Fraktion
spürbar wird. Ich weiß, dass diese Ziele nicht einfach zu
erreichen sind. Umso wichtiger ist es, dass auch die
Bürgerinnen und Bürger das neue Instrument der Bür-
gerinitiative als Chance sehen und nicht bereits im Vor-
feld durch zu hohe Hürden und undurchsichtige Regeln
von ihrem Engagement abgehalten werden. Das Verfah-
ren für die Organisation und Durchführung einer Initia-
tive muss daher transparent, verbindlich, nutzerfreund-
lich und unbürokratisch ausgestaltet werden. Für uns
Grüne bedeutet das konkret:

Ein Anliegen von mindestens einer Million Bürgerin-
nen und Bürger darf nicht sang- und klanglos in einer
Schublade der Kommission verschwinden. Angemeldete
Initiativen müssen beispielsweise in ein Online-Register
aufgenommen und Ergebnisse von Zulässigkeitsprüfun-
gen öffentlich gemacht werden. Außerdem sollten Orga-
nisatorinnen und Organisatoren ein Widerspruchsrecht
gegen das Ergebnis der Zulässigkeitsprüfung und ein
Recht auf öffentliche Anhörung erhalten.

Ein hohes Maß an Transparenz muss gewährleistet
werden. Wir finden, dass alle Finanzierungsquellen ei-
ner geplanten Initiative offengelegt werden müssen.

Mit der Bürgerinitiative bekommt die EU auch end-
lich die Möglichkeit, junge Menschen verstärkt an euro-
päischen Prozessen und Debatten zu beteiligen. Gerade
junge Menschen müssen ermutigt werden, sich aktiv am
demokratischen Leben zu beteiligen und ihre Anliegen
über nationale Grenzen hinaus zu formulieren. Die von
der Kommission vorgeschlagene Kopplung des Mindest-
beteiligungsalters an die Altersgrenze für Wahlen zum
Europäischen Parlament wäre vor diesem Hintergrund
extrem rückwärtsgewandt. Wir Grüne fordern, dass sich
alle EU-Bürgerinnen und Bürger ab 16 Jahren beteili-
gen dürfen.

Außerdem ist es uns wichtig, dass eine freie Unter-
schriftensammlung möglich ist. Insbesondere muss ein
zentral bei der Kommission oder einer geeigneten drit-
ten Stelle angesiedeltes System zur Onlinemitzeichnung
geschaffen werden. Das von der Kommission vorge-
schlagene System, von den Organisatorinnen und Orga-
nisatoren für jede Bürgerinitiative ein eigenes Online-
Sammelsystem einrichten zu lassen, wäre nicht nur
spricht sich dafür aus, dass die Unterschriften aus min-
destens einem Viertel der Mitgliedstaaten kommen müs-
sen und das Quorum für die Mindestzahl an Unterstüt-
zungsbekundungen pro Mitgliedstaat je nach Größe des
Landes zwischen 0,05 Prozent und 0,2 Prozent der Be-
völkerung gestaffelt wird.

Last, not least ist es unerlässlich, innerhalb des ge-
samten Verfahrens den Schutz natürlicher Personen bei
der Verarbeitung personenbezogener Daten sicherzu-
stellen.

Eigentlich dachte ich, dass sich zumindest bei dem
Thema Bürgerbeteiligung alle einig sind. Doch da hatte
ich die Rechnung ohne die Bundesregierung gemacht.
Aus Kommissionskreisen erfuhr ich, dass die Bundesre-
gierung nun auch noch bei der Bürgerinitiative auf der
Bremse steht. In den Ratsverhandlungen drängt sie der-
zeit darauf, dass das Inkrafttreten der Umsetzungsver-
ordnung um Monate hinausgezögert wird. Angeblich
gibt es bei einigen Punkten noch Prüfungsbedarf. Ich
finde, die Bürgerinnen und Bürger haben ein Recht auf
angemessene Beteiligung, und das so schnell wie mög-
lich. Die Bundesregierung scheint immer noch nicht ver-
standen zu haben, dass es um das Vertrauen der Bürge-
rinnen und Bürger in die EU geht. Sie sollte endlich ihre
Verzögerungsspielchen sein lassen und sich im Rat für
zügige Verhandlungen einsetzen. Wir brauchen jetzt ein
Europa der Bürgerinnen und Bürger.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1704330100

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/1781 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlos-
sen.

Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 21. Mai 2010, 9 Uhr,
ein.

Die Sitzung ist geschlossen.