Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Nehmen Sie bitte Platz. Guten Morgen, liebe Kolle-ginnen und Kollegen! Die FDP-Fraktion hat mitgeteilt,dass der Kollege Patrick Döring aus dem Eisenbahn-infrastrukturbeirat ausscheidet.
Überraschenderweise sind dazu weder der Wunsch einerpersönlichen Erklärung noch Debattenbeiträge aus denanderen Fraktionen angemeldet.
Es gibt auch schon einen neuen Vorschlag.
Der Kollege Werner Simmling soll ihn in diesem Gre-mium ersetzen.
Neues stellvertretendes Mitglied soll der KollegeRedeTorsten Staffeldt werden. Sind Sie mit diesen Vorschlä-gen einverstanden? –
Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die KollegenSimmling und Staffeldt in den Beirat gewählt.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-geführten Punkte zu erweitern:ZP 1 Abgabe einer Regierungserklärung durch dieBundeskanzlerinzu den Maßnahmen zur Stabilisierung desEuroZP 2 Beratung des Antrags der AbgeordWagenknecht, Michael Schlecht,Höll, weiterer Abgeordneter undDIE LINKEzung, den 20. Mai 2010.00 UhrKreditausfallversicherungen und derenHandel vollständig verbieten– Drucksache 17/1733 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieZP 3 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion derSPD:Unterschiedliche verfassungsrechtliche Auf-fassungen in der Bundesregierung zur Verlän-gerung von Atomkraftwerkslaufzeiten
ZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten WilliBrase, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPDBerufliche Bildung als Garant zur Sicherungder Teilhabechancen junger Menschen unddes Fachkräftebedarfs von morgen stärken– Drucksache 17/1759 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
textAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsausschussZP 5 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahrenErgänzung zu TOP 33Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Vermeidung kurzfristiger Markt-engpässe bei flüssiger Biomasse– Drucksache 17/1750 –Überweisungsvorschlag:ss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
usschussss für Wirtschaft und Technologiess für Ernährung, Landwirtschaft undcherschutzneten SahraDr. Barbarader FraktionAusschuFinanzaAusschuAusschuVerbrauHaushaltsausschuss
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4218 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Präsident Dr. Norbert Lammert
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ZP 6 Aktuelle Stunde auf Verlangen der FraktionenDIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN:Auseinandersetzung in der Koalition zurHaushaltskonsolidierungZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
der Fraktion der SPDSexuellen Missbrauch von Kindern europa-weit effektiv bekämpfen – Opferschutz stär-ken– Drucksache 17/1746 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
InnenausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss für Kultur und MedienZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten NicoleMaisch, Undine Kurth , DorotheaSteiner, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENAuenschutzprogramm vorlegen– Drucksache 17/1760 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten MarkusKurth, Monika Lazar, Katja Dörner, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENBericht der Bundesregierung über die Lagebehinderter Menschen und die Entwicklungihrer Teilhabe umfassender und detailliertervorlegen– Drucksache 17/1762 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten MarkusKurth, Elisabeth Scharfenberg, Katja Dörner,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENHandlungsaufträge aus dem UN-Übereinkom-men über die Rechte von Menschen mit Behin-derungen– Drucksache 17/1761 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
SportausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschussZP 11 Beratung des Antrags der Abgeordneten KatrinKunert, Dr. Axel Troost, Dr. Gesine Lötzsch,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEWiederherstellung der Handlungsfähigkeitvon Städten, Gemeinden und Landkreisen– Drucksache 17/1744 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
HaushaltsausschussZP 12 Beratung des Antrags der Abgeordneten BrittaHaßelmann, Lisa Paus, Dr. Gerhard Schick, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENGewerbesteuer stabilisieren – nicht abschaffen– Drucksache 17/1764 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschussVon der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-weit erforderlich, abgewichen werden.Tagesordnungspunkt 33 k wird abgesetzt.Außerdem mache ich auf eine nachträgliche Aus-schussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste auf-merksam:Der in der 37. Sitzung des Deutschen Bundestagesüberwiesene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätz-
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieaufsichtsrechtlichen Anforderungen an dieVergütungssysteme von Instituten und Versi-cherungsunternehmen– Drucksachen 17/1291, 17/1457 –überwiesen:Finanzausschuss
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesSind Sie mit diesen Vereinbarungen einverstanden? –Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist das so beschlos-sen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 4 auf:Eidesleistung des WehrbeauftragtenDer Deutsche Bundestag hat in seiner 34. Sitzung am25. März 2010 Herrn Hellmut Königshaus zum Wehrbe-
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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auftragten gewählt. Gemäß § 14 Abs. 4 des Gesetzesüber den Wehrbeauftragten des Deutschen Bundestagesleistet der Wehrbeauftragte vor dem Bundestag den inArt. 56 des Grundgesetzes vorgesehenen Eid. HerrWehrbeauftragter, ich bitte Sie, zur Eidesleistung zu mirzu kommen.
Ich darf Sie bitten, nun den Eid zu sprechen.Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deut-schen Bundestages:Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle desdeutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Scha-den von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetzedes Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten ge-wissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermannüben werde. So wahr mir Gott helfe.
Herr Wehrbeauftragter, Sie haben damit den von der
Verfassung vorgesehenen Eid geleistet. Ich gratuliere Ih-
nen herzlich zur Übernahme dieses wichtigen Amtes,
und ich freue mich auf eine vertrauensvolle Zusammen-
arbeit mit den Mitgliedern des Deutschen Bundestages
im Interesse unserer Soldaten. Alles Gute.
Hellmut Königshaus, Wehrbeauftragter des Deut-
schen Bundestages:
Ich danke Ihnen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe dieTagesordnungspunkte 5 a bis d sowie den Zusatzpunkt 4auf:5 a) Beratung des Antrags der Abgeordneten UweSchummer, Nadine Müller , AlbertRupprecht , weiterer Abgeordneter undder Fraktion der CDU/CSUsowie der Abgeordneten Heiner Kamp, PatrickMeinhardt, Dr. Martin Neumann , weite-rer Abgeordneter und der Fraktion der FDPQualitätsoffensive in der Berufsausbildung– Drucksache 17/1435 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss für TourismusHaushaltsausschussb) Unterrichtung durch die BundesregierungBerufsbildungsbericht 2010– Drucksache 17/1550 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für TourismusHaushaltsausschussc) Beratung des Antrags der Abgeordneten WilliBrase, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPDVerordnungsermächtigung in § 43 Absatz 2des Berufsbildungsgesetzes entfristen– Drucksache 17/1745 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsausschussd) Beratung des Antrags der Abgeordneten AgnesAlpers, Dr. Petra Sitte, Nicole Gohlke, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKEKonsequenzen aus dem Berufsbildungsberichtziehen – Ehrliche Ausbildungsstatistik vorle-gen, gute Ausbildung für alle ermöglichen– Drucksache 17/1734 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für TourismusHaushaltsausschussZP 4 Beratung des Antrags der Abgeordneten WilliBrase, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPDBerufliche Bildung als Garant zur Sicherungder Teilhabechancen junger Menschen unddes Fachkräftebedarfs von morgen stärken– Drucksache 17/1759 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann können wir so verfah-ren.
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-nächst der Bundesministerin für Bildung und Wissen-schaft, Frau Dr. Annette Schavan.
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-dung und Forschung:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Arbeitslosigkeit in jungenJahren befördert Langzeitarbeitslosigkeit. Arbeitslosig-keit in jungen Jahren führt zu deutlich geringeren Ein-kommenschancen. – Das ist das Ergebnis einer kürzlichveröffentlichten Studie der OECD.Dieselbe Studie hat belegt, dass im internationalenVergleich junge Menschen in Deutschland die bestenBerufschancen haben oder – präziser und in Zahlen ge-sagt –: Das Risiko – zumal während einer Wirtschafts-krise –, im Alter von 15 bis 24 Jahren arbeitslos zu wer-den, ist nirgendwo so gering wie in unserem Land.
Als Grund für diese positive Entwicklung hat dieOECD eindeutig das duale Ausbildungssystem genannt.Während zwischen Ende 2007 und Ende 2009 die Jugend-arbeitslosigkeit im OECD-Durchschnitt um 6 Prozent auffast 19 Prozent angestiegen ist, ist sie in Deutschlanddeutlich gesunken. Deshalb sage ich: Wenn es um dieEuropäische Union und um den internationalen Bil-dungsdialog geht, haben wir allen Grund, selbstbewusstmit dem Flaggschiff unseres Bildungssystems aufzutre-ten, und das ist die berufliche Bildung.
Mehr als 60 Prozent eines Jahrgangs beginnen inDeutschland eine Ausbildung. Sie tun dies in einem vonrund 350 Ausbildungsberufen. Gerade in den letztenJahren haben wir einen großen Modernisierungsprozessbei den Ausbildungsberufen erlebt. Es werden neue Aus-bildungsberufe geschaffen. Ich glaube, es gibt keinen an-deren Bereich, in dem so beweglich, so dynamisch aufEntwicklungen in der Arbeitswelt, auf technologischeEntwicklungen reagiert wird. Wir sind besonders flexi-bel bei der Ausbildung von Fachkräften. Deshalb ist dieberufliche Bildung eine der tragenden Säulen der ökono-mischen Stärke unseres Landes.
Welche Merkmale der Situation werden im Berufsbil-dungsbericht dargelegt? Wir stellen fest, dass es beimAbschluss der Ausbildungsverträge ein Minus von8,2 Prozent und zugleich einen deutlichen Rückgang derZahl der Bewerber gibt. Diese beiden Feststellungenwerden uns auch in den nächsten Jahren begleiten. Dasherausstechendste Merkmal der Situation ist, dass dieZahl ausbildungsinteressierter Jugendlicher demografie-bedingt deutlich gesunken ist. Ich nenne eine einzigeZahl, die die Dramatik der nächsten Jahre deutlichmacht: Im Jahr 2020 werden in Deutschland 3,1 Millio-nen unter 25-Jährige weniger leben als heute; das ist einRückgang um 15 Prozent. Das heißt, die Zahl der An-wärter auf Ausbildung geht zurück. Das heißt aber auch,unsere Unternehmen werden schon in wenigen Jahrenhänderingend Fachkräfte suchen. Deshalb ist es so wich-tig, dass wir jedem Jugendlichen die Chance zu einerqualifizierten Ausbildung, zu einem Abschluss geben,um für den Arbeitsmarkt, für eine berufliche Existenzzur Verfügung zu stehen.
Was also jetzt zur Entlastung führt – es führt auch zueiner deutlich besseren Bewertung der Situation –, kannschon in wenigen Jahren zu einem ernsthaften Nach-wuchsproblem werden. Deshalb ist ein Schwerpunktder Berufsbildungspolitik dieser Bundesregierung dieNeugestaltung des Übergangssystems zwischen Schuleund Ausbildung. Immer noch haben wir viele jungeLeute, die Probleme haben, von der Schule in eine Aus-bildung zu kommen. Wir alle kennen die vielen Initiati-ven vor Ort. Das Bundesarbeitsministerium, das Bundes-bildungsministerium, die Länder und die Kammern, siealle führen Initiativen durch.Zu den wichtigen Aufgaben gehört, dieses Über-gangssystem jetzt besser und konzentrierter zu gestalten.Deshalb haben wir als eine der ersten Maßnahmen be-schlossen, dass künftig Bildungslotsen junge Leute be-gleiten, die sich schwer tun, einen Schulabschluss zumachen. Wir dürfen nicht warten, bis sie keinen Schul-abschluss machen und dann in Warteschleifen geraten.Wir müssen dafür sorgen, dass wir sie frühzeitig errei-chen, dass wir ihnen deutlich machen, wo ihre Stärkensind, was notwendig ist und welche Möglichkeiten in derSchule an individueller Förderung bestehen, damit wirdie weitere Absenkung der Zahl derer ohne Schulab-schluss befördern. Wir müssen in vier, fünf Jahren errei-chen, dass jeder Jugendliche in Deutschland einen Ab-schluss macht und in Ausbildung geht.
Am Ende des Ausbildungsjahres 2009 waren9 603 Bewerberinnen und Bewerber unversorgt. Gleich-zeitig gab es 17 225 unbesetzte Ausbildungsplätze. Auchdiese Entwicklung wird uns in den nächsten Jahren be-schäftigen.Die zweite wichtige Herausforderung neben der Neu-gestaltung des Übergangssystems sind die Altbewerber,Jugendliche, die in den letzten Jahren nicht in Ausbil-dung gekommen sind. Im September 2009 zählten etwa243 000 der insgesamt etwa 533 000 gemeldeten Bewer-ber zu dieser Gruppe. Das heißt, nahezu die Hälfte derer,die sich um einen Ausbildungsplatz bewerben, stammtaus früheren Jahrgängen. Der Anteil ist auf 45 Prozentgesunken; wir haben etwas erreicht. Klar ist: In diesergroßen Gruppe derer, die noch nicht versorgt sind, sindeine Menge junger Leute, die wir in den nächsten Jahren– auch aufgrund ihrer Qualifikation – gut in Ausbildungbringen können.
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Bundesministerin Dr. Annette Schavan
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Das dritte wichtige Thema sind die Jugendlichen mitMigrationshintergrund. Wir wissen, dass der Anteilderer, die keinen Schulabschluss machen, in dieserGruppe besonders groß ist. Deshalb wird das von unsneu gestaltete Übergangssystem – Bildungslotsen, bes-sere Orientierung und Praktika – auch für diese Gruppeeine wichtige Rolle spielen.Wir haben den Ausbildungspakt weiterentwickelt.Der Schwerpunkt des Ausbildungspaktes, der die Ver-besserung des Systems der beruflichen Bildung zum Zielhat, wird in den nächsten Jahren auf einer weiteren Dy-namisierung der dualen Ausbildung liegen. Dabei wer-den wir neue Berufsbilder und die Modernisierung imBlick haben. Ich bin davon überzeugt, dass das, was wirim Ausbildungspakt für die nächsten Jahre vereinbarthaben, uns eine gute Chance gibt, die gesetzten Ziele zuerreichen. Ich sage aber auch: Der Erfolg wird ganz we-sentlich davon abhängen, dass wir dem, was die Lern-kultur in der beruflichen Bildung ausmacht, in allen Pha-sen des Bildungssystems einen höheren Stellenwertbeimessen und wir aufhören, in Deutschland den Ein-druck zu erwecken, als sei allein die akademische Bil-dung Ausweis der Leistungsfähigkeit unseres Bildungs-systems. Das entspricht nicht dem Selbstbewusstseinderer, die die berufliche Bildung ermöglichen. Das ent-spricht nicht dem Selbstbewusstsein, mit dem Ausbil-dungsbetriebe in Deutschland agieren. Deshalb sage icherstens ein herzliches Dankeschön an unsere Ausbil-dungsbetriebe, und ich sage zweitens: Lassen Sie unsselbstbewusst über berufliche Bildung sprechen. Sie istnicht weniger wert als akademische Bildung. Sie ist dasRückgrat der ökonomischen Stärke unseres Landes.
Fazit des Berufsbildungsberichtes 2009:Erstens. Wir sind ein gutes Stück weitergekommen,was den erfolgreichen Einstieg Jugendlicher in die be-rufliche Ausbildung angeht.Zweitens. Es gibt keinen Grund, sich zurückzulehnen.Nun wird uns die Frage beschäftigen, wie unsere Unter-nehmen zu guten Fachkräften kommen.Drittens. Wir setzen mit dem Ausbildungspakt undden Initiativen dieser Bundesregierung in enger Zusam-menarbeit mit den Ländern auf eine weitere Dynamisie-rung und Modernisierung der Ausbildungsberufe, undwir setzen auf eine stärkere Internationalisierung. Ju-gendliche, die eine Ausbildung machen, sollen genausowie Studierende die Möglichkeit haben, einen Teil ihrerAusbildung im Ausland zu absolvieren. Die Internatio-nalisierung der dualen Ausbildung ist wichtig, um mitSelbstbewusstsein auf europäischer Ebene auftreten zukönnen.All das zusammengenommen ergibt ein wichtigesMaßnahmenbündel, um zu verhindern, dass der Fach-kräftemangel in den nächsten Jahren zur größten Wachs-tumsbremse in Deutschland wird.Vielen Dank.
Der Kollege Willi Brase ist der nächste Redner für die
SPD-Fraktion.
Guten Morgen, Herr Präsident! Guten Morgen, liebeKolleginnen und Kollegen! Frau Ministerin Schavan,Sie haben ein Bild gezeichnet, das der Darstellung imBerufsbildungsbericht entspricht. Ich bin aber sehr da-für, das eine oder andere zu schärfen.Wenn es richtig ist, dass wir für die Zukunft alle brau-chen und alle mitnehmen wollen, dann müssen wir end-lich an den Dschungel mit fast 500 000 Jugendlichen inÜbergangsmaßnahmen herangehen.
Sie selbst haben in der Antwort auf eine Anfrage mitge-teilt, dass wir allein auf Bundes- und Landesebene fast200 Programme haben, die sich nur mit dem Übergangvon der Schule in den Beruf befassen. Dabei sind dieMaßnahmen vor Ort noch nicht einmal eingerechnet.Wenn wir es nicht schaffen, Licht in diesen Dschungelzu bringen, diesen Knoten durchzuschneiden, die Viel-zahl der Projekte auf wenige, vernünftige Maßnahmenzu begrenzen, werden wir das Ziel, alle mitzunehmen,nicht erreichen. Das ist Ihre Aufgabe. Das verlangen wirvon Ihnen.
Wir haben nach wie vor einen hohen Anteil Altbe-werber. Sie haben das angesprochen; das ist richtig. Wirwissen auch, dass diese Altbewerber unterschiedlichstrukturiert sind, unterschiedliche Voraussetzungen mit-bringen. Aber es führt kein Weg daran vorbei, etwashiergegen zu tun. Wir haben seinerzeit, in der GroßenKoalition, das eine oder andere dazu auf den Weg ge-bracht. Ich glaube, dass die Berufseinstiegsbegleitungund der Ausbildungsbonus etwas Positives geschaffenhaben
und ein Stück weit mit dazu beigetragen haben, dassdiese jungen Leute eine Zukunftsperspektive haben.
Wenn man das alles zusammenrechnet, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, dann muss man schon sagen: Esfehlt doch an Ausbildungsplätzen. Ehrlichkeit in derStatistik ist nichts Verkehrtes. Versuche, die statistischeErfassung zu verbessern, gibt es, und das müssen wirauch vorantreiben. Nichts ist schlimmer, als wenn wiruns etwas vormachen und sagen: „Wir haben auf einmalmehr Ausbildungsplätze als Bewerber“, wenn gleichzei-tig noch Hunderttausende Altbewerber unterzubringensind. Wir sagen als SPD: Eigentlich brauchen wir zusätz-liche Ausbildungsplätze für 210 000 junge Leute in un-serem schönen Lande.
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Wir sind der Auffassung, dass die Innovationsfähig-keit der Wirtschaft eine wichtige Rolle spielt. Dies giltbesonders mit Blick auf die duale Ausbildung. Wirmüssen das duale Ausbildungssystem stärken, wenn wires schaffen wollen, alle mitzunehmen.
Es muss nachdenklich stimmen, wenn in den letzten30 Jahren, wie man im Berufsbildungsbericht nachlesenkann, die Quote der Einmündungen in eine duale Ausbil-dung von knapp 80 Prozent auf knapp 60 Prozent gesun-ken ist. Wenn man dann auch noch berücksichtigt, dassüber 10 Prozent derjenigen, die derzeit eine duale Aus-bildung machen, Abiturienten sind, sieht man, dass wirhier ein Stück weit nachsteuern müssen. Wir müssen unsüberlegen, wie wir dieses System dahingehend fitma-chen, dass auch junge Leute mit Realschulabschlussoder Hauptschulabschluss weiterhin gute oder besteChancen haben. Nur dann tun wir das Notwendige undMögliche.Zu den Übergangsmaßnahmen habe ich etwas gesagt.Wir wollen mit unserem Antrag, der Ihnen vorliegt, dieModernisierung der Berufe vorantreiben. Da ist in denletzten vier, fünf Jahren viel gemacht worden. Wir müs-sen immer wieder schauen: Wo sind neue Entwick-lungschancen? Ganz wichtig ist für uns, dass die Erar-beitung und Neuordnung der Ausbildungsberufe imdualen System vorrangig im Konsens der Sozialpartnerpassiert. Da ist noch ein bisschen nachzuarbeiten. Fürden Fall, dass sich die Sozialpartner nicht einigen kön-nen, sollten wir – Uwe Schummer, wir haben mehrfachdarüber gesprochen – eine Schlichtungskommission ein-richten. Ich glaube, das ist notwendig und richtig.Es gibt einen weiteren Bereich, der uns sehr großeSorge macht: Das ist der Bereich „Berufsvorbereitungund Berufsorientierung“. Zur Berufsvorbereitung habeich eben etwas gesagt. Wir haben den Eindruck, dasssich bei der Hilfe bei der Berufsorientierung – rechtzei-tig, frühzeitig – mittlerweile eine Vielfältigkeit etabliert,die uns Anlass gibt zu der Sorge, dass ein ähnlicherDschungel entsteht wie bei den Maßnahmen: Es gibt zigInitiativen vor Ort, teilweise planlos nebeneinander her.Jeder, der eine Idee hat, kommt damit an. Das geht vonden Kindergärten bis zu den Schulen: Niemand hat mehreinen Überblick. Wir müssen aufpassen, dass uns dortnicht das Gleiche passiert wie bei dem Maßnahmen-dschungel im Übergangssystem. Man muss auf dieKommunen und auf die Länder zugehen und darauf be-stehen, dass hier strukturiert wird. Nicht jeder, der einetolle Idee hat, muss die Welt damit beglücken.
Es bleibt festzuhalten: Wir brauchen nach wie vorausreichend viele Ausbildungsplätze in der Wirt-schaft. Der Anteil der Unternehmen, die ausbildungsfä-hig sind, aber nicht ausbilden, ist immer noch hoch. Vondieser Regierung haben wir bisher wenig gesehen, wieman mehr Unternehmen dazu bewegen will, auszubil-den. Das ist, wenn ich das richtig mitbekommen habe,auch beim Ausbildungspakt kein Thema. Aber es machtdoch Sinn, Unternehmen, die ausbildungsfähig sind, zuermuntern – sei es mit Prämien, sei es durch Kampagnen –,auszubilden. Wir müssen deutlich machen, dass die Un-ternehmen eine große Verantwortung haben.Wir haben überlegt, ob es Sinn macht, analog zu dem,was wir im Bauhauptgewerbe haben, einen Branchen-fonds aufzulegen – nicht nur um quantitativ voranzu-kommen, sondern auch um ein Instrument zu haben, daslangfristig dazu beiträgt, die Facharbeitsmärkte zu stabi-lisieren –
und im Zuge von Aus- und Weiterbildung entsprechendeUnterstützungsmaßnahmen auf den Weg zu bringen.Deshalb werden wir dieses Instrument in absehbarer Zeitnoch einmal betrachten und hier im Parlament zumThema machen.Wir brauchen die öffentliche Hand. Wer sich dieZahlen anschaut, kann das nicht leugnen. Wir sind dafür,dass die 40 000 Plätze aus dem BA-Programm weiterzur Verfügung gestellt werden, immer vor dem Hinter-grund einer ehrlichen Bilanzierung, wie die Lage tat-sächlich aussieht.Wir sind auch dafür, dass das auslaufende Ausbil-dungsprogramm Ost in ein Programm für strukturschwa-che Regionen umgewandelt wird. Dann geht es nämlichnicht mehr nach der Himmelsrichtung, sondern danach,wo Bedarfe sind. Wir sind auch dafür, dass wir das In-strument der vollzeitschulischen Ausbildung weiterhinnutzen, mit der Möglichkeit, nach § 43 Abs. 2 Berufsbil-dungsgesetz – deshalb die Entfristung – gegebenenfallsauch eine Kammerabschlussprüfung abzulegen.Wir schlagen das deshalb vor, weil wir nicht so gut-gläubig sind, zu glauben, dass man dieses Problem nurmit Appellen allein lösen kann, sondern wenn es das Zielist, allen jungen Menschen eine vernünftige Perspektivezu geben und sie nicht in dem Maßnahmendschungel ab-driften zu lassen, dann müssen wir mit der öffentlichenHand teilweise auch gegensteuern. Wenn man auf der ei-nen Seite Milliarden Euro für Rettungspakete für denBanken- und Finanzsektor zur Verfügung stellt, dannkann man keinem jungen Menschen mehr erklären, wa-rum nicht ein bisschen Geld auch für seine Zukunft aufdem Tisch liegt. Hier müssen wir ran.
Ich komme zum Schluss. Die BildungsrepublikDeutschland ist ausgerufen worden. Wunderbar! Da-rüber wird auch an anderer Stelle noch heftig zu disku-tieren sein.Die Bildungsrepublik Deutschland beinhaltet abernicht nur die Allgemeinbildung und die Hochschulbil-dung, sondern auch die duale Ausbildung. Frau Ministe-rin, ich unterstütze ausdrücklich, was Sie gesagt haben:die duale Ausbildung sei ein Flaggschiff. Wir müssendafür sorgen, dass dieses Flaggschiff immer auf Kursbleibt. Die duale Berufsausbildung gehört zu unseremAusbildungssystem. Die Einmündungsquoten müssenbesser und höher werden. Dort müssen wir gemeinsamhandeln.
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Willi Brase
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Ich denke, es lohnt sich, sich dafür anzustrengen, undich freue mich auf die Beratungen im zuständigen Aus-schuss.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun der Kollege Heiner Kamp für die
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Wichtig für die Konkurrenz-und Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft im weltwei-ten Wettbewerb sind die bildungspolitischen Weichen-stellungen. Die Qualität unseres Ausbildungssystems istdas Zukunftsthema.Was das bedeutet, lässt sich bei der Betrachtung derBildungspolitik auf Länderebene schnell erkennen:Wir investieren in Schüler und nicht in Schulexperi-mente. Wir fördern Leistung und lehnen Schülerlotterienwie im rot-roten Berlin ab.
Wir achten den Elternwillen und stärken Grundschulenund Gymnasien. Den Schulaufstand in Hamburg hätte esmit einer liberalen Senatorin nicht gegeben.
Wir setzen auf das bewährte duale System der betriebli-chen Bildung und nicht auf Ausbildungszwangsabgaben,wie von links stets gefordert.Die liberale Bildungspolitik ist frei von der Ideologie,mit welcher die rot-rot-grünen Genossen Kinder und Ju-gendliche zu Versuchskaninchen degradieren.
Wir wollen lieber in Bildung und Forschung investie-ren. Daher stecken wir bis 2013 zusätzliche 12 Milliar-den Euro in Bildung und Forschung –
das hat keine Regierung vor uns geschafft –, und das inKrisenzeiten.
Wir werden jedoch auch gewisse Anpassungen imSystem vornehmen. Im Bereich der Berufsbildung zeigtsich deutlich, dass wir umdenken müssen. Während wirin der Vergangenheit meist mehr Bewerber als verfüg-bare Ausbildungsstellen hatten, wird uns durch den vonder Bundesregierung vorgelegten Berufsbildungsbericht2010 gezeigt, dass sich die Schieflage auf dem Ausbil-dungsmarkt zunehmend umkehrt. Auszubildende wer-den bald händeringend gesucht.Trotz der Finanz- und Wirtschaftskrise ist die Lageauf dem Ausbildungsmarkt im Berichtszeitraum besserals erwartet. Schon zum zweiten Mal in Folge gab esmehr unbesetzte Ausbildungsstellen als unversorgte Be-werber. So ist die Zahl der unversorgten Bewerber imVergleich zum Vorjahreszeitraum um 33,8 Prozent zu-rückgegangen. In den neuen Bundesländern war derRückgang mit 38,1 Prozent deutlich stärker als in den al-ten Bundesländern mit 32,0 Prozent.In Zukunft werden wir daher in zunehmendem Maßemit einem Mangel an Bewerbern um Ausbildungsplätzekonfrontiert sein. Dieser Trend ist ein wesentliches Er-gebnis des vorliegenden Berufsbildungsberichts 2010und wird sich aufgrund der demografischen Entwicklungund der zunehmenden Hochschulübergangsquote weiterverstetigen.Dass der Ausbildungspakt ein Erfolg auf ganzer Li-nie ist, hebe ich an dieser Stelle ausdrücklich hervor.
Die FDP wird sich für eine Fortsetzung und qualitativeAufwertung des Paktes einsetzen. Ich freue mich sehr,dass hierbei ein Schwerpunkt gerade auch auf Migrantengelegt werden soll.
Den Betrieben möchte ich für ihr großartiges Engage-ment an dieser Stelle recht herzlich danken. So kann esweitergehen.Der künftige Bewerbermangel hat Auswirkungen aufdie Aufgabenstellung der Politik. Unsere wichtigsteAufgabe ist es nun, einem bereits heute von der Wirt-schaft beklagten Fachkräftemangel entgegenzuwirken.Als deutschem Erfolgsmodell kommt der beruflichenDualausbildung hierbei eine herausragende Bedeutungzu. Durch ihre Verankerung in der beruflichen Praxis ge-währleistet sie berufliche Qualifikation auf höchstemNiveau. Zudem bietet die duale Berufsausbildung imVergleich zu rein schulischen Ausbildungsgängen über-durchschnittlich hohe Übergangsquoten in reguläre Be-schäftigung.Die Herausforderung der Zukunft wird sein, das der-zeit noch brachliegende Potenzial der Schulabbrecherund jungen Menschen mit mangelnder Ausbildungsreifezu heben. Wir müssen sie dazu befähigen, in das dualeSystem der beruflichen Bildung einzusteigen.
Viele Unternehmen kümmern sich schon. Sie bietenNachhilfe- und Förderunterricht für ihre Auszubildendenan. Dieses in der Tat lobenswerte Engagement muss unsaber wachrütteln: Wir dürfen Unternehmen nicht auchnoch mit der Aufgabe des Reparaturbetriebs einer man-gelhaften Schulpolitik überfrachten. Wir müssen unserallgemeinschulisches System stärken und zukunftsfest
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4224 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Heiner Kamp
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machen. Dazu gehört eine bessere individuelle Förde-rung der Schülerinnen und Schüler.
Unsere allgemeinschulische Bildung gilt es zu ver-bessern. Jeder Schulabgänger muss richtig lesen, schrei-ben und rechnen können.
Aber auch die Verantwortung des Elternhauses bei derErziehung des Nachwuchses darf nicht unter den Tischfallen.
Für die meisten Ausbildungsbetriebe sind Unzuverläs-sigkeit, mangelnde Disziplin und Unpünktlichkeit eingrößeres Problem als mangelnde Algebrakenntnisse.
Das muss uns doch aufhorchen lassen.
Wir müssen bei der Bildung früher ansetzen. DerBund wird hier seiner Verantwortung gerecht. UnsereRegierung wird mit den Schulfördervereinen ein Bil-dungsbündnis schmieden, damit Schülerinnen und Schü-ler gezielt unterstützt und gefördert werden können.Dementsprechend werden die Grundschulen ein Budgeterhalten, welches sie je nach Bedarf einsetzen können.Weil die Bedingungen innerhalb der Republik und vonSchule zu Schule sehr unterschiedlich sind, brauchen wirsolche flexiblen Modelle der individuellen Förderung.
Es gilt, die Berufsorientierung für junge Menschen anden Schulen weiter zu verbessern. Hier setzen wir alsKoalition mit den Bildungsketten neue Maßstäbe. Dazugehören unter anderem eine Potenzialanalyse abKlasse 7 und eine verbesserte Berufsorientierung abKlasse 8. Junge Menschen sollen sich frühzeitig überihre Begabungen klar werden; denn nur wer einen Berufergreift, für den er begabt ist, wird gut durch die Ausbil-dung kommen und den Beruf mit Freude und Begeiste-rung ein Leben lang ausüben können. Eine Schülerin, dieschwach in Mathe ist, wird vielleicht keine gute Bank-kauffrau, aber womöglich eine ausgezeichnete Schreine-rin.
Damit gehen wir einen anderen Weg als SPD, Grüneund Linke. Wir lehnen ein Einheitsschulmodell entschie-den ab, mit welchem Schülerinnen und Schüler in eineForm gepresst werden sollen;
denn nichts ist ungerechter als die gleiche BehandlungUngleicher.
Vielmehr gilt es, jede Schülerin und jeden Schüler unterBerücksichtigung der individuellen Fähigkeiten, Bega-bungen und Probleme dort abzuholen, wo er oder siesteht, und mit größter Anstrengung zu fördern und zufordern.
Die Bildungsstatistik gibt uns dabei recht. Oder habenSie schon einmal etwas Positives über die Schulpolitik inBremen, Berlin oder Hamburg gehört?
Kein Wunder!Allen jungen Menschen Chancen auf eine Beschäfti-gung zu eröffnen, ist unser erklärtes Ziel. Dies wollenwir durch die bessere Verzahnung und Intensivierung derbestehenden Maßnahmen sowie durch neue Initiativenwie die von mir angesprochenen lokalen Bildungsbünd-nisse erreichen.
Die jungen Menschen sollen wissen: Ihr werdet ge-braucht. Strengt euch an, und Teilhabe an Arbeitsmarktund Gesellschaft steht euch offen!
Herr Kollege Kamp, wollen Sie ganz unmittelbar vor
Ende Ihrer Redezeit noch eine Zwischenfrage des Kolle-
gen Lenkert beantworten?
Ich möchte jetzt zum Ende kommen. – Ihr könnt die
Gewinner des demografischen Wandels sein; denn in
manchen Regionen herrscht bereits heute Bewerberman-
gel; dieser wird sich weiter verstärken. Den Jugendli-
chen rufe ich zu: Wir brauchen euch. Legt euch mit uns
ins Zeug!
Der Kollege Lenkert erhält jetzt Gelegenheit zu einer
Kurzintervention.
Herr Kollege, ich weise Sie darauf hin, dass im Wahl-programm der FDP das gemeinsame Lernen bis zur6. Klasse gefordert wurde,
und möchte Ihre Aussage dazu hören, wieso Sie sichdann, wenn dies in Berlin umgesetzt wird, dagegen ver-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4225
Ralph Lenkert
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wahren. Oder ist Ihnen Ihr Wahlprogramm nichts mehrwert?
Unser Programm war schon immer etwas wert, mehr
wert als manch andere Programme.
Nach der Sitzung können wir uns gern darüber unterhal-
ten, wo Sie diese Forderung gefunden haben. Mir ist sie
leider nicht bekannt.
Mindestens was die Schnelligkeit angeht, könnte man
an dieser Form von Kurzintervention Freude entwickeln.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Agnes Alpers für
die Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir ha-ben es schon gehört: Jedem ausbildungswilligen undausbildungsfähigen Jugendlichen konnte auch im Kri-senjahr 2009 ein Angebot auf Ausbildung gemacht wer-den. Dies behauptet der Hauptgeschäftsführer des Deut-schen Industrie- und Handelskammertages, MartinWansleben. Auch im Berufsbildungsbericht 2010 wirdfestgestellt, dass es „erneut mehr unbesetzte Ausbil-dungsplätze als unversorgte Bewerber/Bewerberinnen inder Statistik der Bundesagentur für Arbeit“ gebe. Welchein toller Erfolg wäre es gewesen, wenn wirklich jederJugendliche einen Ausbildungsplatz erhalten hätte!
Wir wissen natürlich alle, dass es nicht so ist. Aberwie kommt man nun zu solchen Aussagen? Im letztenJahr gab es mehr als 83 000 Jugendliche, die über dieBundesagentur keinen Ausbildungsplatz erhalten haben.Mehr als 73 000 haben erst einmal mit einer Alternativewie einer Berufsvorbereitungsmaßnahme begonnen. Inder Statistik erscheinen sie deshalb an einer anderenStelle, weil sie ja im Übergang sind. Insgesamt führt dieBundesagentur diese Jugendlichen aber immer noch alsausbildungssuchend. Um diese Tatsache zu vertuschen,forderten die Arbeitgeber in ihrer Stellungnahme zumEntwurf des Berufsbildungsberichtes 2010, dass aufdiese „widersprüchlichen Angaben“ im Bericht verzich-tet werden solle. Meine Damen und Herren, was ist denndies für eine Vorgehensweise und was ist das für einUmgang mit den Jugendlichen, die zum Teil schon seitJahren eine Ausbildungsstelle suchen? Menschenschick-sale ausradieren, um zu glänzen – das ist einfach nur einSkandal.
Die Statistik der Bundesagentur für Arbeit gehtaber noch weiter: Da gibt es auch noch 96 000 jungeMenschen, die nicht mehr bei der Bundesagentur gemel-det sind. Für die BA ist dann der Vermittlungsauftrag ab-geschlossen. Ob nun in Ausbildung, untergebracht in ei-ner Übergangsmaßnahme oder einfach nicht mehrmitgezählt, die Bilanz all dieser Vertuschungen und Ver-schiebungen lautet: Es gibt heute in Deutschland1,5 Millionen Auszubildende, gleichzeitig aber auch1,5 Millionen junge Menschen zwischen 20 und 29 Jah-ren ohne Ausbildung. An diesem Punkt sagen wir alsLinke ganz klar: Hören Sie endlich mit der Schiebereivon Zahlen auf und legen Sie eine Ausbildungsstatistikauf den Tisch, die alle Jugendlichen im Blick behält.
Als ehemalige Lehrerin in der Berufsausbildung mussich Ihnen sagen: Junge Menschen sind nicht unwilligund unfähig. Sie wollen einen Ausbildungsplatz; dennsie wollen sich in dieser Gesellschaft eine Perspektiveaufbauen. Die Unfähigkeit liegt eigentlich in der Politik:Fast die Hälfte aller Schulabgängerinnen und Schulab-gänger einschließlich der Altbewerberinnen und Altbe-werber landet im sogenannten Übergangssystem; daswaren im Jahre 2008 500 000 Jugendliche. Hier sollendie jungen Menschen ihre Kompetenzen so erweitern,dass sie ausbildungsreif werden. War das Übergangssys-tem einst eine Maßnahme für wenige, um sie in die Aus-bildung zu führen, ist es heute das große Auffangbeckenfür ganz viele junge Menschen. Jeder vierte Realschülerlandet im Übergangssystem. Jeder zweite Jugendlichemit oder ohne Hauptschulabschluss hat nach zwei Jahrenim Übergangssystem noch immer keinen Ausbildungs-platz. Ausgewiesene Bildungsexperten gehen seit Jahrendavon aus, dass das Übergangssystem eher die Aufgabehat, die Ausbildungsmarktbilanz zu stabilisieren. DieAusbildungsmisere besteht doch darin, dass wir nichtgenügend Ausbildungsplätze haben. Noch immerherrscht das Prinzip: Oben die Besten abschöpfen, unddie anderen können zusehen, wo sie bleiben.Eine meiner ehemaligen Schülerinnen verbrachteJahre damit, einen Ausbildungsplatz zu finden. Tanja istRollstuhlfahrerin und hat einen Realschulabschluss mit2,0. Die Bundesagentur für Arbeit forderte sie auf, voreiner Ausbildung erst einmal die Schulpflicht zu absol-vieren. Nach diesen zwei Jahren konnte sie an einer Be-rufsvorbereitungsmaßnahme im kaufmännischen Be-reich teilnehmen. Die Abschlussprüfung der Ausbildungnach weiteren drei Jahren bestand sie als eine der Bes-ten. Zum Abschied sagte sie mir: Ich hätte in dieser Zeitschon zwei Ausbildungen absolvieren können. Wie irr-sinnig ist denn das System, und wie lange werde ich jetztwohl noch brauchen, bis ich als Rollstuhlfahrerin Arbeitfinde?
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Agnes Alpers
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Diese junge Frau ist einer der vielen Gründe, warumwir Linke sagen: Wir müssen das Recht auf einen Aus-bildungsplatz garantieren,
egal ob die Menschen Ali oder Almut heißen, egal ob siein einem Rolli sitzen oder ihre Familie unter der Armuts-grenze lebt. Wir alle wissen doch, dass die Betriebe dieZahl der Ausbildungsplätze nicht freiwillig erhöhen wer-den. Wir fordern die Bundesregierung auf: VerpflichtenSie endlich die Betriebe zu einer Ausbildungsumlage,damit allen Jugendlichen genügend Ausbildungsplätzezur Verfügung stehen!
Meine Damen und Herren von der CDU/CSU und derFDP, in Ihrem Antrag „Qualitätsoffensive in der Berufs-ausbildung“ wollen Sie nun wichtige Aufgaben zurUnterstützung aller Jugendlichen in Angriff nehmen.Kommunen, Land und Bund sollen sich an der Bildungs-partnerschaft beteiligen. Die Zuständigkeiten sollen ge-wahrt bleiben. Übersetzt heißt das doch ganz einfach:Sie wollen das Kooperationsverbot nicht aufheben.Also sind die Länder für die Finanzierung der Bildungalleine zuständig. In Ihrem Antrag legen Sie notwendigeHandlungsschritte fest, die Sie selber aber gar nichtumsetzen müssen. Denn: Senkung der Schulabbrecher-quote – Ländersache; Sprachförderung – Ländersache;Integration der Behinderten – Ländersache; Förderungbenachteiligter Kinder und Jugendlicher – Ländersache.Das ist doch ein Skandal! Sie tun so, als ob Sie zukunfts-weisend handelten, und dabei tun Sie nichts.
Im Rahmen der Berufsorientierung an Schulen aller-dings will der Bund – wir haben es heute schon gehört –50 Millionen Euro investieren. Bundesweit sollen imRahmen des Bildungslotsenprogramms 3 200 Berufsein-stiegsbegleiterinnen und -begleiter an den Schulen ein-gesetzt werden. 2 000 Bildungslotsen werden bezahlt.1 200 sollen ehrenamtlich arbeiten. Frau Bildungsminis-terin Schavan, ich frage Sie: Wie sollen denn alle moti-viert und qualifiziert arbeiten, wenn die einen gar keinGeld erhalten und wieder andere keine berufspädagogi-sche Ausbildung besitzen?
Halten wir zusammenfassend fest: die Ausbildungs-statistik – mangelhaft; das Übergangssystem – ein struk-turloser Dschungel; die Berufsorientierung – konzep-tionslose Häppchen für die Masse. Meine Damen undHerren, wann hören Sie endlich mit der Flickschustereiauf? Wann sorgen Sie für ein durchdachtes Konzept fürdie Berufsausbildung, das alle Akteure einbezieht? Re-den Sie nicht nur davon, wie immens wichtig es ist – ichzitiere aus Ihrem Antrag –, „jedem jungen Menschen miteiner bestmöglichen Bildung, Ausbildung und einembestmöglichen Studium eine Perspektive für das Lebenzu eröffnen“.Politik misst sich nicht an schönen Worten. HandelnSie daher endlich! Sie sind doch in der Regierung, umetwas zu verändern.Eines sage ich Ihnen noch ganz klar: Auch wenn derKoch aus Hessen heute scheinbar noch sein eigenesSüppchen kocht, so haben Sie der Bildung doch schonlange eine Zwangsdiät verordnet. Das ist nämlich daswahre Gesicht Ihrer Bildungspolitik: endloses Geredeüber Innovation, Fachkräftemangel und Bildungssparen,aber nicht in die Zukunft investieren und die Problemenicht anpacken. Sie tragen Ihre Politik auf dem Rückender Jugendlichen aus. Das, meine Damen und Herren,werden wir als Linke auf keinen Fall mitmachen.
Priska Hinz ist die nächste Rednerin für die FraktionBündnis 90/Die Grünen.Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! DerBerufsbildungsbericht 2010 ist ein Beleg dafür, dass dieZeit der jungen Menschen, die dringend eine Ausbildungbrauchen, verrinnt. Frau Schavan, Sie haben zu BeginnIhrer Rede erklärt, dass der OECD-Bericht deutlichmacht, dass wir eine geringe Jugendarbeitslosigkeit imeuropäischen Vergleich haben. Das ist sicher richtig;aber das darf den Blick darauf nicht verstellen, dass kon-stant 1,5 Millionen junge Menschen bis 29 Jahre ohneBerufsabschluss in der Arbeitswelt sind.
Das sind die, die am schnellsten herausgekegelt werden,das sind die ohne berufliche Perspektive, das sind diemit den geringsten Löhnen, und das sind die, die am we-nigsten zur Innovation unserer Wirtschaft beitragen kön-nen.Das zeigt doch, dass unser Ausbildungssystem gra-vierende Schwächen hat und dass es vor allen Dingennoch immer konjunkturabhängig ist. Die Zahl der Aus-bildungsplätze ist im letzten Jahr um 8,2 Prozent zurück-gegangen. Wir können, so zynisch das klingt, froh sein,dass die Schulabgängerzahlen zurückgegangen sind;sonst fielen die Zahlen, die ich Ihnen jetzt vortrage, nochviel drastischer aus.
Wir haben nämlich circa 90 000 Jugendliche, die indiesem Jahr unversorgt geblieben sind, 90 000 Jugendli-che, die entweder in überhaupt keiner Maßnahme gelan-det sind oder im Übergangssystem, das sogar Sie inzwi-schen „Warteschleife“ nennen. Das darf einen nichtruhen lassen.
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Priska Hinz
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Wissen Sie, was im Berufsbildungsbericht der Regie-rung dazu ausgeführt wird? Die Ausbildungssituationhabe sich für Jugendliche nicht wesentlich verschlech-tert. Damit darf man sich doch nicht zufriedengeben. Da-gegen muss man etwas tun.
Man muss Rückgrat zeigen und deutlich machen, wassich in der beruflichen Bildung verändern muss.Hinzu kommen noch 250 000 Altbewerber. Was er-fahren wir jetzt? Was ist die Lösung für dieses Problem?Wir erfahren, dass an den Maßnahmen weitergearbeitetwird, die Sie seit fünf Jahren, seitdem Sie in der Regie-rung sind, ankündigen oder durchführen.
Seit fünf Jahren gibt es also dieselben Maßnahmen, dienicht zum Erfolg geführt haben. Dabei darf es doch nichtbleiben.Das einzig Neue – das haben Sie auch noch von unsabgeschrieben – sind die Bildungsketten. Wir als Grünehaben formuliert: Aus Warteschleifen müssen produk-tive Bildungsketten werden. – Aber wie sieht denn IhreBildungskette aus? Sie wollen eine Berufsorientierungab der 7. Klasse in Form einer individuellen Förderungbildungsgefährdeter Jugendlicher einführen. Super, klar!Aber wie verhält sich das zu dem Programm der Berufs-orientierung, das schon in den Berufsbildungszentrenstattfindet? Wie verhält sich das zu dem Programm hin-sichtlich der Berufseinstiegsbegleiter? Das ist doch völ-lig unabgestimmt, losgelöst, neu in die Welt gepflanzt.Ich weiß nicht, wo Sie die 3 200 Leute akquirieren wol-len, die Jugendliche begleiten sollen – und das im We-sentlichen noch ehrenamtlich. Das kann doch keine Qua-lifizierung beim Übergang von der Schule zum Berufsicherstellen. Das ist doch kein Konzept.
Wir haben Ihnen ein Konzept vorgelegt. Wir schlagenin unserem Konzept DualPlus vor, dass man regionaleNetzwerke schafft und die Berufsbildungszentren stärkt.Gemeinsam mit den Betrieben sollen dort Ausbildungermöglicht und Qualifizierungsschritte als Ausbildungs-bausteine anerkannt werden, damit aus Warteschleifenwirklich Bildungsketten werden.
Wir schlagen vor, Produktionsklassen einzuführen, sowie das in Hamburg gemacht wird; die Bundesbildungs-ministerin will dies unterstützen. Diese Produktionsklas-sen sollen für die Schwächeren eingeführt werden, damitder nahtlose Übergang von Schule in Ausbildung mög-lich ist. Wir wollen das Konzept DualPlus mit zusätzli-chen Angeboten für besonders starke Schülerinnen undSchüler in einer Ausbildung anreichern, damit sie dieMöglichkeit haben, nahtlos in eine fachliche Weiterbil-dung oder aber an die Hochschule zu wechseln. DieseBildungsketten führen weiter, wohingegen Ihr losgelös-tes Programm zur Berufsorientierung einsam im Raumesteht.
Sie haben im Rahmen Ihres Programms JobstarterConnect Erfahrungen mit Ausbildungsbausteinen ge-macht. Die SPD ist leider noch immer dagegen. Viel-leicht kann sie sich irgendwann einen Ruck geben undeinsehen, dass das eine sinnvolle Sache ist. Wenn Sieschon Erfahrungen gemacht haben und auch das Hand-werk bereit ist, mit uns darüber zu diskutieren, wie manAusbildungsbausteine sinnvoll im Rahmen einer Ausbil-dung anerkennt, dann frage ich mich: Warum sind Sieals Bundesbildungsministerin so mutlos? Warum tragenSie hier nur Allgemeinplätze vor?
Eine Bildungs- und Ausbildungsoffensive für Ju-gendliche mit Migrationshintergrund wurde uns wie-derholt versprochen. Schon im Jahr 2007 wurde im Be-rufsbildungsbericht deutlich gemacht, dass 40 Prozentder Jugendlichen mit Migrationshintergrund – bei Ju-gendlichen mit deutschem Hintergrund sind es 12 Pro-zent – keinen Berufsabschluss hatten. Was ist seitdempassiert? 9 000 Ausbildungsplätze – 9 000 Ausbildungs-plätze! – sind akquiriert worden. Jetzt schlagen Sie imfünften Jahr Ihrer Regierungszeit vor, dass ein bundes-weites Informations- und Beratungsnetzwerk geschaf-fen werden soll. Herzlichen Glückwunsch! Gut, dass Siedort schon nach fünf Jahren angekommen sind.
Das lebenslange Lernen endet bei Ihnen mit 35 Jah-ren. Die Öffnung des Meister-BAföGs hat dazu geführt,dass 80 Prozent derjenigen, die es in Anspruch nehmen,jünger als 35 Jahre sind. An diesem Punkt dürfen wirdoch nicht stehen bleiben. Wir brauchen ein Erwachse-nen-BAföG, mit dem auch Menschen mit 40 und 50 Jah-ren eine Weiterbildung ermöglicht wird. Gerade dieseMenschen brauchen wir angesichts der demografischenEntwicklung auf dem Arbeitsmarkt.
Zum Schluss will ich noch einmal an die Bildungsket-ten anknüpfen und ihren Beginn aufzeigen. Wenn Bil-dungsketten wirklich ernst gemeint sein sollen, dannmuss man frühzeitig damit beginnen, sie zu knüpfen,und zwar schon im Kindergarten. Aber Sie haben sichwegen des Kooperationsverbots und Ihrer Finanzpoli-tik in Form von Steuergeschenken für Wohlhabendeselbst Fesseln angelegt – und damit auch der Zukunftdieses Landes.Sie haben keine Chance, in den Schulen in Deutsch-land etwas zu verbessern. Sie haben keine Chance, indi-viduelle Förderungen voranzutreiben, außer über För-dervereine, die es noch nicht einmal in jedem Landkreisgibt, vor allen Dingen nicht an den Schulen, die Kinderaus besonders benachteiligten Familien, die Förderunginsbesondere brauchten, besuchen. Sie schaffen es nicht,
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Priska Hinz
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zusätzliche Ganztagsschulen einzurichten. Sie schaffenes auch nicht, die Schulabbrecherzahlen zu senken. DasProblem Ihrer Bildungsketten ist, dass der rechtzeitigeBeginn fehlt.Das ist kein guter Ausblick auf die Zukunft der beruf-lichen Bildung; denn diese beginnt schon im Kindergar-ten, spätestens aber in der Schule. Hier müssen wir end-lich zu Ergebnissen kommen. Deswegen muss derBildungsgipfel ein Erfolg werden. Das schaffen wir nur,wenn das Kooperationsverbot endlich fällt.Danke schön.
Der Kollege Uwe Schummer erhält nun das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren!
Frau Alpers, Sie sprachen von einer Zwangsdiät bei den
Bildungsausgaben auf Bundesebene. Sie sollten zur
Kenntnis nehmen, dass wir mit fast 11 Milliarden Euro
den höchsten Ansatz einer Bundesregierung seit 1949
beim Haushalt für Bildung und Forschung haben,
dass dieser Haushaltstitel seit 2005 um ein Drittel ange-
stiegen ist und dass derzeit das Konjunkturprogramm II
an Schulen, Universitäten, Volkshochschulen, Sportstät-
ten und Bildungseinrichtungen greift, wie man an den
vielen Baustellen sieht. Wichtige Bildungsinvestitionen
in Milliardenhöhe werden also zusätzlich auf kommuna-
ler Ebene aus Bundesmitteln finanziert.
– Lautes Schreien bringt noch keine Wahrheit.
Ihre klammheimliche Freude daran, diese Republik
schwachzureden und sich an den Problemen und Nöten
zu ergötzen, um einen ideologischen Mehrwert zu erzie-
len, ist peinlich für dieses Haus.
Wir werden alles daransetzen, dass durch die Bildungs-
republik Deutschland Chancen für möglichst viele Men-
schen entstehen, auch für Sie, Frau Alpers, damit Sie
nicht auf solche Töne zurückgreifen müssen, sondern
auf Konzepte und Inhalte bauen können.
Dass wir auf Menschen angewiesen sind, ist eine Er-
kenntnis der Börsenkrise. Dass wir derzeit Ausfälle beim
Wachstum und bei den Auftragsvergaben haben, hat uns
das Institut der deutschen Wirtschaft vorgerechnet. Im
Jahre 2008 konnten Aufträge in Höhe von 29,5 Milliar-
den Euro nicht angenommen werden, weil bereits Fach-
kräfte fehlten. Im letzten Jahr lagen die Auftragsverluste
bei 14,4 Milliarden Euro; da war es aufgrund der Welt-
wirtschaftskrise etwas weniger. Aber die Zahlen zeigen,
dass es schon heute Wachstumsdefizite aufgrund man-
gelnder Qualifikation gibt.
Deshalb müssen wir miteinander überlegen, wie wir
gerade bei der beruflichen Bildung eine Stabilisierung
oder sogar eine Steigerung erreichen können.
83 Prozent aller Patente werden von den Beschäftig-
ten in den Unternehmen entwickelt. Die Erfahrungen,
auch innerhalb der Wirtschaft, zeigen, dass Beschäftigte
nicht nur einen Kostenfaktor darstellen, sondern auch
ein Aktivposten, ein Innovationsfaktor im Unternehmen
sind. In diesem Bewusstsein gibt es derzeit eine gute Zu-
sammenarbeit zwischen der Politik – Annette Schavan,
Frau Merkel und die christlich-liberale Koalition – auf
der einen Seite und der Wirtschaft auf der anderen Seite.
Nicht die Beschimpfung der Wirtschaft, sondern das
Miteinander, die Partnerschaft in Bezug auf Bildung ist
das richtige Konzept.
Im Jahre 2005 lag die Ausbildungsplatzlücke bei
175 000; derzeit liegt sie bei 47 000. Das hängt mit dem
demografischen Wandel zusammen. Im letzten Jahr gab
es etwa 900 000 Schulabgänger; 2018 wird diese Zahl
bei unter 800 000 liegen. Das heißt, der Kampf um die
Köpfe wird zunehmen. Die Erkenntnis, die daraus folgt,
ist, dass wir jeden Einzelnen stärker und auch früher för-
dern müssen.
Eine Wirkung unserer Politik, sowohl der Großen Ko-
alition als auch der christlich-liberalen Koalition, ist,
dass die Zahl der Altbewerber von 380 000 in 2008 auf
heute 244 000 gesunken ist und weiter sinken wird. In-
strumente wie die Einstiegsqualifizierung haben dazu
geführt, dass ein Drittel der Unternehmen, die bisher
nicht ausgebildet haben, gesagt hat, dass sie aufgrund ih-
rer guten Erfahrungen mit der EQ-Maßnahme, der Ein-
stiegsqualifizierung, erstmals voll ausbilden wollen,
zwei oder drei Jahre lang.
– Herr Präsident.
Herr Kollege Schummer, Sie sind offenkundig bereit,eine Zwischenfrage zuzulassen. – Bitte sehr.
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Herr Kollege Schummer, Sie haben gerade gesagt,
dass die Zahl der Altbewerber dankenswerterweise zu-
rückgegangen, aber nach wie vor auf einem sehr hohen
Niveau ist. Ich frage mich, weshalb wir heute nicht da-
rüber diskutieren, dass der Altbewerberausbildungsbonus
verlängert werden muss. Im Entwurf zum Beschäfti-
gungschancengesetz des Arbeitsministeriums – dort wird
dies ja verantwortet – ist vorgesehen, diesen Altbewer-
berausbildungsbonus abzuschaffen, obwohl wir nach
wie vor eine hohe Altbewerberquote in Deutschland ha-
ben. Auslaufen soll auch die Maßnahme hinsichtlich der
Berufseinstiegsbegleiter, die ebenfalls Teil des Gesetzes
ist. Ich frage mich, warum die Bundesregierung nicht
einfach altbewährte Instrumente verlängert, statt neue
Debatten anzustoßen, ohne konkrete Gesetzentwürfe
vorzulegen.
Sie wissen, dass wir uns festgelegt haben, den Ausbil-dungspakt zu verlängern, dass wir in unseren Gesprä-chen über den Ausbildungspakt auch über Instrumentewie Einstiegsqualifizierung und Ausbildungsbonus re-den werden,
dass darüber aber erst dann entschieden wird, wenn derAusbildungspakt Ende des Jahres verlängert wird. Ichdenke, dass wir auch dieses Thema im Rahmen des Aus-bildungspaktes behandeln werden. Im Rahmen der Ver-längerung des Paktes wird dann gemeinsam mit derWirtschaft entschieden. – Damit ist Ihre Frage beantwor-tet. Vielen Dank für die Zeit, die Sie mir gegeben haben.Ich kann nur darum bitten, dass im Rahmen des Aus-bildungspaktes mit Blick auf die Gewerkschaften einKooperationsgebot vereinbart wird, wie wir es auch inunserem Koalitionsvertrag formuliert haben. Wir ladendie Gewerkschaften ein, sich am Ausbildungspakt zu be-teiligen, weil sie als Sozialpartner bei der Entwicklungvon Berufsbildern und bei tariflichen Vereinbarungendie Kompetenz haben, gestaltend tätig zu werden und fürmehr Ausbildungsplätze und richtige Berufsbilder zusorgen. Es kann nicht sein, dass sich eine wichtige Orga-nisation der Sozialpartnerschaft, die Gewerkschaften,larmoyant in die Ecke stellt und beleidigt ist.
Die Gewerkschaften gehören beim Ausbildungspakt mitan den Verhandlungstisch und nicht in die Meckerecke.
Auch ich als Gewerkschafter – ich bin seit mehr als30 Jahren in der IG Metall – fordere die Gewerkschaftenauf – das erwarte ich von ihnen –, dass sie sich im Inte-resse der jungen Menschen am Ausbildungspakt beteili-gen, nicht indem sie auf andere zeigen, sondern indemsie selber deutlich machen, welchen Beitrag sie mit ihrerGestaltungskompetenz leisten können, um für mehrAusbildungsplätze zu sorgen.Für den Übergang von der Schule in die Ausbildungwerden wir eine Strategie entwickeln müssen, mit derwir die Programme, die bisher vorhanden sind, verzah-nen und zusammenführen. Der Bund muss in die Lageversetzt werden, sich an den Programmen der Länderund teilweise der Kommunen subsidiär zu beteiligen. Esist richtig, die Potenziale von Schülern im Rahmen vonBildungsketten bereits ab dem siebten Schuljahr zu mes-sen. Wir dürfen ihnen nicht nur sagen, wo ihre Schwä-chen sind, sondern wir müssen ihnen auch sagen, woihre Stärken sind. Im Mittelpunkt muss dabei die Fragestehen: Wie können wir die Stärken der Schülerinnenund Schüler durch gezielte Förderung weiterentwickeln?Darauf aufbauend müssen wir in Form von überbe-trieblichen Ausbildungswerkstätten eine Berufsorientie-rung organisieren. Man kann nicht alle 342 Berufsbilderim Schulunterricht vermitteln. Aber in einer überbetrieb-lichen Ausbildungswerkstatt des Kolping-Bildungswer-kes oder des Handwerks können Berufsfelder erkundetwerden, ob Holz, Metall, Hauswirtschaft, Verwaltungoder Gartenbau. Im Anschluss daran könnte ein berufli-ches Profiling durchgeführt werden, um den jungenMenschen eine berufliche Orientierung zu geben, damitsie erfahren, welche Optionen sie haben.Nun zur Phase der Berufsvorbereitung in derSchule. Derzeit bekommen 80 000 junge Menschen aus-bildungsbegleitende Hilfen. Ich denke, wir sollten da-rüber nachdenken, ob das Instrument ausbildungsbeglei-tender Hilfen – dazu gehören unter anderem sozialeBetreuung, Sprachunterricht, Förderunterricht undNachhilfe – nicht früher ansetzen sollte, zum Beispielschon in der siebten Klasse. Wir sollten im Rahmen derBildungspartnerschaft von Bund, Ländern und Kommu-nen auch schulbegleitende Hilfen anbieten, um denÜbergang systematischer zu organisieren. So können wirdas Ziel, das Frau Schavan genannt hat, erreichen: dassjedem, der die Schule verlässt, eine berufliche Qualifi-zierung angeboten wird.Wir sind diesem Ziel bereits nähergekommen, auchdurch die Politik der Großen Koalition und der christ-lich-liberalen Koalition. Aber wir sind noch nicht amZiel. Wir wollen mit unserem Antrag für mehr Qualitätin der Ausbildung eine umfassende Debatte über die Be-rufsbildungsreform, die wir vor fünf Jahren hier im Par-lament gemeinsam verabschiedet haben, anstoßen, umherauszufinden, ob wir heute, nach fünf Jahren, Ände-rungen durchführen oder Weiterentwicklungen einleitenmüssen.Wir wollen auch über den europäischen Bildungs-raum diskutieren und für eine Aufwertung der dualenAusbildung zwischen Portugal und Malta sorgen. Au-ßerdem werden wir in diesem Hause die Verlängerungdes Ausbildungspaktes debattieren. Ich bitte Sie darum,nicht nur dazwischenzuschreien und künstliche Empö-rung zum Ausdruck zu bringen, sondern im Interesse derjungen Menschen vor allem auch konzeptionell und in-haltlich mit uns zu diskutieren. Willi Brase hat da einenguten Anfang gemacht.
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Nächster Redner ist der Kollege Michael Gerdes für
die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Ich bin sehr froh, dass wir heute in der Kernzeitüber das Thema Berufsbildung diskutieren. Denn zu oftverlieren wir uns gerade in Debatten über die Bildungs-politik in Allgemeinplätze, ohne die Probleme einzelnerBereiche konkret zu erfassen. Erfreulicherweise ist dasheute anders.Wir brauchen diese zentrale Debatte, weil das dualeSystem ein wesentlicher Garant dafür ist, Nachwuchs anqualifizierten Fachkräften zu gewinnen. Viele Nationenbeneiden uns um die Verbindung von Theorie und Praxisbei der beruflichen Ausbildung junger Menschen. Da-rüber besteht hier im Hause, so denke ich, Einigkeit.Durch die Ausbildung in Betrieben erlernen unsere Ju-gendlichen stets den Umgang mit Technik auf dem aktu-ellsten Stand. Sie werden somit optimal auf die Anforde-rungen des Arbeitsmarktes vorbereitet.
Die Qualität der deutschen Berufsausbildung muss er-halten bleiben. Deshalb brauchen wir eine Debatte, beider wir genau hinschauen, um die Situation, in der sichZehntausende ausbildungswillige junge Menschen be-finden, exakter zu analysieren. Dabei fällt auf, dass es inder Berufsbildung einige Baustellen gibt.An erster Stelle sind nach wie vor die fehlenden Aus-bildungsplätze zu nennen. Noch stimmt es nicht, dasssich die Lage auf dem Ausbildungsmarkt aufgrund desdemografischen Wandels entspannt, frei nach demMotto: Nicht die Plätze sind knapp, sondern die Bewer-ber. Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat sich auch imAusbildungsmarkt niedergeschlagen. Auch wenn derDIHK sagt, die Trendwende sei da, so ist die Zahl derneu abgeschlossenen Ausbildungsverträge im Jahr 2009gesunken. Im Berufsbildungsbericht heißt es lapidar:Die Ausbildungsmarktsituation hat sich für die Ju-gendlichen nicht wesentlich verschlechtert.Diese Formulierung ist bemerkenswert: Die Situationhat sich also auch nicht verbessert. Bedenkt man zudemdie Unvollständigkeit der Statistik, in der Altbewerberund junge Menschen ohne Schulabschluss nicht auftau-chen, wird klar, wie sehr der Schein trügt. Wir müssendie erweiterten Zahlen betrachten.
Wer genauer hinsieht, wird mit einigen erschrecken-den Zahlen konfrontiert. Wir haben hier heute schon öf-ter davon gehört. Besonders die schlechten Chancen so-genannter Altbewerber machen mir Sorgen. Sie steckenim Übergangssystem fest und drehen eine Schleife nachder anderen. Rund einem Drittel der Jugendlichen ge-lang es in einem Zeitraum von zwei Jahren nach Ab-schluss einer Maßnahme nicht, eine vollqualifizierendeAusbildung aufzunehmen. Das ist grob fahrlässig; hiermüssen wir dringend handeln.
Wer Jahr um Jahr keine Chance sieht, für den Arbeits-markt ausgebildet zu werden, der verliert jegliche Lern-und Arbeitsmotivation. Wer ohne Perspektive ist, der re-signiert. Das kann sich eine Gesellschaft, die laut CDU/CSU eine Bildungsrepublik sein will, nicht leisten.
Jeder Mensch braucht die Aussicht auf einen Ausbil-dungsplatz. Deshalb fordern wir in unserem Antrag eineBerufsausbildungsgarantie. Ansonsten steigt dieQuote der Ungelernten in der Altersgruppe der 20- bis29-Jährigen weiter an. Diese Quote ist ohnehin sehrhoch.
Sie liegt bei unglaublichen 15,2 Prozent. Das entspricht1,5 Millionen Schicksalen.Frau Hinz hat schon darauf hingewiesen: Wir müssenauch denen helfen, die ohne Ausbildung bereits im Berufstecken. Durch berufsbegleitende Ausbildung müssenwir es ihnen ermöglichen, sich für den Arbeitsmarkt zuqualifizieren.
Es ist doch paradox: Auf der einen Seite stehen Altbe-werber und Ungelernte; auf der anderen Seite rufen wirden Fachkräftemangel aus.
Jugendliche mit Migrationshintergrund sind von denWarteschleifen besonders häufig betroffen. „BerlinsWirtschaft braucht Dich“: So werben IHK und Unter-nehmen im Rahmen einer Ausbildungskampagne gegenden Fachkräftemangel in dieser Stadt um Jugendlicheaus Zuwandererfamilien. Das ist keinesfalls nur ein Ber-liner Phänomen. Wir brauchen für den Arbeitsmarkt derZukunft alle Jugendlichen mit und ohne Migrationshin-tergrund; wir müssen alle Talente nutzen.Mir bereitet auch die immer lauter geführte Diskus-sion über die Ausbildungsreife unserer JugendlichenSorge. Wir alle kennen die Aussagen des DIHK: Nebenschulischen Grundkenntnissen mangele es den Jugendli-chen an Disziplin, Belastbarkeit und Leistungsbereit-schaft. – Es fehlen die Soft Skills, wie es auf Neudeutschheißt. In den Medien sehen wir Berichte von Vorstel-lungsgesprächen, die mit dem Satz des einstellendenMeisters enden: Geeignet war keiner der Bewerber; ichvergebe den Ausbildungsplatz folglich nicht an den bes-ten Kandidaten, sondern an denjenigen, der wenigerFehler gemacht hat als andere.Die Beschreibung fehlender Bewerberqualifikatio-nen ist sicherlich wichtig, vor allem mit Blick auf dendrohenden Fachkräftemangel. Erstens sollten wir abernicht unsere Ausbildungsuchenden stigmatisieren, son-dern ausbildungsbegleitende Hilfen anbieten,
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Michael Gerdes
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damit das Ausbildungsziel erreicht wird. Zweitens müs-sen wir über die Ursachen sprechen und daraus die rich-tigen Schlüsse ziehen. Nicht unsere Jugendlichen habenversagt, sondern das Bildungssystem ist verbesserungs-würdig.
Es mangelt an Lehrkräften, Schulsozialarbeitern,Psychologen, individueller Förderung, rechtzeitigen Be-rufsorientierungsphasen, aber auch an Hilfestellungenwährend der Ausbildung. Schulen, Unternehmen undEltern sind gefordert, wenn es um die frühzeitige Ver-netzung von Lernalltag und Berufsvorbereitung geht.Wir brauchen eine qualifizierte Einstiegsvorbereitungauf den Beruf. Darum gehört eine individuelle Berufs-wegeplanung als fester Bestandteil in die Lehrpläne abder 7. Klasse.Wir haben in den letzten Tagen viel über den Ret-tungsschirm für den Euro diskutiert. Lassen Sie uns beialler Wichtigkeit des Themas nicht vergessen, das Goldin den Köpfen unserer Kinder zu fördern. Die Zukunfts-chancen unseres Landes sind eng verbunden mit den Ta-lenten, die in diesen Köpfen stecken.Herzlichen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Florian
Bernschneider für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Lassen Sie mich zunächst einmal sagen, dass dieserBerufsbildungsbericht wesentlich mehr ist als ein reinesZahlenwerk, das es nun in den politischen Streitigkeitenzu interpretieren gilt. Wenn man die jungen Menschen inDeutschland fragt, welches Thema sie im Hinblick aufihre Zukunft zentral beschäftigt, dann antworten viele:Mich beschäftigt der Übergang von Schule in Ausbil-dung und von Ausbildung in Beruf. Auch deswegenfinde ich es so wichtig, aus dieser Debatte vor allem eineBotschaft an die jungen Menschen in diesem Land zusenden: Die Wirtschaft braucht junge Köpfe mehr dennje.
Ich kenne mittlerweile die Lesart der Opposition zudieser Frage: Die Wirtschaft muss noch wesentlich mehrAusbildungsplätze zur Verfügung stellen; sie kommt ih-ren Verpflichtungen nicht nach. Nur auf dem Papier ha-ben wir genügend Ausbildungsplätze. – Aber Sie könnennicht wegdiskutieren: Es ist keine Selbstverständlich-keit, dass wir in einer der größten wirtschaftlichen Kri-sen, die dieses Land jemals erlebt hat, immer noch mehrAusbildungsplätze anbieten können, als von den Auszu-bildenden gesucht werden.
Dass das keine Selbstverständlichkeit ist, wird nochklarer, wenn man sich anschaut, wie es in früheren Jah-ren war. Beispielsweise hat man es im Jahre 2002, alsozu Zeiten der rot-grünen Regierung, noch nicht einmal– um es mit Ihren Worten zu sagen – „auf dem Papier“geschafft, genügend Ausbildungsplätze anzubieten. An-gesichts dessen kann man die aktuelle Entwicklung nurwertschätzen.
Natürlich hilft uns bei der Behandlung dieser Frage– das dürfen wir nicht übersehen – der demografischeWandel. Er hat schon geholfen, und er wird in dennächsten Jahren vermehrt helfen. Die älteren Arbeitneh-mer scheiden aus Altersgründen aus dem Arbeitsmarktaus, und es sind immer weniger da, die ihnen folgenkönnen. Gute Ausbildungspolitik darf sich aber nicht al-lein auf den demografischen Wandel verlassen. Im Übri-gen geht es bei guter Ausbildungspolitik nicht nur umdie Frage, wie viele Ausbildungsplätze zur Verfügungstehen, sondern auch darum – das werden Sie feststellen,wenn Sie junge Menschen ansprechen –, welcher Aus-bildungsplatz überhaupt der Richtige ist. Dass jungeMenschen diese Frage stellen, ist nicht unbegründet. DieVielfalt der Ausbildungsmöglichkeiten, aber auch dieSpezialisierung, die in den Ausbildungsberufen gefor-dert wird, nehmen kontinuierlich zu.Wir stehen vor allem vor zwei politischen Herausfor-derungen: Zum einen müssen wir gewährleisten, dasssich die Jugendlichen in dieser Vielfalt möglichst gutorientieren können, und zum anderen müssen wir dafürsorgen, dass wir sie möglichst früh in ihren individuellenStärken fördern können. Wenn ich mir diese beiden He-rausforderungen – Orientierung angesichts der Vielfaltdes Ausbildungsmarktes und die möglichst frühe Förde-rung junger Menschen in ihren individuellen Stärken –anschaue, dann frage ich mich schon, warum gerade dieEinheitsschule der richtige Weg dahin sein soll.
Ich sage Ihnen auch: Bildungspolitische Graben-kämpfe helfen uns in dieser Frage nicht weiter. Im Übri-gen werden Sie auch die integrationspolitischen Fragen,die dieser Bildungsbericht zweifellos aufwirft, nicht da-durch beantworten, dass Sie das Türschild an den Haupt-schulen abmontieren.Uns hilft aber auch keine unsachliche und undifferen-zierte Kapitalismuskritik an dieser Stelle weiter. Dasmöchte ich gerade den Kolleginnen und Kollegen derLinkspartei entgegenrufen. Die Betriebe sagen: Es gibtimmer weniger Jugendliche, die ausbildungsreif sind.Angesichts dessen müssen wir doch feststellen: Eineweitere Herausforderung ist, dass Schule und Wirtschaftin den kommenden Jahren in eine engere Kooperation,in einen engeren Dialog treten. Im Wahlprogramm derLinkspartei lese ich:
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4232 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Florian Bernschneider
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Zunehmend dreht sich die Diskussion seit geraumerZeit um Preis und Leistung und Verwertbarkeit vonBildung … Der Mensch wird dabei nicht gebildet,sondern seine Kompetenzen werden für globaleMärkte optimiert. Bildung wird nach kapitalisti-scher Verwertungslogik geleitet.
Wer so spricht, der hat doch gar kein Interesse daran,junge Menschen auf den Ausbildungsmarkt und dieWirtschaft vorzubereiten.
Die Bundesregierung und die Koalition aus CDU/CSU und FDP wird ihren Teil dazu beitragen, die He-rausforderungen zu meistern. Wir haben damit begon-nen. Sie, meine sehr geehrten Damen und Herren, abervor allen Dingen auch die jungen Menschen in diesemLand können sich sicher sein, dass Bildungs- und Aus-bildungspolitik bei uns in guten Händen ist.Vielen Dank.
Herr Kollege Bernschneider, ich gratuliere Ihnenherzlich zu Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestagund verbinde das mit allen guten Wünschen für die wei-tere parlamentarische Arbeit.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Nadine Müller fürdie CDU/CSU-Fraktion.
Nadine Müller (CDU/CSU):Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Verehrte Kollegen der Opposition: Was mussein Jugendlicher denken, der Ihnen heute Morgen zuge-hört hat? Er muss doch den Eindruck haben, dass es inDeutschland leichter ist, einen Sechser im Lotto zu ge-winnen, als einen Ausbildungsplatz zu bekommen. Inihm müssen doch Fluchtgedanken aufkommen, wenn erIhnen heute Morgen zugehört hat. Sie vermitteln ein ra-benschwarzes Bild, das schlimmer nicht sein könnte.Aber zum Glück ist es ein falsches Bild. Mit der Realitäthat das wenig zu tun.
Schauen wir uns einmal die Realität an. Werfen wireinen Blick auf objektive Zahlen, zum Beispiel auf dieZahlen zur Jugendarbeitslosigkeit. Die Jugendarbeits-losigkeit ist ja ein verlässlicher Indikator für die Situa-tion der beruflichen Bildung. Zu Beginn des Jahres lagdie Jugendarbeitslosigkeit in Deutschland bei 10,1 Pro-zent. Das ist für deutsche Verhältnisse sehr viel. Aber inunserem Nachbarland Frankreich lag sie mehr als dop-pelt so hoch.
In Finnland lag sie bei 23,7 Prozent, in Schweden bei25,6 Prozent. Trauriges Schlusslicht ist Spanien mit über40 Prozent Jugendarbeitslosigkeit. Fast in ganz Europagibt es prozentual gesehen mehr arbeitslose Jugendlicheals in Deutschland. Allein diese Zahlen machen deutlich,dass die Situation in unserem Land nicht so raben-schwarz aussehen kann, wie Sie sie gerne malen würden.Das sollte als Allererstes festgestellt werden.
Liebe Kollegen, diese im Vergleich zu anderen bes-sere Situation in Deutschland ist kein Zufall, sie ist nichtgottgegeben; nein, dafür gibt es Gründe. Ein entschei-dender Grund ist das hohe Verantwortungsbewusstseinunserer Unternehmen. Sie haben trotz Krise weiter aus-gebildet, sie haben auch die Beschäftigten gehalten, sogut es eben ging. Unsere Unternehmen haben in denletzten Monaten Verantwortung gezeigt. Ihnen gebührtan dieser Stelle ein großes Lob.
Dass sie Verantwortung wahrnehmen, wird nicht nurin der Krise deutlich, sondern ist Voraussetzung für denErfolg unseres Systems, nämlich des Systems der dua-len Ausbildung. Ich möchte dieses System mit einemstabilen Haus vergleichen, das auf einem festen Funda-ment steht und sich schon über Jahre bewährt hat. Aberum zeitgemäß zu bleiben, muss das Haus immer wiedermodernisiert werden und neuen Herausforderungen an-gepasst werden.
An diesen Modernisierungsarbeiten sind viele beteiligt:die Politik, die Unternehmen, die jungen Leute selbst.Sie, liebe Kollegen der Opposition, spielen dagegen eineeher unrühmliche Rolle. Sie stehen daneben, Sie schauenzu, Sie stützen sich auf der Schaufel ab, Sie meckern undkritisieren.
Schauen Sie sich um: Unsere Nachbarn beneiden uns umdieses stabile System. Nehmen Sie das bitte zur Kennt-nis, nehmen Sie die Schaufel ebenfalls in die Hand undhelfen Sie mit, dass dieses System noch besser und nochzukunftsfester wird. Das ist im Sinne von uns allen. Mit-machen statt Miesmachen – das sollten Sie sich heutevornehmen.
Wie beim Bau eines Hauses müssen auch beimThema Ausbildung viele zusammenarbeiten. Ein Para-debeispiel dafür ist der Ausbildungspakt. Die Kollegenhaben schon darauf hingewiesen.
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Frau Kollegin Müller, gestatten Sie eine Zwischen-
frage der Kollegin Hinz?
Nadine Müller (CDU/CSU):
Ja, gerne.
Liebe Frau Kollegin, Sie haben eben gesagt, die Op-position würde danebenstehen und zuschauen und sichauf der Schaufel oder wo auch immer abstützen. Ichmöchte Sie jetzt fragen: Haben Sie das Konzept zur Mo-dernisierung des Berufsbildungssystems der Grünen„DualPlus“ schon gelesen? Haben Sie sich darüber kun-dig gemacht, dass es mehrfach Veranstaltungen undFachgespräche dazu gab?
– Bitte? –
Können Sie mir bitte erklären, was Sie an diesem Kon-zept gut und was Sie schlecht finden?Nadine Müller (CDU/CSU):Liebe Kollegin, ich halte es für sehr begrüßenswert,wenn sich auch die Opposition Gedanken macht.
Ich finde es gut, wenn wir in den Ausschüssen darüberdiskutieren.
Aber was heute Morgen gerade von den Linken undauch von Teilen der Grünen vorgetragen wurde – dieSPD muss ich davon ausschließen, das war recht kon-struktiv –, war in überwiegendem Maße Schwarzmale-rei. Sie haben nur auf die negativen Sachen hingewiesen.
Gerade von den Linken kamen keine konstruktiven Vor-schläge.
Über sinnvolle Vorschläge zu diskutieren, sind wir jeder-zeit bereit.
Wir müssen diskutieren, da haben Sie recht. Wir müs-sen uns gemeinsam einbringen; denn der Ausbildungs-pakt – ich habe ihn bereits erwähnt – wird im Herbst ver-längert. Er geht in eine neue Runde. Dadurch stehen wirvor neuen Herausforderungen, die wir angehen müssen.Zwei Herausforderungen – das will ich Ihnen zugute-halten – haben Sie bereits angesprochen. Zum einen gehtes darum, alle Potenziale zu erschließen. Es gibt nachwie vor Jugendliche, die es schwer haben, einen Ausbil-dungsplatz zu finden: die Altbewerber und vor allem dieJugendlichen mit Migrationshintergrund. Im Berufs-bildungsbericht wird eine erschreckende Zahl genannt:40 Prozent der Jugendlichen mit Migrationshintergrundhaben keinen Berufsabschluss. Diese jungen Menschensind nicht weniger talentiert als ihre deutschen Freunde,aber sie müssen mehr Hürden überwinden. Deshalbbrauchen sie frühere und intensivere Förderung und Be-ratung durch Ausbildungslotsen, Sprachkurse und aus-bildungsbegleitende Hilfen. Wir sind auf einem gutenWeg, aber die Anstrengungen dürfen nicht nachlassen.Alle Partner des Ausbildungspaktes sollten sich ihrer be-sonderen Verantwortung bewusst sein. Wir wollen alleneine Chance geben, im Interesse der Jugendlichen, aberauch im Interesse von uns allen.Die zweite Herausforderung, der wir im Rahmen desAusbildungspaktes begegnen müssen, ist neu: derzunehmende Fachkräftemangel. Bereits heute gehenjährlich 200 000 Menschen mehr in Rente, als neue indas Berufsleben einsteigen. Diese Entwicklung wird sichnoch verschärfen. Schon heute können viele Unterneh-men ihre Ausbildungsplätze nicht besetzen. Das Pro-blem ist zwar regional und branchenspezifisch noch sehrunterschiedlich, es wird sich aber ausweiten. Das mussuns Sorge bereiten. Hier müssen wir etwas tun, bei-spielsweise durch eine bessere Vorbereitung auf das Be-rufsleben, Stichwort: Berufsorientierung.Ich wünsche mir, dass wir es schaffen, deutschland-weit ein besseres System der Berufsorientierung aufdie Beine zu stellen: in allen Schulen, frühzeitig, gezieltund individuell auf den einzelnen Jugendlichen abge-stimmt. Es muss ein System sein, das alle Akteure vorOrt einbindet. Kollegin Hinz, Sie haben eben gefordert,dass die Akteure, die es bereits vor Ort gibt, eingebun-den werden. Wir befürworten das sehr. Es gibt das Kon-zept der Bildungsketten, das Annette Schavan vorge-stellt hat.
Es gibt das Konzept der Bildungslotsen. Auch das trägtdazu bei, einen kontinuierlichen Übergang von derSchule ins Berufsleben sicherzustellen. Dafür wollen wiruns einsetzen.
Ich habe zu Beginn meiner Ausführungen festgestellt:Unser System der dualen Ausbildung wird von unsereneuropäischen Nachbarn geschätzt. Wir werden darumbeneidet. Ich habe allerdings den Eindruck, dass uns dasin Deutschland nicht immer bewusst ist. Stattdessen ru-fen wir ständig nach mehr Akademikern, mehr Studen-ten und mehr Abiturienten.
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4234 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Nadine Müller
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Diejenigen, die am lautesten rufen, sind Sie von der Lin-ken. Sie haben auf Ihren Wahlplakaten „Gymnasium füralle“ gefordert. Damit erklären Sie alle anderen Schul-formen und Bildungswege für unwürdig. In meinen Au-gen ist das arrogant und menschenverachtend.
– Liebe Kollegen der Linken, wenn Sie Ihre eigenen Pla-kate nicht kennen, dann ist das wirklich sehr bedenklich.Schauen Sie sich die Kampagne Ihrer Partei im Saar-land, im Land Ihres ehemaligen Bundesvorsitzenden, an.
Dort wurde der Spruch „Gymnasium für alle“ plakatiert.Wenn Sie nicht dahinterstehen, dann sagen Sie das öf-fentlich und distanzieren sich von der Kampagne.
Frau Müller, möchten Sie noch eine Zusatzfrage der
Kollegin Alpers zulassen?
Nadine Müller (CDU/CSU):
Von mir aus.
Ich möchte von Ihnen wissen, wo Sie das Plakat gese-
hen haben. Es gibt kein deutschlandweites Plakat mit der
Aufschrift „Gymnasium für alle“. Da haben Sie sich ge-
täuscht. Was Sie gesehen haben, ist das Plakat mit der
Aufschrift „Reichtum für alle“. Das soll deutlich ma-
chen, dass wir in einem der reichsten Länder leben. Wir
gehen davon aus, dass an diesem Reichtum alle beteiligt
werden.
– Genau. Da sind wir dann beim Bildungsreichtum und
bei gleichen Chancen für alle. Die erste Frage lautet also,
wo Sie das Plakat gesehen haben.
Die zweite Frage lautet: Wo haben Sie jemals von den
Linken gelesen, dass wir uns gegen Auszubildende aus-
sprechen? Sie haben gerade behauptet, dass wir uns nur
für Abiturienten einsetzen. Ich möchte das von Ihnen be-
legt haben. Auch wir treten in allen Bereichen für ein
umfassendes Ausbildungssystem ein. Ich bitte Sie, mit
den Unterstellungen aufzuhören und mir zu sagen, wo
Sie das gelesen haben.
Nadine Müller (CDU/CSU):
Ich habe diese Frage bereits beantwortet, liebe Kolle-
gin.
Es wäre nett, wenn Sie mir zuhören würden. Fragen Sie
die Kollegin Ferner oder Ihre Kollegin Ploetz, die Nach-
folgerin von Oskar Lafontaine. Ich bin sicher, dass sie
eines dieser Plakate aufgehängt hat. Es war im letzten
Landtagswahlkampf im Saarland flächendeckend plaka-
tiert. Das sollten Sie wissen.
Wir wissen, was unsere Landesverbände tun. Wir stehen
ein für die Aussagen unserer Landesverbände. Wenn das
in Ihrer Partei nicht der Fall ist, dann finde ich das
schade. Schauen Sie sich das einfach noch einmal an. Es
war flächendeckend plakatiert.
Liebe Kollegen, wenn Sie „Gymnasium für alle“ pla-
katieren, dann halten wir dagegen: Für uns sind alle
gleich viel wert, sowohl derjenige, der auf der Real-
schule oder auf der Hauptschule seinen Abschluss macht
und dann seine Ausbildung beginnt, als auch der Gym-
nasiast. Dafür werben wir, denn das ist Bestandteil des
dualen Systems. Nur wenn wir für dieses System wer-
ben, wenn wir selbst dafür einstehen, kann es seinen ho-
hen Stellenwert erhalten. Mit Ihrer Aussage „Gymna-
sium für alle“ tun Sie genau das Gegenteil, auch wenn
Sie das heute hier leugnen.
Sie sehen, liebe Kolleginnen und Kollegen, bei die-
sem Thema gibt es noch viel Diskussionsbedarf. Bei der
Modernisierung des Gebäudes der dualen Berufsausbil-
dung sind viele gefordert. Wir alle sollten mit anpacken.
Hier sollte nicht jeder nur seine Interessen verfolgen,
sondern sich seiner besonderen Verantwortung bewusst
sein. Nur dann können wir ein gemeinsames Ziel errei-
chen. Dafür brauchen wir auch Kritiker, aber keine
Miesmacher. Deshalb, liebe Kollegen, bringen Sie sich
konstruktiv ein! Das ist gut für uns alle.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun der Kollege Stefan Schwartze für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Man kann den Eindruck gewinnen, dass die Presse für
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4235
Stefan Schwartze
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Schwarz-Gelb so schlecht ist, dass Sie sich heute Mor-gen die Welt rosarot reden müssen.
Wir diskutieren heute über die Ausbildungssituationin unserem Land, über die Chancen der Jugendlichen, ihrLeben selbst in die Hand zu nehmen und ihnen damiteine Perspektive für ein selbstbestimmtes Leben zu er-öffnen. Es wäre gut für die Debatte, wenn hier mit ehrli-chen Zahlen gearbeitet würde. Dass die Zahl der unver-sorgten Jugendlichen in 2009 nicht stimmen kann, weißjeder Abgeordnete, der auch mal mit Schülern diskutiert.Hier rechnet sich Schwarz-Gelb in dem Antrag die Weltschön. Das Ausbildungsangebot für Jugendliche reichtbei weitem nicht aus.
Es fehlt, wenn man alle Warteschleifen und Maßnah-men mit einrechnet, eine Vielzahl von Ausbildungsplät-zen. Allein im Kreis Herford, in meinem Wahlkreis, fehl-ten in den letzten Jahren beständig 800 bis 1 000 Plätze.Die Jugendlichen sind in Maßnahmen gelandet, in denWarteschleifen an den Berufskollegs, sie jobben, odersie sind gänzlich unversorgt geblieben. Trotz allem wol-len sie weiterhin einen Ausbildungsplatz. Ihre Problemeam Ausbildungsmarkt lösen sich nicht in Luft auf.
Der Ausbildungsmarkt ist kein bundesweiter Markt.Die Zukunft der Jugendlichen entscheidet sich vielmehrvor Ort. Deshalb müssen wir auch als Bund auf die re-gionalen Besonderheiten eingehen. Ostwestfalen-Lippe,die Region, in der mein Wahlkreis liegt, ist die jüngsteRegion in Deutschland. Wir erwarten bis 2013 steigendeZahlen von Schulabgängern und bleiben dann auf demhohen Niveau. Um diesen Jugendlichen eine Perspektivezu bieten, reichen die Angebote der Wirtschaft nicht aus.Ähnliche Probleme gibt es in anderen Regionen. Wirmüssen ein flächendeckendes Ausbildungsplatzangebotfür alle strukturschwachen Regionen schaffen und vorOrt sichern.
Wir müssen den jungen Menschen eine Perspektivebieten und dem Fachkräftemangel, der in unserer Regiondroht, entgegenwirken. Die SPD hat sich ehrgeizigeZiele gesteckt, an denen wir für die jungen Menschenfesthalten werden. Wir wollen, dass in der Zukunft jederentweder ein Abitur oder einen Berufsabschluss machenkann. Die Zahl der Jugendlichen ohne Schulabschlussmuss deutlich sinken. Das Recht auf einen Schulab-schluss hilft weiter, aber noch immer verlassen viel zuviele Jugendliche die Schulen ohne Abschluss.
Wir müssen die Jugendlichen, die keinen Schulab-schluss haben, nachqualifizieren. Nur so können wir esihnen ermöglichen, ihre Zukunft selbst zu gestalten. Ja,das kostet Geld, aber es sichert den Jugendlichen Teil-habe und die größtmögliche Unabhängigkeit von staatli-chen Leistungen. Sie müssen ihre Zukunft selbst gestal-ten können.
Dem Recht auf einen Schulabschluss muss das Rechtauf eine Berufsausbildung folgen.
Auch Ihnen, Herr Kollege Schwartze, gratuliere ich
herzlich zur ersten Rede im Deutschen Bundestag. Alles
Gute für die weitere parlamentarische Arbeit.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Dr. Reinhard Brandl für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Wenn man den vorliegenden Berufsbildungsbericht liest,wird einem deutlich vor Augen geführt, was in ZukunftWachstum und Wohlstand am Standort Deutschlandbremsen wird: Es ist der Mangel an gut ausgebildetenFachkräften. Aufgrund eines Rückgangs der Zahl derAusbildungsplätze in der Krise kann der Bedarf derWirtschaft an qualifiziertem Nachwuchs bei weitemnicht gedeckt werden. Auf der Nachfrageseite ist diedemografische Entwicklung der große Bremsklotz. Al-lein die Zahl der Abgänger von allgemeinbildendenSchulen fiel im Jahr 2009 um 34 000 niedriger aus als imJahr 2008.Diese demografische Entwicklung betrifft unsereganze Gesellschaft und alle Politikbereiche. Wir alschristlich-liberale Koalition haben deswegen bewusst ei-nen Schwerpunkt auf die Förderung von Familien undKindern gesetzt. Diese Wirkung ist langfristig. Sie hilftden Unternehmen kurzfristig nicht, ihren Bedarf an qua-lifiziertem Nachwuchs zu decken. Die Statistik im Be-rufsbildungsbericht, in der gut 17 000 offiziell gemel-dete offene Ausbildungsstellen genannt werden, ist nureine Seite der Realität. Eine Umfrage des DIHK unterseinen Mitgliedsunternehmen vom Februar dieses Jahreshat ergeben, dass diese von 50 000 unbesetzten Stellenausgehen, überwiegend weil geeignete Bewerber fehlen.Dabei gibt es trotz der demografischen Entwicklung einegroße Zahl an Bewerbern, die bisher keinen Ausbil-dungsplatz erhalten haben. Der Bericht spricht von9 600 unversorgten Bewerbern. Hinzu kommen abernoch 73 000 junge Menschen, die zwar in einer der ver-schiedenen Formen der Beschäftigung stecken, abertrotzdem noch nach einem für sie passenden Ausbil-dungsplatz suchen. Wir brauchen jeden Einzelnen vonihnen.
Das ist nicht nur eine sozial- und gesellschaftspoliti-sche Notwendigkeit, sondern in zunehmendem Maße
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4236 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Dr. Reinhard Brandl
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auch eine wirtschaftspolitische Notwendigkeit. Der fürdiese Gruppe schwierige Übergang von der Schule indas Berufsleben ist neben dem Mangel an qualifiziertenBewerbern das zweite Phänomen, auf das man beim Le-sen des Berufsbildungsberichts immer wieder stößt. DieBundesregierung hat das erkannt und handelt dement-sprechend. Sie setzt sich mit einer ganzen Reihe vonMaßnahmen dafür ein, dass jeder junge Mensch, der aus-bildungswillig und -fähig ist, ein Qualifizierungsangeboterhält, das zu einem Ausbildungsabschluss führt. DieBundesministerin hat das in ihren Ausführungen darge-legt.Als christlich-liberale Koalition haben wir zudem inunserem Koalitionsvertrag die BildungsrepublikDeutschland ausgerufen. Das ist keine leere Worthülse.Neben den qualitativen Verbesserungen, gerade an derSchnittstelle zwischen Schule und Beruf, werden biszum Jahr 2013 die Ausgaben für Bildung und Forschungum 12 Milliarden Euro erhöht. Gleichzeitig unterstützenwir die Länder und die Wirtschaft dabei, ihre Ausgabenin diesem Bereich zu steigern. Unser Ziel ist und bleibt,bis zum Jahr 2015 die Ausgaben für Bildung und For-schung auf ein Niveau von 10 Prozent des Bruttoin-landsprodukts zu steigern.Diese Ausgaben sind Investitionen in die Zukunft un-seres Landes, deren Rendite sich zugegebenermaßennicht im Haushalt 2011 niederschlägt, die aber langfris-tig Wachstum und Wohlstand in unserem Land sichern.Deswegen ist es zu kurz gegriffen, genau an dieser Stelleden Rotstift anzusetzen. Ich weiß sehr wohl, dass esnicht leicht wird, das durchzuhalten. Die Diskussionender letzten Wochen sind nur ein Vorgeschmack darauf,was uns angesichts knapper Kassen und der großen Auf-gabe der Haushaltskonsolidierung in den nächsten Jah-ren bevorstehen wird.Auch die Aufgabe der Haushaltskonsolidierungmüssen wir im Bewusstsein unserer Verantwortung ge-genüber der nächsten Generation bewältigen. Nur, wennwir heute bei den Kindern oder bei der Bildung sparen,nehmen wir ihnen gleichzeitig ein Stück Grundlage ihrerZukunftsfähigkeit.
Das wäre genauso verantwortungslos, wie ihnen nurSchulden zu hinterlassen. Ich freue mich daher, dass alleSpitzenvertreter unserer Koalition den entsprechendenSparvorschlägen in den vergangenen Wochen eine klareAbsage erteilt haben.
Ich wünsche mir, dass wir, wenn wir in 20 Jahren zu-rückblicken, sagen können, dass es diese Koalition unterBundeskanzlerin Merkel war, die mit ihrem Kurs derHaushaltskonsolidierung auf der einen Seite und ihrenInvestitionen in die Zukunft unseres Landes auf der an-deren Seite
den Grundstein für langfristiges Wachstum und Wohl-stand in unserem Land gelegt hat.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/1435, 17/1550, 17/1745, 17/1734
und 17/1759 an die in der Tagesordnung aufgeführten
Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan-
den? – Das sieht ganz danach aus. Dann sind die Über-
weisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Marlies Volkmer, Bärbel Bas, Elke Ferner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Für ein modernes Patientenrechtegesetz
– Drucksache 17/907 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch
für diese Aussprache 75 Minuten vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Dr. Marlies Volkmer für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vo-rige Woche, auf dem Deutschen Ärztetag, ließ Dr. FrankUlrich Montgomery, Vizepräsident der Bundesärztekam-mer, verlauten, dass Vertrauen zu den Ärzten mehr zähleals das formale Recht. Im Originalton:Patienten muss man in Deutschland nicht schützen –schon gar nicht vor ihren Ärzten.Nun wollen wir die Patienten in Deutschland nichtvor den Ärzten schützen. Wir wollen auch kein Patien-tenschutzgesetz – das wollen Union und FDP; zumindesthaben sie das in den Koalitionsvertrag geschrieben.Wir haben ein anderes Bild vom Patienten. Deswegenwollen wir ein Patientenrechtegesetz. Ein solches Gesetzhalten wir für unbedingt notwendig.
Für die SPD haben die Patientenrechte schon immer ei-nen hohen Stellenwert. In unserer rot-grünen Zeit habenwir in dieser Hinsicht viel auf den Weg gebracht. Das hatdem deutschen Gesundheitssystem insgesamt gutgetan.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4237
Dr. Marlies Volkmer
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Ich erinnere an die Unabhängige Patientenberatung.Ich erinnere an die Mitwirkung der Patientenvertreter imGemeinsamen Bundesausschuss. Wir haben etabliert,dass es in der Bundesregierung eine Vertrauenspersonfür die Patientinnen und Patienten gibt. Die Funktion desPatientenbeauftragten fußt auf einem rot-grünen Gesetz.Leider können wir im Moment nicht sehen, dass derjetzige Patientenbeauftragte trotz aller Bemühungen vielbewegen könnte. Ihm scheint der Rückhalt in der eige-nen Regierung zu fehlen.
Wenn es anders wäre, stünde die Unabhängige Patien-tenberatung jetzt nicht im Regen, sondern es wäre längstalles geregelt für den Fortbestand der Unabhängigen Pa-tientenberatung.
Warum brauchen wir ein Patientenrechtegesetz? Ichfrage Sie: Sind Sie schon einmal vor einer ärztlichenDiagnose oder Therapie nicht umfassend aufgeklärt wor-den? Kennen Sie vielleicht aus den SprechstundenBürger, die versucht haben, vom Krankenhaus die Do-kumente zu der Behandlung ihrer verstorbenen Angehö-rigen zu erhalten? Musste schon einmal jemand aus IhrerFamilie oder aus Ihrem Freundeskreis prozessieren, umnach einem Behandlungsfehler Schadenersatz oderSchmerzensgeld zu erhalten? Diese Liste könnte ich be-liebig fortführen. Ich habe diese Beispiele gebracht, umdeutlich zu machen, wo Regelungslücken sind.Natürlich haben die Patienten in Deutschland bereitsRechte; aber viele kennen ihre Rechte nicht. Das liegtzum Großteil daran, dass die Vorschriften in unter-schiedlichen Gesetzen aufgeschrieben sind. Deswegenwollen wir zum Beispiel die Rechte und Pflichten ausdem Behandlungsvertrag in einem Patientenrechtegesetznormieren.Es gibt Regelungen, die schlicht unzureichend sind.Diese Regelungen wollen wir angehen. Ich kann hier nurauf einige Punkte eingehen, Stichwort Patientensicher-heit. Patienten haben das Recht auf eine sichere Behand-lung; doch in deutschen Krankenhäusern sterben durchunerwünschte Ereignisse mehr Patienten, als Menschenbei Verkehrsunfällen sterben, und zwar dreimal so viele.Das Aktionsbündnis Patientensicherheit hat im Jahr2007 eine Untersuchung vorgelegt, nach der in der Chir-urgie jährlich mindestens 200 Seiten- und Eingriffsver-wechslungen vorkommen. Das ist nicht akzeptabel.Natürlich müssen die Einrichtungen zunächst einmalselbst schauen, was organisatorisch verändert werdenkann. Wir sind allerdings der Meinung, dass die Vermei-dung von Fehlern und der Umgang mit Fehlern, ein Feh-lermanagement, in den deutschen Krankenhäusern erstnoch etabliert werden muss.
Erforderlich ist auch die Einführung eines zentralenMelderegisters, das auf die Vermeidung von Fehlernausgerichtet ist. Und: Fehler müssen bekannt werden,und zwar deswegen, damit man sie zukünftig vermeidenkann.Deshalb müssen Beschäftigte, die einen eigenen odereinen fremden Fehler melden, vor arbeitsrechtlichenSanktionen geschützt werden. Es kann doch nicht ange-hen, dass die Krankenschwester, die einen Fehler desChefarztes meldet, entlassen wird.
– „Weil die das so gut beurteilen kann“: Stellen Sie docheine Frage. Ich würde sie gerne beantworten und gerneetwas dazu sagen.
Auch im Idealfall lassen sich Fehler natürlich nichtgänzlich vermeiden, aber wird ein Patient heute Opfereines Behandlungsfehlers, dann hat er eine sehr schwa-che Position. Er trägt ein hohes Prozesskostenrisiko, ermuss sich mit einer jahrelangen, manchmal fast jahr-zehntelangen Verfahrensdauer abfinden, und er trägt inden allermeisten Fällen die Beweislast. Auch hier wollenwir Verbesserungen.Wir wollen, dass die Versicherten bei Verdacht auf ei-nen Behandlungsfehler einen Anspruch auf Unterstüt-zung ihrer Krankenkasse haben, wir wollen spezielleArzthaftungskammern der Landgerichte, wir wollen In-strumente zur Beschleunigung des Verfahrens, und wirwollen die Beweislastumkehr immer dann, wenn Kran-kenhäuser oder Ärzte die entsprechenden Patientenun-terlagen unzureichend, unvollständig oder verzögertweiterreichen.
Abschließend komme ich noch zu einem wichtigenPunkt unseres Antrags, nämlich zu den kollektiven Be-teiligungsrechten. Die Patientinnen und Patienten wer-den nur dann von Betroffenen zu Beteiligten, wenn siemitentscheiden und mitbestimmen können. Das besteBeispiel dafür ist die Patientenbeteiligung im Gemeinsa-men Bundesausschuss, also dem Gremium, in dem fest-gelegt wird, was zulasten der Krankenversicherung ver-ordnet wird.Wir haben die Mitwirkungsrechte der Patienten eta-bliert, aber sie haben noch kein Stimmrecht. Wir denken,dass es überfällig ist, dass die Patienten jetzt das Stimm-recht im Gemeinsamen Bundesausschuss erhalten.
Unser Antrag fußt auf Eckpunkten, die wir in der vo-rigen Legislaturperiode in einem langen Diskussionspro-zess mit vielen Beteiligten erarbeitet haben – mit Patien-tenselbsthilfegruppen, mit Hilfeverbänden, mit Juristen,mit Ärzten –, und deswegen sind wir der Meinung, dassdieser Antrag eine sehr gute Grundlage für die Erarbei-
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4238 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Dr. Marlies Volkmer
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tung eines Patientenrechtegesetzes ist, was der Patien-tenbeauftragte ja will. Der Patientenbeauftragte hat es jamehrfach gesagt: Er möchte hier spätestens im nächstenJahr ein Patientenrechtegesetz verabschieden.
Ich bitte Sie herzlich, dass Sie unseren Antrag zurGrundlage dafür nehmen; denn wir haben mehrere Jahregebraucht, um überhaupt die Eckpunkte zu erarbeiten.
Wir haben mit allen Verbänden und Vereinen, die betrof-fen sind, darüber gesprochen, und Sie werden bei IhrenGesprächen mit Sicherheit zu keinem anderen Ergebniskommen.Wer heute noch der Meinung ist, wir bräuchten einsolches Patientenrechtegesetz nicht, dem empfehle ichnur Gespräche mit den betroffenen Patientinnen und Pa-tienten. Sie werden dann zu dem Schluss kommen, dasswir ein solches Gesetz brauchen.
Der nächste Redner ist der Patientenbeauftragte derBundesregierung, Wolfgang Zöller.
Wolfgang Zöller, Beauftragter der Bundesregierungfür die Belange der Patientinnen und Patienten:Grüß Gott, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Frau Kollegin Volkmer, gestatten Sie mir eineVorbemerkung: Wenn meine Vorgängerin als Patienten-beauftragte auch nur halb so viel Rückhalt in der Regie-rung gehabt hätte, wie ich sie erfreulicherweise habe,dann hätten wir schon längst ein solches Gesetz habenkönnen.
Man sieht das ja auch schon an einem Beispiel. Wirhaben es sogar schon im Koalitionsvertrag festgelegt,was Ihnen damals nicht gelungen ist. Auch daran er-kennt man die Ernsthaftigkeit unseres Vorhabens.
Heute sollen wir hier über einen Vorschlag der SPDreden, in dem verschiedene Einzelregelungen vorgese-hen sind, und wir sollen uns nun auf entsprechende Eck-punkte festlegen.Ich sage es ganz offen: Ich halte diese Vorgehens-weise der Festlegung zum jetzigen Zeitpunkt für nichtzielführend. Sie wollen nämlich etwas festlegen undwerden dann mit den Beteiligten sprechen.
Wir sprechen erst mit den Beteiligten und legen dann ei-nen gemeinsamen Vorschlag vor.
Im Übrigen habe ich dies auch schon im Gesundheits-ausschuss vorgetragen.Ich darf auf den Koalitionsvertrag verweisen. Darinheißt es:Im Mittelpunkt der medizinischen Versorgung stehtdas Wohl der Patientinnen und Patienten.
Die Versicherten sollen in die Lage versetzt wer-den, möglichst selbständig ihre Rechte gegenüberden Krankenkassen und Leistungserbringern wahr-zunehmen. Aus diesem Grund soll eine unabhän-gige Beratung von Patientinnen und Patienten aus-gebaut werden. … Die Patientenrechte wollen wirin einem eigenen Patientenschutzgesetz bündeln,das wir in Zusammenarbeit mit allen Beteiligten amGesundheitswesen erarbeiten werden.
So heißt es im Koalitionsvertrag. Die Zusage, dass wirdas Gesetz in Zusammenarbeit mit allen Beteiligten erar-beiten werden, nehmen wir sehr ernst. Deshalb haltenwir uns an den vorgegebenen Zeitplan.
Was die Formulierung Patientenschutzgesetz angeht,sind wir uns, glaube ich, darin einig, dass wir ein Patien-tenrechtegesetz schaffen. Denn es sollte schon in derWortwahl verdeutlicht werden, dass wir den Patientennicht vor etwas schützen müssen, sondern dass der Patientals gleichwertiger Partner im System anerkannt wird.
Sie werden von niemandem in der Regierungskoalitionetwas anderes gehört haben.Zum Stand des Verfahrens: Ich führe seit Beginn derTätigkeit viele Gespräche, um sowohl den Handlungsbe-darf als auch die Regelungsmöglichkeiten zu prüfen undalle Belange zu berücksichtigen. Selbstverständlich wer-den wir – das hatte ich im Gesundheitsausschuss auchschon zugesagt – gerne auch Anregungen aus anderenFraktionen mit aufnehmen und in diese Überlegungenmit einbinden.Nachdem wir alle Anregungen geprüft haben, wird esEnde des Jahres ein Diskussionspapier geben. Ich binzuversichtlich, dass wir anschließend – wiederum ganzbesonders mit der Unterstützung unseres Gesundheits-ministers – im nächsten Jahr das parlamentarische Ver-fahren einleiten.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4239
Beauftragter der Bundesregierung Wolfgang Zöller
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Ich bin auch sicher, dass wir im nächsten Jahr einen mitallen Beteiligten abgestimmten Gesetzentwurf für diePatientinnen und Patienten vorlegen können.Ich habe bisher etwas mehr als 150 Gespräche ge-führt, angefangen bei Juristen über Selbsthilfegruppenbis hin zu Gutachtern, Patientenvertretern und allen an-deren am System Beteiligten. Wir haben schon weitere50 Gesprächstermine zugesagt. Ich halte die dafür vor-gesehene Zeit für notwendig, um einer ausgewogenenBetrachtung dieses Themas Rechnung zu tragen.Was das Patientenrechtegesetz angeht, haben wir alle,glaube ich, die Erfahrung gemacht, dass sich die Patien-ten oftmals gegenüber den Leistungserbringern und Kos-tenträgern im Gesundheitswesen gerade im Konfliktfallunterlegen fühlen. Schlichtungsstellen und Gutachterwerden häufig als nicht neutral erlebt. Oft wird eine zulange Verfahrensdauer beklagt. Patienten und Patientin-nen empfinden das bestehende Recht oft als unübersicht-lich und nicht gerecht. Dies gründet auch darauf, dassPatientenrechte im geltenden Recht an unterschiedli-chen Stellen verankert sind, teils auch lediglich aufRichterrecht beruhen.Vielen Regelungen fehlt es zudem an Klarheit. EinPatientenrechtegesetz, das Rechte und Pflichten aus-drücklich regelt und zusammenfasst, kann wesentlichmehr Rechtssicherheit und Transparenz für die Patientenschaffen.Mir als Patientenbeauftragtem liegen folgende Punktebesonders am Herzen: Ein Hauptanliegen wird sein, dasswir die Patientinnen und Patienten in die Lage versetzen,ihre Rechte wahrnehmen zu können. Das heißt für michauch einfache und verständliche Aufklärung und Infor-mation, damit nicht gerade die Schwächeren in unsererGesellschaft immer die Benachteiligten sind.
Langfristig müssen wir erreichen, dass die Patientennicht erst um ihr Recht kämpfen müssen, sondern Rechtbekommen. Die Patienten müssen über Qualität, überKosten und auch über verschiedene Behandlungsmetho-den informiert werden.Es wurde das Modellvorhaben der UnabhängigenPatientenberatung Deutschlands angesprochen. DiesesModellvorhaben hat sich bewährt. Hier haben wir er-reicht, dass man mit einer Anlaufstelle, einer kostenlo-sen Telefonnummer, für sein Anliegen immer einen An-sprechpartner hat, um eine fundierte Auskunft odereinen Verweis an eine kompetente Stelle zu erhalten.Dieses Modellvorhaben – ich glaube, darin sind wir unsalle in diesem Hause einig – soll in eine Regelleistungübernommen werden. Es ist auch sinnvoll, dass dieseRegelung möglichst schnell vollzogen wird. Ich möchte,dass dies noch vor der Sommerpause geschieht, um auchdie Planungssicherheit der Beteiligten zu gewährleisten.
Allerdings müssen dort noch Verbesserungen stattfin-den: Dies fängt bei einer Auswertung der eingegangenAnliegen an; es kann nicht sein, dass lediglich Strichlis-ten geführt werden. Ich möchte erreichen, dass die dortankommenden Anliegen als Seismograf genutzt werdenkönnen, um Handlungsoptionen abzuleiten. Auch halteich die Vernetzung mit Selbsthilfegruppen und Kompe-tenznetzen für verbesserungswürdig.Die Ansprechpartner in den Krankenhäusern habensich nach meiner Auffassung hervorragend bewährt.Deshalb sollte man die Funktion der Patientenfürspre-cher, wie sie genannt werden, oder Beschwerdebeauf-tragten in den Krankenhäusern ausbauen.Ich halte die Informationspflicht für eines der wich-tigsten Patientenrechte. Die Stärkung der Patientenrechtegegenüber den Leistungsträgern wird ein weiterer Punktsein:Wir wollen einen zeitnahen Zugang zu medizinischenLeistungen erreichen. Wir müssen das Bewilligungsver-fahren wesentlich beschleunigen. Es kann nicht sein,dass wir Briefe bekommen, in denen davon die Rede ist,dass jemand monatelang auf eine Reha-Maßnahme odereinen Rollstuhl warten muss. Solche Briefe liegen unsvor.Des Weiteren möchte ich eine Implementierung derRisiko- und Fehlermanagementsysteme. Nicht nurFehler, sondern auch Beinahe-Fehler können schnellerHinweise auf Schwachstellen in Behandlungsabläufengeben – nach dem Motto: Lernen aus Fehlern.Wir brauchen eine Stärkung der Opfer bei Behand-lungsfehlern. Dies allerdings bedarf einer sehr intensivenBeratung, angefangen von der Diskussion über verschul-densunabhängige Entschädigung über Beweislasterleich-terung, Stärkung der Patienten im Gerichtsverfahren bishin zu Qualität und Transparenz der Gutachterkommis-sionen und Schlichtungsstellen.Auch im Gemeinsamen Bundesausschuss werden im-mer mehr patientenrelevante Entscheidungen getroffen.Deshalb sind wir der Auffassung, dass wir eine Stärkungder Patientenmitwirkung brauchen. Wie dies gemachtwerden kann, ist noch offen. Die Patientenvertreter sindfür eine generelle Mitbestimmung; dies lässt sich aller-dings nur in bestimmten Bereichen umsetzen.Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sie sehenanhand dieser vielen Themen und offenen Fragen, dasses notwendig ist, mit den Beteiligten weitere Gesprächezu führen. Ziel ist es, Rahmenbedingungen zu schaffen,unter denen die Patienten wieder Vertrauen in unser nachwie vor sehr gutes Gesundheitssystem haben können, so-dass sie es als gerecht empfinden. Unser Anspruch ist es,hierfür eine dauerhafte Regelung zu finden. Deshalb gilthier: Qualität vor Schnelligkeit. Ich lade Sie ein, gemein-sam ein Patientenrechtegesetz zu erarbeiten, das diesenNamen auch verdient.Vielen Dank.
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4240 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
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Kathrin Vogler ist die nächste Rednerin für die Frak-
tion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! EineKrähe hackt der anderen kein Auge aus.
Diesen Satz hört man oft, wenn man mit Patientinnenund Patienten spricht, die sich von ihrem Arzt, ihrerKrankenkasse oder im Krankenhaus schlecht behandeltfühlen. Damit drücken sie letztlich nur aus, wie sie sichin einer solchen Situation fühlen, nämlich ohnmächtig,hilflos und allein gelassen. Das Vertrauen in die Ärztinoder den Arzt spielt – das wissen wir alle; das ist inzwi-schen durch Studien gut belegt – eine wichtige Rolle beider Bewältigung von Krankheiten und für den Heilungs-prozess. Die Arztpraxis ist nämlich kein „Medika“-Markt für Gesundheitsdienstleistungen, und der krankeMensch ist kein Kunde, der sein defektes Gerät im Ga-rantiefall zurückgeben kann, wenn jemand in der Fabrikgepfuscht hat. Gesundheit, liebe Kolleginnen und Kolle-gen, ist keine Ware.
In den allermeisten Fällen erweist sich das Vertrauenin die Behandelnden und die Pflegenden als absolut ge-rechtfertigt.
Doch überall da, wo Menschen arbeiten, passieren Feh-ler. Wer die Arbeitsbedingungen in den meisten deut-schen Kliniken kennt und liest, was das Pflege-Thermo-meter herausgefunden hat – chronischer Mangel; durchden Stellenabbau in den Kliniken wächst auch das Ri-siko für Patienten –, wundert sich, dass in deutschen Kli-niken nicht noch sehr viel mehr passiert. Da muss manwirklich sagen: Hut ab vor den Beschäftigten, die unterdiesem Druck und diesen Bedingungen noch so gute Ar-beit leisten!
Für kranke Menschen bedeutet ein Behandlungsfeh-ler in der Regel, dass ein schon vorhandenes Leiden ver-schlimmert wird oder neue Beschwerden hinzukommen.Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich hätte in einersolchen Situation nicht die Kraft, um mein Recht zukämpfen und nach dem Schuldigen zu suchen. Ichdenke, das geht den meisten Menschen genauso. Leiderist die Situation aber so: Wenn doch einmal etwas schief-geht, dann finden sich die Patientinnen und Patientenganz schnell am Ende der Nahrungskette wieder.
Da sind zunächst die Ärztinnen und Ärzte, die mauernund vertuschen. Das tun sie gar nicht bösartig. Vielmehrsind sie dazu in vielen Fällen vertraglich verpflichtet,entweder durch ihren Arbeitgeber oder durch ihre Haft-pflichtversicherung. Das ist doch ein Skandal. Daranmüssen wir dringend etwas ändern.
Dann erleben viele, dass ihre Krankenakten nichtrechtzeitig, nicht vollständig, nachträglich verändertoder überhaupt nicht herausgegeben werden. Das allesist zwar völlig rechtswidrig – das ist schon nach heuti-gem Recht illegal –, aber die Patientin oder der Patienthat keine Möglichkeit, das Recht auf die eigenen Aktenwirksam durchzusetzen.
Deswegen brauchen wir unbedingt spürbare Sanktionengegen Ärztinnen und Ärzte, die Unterlagen fälschenoder zurückhalten.
Ist es mir als Betroffener dann doch gelungen, die Aktenzu erhalten, muss ich auch noch selbst beweisen, dassich erstens falsch behandelt wurde und zweitens genaudiese falsche Behandlung die Ursache für meine neuenBeschwerden ist. Das fällt doch allen schwer, die wederMedizin studiert haben noch das nötige Kleingeld fürteure Gutachten besitzen. Deswegen brauchen wir drin-gend Erleichterungen bei der Beweisführung für die Pa-tientinnen und Patienten.
Wenn ich all diese Widrigkeiten überwunden habe,dann finde ich mich wieder in einem schier undurch-dringlichen Paragrafendschungel aus Zivilrecht, Sozial-recht, Strafrecht, Arzthaftungsrecht und Arzneimittel-recht, in dem sich selbst gestandene Juristinnen undJuristen verirren können, und das alles in einer Situation,in der ich ohnehin gesundheitlich und emotional belastetbin. Also fühle ich mich wieder hilflos, ohnmächtig undallein gelassen. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen,geht so nicht weiter.
Was wir brauchen, ist eine veränderte Perspektive.Der betroffene Mensch muss in den Mittelpunkt unsererÜberlegungen rücken. Er hat nämlich ein Recht darauf,dass ihm geholfen wird und dass alles getan wird, umsein zusätzliches Leid zu lindern, ohne dass er dafür vonPontius zu Pilatus laufen muss. Wir brauchen daher einPatientenrechtegesetz, das nicht nur die bisherigen Re-gelungen zusammenfasst, sondern die Patientinnen undPatienten wirklich in die Lage versetzt, ihre Rechtedurchzusetzen. Darin stimme ich Ihnen völlig zu, HerrZöller.
Das muss auch nicht etwa neue Bürokratie in den Pra-xen und Kliniken bedeuten, wie es der Deutsche Ärzte-tag befürchtet. Wenn wir eine Regelung schaffen, dieÄrztinnen und Ärzten ermöglicht, mit Fehlern offen um-zugehen und sich selbst um Schadensbegrenzung und
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4241
Kathrin Vogler
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Hilfe für die Betroffenen zu kümmern, dann haben letzt-lich alle etwas davon.
Es kann doch niemand wirklich wollen, dass langwierigeSchiedsverfahren geführt werden müssen, die nachdurchschnittlich 13 Monaten meistens ausgehen wie dasHornberger Schießen, oder dass sich der Arzt und derPatient in teuren Gerichtsverfahren gegenüberstehen, diedas dringend benötigte Vertrauensverhältnis vernichtenund an denen sich nur Anwaltskanzleien und Versiche-rungskonzerne eine goldene Nase verdienen. Deswegenfordern wir als Linke eine verschuldensunabhängigeEntschädigung. Es ist doch absurd, wie viel Energie,Zeit und Geld seitens der Ärzteschaft und ihrer Versiche-rungen darauf verschwendet werden, die Ansprüche derPatientinnen und Patienten juristisch abzuwehren, stattdieses Geld und diese Energie darin zu investieren, dasses den Betroffenen möglichst schnell wieder besser geht.
Auch von einem verpflichtenden Fehlerregisterkönnten alle Beteiligten profitieren; denn erst dann,wenn alle Behandlungsfehler systematisch dokumentiertwerden, kann man sehen, wo besondere Risiken liegenund wie man sie vermeiden kann. Aber hier knicken Sie,liebe Kolleginnen und Kollegen, mit Ihrem Antrag leiderwieder einmal vor der geballten Macht der Ärztelobbyein, wenn Sie statt einer Verpflichtung nicht mehr for-dern als die – ich zitiere – „Auflegung eines Programmszur Förderung von Risikomanagement- und Fehlermel-desystemen …“. Das ist ganz schön, aber das reicht hin-ten und vorne nicht. Ich bin der Auffassung, dass unsfreiwillige Vereinbarungen auf diesem Feld nicht weiter-helfen.
Freiwillig machen so etwas nämlich nur diejenigen mit,die sowieso besonders sorgfältig arbeiten und von sichaus einen hohen Anspruch an ihre eigene Qualität haben.Das ist so wie in der Schule: Die freiwilligen zusätzli-chen Hausaufgaben machen immer nur die Kinder, diekeine zusätzlichen Übungen brauchen. Also: Fehlerre-gister her, aber bitte verpflichtend!
Es zeugt auch nicht wirklich von Ihrem Realitätssinn,wenn Sie im Einleitungsteil Ihres Antrags erst einmalfeststellen, dass doch alles recht gut sei, und das alles aufIhre Regierungszeit zurückführen. Immerhin haben Siedas Amt des bzw. der Patientenbeauftragten geschaf-fen. Das klingt schön, bringt aber wenig Konkretes.Schließlich wird diese Person jeweils aus dem Kreis derRegierungskoalition gewählt und vertritt dementspre-chend auch deren Politik, auch gegenüber den Patientin-nen und Patienten.
Wie mir berichtet wurde, beklagte sich zum Beispiel einPatient vor einigen Jahren bei Ihrer damaligen Patienten-beauftragten Kühn-Mengel über die unsozialen Auswir-kungen von Praxisgebühr und Zuzahlungen. Als Ant-wort wurde ihm gesagt, er solle doch einmal nachÄgypten fahren und sich die dortige Situation an-schauen; dann würde er sehen, wie gut es uns doch hiergeht, auch den Leuten mit wenig Geld. So etwas ist docheinfach nur zynisch.
– Das ist kein Schreiben gewesen, das ist ein Telefonge-spräch mit einem Mitarbeiter gewesen. Ich kann Ihnendas aber schriftlich einreichen.Einer solchen „patientenfreundlichen“ Haltung willaber auch unser neuer Patientenbeauftragter, Herr Zöllervon der CSU, nicht nachstehen.
In der FAZ vom 30. November 2009 – das habe ich hiervorliegen; das kann ich Ihnen direkt zeigen – wird er mitden Worten zitiert, die Praxisgebühr könne abgeschafftwerden, da sich zu viele Patientinnen und Patienten da-von befreien lassen könnten und sie deshalb den Kran-kenkassen zu wenig Geld bringt. Ach so, würden alsomehr Patientinnen und Patienten öfter und mehr Praxis-gebühr zahlen, dann wäre der Patientenbeauftragte damitzufrieden? Dann könnte man sie beibehalten? Das isteine Vertretung von Patienteninteressen, über die mannur noch den Kopf schütteln kann.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, esist gut, dass Sie jetzt ein Patientenrechtegesetz fordern.Schade ist nur, dass Sie elf Jahre in der Regierung warenund nichts davon auf den Weg gebracht haben. Erst kurzvor der Bundestagswahl kam Ihre Arbeitsgruppe mit ei-nem Positionspapierchen zum Thema Patientenrechte,und erst jetzt, da Sie nichts mehr zu entscheiden haben,legen Sie einen Antrag vor. Für mich verstärkt das leiderden Eindruck, den ich von Ihrer Arbeit habe. Sie habenmanchmal wirklich gute Ideen, die ich nur unterstützenkann, aber sie werden nur dann in einem Antrag aufge-griffen, wenn Sie sicher sind, dass Sie diese ganz be-stimmt nicht durchsetzen können.
Ich hoffe nur, dass Hannelore Kraft in NRW das ganzanders macht, sonst wird sie nicht Ministerpräsidentin.
Das Wort hat nun Kollegin Christine Aschenberg-Dugnus von der FDP-Fraktion.
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4242 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Die christlich-liberale Koalition istsich einig, dass das Wohl der Patientinnen und Patientenim Mittelpunkt der medizinischen Versorgung steht.
Wir stehen für Patientensouveränität und Patienten-rechte. Genau so haben wir es in unserem gemeinsamenKoalitionsvertrag festgehalten, und auch in dieser Sacheziehen wir als Koalition gemeinsam mit dem Patienten-beauftragten an einem Strang.
Wir sind der Auffassung, dass die Versicherten in dieLage versetzt werden sollen, ihre Rechte gegenüberKrankenkassen und Leistungserbringern möglichstselbstständig wahrzunehmen. Aus diesem Grund plädie-ren wir für eine unabhängige Beratung von Patienten aufeiner soliden rechtlichen Grundlage, um sie bei derWahrnehmung ihrer Interessen zu unterstützen.
Meine Damen und Herren, wir wollen mehr Transpa-renz und Orientierung im Gesundheitswesen über Quali-tät, Leistung und Preis.
Die Patientenrechte wollen auch wir in einem Patien-tenrechtegesetz bündeln. Das werden wir in Zusam-menarbeit mit allen Beteiligten im Gesundheitswesen er-arbeiten. Der Patientenbeauftragte, Herr Zöller, hatbereits angekündigt, dass er gemeinsam mit Bundes-minister Rösler in parlamentarischen Gremien Vor-schläge machen wird, wie wir auf der Basis des Beste-henden die unabhängige Beratung weiterentwickeln.
Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen von der So-zialdemokratie, Ihr Antrag kommt daher leider zu spät;
denn die Koalition arbeitet bereits an der Sache. Ichkann Herrn Zöller nur beipflichten, wenn er sagt: Erstmit den Beteiligten reden und dann gut und richtig han-deln.
Der Patient hat einen hohen Stellenwert.
Doch wir dürfen auch die Leistungserbringer nicht ver-gessen,
die tagtäglich den Herausforderungen des Medizinerall-tags ausgesetzt sind. Eine Stärkung der Patientenrechteund eine Verbesserung der unabhängigen Patientenbera-tung dürfen nicht auf dem Prinzip des Misstrauens auf-gebaut werden. Das ist mir ganz wichtig.
Meine Damen und Herren, bevor wir über die kon-krete Ausgestaltung einer Gesetzesinitiative sprechen,sollten wir uns über etwas ganz Grundsätzliches einigwerden: Das deutsche Gesundheitswesen braucht einenMentalitätswandel.
Die Wiederherstellung von Vertrauen und Fairnessmuss für uns alle ganz oben stehen.
Ansonsten fressen Bürokratie, Misstrauen und überzo-gene Kontrollen unser Gesundheitssystem auf.
Wir werden deshalb Transparenz und Verständlichkeitfür Kosten und Leistungen verbessern. Die Kultur desMisstrauens muss ein Ende haben, und zwar primär zumWohle der Patientinnen und Patienten.
Mit dem Aufbau eines bundesweiten Verbundes re-gionaler Beratungsstellen wurde das Modellvorhaben„Unabhängige Patientenberatung“ erfolgreich umge-setzt. Als Schleswig-Holsteinerin kann ich Ihnen sagen,dass wir mit der Verbraucherzentrale in Kiel einen sehrguten Träger haben, der neutrale, professionelle und vorallen Dingen unabhängige Beratung zu gesundheitli-chen, medizinischen und rechtlichen Fragestellungenleistet. Das ist vorbildlich. Wir müssen dafür sorgen,dass das weitergeführt wird. An diesem Punkt müssenwir ansetzen und eine für alle Beteiligten gute Lösungerarbeiten.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, der Antragder SPD kann uns an einigen wenigen Stellen sogar hilf-reich sein; das muss ich sagen. Ich gestehe Ihnen zu: Indiesen sechs Seiten steckt wirklich sehr viel Fleiß.
Aber an den meisten Stellen überdrehen Sie doch merk-lich, zum Beispiel bei der Beweislastumkehr. Wir sinduns doch wohl darüber einig, dass wir bei uns inDeutschland keine amerikanischen Verhältnisse habenwollen.
An vielen Stellen wird Ihr Menschenbild deutlich, dassich von dem unsrigen unterscheidet;
da gebe ich Frau Volkmer recht. Sie leiten die durchausberechtigten Ansprüche der Patienten quasi aus der Op-ferrolle ab. Das wird aber den Menschen nicht gerecht;denn die Patienten sind per se eben nicht Opfer, Nörgler,Benachteiligte oder Geschädigte, deren schwache Posi-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4243
Christine Aschenberg-Dugnus
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tion gegenüber der mächtigen Ärztelobby verteidigt wer-den muss.Nein, meine Damen und Herren, Patienten und Ärztesind Partner.
Das ist so, und das muss auch so bleiben. Wir wollen densouveränen, aufgeklärten Patienten, der seine Rechtekennt und nutzt. Deshalb arbeiten wir an einer pragmati-schen Regelung zur Stärkung der unabhängigen Patien-tenberatung. Deshalb arbeiten wir an einer Wiederge-winnung größtmöglichen Vertrauens zwischen Arzt undPatient, zwischen Leistungserbringer und Leistungsemp-fänger. Was wir aber auf jeden Fall verhindern werden,ist der Aufbau weiterer Bürokratiemonster, die nieman-dem nützen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Maria Klein-Schmeink für die Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Ich bin sehr gespannt in dieseDebatte gegangen; denn im Vorfeld war relativ unklar,wie sich die verschiedenen Fraktionen hier positionierenwerden. Das ist deshalb erstaunlich, weil wir im Koali-tionsvertrag von CDU, CSU und FDP ein klares Be-kenntnis zur Schaffung eines Patientenschutzgesetzesfinden. Von der SPD sind bereits am Ende der letztenLegislatur Eckpunkte erarbeitet worden; jetzt liegt einbeachtlicher Antrag vor. Die linke Fraktion hat in ihremWahlprogramm keine einzige Aussage zu diesem Themagemacht; heute allerdings haben wir hier eine sehrschneidige und pointierte Rede zu den Patientenrechtengehört, in der die Interessenlagen Freund und Feind, Op-fer und Täter ganz klar zum Ausdruck gekommen sind.Insgesamt haben wir also eine erstaunliche Gemenge-lage, aus der wir allerdings den Schluss ziehen können:Um die Patientenrechte müsste es in Zukunft eigentlichgut bestellt sein; denn offenbar sind sich alle einig, dassman bei diesem Thema vorankommen muss.Diese Einigkeit scheint jedoch ein bisschen zu trügen,wie man feststellt, wenn man einmal genauer betrachtet,was hier gesagt worden ist. Es ist deutlich geworden,dass CDU/CSU und FDP auf einem sehr schmalen Gratder Einigung wandeln,
auf einer brüchigen Schneebrücke, die so wenig tragfä-hig ist, dass Herr Zöller große Mühe hat, darauf zu wan-deln.
Das kann man daran erkennen, dass jetzt kurzfristig eineRegelung für die Patientenberatungsstellen gefundenwerden muss. Auch das ist ein Thema, das im Koali-tionsvertrag festgeschrieben ist. Aber wir konnten auf ei-nem parlamentarischen Abend, der gestern stattgefundenhat, hören, dass man jetzt an irgendein Gesetz ganz kurz-fristig einen Satz anhängen will, um die Überführungdes Modellprojektes in die Regelversorgung zeitgerechterreichen und die Arbeit aufrechterhalten zu können.Das zeigt, wie wenig Unterstützung die Arbeit für denPatienten in dieser Koalition tatsächlich findet.
Ich will aber gleichzeitig ausdrücklich loben, wasHerr Zöller bislang auf den Weg gebracht hat. Man er-kennt Sorgfalt und Engagement. Aber der Rückhalt inIhren Reihen fehlt wie gesagt bei diesem Thema.
Sie werden diese Regelung nur ganz knapp hinbekom-men können.Der Rede von Frau Aschenberg konnte man auchdeutlich entnehmen, dass das Patientenrechtegesetzsehr schmalbrüstig daherkommen wird. Es wird wahr-scheinlich eine Minimalregelung geben, die das, was oh-nehin in bereits existierenden Sozialgesetzen steht, zu-sammenschreibt.
Es wird wohl keine Weiterentwicklung geben. Ich jeden-falls entnehme das Ihren Vorbehalten sehr deutlich.
Wer so vollmundig von den Patientenrechten und demsouveränen Patienten spricht, der muss sich auch an sei-nen Taten messen lassen. Da dürfen nicht nur Wahltarifegeschaffen werden, und es darf nicht nur von Eigenver-antwortung gesprochen werden, sondern es muss einereelle Basis geschaffen werden, damit diejenigen, dieden letzten und schwächsten Part haben, nämlich die Pa-tienten, in einer oftmals sehr schwierigen Situation dieMöglichkeit erhalten, ihre Rechte durchzusetzen. Daranwerden wir Sie messen.
Ich bin sicher, hier steht Ihnen noch eine große Aufgabebevor.
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4244 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Maria Anna Klein-Schmeink
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Jetzt will ich noch auf das Verfahren insgesamt zusprechen kommen. Ich muss sagen, dass die SPD einensehr ernst zu nehmenden Antrag vorgelegt hat.
Ich finde, dass sämtliche Aspekte, die zu beachten sind,darin gut aufgeführt sind. Aber an dem Antrag wird na-türlich auch deutlich, dass noch viel Arbeit auf uns war-tet. Es ist nämlich ziemlich komplex, ein Patientenrech-tegesetz auf den Weg zu bringen, das nicht hinter denStand, den die ständige Rechtsprechung den Versicher-ten und Patienten ermöglicht hat, zurückfällt.
Wir müssen dafür sorgen, dass auch in rechtlicher Hin-sicht ein geeignetes Forum geschaffen wird, um die Pa-tientenrechte zu stärken. Das wird Arbeit machen und ei-nen längeren Debattenprozess erfordern.Ich möchte Herrn Zöller bitten, das ganze Verfahrenein Stück weit zu öffnen und nicht den gleichen Fehlerwie die SPD-Patientenbeauftragte zu machen, die allesim stillen Kämmerlein vorbereitet,
die Gesellschaft nicht mitgenommen und auch die ande-ren Fraktionen nicht einbezogen hat.
Wir müssen eine offene Diskussion führen. Es ist not-wendig, die Stellung des Patienten in unserem Rechts-system transparenter und tragfähiger zu gestalten. Dassteht noch aus.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Frage: Was istderzeit eigentlich zu regeln? Man muss sagen, dass wirgerade im Hinblick auf die Opfer von Behandlungsfeh-lern derzeit eine nicht tragfähige Situation vorfinden.Erstens stellen wir fest: Die Datenlage ist ausgesprochenschlecht; das wird Ihnen allen aufgefallen sein. Zweitensstellen wir fest: Die Gerichtsverfahren dauern sehrlange. Wir haben enorme Mühe, unabhängige Gutachterzu finden. Wir haben enorme Mühe, die Rechte der Pa-tienten in einer Form durchzusetzen, durch die sicherge-stellt wird, dass sie nicht schon am Anfang, nämlich beider Dokumentation und beim Nachweis von Sachlagen,scheitern. Diese Situation können wir auf Dauer nichthinnehmen.Man muss sagen: Die Durchsetzung von Patienten-rechten gelingt bislang eigentlich nur den Gruppen, diedie Merkmale der großen Drei aufweisen: Sie sind ent-weder reich, rechtsschutzversichert oder risikofreudig.
Das darf heutzutage in einem modernen Rechtssystemnicht die Grundlage der Patientenrechte sein.
Gleichzeitig muss man feststellen: In den letzten zehnJahren sind in der Tat einige Fortschritte erzielt worden,die insbesondere durch die Grünen aktiv vorangetriebenwurden; Frau Volkmer hat vorhin schon einige Punkteangesprochen. Wir sind, auch was die Fehlerkultur be-trifft, schon seit 2004 auf einem guten Weg. Beispiels-weise haben wir Qualitätsmanagementprogramme aufden Weg gebracht.
Unsere Zeitpläne sind allerdings sehr lang. Bis heute ha-ben bestenfalls 20 Prozent der Krankenhäuser definitivQualitätsmanagementsysteme eingeführt. In allen an-deren Krankenhäusern fehlen diese weiteren Ausbaustu-fen noch. Hier muss natürlich noch einiges passieren.Wir müssen unseren Anstrengungen in diesem Bereichmehr Schubkraft verleihen, als es bislang der Fall war.Bis heute sind diese Maßnahmen nach wie vor derSelbstverwaltung überlassen. Wir müssen unsere Bemü-hungen auch in rechtlicher Hinsicht vorantreiben.
Zum Schluss will ich noch auf Folgendes hinweisen:Es kann sein, dass diese Woche eine gute Woche für diePatienten ist. Es ist möglich, dass die Absage an dieKommission zur Gesundheitsreform durch MinisterZöller – –
– Vielleicht wäre das derzeit die bessere Wahl. – UnterUmständen bedeutet die Absage an die Kommission zurGesundheitsreform durch Minister Rösler, dass Sie IhrePläne in Sachen Gesundheitsreform tatsächlich ad actalegen; das wäre ein guter erster Schritt. Der zweite guteSchritt wäre, wenn Sie den Bereich der Patientenbera-tungsstellen noch vor den Sommerferien in einem Ge-setz ordentlich regeln würden.
Drittens wäre es schön, wenn wir jetzt in eine wirklichkonstruktive und offene Diskussion über die Patienten-rechte eintreten würden.Danke schön.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4245
Maria Anna Klein-Schmeink
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Das Wort hat nun Kollege Erwin Rüddel von der
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-
ren! Ich möchte das Lob meiner Vorrednerin für den Pa-
tientenbeauftragten der Bundesregierung aufgreifen und
auch von meiner Seite ausdrücklich seine Arbeit loben
und ihm für die klare Positionierung für ein Patienten-
schutzgesetz danken.
Die christlich-liberale Koalition hat im Koalitionsver-
trag vereinbart, die Patientenrechte in einem eigenen
Patientenschutzgesetz zu bündeln. Der Patientenbeauf-
tragte hat dies bereits betont: Wir wollen dies in Zusam-
menarbeit mit allen Beteiligten im Gesundheitswesen
tun und im kommenden Jahr einen entsprechenden Ent-
wurf vorlegen.
Im Mittelpunkt unseres Gesundheitswesens muss das
Wohl der Patientinnen und Patienten stehen.
Die Versicherten sollten möglichst selbstständig ihre
Rechte gegenüber Kassen und Leistungserbringern
wahrnehmen können. Deshalb soll die unabhängige Be-
ratung der Patientinnen und Patienten verfestigt werden.
Das wichtigste Patientenrecht besteht im freien Zu-
gang zu medizinischen Leistungen, und zwar unabhän-
gig von Alter, Geschlecht, Abstammung und Einkom-
men. Freie Arztwahl und freie Krankenhauswahl sind
für eine vertrauensvolle Beziehung von Arzt und Patient
entscheidend. Wir wollen keine Bevormundung von Pa-
tienten, wir wollen keine Wartelisten. Wir wollen eine
qualitativ hochwertige Versorgung und keine Budgetie-
rung. Damit die Patienten ihr Recht auf freie Arztwahl
nutzen können, brauchen wir aber auch künftig ein flä-
chendeckendes Angebot medizinischer Leistungen. Des-
halb müssen wir uns darum kümmern, dass eine Unter-
versorgung besonders in ländlichen Gebieten verhindert
wird. Auch dabei geht es um ein Patientenrecht, das wir
keinesfalls vernachlässigen dürfen.
Im Versorgungsatlas Rheinland-Pfalz der KV Rhein-
land-Pfalz wird zum Beispiel ausgeführt, dass sich nur
4 Prozent der rheinland-pfälzischen Medizinstudentin-
nen und -studenten vorstellen können, in einer bestimm-
ten ländlichen Region des Landes tätig zu werden. Inso-
fern haben wir hier eine wichtige Aufgabe vor uns. Die
CDU/CSU-Fraktion hat hierzu ein entsprechendes Eck-
punktepapier vorgelegt. Wir werden das Problem lösen.
Wir brauchen vor allen Dingen mehr Transparenz bei
Leistungen und Preisen. Jeder Patient sollte wissen, was
seine Behandlung kostet und welche Leistungen der Arzt
oder das Krankenhaus mit den Kassen abrechnet.
Nur informierte Patienten sind mündige Patienten.
Deshalb wollen wir die unabhängige Beratung der Pa-
tientinnen und Patienten stärken und dazu das Modell-
vorhaben zur unabhängigen Verbraucher- und Pa-
tientenberatung verstetigen. Auch dies haben wir
bereits im Koalitionsvertrag festgelegt. Ehe die zweite
Modellphase der Unabhängigen Patientenberatung
Deutschland Ende dieses Jahres ausläuft, werden wir da-
her die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Weiter-
führung auf den Weg bringen. Wir werden den Patien-
tenbeauftragten bei dem, was er angekündigt hat,
unterstützen, sodass dies auf jeden Fall vor der Sommer-
pause umgesetzt werden kann. Dabei wollen wir aller-
dings ein Ausschreibungsverfahren nutzen, das auch an-
deren als den bisher Beteiligten die Chance gibt, sich an
diesem Verfahren zu beteiligen.
Beim Stichwort „Patientenrechte“ denken viele Men-
schen unwillkürlich an mögliche Behandlungsfehler.
Deshalb möchte ich auf einen Aspekt eingehen, den ich
für höchst bedeutsam halte.
Herr Kollege, gestatten Sie zuvor eine Zwischenfrage
der Kollegin Vogler von der Linksfraktion?
Bitte.
Herr Kollege Rüddel, Sie haben gerade eindrucksvoll
geschildert, was die Koalitionsfraktionen planen, um die
unabhängige Patientenberatung in Deutschland fortzu-
führen. Ist Ihnen bekannt und bewusst, dass eine Aus-
schreibung immer erhebliche Laufzeiten erfordert, um
wirklich fair zu sein? Ist Ihnen auch bewusst, dass die
existierenden Beratungsstellen an langfristige Arbeits-
und Mietverträge gebunden sind, dass wirklich ein gro-
ßer Zeitdruck besteht, wenn wir den Trägerorganisatio-
nen dieser Stellen und den Menschen, die dort arbeiten,
Gewissheit darüber geben wollen, ob sie in der nächsten
Ausschreibung zum Zuge kommen? Wie kann man nach
Ihrer Vorstellung dieses Dilemma überwinden? Sie ha-
ben sechs Monate lang nichts getan, und jetzt muss alles
auf einmal ganz schnell gehen. Ich muss sagen: Es über-
zeugt mich wirklich nicht.
Uns ist wichtig, dass wir die Patientenberatung stär-ken. Uns ist wichtig, dass die Kompetenz, die in diesenBeratungsstellen vorhanden ist, für die Patientenbera-tung gesichert wird.
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4246 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Erwin Rüddel
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Wir werden einen Weg finden, um diesen Menschen diePerspektive zu geben, dass die Patientenberatung ge-stärkt in das neue Jahr gehen wird. Dafür stehen wir.
Ich möchte auf das Themenfeld Behandlungsfehlerzurückkommen: Es darf uns in erster Linie nicht ummehr Bürokratie gehen, es darf uns auch nicht darum ge-hen, den Ruf nach dem Staatsanwalt zu fördern undmöglichst viele Patienten möglichst misstrauisch zu ma-chen, sondern es muss uns um eine neue Sicherheitskul-tur gehen. Das aber heißt vor allem: Fehler vermeidenund Fehlern vorbeugen. Ein wirkungsvolles Fehlerbe-richtssystem, ein Fehlermeldeprogramm, das rechtzei-tig auf Risiken hinweist und vermeidbare Fehler verhin-dert, dient den Patienten ungleich mehr und hilft ihnenviel wirkungsvoller als sämtliche Maßnahmen, um be-reits gemachte Fehler zu verfolgen und zu ahnden.
Mit anderen Worten: Es soll uns primär nicht um dieJagd nach vermeintlich oder tatsächlich Schuldigen ge-hen, sondern um die Vorbeugung und um die Verhinde-rung von Fehlern; denn Fehler, die gar nicht erst entste-hen, sind allemal besser als nachträgliche Streitigkeitenund Gerichtsverfahren.
Ich sehe sowohl im Klinikbereich als auch bei denHausarztpraxen sowie bei der Pflege und der Altenbe-treuung vielversprechende Ansätze, gerade solche Por-tale im Internet aufzubauen, die Risiken und Fehlermel-dungen registrieren, um andernorts genau solche Risikenund Fehler von vornherein auszuschließen. Der mög-lichst flächendeckende Ausbau dieser Netzwerke solltedeshalb ein zentraler Baustein eines künftigen Patienten-gesetzes sein.Ich will in diesem Zusammenhang ausdrücklich diePionierarbeit des „Aktionsbündnisses Patientensicher-heit“ hervorheben. Wenn wir es schaffen, Krankenhäuser,Ärzte, Pfleger und Altenbetreuung an ein wirkungsvollesMeldesystem anzubinden und so flächendeckende Risi-kovorbeugung zu betreiben, dann haben wir für die Pa-tientinnen und Patienten mehr erreicht als durch noch soausgeklügelte Sanktionsdrohungen.Auf der anderen Seite wollen wir die Stellung derOpfer eines Behandlungsfehlers wirkungsvoll stärken.Patientinnen und Patienten haben einen Anspruch da-rauf, in jeder Hinsicht auf Augenhöhe behandelt zu wer-den. Sie haben ein Recht darauf, dass Vorwürfe wegenBehandlungsfehlern in einem transparenten und zügigenVerfahren geklärt werden. Je komplexer und bürokrati-scher das Gesundheitswesen wird, desto eher ziehen dieVersicherten den Kürzeren. Lange Bearbeitungszeitenbei Widersprüchen und bei Gerichtsverfahren wegen desVerdachts auf Behandlungsfehler machen die Versicher-ten mürbe und gefährden – ganz unnötig – das Vertrauenin unser Gesundheitssystem, das im internationalen Ver-gleich unverändert als vorbildlich gelten darf. Hier wer-den wir mit dem Entwurf für ein Patientengesetz kon-krete Maßnahmen vorschlagen, um auch in diesemBereich mehr Klarheit und Transparenz zu schaffen undder möglichen Verunsicherung von Patientinnen und Pa-tienten entgegenzuwirken.
Dazu werden wir unter anderem ganz konkret überBeweiserleichterungen vor Gericht nachzudenken ha-ben. Um die Schwelle für Ratsuchende in solchen Fällenzu senken, könnte ich mir zum Beispiel vorstellen, dasswir eine zentrale bundesweite Rufnummer einrichten,über die sich Ratsuchende direkt mit dem für ihre Re-gion zuständigen Ansprechpartner in Verbindung setzenkönnen.
Über all diese Fragen werden wir in den kommendenMonaten intensiv zu beraten haben. Wenn ich mir denvorliegenden SPD-Antrag anschaue, komme ich nichtumhin, die Kolleginnen und Kollegen davor zu warnen,das gemeinsame Vorhaben eines Patientengesetzes mitDingen zu überfrachten, die im Ergebnis nur zu weitererBürokratisierung oder gar zu Lähmungserscheinungenim Gesundheitswesen führen.
Es sollte uns in erster Linie darum gehen, die Interes-sen aller Beteiligten zu einem möglichst gerechten Aus-gleich zu führen. Deshalb sollten wir auch tunlichst ohneideologische Scheuklappen versuchen, gemeinsam dieRechte der Patientinnen und Patienten zu stärken undunser Gesundheitssystem damit noch besser und nochtransparenter zu machen.
Das Wort hat nun Karl Lauterbach für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Zunächst muss ich hier noch einmal auf die Vor-gängerin von Herrn Zöller im Amt des Patientenbeauf-tragten zu sprechen kommen, Frau Kühn-Mengel. Alldas, was Frau Klein-Schmeink sagte, ist bis auf eine Ein-schränkung richtig gewesen: Frau Kühn-Mengel hat im-mer versucht, im System die Betroffenen in die Gesprä-che mit einzubinden. Sie hat keine Politik hinterverschlossenen Türen gemacht. Ich kenne sie sehr gut.Sie hat mit allen diskutiert, im Übrigen auch mit Mitglie-dern der Fraktion der Grünen. Sie ist nicht gescheitert,weil ihr der Rückhalt in den eigenen Reihen fehlte, Herr
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4247
Dr. Karl Lauterbach
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Zöller, sondern ihr fehlte damals der Rückhalt in der Re-gierung,
bei der Union, genau wie Ihnen jetzt der Rückhalt fehlt.So verhält es sich.
Vorhaben sind damals nicht an Ihnen gescheitert, HerrZöller. Wir kennen uns gut, ich habe Ihre Arbeit immergeschätzt. Aber Sie sehen doch jetzt selbst, wohin dieReise geht. Sie haben es gerade beim Vorredner wiederhören können: Es wird vor Sanktionen gewarnt, es fälltder Begriff „Bürokratie“. Von der Kollegin von der FDPwird zwar gesagt, der Patient sei der Partner, aber seienwir doch ehrlich miteinander: Was ist denn der Patientfür die FDP? Für die FDP ist der Patient – das wissen Siedoch so gut wie ich – der Kunde; der Facharzt und derApotheker dagegen sind die eigentlichen Partner.
– So ist es aber. – Von daher ist es auch zu verstehen,dass Herr Winn die FDP daran erinnert, dass sie 2 Pro-zentpunkte ihres Wahlergebnisses bei der Bundestags-wahl den Fachärzten verdankt. Somit ist doch klar: Vondiesen werden Ihnen die Preise diktiert und wird Ihnenvorgegeben, wie weit Sie bei der Durchsetzung der Pa-tientenrechte gehen dürfen.
Die FDP wollte doch sogar auf einem Parteitag eine Ein-kommensgarantie für Fachärzte beschließen.
Vom Patienten war da keine Rede.Herr Zöller, bei allem Respekt: Sie sagen, Sie hättenfür dieses wichtige Thema Rückhalt von der Regierungs-bank. Ja, Herr Zöller, wo ist denn der Minister heute beider Debatte über dieses wichtige Thema? Er ist nichteinmal da. Die Wahrheit ist doch, dass sich das der Mi-nister gar nicht anhört.
– Ich weiß, dass Sie das nicht gerne hören. – Frau Minis-terin Schavan hat sich löblicherweise für diese Diskus-sion interessiert. Aber sind wir doch ehrlich: Für den Mi-nister ist dieses Thema nicht wichtig genug. Da wir nurüber die Patientenrechte und nicht über Kopfpauschalesprechen, kommt der Minister nicht. So sieht die Priori-sierung aus, wie wir sie mittlerweile kennengelernt ha-ben.
Herr Zöller, rufen Sie sich einmal in Erinnerung: Werwar denn damals dagegen, das Amt, das Sie heute be-kleiden, überhaupt einzurichten? Die FDP hat doch da-mals davor gewarnt, einen Patientenbeauftragten zu be-nennen. Das Amt, das Sie jetzt bekleiden, gäbe es garnicht, wenn die FDP schon damals regiert hätte. Es ge-hört zur Ehrlichkeit, hier einmal festzuhalten, dass dieFDP alles unternommen hat, damit dieses Amt erst garnicht eingerichtet wird.
Seien Sie gewiss: Wenn Ihnen hier etwas gelingt, wirddie Umsetzung an uns nicht scheitern. Wir werden Siebei allem, was Sie tun, unterstützen.
Es ist auch richtig, hier Richterrecht – die Materie istja tückisch – in Bundesrecht zu gießen. Diese Rechtssi-cherheit zu schaffen, hat einen hohen Wert, da gebe ichIhnen recht. Aber ich möchte Sie daran erinnern: ZumSchluss wird es daran scheitern, dass Ihnen – wie damalsFrau Kühn-Mengel der Rückhalt in der Union fehlte –der Rückhalt in den eigenen Reihen und insbesonderebei der FDP einschließlich des Ministers fehlt.
Ihre Rede hat mich in diesem Glauben noch einmalbestärkt. Von Ihnen ist kein einziger konkreter Vorschlaggekommen, wie man die Patientenrechte umsetzenkönnte.
Ihre Rede war der Beweis dafür.
Ich komme zum Schluss.
Ich kann es Ihnen nicht ersparen, noch einmal auf dasvon Ihnen nicht gern gehörte Thema Kopfpauschale zukommen.
Ich weiß, dass Sie darauf gewartet haben. Wir könnendankbar sein, dass Sie heute überhaupt hier sein können,normalerweise hätte die Regierungskommission getagt,
aber sie ist mit der abenteuerlichen Begründung abge-sagt worden, Herr Singhammer, dass die Vorschläge sokonkret wären, dass man es sich nicht leisten könne,diese konkreten Vorschläge durch Indiskretion in derKommission der Öffentlichkeit zuzuführen. Das ist ab-surd.
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4248 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Dr. Karl Lauterbach
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Wer hat hier im Haus schon einmal eine blödere Argu-mentation gehört? Der Pressesprecher, Herr Lipicki, istzugegen. Was bedeutet das? Hat der Minister nicht dieAutorität, für Vertraulichkeit zu sorgen, oder sind dieVorschläge so schlecht, dass sie der Öffentlichkeit nichtzugemutet werden können?
Meine profane Vermutung ist: Der Minister hat nichts.Er steht mit blanken Händen da und hält stur an derKopfpauschale fest.
Am Ende wird es der Kopfpauschale so gehen wie derSteuersenkung: Sie wird in einem Nebensatz der Bun-deskanzlerin versenkt werden.
Das Wort hat nun Dr. Erwin Lotter für die FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Lieber Herr Kollege
Lauterbach, im Gegensatz zu Ihnen werde ich nicht über
die Kopfpauschale sprechen,
sondern über Ihren Antrag zum Patientenschutzgesetz.
Niemand bestreitet ernsthaft die Notwendigkeit eines
Patientenschutzgesetzes. Die Regierungsparteien haben
sich im Koalitionsvertrag für die Einführung ausgespro-
chen;
denn die bisher zersplitterten Regelungen sollen gebün-
delt werden, um es den Patienten leichter zu machen,
ihre Rechte zu erkennen und auszuüben.
Manche Forderungen des Antrags, den wir heute de-
battieren, sind schon längst anerkannt oder nicht wirklich
ernsthaft streitig. Das gilt vor allem für die Zusammen-
fassung von Regelungen, die heute auf Haftungsrecht,
Sozialversicherungsrecht und ärztliches Berufsrecht ver-
teilt sind. Das gilt auch für den Vorschlag eines besseren
Fehlermeldesystems, das auch sogenannte Beinahefehler
einschließt. Dabei ist jedoch entscheidend, dass das Sys-
tem Anonymität wahrt und nicht zu weiterer Bürokratie
führt; denn das Meldesystem wird nur dann Erfolg ha-
ben, wenn es Mediziner oder Menschen in Heilberufen
motiviert, an ihm mitzuarbeiten.
Fehlermanagement muss freiwillig und sanktionsfrei
bleiben, damit Klinikärzte und niedergelassene Ärzte in
der erforderlichen Weise mitwirken. Wir dürfen nicht
vergessen: Die Zahl der Behandlungsfehler bewegt sich
im Promillebereich. Durch ein umfassendes Register für
den stationären wie den ambulanten Sektor wäre es ein-
facher, die Anzahl der Fälle festzustellen, die Bereiche
zu benennen, in denen sie am häufigsten vorkommen,
und Gerichten und Schiedsstellen dabei zu helfen, mehr
Transparenz in ihre Entscheidungen zu bringen.
Rechte von Patienten sind allerdings weniger durch
die Ärzteschaft gefährdet als durch die zunehmende Bü-
rokratisierung und Reglementierung ärztlicher Leis-
tungen.
Bei uns, Frau Vogler, stehen Patienten nicht am Ende der
Nahrungskette,
sondern bei uns sind Ärzte und Patienten Partner; denn
die einen wollen gesund werden und die anderen wollen
ihnen dabei nach bestem Wissen und Gewissen zur Seite
stehen.
– Da ist eine Zwischenfrage.
Bitte schön.
Sie haben vorhin vor der zunehmenden Bürokratie
gewarnt. Stimmen Sie mit mir überein, dass ein großes
Hindernis für die Opfer von Behandlungsfehlern dann
besteht, wenn die ärztliche Dokumentation von Fällen
nicht wirklich vollständig ist, sodass sich da einiges ver-
bessern muss, was ja, je nachdem, wie Sie Bürokratie
beschreiben, dazu führt, dass die Dokumentationspflich-
ten natürlich ausgeweitet werden müssen?
Liebe Frau Kollegin Klein-Schmeink, es ist ja schonheute so geregelt, dass dann, wenn Dokumentation nichtvorliegt oder unvollständig ist, eine Beweislastumkehreintritt. Wenn Sie im Gesundheitsbereich tätig wären,dann wüssten Sie, dass man heute mehr Zeit damit ver-bringt, zu dokumentieren, Zettel auszufüllen, als sichdem Patienten zu widmen.
Fachgerechte Behandlung nach dem jüngsten Standder medizinischen Erkenntnis ist für mich als Arzt
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4249
Dr. Erwin Lotter
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ebenso selbstverständlich wie für meine Patienten. Ent-scheidend sind offene Gespräche zwischen allen Betei-ligten und Transparenz. Ein Patientenschutzgesetz, dasein modernes Arzt-Patienten-Verhältnis fördert und zuAufklärung und Ehrlichkeit auf beiden Seiten motiviert,wäre schon ein großer Schritt in die richtige Richtung.Lassen Sie mich jetzt einige Aspekte des SPD-Antra-ges aufgreifen, denn in einigen Punkten schießt er überdas Ziel hinaus.Die Stärkung der Opfer von Behandlungsfehlern istfraglos ein entscheidendes Anliegen im Patientenschutz.Im Bereich der groben Behandlungsfehler gibt es bereitsBeweiserleichterungen zugunsten der Patienten. Im Be-reich sonstiger Behandlungsfehler können jedoch nichtalle Fälle über einen Kamm geschoren werden. Hiersollte in jedem Einzelfall über die Beweislage entschie-den werden.In diesem Zusammenhang warne ich noch einmal voreiner übermäßigen Bürokratie durch noch weiter aus-ufernde Dokumentationspflichten. Selbstverständlichmüssen die derzeitigen Vorschriften in Kliniken und Pri-vatpraxen erfüllt werden. Deren Ausweitung kann je-doch auch nicht im Sinne der Patienten sein. Eine effi-ziente und zeitintensive Behandlung wird leiden, wennzu den aktuellen Aufbewahrungs- und Berichtspflichtennoch weitere Anforderungen hinzukommen. Zusätzli-che Dokumentationspflichten sind im Bereich der Pa-tientenrechte fehl am Platz.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Volkmer?
Ja.
Ich frage Sie, an welcher Stelle Sie gelesen haben,
dass Dokumentationspflichten ausgeweitet werden sol-
len.
Letztendlich wollen Sie auf alles
noch eines draufsetzen. Sie wollen eine umlagefinan-
zierte Versicherung, um die Behandlung solcher Be-
handlungsfehler finanzieren zu können, obwohl das alles
schon durch die Arzthaftpflicht geklärt ist. Das alles be-
deutet Organisation und Verwaltung. Sie wollen einen
Fonds einrichten, aus dem die Behandlung von Behand-
lungsfehlern finanziert werden soll. Das ist doch alles
mit Verwaltung, Aufwand und Bürokratie verbunden.
Ihr Antrag geht ja in die richtige Richtung. Das Problem
ist aber, dass Sie überall noch etwas draufsetzen und das
Ganze erschweren, verkomplizieren und verteuern.
Die SPD fordert des Weiteren mehr kollektive Betei-
ligungsrechte der Patienten in Bundes- und Landesgre-
mien. Hier ist Vorsicht geboten. Über ein Stimmrecht in
Verfahrensfragen könnte man reden. Ein volles Mitbe-
stimmungsrecht kann aber nicht für alle Gremien verfügt
werden, da hier ein spezielles und besonderes Fachwis-
sen notwendig ist. Es führt zu nichts, wenn Ärzte und
Heilberufe durch eine grundsätzlich sinnvolle Patienten-
beteiligung unter Druck geraten und sich ein höherer
Aufwand in der Verwaltung einstellt.
Ich betone nochmals: Kooperation, Transparenz und
die Schaffung von Vertrauen sind die Gebote der Stunde.
Dann wird ein Patientenschutzgesetz seinen Zweck er-
füllen und die Situation der Patientinnen und Patienten
weiter verbessern.
Das Wort hat nun Elke Ferner für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen! Ichmuss sagen: Die Rede von Herrn Kollegen Zöller hatmich ein Stück weit enttäuscht. Wenn sich jemand wieHerr Zöller, der schon sehr lange in der Gesundheitspoli-tik unterwegs ist bzw. diese macht – ich habe seine Sach-kenntnis in den letzten vier Jahren in der Großen Koali-tion kennen und schätzen gelernt –, dahinter versteckt,dass man erst einmal noch alles erfahren müsse, alleseruieren müsse, um Zeit zu gewinnen und erst im nächs-ten Jahr etwas vorzulegen, ist das ein bisschen dürftig;das muss ich ganz ehrlich sagen.
Es ist dürftig, weil viele von uns in ihren Sprechstun-den mit den Bürgerinnen und Bürgern immer wieder vonentsprechenden Fällen erfahren; diese werden dem Pa-tientenbeauftragten in vielfacher Weise, aber auch unsvorgetragen. Wir kennen die größten Problemlagen;nicht alle, aber die größten. Herr Zöller hat das auch inden Punkten, die er konkret benannt hat, deutlich ge-macht. Er scheint ja doch zu wissen, wo es mangelt undwohin man muss. Das zeigt mir hinsichtlich dieser Ko-alition wieder einmal: Im Koalitionsvertrag steht einewunderbare Passage, aber wenn es darum geht, diese mitLeben zu füllen und konkret zu machen, gibt es das übli-che Geeiere, dann besteht keine Einigkeit. Um die Unei-nigkeit zu übertünchen,
versucht man, Zeit zu gewinnen. Das machen Sie schondie ganze Zeit zur Maxime Ihrer Gesundheitspolitik,nicht nur im Bereich der Patientenrechte, sondern in al-len Bereichen.
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4250 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Elke Ferner
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Das drückt sich auch darin aus, dass innerhalb vonacht Monaten bisher noch kaum eine Initiative aus demGesundheitsministerium gekommen ist.
Wir haben jetzt Eckpunkte zum Thema Arzneimittel ge-sehen. Eckpunkte für die Kopfpauschale waren fürheute angekündigt. Offenbar ist der Minister von höchs-ter Stelle zurückgepfiffen worden. Die Kommission, dieeingesetzt worden ist, ist zur Farce geworden. Ich kannjedes Mitglied, das sich der Kommission noch zugehörigfühlt, nur bedauern. Ich kann allen empfehlen, sie zuverlassen; denn zu entscheiden hat diese Kommissionsowieso nichts.
Die Tatsache, dass ein Konzept ganz dicht nach dem9. Mai 2010 plötzlich fertig ist, zeigt, dass man offenbarwieder eines im Sinn hatte: über den 9. Mai zu kommen.Jetzt hat die FDP ein desaströses Wahlergebnis bekom-men.
Die Union scheint sich jetzt allmählich Gedanken zu ma-chen. In dieser Woche war nachzulesen, dass HerrSinghammer darauf hingewiesen hat, dass es in ersterLinie darauf ankommt, sich die Ausgaben noch einmalanzuschauen, bevor man ein Kopfpauschalensystem eta-bliert, das weder finanzierbar noch gerecht ist und vorallen Dingen, wenn man das Stichwort Bürokratie zuratezieht, alles andere als unbürokratisch ist.
– Eines ist sicher, Frau Flach: Schwarz-Gelb ist in Nord-rhein-Westfalen mit Karacho abgewählt worden. Werdas noch nicht erkannt hat, hat Tomaten auf den Augen.
Ich möchte noch etwas zur Unabhängigen Patien-tenberatung sagen. Es ist gut, dass es sie gibt, und es istgut, dass sie fortgeführt wird. Ich kann jetzt nur davorwarnen – es heißt, dass noch vor der Sommerpause ver-bindliche und verlässliche Klarheit darüber geschaffenwerden soll, dass die Unabhängige Patientenberatungweitergeführt wird; wir unterstützen das –, das Themamit irgendwelchen Ausschreibungen zu befrachten;diese halte ich persönlich für nicht notwendig. Dennwelchen Sinn hat eine Ausschreibung, wenn dadurchbewährte Trägerschaften mit bewährten und erfahrenenBeraterinnen und Beratern – bei mir in Saarbrückenmacht die Verbraucherzentrale zusammen mit dem VdKdiese Beratung – in noch größere Unsicherheit getriebenwerden? Ich sehe überhaupt nicht, dass eine Ausschrei-bung erforderlich ist. Es geht schließlich nicht um ir-gendwelche Profitorganisationen, sondern es geht umBeratungsstellen. Insofern rate ich Ihnen: Machen Sielieber noch einmal eine Übergangsregelung, die dazuführt, dass die Berater und Beraterinnen die Sicherheithaben, über das Jahresende hinaus in den Beratungsstel-len arbeiten zu können. Machen Sie lieber im zweitenGang noch einmal die Diskussion darüber auf, was nochergänzt werden muss, und darüber, ob eine Ausschrei-bung notwendig ist oder nicht.Ich glaube, dass wir eine gute Diskussionsgrundlagefür ein Patientenrechtegesetz geliefert haben. Bei unsstehen die Patienten und Patientinnen im Mittelpunkt.Das bedeutet, dass man ihnen zu ihrem Recht verhelfenmuss. Zur Not – das sage ich hier auch – muss die Doku-mentation vollständiger sein als heute; denn es kann jawohl nicht sein, dass die Patientinnen und Patienten, dieschlecht behandelt worden sind, es in Zukunft nochschwerer haben, zu ihrem Recht zu kommen, weil Ihnender Bürokratieabbau wichtiger ist.Zum Abschluss gestatten Sie mir bitte noch eine Be-merkung: Bei allen Schwierigkeiten, die viele im Ge-sundheitswesen haben, ist festzustellen: Die überwie-gende Zahl der Ärztinnen und Ärzte, die überwiegendeZahl der Krankenpfleger und der Krankenschwestern so-wie der anderen Leistungserbringer macht einen tollenJob. Sie engagieren sich sehr für die Patienten und sor-gen dafür, dass es ihnen besser geht und sie gesunden.
Trotzdem müssen wir zu einer anderen Einstellungkommen, wenn es darum geht, über Fehler offen redenzu können und sie offenzulegen;
denn vielfach brauchen die Angehörigen von Patienten,die durch einen Behandlungsfehler verstorben sind,nicht mehr als Gewissheit, vielfach nicht mehr als eineEntschuldigung. Dass Menschen Fehler machen, wissenalle.
Insofern wären wir, glaube ich, gut beraten, das Themaernst zu nehmen, zügig voranzubringen und nicht, wieoffenbar geplant, auf die lange Bank zu schieben.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Rudolf Henke für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wir befassen uns in dieser17. Legislaturperiode heute erstmals in einer Plenarsit-zung ausführlich und im Rahmen eines gesonderten Ta-gesordnungspunktes mit dem Thema Patientenrechte.Die Partner der christlich-liberalen Koalition, CDU/CSUund FDP, wollen die Patientenrechte in einem eigenenGesetz bündeln und dieses Gesetz in Zusammenarbeitmit allen am Gesundheitswesen Beteiligten erarbeiten.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4251
Rudolf Henke
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Der Patientenbeauftragte, Wolfgang Zöller, hat vorhinseine Ankündigung wiederholt, dass wir seine Eck-punkte
für ein Patientenrechtegesetz bis Ende 2010 erwartenkönnen.Es ist deshalb gut, wenn wir uns über den Stand derDinge austauschen und über den Handlungsbedarf, denwir sehen, sprechen. Aber wir sollten dabei nicht mitzweierlei Maß messen. Frau Ferner, ich finde, es ist mitzweierlei Maß gemessen, wenn Sie Zeitverzögerungenbeklagen – Sie werfen Herrn Zöller sein Bemühen vor,auf Grundlage einer sorgfältigen Debatte, die notwendigist, im Rahmen eines sehr ehrgeizigen Zeitplans zu ei-nem Gesetzentwurf zu kommen –, da sie selbst in dervorletzten Legislaturperiode, als Rot-Grün regiert hat,Ihr Vorhaben, einen entsprechenden Gesetzentwurf zuverabschieden, aufgegeben haben. Sie haben damals ge-sagt: Wir erarbeiten eine Patientencharta. Das war eineInitiative von Frau Schmidt und Frau Däubler-Gmelin.Es steht Ihnen ja frei, dem heute zu widersprechen undIhre Meinung um 180 Grad zu drehen, aber dann solltenSie die Untätigkeit, die Sie damals an den Tag gelegt ha-ben, nicht anderen vorwerfen.
Das Gleiche gilt doch auch für die letzte Legislatur-periode. Sie haben davon gesprochen, wie viel FrauKühn-Mengel erarbeitet hat. Aber, verehrte Frau Ferner,verehrter Herr Lauterbach, es ist doch nicht so, dass dieSPD diese Eckpunkte, die Konklusion aus der Arbeitvon Frau Kühn-Mengel, in der letzten Legislaturperiodezu irgendeinem Zeitpunkt in den Meinungsbildungspro-zess der Koalition eingespeist hat. Von Ihnen hat es inder letzten Legislaturperiode keinen Vorschlag für einPatientenrechtegesetz gegeben, keine Aufforderung andie CDU/CSU, darüber konkret zu debattieren.
Deswegen finde ich, dass Sie mit zweierlei Maß messen,wenn Sie jetzt Kritik daran üben, wie die Koalition vor-geht.Ich finde es übrigens auch nicht korrekt, wie Sie mitMinister Rösler umgehen. Nach meinem Kenntnisstand– ich habe mich erkundigt – ist Minister Rösler heute beieiner Veranstaltung des Deutschen Bundestages, wo erüber die Gesundheit junger Menschen diskutiert, einThema, das er mit Recht ernst nimmt.
Auch dieses Thema hat viel mit Patientenrechten zu tun.
Da sollte man nicht so beckmesserisch auftreten, wie Siedas tun.Eine korrekte ärztliche Berufsausübung verlangt vonuns Ärztinnen und Ärzten – Sie wissen, dass ich zu die-ser Profession gehöre –, dass wir beim Umgang mit Pa-tientinnen und Patienten deren Würde und ihr Selbstbe-stimmungsrecht respektieren, ihre Privatsphäre achten,über die beabsichtigte Diagnostik und Therapie – gege-benenfalls über Alternativen – und über die Beurteilungihres Gesundheitszustandes in einer für die Patientinnenund Patienten verständlichen, angemessenen Sprache in-formieren und insbesondere das Recht respektieren,empfohlene Untersuchungs- und Behandlungsmaßnah-men abzulehnen,
dass wir Rücksicht auf die Situation der Patientinnenund Patienten nehmen, dass wir bei Meinungsverschie-denheiten sachlich und korrekt bleiben, dass wir Mittei-lungen der Patientinnen und Patienten die gebührendeAufmerksamkeit entgegenbringen und Kritik der Patien-ten sachlich begegnen.Die Übernahme und Durchführung der Behandlungerfordert die gewissenhafte Ausführung der gebotenenmedizinischen Maßnahmen nach den Regeln der ärztli-chen Kunst. Dazu gehört, dass wir, wenn die eigeneKompetenz zur Lösung der Aufgabe nicht ausreicht,rechtzeitig andere Ärztinnen und Ärzte hinzuziehen bzw.die Patientin oder den Patienten zur Fortsetzung der Be-handlung rechtzeitig an andere Ärztinnen und Ärzteüberweisen, dass wir dem Wunsch von Patientinnen undPatienten nach Einholung einer zweiten Meinung ent-sprechen und dass wir die Berichte, die die mit- oderweiterbehandelnden Ärztinnen und Ärzte brauchen, zeit-gerecht erstellen.Diese Grundsätze ärztlicher Berufsausübung sind Teilder Berufsordnungen, die die Landesärztekammern alsuntergesetzliches Recht auf der Grundlage des Heilbe-rufsrechts der jeweiligen Bundesländer beschlossen ha-ben; sie sind für die Ärztinnen und Ärzte verbindlich.Wir alle wünschen uns, dass diese Grundsätze nicht nurfür den Umgang zwischen Ärzten und Patienten gelten,sondern in entsprechender Form auch die anderen Be-rufe, Dienste und Einrichtungen binden, die für Patien-tinnen und Patienten tätig sind.Ich will noch einmal auf das Modell der partner-schaftlichen Kooperation zurückkommen, das ebenschon von der FDP-Fraktion angesprochen worden ist.Die Frage war: Was für eine Partnerschaft soll das sein?Prominente Autoren wie der Kölner Rechtswissenschaft-ler Professor Katzenmeier sprechen im Zusammenhangmit der Arzt-Patienten-Beziehung von einem therapeuti-schen Arbeitsbündnis. Richtig: Das Selbstbestimmungs-recht des Patienten verlangt vom Arzt, den Kranken anden Entscheidungsprozessen – so schwierig das ist – zubeteiligen. Er hat sich mit dem Patienten über Krankheitund Behandlung zu verständigen. Das führt dazu, dassnicht ein von außen diktierter Behandlungsstandard voll-zogen wird – gewissermaßen ohne innere Begegnung –,sondern dass in persönlicher ärztlicher Unabhängigkeiteine individuelle Begegnung und Behandlung stattfin-det, bei der, wie Katzenmeier es ausdrückt, die Werte-welt des Gegenübers Beachtung und Eingang findet.Eine solche echte Partnerschaft setzt voraus, dassnicht einseitig Pflichten auf einer Seite gesehen werden,
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4252 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Rudolf Henke
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sondern dass ein gemeinsames Anliegen definiert wird.Ärzte und Patienten haben ein gemeinsames Anliegen.Deswegen ist – das finde ich jedenfalls – von dem Pa-tienten zu erwarten, dass er Heilung nicht in einer Kon-sumentenhaltung als zu liefernde Reparaturleistung er-wartet, nach dem Motto – Verbraucherkontext –: Ich binder Kunde. Der Patient hat auch selbst Verantwortungfür seine Gesundheit und Gesundung. Der Arzt hat einRecht darauf – zumindest ein Anrecht –, dass der Patientdiese Haltung als seine Pflicht begreift.Übrigens hat auch die Solidargemeinschaft einen An-spruch darauf, dass der Patient dieses Mitwirken alsseine Pflicht begreift, und das ist auch im Sozialgesetz-buch so geregelt.
Herr Präsident, wenn Sie mögen, wäre ich, falls FrauKlein-Schmeink fragen möchte, bereit, zu antworten.
Wenn Sie mich schon so herzlich dazu einladen, dann
bin ich allergnädigst bereit, das zuzulassen. – Bitte
schön.
Ich bedanke mich sehr.
Da habe ich ja Glück. – Herr Henke, ich möchte Sie
fragen: Ist es so, dass Sie in einem Patientenrechtegesetz
tatsächlich die Pflichten eines Patienten zur Mitwirkung
an einer Behandlung formulieren wollen?
Ich bin hocherstaunt darüber, was Sie hier vorhaben
und worüber Sie jetzt gerade reden,
weil ich gedacht habe, dass wir hier im Saal bislang da-
rüber geredet haben, wie wir den Patienten innerhalb
dieses Verhältnisses stärker machen können. Sie reden
jetzt ja mehr darüber, welche Pflichten Sie ihm auch
noch auferlegen wollen.
Erstens gibt es keine Rechte ohne Pflichten.
Zweitens sprechen wir ja, Frau Klein-Schmeink, über
den Antrag der SPD-Fraktion. In diesem Antrag der
SPD-Fraktion findet sich manches Richtige, etwa die
Aussage:
Die rechtlichen Rahmenbedingungen für den
Schutz von Patientinnen und Patienten in Deutsch-
land sind im internationalen Vergleich gut.
Richtig ist auch diese Aussage:
Das deutsche Arzthaftungsrecht ist verglichen mit
anderen Ländern patientenfreundlich.
Daneben findet sich aber auch folgende Aussage: Wir
möchte gerne, dass wir über eine vielleicht nicht ganz
vollständige, aber doch über eine Beweislastumkehr re-
den.
Bei der Erörterung der Beweislastumkehr, ist, so
finde ich, der Charakter des Arzt-Patienten-Verhältnisses
ein sehr wesentlicher Punkt. Wir können die Frage, ob
die Beweislastumkehr richtig oder falsch ist, nicht beant-
worten, ohne uns über den Charakter des Arzt-Patienten-
Verhältnisses Aufschluss gegeben zu haben; denn eine
defensive Medizin, bei der zur Vermeidung von Haf-
tungsansprüchen darauf verzichtet wird, dringend not-
wendige Operationen oder dringend notwendige Ein-
griffe durchzuführen, sondern erst einmal abgewartet
wird, auch wenn der Eingriff für den Patienten sinnvoll
wäre, kann ja in niemandes Interesse liegen, weder in
dem des Patienten noch in dem des Arztes. Deswegen
glaube ich, dass dieses therapeutische Arbeitsbündnis,
von dem ich ja schon sprach, notwendig ist.
Ich leite aus dem Leitbild des therapeutischen Ar-
beitsbündnisses ab, dass wir mit der Beweislastumkehr
in solchen Fällen sehr zurückhaltend sein müssen, in de-
nen der Arzt notwendigerweise, wenn er den Patienten
schonend versorgt, kaum in der Lage sein wird, Beweise
dafür anzutreten, dass er nicht schuldhaft einen er-
wünschten Erfolg nicht geliefert hat.
Ich finde, das muss man en détail diskutieren. Man
kann es sich hier nicht ganz so einfach machen wie die
SPD in ihrem Antrag. Das war der Grund dafür.
Möchten Sie eine weitere Zwischenfrage beantwor-
ten, Herr Kollege?
Ja, von mir aus – wenn es Herr Lauterbach ist, dann
gerne.
Sie haben eben hinsichtlich der Verträge der Bundes-
ärztekammer und der Landesärztekammern eloquent
vorgetragen, und Sie haben vorgetragen, wie Sie sich – –
Nicht Verträge.
Ja, die Abmachungen bzw. die Vereinbarungen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4253
(C)
(B)
Nein, es geht um die Berufsordnung. Das ist unterge-
setzliches Recht, das von den Aufsichtsbehörden der
Bundesländer genehmigt und auf der Basis von Heilbe-
rufsgesetzen erlassen wurde, die der Landesgesetzgeber
verabschiedet hat und wofür er die Kompetenz in An-
spruch nimmt, die Sie hier im Bundestag für sich auch
beanspruchen.
Ja, das will ich ja nicht in Abrede stellen. Ich fasse
nur Ihre Rede zusammen.
Sie haben uns vorgetragen, wie sich die Ärztekam-
mern die Patientenrechte vorstellen und wie die Ärzte
besser gegen überbordende Patientenrechte zu schützen
sind. Der Eindruck, der sich mir hier aufdrängt, ist, dass
Sie damit die Arbeit von Herrn Zöller nicht leichter ma-
chen werden, weil ich bisher nicht einen einzigen Satz
dazu gehört habe, wie Sie die Patienten und nicht die
Ärzte stärken wollen, Herr Henke.
Nun zu meiner Frage: Wo ist in Ihrem Beitrag der
Punkt, mit dem den Patienten und nicht den Ärzten ge-
holfen werden würde?
Ich glaube, dass es unsere primäre Sorge sein muss,
nicht Misstrauen in diesem Bündnis zu erzeugen. Wir
haben hier von allen Fraktionen gehört, dass sie den in
Gesundheitsberufen tätigen Menschen – übrigens nicht
nur den Ärzten, sondern auch den Pflegekräften, den
Krankenschwestern und denen, die sonst an den Leistun-
gen in den Krankenhäusern mitwirken – für ihre Arbeit
danken, weil sie ihre Arbeit ganz überwiegend in Ord-
nung leisten.
Diese Aussage hat doch auch Frau Volkmer getroffen.
Deswegen meine ich, dass wir uns, wenn wir über das
Thema Beweislastumkehr bei Behandlungsfehlern dis-
kutieren – das ist Ihr Vorschlag zur Stärkung der Patien-
tenrechte –, Aufschluss geben müssen, ob das nicht in
der Konsequenz zu mehr Misstrauen und defensivem
Verhalten führt und die partnerschaftliche Beziehung
zerstören würde.
Ich habe nicht das Gefühl, dass die Gespräche, die
Herr Zöller hat, dazu führen, dass wir uns auseinander-
entwickeln. Ich habe vielmehr das Gefühl, dass wir eine
gewisse Skepsis gegenüber dem Vorschlag einer Be-
weislastumkehr durchaus teilen. Das ist jedenfalls mein
bisheriger Eindruck.
Lassen Sie uns diese Debatte offen führen. Nehmen
Sie nicht jedes Wort von jemandem, der einer anderen
Fraktion angehört, gleich zum Anlass dafür, ihm irgend-
etwas Schlechtes zu unterstellen! Das ist nämlich Ihre
Methode.
Das ärgert mich; denn es führt weg von der sachlichen
Auseinandersetzung.
Ich wollte nur vermeiden, dass allzu viel Gewicht auf
eine materielle Änderung des Rechts gelegt wird und da-
rin der Kernzweck des Patientenrechtegesetzes gesehen
wird; denn es geht doch zumindest auch um eine Bünde-
lung des Rechts. Wenn ich Frau Volkmer richtig verstan-
den habe, dann hält sie diese Bündelung deswegen für
notwendig, weil sie dafür sorgt, dass das Recht klarer,
transparenter und einfacher anwendbar wird und dass
Umsetzungsdefizite leichter zu vermeiden sind. Insofern
sollten Sie vielleicht einmal Ihre unterschiedlichen Auf-
fassungen klären.
Ich komme zum Schluss. Ich glaube, der Patient hat
Anspruch auf eine individuelle, an seinen Bedürfnissen
ausgerichtete Behandlung und Betreuung. Er hat An-
spruch auf die freie Arzt- und Krankenhauswahl, auf
Transparenz, Wahrung des Patientengeheimnisses und
die Solidarität der Gesellschaft. Er hat auch Anspruch
auf eine in diesem Sinne solidarisch gestaltete und mit
ausreichender Finanzkraft versehene Krankenversiche-
rung. Er hat Anspruch auf ein bürgernahes Gesundheits-
wesen, und er erwartet mit Recht Fürsorge und Zuwen-
dung.
Wenn die Debatte um das Patientenrechtegesetz einen
Beitrag dazu leistet, Impulse für die Umsetzung dieser
Rechte zu geben, dann können wir jedem dankbar sein,
der dazu seinen Beitrag leistet, allen voran dem Patien-
tenbeauftragten, dem Kollegen Zöller.
Ich bedanke mich herzlich für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/907 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann istdie Überweisung so beschlossen.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 33 a bis 33 j,33 l bis 33 o sowie Zusatzpunkt 5 auf:33 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demStaatsvertrag vom 16. Dezember 2009 und26. Januar 2010 über die Verteilung von Ver-sorgungslasten bei bund- und länderübergrei-fenden Dienstherrenwechseln– Drucksache 17/1696 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
RechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsausschuss gemäß § 96 GO
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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demAbkommen vom 2. März 2009 zwischen derRegierung der Bundesrepublik Deutschlandund der Regierung der Insel Man zur Vermei-dung der Doppelbesteuerung von im interna-tionalen Verkehr tätigen Schifffahrtsunter-nehmen– Drucksache 17/1697 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklungc) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demAbkommen vom 2. März 2009 zwischen derRegierung der Bundesrepublik Deutschlandund der Regierung der Insel Man über dieUnterstützung in Steuer- und Steuerstraf-sachen durch Auskunftsaustausch– Drucksache 17/1698 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
RechtsausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzd) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demAbkommen vom 26. März 2009 zwischen derRegierung der Bundesrepublik Deutschlandund der Regierung von Guernsey über denAuskunftsaustausch in Steuersachen– Drucksache 17/1699 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
RechtsausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutze) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demAbkommen vom 13. August 2009 zwischen derRegierung der Bundesrepublik Deutschlandund der Regierung von Gibraltar über dieUnterstützung in Steuer- und Steuerstraf-sachen durch Auskunftsaustausch– Drucksache 17/1700 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
RechtsausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzf) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demAbkommen vom 2. September 2009 zwischender Regierung der Bundesrepublik Deutsch-land und der Regierung des FürstentumsLiechtenstein über die Zusammenarbeit undden Informationsaustausch in Steuersachen– Drucksache 17/1701 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
RechtsausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzg) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver-trag vom 27. November 2008 über die Ände-rung des Vertrags vom 11. April 1996 über dieInternationale Kommission zum Schutz derOder gegen Verunreinigung– Drucksache 17/1702 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzh) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Betriebsprämiendurchführungsge-setzes und des Agrarstatistikgesetzes– Drucksache 17/1703 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzi) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Katzen- und Hundefell-Einfuhr-Verbotsgesetzes und zur Änderung des See-fischereigesetzes– Drucksache 17/1704 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzj) Beratung des Antrags der Abgeordneten BirgittBender, Fritz Kuhn, Elisabeth Scharfenberg, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENErhebung von Daten zu der Versorgung mitHebammenhilfe sowie zur Arbeits- und Ein-kommenssituation von Hebammen und Ent-bindungspflegern sicherstellen– Drucksache 17/1587 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendl) Beratung des Antrags der Abgeordneten AxelKnoerig, Albert Rupprecht , MichaelKretschmer, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSU, der Abgeordneten Dr. MartinNeumann , Dr. Peter Röhlinger, PatrickMeinhardt, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der FDPBrücken bauen – Grundlagenforschung durchValidierungsförderung der Wirtschaft nahebringen– Drucksache 17/1757 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
RechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschuss
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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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m) Beratung des Antrags der Abgeordneten PaulSchäfer , Jan van Aken, Matthias W.Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion DIE LINKEAbschaffung der Wehrpflicht– Drucksache 17/1736 –Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss
Auswärtiger AusschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendn) Beratung des Antrags der Abgeordneten VolkerBeck , Tom Koenigs, Marieluise Beck
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENEinigkeit über die Definition des Tatbestandesdes Aggressionsverbrechens im IStGH-Statuterzielen– Drucksache 17/1767 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auswärtiger AusschussRechtsausschusso) Beratung des Antrags der Abgeordneten SylviaKotting-Uhl, Hans-Josef Fell, Ingrid Nestle, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENAtomausstieg beschleunigen – Strommarktzukunftsfähig entwickeln– Drucksache 17/1766 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzZP 5 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Vermeidung kurzfristiger Markt-engpässe bei flüssiger Biomasse– Drucksache 17/1750 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzHaushaltsausschussEs handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen desPetitionsausschusses, zu denen keine Aussprache vor-gesehen ist.Tagesordnungspunkt 34 a:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 81 zu Petitionen– Drucksache 17/1590 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Sammelübersicht 81 ist einstimmig angenom-men.Tagesordnungspunkt 34 b:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitionsaus-schusses
Sammelübersicht 82 zu Petitionen– Drucksache 17/1591 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Sammelübersicht 82 ist mit den Stimmen vonCDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Lin-ken bei Stimmenthaltung der Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 34 c:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 83 zu Petitionen– Drucksache 17/1592 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Sammelübersicht 83 ist mit den Stimmen desHauses gegen die Stimmen der Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 34 d:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 84 zu Petitionen– Drucksache 17/1593 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Sammelübersicht 84 ist mit den Stimmen vonCDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen der Lin-ken bei Stimmenthaltung der Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 34 e:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 85 zu Petitionen– Drucksache 17/1594 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 85 ist mit den Stimmendes Hauses gegen die Stimmen der Linken angenom-men.Tagesordnungspunkt 34 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 86 zu Petitionen– Drucksache 17/1595 –
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4256 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
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Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 86 ist mit den Stimmenvon CDU/CSU, SPD und FDP gegen die Stimmen derLinken und der Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 34 g:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 87 zu Petitionen– Drucksache 17/1596 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 87 ist mit den Stimmenvon CDU/CSU, FDP und Grünen gegen die Stimmender SPD und der Linken angenommen.Tagesordnungspunkt 34 h:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 88 zu Petitionen– Drucksache 17/1597 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 88 ist mit den Stimmender beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen derdrei Oppositionsfraktionen angenommen.Tagesordnungspunkt 34 i:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 89 zu Petitionen– Drucksache 17/1598 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 89 ist mit den Stimmenvon CDU/CSU und FDP gegen die Stimmen der SPDund der Grünen bei Enthaltung der Linken angenom-men.Nunmehr rufe ich den Zusatzpunkt 6 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktionen DIE LINKE undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENAuseinandersetzung in der Koalition zurHaushaltskonsolidierungIch eröffne die Aussprache und erteile dem KollegenSteffen Bockhahn von der Fraktion Die Linke das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-nen und Kollegen! In Zeiten der Krise darf man von ei-ner Regierung eines erwarten: ein Konzept. Aber wassind die Tatsachen? „Koalition konfus“. Besser kannman es nicht ausdrücken.
Erst verzichten Sie freiwillig auf Einnahmen, indem SieGeschenke für Reiche und Superreiche und für Spenderdes Wahlkampfes machen, und dann stellen Sie fest,dass Sie kein Geld haben.
Was ist Ihre Antwort darauf? Wahnsinnige Streichlis-ten von scheinbar nicht mehr ganz bewussten Politike-rinnen und Politikern in Ihrer Fraktion!
Wie kann man denn auf die Idee kommen, dass es zu-kunftsgerichtet sei, wenn man heute an einer Zukunftsin-vestition spart, wie sie besser nicht sein könnte? Wennman heute an Bildung spart, dann investiert man nicht indie Zukunft, dann macht man nichts Gutes, sondern dannwürgt man sich selbst eine gute Zukunft ab. Das ist ge-nau der falsche Weg, meine Damen und Herren.
Um Folgendes auch gleich zu sagen: Es heißt immer,wir müssten heute mit unseren Finanzen aufpassen unddürften den Schuldenberg nicht noch größer machen,weil wir ihn künftigen Generationen aufbürden. Nunnehme ich jetzt einmal für mich in Anspruch, eher Teilder kommenden Generationen zu sein als jemand, derdiese Schulden aufgehäuft hat.
– Ja, das kann man so und so sehen. Ich wünsche Ihnenaber, dass ich Teil der kommenden Generationen bin.Aber das mögen Sie sicherlich nicht teilen.
– Vor allen Dingen der politischen, danke.Wie kann man auf die Idee kommen, dass es richtigsei, sich jetzt so zu strangulieren? Wie kann man auf dieIdee kommen, dass es richtig sei, jetzt einfach kein Geldmehr in der Hoffnung auszugeben, dass dies kommen-den Generationen helfen würde? Das ist genau der fal-sche Weg; denn das Geld, das Sie heute nicht ausgeben,führt zu Entwicklungen, die in der Zukunft zu steigen-den Kosten führen werden. Dies führt uns tiefer in dieKrise, und das ist etwas, was wir genau nicht brauchen.Wir brauchen jetzt Konjunkturprogramme, wir brauchenetwas, was für die Zukunft dieses Landes gut ist. Dazugehören Bildung und Kinderbetreuung, meine Damenund Herren.
– Herr Schirmbeck, ich bin mir sehr sicher, dass Sie vie-len Frauen dabei helfen, Kinder zu bekommen; aber dasist hier nicht das Thema.
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Steffen Bockhahn
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Es geht vielmehr darum, wie man die Gesellschaft fürKinder attraktiv machen kann, wie man Kindern, die indieser Gesellschaft leben, beste Entwicklungsperspekti-ven bieten kann. Darüber müssen wir sprechen. Wenndann ein hessischer Ministerpräsident sagt, der Kita-Ausbau, der gesetzlich verankert ist und einen Anspruchdarstellt, müsse geschoben werden, dann ist dies erstenssozialpolitisch kreuzgefährlich, weil es wieder diejeni-gen trifft, die auf die 150 Euro Herdprämie angewiesensind, anstatt dass sie ihr Kind in eine Kindertageseinrich-tung schicken. Es führt zweitens dazu, dass die Kinderaus sozial benachteiligten Familien wieder zu Opfernvon Bildungsarmut werden. Genau das kann doch nichtder Weg sein. Es ist noch schlimmer, wenn gerade ausHessen ein solcher Vorschlag kommt; denn Hessen ge-hört bekanntermaßen eher zu den wohlhabenden Län-dern. Vielleicht könnte man es in Hessen noch selber re-geln. Aber in Bremen, Schleswig-Holstein oder anderenstrukturschwachen Flächenländern wird es dann umsoschwieriger, den notwendigen Kita-Ausbau voranzutrei-ben. Wenn Herr Koch trotzdem das in seine Vorschlägeeinbezieht, dann handelt er grob fahrlässig und sichernicht im gesamtdeutschen Interesse.
Natürlich kann er jetzt stolz vorangehen und sagen,dass er es ernst meint; denn er hat die Mittel für dieHochschulen im eigenen Land um 30 Millionen Eurogekürzt. Aber genau das ist doch der Wahnsinn. WennDeutschland eine Zukunft als starker Standort habenmöchte, dann brauchen wir Innovation sowie Forschungund Entwicklung. Das geht nicht ohne gute Bildung undohne gute Hochschulen. Ich habe vor noch nicht allzulanger Zeit selbst an einer Hochschule studiert. Ich kannIhnen sagen, dass es kein Vergnügen ist, wenn man mit150 Leuten in einem Grundkurs sitzen muss, weil Perso-nal und Räume fehlen. Die Universitäten in Deutschlandsind nicht ausreichend ausgestattet. Wir brauchen mehrGeld für Bildung und Forschung und nicht weniger.
Es ist grob fahrlässig, wenn Sie heute durch die Weltlaufen und sagen: Wir müssen streichen. – Es geht Ihnengar nicht um das Sparen. Man spart nämlich, wenn manetwas übrig behält. Sie wollen streichen. Das ist etwasanderes. Es ist wichtig, diesen Unterschied festzuhalten.Wenn Sie schon streichen, dann schauen Sie sich we-nigstens an, was etwas für die Zukunft bringt und wasnichts bringt. Es mag Ihnen eigenartig vorkommen,wenn ich Ihnen das jetzt sage, aber: Investitionen in dieAtomenergie sind keine zukunftsweisenden Maßnah-men.
Investitionen in Rüstungsmittel sind keine zukunftswei-senden Maßnahmen. Was wirklich etwas bringt, sind In-vestitionen in Bildung, Forschung und soziale Gerech-tigkeit. Das stärkt Deutschland und hilft allen, mitSicherheit nicht ein konzeptionsloses Sparen. Diese Re-gierung sollte einen Plan haben. Sie hat aber keinen. Dasist ganz armselig.
Nächster Redner ist Steffen Kampeter, der Parlamen-
tarische Staatssekretär im Finanzministerium.
S
Herr Kollege Bockhahn, Ihre Rede hat deutlich ge-macht: Es ist gut, dass Hessen von einer christlich-libe-ralen Koalition und nicht von Ihnen regiert wird.
Ich bedanke mich für diese Aktuelle Stunde, gibt sie mirdoch die Möglichkeit, Ihnen die Haushaltspolitik derBundesregierung einmal darzulegen. Ich bitte die Zu-schauerinnen und Zuschauer, sich nicht mit den Diffa-mierungen des Vorredners aufzuhalten.
Die derzeit laufenden Arbeiten und Diskussionen beider Vorbereitung des Haushaltes 2011 und der mittelfris-tigen Finanzplanung sind Ausdruck des ernsthaften Wil-lens der christlich-liberalen Koalition, einen verfas-sungskonformen Haushalt vorzulegen und einezukunftsorientierte Haushaltspolitik zu machen. Dassdie Einhaltung der neuen Schuldenregel ab dem Jahr2011 und die Rückkehr zu den zulässigen Maastricht-Kriterien allerdings kein leichter Weg ist, ist, glaube ich,allen Beteiligten klar. Das heißt, die notwendigen Verän-derungen werden spürbar sein und werden sich – daszeigt die Erfahrung – zweifelsohne nicht ohne Wider-spruch durchsetzen lassen. Dabei befinden wir uns, ver-glichen mit anderen Volkswirtschaften, beispielsweisemit der Griechenlands, noch in einer komfortablen Si-tuation. Die ganze Welt schaut jetzt auf unser Land.
Sie schaut auf die Fiskalpolitik des wirtschaftlich stärks-ten Landes innerhalb der Europäischen Union. Eine er-folgreiche Haushaltskonsolidierung ist ein wichtiges Si-gnal an die Märkte und ein Garant für den Fortbestandder europäischen Währungsunion. Die jetzt angelaufe-nen Stabilisierungsmaßnahmen für Griechenland undder in dieser Woche in der Beratung befindliche Euro-Rettungsschirm können nur dann ihre Wirkung voll ent-falten, wenn die Haushaltskonsolidierung in der Bundes-
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Parl. Staatssekretär Steffen Kampeter
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republik Deutschland – allerdings gemeinsam mit allenanderen Ländern – ernsthaft weiterbetrieben wird.Experten analysieren, dass Kapital aus hoch verschul-deten Staaten mit niedrigen Wachstumsraten abgezogenwird und in niedrig verschuldete Staaten mit hohenWachstumsraten investiert wird. Das zeigt den politi-schen Gestaltungsauftrag für die Fiskalpolitik und dieWachstumspolitik in der Bundesrepublik. Wir müssenuns wieder sehr viel stärker um eine niedrigere Verschul-dung und um höhere Wachstumsraten in der Bundesre-publik Deutschland kümmern. Das ist der Anspruch derchristlich-liberalen Koalition. Daran werden wir unsmessen lassen.
Der Bundeshaushalt und der jetzt aufzustellende Fi-nanzplan stellen einen Wendepunkt dar. Im Rahmen derlaufenden Haushaltsaufstellungsverfahren müssen wirden Ausstieg aus den konjunkturstützenden Maßnahmenfinden und zum Konsolidierungskurs zurückkehren. Esist richtig: International war vereinbart, 2009 und 2010die Konjunktur durch eine Schuldenaufnahme zu stüt-zen. Es ist aber auch vereinbart worden, dass wir ab2011 das Wachstum nicht mehr durch Schulden finanzie-ren, sondern die Kräfte, die einen sich selbst tragendenAufschwung ermöglichen, mobilisieren. Das ist eineHerkulesaufgabe, insbesondere wenn man bedenkt, wowir jetzt stehen.Der Haushalt 2010 ist der Haushalt mit der höchstenNettokreditaufnahme in der Finanzgeschichte unseresLandes. Allein die konsumtiven Ausgabenblöcke – So-ziales, Zinsausgaben, Personalausgaben – machen der-zeit drei Viertel des gesamten Bundeshaushalts aus. Siesind weitgehend durch gesetzliche Vorgaben bzw. durchRechtsverpflichtungen gesetzt. Zudem – das muss manin aller Klarheit sagen – hat die vorgelegte Steuerschät-zung nicht den erhofften Spielraum für weitere entlas-tende Maßnahmen gebracht. Im Gegenteil: Wir werdenin den kommenden drei Jahren zusätzlich 18 MilliardenEuro Steuermindereinnahmen zu verkraften haben.Etwas grundsätzlicher formuliert: Haushaltsdisziplinist die Voraussetzung für den Erhalt politischer Gestal-tungsfähigkeit. Länder, die dies nicht beherzigen, wer-den wegen stark steigender Zinsausgaben und ihrermangelnden Kreditwürdigkeit dieser politischen Hand-lungsfähigkeiten beraubt. Unsere Konsolidierungsstrate-gie, die nicht auf das nächste Jahr beschränkt ist, erhältdiesen politischen Handlungsspielraum und ermöglichtaktives Handeln in der Zukunft. Das ist das haushaltspo-litische Kredo der christlich-liberalen Koalition.
Haushaltsdisziplin ist auch ein Beitrag zur Generatio-nengerechtigkeit; denn alles, was wir heute unterlassen,schränkt die Handlungsfähigkeit zukünftiger Generatio-nen ein. Es gilt der Satz: Auf Schuldenbergen könnenkeine Kinder spielen. – Das müssen wir auch bei unserenpolitischen Entscheidungen mit berücksichtigen.
Im internationalen Kontext gilt: Nur wer selber Vor-bild ist, kann auch von anderen Staaten Haushaltsdis-ziplin verlangen. Politische Führung gründet eben auchin Europa auf die Voraussetzung solider Haushaltspoli-tik. Lassen Sie mich deswegen feststellen: Die Behaup-tung, dass gute Politik sich ausschließlich durch hoheAusgaben oder gar durch hohe Schulden definiert, istveraltetes Denken. Eine aufgeklärte und moderne Haus-halts- und Finanzpolitik weiß, dass das Ergebnis vonPolitik vielmehr von der Wirkmächtigkeit der eingesetz-ten Mittel abhängt. Was wir aus dem Geld machen, istdoch die eigentliche Gestaltungsaufgabe. Kluge Politikkommt daher in manchen Bereichen auch mit wenigerGeld aus. Das werden wir in dieser Legislaturperiodewagen. Das ist der Anspruch unserer Haushaltspolitik.
So ist Haushaltspolitik zu verstehen, und es müssen auchein Stück weit Strukturen infrage gestellt werden. Dashat mehr mit Klugheit als mit Kürzungen zu tun.
Das machen wir. Für die zukünftigen Haushaltsjahre giltein dezidiertes Ausgabenmoratorium. Zur Erinnerung:Wir haben in unserem Koalitionsvertrag unter demStichwort „generationengerechte Finanzen“ goldene Re-geln aufgestellt.
Alle Aufgaben- und Ausgabenbereiche sind kritisch zuhinterfragen. Zusätzliche Maßnahmen müssen solide ge-genfinanziert werden. Letztlich stehen die Maßnahmendes Koalitionsvertrags unter einem Finanzierungsvorbe-halt.
Das macht deutlich, dass wir uns auch weiterhin kritischmit den Strukturen unseres Haushalts beschäftigen müs-sen. Wir müssen genau hinschauen, wo es Ineffizienzengibt und wo wir mit dem eingesetzten Geld nicht die vonuns gewünschten politischen Ziele erreichen.
Was können wir auch angesichts eines sich verändern-den finanzwirtschaftlichen Umfelds besser machen? Wo– auch das muss man aufzeigen – besteht ordnungspoliti-scher Handlungsbedarf? Ich nenne beispielsweise dasstaatliche Handeln. Die Finanzkrise hat die Nachfragenach mehr Staat steigen lassen. Wir als christlich-libe-rale Koalition wissen aber: Ein totaler Staat kann nichtdie Antwort auf die gesellschaftlichen und wirtschaftli-
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Parl. Staatssekretär Steffen Kampeter
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chen Herausforderungen sein. Wir brauchen zwischenMarkt und Staat wieder eine normalisierte Aufgabentei-lung in einer sozialen Marktwirtschaft des 21. Jahrhun-derts.
Wir werden und müssen uns also mit den Strukturendes Bundeshaushalts sehr kritisch beschäftigen. Wirmüssen genauer hinschauen. Das bedeutet sechs Wochenintensive Arbeit. In einem ersten Schritt haben wir indiesen Tagen die Ressorts aufgefordert, bei den soge-nannten Flexibilisierten Ausgaben ihre Vorstellung zuEinsparungen darzulegen. Wir werden in einer Haus-haltsklausur in Vorbereitung auf den KabinettsbeschlussEnde Juni/Anfang Juli weitere Maßnahmen besprechen.Wir wissen um die Notwendigkeit, solide zu haushalten.
Klar ist: Nur wer seinen eigenen Haushalt in Ordnunghält, der ist für die Aufgaben der Zukunft gewappnet.Die christlich-liberale Koalition ist für diese Zukunft ge-wappnet.
Das Wort hat nun Kollegin Renate Künast für die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LieberHerr Kampeter, das war sozusagen die Vorlesung überKampeters Glaubenssätze.
Wenn Sie das als Gastdozent an der Uni anbieten, dannbin ich sicher, dass beim zweiten Mal keiner mehr kom-men wird, Herr Kampeter, weil hinterher zwar alle Ho-nig im Gesicht haben, aber keinen Erkenntniszuwachs.
Wir wollen an dieser Stelle wissen: Was gilt dennnun? Wir wollen nicht irgendwelche goldenen Fäden ge-sponnen haben und auch nichts von goldenen Glaubens-sätzen hören. Wir wollen wissen: Was ist die Haus-haltsprämisse? Wo soll es langgehen? – Roland Koch hatgesagt: Bei der Bildung soll gespart werden. Die Kanzle-rin hat erklärt: Bildung ist Cheffinnensache. Daher ver-anstaltet sie einen Bildungsgipfel nach dem anderen.Deshalb sage ich: Hic Rhodus, hic salta! Was gilt dennnun, Herr Kampeter? Gilt nun, dass die CDU-Minister-präsidenten, vornean Roland Koch, diese Bundesregie-rung am Nasenring durch die Republik führen, Merkelimmer hinterher? Oder gibt diese Bundesregierung dieHaushaltspolitik des Bundes vor? Dazu haben Sie keineinziges Wort gesagt, Herr Kampeter.
Wir haben erhebliche Zweifel, ob überhaupt noch et-was kommt. Ihre allgemeinen Ausführungen von Glau-benssätzen bestärken mich in meinen Zweifeln. DassRoland Koch seine Äußerungen direkt nach dem 9. Maiund dem für die CDU desaströsen Wahlergebnis inNordrhein-Westfalen – nämlich ein Minus von 10 Pro-zentpunkten – gemacht hat, ist doch eine Kampfansage.Da muss man doch sagen, was gilt. Ich sehe: Merkel isteine Kanzlerin ohne Rückhalt. Merkel ist ohne Rückhaltin der Union und ohne Rückhalt in der Koalition. Dasssie auch ohne Rückhalt in Europa ist, haben wir in die-sen Tagen schon gemerkt.
Sie sind angetreten, um, wie mit dem Koalitionspart-ner vereinbart, die Steuern zu senken. Dieses Vorhabenist nun gestrichen. Jetzt weiß ich gar nicht mehr, was dieFDP will. Das Ergebnis, von einer Ein-Punkt-Partei zueiner Null-Punkte-Partei, bringt keinen Erkenntnisge-winn.
Also wende ich mich an Sie. Was gilt denn? Das wissenwir in keinem Bereich. Bei der Atompolitik machen Siees vor: Söder, die Lichtgestalt der deutschen Politik,
hat gesagt, Röttgen habe kein Konzept. Gut, dass er sichgemeldet hat. Mappus aus einem großen Flächenlandfordert den Rücktritt des Umweltministers. Koch sagt:Wenn du, Angela Merkel, nicht führst, dann führe ich. –An dieser Stelle wird man doch einmal fragen dürfen,wer jetzt führt und wohin die Reise gehen soll.
Gilt die moderne CDU, oder erlebt seit dem 9. Mai dasTiefschwarze der CDU aus dem Süden dieser Republikseinen zweiten Frühling und tritt wieder stärker hervor?Wir sagen: Wir wollen wissen, wo es langgehen soll.Ich will Ihnen auch sagen, warum wir fragen. RolandKoch hat schon einmal die Bildungspolitik in diesemLande bestimmt.
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4260 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Renate Künast
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Ich war in der Föderalismuskommission I dabei, in derStoiber und Müntefering Vorschläge vorgelegt haben.Diese wurden im Bundesrat in der Leipziger Straße spätnachts bei einer Sondersitzung von Koch ausgebremst.Er stand kurz vor Mitternacht wütend auf und sagte: Mituns geht das nicht! Er hat die Vorschläge in ihre Einzel-teile zerlegt. Sein Vorschlag war, die Kompetenz für dieBildung komplett an die Bundesländer zu übergeben undein Kooperationsverbot zu verhängen. Der Bund darfden Kommunen in der Bildungspolitik also nie beiste-hen. Wir haben schon damals gesagt, dass das noch ein-mal unser Untergang wird, weil das die zentrale Aufgabeder Bildungspolitik zunichtemacht, die eigentlich solida-risch angegangen werden müsste.
Frau Merkel hat sich damals mit Blick auf eine poten-zielle Kanzlerschaft nicht getraut, den Ministerpräsiden-ten der CDU in die Parade zu fahren; stattdessen hat siean der Stelle einen Kotau gemacht und die Minister-präsidenten machen lassen. Aber wenigstens jetzt musssie zeigen, dass sie einen Hintern in der Hose hat, indemsie sagt: Ihr wolltet es, also macht es und finanziert esauch! – Das erwarte ich von dieser Koalition.
Sie machen Rosstäuschertricks und veranstalten einenBildungsgipfel nach dem anderen, bei denen nichts he-rauskommt. Nachher kommen auch noch Roland Kochund der Koordinator der Bildungspolitik der CDU, HerrTillich, Ministerpräsident von Sachsen, und reißen alles,auch das 10-Prozent-Ziel, das Sie früher, um sich selberzu loben, wie eine Monstranz durch die Republik getra-gen haben, wieder ein.Ich will jetzt wissen, was gilt. Auch die Hessinnenund Hessen wollen das wissen. Nehmen wir einmal dasBeispiel Hessen. Fast 8 Prozent der Kinder dort habenkeinen Schulabschluss, und es fehlen 23 000 Betreu-ungsplätze. Da geht es um Chancengerechtigkeit, darum,dass es allen Kindern gleich gut geht, dass sie sichgleichermaßen entwickeln können. Es geht um Ge-schlechtergerechtigkeit; denn auch Frauen sollen spätererwerbstätig sein können. Letztlich geht es auch um einewirtschaftspolitische Frage.
Wir wissen, dass es nicht einfach ist, zu sparen. Ichhätte von Herrn Kampeter erwartet, dass er das einmalsagt. Abbau ökologisch schädlicher Subventionen, wegmit dem Steuerprivileg für Dienstwagen, weg mit demBetreuungsgeld, Abschmelzen des Ehegattensplittings,ran an die Mehrwertsteuer, die Lobbyliste abarbeiten,wobei man mit der Mehrwertsteuer auf Hotelübernach-tungen anfangen kann –
wer Mut hat, an diesen Stellen etwas zu verändern,bringt damit zum Ausdruck: Gute Bildung ist eine wich-tige Ressource, in die klug investiert werden muss,
weil das zu mehr Gerechtigkeit führt und unserer Wirt-schaft hilft.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Mein letzter Satz. – Ich weiß nicht, ob Sie sich erin-
nern; aber es gab einmal einen Koalitionsvertrag mit
dem Titel „Wachstum. Bildung. Zusammenhalt.“. Dass
Sie sich beim Thema Zusammenhalt gut auskennen in
der Koalition, wissen wir alle; deshalb müssen wir das
nicht weiter ausführen. Die Republik hat schon lange ge-
nug davon. Vielleicht könnten Sie wenigstens einmal
versuchen, beim Thema Bildung für jedes Kind in die-
sem Land haushalterisch eine Marge vorzugeben, und
einen Bildungssoli seitens des Bundes fordern, um in je-
des Kind zu investieren.
Das würde das Land nach vorne bringen. Dazu wollen
wir eine Aussage haben.
Das Wort hat nun Kollege Jürgen Koppelin für die
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vonden Linken und von Bündnis 90/Die Grünen ist eine Ak-tuelle Stunde beantragt worden. Ich habe bisher nicht er-kennen können, warum sie überhaupt beantragt wordenist.
Ich konnte bisher nur Polemik vernehmen. Der KollegeBockhahn von den Linken fragt: Wie kann man auf dieIdee kommen, an Bildung zu sparen? Auch ich findemanches nicht gut, was Herr Koch sagt. Aber ich binfroh, dass Herr Koch nicht die Liste des Berliner Senatsabgeschrieben hat; denn da gibt es plötzlich Lotterie-spiele, die darüber entscheiden, ob man einen Platz in
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Dr. h. c. Jürgen Koppelin
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der Schule bekommt. Ähnliches gilt für die Feuerwehrusw.
Schauen Sie sich die lange Liste des Berliner Senats, andem Sie beteiligt sind, einmal an. Dazu haben Sie keinWort gesagt.Ich möchte einen Punkt herausgreifen, der mir sehrwichtig und zudem erfreulich ist. Gestern hat, was auchin einigen Medien eigentlich nur eine Randnotiz war, derSchleswig-holsteinische Landtag – ich komme ausSchleswig-Holstein – mit den Stimmen der Koalitionvon CDU und FDP, aber auch mit den Stimmen einigerOppositionsfraktionen,
nämlich Sozialdemokraten, Bündnis 90/Die Grünen unddie dänische Minderheit SSW, als erstes Landesparla-ment die Schuldenbremse beschlossen. Das finde ichausgesprochen erfreulich. Dass die Linken da nicht mit-gemacht haben, kann ich verstehen. Ich sage auch,warum ich das erfreulich finde: Es zeigt, dass es beiHaushaltsberatungen – das wünsche ich mir auch für denBundestag – nicht mehr darum geht, wer die besten An-träge hat und wer sich wie noch steigern kann, sonderndarum, dass man in einen Wettbewerb eintritt in derFrage, wo effizient und vernünftig gekürzt oder wie derHaushalt eines Landes saniert werden kann.
Das ist endlich einmal ein Wettbewerb, der mir und ver-mutlich auch den Bürgern gefällt. Ich bin jedenfalls froh.Dass natürlich Herr Stegner gleich sagt, Streichungengebe es mit der SPD nicht, stattdessen seien Steuererhö-hungen notwendig, ist seine Sache; damit müssen dieSozialdemokraten fertigwerden.
Aber in einem Punkt sind wir uns doch einig: Angesichtsder Verschuldung, an der viele mitgewirkt haben, sollteman überlegen, wie wir von diesen Schulden wieder he-runterkommen. – Ich sage gleich noch etwas zu den So-zialdemokraten, die elf Jahre an der Regierung waren. –Niemand – keine Regierung, kein Parlament, keine Par-tei, auch nicht Eltern oder Großeltern – hat das Recht,Schulden aufzunehmen, die Generationen, die noch garnicht geboren sind, begleichen müssen. Das ist das Ent-scheidende. Darum müssen wir uns kümmern.
Vorhin kam der Zuruf, wir würden die größte Steuer-erhöhung in der Geschichte der Bundesrepublik durch-führen. Ich sage Ihnen: Das haben die Sozialdemokratengetan. Es handelte sich um eine Größenordnung vonmehr als 50 Milliarden Euro pro Jahr. Sie haben diesesGeld nicht nur ausgegeben, sondern Sie haben es drei-mal ausgegeben und mussten trotzdem noch Schuldenaufnehmen. Das und nichts anderes war Ihre Politik.
Meine Damen und Herren, ich bin seit langem derAuffassung – das besagen auch die Steuerschätzungen –:Dieser Staat hat genug Geld. Er geht teilweise nur nichtvernünftig damit um. Wir werden deshalb anders an dieAufstellung des Haushalts für das nächste Jahr herange-hen. Wir können nur noch Maßnahmen finanzieren, dievernünftig sind. Ich finde es richtig, dass MinisterSchäuble die Ministerien schon darauf hingewiesen hat,dass die Vorschläge, die sie bisher eingereicht haben, zuviel kosten. Das geht so nicht.Nun kommt Frau Künast als Rächer der Enterbten.
Frau Künast, dass Sie sich in dieser Form hier hinstellen,ist sehr mutig.
Sie rechnen wohl damit, dass die Menschen schnell ver-gessen. Sie waren in Nordrhein-Westfalen in einerKoalition mit Herrn Steinbrück. Herr Steinbrück legtezusammen mit Herrn Koch Vorschläge zum Subven-tionsabbau vor; ich habe diesen dicken Wälzer sogarhier. Diese Vorschläge sind das reinste Gruselkabinett.Dazu haben Sie aber kein Wort gesagt. Warum haben Siedenn damals nicht das Wort ergriffen und deutlich ge-macht: „Das machen wir nicht mit“?
– Ich nenne Ihnen doch nur ein Beispiel; wir sindübrigens dagegen vorgegangen. – Ich frage Sie: Waswar denn damals in Sachen Entfernungspauschale?Steinbrück hat versucht, seinen Vorschlag durchzuset-zen. Aber das Bundesverfassungsgericht hat entschie-den, dass die Regelung geändert werden muss.
– Entschuldigung, Sie waren doch in einer Koalition.
Da können Sie sich hier doch nicht – ich sage es nocheinmal – als Rächer der Enterbten hinstellen und so tun,als hätten Sie mit all dem nichts zu tun.
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4262 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bin fest davonüberzeugt, dass wir die gemeinsame Aufgabe haben, da-für zu sorgen, dass wir die hohen Schulden, die wir allegemeinsam – die Jungen natürlich nicht – zu verantwor-ten haben, abbauen.
Schließlich haben wir eine Verantwortung gegenüberden kommenden Generationen.Ich bin auf die Haushaltsberatungen 2011 gespannt.
Macht es bitte nicht wieder so wie beim letzten Mal. Beiden letzten Haushaltsberatungen habt ihr einerseits überdie hohe Verschuldung, die wir von Steinbrück über-nommen haben, gejammert, uns aber andererseits einenErhöhungsantrag nach dem anderen präsentiert.
Das läuft nicht. Das lassen wir euch nicht durchgehen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Dagmar Ziegler für die SPD-Frak-
tion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Sehr geehrter Herr Koppelin, dass Sienicht verstanden haben, warum diese Aktuelle Stundebeantragt worden ist, habe ich nach Ihrem Redebeitragwiederum sehr gut verstanden.
Der Streit in Union und FDP
um Kürzungen bei der Bildung und den Familien
hat eines sehr deutlich gemacht: dass die Koalition, dieBundesregierung und die Bundeskanzlerin das Wort„Bildungsrepublik“ aus ihrem Wortschatz streichen soll-ten. Herr Kollege Kampeter, natürlich ist uns allen klar,dass wir in den öffentlichen Haushalten erhebliche Kon-solidierungsbemühungen walten lassen müssen; das istnicht die Frage. Aber es gibt mindestens zwei Dinge, diewir und die Menschen im Lande Ihnen nicht abnehmenund die einfach nicht hinnehmbar sind.Erstens. Es kann nicht sein, dass die Bundesregierungden Menschen ein halbes Jahr lang das Märchen erzählt,geringere Steuern und bessere Bildung würden nahtloszueinanderpassen, nur um eine Landtagswahl zu über-stehen. Das war versuchter Wahlbetrug. Aber es wareben nur versuchter Wahlbetrug; denn die Menschen ha-ben es gemerkt und Sie dafür in NRW abgestraft.
Zweitens. Niemand kann verstehen, dass ausgerech-net die beiden Zukunftsbereiche Bildung und Familievon den Koalitionären als Erstes genannt werden, wennes um Einsparungen geht.
Es kann natürlich sein, dass Sie mit verteilten Rollenspielen. Heute Morgen wurden die CDU-Minister-präsidenten und die CDU-Politiker in Ihren Reihen ja alsC-Promis abgestempelt.
Es mag sein, dass Sie sich gegenseitig nicht mehr ernstnehmen. Aber wir nehmen das, was Sie sagen, sehrernst.
Deshalb machen wir uns große Sorgen. Schauen Sienach Hessen, schauen Sie nach Bayern, schauen Sienach Hamburg: Überall, wo die Union regiert, erlebenwir Abrissarbeiten an der Bildungsrepublik.
Die Süddeutsche Zeitung hat vorgestern sehr treffendanalysiert – ich zitiere –:Roland Koch ist, bildungspolitisch betrachtet, einIntensivtäter. Schulen und Hochschulen sind vorihm nicht sicher. … wann immer es um große,wichtige Vorhaben in der Bildungspolitik geht,funkt Koch auch bundespolitisch dazwischen.
Das Schlimme ist: Herr Koch ist in der Union kein Ein-zelfall. Ich könnte auch Herrn Tillich aus Sachsen, denhaushaltspolitischen Sprecher der CDU/CSU-Bundes-tagsfraktion, Herrn Barthle, oder Ihren Generalsekretär,
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Dagmar Ziegler
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Herrn Gröhe, zitieren. Eines ist sicher: Sie haben dieBotschaft der Wählerinnen und Wähler vom Wahlsonn-tag in NRW nicht kapiert.
Ich sage es in aller Deutlichkeit: Weder die Bundes-kanzlerin noch die Bundesbildungsministerin noch dieBundesfamilienministerin haben bislang Klartext gere-det, ob es bei den konkreten Verabredungen für die Be-reiche Bildung und Kinderbetreuung bleibt.
Vage Beteuerungen, dass Bildung ein Schwerpunkt blei-ben soll, sind weder glaubwürdig noch konkret genug.Die Menschen haben ein Recht auf klare Ansagen. Wirerwarten von einer Bundesregierung, dass sie führt. Wirerwarten von Ministerinnen, dass sie führen; so sieht esder Eid auf das Ministeramt vor.Wenn Frau Schröder sagt, dass der Rechtsanspruchauf die U-3-Betreuung ab 2013 kommt, dann sagt sienichts Neues. Das hat nichts mit ihrer Amtsausführungzu tun; das ist schon Gesetz. Ich erwarte aber, dass sieAntworten auf offene Fragen gibt: Wie werden die Men-schen für die Kita-Betreuung qualifiziert?
Wie werden Erzieherinnen und Erzieher herangeholt?– 40 000 Erzieherinnen und Erzieher fehlen. – Wo blei-ben die Gelder für die Kommunen?
Erstens ist der Bedarf mit dem Zielwert, der zugrundegelegt worden ist – eine Betreuungsquote von 32 bis35 Prozent –, nicht gedeckt. Zweitens sind die Voraus-setzungen nicht gegeben, den Rechtsanspruch zu erfül-len. Drittens frage ich: Wo bleibt die Auseinanderset-zung zwischen den Ministerien über diese Themen, überdie Frage, wie die Finanzausstattung von Kommunen,Bund und Ländern neu geordnet werden kann, wenn sol-che Zukunftsinvestitionen nicht mehr mit den zur Verfü-gung stehenden Mitteln getätigt werden können?
All das erwarte ich von der Amtsausübung einer Minis-terin; all das wird versäumt. Man sagt: Der Rechtsan-spruch kommt, aber die Verantwortung überlassen wiranderen. So darf eine Bundesregierung, wie wir sie unsvorstellen, wie wir sie in diesem Land brauchen, nichthandeln.
Ich möchte die Position unserer Fraktion anhand vondrei Punkten deutlich machen:Erstens. Wir erwarten – Frau Künast hat das bereitsgesagt –, dass es beim dritten Bildungsgipfel AnfangJuni endlich zu verbindlichen Verabredungen zwischenBund und Ländern zum 10-Prozent-Ziel kommt. Dasheißt konkret: Ab 2015 müssen zusätzliche Bildungsauf-wendungen in Höhe von mindestens 13 Milliarden Eurogetätigt werden. Der Anstieg der Ausgaben darf nichtzeitlich gestreckt werden, sondern muss ab 2015 ver-bindlich umgesetzt werden.Zweitens. Der Bildungsgipfel muss ein Infrastruktur-gipfel werden. Je knapper das Geld ist, umso unverant-wortlicher wäre es, das Geld in sinnlosen Projekten zuverbrennen, die keine nachhaltige Wirkung in Form vonbesserer Bildung und mehr Chancengleichheit erzielen.Das Geld muss in den Ausbau der Kitas und Ganztags-schulen fließen. Der Lehrpakt für die Hochschulen musssolide ausgestattet werden. Das Geld darf aber nicht inungerechte Stipendienprogramme, nicht in wirkungsloseBildungsbündnisse und schon gar nicht in ein bildungs-politisch völlig kontraproduktives Betreuungsgeld flie-ßen.
Hier haben Sie Einsparungsmöglichkeiten. Nutzen Siediese!Drittens. Politische Verantwortung setzt Gestaltungs-willen voraus. Es wäre wirklich unverantwortlich,gesellschaftspolitische Gestaltungsansprüche aufgrundscheinbarer Sachzwänge aufzugeben. Wir haben schonim vergangenen Jahr einen Bildungssoli gefordert. Den-ken Sie noch einmal in aller Ernsthaftigkeit darübernach! Einen Aufschlag auf die Steuer bei sehr hohenEinkommen könnte man den Menschen in diesem Landvermitteln, nachdem Sie die Hoteliers entlastet haben.
Die Menschen haben vor allen Dingen ein Recht da-rauf, von der Bundeskanzlerin zu erfahren, wofür sieeinsteht, wofür sie in den eigenen Reihen kämpft. Sie hates in den vergangenen Wochen und Monaten bei zentra-len steuer- und finanzpolitischen Fragen nicht geschafft,die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung herzustel-len. Genauso ratlos und kraftlos agiert sie in der Bil-dungspolitik.
Frau Kollegin, Sie müssen bitte zum Ende kommen.
Hier ist sie von den eigenen Ministerpräsidenten ge-trieben.Wenn der dritte Bildungsgipfel kein Flop werden soll,dann sollte die Bundeskanzlerin – das rate ich ihr – eineReise durch das Land machen und in Dresden, Stuttgart,München und Wiesbaden erklären, wie es weitergehensoll und was sie wirklich von einer BildungsrepublikDeutschland hält.Danke.
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4264 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Dagmar Ziegler
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Das Wort hat nun Michael Luther für die CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich finde das Thema dieser Aktuellen Stundeschon sehr interessant.
Ich finde auch ganz interessant, wie sehr sich die Oppo-sition um das Thema Haushaltskonsolidierung kümmert.
Es ist völlig klar: Die Neuverschuldung ist zu hoch.Davon müssen wir herunter. Die Ursache dafür, warumwir in diesem Jahr 80 Milliarden Euro Neuverschuldungim Haushalt haben, ist klar: Das liegt an der Finanz- undWirtschaftskrise.
Wenn wir sie nicht gehabt hätten, wären wir hier schonwesentlich weiter. Nach der mittelfristigen Finanzpla-nung wären wir jetzt bereits bei null. Wir mussten han-deln – meines Erachtens ist das allen im Hause klar –,um die schwierige Zeit zu überbrücken. Aber es ist auchklar, dass wir die Neuverschuldung senken müssen.Ich bin froh, dass es in der letzten Legislaturperiodein der Großen Koalition gelungen ist – ich sage einmal:auf Drängen der Union –, die Schuldenbremse insGrundgesetz aufzunehmen;
denn gerade beim ersten Redner
habe ich heute wieder gemerkt, dass es zwar sehr schönist, staatliche Leistungen zu versprechen – das ist einewunderbare Sache; mir fällt auch viel ein –, aber natür-lich schlecht, wenn das Ganze schuldenfinanziert ist.
Eine Schuldenfinanzierung geht auf Dauer nicht; denndas schränkt unseren Handlungsspielraum für die Zu-kunft ein. Diesen Handlungsspielraum brauchen wir je-doch, und deswegen brauchen wir eine Disziplinierung.Ich bin deshalb froh, dass wir die Schuldenbremse ha-ben.Haushaltskonsolidierung ist kein Selbstzweck, son-dern für mich das Gebot der Stunde. Ich will es an dieserStelle einmal klar sagen, weil das manchmal in der Öf-fentlichkeit falsch ankommt: Dies liegt weder an derGriechenland-Hilfe noch an dem Stabilisierungsschirmfür den Euro. Wir müssen in Deutschland den Haushaltsanieren, weil wir Deutschland zukunftsfähig gestaltenmüssen.
Ich will an dieser Stelle auf eine Aussage von HerrnSteinmeier eingehen, die mich gestern aufgeregt hat. Erhat das Zitat „über die Verhältnisse gelebt“ mit der Frageverknüpft, ob der Wachmann oder die Verkäuferin etwazu viel verdiene. Nein, es ist genau andersherum. DerWachmann und die Verkäuferin sind diejenigen, die ar-beiten und die Steuern zahlen.
Sie haben einen Anspruch darauf, dass wir als DeutscherBundestag, dass wir als Staat die Steuergelder, die wirvon ihnen bekommen, vernünftig und verantwortlichausgeben,
und zwar nur so viel, wie wir einnehmen.Herr Kampeter hat erklärt, wie der Zeitplan bis zumSommer aussieht, bis der Haushalt vorgelegt werdenwird, und wie sich die Konsolidierungsziele darin wider-spiegeln werden. Es ist natürlich klar, dass in dieser Zeitauch darüber geredet wird, wo man einsparen könnte. Indiesem Zusammenhang wird manches Gute und man-ches nicht so Gute gesagt. Der eine sagt, wo gespart wer-den soll. Roland Koch hat etwas dazu gesagt; dies teileich nicht.
Aber es gibt eine viel größere Anzahl von Leuten, die sa-gen: Sparen müssen wir, aber nicht bei mir. – Das wirduns nicht weiterführen. Ich halte es für viel besser, einGesamtkonzept vorzulegen, in dem dann steht, was allesder Reihe nach gemacht werden wird.
Es wird vorliegen, wenn die Bundesregierung den Haus-halt vorlegt. Dann lohnt es sich auch, intensiv darüber zudiskutieren. Wir werden dann in den Beratungen imHaushaltsausschuss und hier im Deutschen Bundestaggenügend Zeit haben, darüber zu reden, ob das, was vor-geschlagen worden ist, vernünftig und gerecht ist, oder
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Dr. Michael Luther
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ob wir an der einen oder anderen Stelle andere Steue-rungsmechanismen einbauen sollten.
Im Übrigen sage ich noch eines: Es lohnt sich, zu spa-ren. In Sachsen – ich komme aus Sachsen – gibt es seit1990 Sparhaushalte. Das Ergebnis ist Folgendes: Das,was wir heute in Sachsen nicht an Zinsen zahlen, weilwir dafür keine Schulden gemacht haben, ist genausoviel wie das, was wir für Kinderbetreuung, kommunalenStraßenbau und regionale Kulturförderung ausgeben. ImVerhältnis zum Beispiel zu Thüringen oder Sachsen-An-halt bezahlen wir, wenn ich es umrechne, in diesem Jahrknapp 1 Milliarde Euro nicht für Zinsen. Das zeigt, dasses sich lohnt, zu sparen, dass man sich damit nicht dieZukunft verbaut, sondern handlungsfähig bleibt.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich ein Letz-tes sagen. Ministerpräsident Tillich hat gesagt: MehrGeld macht nicht klüger. Er hat nicht gesagt, dass er imBildungsbereich kürzen will. Ich will nur eine Wahrheitsagen, die ebenfalls aus Sachsen stammt: Sachsens Bil-dungshaushalt ist im Vergleich zu denen anderer Bun-desländer eher gering. Das Ergebnis der PISA-Studie istspitze. – Das zeigt, dass viel Geld nicht immer dazuführt, dass etwas besser wird; vielmehr muss man dasGeld klug ausgeben.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Klaus Hagemann für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Wenige Tage nach der Wahlin Nordrhein-Westfalen ist der Streit in der Koalitionüber die Haushaltskonsolidierung öffentlich geworden.Es werden sogar aus der eigenen Partei Rücktrittsforde-rungen gestellt.
In der nächsten Zeit wird es also interessant werden.Der Druck innerhalb der Koalition ist erheblich. DieReden der Kollegen Kampeter und Luther haben ge-zeigt, dass Sie kein Konzept haben. Sie haben zwar wun-derschöne blumige Reden gehalten, haben aber nichtkonkret gesagt, an welchen Stellen gespart werden muss.Davon war nichts zu hören.
Herr Kollege Koppelin, Sie haben nicht einmal das Libe-rale Sparbuch erwähnt. Es scheint schon im Papierkorbverschwunden zu sein, weil es eh nicht zu verwirklichenist.
Es geht jetzt darum, einmal die Zahlen zu beleuchten.Sie, diese Koalition hat die höchste Nettokreditauf-nahme beschlossen, obwohl es Einsparungsmöglichkei-ten gab, die Sie aus taktischen Gründen nicht genutzt ha-ben, damit man, Herr Kollege Koppelin, wenn dieSchuldenbremse greift, entsprechend kürzen kann. DieSteuersätze für Hoteliers und entfernte Erben hat mangesenkt, obwohl vorauszusehen war, dass die Steuerein-nahmen erheblich niedriger ausfallen werden. Dafürbrauchte man nicht den 6. Mai 2010 abzuwarten, als dieSteuerschätzung bekanntgegeben wurde. Herr KollegeKoppelin, bis 2014 wird es gesamtstaatlich mindestens40 Milliarden Euro an Steuereinnahmen weniger geben.Trotzdem wird immer noch von Steuersenkungen ge-sprochen. Ihre Wahlversprechen werden nicht umge-setzt; sie werden reihenweise eingesammelt. Das müssenSie vor Ihren Wählerinnen und Wählern verantworten.Da kein Konzept vorgestellt wurde, möchte ich fol-gende Fragen stellen: Wie viel wird im Verteidigungs-ressort eingespart? Heute wurde eine Riesensumme inder Presse genannt. Wie viel wird bei der Verkehrsinfra-struktur, also im Verkehrsbereich gespart? Diesbezüglichwurden Hunderte Millionen Euro genannt. Herr Weisevon der Bundesagentur für Arbeit hat gestern in derHaushaltsausschusssitzung gesagt: Man kann im Sozial-und Arbeitsbereich nicht einsparen, weil sehr vieleMenschen aus dem Regelungsbereich des Sozialgesetz-buches III in den Regelungsbereich des Sozialgesetzbu-ches II fallen – die Kollegin Bettina Hagedorn hat daraufhingewiesen –, also Hartz IV empfangen werden. Des-wegen sind an dieser Stelle erhebliche Mittel notwendig.In Bezug auf die Diskussion innerhalb der Union istnoch Herr Koch zu erwähnen. Die Welt, eine Zeitung,die nicht gerade der Hort der Sozialdemokratie ist, titelt:„Geld für Bildung wird zum Zankapfel der Union“. DieKakofonie in Ihrer Partei ist groß. Ich hoffe, dass Siebald Lösungen finden.Die Kürzungen im Bildungsbereich sind genanntworden. Hier ist nicht nur Herr Koch in Hessen zu er-wähnen, der die Mittel für den Wissenschafts- und Bil-dungsbereich um 75 Millionen Euro gekürzt hat. Auchin Niedersachsen und Schleswig-Holstein werden diebeitragsfreien Kindergartenjahre gestrichen. Leider istauch Hamburg zu nennen, liebe Kolleginnen und Kolle-gen von den Grünen und von der Union.Auch bei den Rechtsansprüchen auf einen Krippen-platz ist nicht genügend Vorsorge getroffen worden. Esstellt sich die Frage, warum man die Mittel gerade imBereich der Bildung kürzt. Ich verstehe, dass unser Bun-despräsident über die Äußerungen von Herrn Koch undanderen aus der Union entsetzt ist. Seine Haltung istdurch Pressemeldungen deutlich geworden.
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4266 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Klaus Hagemann
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Ich frage mich sowieso, wie das 10-Prozent-Ziel imBildungsbereich überhaupt erreicht werden soll. Gilt dasüberhaupt noch? Diese Frage richtet sich an den Vertre-ter des Bundesministeriums für Bildung und Forschung.Gilt dieses Ziel noch, wenn die Kommunen und die Län-der einsparen müssen und auch der Bund entsprechendvorgeht?
Das sind eine Menge Fragen, auf die es keine Antwortengibt. Sie hätten für eine ausreichende Einnahmebasissorgen können.
Gerade in den letzten zwei Jahren hat sich gezeigt,dass man den Staat nicht verteufeln soll. Man muss viel-mehr dafür sorgen, dass der Staat seine Pflicht tun undAusgleich schaffen kann. Ich möchte das Zitat vonFrank-Walter Steinmeier, das Herr Luther eben ange-sprochen hat,
einmal aufgreifen. Herr Steinmeier hat gefragt, wer ei-gentlich mit „wir“ gemeint ist, wenn gesagt wird: „Wirmüssen sparen; wir haben über die Verhältnisse gelebt“.Ist es der Schüler oder der Student,
der über seine Verhältnisse gelebt hat, der eine starkeUnterstützung, eine gute Schule oder eine gute Universi-tät braucht? Nein, hier sind staatliche Mittel gefordert,damit wir die Zukunft unserer Kinder gewährleistenkönnen. Dazu gehört es auch, die Einnahmeseite imBlick zu behalten, lieber Kollege Fischer, und diejenigenzur Kasse zu bitten, die sich durch die Finanz- und Wirt-schaftskrise eine goldene Nase verdient haben.Morgen bei der Abstimmung über das Euro-Hilfs-paket haben wir die Möglichkeit, eine Finanzmarkttrans-aktionsteuer auf den Weg zu bringen.
Sie bringt nötige Einnahmen, um für Bildung und For-schung mehr zu tun, als dies bisher geschah. Sie bietetdie Möglichkeit, die Versprechen einzuhalten, die ge-macht worden sind. Die nächste Chance gibt es beimBildungsgipfel. Ich hoffe, dass keine schweren Wolkenüber dem Gipfel aufziehen werden, sondern dass die Bil-dungssonne scheinen wird.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Ich komme zum Ende. – Ihre Glaubwürdigkeit steht
auf dem Spiel, lieber Herr Kollege Schirmbeck. Sie steht
zur Disposition. Tragen Sie dazu bei, dass sie nicht be-
schädigt wird.
Das Wort hat nun der Kollege Florian Toncar für die
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieDebatte ist zu dem geworden, was sie werden musste:eine routinierte Auseinandersetzung, bei der es umkleine politische Geländegewinne geht, und das in einerWoche, in der wir uns alle zusammen etwas anders ver-halten sollten, als es in dieser Debatte der Fall ist.
Was sind die Fakten? Der hessische Ministerpräsidentgibt ein Interview. Dieses Interview wird auf einen Satzreduziert. Daraus wird ein Streit der Koalition konstru-iert, den es in dieser Form nicht gibt.
Die FDP-Fraktion ist wie viele andere der Meinung, dasses nicht sinnvoll ist, in dieser Situation ausgerechnet dieBildungspolitik herauszugreifen, um an die Haushalts-konsolidierung heranzugehen.
– Das ist keine Überraschung, Herr Bockhahn, das wis-sen Sie genau.
Wir sollten etwas redlicher diskutieren. Frau Künastund viele andere haben unter anderem die Rekordneu-verschuldung, die unter dieser Koalition entstanden ist,angeprangert. Ich sage Ihnen: Der Schuldenstand dieserBundesrepublik ist ungefähr seit 1970 von allen Bundes-regierungen kontinuierlich – manchmal etwas schneller,manchmal etwas langsamer – aufgebaut worden. Es gibthier niemanden, der frei von Mitverantwortung ist.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4267
Florian Toncar
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– Sie sind die Allerletzten, die frei von Verantwortungsind. Das kann man festhalten.
Wir erleben gerade, was passieren kann, wenn Staatenso viele Schulden machen, dass sie mit der Refinanzie-rung nicht mehr zurechtkommen, dass ihnen das Geldausgeht, und welche Dramatik und Geschwindigkeit dasannehmen kann. Ich glaube, dass die Folgen von dem,was wir in Südeuropa zurzeit erleben, für uns inDeutschland viel weitreichender sein werden, als dieseDebatte es bisher widergespiegelt hat.
In diesem Thema steckt eine Brisanz und, wenn esschlecht läuft, auch eine Dynamik, die wir ernst nehmenmüssen. Deswegen müssen wir festhalten: Die Zeiten, indenen Politiker Wählern versprechen konnten, mehrGeld auszugeben, als sie einnehmen, sind auf absehbareZeit vorbei. Jede Partei, die politisch gestalten möchte,muss sich daran messen lassen.
Wir müssen darüber sprechen, dass unser Staatsver-ständnis ein grundlegend anderes werden muss und dassder Staat Prioritäten setzen muss. Herr KollegeBockhahn, ich weiß nicht, ob es wirklich haltbar undklug ist und ob Sie damit das Vertrauen der Wählerinnenund Wähler gewinnen, wenn Sie beispielsweise beantra-gen – ich beziehe mich auf die aktuellen Anträge zumHaushalt –, den Einzelplan des Familienministeriumsvon ungefähr 6 auf ungefähr 15 Milliarden Euro zu erhö-hen.
– 17 Milliarden Euro, und Sie sind auch noch stolz da-rauf.
Ich glaube, dass die Wählerinnen und Wähler eine an-dere Art von Politik erwarten. Solche unseriösen Ver-sprechungen müssten spätestens seit dieser Woche derVergangenheit angehören.
Wir müssen uns – das erlebe ich oft in politischenDiskussionen, Podiumsdiskussionen oder bei Beratun-gen im Haushaltsausschuss – davon verabschieden,mehr Geld mit politischer Schwerpunktsetzung gleich-zusetzen; denn wer mehr Geld gibt bzw. einen Titel er-höht, tut nicht unbedingt Gutes. Vielleicht sollte manauch überlegen, wie man mit dem vorhandenen Geldbesser wirtschaften kann, statt die Diskussion immer sozu führen, dass der, der mehr Geld verspricht – was ernachher auch einlösen muss –, der Gute bzw. derjenigeist, der das Thema ernst nimmt.
Wir werden mit Sicherheit im Bundeshaushalt 2011mit einer Vielzahl von Maßnahmen auf die Situation re-agieren müssen. Da geht es um die Subventionen.
Wir als FDP sind beispielsweise der Meinung, dass wiran die Steinkohlesubventionen heran müssen. Wir sindder Meinung, dass es bei bestimmten steuerlichen Ge-staltungsmöglichkeiten einen Missbrauch gibt.
Ich persönlich habe dies zum Beispiel im Bereich derEnergie- und Stromsteuer erlebt, wo sich Betriebe inVergünstigungen hineinbegeben, die ihnen eigentlichnicht zustehen. Das Thema Subventionen ist ein großerKomplex, mit dem wir uns beschäftigen werden.
– Herr Trittin, Sie sind doch von der Partei, die auch inder letzten Woche wieder dafür eingetreten ist, dass manInvestoren im Bereich Solarenergie Traumrenditen ga-rantiert und das vom Stromkunden bezahlen lässt. DasThema Subventionsabbau sollten wir uns also alle aufdie Tagesordnung schreiben, anstatt ständig das Wort imMunde zu führen und das Gegenteil dessen zu vertreten,wie Sie das tun.
Wir werden uns sicherlich um das Thema Arbeits-markt kümmern müssen, nicht was das Leistungsniveau,aber was die Treffsicherheit und die Effizienz von Ein-gliederungsleistungen und -maßnahmen angeht. Wirwerden uns mit dem Personalbedarf der Bundesagenturfür Arbeit
und mit dem Thema Bürokratieabbau, womit wir in derVerwaltung nachhaltig Kosten einsparen könnten, be-schäftigen müssen.
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4268 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Florian Toncar
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Beispielsweise hat die FDP-Fraktion vorgeschlagen,die Wohnkosten im ALG-II-Bereich regional differen-ziert zu pauschalieren, weil da sehr viel Verwaltungsauf-wand betrieben wird und sehr viele Prozesse geführtwerden. Diese Themen müssen diskutiert werden. Natür-lich können da unterschiedliche Meinungen vertretenwerden, auch von Mitgliedern der Parteien, die dieKoalition bilden. Es ist völlig verfehlt, jeden Diskus-sionsprozess sofort als destruktiv oder die Parteien alszerstritten darzustellen. Dafür sind die Probleme zuschwierig. Niemand hat heute alles im Kopf – dies sollteman auch nicht für sich beanspruchen –, was nötig ist,um aus dieser Lage herauszukommen.
Herr Präsident, ich komme zum Schluss.
Wir als Koalition haben den klaren Vorsatz, die Schul-denbremse, die es glücklicherweise im Grundgesetz gibtund die viele im Hause nicht wollten – die KolleginNahles hat das Thema Schuldenmachen als Handlungs-spielraum bezeichnet; ich kann Ihnen das Zitat geben;das wollen wir nicht –, einzuhalten. Wir werden das tun,weil wir wissen und merken, wie wichtig das ThemaVerschuldung für unseren Staat und vor allem auch fürunsere Bürger ist.Vielen herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Barbara Höll für die Fraktion Die
Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir erleben die tiefgreifendste Krise desEuro-Raums: zunächst den Ausbruch in Griechenland,inzwischen sind alle Euro-Staaten davon erfasst. DieFDP hat dessen ungeachtet weiter von Steuersenkungengefaselt, die im Klartext nichts anderes als eine weitereUmverteilung von unten nach oben bedeutet hätten. Ge-nau das ist der Kern des Stufentarifs. Die Kanzlerin riefSie zurück – spät, ich sage: zu spät.Große Krise! Die Reaktionen der Staaten der Euro-Zone erfolgten über Nacht und ohne Parlamentsbeteili-gung. Herr Sanio, Chef der BaFin, erklärte gestern in derAnhörung des Haushaltsausschusses, ohne die Be-schlüsse der Nacht hätte er am Montagmorgen nicht auf-wachen mögen. Dann wäre die Nach-Lehman-Zeit einlaues Lüftchen gewesen.Die Bevölkerung hat schlicht und ergreifend Ängste.Die häufigsten Fragen, die mir derzeit gestellt werden,egal ob von Bürgerinnen und Bürgern im Wahlkreisbürooder von Bekannten, lauten: Wie geht denn das jetzt wei-ter? Was wird mit meinem bisschen Ersparten? Wo sollich denn mit meinem bisschen Geld hin? Wie kann ichdas retten? – Für ein Haus oder so etwas reicht es bei denallermeisten nicht. Die haben natürlich die Erwartung,dass die Regierung – dafür ist sie gewählt – jetzt endlichAntworten gibt, einen Plan hat, damit man das Gefühlhat, dass sie weiß, was sie tut.
Aber Sie agieren nicht, Sie reagieren nur, und das ma-chen Sie völlig kopflos. Bestenfalls kommt ein Flicken-teppich dabei heraus, schlimmstenfalls ein Chaos. Dasist Ihre Art der Krisenbewältigung.
In der Finanzkrise 2008 wurde hier im ParlamentHals über Kopf ein Rettungsschirm für die Banken ver-abschiedet,
aber es herrschte Einigkeit im Parlament, dass es not-wendig ist, ein Konjunkturprogramm aufzulegen, dassgerade in dieser Situation die öffentliche Hand die Bin-nennachfrage ankurbeln muss, indem man den Bürgerin-nen und Bürgern etwas Geld gibt, damit sie kaufen kön-nen.
Das Konjunkturprogramm war antizyklisches und damitrichtiges Agieren.
Jetzt, anderthalb Jahre später, gilt das nicht mehr? Siehaben hier noch vor Wochen verkündet, wie stolz Sie aufIhr Konjunkturprogramm sind, weil es erwiesenermaßenfunktioniert hat.
Wir hätten es besser gemacht, wir hätten es umfangrei-cher gemacht, aber es hat funktioniert. Die Arbeitslosig-keit ist einigermaßen begrenzt. Es gibt keine Massen-insolvenzen von Unternehmen.
Jetzt gilt das nicht mehr, jetzt brauchen wir das allesnicht mehr? Jetzt ist das europaweit nicht notwendig?Nein, Sie haben europaweit Konditionen durchgesetzt,die krisenverschärfend wirken werden. Das ist schlichtund ergreifend ein Skandal und stellt Sie in die Ecke;denn Sie wissen wirklich nicht, was Sie tun.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4269
Dr. Barbara Höll
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Entweder wollen wir nun konjunkturpolitisch wirkenoder nicht. Was im eigenen Land gilt, sollte auch europa-weit gelten. Deshalb lautet unser Vorschlag, europaweiteKonjunkturprogramme einzuführen, wobei jedes Land2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aufbringen sollte.Das haben wir gestern ausgeführt.
Jetzt spielen Sie – unter Ausschaltung des Bundesta-ges – über die Bande, indem Sie sagen, Europa schreibeuns jetzt vor, dass wir sparen müssen. Nein, Sie wollenstreichen. In Griechenland haben Sie angefangen. Da ha-ben Sie zum Beispiel die Streichung des Mindestlohnesbei Jugendlichen verfügt; das wurde einfach durchge-setzt.
Vor der NRW-Wahl sind Sie zu feige gewesen, zu sagen,wo Sie streichen wollen. Herr Koch übernimmt nun dieVorreiterrolle und sagt, bei der Bildung könne man jetztstreichen. Das ist absolut kurzsichtig. Denn wir wissen:Investitionen in frühkindliche Bildung, in Bildung imKindesalter vor der Einschulung, in Schulen und Hoch-schulen zahlen sich doppelt und dreifach aus.
Wenn man sie nicht tätigt, schadet man erstens den Kin-dern und Jugendlichen, vor allem mit Blick auf ihre Zu-kunft; denn dann fehlt Wissen, das für die Entwicklungwichtig ist. Zweitens wird es teurer. Sie wissen genau,dass dadurch eine Vielzahl sozialer Probleme entsteht,wo wir dann mühsam nachbessern müssen und die wirnie gelöst bekommen. Das ist eine skandalöse Politik,die Sie hier lostreten.
Wir sind uns einig: Für Investitionen in Bildung kannman Schulden machen. Wir waren gegen diese Schul-denbremse. Wenn ich mich recht entsinne, besteht dieMöglichkeit, trotz Schuldenbremse Schulden unter an-derem für Bildung aufzunehmen.Herr Kampeter – ich sehe ihn gerade nicht – hat vor-hin großartig verkündet, man müsse in die Struktur desBundeshaushaltes schauen. Ja, gerne. Schauen Sie sichdie Zahlen an. Wenn wir heute die Abgaben- und Steuer-quote des Jahres 2000 hätten, hätten wir fast keine Neu-verschuldung gebraucht. Das ist die Realität. SchauenSie sich die Struktur des Haushaltes an. Sie haben dochlaufend Steuersenkungen verabschiedet. Stichwort Mö-venpick: rund 1 Milliarde Euro, das haben wir alles inder Portokasse. So agieren Sie.
Machen Sie endlich eine gerechte Steuerpolitik beider Einkommensteuer. Setzen Sie die Körperschaftsteuerbei der Unternehmensteuer wieder hoch; das ist möglich.Sagen Sie endlich, dass die Reichen und Vermögendennun zur Kasse gebeten werden. Eine erneute Erhebungder Vermögensteuer ist möglich und verfassungskon-form.
Durch eine Reform der Erbschaftsteuer könnten wirmehr Geld einnehmen. Diese Anträge liegen auf demTisch.Ich bin trotz allem hoffnungsvoll. Ich habe 1997 imBundestag die Einführung der Tobin-Steuer gefordert.Jetzt haben Sie zumindest bekundet, dass Sie es machenwollen. Sie wissen, dass eine Einführung der Finanz-markttransaktionssteuer in Höhe von 0,05 Prozent euro-paweit etwa 27 Milliarden Euro bringen würde.
Das sind Möglichkeiten. Dort ist Geld vorhanden. Des-halb lassen Sie uns endlich handeln und zeigen Sie, obSie noch einen Kopf und einen Plan haben oder nicht.Danke.
Das Wort hat nun Priska Hinz für die Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen.Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! HerrKoppelin, nachdem Sie acht Monate gebraucht haben,um die finanzpolitische Realität in diesem Land wahrzu-nehmen, wundert es mich nicht, dass Sie es nicht schaf-fen, von Montag bis heute zu verstehen, warum dieseAktuelle Stunde beantragt wurde.
Sie haben gesagt, dass viele beim Anhäufen des Schul-denbergs mitgemacht haben. Stimmt, das kann ich Ihnennur zurückgeben. Die höchste Verschuldung ist mit demHaushalt 2010 eingetreten, an dem die FDP beteiligtwar. Durch Ihr Schuldenbeschleunigungsgesetz habenSie die öffentlichen Kassen zusätzlich belastet, denBund um 4 Milliarden Euro, Länder und Kommunen um4 Milliarden Euro. Das ist nach acht Monaten Regie-rungszeit die Bilanz der FDP in Sachen Schuldenberg.Sie sollten einmal in den Spiegel schauen!
Es war falsch, die Haushaltskonsolidierung auf die Zeitnach der NRW-Wahl zu verschieben. Das war nicht nurinhaltlich falsch, sondern auch taktisch. Aber Sie haben
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4270 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Priska Hinz
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ja die Rechnung dafür bekommen, sowohl FDP als auchCDU. Wir haben überhaupt kein Mitleid mit Ihnen.
Ich habe ja gedacht, dass Sie die Zeit bis Juni nutzen,um sich zu orientieren, um zu überlegen, was Sie nachder NRW-Wahl machen wollen.
Aber nicht einmal das haben Sie geschafft. Jetzt habenSie folgendes Problem: Es gibt jede Menge Sparvor-schläge aus Ihren Reihen, die sich aber widersprechenund sich diametral gegenüberstehen. Herr Meister vonder CDU fordert, den Bundeszuschuss an die gesetz-lichen Krankenkassen einzufrieren. Frau Flach und HerrSpahn sind umgehend dagegen. Die Unionsministerprä-sidenten Koch und Wulff bringen Steuererhöhungen insGespräch. Seehofer sagt, dann würde die Hütte brennen.Herr Barthle will eine Pkw-Maut einführen. Fraktions-experten der Union, die für Verkehr zuständig sind,zeigen sich skeptisch. Was gilt denn nun eigentlich? Siehaben wirklich acht Monate verschlafen. Das zeigt nichtnur der Bundeshaushalt 2010, das zeigt auch die jetzigeDebatte. Sie haben sich nicht vorbereitet. Sie sind völligorientierungslos, und das schadet diesem Land.
Es ist ein einmaliger Vorgang, dass ein Ministerpräsi-dent aus den eigenen Reihen im Zuge der Haushaltskon-solidierung ausgerechnet zum Sparen im Bereich Kin-derbetreuung und Bildung auffordert, und das, obwohlFrau Merkel die Bildungsrepublik ausgerufen hat. Alsovom Schwerpunkt zum Sparpunkt! Frau Merkel kannman da nur zurufen: Wer nicht führt, der wird vorge-führt, in diesem Fall von Herrn Koch.
Den Angriff auf die Bundeskanzlerin können wir vonder Opposition, als Grüne, besonders gut verschmerzen.Das tut uns nicht weh. Aber es geht um die Zukunftsfä-higkeit des Landes. Das ist ein Angriff auf die Zukunfts-fähigkeit des Landes. Wer an der Bildung spart, hat nichtkapiert, worauf es in diesem Land ankommt.
Wir brauchen besser ausgebildete junge Menschen. Wirbrauchen weniger Schulabbrecher. Wir brauchen Kin-derbetreuungsplätze, damit die frühe Förderung gelingt.Heute Morgen haben wir über Aus- und Weiterbildungdiskutiert. Die Hochschulen brauchen mehr Studien-plätze und nicht ein Sparpaket, wie es in Hessen HerrKoch ausgerufen hat. All das brauchen wir, damit wirtatsächlich zukunftsfähig sind, damit die Wirtschaft ausder Wirtschaftskrise gut herausfindet, damit wir innova-tiv sind. Das entlastet den Haushalt auf Dauer. Aber dashaben Sie nicht verstanden, und das ist das Problem die-ser Regierung.
Wir möchten gerne wissen, wie es mit dem 12-Mil-liarden-Euro-Programm weitergeht. Sie haben groß ge-tönt, dass es keine Sparrunden in Sachen Bildung gebenwird. Aber ob, wie geplant, zusätzlich investiert wird, istnoch die Frage. Insofern ist der Haushalt eine Nagel-probe. Darauf werden wir achten.Wir Grüne haben Ihnen schon bei den letzten Haus-haltsberatungen Vorschläge unterbreitet, wie es gehenkann. Wir wollen den Haushalt konsolidieren, ja. Wirwollen die Schulden senken, ja. Wir wollen aber auchinvestieren, wo das notwendig ist, ja. Wir Grüne habengezeigt, wie das gehen kann. Würden Sie unseren Haus-haltsvorschlägen folgen, könnten wir zusätzlich über5 Milliarden Euro in den Klimaschutz investieren, über700 Millionen Euro mehr in die Bildung investieren undgleichzeitig 7 Milliarden Euro weniger Schulden ma-chen.
Auch darauf kommt es an; das haben wir doch jetzt inder Euro-Debatte gesehen. Wir wollen die Einnahme-basis verbreitern und das Steuersystem gerechter gestal-ten.
So sieht intelligentes Sparen aus.
Der grüne Kompass zeigt in die Zukunft, während Sieorientierungslos im Land herumirren. Wir brauchen eineandere Gestaltung. Wir hoffen, dass dieser grüne Kom-pass auch Ihnen irgendwann den Weg zeigen wird.Danke schön.
Das Wort hat nun Jürgen Herrmann für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, je-der hat dieses Sprichwort schon einmal gehört: Geldregiert die Welt. Auch wenn ich dem nicht vorbehaltloszustimmen kann, so kann ich mich des Eindrucks nichterwehren, dass vieles daran stimmt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4271
Jürgen Herrmann
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– Bei Ihnen regiert das Geld auch Ihr politisches Han-deln, nur in eine Richtung, die uns weiter vor die Wandfahren lässt.
Ihre Umverteilungsmentalität führt zu nichts außer zuneuen Schulden.
Wir haben in den letzten Wochen erleben müssen,dass die Märkte unberechenbar sind. Mit modernerTechnik lassen sich von einer Sekunde auf die andereMilliardenbeträge verschieben. Die Finanzkrise, über diewir seit Monaten diskutieren, ist sicherlich auch einErgebnis davon.Durch die Konjunkturpakete, das Wachstumsbe-schleunigungsgesetz, die finanziellen Hilfen für Grie-chenland und Gewährleistungen im Rahmen eines euro-päischen Finanzstabilisierungsprogramms haben wirMaßnahmen auf den Weg gebracht. Ich bin mir darüberim Klaren, dass diese Stabilisierungsmaßnahmen Geldkosten; dieses Geld ist aber gut angelegt.
Herr Bockhahn und Frau Dr. Höll, es ist richtig, überKonjunkturpakete zu sprechen; aber Sie sollten nicht,wie wir das bei den Beratungen über den Haushaltsplan2010 erlebt haben, Ausgabensteigerungen fordern, diezu nichts führen, außer dass sie ein noch größeres Aus-gabenloch hinterlassen.
Ich bin äußerst zufrieden damit, dass sich die Kanzle-rin in ihrer Regierungserklärung ganz deutlich dazugeäußert hat, was sie von den anderen Mitgliedstaatender Europäischen Union fordert. Sie hat auch gesagt,dass auch wir in Deutschland bei der Haushaltskonsoli-dierung entscheidende Dinge voranbringen müssen.
Ich bin mir sicher, dass es in der Bevölkerung nichtfür alle Dinge Verständnis gibt – wir sind zweifellosgefordert –; aber wir werden diese Dinge auf den Wegbringen. Die Haushälter, aber auch die anderen Mitglie-der der Koalition sind sich der Erfordernisse und derAuswirkungen durchaus bewusst. Für den Haushalt2010 hatten wir einen Regierungsansatz von mehr als325 Milliarden Euro. Wir haben bewiesen, dass wir spa-ren können: In den Haushaltsberatungen haben wir mehrals 5 Milliarden Euro davon gespart. Das war ein ersterSchritt, die Weichen richtig zu stellen.
– Ich weiß, dass Ihnen das nicht gefällt.
Das hat auf der Seite der Fachpolitiker natürlich keinenJubel hervorgerufen; aber wir sind auf dem richtigenWeg und werden diesen Weg in den nächsten Beratun-gen fortsetzen.Wir haben eine Schuldenbremse in das Grundgesetzeingebaut. Diese Schuldenbremse wird erstmals 2011Wirkung zeigen. Strukturelle Einsparungen sind von unsgefordert: Wir müssen in den Haushaltsberatungen min-destens 10 Milliarden Euro einsparen, und das nicht nurim Jahr 2011, sondern auch in den Jahren, die folgen.Diesen Konsolidierungskurs brauchen wir. Hierbei wer-den uns die Länder unterstützen: Die Länder sind gefor-dert, bis zum Jahr 2020 ebenfalls ihre Hausaufgaben zumachen. Dabei werden strukturelle Ausgaben zu berück-sichtigen sein.Es wird immer davon geredet, dass wir ein Ausgaben-oder Finanzierungsproblem haben. Wenn Sie sich einmalanschauen, wie sich die Steuereinnahmen in den letztenJahrzehnten entwickelt haben, werden Sie feststellen,dass die Einnahmen des Staates massiv gestiegen sind.Allerdings sind auch die Ausgaben – suboptimal, würdeich sagen – nach oben getrieben worden. Letztendlichwurde mehr Geld ausgegeben, als wir eingenommenhaben.Die Opposition verweist immer darauf, dass es Län-der in der Europäischen Union gibt, die deutlich wenigerSteuereinnahmen haben. Schauen Sie sich dann bitteauch einmal die Standards in diesen Ländern an: Sie sindvollkommen anders.Wir werden in den anstehenden Beratungen über denHaushalt 2011 überlegen müssen, in welche Richtungwir gehen wollen, wo wir sparen müssen, wo Luxus bei-seitegeschoben werden muss.
Sie haben gefragt, wann wir den Haushalt 2011 vorle-gen. Sie wissen doch – Sie waren selbst in der Regie-rung –: immer vor der Sommerpause. Gestern im Ge-spräch mit Herrn Schäuble ist noch einmal deutlichgemacht worden: Noch vor der Sommerpause wird es ei-nen Regierungsentwurf für den Haushalt für das Jahr2011 geben. Damit werden wir Ihnen gemeinsam mit un-seren Freunden aus der Koalition aufzeigen, wie wir denHaushalt der Bundesrepublik Deutschland über die Jahrekonsolidieren werden. Das ist keine leichte Aufgabe. Ichlade Sie herzlich dazu ein, sich daran zu beteiligen, undzwar nicht an einer Ausgabenorgie, sondern daran, dieGelder gezielt und klug einzusetzen, damit wir unserenHaushalt konsolidieren können.
Das Wort hat jetzt Ernst Dieter Rossmann für dieSPD-Fraktion.
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4272 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Kampeter ist als Sprecher der Regierung ja so ge-waltig eingestiegen, als ob er die ganze Welt auf sich ge-richtet sah und meinte, man würde auf ihn gucken.Im Tagesspiegel von gestern kann man lesen – ich zi-tiere –: „Ein Haufen Union“. – Man darf hinzufügen: einHaufen Regierung.Was ist das Problem, weshalb der Tagesspiegel zudieser Analyse kommt? – Das Problem ist, dass das gol-dene Dreieck der schwarz-gelben Regierungsphiloso-phie – es lautete immer: Jede Steuersenkung ist gut, manwill auch Leistung für die Bürger und diese möglichstverbessern, und zwar in gewisser Beliebigkeit, sieheMövenpick, und man will die Haushalte gleichzeitig ent-schulden – vor die Wand gefahren ist. Weil es vor dieWand gefahren ist, sind Sie jetzt in Unruhe, und Sie wis-sen nicht mehr, in welcher Richtung Sie noch die Pei-lung haben sollen. Damit müssen Sie aber fertig werden.
Es gibt Einzelreaktionen, zum Beispiel von HerrnBarthle, den Haushälter, der schon vor der NRW-Wahlmeinte, man müsse auch bei der Bildung, der Kinderbe-treuung und anderen Dingen kürzen.
Daneben gibt es den hessischen Ministerpräsidenten, derden Kochlöffel herausholt und einmal kräftig auf denTisch haut. Außerdem gibt es den Herrn Tillich in Sach-sen, der sagt: Es muss bei der Mehrwertsteuer etwas ge-schehen, weil wir mehr Mittel brauchen.Dies ist die Gemengelage, aufgrund derer Sie sich neufinden müssen und Sie Abschied von Ihrem falschengoldenen Dreieck nehmen müssen; denn das ist nurschwarz-gelb angemalt und blättert sehr – und nichtmehr. Sie werden so nicht mehr durchkommen, und dasmerken Sie auch selbst.Nächste Beobachtung. Gestern haben wir FrauMerkel und Herrn Kauder gehört. Das sind ja die Autori-täten in diesem Regierungsbündnis,
und es fällt auf, dass von der FDP keine Autorität mehrzu nennen ist. Sie haben in Bezug auf die Bildungsrepu-blik Deutliches gesagt. Frau Merkel und Herr Kauderhaben gesagt: Die 12 Milliarden Euro stehen; das sollein Markenzeichen werden. – Sie haben auch gesagt:Die 10 Prozent für Bildung und Forschung in 2015 sol-len stehen. Es fällt auf, dass das heute hier noch von kei-nem Sprecher der CDU/CSU und der FDP gesagt wor-den ist.
Wir wissen natürlich, woher das kommt: Die Setzungender obersten Autoritäten werden gar nicht mehr richtiggetragen, Sie erkennen die Autorität von Merkel undKauder in Bezug auf diese Eckpunkte für die Bildungs-republik Deutschland in der Zukunft gar nicht mehr an;denn Sie müssen sich daran messen lassen.Aber auch die Autorität von Merkel und Kauder wirddaran gemessen, ob bei der Haushaltsklausur heraus-kommt, dass die 12 Milliarden Euro tatsächlich manifestgesichert sind, und ob beim Bildungsgipfel zwischendem Bund und den Ländern, der drei Tage später statt-findet, nämlich am 10. Juni 2010, herauskommt, dass die10 Prozent im Jahre 2015 gesichert und nicht aufgescho-ben und nicht diffundiert sind. Das würde dann Autoritätbedeuten, die in dieser Regierung vielleicht neu herge-stellt werden kann.Heute fällt auf: So weit sind Sie noch nicht. – Sie sindauch deshalb noch nicht so weit, weil sich die Länderund Kommunen, die Sie beteiligen müssen, wenn es umdie Veränderung der Republik in den Bereichen Bildung,Forschung und Innovation geht, betrogen fühlen. Siesind mit dem sogenannten Wachstumsbeschleunigungs-gesetz betrogen worden, was nichts anderes als ein Ent-finanzierungsgesetz für die Länder und Kommunen war.
Das, was Sie derart aufgebaut haben, ist einfach eineFalle. Ich will das anhand des Bundeslandes Schleswig-Holstein aufzeigen, wo wir auch die Mövenpicks mitfi-nanzieren mussten und wo die gleiche CDU/FDP-Lan-desregierung jetzt das beitragsfreie Kindergartenjahrwieder abschaffen musste. Es wurden 35 Millionen Euroan die Hoteliers gegeben und 35 Millionen Euro von denEltern genommen. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.
An dieser Stelle bekommen Sie die Kurve nicht mehr,wenn Sie nicht zu einem neuen Dreieck kommen. DiesesDreieck beinhaltet eine Einnahmeverbesserung durchgerechte Steuern und eine Steuerverbesserung.Es geht nicht mehr nur darum, die ermäßigten Mehr-wertsteuersätze abzuschaffen. Das hat Hans Eichel ver-sucht, und Sie haben ihn dafür als Steuererhöher denun-ziert. Ist Herr Tillich ein Steuererhöher? Werden dieCDU-Ministerpräsidenten zu Steuererhöhern,
oder kriegen Sie die Balance hin, was vielleicht vernünf-tig sein könnte, indem Sie manchen ermäßigten Mehr-wertsteuersatz wieder zurücknehmen, damit man mehrGeld für gute, innovative Politik hat? Hierzu gehört aberauch Gerechtigkeit, sodass Sie auch die Reichensteuer
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4273
Dr. Ernst Dieter Rossmann
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einführen und die Spitzensteuersätze bei der Einkom-mensteuer entsprechend erhöhen müssen.Das war das Erste.Zweitens müssen Sie, um zu einem neuen Dreieck zukommen, die richtigen Prioritäten setzen, und zwar aufBildung, Forschung und Innovation. Dann können Siedie Haushaltskonsolidierung erfolgreich angehen. Wenndas geschieht, wird dies nicht nur die CDU/CSU, son-dern auch die FDP verändern.
Die spannende Frage ist, ob der Umbruch, der jetztstattfindet, dazu führt, dass Sie sich als Regierung neuerfinden, vielleicht dann auch mit einer neuen FDP. Esgruselt einem manchmal bei der Entschlossenheit, mitder Sie sich bei einer leergelaufenen Ideologie wie in ei-ner Wagenburg sammeln.
Auch der Koalitionspartner empfindet dieses Gruseln,wenn er die Debatten wie gestern verfolgt. Er merktnämlich, dass er mit diesem Partner die Einsichten, dieer gewonnen hat, gar nicht umsetzen kann.Fazit: Was jetzt ein Haufen Union, ein Haufen FDPund ein Haufen Regierung ist,
hat die Chance, von diesem Haufen zur handelnden Re-gierung zu werden und damit in die neue Zeit zu finden.Versuchen Sie es! Wir werden Sie dabei gerne treiben.Danke schön.
Das Wort hat nun Alois Karl für die CDU/CSU-Frak-
tion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Diskussion ist vonIhnen bereits gestellt worden, Herr Koppelin. Ich formu-liere es positiv: Wir sind eine Regierungskoalition, in derverschiedene Parteien vertreten sind. Die Parteien habenaußerordentlich tüchtige Leute, die sich täglich Gedan-ken machen und auch von ihrem Recht auf freie Mei-nungsäußerung Gebrauch machen. Daran finde ich zu-nächst nichts Schlechtes.Wir sind in diesen Tagen in einer schwierigen Zeit.Die Bundeskanzlerin und der Finanzminister haben dasin den letzten Tagen vielfach ausgeführt. Sie geben unsGelegenheit, Grundsätzliches zu diesen Themenberei-chen zu sagen. Viele von uns machen sich ihre Gedan-ken. Es ist gut, dass wir uns in dieser schwierigen Zeitauseinandersetzen.Wir sind, wie gesagt, verschiedene Parteien. Wir sindkeine Einheitsfront, und wir haben auch kein einheitli-ches Sprachregime. Uns geben keine Politbüros vor, waswir zu sagen haben. Ich danke herzlich denen, die sich inden letzten Tagen so sachlich und intensiv an der Dis-kussion beteiligt haben.
Wir haben zwei Hauptaufgaben: Die eine ist Sparenund Konsolidieren. Das ist bereits angesprochen worden.Die andere Aufgabe besteht darin, dass wir investierenmüssen, wie es schon in den letzten Jahren der Fall war.Ich wundere mich manchmal, wie die Vergangenheitauch von manchen aus den Reihen der SPD verdrängtwird. Wir hatten doch den größten Konjunktur- undWirtschaftseinbruch seit Gründung der Bundesrepublikvor mehr als 60 Jahren. Deshalb haben wir einiges ma-chen müssen, was wir eigentlich von vornherein nichtmachen wollten, was uns aber aufgedrängt worden ist.Wir haben investiert, statt in die Krise hineinzuspa-ren, wie es in der letzten großen Wirtschaftskrise 1932der Fall war. Tüchtige Finanzminister, Peer Steinbrückund auch Wolfgang Schäuble, haben mit unserer Unter-stützung das Richtige getan. Wir haben durch vielfacheMaßnahmen die Konjunktur gestützt, und wir haben indie Menschen investiert. Wir haben viel Geld in dieKurzarbeiterregelung investiert, um die Menschen zuqualifizieren und sie in der Krise nicht hängen zu lassen.Wir wissen, dass 100 000 zusätzliche Arbeitslose Mehr-ausgaben von 2 Milliarden Euro pro Jahr bedeuten. Des-halb war es richtig, dass wir in dieser schwierigen Zeitgemeinsam investiert haben. Lieber Herr Hagemann,auch das sollten Sie in einer Debatte wie dieser durchauserwähnen; denn wir haben eine gute Leistung vollbracht.
Wir müssten uns darüber freuen, dass die Zahl der Ar-beitslosen dieses Jahr statt der prognostizierten4 Millionen nur noch 3,4 Millionen betragen soll. Wirhaben eine soziale Politik betrieben, die auch Geld ge-kostet hat. Jetzt ist das Gebot der Stunde, dass wir unsans Sparen und Konsolidieren machen. Jeder weiß, dassderjenige, der Einsparungen fordert, zunächst Beifall er-hält. Wenn es aber konkret wird und man sieht, dass dieEinsparungen einen selber betreffen, dann wird man zu-rückhaltender. Es war richtig, dass wir die Schulden-bremse in das Grundgesetz aufgenommen haben und unsdamit selber vorgegeben haben, wie wir in den nächstenJahren haushalten müssen.Wir wissen doch, dass wir in einer alternden Gesell-schaft leben, in der es schon heute mehr über 65-Jährigeals unter 20-Jährige gibt. Aus diesem Grunde wird eseine der Hauptfragen sein, welche Reformen, die sicherst in Jahrzehnten auswirken werden und von denen dieheute Alten wahrscheinlich nichts mehr haben werden,
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Alois Karl
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wir heute machen. Es ist das Gebot der Korrektheit, dasswir den jungen Leuten in unserem Lande Perspektivengeben. Dafür sind wir gewählt, und dafür haben wir Ver-antwortung.
Auch den Herrschaften auf den Tribünen muss gesagtwerden, dass wir seit 40 Jahren mehr Geld in unseremLande ausgeben, als wir einnehmen. Das ist in einer ge-wissen Weise eine unethische Politik. Wir müssen heutezugeben, dass wir alle daran irgendwie beteiligt und ir-gendwie schuldig waren. Aber es geht nicht darum, dieVergangenheit zu bewältigen, sondern darum, die Zu-kunft zu gewinnen. Darum sind kleinkrämerische Reden,wie sie heute zum Teil geschwungen worden sind, dasvöllig verkehrte Mittel, wenn man an diese großen Auf-gaben herangehen will.
Die Bundesregierung wird in der Klausurtagung An-fang Juni die Grundlinien vorgeben und die Weichenstellen. Selbstverständlich haben wir Grundsätze. AnBildung und Forschung wird als Allerletztes gespart; dashaben wir gesagt.
Wir wollen für unsere Kinder sparen, und wir wollennicht an unseren Kindern sparen.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Ich danke für den Hinweis. – Herr Tillich hat recht,
wenn er sagt, das Geld könne auch in der Bildung klug
eingesetzt werden und niemand sei davor gefeit, heute
bessere Gedanken als im letzten Jahr zu haben.
Meine Damen und Herren, der eine mag zwar der
Koch sein. Aber der Küchenchef sind wir hier im Deut-
schen Bundestag. Wir werden auf der Grundlage der
Vorschläge entscheiden, die wir hier machen. Auch die
Opposition ist aufgerufen, sich nicht nur renitent zu ver-
halten und nicht nur destruktive Vorschläge zu machen.
Herr Kollege!
Vielmehr sollte sie sich hier an einer Aufgabe beteili-
gen, die die nächsten Generationen in unserem Lande
betreffen wird.
Vielen herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Kollege Volkmar Klein von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Was wir im Zuge dieser Aktuellen Stunde ge-lernt haben, ist, dass Folgendes leider immer noch sehraktuell ist: Wir brauchen gerade auf der linken Seite die-ses Hauses viel mehr Verständnis dafür, dass Haushalts-konsolidierung nun wirklich ein moralisches Gebot, einemoralische Aufforderung im Interesse unserer Kinderist. Dies ist leider immer noch sehr aktuell, weil es nochlängst nicht überall verstanden worden ist.
Ansonsten habe ich diese Diskussion als ziemlichskurril empfunden. Was werfen Sie uns denn im Kernvor?
Sie werfen uns doch offensichtlich vor, dass wir es unsin der Vorbereitung der im zweiten Halbjahr zu führen-den Diskussionen nicht leicht machen. Aber, meine Da-men und Herren, was denn sonst? Natürlich machen wires uns nicht leicht, weil es abzuwägen gilt. Auf der einenSeite gibt es wichtige Anliegen, für die wir hier Verant-wortung haben: Bildung zu stärken, Straßenbau zu orga-nisieren, weil diese Infrastrukturinvestition für unsereZukunft ebenfalls wichtig ist, unsere Bundeswehr ord-nungsgemäß auszustatten, sodass sie wirklich Sicherheitfür uns produzieren kann, Verantwortung für andereLänder in Sachen Entwicklungshilfe zu übernehmen. Alldies sind doch wichtige Dinge, die abgewogen werdenmüssen. Auf der anderen Seite haben wir eben auch Ver-antwortung gegenüber den nachfolgenden Generationen.
Es ist einfach ethisch unanständig, hier so zu tun, als seinur Ausgeben moralisch einwandfrei, nicht aber Haus-haltskonsolidierung. Ganz im Gegenteil!
Das, was wir im Hinblick auf die Zukunft und gegen-über den nachfolgenden Generationen für moralisch an-ständig halten, kommt doch sozusagen aus der Zukunftzu uns zurück. Wir stellen fest, dass auch die Finanz-märkte Zweifel haben, ob künftige Generationen tat-sächlich so belastbar sind, wie das in dem einen oder an-deren Land im Moment ausgetestet wird.
Vor diesem Hintergrund ist es richtig, nun über eineHaushaltskonsolidierung nachzudenken, und zwar nichtnur deshalb, weil wir sie als Selbstverpflichtung imGrundgesetz verankert haben. Wir müssen sicherlich dieVorgaben der Schuldenbremse einhalten. Aber wir wol-len es auch, weil wir es für richtig und moralisch anstän-dig halten, nicht auf Kosten künftiger Generationen zuleben.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4275
Volkmar Klein
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Deshalb ist es im Grunde auch richtig, einen Wettbewerb– diesen kann man sicherlich ein bisschen leiser oderhinter verschlossenen Türen durchführen, wie der eineoder andere meint – zu starten, bei dem es um die Fragegeht, wo wir mit geringstem Schaden weniger Geld aus-geben können. Es wäre schön, wenn man sich dabeinicht renitent verhalten würde, wie mein Vorredner esausgedrückt hat, sondern wenn ein bisschen konstruktivmitgedacht würde.
Wir müssen in unserem Land einen Wettbewerb starten,in dessen Mittelpunkt die Frage steht, wie wir mit unse-rem Geld mehr erreichen können. Das ist die zentraleFrage, die uns in den nächsten Monaten und Jahren lei-ten wird.Es wäre schön, wenn wir über die im zweiten Halb-jahr dieses Jahres anstehenden Beratungen über denHaushalt 2011 hinaus einen kleinen Beitrag zu einerneuen Kultur der Stabilität, der Zukunftsorientierungund des besseren Abwägens leisten könnten. Das wün-sche ich mir. Es wäre diesem Hause angemessen, wennsich alle daran beteiligten.Herzlichen Dank.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Die Fraktionen haben sich verständigt, die Sitzung
jetzt für etwa zwei Stunden für Fraktionssitzungen zu
unterbrechen. Der Wiederbeginn der Sitzung wird recht-
zeitig durch Klingelsignal bekannt gegeben.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die unterbrochene
Sitzung ist wieder eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:
Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP
Europa 2020 – Die Wachstums- und Beschäf-
tigungsstrategie der Europäischen Union
braucht realistische und verbindliche Ziele
– Drucksache 17/1758 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Ich
sehe, damit sind Sie einverstanden. Dann können wir so
verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin der Kollegin Gabriele Molitor für die FDP-Frak-
tion das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Diese Woche ist von schwerwiegenden Entschei-dungen geprägt, die über die Zukunft unseres Landesund Europas bestimmen. Mit der heutigen Diskussionüber die Inhalte und Maßnahmen der Europa-2020-Stra-tegie und der zu verabschiedenden Stellungnahme desDeutschen Bundestages beraten wir, wie Wachstum undBeschäftigung im kommenden Jahrzehnt in der Europäi-schen Union geschaffen werden können.Die langfristige Ausrichtung ist aber nur dann erfolg-reich, wenn wir bei dieser Strategie Prioritäten setzen,Probleme erkennen und gemeinsam handeln.
Im vorliegenden Antrag der Koalitionsfraktionen benen-nen wir unsere Vorstellungen, um der Bundesregierungdurch das Parlament Handlungsaufträge für den Euro-päischen Rat am 17./18. Juni 2010 mit auf den Weg zugeben.Die Auswirkungen der derzeitigen Finanz- und Wirt-schaftskrise sind mit ein Anstoß für die Wirtschafts- undBeschäftigungsstrategie. Außerdem soll die Strategie dasKonzept sein, wie Europa seine Wettbewerbsfähigkeit inder Welt sichern kann.
Die Bundeskanzlerin hat zu Recht bereits in ihrer Re-gierungserklärung am 5. Mai dieses Jahres erklärt, dasssie sich beim besten Willen nicht vorstellen kann, wiewir die neue Wachstumsstrategie verabschieden können,ohne dass in konkreter Form deutlich wird, welche Leh-ren Europa aus der Krise zieht. Erst gestern sagte sie,dass wir uns, wenn wir Europa positiv entwickeln wol-len, an den starken und erfolgreichen Volkswirtschaftenorientieren müssen und nicht an den Schlusslichtern.
Die Länder der Europäischen Union sitzen in einemBoot. Das merken wir in diesen Tagen ganz besonders.Deshalb unterstützen wir die Forderung nach einer Ab-stimmung zwischen einzelnen Langzeitstrategien derEuropäischen Union.Es ist wichtig, Kernziele herauszuarbeiten und sichdarauf zu konzentrieren. Bisherige Entscheidungen wiedie zum Krümmungswinkel von Bananen oder das Kin-derwagenverbot auf Rolltreppen gehören nicht in dieZuständigkeit der EU. Sie sind eher das Ergebnis vonRegelungswut und rufen bei den Bürgern nur Kopfschüt-teln hervor.Es geht darum, andere Ziele zu benennen. Um nocheinmal mit den Worten der Kanzlerin zu sprechen: Esgeht um die Aufgabe, durch eine vernünftige Infrastruk-
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4276 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Gabriele Molitor
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tur und Forschungspolitik den europäischen Kontinentzukunftsfest auszurichten.Mit dem vorliegenden Antrag setzen wir diesen An-spruch um und ziehen die richtigen Lehren aus der invielen Belangen enttäuschenden Lissabon-Strategie. Dassieht auch die Europäische Kommission so. Sie hat we-nige wichtige Leitlinien und Kernziele benannt, denenwir uns zum großen Teil anschließen können. Wir wer-den aber auch darauf achten, dass die Zielvorgaben rea-listisch sind und sich an der Kompetenzordnung der EU-Verträge ausrichten.
Im Hinblick auf die geplante Reduzierung der Zahlder von Armut Betroffenen kann ich nur davor warnen,Fortschritte bei der Armutsbekämpfung einzig und alleindurch eine Übersicht zur Einkommensverteilung abzu-bilden. Jeder in diesem Hohen Haus ist für soziale Ein-gliederung und Armutsbekämpfung.
– Ich habe gerade gesagt: jeder. Da zähle ich uns mitdazu.
Allerdings lehnen wir, CDU/CSU und FDP, das Ziel ei-ner Armutsrisikoquote, wie sie die Kommission vor-schlägt, ab.
Ein ausschließlich quantitativ formuliertes Armutsre-duktionsziel sagt noch gar nichts über das Wie der Re-duktion aus. Die Armutsrisikoquote ignoriert die nicht-monetären Sozialleistungen, zum Beispiel für präventiveMaßnahmen, für die Sicherung des Zugangs zu Bildung,zu Kinderbetreuungseinrichtungen und zu Hilfen für Al-leinerziehende. Hier ist Klarheit über die Zielformulie-rung unbedingt notwendig; andere Mitgliedstaaten sehendas im Übrigen genauso. Überdies ist es wichtig, daraufzu achten, dass der sozialpolitische Bereich in die Zu-ständigkeit der Mitgliedstaaten fällt.Beim Bildungsziel muss es auch darum gehen, dieKompetenzordnung der Mitgliedstaaten zu beachten. Des-halb fordern wir eine objektive Berücksichtigung der spe-ziellen Bildungswege und Bildungsangebote in Deutsch-land, die vielfach einen dem Hochschulabschlussähnlichen Abschluss ermöglichen. An dieser Stelle se-hen wir auch die von der Kommission vorgeschlageneQuantifizierbarkeit von Bildungserfolgen sehr kritisch.Eine reine Ausrichtung an absoluten Zahlen greift beider Bewertung des Bildungssystems nach unserer Auf-fassung zu kurz.
Die konkrete Umsetzung der Leitlinien und Kernzieleder neuen Wachstumsstrategie soll durch nationale Ak-tionspläne erreicht werden. Mit den in unserem Koali-tionsvertrag vereinbarten Maßnahmen gehen wir in dierichtige Richtung; er ist ein wichtiger Anknüpfungs-punkt.Inhaltlich sind die Berichterstattung zur Europa-2020-Strategie und das auf den Stabilitäts- und Wachstumspaktgegründete Bewertungsverfahren zwar getrennt. In derKombination haben wir aber die Möglichkeit, noch stär-ker auf diejenigen innerhalb der Europäischen Union zuachten, die sich etwas schwerer tun. Wir werden daraufhinwirken, dass die Zusammenarbeit in diesem Bereichverbessert wird.
Um dabei mögliche Hindernisse zu überwinden unddie Ziele von Europa 2020 zu verwirklichen, müssen alleauf EU-Ebene verfügbaren Instrumente und insbeson-dere der Binnenmarkt in den Dienst der Strategie gestelltwerden. Dabei sind die Leitlinien eines innovativen,integrativen und nachhaltigen Wachstums und Wirt-schaftens sehr richtig gewählt. Die EU muss jetzt nochintensiver zusammenarbeiten, um sich aus der Krise zubefreien und die richtigen Lehren aus ihr zu ziehen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Dr. Eva Högl
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-gen! Im Gegensatz zu meiner Vorrednerin bin ich derAuffassung: Dieser Antrag der Koalitionsfraktionenzeigt schwarz auf weiß die Handlungsunfähigkeit derBundesregierung und der Koalitionsfraktionen in derEuropapolitik.
Dieser Antrag, meine Damen und Herren, ist erschre-ckend ideenlos. Es geht bei der Strategie Europa 2020um die Zukunft der Europäischen Union, um nicht mehrund nicht weniger. Es geht um die Weichenstellungen fürunsere Zukunft auf der europäischen Ebene. Geradejetzt, in der Krise, ist es nicht nur von ganz entscheiden-der Bedeutung, mit welchen Antworten wir dieser Krisebegegnen, sondern auch, welche Lehren wir daraus zie-hen.Ich stelle fest, dass die Koalitionsfraktionen bis heute,20. Mai, keine Vorschläge vorgelegt haben. Die Kom-mission hat ihre Ideen am 3. März präsentiert, und derEuropäische Rat wird abschließend bereits in vier Wo-chen darüber entscheiden. Aber die Bundesregierung hatnichts vorgelegt, sie hat keine Ideen, und im Gegensatzzu dem, was Sie, Frau Molitor, gesagt haben, hat sieauch keine Lehren aus der Lissabon-Strategie gezogen.In Bezug auf diese so wichtige Strategie zeigen die Bun-desregierung und die Koalitionsfraktionen genau das-
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Dr. Eva Högl
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selbe Verhalten, das sie auch in der Krise, über die wirjetzt diskutieren, und mit Blick auf das Stabilisierungs-paket, über das wir morgen zu entscheiden haben, an denTag legen. Verzögern und sich weigern, zu gestalten, dasist das Motto der Bundesregierung und der Koalitions-fraktionen.
Die SPD hat dagegen bereits Anfang März, noch be-vor die Kommission ihre Vorstellungen präsentiert hat,einen umfassenden Antrag vorgelegt. Es lohnt sich, denAntrag zu lesen und zu studieren. Darin machen wirnämlich sehr deutlich, wohin wir auf dem Weg nachEuropa wollen; da wird klar, dass wir im Gegensatz zuIhnen Konzepte für Europa haben.Am deutlichsten wird die Ideenlosigkeit, wenn mansich anschaut, wie Sie mit den fünf Kernzielen umgehen,die die Kommission vorschlägt: Drei davon werden ab-gelehnt, nämlich die wichtigen Ziele in den BereichenBildung und Forschung, Armut und Beschäftigung.Diese Ziele werden mit, wie ich finde, fadenscheinigenArgumenten abgelehnt. Bei der Armutsbekämpfung ver-schanzt man sich hinter der Begründung, es gebe keinengeeigneten Indikator, um die Armut zu messen. Es gehthier aber nur darum, ob wir die Armut auf europäischerEbene bekämpfen wollen, ob wir dies endlich zu einemwichtigen Ziel machen wollen.
Es geht auf europäischer Ebene nur um den Willen.Es geht darum – Stichwort „Krise“ –, mit welchen Bot-schaften aus Europa wir unseren Bürgerinnen und Bür-gern begegnen. Dabei geht es um nicht mehr und nichtweniger als die Akzeptanz der Europäischen Union unddie Gestaltung unserer Demokratie. Das heißt für mich,dass es nach der Lissabon-Strategie und nach dieserKrise kein Weiter-so geben kann.
Wir können so nicht weitermachen. Deswegen brauchenwir keine Plattitüden dergestalt: Wenn die Wirtschaftläuft, dann funktioniert das schon mit der Sozialpolitik.
Das reicht nicht aus.
Wir müssen in der Sozial- und Beschäftigungspolitik ei-gene Akzente setzen. Wir brauchen eine bessere Bil-dungspolitik, eine bessere Beschäftigungspolitik undeben auch die klare Ansage, dass wir auf europäischerEbene die Armut bekämpfen und reduzieren wollen.Meine Damen und Herren, wir brauchen auch einebessere Koordination, und zwar nicht nur der Wirt-schafts- und Finanzpolitik, sondern gerade auch der So-zial- und Beschäftigungspolitik. Wir sehen bei der De-batte über die Krise, dass wir nicht weiterkommen, wennwir uns dahinter verschanzen – das machen Sie mit Ih-rem Antrag –, dass doch die Kompetenzen der Mitglied-staaten zu wahren seien. Wir brauchen in dieser Krisemehr Europa und mehr Abstimmung auf europäischerEbene.
Wir wollen eine Ergänzung des Wachstums- und Sta-bilitätspakts – das ist dringend erforderlich – um einensozialen Stabilitätspakt. Wir halten es für dringend erfor-derlich, ein solches Signal zu setzen. Gerade jetzt, in die-ser Krise, wird deutlich, dass wir im Bereich der Be-schäftigungs- und Sozialpolitik Leitlinien festlegen undAnsagen machen müssen.Mich erstaunt besonders, dass der Antrag der Koali-tionsfraktionen sogar hinter den Aussagen der Bundes-regierung zurückbleibt. Die Bundesregierung hat näm-lich in den Debatten, die wir geführt haben, immergesagt, dass sie sich sehr wohl zu den Zielen bekenntund Überlegungen anstellt, wie man die Umsetzung aus-gestalten kann. Ihr Antrag besagt jetzt, dass Sie dieseZiele auf keinen Fall unterstützen wollen. Das wundertmich doch ein bisschen. Da wird, wenn ich das noch ein-mal sagen darf, die Ideen- und Konzeptlosigkeit ganzdeutlich.
– Herr Kollege Wadephul, keine Plattitüden, sondernklare Aussagen. Sie haben keine Konzepte für Europa,keine Konzepte für Deutschland.Deswegen sage ich an dieser Stelle deutlich: SchauenSie sich an, was die SPD formuliert hat! Wir stellen we-der, wie Sie eben eingewandt haben, den Lissabon-Ver-trag infrage noch wollen wir Europa auf den Kopf stel-len. Wir wollen vielmehr Europa auf die Füße stellen.Wir wollen auf europäischer Ebene gute Politik machen.Wir wollen eine gute Nachfolgestrategie für die Lissa-bon-Strategie entwickeln. Im Gegensatz zu Ihnen wollenwir Europa gestalten und für die Bürgerinnen und Bür-ger deutlich machen, wohin der Weg geht. Da haben wiretwas Gutes vorgelegt. Vielleicht kann sich der DeutscheBundestag dazu durchringen, den wundervollen Antragder SPD zu beschließen,
nicht Ihren von Substanzlosigkeit und Ideenlosigkeit ge-prägten Antrag, den Sie uns heute, vier Wochen vor derentscheidenden Beschlussfassung im Europäischen Rat,hier präsentieren.Herzlichen Dank.
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Nächster Redner ist der Kollege Dr. Johann Wadephul
für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Ich weiß nicht so recht, ob man eigentlich wei-
nen oder lachen soll.
– Ich will Ihnen gleich erklären, worum es mir geht und
was mich berührt.
Sie sprechen von Ideenlosigkeit, Sie weisen auf die
historische Stunde hin, in der sich die Europäische
Union in der Tat befindet, Sie sprechen von entscheiden-
den Weichenstellungen, vor denen wir in Europa stehen.
Dann müssen wir aber feststellen: Die sozialdemokrati-
sche Fraktion wird sich morgen bei der Abstimmung
über das Euro-Rettungspaket enthalten. Wenn hier je-
mand vor Europa versagt, dann sind Sie das. Sie sitzen
hier im Glashaus.
Sie geben Ihre europapolitische Glaubwürdigkeit auf,
wenn Sie in einer solchen Krisensituation nicht bereit
sind, unsere Währung und damit die Idee einer politi-
schen Einigung Europas zu retten.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, in der Tat
braucht Europa nicht nur angesichts der von Frau Kolle-
gin Molitor bereits vollkommen zu Recht erwähnten Re-
gelungswut – der Krümmungsgrad der Banane ist er-
wähnt worden –, sondern auch in dieser Zeit der
Währungskrise sowohl Unterstützung als auch eine posi-
tive Vision. Ich halte dies für das Gute an dieser Strate-
gie, das wir unterstützen sollten und weshalb wir uns
auch zu ihr bekennen. Europa darf nicht nur mit Rege-
lungen identifiziert werden, Europa darf gerade in der
jetzigen Situation nicht nur mit Krise und mit notwendi-
ger Hilfe für Staaten identifiziert werden, die sich derzeit
in einer schwachen währungspolitischen Situation befin-
den. Europa braucht auch eine Wohlstandsperspektive;
nur dann werden die Menschen zu Europa stehen. Des-
wegen ist diese Strategie wichtig und gut, und deswegen
unterstützen wir sie.
Zum anderen steht darin in der Tat mehr als Armuts-
bekämpfung, obwohl diese auch wichtig und in der jetzi-
gen Situation gerade aufgrund der Währungskrise sehr
richtig und sehr notwendig ist. Denn Wachstum und Be-
schäftigung sind die Grundlage dafür, dass es den Men-
schen gut geht, dass sie Geld verdienen, dass der Staat
Steuereinnahmen hat und dass die Staaten, die sich ja
alle – so auch wir; die Bundeskanzlerin hat darauf hinge-
wiesen – in einer schwierigen finanzpolitischen Situa-
tion befinden, aus diesem Schuldenturm wieder heraus-
kommen. Nur, allein mit Sparen wird dies nicht
gelingen. Wir brauchen Wirtschaftswachstum in ganz
Europa, und deswegen ist auch dieser Ansatz richtig,
und wir unterstützen ihn.
Wir mischen uns nun, Frau Kollegin Högl, um auf das
einzugehen, was Sie gerade gesagt haben – Sie haben Ih-
ren eigenen Antrag dazu „wunderbar“ genannt; dazu
sage ich gleich noch zwei, drei Sätze –, in einer relativ
späten Phase in die Diskussion ein. Es ist nicht so, dass
alle anderen Mitgliedstaaten darauf warten, dass
Deutschland jetzt einen ganz neuen Entwurf vorlegt.
Vielmehr hat die Kommission etwas vorgelegt; darüber
wird diskutiert. Gestern hat uns das Wirtschaftsministe-
rium gesagt, wie weit der Konsens schon vorangetrieben
ist. Deswegen ist unser Antrag genau die richtige Ant-
wort, weil wir an den Vorschlag der EU-Kommission an-
knüpfen und an der einen oder anderen Stelle in der Tat
Hinweise geben, die sich von Ihrer Politik unterschei-
den.
Es ist vollkommen illusionär, jetzt Politikbereiche
einzubeziehen, die Sie genannt haben, bei denen keiner
der anderen Mitgliedsstaaten daran denkt, sie in einer
Strategie zu verarbeiten, etwa die Bildungspolitik. Die
Bildungspolitik gehört nicht zum Gemeinschaftsrecht
der Europäischen Union – die Bildungspolitik ist noch
nicht einmal nationales Recht in Deutschland; sie gehört
in die Länderhoheit –, und deswegen ist es völlig falsch,
nun den Eindruck zu erwecken, als wäre es eine der vor-
nehmsten Aufgaben dieser EU-Strategie, Bildungspoli-
tik auf die europäische Ebene zu heben. An dieser Stelle
verwechseln Sie Äpfel mit Birnen. Das gehört dort ein-
fach nicht hin, meine sehr verehrten Damen und Herren.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Strengmann-Kuhn?
Ja, ich gestatte die Zwischenfrage.
Wir haben im Arbeits- und Sozialausschuss bereitsüber dieses Thema diskutiert. Dort haben Sie die Posi-tion vertreten, dass es bei der EU-2020-Strategie nichtnur nicht um Bildungspolitik geht, sondern auch nichtum Sozialpolitik. Könnten Sie hier einmal erklären, obSie immer noch dieser Meinung sind? Im letzten Drittelgeht es ja um sozialpolitische Ziele, die schon in der Lis-sabon-2010-Strategie enthalten waren, so die offene Me-
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Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
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thode der Koordinierung und Ähnliches. Sind Sie alsoimmer noch der Meinung, dass die sozialpolitischeDimension, die in der EU-2020-Strategie unter derÜberschrift „Integratives Wachstum“ angesprochenwird, nach wie vor keine Rolle spielt?Wenn Sie dieser Meinung sind, könnten Sie das dannauch einmal begründen, angesichts des Widerspruchs zudem, was eigentlich in der Strategie, in dem Vorschlagder EU-Kommission steht? Wäre es jetzt nicht eigentlichauch für diese Bundesregierung an der Zeit, zu verdeutli-chen, dass sozialpolitische Ziele neben Wachstumszielendurchaus Ziele der Europäischen Union sind, wohl wis-send, dass es bei deren Umsetzung um die Subsidiaritätder Mitgliedstaaten geht?
Ich bin dankbar, dass ich das aufklären kann und dassSie, sicherlich völlig unabsichtlich, mich und meineFraktion falsch verstanden haben.Niemand ist – das ist hier mehrfach betont worden –gegen Armutsbekämpfung. Vielmehr ist das ein Ziel, dasuns politisch wohl über alle Fraktionsgrenzen und politi-schen Grenzen hinaus eint. Die Frage ist nur: Wie gehtman mit dem Thema um? Dazu möchte ich drei Punkteansprechen.Erstens. Die Kollegin Molitor hat hier – ich möchtedas nicht wiederholen – eindrücklich nachgewiesen, wa-rum die sogenannte Armutsrisikoquote, die bisher vonder EU-Kommission genannt worden ist, völlig ungeeig-net ist, um die Armut eines Landes zu messen.
Sie haben uns bisher immer vorgeworfen, dass wir die-sen Indikator ablehnen.
– Entschuldigung, aber das ist in der öffentlichen Dis-kussion der Fall gewesen. Wenn Sie Wert darauf legen,dass ich antworte, sollten Sie mir Gelegenheit geben, daszu tun.
Sie können hinterher bewerten, ob es Ihnen ausreicht,aber ich würde gerne versuchen, das auszuführen.
Dieser Indikator ist, wie gesagt, völlig ungeeignet.Zweitens. Niemand hat bisher einen anderen brauch-baren Indikator dafür gefunden.Drittens. Es ist schlicht und ergreifend so, dass manArmut immer nur dann verringern kann, wenn es Wachs-tum und Beschäftigung gibt. Denn nur dann sind Staatenin der Lage, sozialpolitisch zu handeln. Arbeit ist nuneinmal die beste soziale Maßnahme. Dafür setzen wiruns ein. Daraus muss man die Kraft schöpfen, sozialpoli-tisch tätig zu sein. Das ist unsere Philosophie.
Ich bin dankbar, dass Sie das Subsidiaritätsprinzip er-wähnt haben. Ich möchte es an dieser Stelle noch einmalerwähnen, weil es für uns in der Tat ein wichtiger Aspektist. Ich möchte Ihnen das einmal entgegenhalten – Siekönnen sich gerne auch andere Politikbereiche an-schauen –: Würden Sie sich von den Dänen vorschreibenlassen, wie man ein gutes Kündigungsschutzrecht ver-fasst? Würden Sie sich das von den Dänen sagen lassen?
Die Dänen haben nämlich gar kein Kündigungsschutz-recht. Wollen Sie sich von den Briten vorschreiben las-sen, wie das Mitbestimmungsrecht, das wir haben undauf das wir stolz sind – Montanmitbestimmung und al-les, was dazugehört –, auszusehen hat? Die haben näm-lich keines. Kaum ein Land hat es.Diese Beispiele zeigen, dass Subsidiarität auch be-deuten kann, dass Deutschland – das ist vollkommenrichtig; dahinter stehen wir auch – eine andere Sozial-politik macht als andere Länder. Deswegen ist das Subsi-diaritätsprinzip richtig und muss gelebt werden. Es darfnicht gleich bei der ersten Strategie, die wir nach demLissabon-Vertrag verabschieden, konterkariert werden.Damit führen wir die europäische Idee ad absurdum. Dastragen wir nicht mit.
Letzte Bemerkung: Der Stabilitäts- und Wachstums-pakt ist wichtig und muss verschärft werden; darauf hatWolfgang Schäuble in der letzten Debatte am Freitag vorzwei Wochen hingewiesen. Es darf nicht zu einer Ver-quickung dieser Strategie mit dem Stabilitäts- undWachstumspakt kommen. Denn dieser Pakt ist ein wich-tiger und immer wichtiger werdender Pfeiler der Euro-päischen Union. Deswegen lehnen wir alle Vorschlägeab, die darauf abzielen, aufgrund der vermeintlichenVerwirklichung der EU-2020-Strategie auf Kriterien derStabilität zu verzichten, wie das die spanische Ratspräsi-dentschaft Anfang des Jahres angedeutet hat.
Herr Zapatero hat dazugelernt. Er hat hinzugelernt,dass er seine Haushalte in Ordnung bringen muss. Nurso wird ein Schuh daraus. Man muss das eine tun unddarf das andere nicht lassen. Die EU-2020-Strategie istrichtig. Stabilität ist aber noch wichtiger.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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4280 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
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Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Alexander
Ulrich das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Bürgerinnen und Bürger am Bildschirm müssenwirklich glauben, dass wir hier eine Debatte im Tollhausführen.
Europa weiß nicht, was morgen ist. Wir wissen nicht, obsich das, was die Bundeskanzlerin angedeutet hat, be-wahrheiten wird. Wir machen uns Gedanken, wie Eu-ropa 2020 aussehen könnte. Das nimmt uns keiner ab. Eskommt einem so vor, als würde ein Haus lichterloh bren-nen, sich aber CDU/CSU, FDP und die Kommission inBrüssel darüber Gedanken machen, ob man das abge-brannte Kinderzimmer renovieren sollte.
Unsere Auffassung ist folgende: Wir als Bundestagsollten die Kommission auffordern, die EU-2020-Strate-gie als Fortsetzung der Lissabon-Strategie nicht zubeschließen. Wir sollten uns vielmehr zuerst um die Kri-senbewältigung kümmern, und zwar unter sozial gerech-ten Gesichtspunkten. Wir sollten uns dann möglicher-weise im Jahre 2011 darüber Gedanken machen, wieman Europa in kleineren Schritten über vier oder fünfJahre so gestalten kann, dass sich solche Krisen, wie sieuns zurzeit in immer kürzeren Abständen einholen, nichtwiederholen. Deshalb wäre es gut, wenn wir uns überAnträge unterhielten, die die Kommission dazu ver-pflichteten.
Bei dem, was Sie hier vorbringen, merkt man, dassSie nicht zurückblicken und sich fragen, warum die Lis-sabon-Strategie gescheitert ist. Zur Verdeutlichung:Wachstum und Forschungsausgaben sind nicht, wie ge-plant, gestiegen. Gewachsen hingegen ist die Zahl derBeschäftigten in Europa, die für einen Hungerlohn arbei-ten, gewachsen ist auch die Armut und insbesondere dieKinderarmut. Es ist fatal, dass sich CDU/CSU und FDPüberhaupt nicht darüber verständigen wollen, wie manArmut bekämpfen kann. Man will auch keine Zahlenmehr nennen. Man möchte nur noch lose Formulierun-gen hineinschreiben; dabei haben lose Formulierungendazu beigetragen, dass die Lissabon-Strategie gescheitertist. Deshalb dürfen wir so nicht weitermachen.
Die Grundideen der Lissabon-Strategie waren Privati-sierung, Deregulierung und Liberalisierung. Daran ge-messen ist die Strategie natürlich nicht gescheitert; dennes wurde eine Umverteilung vollzogen. An der Privati-sierung haben sehr viele, auch die Konzerne, sehr gutverdient. Für diese, für die Sie Lobbypolitik betreiben,war die Lissabon-Strategie ein voller Erfolg; aber für dieMasse der Menschen ist der Begriff „Lissabon“ verbun-den mit Sozialabbau, schlechteren Lebensverhältnissen,prekärer Beschäftigung, Kinderarmut und auch damit,dass die Reichen immer reicher und die Armen immerärmer geworden sind. Das muss man deutlich zum Aus-druck bringen.
Zur Klarstellung: In Deutschland hat damals der Ar-beitsminister Müntefering gesagt: Die nationale Umset-zung der Lissabon-Strategie sind die Agenda 2010 undHartz IV. Mit europäischem Rückenwind ist sozusagender größte Sozialabbau in Deutschland seit dem ZweitenWeltkrieg vorgenommen worden. Das muss man deut-lich sagen. Frau Högl, manchmal ist es gut, Sie von derSPD und auch die Grünen daran zu erinnern, dass Siedafür verantwortlich waren und nicht die jetzige Regie-rung.
Einer der Hauptwidersprüche der Europa-2020-Stra-tegie ist folgender: Auf der einen Seite will man intelli-gentes, nachhaltiges und integratives Wachstum schaf-fen, auf der anderen Seite soll strikt gespart werden, umdie durch die Bankenrettung und Wirtschaftskrise aufge-türmten Schulden abzubauen. Diesen Grundwiderspruchlöst man sicherlich nicht dadurch, dass man, wie im An-trag von CDU/CSU und FDP vorgelegt, lapidar fordert,man müsse einfach beides machen: die Strategie umset-zen und sparen.Lassen Sie mich den Widerspruch anhand der dreiOberziele der Strategie – intelligentes, nachhaltiges undintegratives Wachstum – deutlich machen. IntelligentesWachstum soll durch Innovation und Bildung erreichtwerden. Aber wie soll das ohne Geld bzw. trotz Spardik-taten wie in Griechenland funktionieren? NachhaltigesWachstum kann nicht nur durch Marktanreize erreichtwerden, nötig sind auch Investitionen in die Klima- undEnergiewende, und auch das kostet bekanntermaßenGeld.Der Widerspruch zwischen Haushaltskonsolidierungund integrativem Wachstum, dem dritten Oberziel derneuen Strategie, lässt sich derzeit am Beispiel Griechen-land in aller Härte studieren. Der Sparplan von EU undIWF, der dem Land aufdiktiert wurde, sieht unter ande-rem Folgendes vor: die Kürzung von Gehältern undRenten, die Einschränkung der Tarifautonomie, die Lo-ckerung des Kündigungsschutzes, Kürzungen im Ge-sundheitswesen sowie eine Erhöhung der Mehrwert-steuer. All diese Maßnahmen treffen vor allem diekleinen Leute, von sozialer Integration keine Spur. InSpanien und Portugal sieht es nicht anders aus. Gespartwird bei den Rentnerinnen und Rentnern, bei jungen El-tern und im öffentlichen Dienst.Einer Sache können wir uns sicher sein: Diese unso-zialen Sparmaßnahmen bleiben nicht auf Griechenland,Spanien und Portugal beschränkt. Sie stellen eine Blau-
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pause für die gesamte EU dar, und damit auch fürDeutschland. Deshalb ist die EU-2020-Strategie falsch.Sie will das fortsetzen, was mit der Lissabon-Strategiegrandios gescheitert ist.Ich fordere alle Fraktionen des Bundestages auf: For-dern Sie die Kommission in Brüssel auf, die Strategiedorthin zu tun, wo sie hingehört, nämlich in den Müllei-mer. Lassen Sie uns die Krise bewältigen, aber nichtdurch Sozialabbau und unter dem Diktat von Haushalts-konsolidierung. Wir brauchen ein Zukunftsinvestitions-programm, damit Wachstum generiert werden kann.Durch Sparen entsteht kein Wachstum. Durch Sparenverringert man auch nicht die Armut.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Manuel Sarrazin für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich be-ginne mit dem Thema Armutsrisikoquote.Es gibt ein Argument, das man Ihnen vorhalten muss,meine verehrten Damen und Herren von der Koalition:Es wäre nicht so schlecht, wenn die Koalition grundsätz-lich in dem Ziel übereinstimmen würde, dass wir uns inEuropa verbindlicher auf Standards einigen müssen unddass das nicht nur im Stabilitäts- und Wachstumspaktpassieren kann, wo es auch passieren muss, sondernauch in den Bereichen, die mit entscheidend dafür sind,wie starke wirtschaftspolitische Koordinierung – oh,welch Wunder, kein Einspruch von der FDP; Zitat ausdem EU-Vertrag – geschehen kann.
Man fragt sich ja, warum Sie sich dagegen wehren,das in Ihren Antrag hineinzuschreiben.
Sie sagen, die Indikatoren sind Quatsch. Hier könnteman zwei Argumente aufzählen. Erstens. Ich habe auchin Ihrem Antrag keine Vorschläge dafür gelesen, wieman das trotzdem quantitativ bemessen kann undmöchte.Zweitens. Diesen Indikator – 60 Prozent des Median-einkommens –, den Sie infrage stellen, nutzt die Bundes-regierung seit Jahren selber, weil, zumindest wenn maneine Statistik an Maßstäben berechnen möchte, die vonmanchen deutschen Instituten nicht genommen werden,es in der Statistik vielleicht besser aussieht, selber dieLage darzustellen. Also fangen Sie hier keine Scheinde-batte an. Das Armutsziel in der 2020-Strategie zu veran-kern, ist richtig und wichtig.
Man kann sich fragen, warum. Wir haben ja geradedas Problem, das Herr Ulrich angesprochen hat, nämlichdass sich die Menschen fragen, wo eigentlich das sozialeGesicht der Europäischen Union in dieser Krise ist.
Der Vertrag von Lissabon enthält ein soziales Ver-sprechen, das Versprechen vom sozialen Fortschritt undvon sozialer Wohlfahrt. Diesem Versprechen müssen wirgerecht werden. Herr Wadephul, ich arbeite gerne mitHerrn Ulrich zusammen, vielleicht nicht in einer Koali-tion, aber sonst parlamentarisch, aber wenn Sie meinen,dass Herr Ulrich widerlegt werden muss, dann solltenSie einmal etwas in dem Bereich tun, anstatt immer nurzu blockieren und zu bremsen.
Da sind wir schon bei einem wunderbaren Beispielder aktuellen Debatte: blockieren und bremsen. IhreFraktionen betreiben doch eigentlich eine Vogel-Strauß-Politik, und zwar sowohl bei der EU-2020-Strategie alsauch bei der gesamten Krisenbewältigung. Wir brauchenjetzt mehr Koordination in der Wirtschaftspolitik zwi-schen den Staaten. Wir brauchen mehr Governance. Wirbrauchen verbindliche Zielerreichungen. EntschuldigenSie, wenn ich es so sagen muss, aber das Einzige, wasuns jetzt noch aus der Krise führt, ist, einerseits im Rah-men des Stabilitätspaktes auf Schuldenabbau zu setzenund für gesunde öffentliche Finanzen einzustehen undandererseits für verbindliche wirtschaftliche Koordinie-rung zu sorgen. Aber mit welchen Instrumenten? ZumBeispiel mit dem Instrument der integrierten Leitlinienund mit dem Instrument der nationalen Reformpro-gramme, die verbindlicher geregelt werden sollten. Auchdiese Vorschläge sollte Herr Schäuble morgen in Brüsselvortragen, wenn Sie etwas machen wollen. Wer aber dieEU-2020-Strategie nur mit Bremsen und Blockierenbegleitet, wird keinen Weg aus dieser Krise heraus auf-zeigen können.
Ich muss noch etwas zum Thema Bildungsziel sagen.Ich finde, man sollte sich, wenn man eine anspruchsvollePolitik betreiben möchte, nicht hinter dem deutschen Fö-deralismus verstecken. Nach dem, was ich in der Vorbe-reitung auf die heutige Debatte erfahren habe, ist es so-gar so, dass inzwischen im Bildungsrat für den BereichBildung und Forschung mit der Zustimmung der Bun-desregierung ein Bildungsziel konzertiert wurde. Warumwettern Sie hier eigentlich noch so dagegen?Finden Sie, Ihre Bundesregierung hat in Brüssel malwieder nicht gut genug verhandelt? Oder finden Sie,dass das sachlich Quatsch ist? Dann sollten Sie aber inIhrem Antrag andere Schwerpunktsetzungen vornehmenund das tun, was wir auch machen, nämlich die Bundes-regierung zu Recht kritisieren.
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4282 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Manuel Sarrazin
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Ich habe bereits gesagt – andere Redner der Opposi-tion auch –, die EU-2020-Strategie sollte geschärft undnoch ehrgeiziger werden. Das gilt auch für den BereichKlimaschutz und Energie. Das gilt für den BereichGovernance.
– Entschuldigung, die Kollegin von der SPD hat das ge-sagt. Da hatten Sie – das muss ich zugeben – unrecht,Herr Ulrich.Wir setzen uns dafür ein, dass die Strategie im Sinnedes Green New Deal ausgestaltet wird, das heißt nach-haltiges Wachstum, sparsamer Umgang mit Ressourcen,kluge, zukunftsweisende technologische Innovationen inBildung, in Forschung, im Sozialen, in Kultur, um end-lich den anscheinenden Gegensatz zwischen HerrnWadephul und Herrn Ulrich, der so gar nicht existiert,Wohlstand und soziale Gerechtigkeit seien ein Gegen-satz, aufzulösen.
Sie mit Ihrem Gerede von Wachstum haben uns auchnicht in eine Situation geführt, die uns jetzt ganz beson-ders gut dastehen lässt. Wenn man wirklich nachhaltigwachsen will, dann muss man in die Zukunft investieren.Daran führt kein Weg vorbei.
Letzter Satz. Ich habe das Gefühl, Sie behandeln dieStrategie EU 2020 wie ein Schüler, der versucht, denLehrer davon zu überzeugen, weniger Hausaufgabenaufzugeben. Aber auch in der Brüsseler Klasse landetman so nicht unter denen mit den besten Noten, sonderngilt als Problemschüler. Das finde ich schade.Danke.
Der Kollege Thomas Silberhorn hat nun das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wenn nun die Europäische Union eine neueStrategie für Wachstum und Beschäftigung 2020 vorlegt,dann ist das vielleicht nicht beabsichtigt gewesen, aberdurchaus sinnvoll, dass wir jetzt im Zusammenhang mitder aktuellen Krise auf den Finanzmärkten darüber dis-kutieren dürfen. Denn die beiden Themen hängen engermiteinander zusammen, als man auf den ersten Blickwahrhaben will. Eine stabile Währung, Preisstabilität istdie Grundlage für mehr Wachstum in Europa. Anderer-seits erleichtert wirtschaftliches Wachstum, das Haupt-ziel dieser Strategie EU 2020 zu erreichen, nämlich dieöffentliche Verschuldung abzubauen und zu solidenStaatsfinanzen zurückzukehren. Deswegen ist es sinn-voll, dass wir über beides im Zusammenhang diskutierenkönnen.
Nun hat diese Strategie eine Vorläuferin in der soge-nannten Lissabon-Agenda, die den Binnenmarkt zumweltweit wettbewerbsfähigsten Raum machen wollte.Wir können heute feststellen, dass diese Zielsetzung gutgemeint war, aber grandios gescheitert ist. Deswegenmuss es nicht verkehrt sein, eine neue Strategie zu Pa-pier zu bringen, die auf Wachstum und Beschäftigungfokussiert ist. Im Gegenteil: Es ist durchaus zu begrüßen,dass wir uns darauf konzentrieren, bei unseren wirt-schafts- und beschäftigungspolitischen Zielen Prioritätenzu setzen und nationales und europäisches Handelnbesser miteinander zu verzahnen.Dabei muss gelten: Diese Ziele und Prioritäten, aufdie wir uns in der Europäischen Union verständigen wol-len, müssen sich im Rahmen der geltenden Kompetenz-ordnung bewegen. Sie müssen einer Subsidiaritäts-prüfung standhalten, und sie müssen einen klareneuropäischen Mehrwert bringen. Was die Mitgliedstaa-ten selber tun können, müssen wir nicht europaweit or-ganisieren. Es muss klar sein, dass diese Strategie nichtausreichend ist, wenn sie nur zu Papier gebracht wird,sondern sie muss tatsächlich in die Praxis umgesetztwerden. Sonst bleibt sie so wertlos, wie es die Lissabon-Strategie gewesen ist.
Deswegen ist es notwendig, dass wir uns auf Zielekonzentrieren, die realistisch, verständlich und tatsäch-lich erreichbar sind. Wenn ich mir den Vorschlag derKommission anschaue, sehe ich, dass dort von sichgegenseitig verstärkenden Prioritäten, von fünf EU-Kernzielen, von sieben Leitinitiativen, von zehn inte-grierten Leitlinien usw. die Rede ist. Es ist also eineganze Fülle von geradezu verwirrenden Kategorien. Wersoll das verstehen? Weniger wäre manchmal mehr. Des-wegen wird es für den Erfolg der Strategie EU 2020 ent-scheidend sein, dass wir den politischen Willen haben,beschlossene Reformen tatsächlich in Angriff zu neh-men und in die Praxis umzusetzen.
Ich begrüße es, dass diese Strategie der EuropäischenUnion einen wirksameren Überwachungsmechanismusbeinhalten soll, als es bei der Lissabon-Strategie der Fallwar. Insbesondere wollen die Staats- und Regierungs-chefs im Europäischen Rat eine federführende Rolleübernehmen. Ich glaube, das ist dringend notwendig.Der Europäische Rat muss seine Funktion als Leitungs-organ der Europäischen Union wieder hervorheben. Esmuss klar werden, dass Politiker und nicht Beamte dasHeft in der Hand halten. Deswegen ist es richtig undwichtig, dass die Staats- und Regierungschefs deutlich
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4283
Thomas Silberhorn
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machen, dass sie letztlich die Hauptverantwortung dafürtragen, ob diese Strategie ein Erfolg wird.Ich halte viel davon, dass wir hier nicht nur Papierbeschreiben, sondern auch einen Wettbewerb in Gangsetzen, welche Mitgliedstaaten die besten Ideen haben,um die vereinbarten Ziele zu erreichen. Ich finde es sinn-voll, dass der Bundesrat in diesem Zusammenhang ange-regt hat, eine Rangliste der EU-Mitgliedstaaten in deneinzelnen Bereichen wie Wirtschafts-, Beschäftigungs-und Sozialpolitik zu erstellen. Das ist der Weg, wie manzu einem solchen Wettbewerb der besten Politikansätzekommt. Ich halte es für sehr gelungen, dass die Bundesregie-rung in den bisherigen Gesprächen ihre Handschriftdurchsetzen konnte.
Die Bundesregierung hat mit Nachdruck vertreten, dasswir uns nicht auf Ziele bei der Armutsbekämpfung undBildung verständigen werden, die weder mit der Kompe-tenzordnung vereinbar sind noch eine Realisierungschancehaben. Es ist auch wichtig, dass wir die Wachstumsstrate-gie und den Stabilitätspakt inhaltlich strikt voneinandertrennen. Wenn man beides vermengen würde, wie es dieKommission vorgeschlagen hat, dann würde man denStabilitäts- und Wachstumspakt politischer Einfluss-nahme aussetzen und inhaltlich aushöhlen. Das wärezum jetzigen Zeitpunkt ein geradezu fatales Signal andie Finanzmärkte. Genau das Gegenteil ist jetzt erforder-lich.Auch etwas anderes ist vom Tisch, nämlich der Vor-schlag, Lasten der Mitgliedstaaten automatisch durchandere Mitgliedstaaten zu übernehmen, wenn einzelneLänder der Europäischen Union ihre Ziele nicht errei-chen können. Es gibt also keinen Blankoscheck für säu-mige Staaten. Das ist wichtig; denn wenn diese Strategieam Ende nicht nur geduldiges Papier, sondern in der Pra-xis anwendbar sein soll, dann müssen wir einen Wettbe-werb um die beste Lösung in den Mitgliedstaaten inGang setzen. Ich hoffe, dass der Bundesregierung diesgelingt, wenn Anfang Juni diese Strategie beschlossenwerden soll.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Nächster Redner ist der Kollege Manfred Nink für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Um es gleich festzustellen: Dem vorliegenden Antragmangelt es mit Blick auf die europäische Wirtschafts-politik an Ehrgeiz und Visionen.Durch die Strategie EU 2020 soll Europa gestärkt ausder Finanz- und Wirtschaftskrise hervorgehen. Damitdieses Europa Wirklichkeit werden kann, brauchen wirtransparente Konzepte, klare Ziele und ein entschlosse-nes Handeln. Nichts von alldem ist in Ihrem Antrag ent-halten. Von Strategie kann keine Rede sein; im Gegen-teil: Liest man Ihre Forderungen, gewinnt man denEindruck, dass Sie Ihrer eigenen Regierung misstrauen.Das, was Sie da an Forderungen formulieren, sind Maß-nahmen, die für eine gut funktionierende Bundesregie-rung eigentlich selbstverständlich, gewissermaßen Ta-gesgeschäft sein müssten.
Die Kommission hat fünf messbare Kernziele vorge-schlagen. Diese sollen in nationale Ziele umgesetzt undbis 2020 verwirklicht werden. Bis dahin ist noch ein lan-ger Weg, aber nur noch wenig Zeit; denn bereits im Junisollen im Europäischen Rat die ersten Einzelheiten ver-abschiedet werden. Die Mitgliedstaaten sind deshalbaufgerufen, jetzt im Dialog mit der Kommission die na-tionalen Beiträge zu definieren. Bisher haben wir dazureichlich wenig von der Bundesregierung erfahren. Es istschon gesagt worden: Von den fünf von der Kommissionvorgeschlagenen Kernzielen ist lediglich zwei Zielen zu-gestimmt worden, nämlich dem Ziel bezüglich der Be-schäftigungsquote und dem Vorschlag, in Forschung undEntwicklung zu investieren.Auf die von der Kommission aufgestellten Leitinitia-tiven, an denen sich die Kernziele orientieren und diekünftig für die Mitgliedstaaten bindend sein sollen,gehen Sie nicht im Detail ein. Jetzt, nachdem es inzwi-schen unter allen Staats- und Regierungschefs Konsensist, stimmen Sie wenigstens der Feststellung zu, dass eskünftig einer stärkeren wirtschaftspolitischen Koordinie-rung bedarf. Aber wie eine effektive Koordinierung dereuropäischen Wirtschaftspolitik aussehen soll und wiedie Mitgliedstaaten in die Verantwortung genommenwerden können, sagen Sie nicht.Ich stelle weiterhin fest: Die europäische Wirtschafts-politik ist ein Thema, welches auch bei unserem Bundes-wirtschaftsminister bisher nicht angekommen ist. Ichdarf daran erinnern, dass die SPD-Fraktion unlängst ei-nen Antrag für die Gestaltung der Strategie Europa 2020vorgelegt hat. Sie hat unter anderem folgende wirt-schaftspolitischen Ziele gefordert: Zum Beispiel hat sieein Angebot innovativer Technologien und Produkte ge-fordert, die ein Wirtschaftswachstum bei verringertemEnergie- und Ressourcenverbrauch ermöglichen.
Sie hat gefordert, dass Möglichkeiten sondiert werden,wie Mittel für zusätzliche Investitionen generiert werdenkönnen, um die dringend gebotene Belebung des inner-europäischen Handels zu fördern.All unsere Vorschläge haben Sie abgelehnt, ohne Stel-lung dazu zu beziehen. Was hat der zuständige Wirt-schaftsminister in dieser Hinsicht bisher vorgetragen?Was hat er dargestellt? Nichts. Sein Handeln wird denaktuellen wirtschaftspolitischen Herausforderungen nichtannähernd gerecht.
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4284 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Manfred Nink
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Die zentralen Fragen der Zukunft Europas bleiben unbe-antwortet.Bezeichnend ist auch der Bericht des Bundeswirt-schaftsministers vom 17. Mai 2010 zu den Vorschlägender Kommission. Verehrte Kolleginnen und Kollegen,dieser Bericht ist nicht mehr als ein kurzes, inhaltsleeresPapier. Jede Praktikantin, jeder Praktikant hätte am ers-ten Tag des Praktikums einen fundierteren Bericht er-stellt.
Das Schlimme daran: Mehr – so hat das Wirtschaftsmi-nisterium auf Nachfrage geantwortet – sei nicht möglichgewesen, da man noch im Verhandlungsprozess sei. Waswird hier verhandelt?Man muss doch zumindest Ziele benennen können.Ich erwarte ja noch keine endgültigen Ergebnisse in al-len Einzelheiten; aber ich denke, das Parlament solltedarüber informiert sein, in welche Richtung die Regie-rung gehen will. Wir fragen uns: Wo bleiben die Vor-schläge des Ministers? Wann gedenkt die Bundesregie-rung das Parlament und die deutsche Bevölkerung überihr Vorhaben und über die Maßnahmen zu unterrichten?Es kann doch nicht sein, dass die Chancen Deutsch-lands, Europa für die nächsten zehn Jahre mitzugestal-ten, wegen Planlosigkeit aus der Hand gegeben werden,ohne die weltweiten Folgen der Wirtschafts- und Finanz-krise, der Krise Griechenlands und der Krise des Euroszu beachten.
Ich frage mich: Kann es sein, dass der Bundeswirt-schaftsminister noch immer nicht begriffen hat, dass diefundamentalen Herausforderungen, denen die euro-päische Wirtschaft gegenübersteht, von der Politikentschlossene Antworten verlangen? Die zunehmendeweltwirtschaftliche Verflechtung hat gezeigt: Die Welt-wirtschaft wartet nicht auf Europa, und Europa wartetnicht auf Deutschland. An dieser Stelle wird erneut dieKonzept- und Tatenlosigkeit der Regierung deutlich.Als Rheinland-Pfälzer – das sage ich aus voller Über-zeugung und in voller Ernsthaftigkeit –, der die Arbeitvon Herrn Brüderle als ehemaligem Wirtschaftsministervon Rheinland-Pfalz kennt und schätzt, kann ich nur sa-gen: Herr Minister, nehmen Sie die vernichtende Me-dienschelte bezüglich Ihrer bisherigen Arbeit wie bei-spielsweise in der Süddeutschen Zeitung vom 5. Maiernst. Hier muss mehr geschehen: Wir brauchen keinereine Konsolidierungsstrategie, wir brauchen auch eineWachstumsstrategie. Das ist die Aufgabe von heute, unddas ist der Weg in die Zukunft. Wachen Sie auf und wer-den Sie endlich aktiv!Schönen Dank.
Herr Kollege Nink, das war Ihre erste Rede in diesem
Haus. Ich gratuliere Ihnen sehr herzlich und verbinde
das mit den besten Wünschen für Ihre weitere Arbeit.
Als letzter Redner in dieser Debatte hat nun der Kol-
lege Dr. Stefan Kaufmann für die CDU/CSU-Fraktion
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr KollegeNink, Sie haben Vorschläge der SPD zu Europa 2020 an-gesprochen und kritisiert, dass es hierzu noch keine Stel-lungnahme gibt. Zu Vorschlägen ohne ausreichende Sub-stanz muss die Koalition, glaube ich, nicht Stellungnehmen.Heute Morgen haben wir hier im Plenum den Berufs-bildungsbericht 2010 diskutiert. Dabei wurde einmalmehr die überragende Bedeutung der beruflichen Bil-dung für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes offenbar.Unser System der dualen Bildung mit allen Formen undMöglichkeiten der Aufstiegs- und Weiterbildung istweltweit einzigartig, und wir werden weltweit darum be-neidet.Was hat dieser Befund mit dem vorliegenden Antragder Koalitionsfraktionen zu Europa 2020 zu tun? DieEuropäische Union möchte sich mit der Strategie Europa2020 zu quantitativen Bildungszielen in den einzelnenMitgliedstaaten bekennen. Dies soll eine der Maßnah-men sein, um die Wettbewerbs- und Innovationsfähig-keit der EU nachhaltig zu steigern. Konkret sollenhöchstens 10 Prozent eines Jahrgangs Schulabbrechersein – damit haben wir kein Problem – und mindestens40 Prozent eines Jahrgangs ein Hochschulstudium absol-vieren.Was bedeutet das für Deutschland? Derzeit machen inDeutschland circa 28 Prozent eines Jahrgangs einenHochschulabschluss, also deutlich weniger als 40 Pro-zent. Nehmen wir jedoch die Absolventen beruflicherBildungsgänge, beispielsweise der Meisterausbildungoder der Fachwirtausbildung, hinzu, so liegt die entspre-chende Absolventenquote in Deutschland bei circa39 Prozent. Wir müssen uns also nicht verstecken. Euro-paweit reicht die Spannbreite bei der Hochschulabsol-ventenquote derzeit von 23 Prozent bis über 50 Prozent.Natürlich kommt es hierbei entscheidend darauf an, wel-che Abschlüsse in die Quote eingerechnet werden undwie die Bildungsgänge und Bildungssysteme in den ein-zelnen Mitgliedstaaten ausgestaltet sind. Damit wir dasim Strategiepapier der EU formulierte ehrgeizige Absol-ventenziel erreichen können, ist es von zentraler Bedeu-tung, dass in die Hochschulabsolventenquote auch Ab-schlüsse, die mit einem Hochschulabschluss qualitativvergleichbar sind, eingerechnet werden.
– Das stimmt doch nicht.Nur so kann im Übrigen garantiert werden, dass unserSystem der beruflichen Bildung nicht auf Dauer ausge-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4285
Dr. Stefan Kaufmann
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höhlt wird. Eine Erzieherin muss nicht an einer Hoch-schule ausgebildet werden, ebenso wenig eine Kranken-schwester, und beim Fliesenleger käme hierzulandeohnehin niemand auf die Idee, die Ausbildung an dieHochschule zu verlegen.Dem unbestreitbaren Trend zur Höherqualifizierungin einer komplexen Arbeitswelt trägt unser System derberuflichen Bildung in hervorragender Weise Rechnung.Dem weiteren Ausbau dualer Ausbildungsgänge ist da-her unbedingt Priorität einzuräumen. Dies hat mir erstgestern ein Bildungsforscher des Zentrums für Europäi-sche Wirtschaftsforschung in einem Gespräch bestätigt.Demnach stellt der Fachkräftemangel in den nächstenJahren ein deutlich größeres Problem dar als der immerwieder beklagte Akademikermangel.Ich verhehle nicht, dass innerhalb des Bundestageswie auch des Bundesrates erhebliche Bedenken beste-hen, auf EU-Ebene überhaupt quantitative Bildungszielefestzulegen. Dies widerspricht dem Kompetenzgefügeder Europäischen Union und insbesondere dem Subsi-diaritätsprinzip. Es besteht kein Zweifel, dass für die in-haltliche und strukturelle Entwicklung des Bildungssys-tems allein die Mitgliedstaaten – im Falle Deutschlandsdie Bundesländer – und nicht Brüssel verantwortlichsind.Es ist im Vorfeld des Europäischen Rates allerdingsnicht gelungen, einen Verzicht der EU auf quantitativeBildungsziele im Strategiepapier durchzusetzen. Umsodringender ist es daher, den bildungspolitischen Beson-derheiten der einzelnen Mitgliedstaaten dadurch Rech-nung zu tragen, dass beim Definieren des Absolventen-ziels im Juni eben auch solche Abschlüsse beruflicherBildungsgänge einbezogen werden, die Hochschulab-schlüssen vergleichbar sind. Nur dann nämlich achtet dieEU auch bei der Umsetzung ihrer Ziele die unterschied-lichen Wege des Kompetenzerwerbs und damit die Bil-dungshoheit der Mitgliedstaaten.
Die ursprünglich sehr verengte, rein formale Sicht derEU auf bloße Hochschulabschlüsse kann mithin nichtaufrechterhalten werden. Dies gilt umso mehr, wenn dieEU tatsächlich am 40-Prozent-Ziel festhält.Darüber hinaus muss es dabei bleiben, dass die Bun-desregierung quantitativen Festlegungen beim KernzielBildung nur zustimmt, wenn dies in Abstimmung mitden für den Bildungsbereich zuständigen Bundesländerngeschieht. Dies ist in den Ziffern 5 b und 5 c derSchlussfolgerungen des Europäischen Rates vom Märzauch so vorgesehen. Dort wird ausdrücklich auf die Fest-legung nationaler Ziele unter Berücksichtigung der na-tionalen Gegebenheiten abgestellt.Es darf jedenfalls unter keinen Umständen eineschleichende Kompetenzverlagerung weg von der bisherpraktizierten offenen Koordinierung im Bildungsbe-reich geben. Eine Gleichbehandlung des Bildungsbe-reichs mit vergemeinschafteten Politikbereichen mussverhindert werden. Darüber sollte auch hier im HauseEinigkeit bestehen.In diesem Sinne bitte ich um Unterstützung für denKoalitionsantrag.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1758 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Martina Bunge, Dr. Gregor Gysi, Klaus Ernst,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Korrektur der Überleitung von DDR-Alters-
sicherungen in bundesdeutsches Recht
– Drucksache 17/1631 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Innenausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe,
damit sind Sie einverstanden. Dann können wir so ver-
fahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Dr. Martina Bunge für die Fraktion Die Linke
das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Es ist eine Legende, dass es den Ostrentnerinnenund -rentnern durchweg gut geht. Natürlich wirkt sicheine lange, kaum unterbrochene Erwerbsbiografie güns-tig auf die Rente aus. Verkannt wird aber, dass die Rentefür fast alle das einzige Alterseinkommen ist. PrivateVorsorge war nicht üblich, Betriebsrenten gab es kaum.
Außer Acht gelassen wird bei Ihren Durchschnittsbe-trachtungen, dass hier Äpfel mit Birnen verglichen wer-den. Mit dem Rentenüberleitungsgesetz erhielten alleeine Rente nach SGB VI. Zusatzversorgungen und sons-tige Besonderheiten blieben außen vor.Es ist klar: Wenn im Osten alle Berufsgruppen – alsoauch Akademikerinnen und Akademiker, Beschäftigtedes öffentlichen Dienstes, Pädagogen oder Ärztinnen –in den Durchschnitt eingerechnet werden, dann wird die-ser verfälscht, weil im Westen Beamte oder Freiberuflerin berufsständischer Versorgung bei der Berechnung desDurchschnitts außen vor bleiben.
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Dr. Martina Bunge
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Dahinter steckt aber auch, dass 1991 bei der Renten-überleitung etliche DDR-Regelungen bewusst nichtüberführt wurden. Diesen Problemkreisen widmet sichunser Antrag. Da uns häufig vorgeworfen wird, wir wür-den uns nur um Personen mit vermeintlichen Privilegienoder besonderer Staatsnähe kümmern, lassen Sie mich,obwohl ich nur vier Minuten Redezeit habe, die Spann-breite der Probleme aufzeigen. Die Beschäftigten desGesundheits- und Sozialwesens mit einem besonderenSteigerungsfaktor werden nicht anerkannt. Zu nennensind weiter die Geschiedenen ohne Versorgungsaus-gleich, die Zuwendungen für Ballettmitglieder, nachdemsie die Bühne verlassen haben, die Bergleute aus derBraunkohleveredelung, diejenigen, die Angehörige ge-pflegt haben ebenso wie mithelfende Familienangehö-rige von Handwerkern und Selbstständigen. Handwerkersind in der DDR bei Gott nicht mit Glacéhandschuhenangefasst worden, aber was Sie machen – zehn bis15 Jahre setzen Sie auf dem Rentenkonto gleich null –,ist beschämend.
Dazu gehören auch zweite Bildungswege, Aspirantu-ren und vereinbarte längere Studienzeiten von Spitzen-sportlerinnen und -sportlern. Das ist übrigens ein Grundfür die Erfolge von DDR-Athletinnen und -Athleten; esist nicht immer anderes, was Sie vermuten und vorbrin-gen.Aber weiter zur Rente: Negiert werden im Auslanderworbene Rentenansprüche und freiwillige Beiträge.Sie waren zwar mit 3 bis 12 Mark in der Tat niedrig, aberman konnte auch eine gediegene 3- bis 4-Raum-Woh-nung für 50 bis 60 Mark mieten. Damit ergibt sich einevöllig andere Relation. Subventionierte Preise habennämlich die niedrigen Bruttolöhne gestützt. Diese sindjetzt wiederum die Grundlage für die Rentenberechnung.Das ist ein weiteres Problem.Zu den Betroffenen gehören nicht nur die eingangs er-wähnten Akademikerinnen und Akademiker, sondernauch Beschäftigte von Bahn und Post, die eine historischgewachsene Alterssicherung hatten. Vergessen wir nicht:Die Wertneutralität des Rentenrechts wurde verletzt, in-dem willkürlich in die Rentenformel eingegriffen wurde.Für als staatsnah Eingestufte gilt nicht die Beitragsbe-messungsgrenze, sondern für die Berechnung wird nurder Durchschnitt zum Ansatz gebracht.Gregor Gysi hat vielen von Ihnen vor fast einem Jahran dieser Stelle bei der Beratung unserer 17 Anträge ver-sprochen: Wenn Sie nichts tun, dann werden wir Sie inder neuen Legislaturperiode daran erinnern, damit Sietätig werden. Wir halten Wort.
Was tun Sie? Was tut die Bundesregierung? Vage Ver-sprechen, selbst von der Kanzlerin. Das hilft aber nichtbei den Existenznöten, die viele haben. Sie kündigt an,sie will DDR-Hinterlassenschaften in der Rente endlichaufarbeiten. Die FDP hat in der letzten Legislaturperiodeals Opposition einen eigenen Antrag mit fast allen vonuns aufgezeigten Problemen eingebracht. Der Lösungs-vorschlag war zwar nicht toll,
aber was passiert jetzt? Wir sind mitten in der Legisla-turperiode, aber es geschieht nichts.Nehmen Sie unseren Antrag als Gedankenstütze! Ichdenke, hier sind Hausaufgaben zu machen, die bisherkeine Bundesregierung erledigt hat. Seien Sie nicht wei-ter borniert und ignorant! DDR-Biografien müssen aner-kannt werden. Es ist gelebtes Leben, das sich auch inden Altersbezügen widerspiegeln muss.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.
Für meine Fraktion gilt: Solange Sie nichts tun, wer-
den wir Sie in dieser Sache nicht in Ruhe lassen.
Nächster Redner ist der Kollege Frank Heinrich für
die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Sehr geehrte Frau Bunge, ich möchteeinen Schritt zurückgehen und am Anfang etwas allge-meiner bleiben. Denn auch Ihr Antrag ist am Anfangsehr vergangenheitsorientiert – um es so kurz zu sagen.Die Übertragung des Rentensystems West auf dasRentensystem Ost war eine großartige gesellschaftlicheLeistung, von der man nicht wissen konnte, dass sie soausgeht, wie wir es zum Schluss geschafft haben.
– Das wollte ich damit einfach in den Raum stellen.Die schwierigen Ausgangsbedingungen, die man garnicht oft genug in Erinnerung rufen kann, waren das vonIhnen gerade geschilderte in Berufsgruppen zergliederteund um Sonderversorgungssysteme angereicherte DDR-Rentenrecht.
– Das bundesdeutsche hatte auch seine Eigenarten. – Eshandelte sich um einen hochkomplizierten Vorgang ohnevergleichbares Beispiel in der Geschichte. Kein Patent-rezept war vorhanden, auf das man hätte zurückgreifenkönnen.Bei dieser komplexen Angelegenheit stand man vorder Wahl, entweder ein Tabellenwerk zu nehmen und es– aus westlicher Sicht – dem Osten überzustülpen, um
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4287
Frank Heinrich
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alles bis ins Feinste für jede einzelne Person festzulegen,oder sich bei seinem Vorgehen einiger Leitplanken zubedienen. Das Tabellenwerk wurde aus verständlichenGründen abgelehnt, weil es dabei um eine Aufgabe ge-gangen wäre, die vom bürokratischen Aufwand herkaum zu überbieten gewesen wäre, und weil dadurchkeinesfalls mehr Gerechtigkeit entstanden wäre. Die ge-schaffenen Leitplanken und Eckpunkte, die wir jetzt dis-kutieren und auch früher schon immer wieder diskutierthaben – Sie haben selber die 16 Anträge und den Geset-zesvorschlag angesprochen, den Herr Gysi im letztenJahr eingebracht hatte –, sind, wie wir alle wissen, inAbhängigkeit von den tatsächlichen Entgelten und nacheiner nach bestem Wissen und Gewissen eingeführtenRegelung, was die Stichtage und die Rentenhöhe angeht,entstanden.Dass Sie jetzt das Wort „Willkür“ in den Mund ge-nommen haben und dieses Wort in Ihrem Antrag min-destens zweimal vorkommt, kommt mir aus Ihrer Rich-tung als etwas schwierig vor. Eine Linie wurde gezogen,die dem Thema, den Menschen und den zusammen-wachsenden Systemen nach dem besten Wissen und Ge-wissen der damals Verantwortlichen am nächsten kam.Es war nie der Anspruch, und es gab auch nie die Mög-lichkeit, 40 Jahre DDR mit diesem Rentensystem ein-fach ungeschehen zu machen. Oder sollten dadurchentstehende Kunstrenten, die letztendlich jeglicherRechtsgrundlage entbehrt hätten, den Bürgern in den al-ten Bundesländern zur solidarischen Mitbezahlung vor-gelegt werden? Es sollte nicht nach dem Rosinenpicker-prinzip gehen. Trotzdem ist offensichtlich, dass durchdie errungene Linie ein Teil von Betroffenen eher Ge-winner und ein anderer Teil von Betroffenen eher Verlie-rer sind. Das liegt in der Sache selbst, nämlich den Leit-planken, begründet.
Die Kompliziertheit dieser zu überführenden odermiteinander zu vereinbarenden Systeme bringt eine Auf-gabe mit sich, die sich in dem ausdrückt, was wir heutehier vor uns haben. Wie schon gesagt, die BRD warnicht in der Lage, alle Ungerechtigkeiten der ehemaligenDDR auszugleichen, und darüber hinaus ist das Renten-system wahrlich nicht der Reparaturbetrieb des Erwerbs-lebens.
Noch gestern habe ich mit jemandem gesprochen, derzu den in Ihrem Antrag angesprochenen Personengrup-pen gehört. Er sagte mir Folgendes: Wir unterstützendiesen Antrag in keinster Weise. – Denn es geht dieserGruppe nicht um eine gerechte Rente, sondern vielmehrum eine leistungsgerechte Altersversorgung, die weitmehr als nur Rente ist.
Es geht um eine Anerkennung von Lebensleistung.Darum ist eine Differenziertheit nötig, die in dem An-trag, den Sie jetzt stellen, nicht vorkommt. Was in die-sem Werk zusammenfließt, war eine gemeinschaftlicheLeistung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern so-wie von Arbeitgebern als Beitrags- und Steuerzahler, dieletztlich hohe Anerkennung verdient. Die Grundlage warein hohes Maß an Kompromissbereitschaft und -fähig-keit. Ganz im Sinne des bundesdeutschen Rentensys-tems, das auf den Gleichheitsgrundsatz setzt, wurde mitder Übertragung dieses Systems Gewaltiges geleistet.Die Gerichte, sowohl das Bundesverfassungsgerichtals auch Sozialgerichte, haben in mehreren Verfahrensehr deutlich gemacht, dass die durch den Einigungsver-trag geschaffene Lösung und die entsprechenden Fristenund Leitlinien sicher sind.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Dr. Bunge?
Bitte schön.
Herr Kollege Heinrich, Sie sind ja im A-und-S-Aus-
schuss und in dieser Problematik neu. Sie kommen aus – –
– Ja, aber ich glaube, Ihr Wahlkreis ist jetzt im Osten?
Ich bin im Wahlkreis Chemnitz, richtig.
Dieser Bürger aus Ihrem Wahlkreis, mit dem Sie ge-
sprochen haben, hat gesagt, es gehe ihm nicht um die
Rentenüberleitung, sondern um eine gerechte Altersver-
sorgung. Sie interpretieren nun unseren Antrag und sa-
gen, dazu stehe nichts drin. Haben Sie zur Kenntnis ge-
nommen, dass ich gerade in meiner Rede gesagt habe,
dass das Problem für viele, die eine Zusatz- und Sonder-
versorgung hatten, darin besteht, quasi in die Renten ge-
stopft worden zu sein, um es salopp zu formulieren? Si-
cherlich handelt es sich bei der Rentenüberleitung um
eine historische Leistung; das steht auch in unserem An-
trag. Aber es sind viele Probleme entstanden. Wir schla-
gen in unserem Antrag für die Überleitung von DDR-
Alterssicherungen in bundesdeutsches Recht ein System
sui generis vor, das nur für begrenzte Zeit und für eine
bestimmte Personengruppe gilt. Wenn Sie nun trotzdem
etwas anderes behaupten, dann haben Sie entweder un-
seren Antrag nicht richtig gelesen, oder Sie können ihn
nicht interpretieren.
Die Frage, die ich aus Ihren Ausführungen heraus-lese, beantworte ich wie folgt: Ja, ich habe Ihren Antraggelesen, genauso wie dieser Bürger, der aus einer derGruppen kommt, die Sie angesprochen haben. Was ichvorgetragen habe, ist seine Interpretation Ihres Antrags.Ich habe ihn zitiert. Es ist seine Auffassung, dass er sichin Ihrem Antrag nicht wiederfindet. Das ist meine kurzeAntwort auf Ihre Frage.
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4288 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Frank Heinrich
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Wenn wir unser Rentensystem, um das wir oft benei-det werden und auf das wir stolz sein können, und damitdie Umlagefinanzierung nicht aufs Spiel setzen wollen,müssen wir mit den daraus erwachsenden Härten, Ver-werfungen und Randschwächen leben. Aber die meistendieser Verwerfungen und der – nur zu verständlich – ge-fühlten Ungerechtigkeiten sind nicht bei der Umwand-lung des DDR-Rentensystems entstanden, sondern auf-grund der Gerechtigkeitsverhältnisse damals in derDDR, die mit meinem heutigen Verständnis von Gerech-tigkeit nicht mehr ganz so viel zu tun haben.Sie reden von den Durchschnittszahlen. Dabei werdenmanchmal Einzelschicksale nicht berücksichtigt; das istrichtig. Sie als Linke konzentrieren sich in Ihrem Antragauf die Besonderheiten, die weggefallen sind, unter-schlagen aber die Vorteile, die den Menschen durch dasgesamtdeutsche System letztlich zugute gekommen sind.
Es können nicht alle Vorteile des DDR-Rentensystemsmit dem bundesdeutschen System kombiniert werden.Das ist erstens nicht finanzierbar – hierzu halten Sie sichin Ihrem Antrag übrigens sehr bedeckt. Und zweitens:Wäre dies denn letztlich gerecht? Dazu habe ich sehrviele Bedenken in meinem Wahlkreis gehört. Das Ge-rechtigkeitsempfinden spielt meiner Meinung nach einegroße Rolle in dieser Auseinandersetzung. Jeder ostdeut-sche Bürger und jede ostdeutsche Bürgerin, der bzw. diesich durch eines der Sonderversorgungssysteme derDDR eine höhere Rente erhofft hat und diese nun nichtbekommt, wird zwangsläufig enttäuscht sein. Fakt ist,dass ein Großteil der ostdeutschen Rentner durch dieRentenüberleitung erhebliche finanzielle Verbesserun-gen hat.
Politik kann nicht – das wissen wir nicht nur aus die-sem Bereich – allen in gleichem Maß gerecht werden.Die Problematik besteht darin, dass Menschen, die zuDDR-Zeiten lange Jahre schwer gearbeitet haben, Ver-sprechungen gemacht wurden, die mit dem Ende desSystems nicht eingelöst werden konnten. Dass sich dieseMenschen nun benachteiligt fühlen, ist absolut verständ-lich. Aber dass das jetzt gültige Rentensystem diese un-gedeckten Schecks einlösen soll, die es selber nicht aus-gestellt hat, ist schlicht nicht finanzierbar.
Vielleicht ist es auch an der Zeit, sich dieser Realitätendlich zu stellen, anstatt weiter unbegründete Hoffnun-gen zu schüren und jahraus, jahrein zu vertrösten. Ichdenke, es geht an dieser Stelle sogar weiter. In dem Mo-ment, wo Sie unberechtigte Hoffnungen schüren, werdenSie den Rentnerinnen und Rentnern in diesem Landnicht gerecht.
Wir wollen keine neuen Ungerechtigkeiten schaffen. Wirwerden ganz genau hinschauen, wo es Ungerechtigkei-ten gibt, die beseitigt werden müssen. Wir werden denWechselwirkungen und den materiellen Verwerfungen,die bei diesem Bemühen entstehen können, entgegentre-ten. Wir werden das genau im Blick behalten.Noch einige Worte zu dem letzten Satz Ihres Antrags,zur Angleichung des Rentenwerts Ost an den Renten-wert West.Die CDU/CSU-Fraktion hat den hohen Anspruch, be-reits zur Mitte der Legislaturperiode im gemeinsamenRentenrecht eine Lösung zu finden. Dazu hat sich voretwa zehn Tagen der Regierungsbeauftragte für dieneuen Bundesländer, unser Innenminister Thomas deMaizière, eindeutig geäußert: Wir werden an einer Lö-sung arbeiten, die Gerechtigkeit schafft – das ist ein Zitat –,und zwar entsprechend unserem Koalitionsvertrag. –Dazu sind allerdings genaues und sorgfältiges Arbeitenund eine Prüfung notwendig, wobei Sie dabei herzlichwillkommen sind. Dieses Projekt steht für eine intensive,verantwortungsvolle Auseinandersetzung der Regie-rungskoalition mit dem Thema Rente – das wollten Sieuns eben absprechen –, eine Suche nach einem Konsens,der möglichst breit sein sollte, und eine gerechte Lösung,die Ungerechtigkeiten oder Verwerfungen bei dieser An-gleichung ausschließt. Auch hier wird ähnlich viel Kom-promissfähigkeit nötig sein wie vor 20 Jahren. Ich bin si-cher, dass wir zu einem gerechten Ergebnis kommenwerden. Nach meiner Erkenntnis werden dazu bereitserste Berechnungen bzw. Kalkulationen angestellt. Siealle wissen, dass es sich hierbei rein rechnerisch undhaushälterisch um eine große Aufgabe handelt. Ich binzuversichtlich, dass wir im Gegensatz zur Wendezeit ei-nen Vorteil haben: Wir stehen nicht ganz so unter Zeit-druck. So können wir die nötigen Schritte maßvoll undhoffentlich in guter Zusammenarbeit auch mit den ande-ren Parteien in diesem Hause angehen.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Für die SPD-Fraktion hat der Kollege Anton Schaaf
das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sehr ge-ehrte Frau Bunge, auch wenn man aus Sicht der Betrof-fenen berechtigte Anliegen aufgreift, bin ich immer sehrvorsichtig, wenn man die gesetzliche Rentenversiche-rung als Reparaturbetrieb begreift.
So wie sie aufgebaut ist, ist sie lohn- und beitragsbezo-gen. Sie spiegelt also die Lebensleistung real wider. Siekann nicht Dinge ausgleichen, die nicht stattgefundenhaben, und sie kann nicht Defizite von Menschen, die zu
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Anton Schaaf
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kurz gekommen sind, ausgleichen. Sie kann nicht unge-deckte Schecks, die einmal in der DDR ausgestellt wor-den sind, einlösen. Das muss man begreifen.
Ich sage damit nicht, dass all die Anliegen, die Sie, FrauBunge, in Ihrem Antrag formuliert haben, unberechtigtsind. Das sage ich in keinster Weise, aber ich warne da-vor, die Rentenversicherung als Reparaturbetrieb zu be-trachten. Wir delegitimieren sonst die Lohn- und Bei-tragsbezogenheit der Rentenversicherung, und damitdelegitimieren wir auch Solidarität und Parität in diesemSystem. Ich wäre an der Stelle sehr vorsichtig.
Wenn wir bei den Personengruppen, die Sie aufgelis-tet haben – die könnte man im Einzelnen einmal durch-gehen; ich greife nachher einen Punkt auf –, berechtigteInteressen ausmachen, dann muss man anders darüberdiskutieren. Ich persönlich sage: Da hilft uns am Endenicht die gesetzliche Rentenversicherung alleine, son-dern man muss so etwas wie ein Rentenüberleitungsab-schlussgesetz beschließen, in dem eventuelle Fragen ge-klärt werden. Das muss übrigens im Zusammenhang mitder Frage der Ost-West-Angleichung geschehen. Ichfand die Kommunikation, die dazu in den letzten Tagenstattgefunden hat, spannend. Im Koalitionsvertrag dieserchristlich-liberalen Koalition – auch ich habe mir dieseBegrifflichkeit angewöhnt, damit Sie sie nicht dauerndbenutzen müssen –
steht, dass die rentenrechtliche Angleichung zwischenOst und West in dieser Legislaturperiode geregelt wer-den soll. Dabei lege ich Wert auf das Wort „rentenrecht-lich“. Das heißt, für die Menschen wird wahrscheinlichmateriell nichts dabei herauskommen. Auch das ist rela-tiv klar bei dieser Begrifflichkeit. Im Koalitionsvertragsteht: für diese Legislaturperiode. Dann gibt es einenkleinen Parteitag der CDU, auf dem beschlossen wird,dass es eine rentenrechtliche Angleichung von Ost undWest gibt. Da steht aber nichts mehr davon, dass das indieser Legislaturperiode geschehen soll.
Schauen Sie einmal hin. Wahrscheinlich gibt es zu vieleWahlen im Osten. Wenn materiell nichts dabei heraus-kommt, dann kann man das nicht machen. Das ist völligklar. Dann sagt der Kollege Kolb, die Ost-West-Anglei-chung müsse man noch in diesem Jahr auf den Weg brin-gen, die ersten Pflöcke müssten eingeschlagen werden.Das habe ich zumindest gelesen. Daraufhin kontert dieArbeitsministerin gleich und sagt: Um Himmels willen,in diesem Jahr können wir gar nichts machen, weil wirso sehr mit dem SGB II beschäftigt sind. Da passiert garnichts. – Ich bin gespannt, wie diese Regierung an derStelle das, was sie den Menschen im Osten versprochenhat, einlösen will. Dabei erkenne ich unsere eigenen De-fizite an, nämlich dass es uns in der letzten Legislatur-periode nicht gelungen ist, tatsächlich einige Schritte vo-ranzukommen.
Das will ich überhaupt nicht bezweifeln. Nur: Wenn dasals Arbeitsplan in einen Koalitionsvertrag hineinge-schrieben wird, erwartet man auch Konkretes dazu; denndie Menschen haben einen Anspruch darauf, dass das,was sie gewählt haben, dann auch real Politik wird. Dasist der Anspruch, den Sie immer formuliert haben.Jetzt konkret zum Antrag. Wenn man Ansprüche aus-findig macht und auflistet, darf es nicht dabei bleiben,sie aufzulisten, sondern man muss auch sagen – das ge-hört zur Seriosität dazu –, wie man es denn machen willund wie man es denn rechtfertigen kann.Sie sprechen beispielsweise die Geschiedenen an. Esgab in der DDR keinen Versorgungsausgleich. Wie sollman jetzt, 20 Jahre nach Wiederherstellung der Einheit,einen Versorgungsausgleich über das Rentenversiche-rungssystem ordentlich darstellen? Das geht schlichtwegnicht, wenn man nicht neue Ungerechtigkeiten schaffenwill. Wenn man es seriös meint, muss man auch Antwor-ten auf die Frage geben, wie das gemacht werden soll,wie man den berechtigten Interessen dieser Menscheneventuell gerecht werden kann. Über das Rentenversi-cherungssystem können Sie das aus meiner Sicht inkeinster Weise darstellen.Das ist genau der Punkt bei vielen Dingen, die Sieaufgelistet haben, zum Beispiel bei den Beschäftigten imBereich Braunkohle. Gibt es nicht rentenrechtlicheWechselwirkungen in den Westen hinein, wenn man dadie Zugeständnisse macht?Dann haben Sie Anwälte und ähnliche Gruppen ange-sprochen. Es gab in der DDR keine Versorgungswerke,die wir hätten übernehmen können oder die wir in west-deutsche Versorgungswerke hätten überführen können.Das sind technische Probleme. Deswegen hat man imZusammenhang mit dem Renten-Überleitungsgesetzbeschlossen, die Menschen in die Rentenversicherunghineinzunehmen; damit hatten sie einen gesicherten An-spruch im Alter. Das war eine herausragende Leistung.Übrigens – das sage ich sehr gerne; es ist auch das ersteMal, dass ich das in dieser Form in einem Antrag von Ih-nen zum Thema Rente gelesen habe –: Die Übernahmein die Rentenversicherung ist für die allermeisten Men-schen in der DDR, für 4 Millionen Rentnerinnen undRentner, völlig glatt gelaufen.
– Nein, ich habe nie darauf abgestellt, dass Sie staatsnaheund parteinahe Leute im Besonderen im Fokus hätten;das unterstelle ich nicht. Aber ich kann die Kolleginnenund Kollegen verstehen, die sich an der Stelle verdammtschwertun, zu springen und zu sagen: Alles, was da ver-sprochen worden ist, wird jetzt auch gewährt. – Ich kannverstehen, dass viele Menschen, insbesondere Opfer die-ses Staates oder dieses Systems, ihre Schwierigkeitendamit haben. Insofern habe ich ganz klar eine andereMeinung als Sie,
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4290 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Anton Schaaf
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und die begründe ich auch. Das waren Menschen, die inder DDR, als sie noch gearbeitet haben, partei- oderstaatsnah, in der Regel besondere Privilegien hatten.
Diese besonderen Privilegien vor dem Hintergrund des-sen, dass sie nicht Opfer dieses Staates und dieses Sys-tems waren, einfach auf die Rente zu übertragen, halteich zumindest aus Sicht der Opfer und der anderen Men-schen, die in der DDR gelebt haben, für ziemlich proble-matisch.
Wir werden Sie von der Regierung jetzt an dem mes-sen müssen, was Sie zum Thema Ost-/West-Rente aufden Weg bringen. Sie werden sagen müssen, wie es mitder Angleichung des Rentenwertes aussieht. Es geht da-bei nicht nur um die rein rechtliche Frage der Anglei-chung, sondern auch um die Frage des Rentenwertes. Siewerden darlegen müssen, was sie mit dem Höherwer-tungsfaktor machen wollen; denn der ist für die Men-schen ganz entscheidend, die jetzt noch nicht in Rentesind, sondern arbeiten, und zwar durchschnittlich für vielweniger Geld arbeiten als im Westen. Was machen wiralso mit dem Höherwertungsfaktor? Ich sage Ihnen: Einerentenrechtliche Ost-/West-Angleichung, die nur recht-lich an dem Thema schraubt und nicht die Frage beant-wortet, was wir im Hinblick auf die Menschen machen,die jetzt nur unterdurchschnittlich verdienen können,kann nicht im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer im Osten der Republik sein.Ich bin auf Ihre schlüssigen Antworten gespannt. Wirwerden uns an der Debatte beteiligen. Ich sage noch ein-mal: Lasst uns die Einzelfragen nicht innerhalb des Ren-tenrechts regeln, sondern lasst sie uns als sozialpoliti-sche Fragen regeln, auch vor dem Hintergrund dessen,dass es um die Herstellung von Gerechtigkeit geht! Da-mit wäre ich einverstanden. Lasst uns ansonstenschauen, dass die Ost-/West-Frage nicht auf eine rechtli-che Frage reduziert wird, sondern für die Menschen imOsten tatsächlich substanziell und materiell beantwortetwird!Danke.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Heinrich Kolb
für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das Thema, das wir jetzt hier debattieren, ist wichtig,aber es ist alles andere als neu. Neu ist – da pflichte ichHerrn Kollegen Schaaf bei –, dass ein Antrag der Linkenmal nicht mit Kampfparolen beginnt, sondern mit einerArt Lob für die damalige schwarz-gelbe Bundesregie-rung, die das Renten-Überleitungsgesetz und das An-spruchs- und Anwartschaftsüberführungsgesetz 1991formuliert hat.
– Das muss man einmal besonders hervorheben. Das istnicht der Normalfall bei Ihren Vorlagen, Frau KolleginBunge.Die beiden Gesetze damals waren eine große histori-sche Leistung, die die Leistungsfähigkeit unseres Sozial-staates allen Menschen in den neuen Ländern deutlichvor Augen geführt hat.
Sie waren ein entscheidender Beitrag zur Verwirkli-chung der deutschen Einheit. Wäre das westdeutscheRentensystem damals sofort auf die neuen Länder über-tragen worden, hätte es dort Anfang der 90er-Jahre nichtdie starken Rentensteigerungen von bis zu 30 Prozentpro Jahr geben können. Millionen von Menschen habenwir damit einen Lebensstandard im Alter gesichert, densie jedenfalls zu DDR-Zeiten in keiner Weise erhoffenkonnten.Ich freue mich, Herr Kollege Schaaf, dass die Koali-tion sich in dieser Legislaturperiode vorgenommen hat,eine Vereinheitlichung des Rentenrechts Ost/West vor-zunehmen, also ein einheitliches Recht einzuführen.20 Jahre nach der Wiedervereinigung ist das überfällig.Für mich ist auch wichtig, darauf hinzuweisen, dass derRentenwert Ost gegenüber dem Rentenwert West seit2004 nicht mehr spürbar aufgeholt hat. Deswegen soll-ten wir jetzt die Umstellung vornehmen. In den neuenBundesländern gibt es zunehmend Gebiete, wo dieDurchschnittsverdienste über denen in den ärmeren Re-gionen der alten Bundesländer liegen. Der Sachverstän-digenrat der Bundesregierung hat in seinem aktuellenGutachten deswegen ausdrücklich die Rechtsanglei-chung als Handlungsoption empfohlen. Das werden wirsicherlich zu einem späteren Zeitpunkt noch debattieren,Herr Kollege Schaaf.Ich will mich jetzt auf den vorliegenden Antrag kon-zentrieren. Er berührt viele in der Regel eher kompli-zierte Sonderfälle. Bis heute wirken sich nämlich einigeBesonderheiten des DDR-Rentenrechts aus, die mannicht ohne Weiteres ausräumen kann, Frau KolleginBunge; das müssen Sie zugestehen.Die Fälle lassen sich in drei Gruppen zusammenfas-sen: solche, die aus rechtlichen, politischen oder anderenGründen zu DDR-Zeiten keine Rentenversicherungsbei-träge leisten konnten; solche, deren Rentenansprücheaus DDR-Zeiten nicht mit dem SGB VI kompatibel sindund deswegen nicht überführt werden konnten; solche,deren Anwartschaften ins SGB VI anstelle anderer Ver-sorgungssysteme übergeleitet wurden, weil es kein bun-desdeutsches Äquivalent zur DDR-Regelung gab.
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Dr. Heinrich L. Kolb
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Man sieht schon an dieser zusammenfassenden Be-schreibung, wie komplex und unterschiedlich die Fällesind. Glauben Sie mir: Wir haben viele Gespräche mitBetroffenen geführt und noch viel mehr Briefe erhalten,und wir haben uns auch viele Gedanken gemacht, wieman die Ungerechtigkeiten beheben kann, ohne neue zuschaffen.Besonders schwierig wird die Sache dadurch, dass– was ein Stück weit paradox ist – ein Teil der Betroffe-nen fordert, dass das frühere DDR-Recht heute keineWirkung mehr entfalten soll, und ein anderer Teil genaudas Gegenteil fordert, nämlich dass ihre Ansprüche nachdem früheren Recht komplett anerkannt werden. Daher,Frau Bunge, ist es viel schwerer, allen Interessen gerechtzu werden, als die Linke uns – ich wäre fast geneigt, zusagen: wie so oft – glauben machen will.Sie haben darauf hingewiesen, dass wir bereits in derletzten Legislaturperiode, ziemlich genau vor einemJahr, eine Debatte über das gleiche Thema hatten. Da-mals gab es auch eine Anhörung mit einem recht klarenErgebnis: Die Sachverständigen empfahlen keine Kor-rektur der geltenden Gesetze. Ich erinnere mich an dieErläuterung, wie viele Sondersysteme in der Altersver-sorgung der DDR bestanden haben und dass diese zumTeil gar nicht kodifiziert waren. Jedenfalls machten unsdie Sachverständigen sehr deutlich, dass jede Nachjus-tierung zu neuen Ungleichbehandlungen, also zu neuenUngerechtigkeiten führen würde.
Deswegen will ich hier noch einmal den Vorschlageinführen, den wir damals gemacht haben. Die FDP-Fraktion bevorzugt nach wie vor das Modell eines Nach-versicherungsangebotes. Damit bleiben wir in dembewährten Gesamtmodell der Rentensystematik. Das hatsich auch bewährt, als 1992 die Rentenberechnung ausdem früheren Angestelltenversicherungsgesetz insSGB VI überführt worden ist. Wir wollen eine solcheLösung für alle Versicherten auf dem Boden der Bei-tragsäquivalenz, eine Nachversicherungslösung auf frei-willigem Wege. Den Betroffenen wird dadurch dieChance gegeben, ihre nicht in das SGB VI übertragenenoder aus anderen Gründen ausgeschlossenen Renten-ansprüche geltend zu machen. Frau Bunge, wichtig ist:Die Höhe einer nachträglichen Beitragsentrichtung ist andem auszurichten, was zu DDR-Zeiten zur Erlangung ei-nes vergleichbaren Anspruchs hätte aufgewendet werdenmüssen. Ich denke, selbst wenn man eine Verzinsung derso ermittelten Beiträge vornimmt, dürfte ein solches An-gebot auf großes Interesse stoßen und dürfte eine attrak-tive Verzinsung der nachzuentrichtenden Beiträge ge-währleistet sein.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Dr. Bunge?
Ja. Bitte sehr.
Herr Kolb, ich versuche, es ganz kurz zu machen. Ich
folge Ihnen aufmerksam.
Können Sie mir bitte sagen, wie sich ein Professor,
der jetzt in Rente geht oder der in den 90er-Jahren ohne
Vertrauensschutz in Rente gegangen ist, der nach 45 Ar-
beitsjahren 1 400 Euro Rente bekommt und ein Häus-
chen mit Bibliothek hat – das soll ja zum Lebensstil ge-
hören –, mit diesem Alterseinkommen nachversichern
soll? Er hat doch Beiträge gezahlt.
Frau Kollegin Bunge, ich denke, die Frage ist: Rech-net sich das insgesamt, kann also das eingesetzte Kapitaleine angemessene Verzinsung erwirtschaften? Dasmüsste nach dem, was ich vorgetragen habe, der Fallsein. Dann kann es im Einzelfall auch zumutbar sein,dass ein Betroffener für seine Nachversicherung einenkleinen Kredit aufnimmt, den er in der Folge aufgrundhöherer Rentenversicherungsanwartschaften zurückzah-len kann. Das rechnet sich im Einzelfall; davon bin ichüberzeugt. Das ist eine Frage der Verzinsung und der zu-vor zu erbringenden Beiträge. Das ist der einzige Weg,den ich sehe, eine systemkonforme Behebung des geltendgemachten Unrechts vorzunehmen. Ansonsten würde esschwer werden, ja unmöglich sein, die beschriebenenUngerechtigkeiten zu beseitigen.Herr Kollege Schaaf, die christlich-liberale Koalition
hat festgelegt, die Angleichung des Rentenrechts in Ostund West grundsätzlich anzugehen. Ich denke, das ist derRahmen, in dem auch die noch bestehenden Ungleichge-wichte behandelt werden müssen; das sehen auch Sie so.Dabei wären auch die Modalitäten der Nachversicherungfür jede Gruppe einzeln festzulegen. Das wird irgend-wann in dieser Legislaturperiode – ich kann Ihnen nichtsagen, wann genau – geschehen.Um Ihre Bemerkung, Herr Schaaf, aufzugreifen, kannich Ihnen eines sagen: Die Deutsche Rentenversicherunghat, was die Vereinheitlichung des Rentenrechts angeht,festgestellt, dass man diese zu jedem Zeitpunkt vorneh-men kann, allerdings mit einem ausreichenden organisa-torischen Vorlauf. Klar ist: Zum 1. Juli 2010 ist das nichtmehr zu schaffen; das wäre zu kurzfristig. Zum 1. Juli2011 wäre das aber möglich. Es gibt in dieser Legislatur-periode noch weitere Rentenanpassungszeitpunkte. Zugeeignetem Zeitpunkt werden wir wieder auf diesesThema zu sprechen kommen. Für heute bedanke ichmich für Ihre Aufmerksamkeit.Vielen Dank.
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4292 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
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Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun derKollege Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Heute ist in der Leipziger Volkszeitung ein Artikel mitder Überschrift „Rentner am Rand der DDR“ zu lesen.Darin geht es um Untersuchungen eines Historikers, dersich mit der Situation der Senioren in der DDR auseinan-dergesetzt hat.
In diesem Artikel, der sehr interessant ist, wird DierkHoffmann – so heißt der Wissenschaftler – wie folgt zi-tiert:Sie– damit sind die Rentnerinnen und Rentner gemeint –lebten am Rande der sozialistischen Arbeitsgesell-schaft. Die SED hat die knappen Geldressourcenvor allem dafür eingesetzt, die Löhne und Gehälterin der volkseigenen Industrie zu erhöhen. Da bliebfür die Rentner weniger übrig.
Das heißt, die Renterinnen und Rentner waren in derDDR eine diskriminierte, benachteiligte Gruppe.
Das muss man als Vorbemerkung deutlich machen.Die Ergebnisse aller Untersuchungen, die es zu die-sem Thema gibt, zeigen, dass die Rentnerinnen undRentner diejenigen sind, die von der deutschen Einheitam meisten profitiert haben. Nicht nur, wenn man aus-schließlich die Höhe der Rente, sondern auch, wenn mandas Gesamteinkommen berücksichtigt, kommt man zudem Schluss: Es waren die Rentnerinnen und Rentner,die stark profitiert haben, während es andere Gruppengab, die durch die Einheit eher benachteiligt wordensind. Auch diese Vorbemerkung muss man hinzufügen.Es ist ja schon gelobt worden, dass dies auch im vorlie-genden Antrag zur Kenntnis genommen wird.Vielleicht noch ein kleiner Hinweis an die FDP. Dassdie Ansprüche der Rentnerinnen und Rentner der DDRso gut in unser System überführt werden konnten, liegtnatürlich daran, dass wir ein umlagefinanziertes Renten-system hatten und haben. Mit mehr Kapitaldeckung, diedie FDP immer noch und immer wieder fordert – damalshaben Sie dies besonders nachdrücklich gefordert –,wäre all das nicht möglich gewesen,
weil die Rentnerinnen und Rentner dann gar keine Ren-tenansprüche gehabt hätten.
Insofern ist es für uns wichtig, dass die Umlagefinanzie-rung auch in Zukunft Kern und Basis der Alterssiche-rung in Deutschland ist.Nun aber zurück zum Renten-Überleitungsgesetz. Esist zu betonen, dass es hier nicht darum ging, beide Sys-teme in irgendeiner Form zu fusionieren oder das Ren-tensystem der DDR eins zu eins in das deutsche Renten-recht zu überführen. Es ist aber in Einzelfällen zuBenachteiligungen gekommen. Wir haben durchaus Ver-ständnis dafür, dass manche diese Überführungsregelnals Aberkennung der Lebensleistung und als Diskrimi-nierung empfinden. Andererseits sagen wir: Es gibt keinPatentrezept, mit dem jeder Einzelfall gerecht bewertetwerden kann.
Insofern halten wir eine grundlegende Korrektur desRenten-Überleitungsgesetzes für nicht sinnvoll.Nichtsdestotrotz gibt es natürlich Probleme. Sie ha-ben diverse Einzelgruppen benannt; auch wir haben sieuns angeschaut und werden noch einmal genauer hin-schauen. Im Osten wird es in Zukunft enorme Armuts-probleme geben; da besteht Handlungsbedarf. UnsereAntwort auf die Probleme besteht aus drei Punkten:Erstens. Wir werden uns die einzelnen Gruppen ge-nauer anschauen und prüfen, ob Handlungsbedarf be-steht. Das wird aber sicherlich die Ausnahme sein. In derletzten Legislaturperiode haben wir bereits einen Antragzur Versorgung für in der DDR Geschiedene gestellt; daswerden wir auch in dieser Legislaturperiode tun.Zweitens. 20 Jahre nach der deutschen Einheit ist esaus unserer Sicht endlich an der Zeit, dass es ein einheit-liches Rentenrecht gibt. Zum einen betrifft das den aktu-ellen Rentenwert, der möglichst bald in Ost und Westgleich hoch sein muss. Zum anderen betrifft das die Be-rechnung der Entgeltpunkte; hier sollte es in Zukunftkeine Aufwertung der Einkommen im Osten mehr ge-ben. Jetzt benachteiligte Gruppen im Osten würden vonder Angleichung des aktuellen Rentenwertes profitieren.
Drittens. Bei der Berechnung der Entgeltpunkte soll-ten die Einkommen im Osten nicht einseitig aufgewertetwerden. Es gibt nämlich nicht nur im Osten, sondernauch im Westen niedrige Einkommen. Vor dem Hinter-grund der ansteigenden Altersarmut im Osten, aber auchim Westen sagen wir: Wir brauchen eine Garantierente,ein Minimum der Leistungen aus der Rentenversiche-rung in Ost und West, mit der sichergestellt wird, dasszumindest langjährig Versicherte eine Rente erhalten,die über dem Grundsicherungsniveau liegt. Nach 30 Jah-ren Versicherungszeit sollten Rentnerinnen und Rentnermindestens 30 Entgeltpunkte haben, also mindestensetwa 800 Euro Rente erhalten. Damit würden wir sowohlden aktuellen als auch den zukünftigen Problemen derAltersarmut gerecht werden.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Ich schließe die Aussprache.Zwischen den Fraktionen ist es verabredet, die Vor-lage auf Drucksache 17/1631 an die in der Tagesordnungaufgeführten Ausschüsse zu überweisen. – Ich sehe, dassSie damit einverstanden sind. Dann ist das so beschlos-sen.Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 9 auf:Beratung des Antrags der BundesregierungFortsetzung der deutschen Beteiligung an derinternationalen Sicherheitspräsenz im Kosovoauf der Grundlage der Resolution 1244
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationenvom 10. Juni 1999 und des Militärisch-Techni-schen Abkommens zwischen der internationa-len Sicherheitspräsenz und den Re-gierungen der Bundesrepublik Jugoslawien
und der Republik
Serbien vom 9. Juni 1999– Drucksache 17/1683 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
RechtsausschussVerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungHaushaltsausschuss gemäß § 96 GOHier ist es verabredet, eine halbe Stunde zu debattie-ren. – Auch dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann istdas so beschlossen.Ich erteile das Wort dem Bundesminister Dr. GuidoWesterwelle.
Dr. Guido Westerwelle, Bundesminister des Aus-wärtigen:Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In den letzten20 Jahren hat der westliche Balkan uns sehr schmerzlichdaran erinnert, dass Frieden in Europa nicht selbstver-ständlich ist. Wir mussten die leidvolle Erfahrung ma-chen, dass Europa in den 90er-Jahren nicht in der Lagewar, die Rückkehr von Krieg und Zerstörung auf dem ei-genen Kontinent zu verhindern. Die Erfahrung aus den90er-Jahren, als Krieg und Zerstörung auf unserem eige-nen Kontinent stattfanden, ist eine Mahnung, die zeigt:Die europäische Einigung hat als Friedensprojekt ebenausdrücklich nicht ausgedient. Gerade in diesen Tagensollte man das noch einmal sagen, meine sehr geehrtenDamen und Herren.
Zwei Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung ist dieLage im Kosovo stabil. Die Verbesserung der Sicher-heitslage ist der Erfolg des jahrelangen Einsatzes vonKFOR. Dieser Erfolg spiegelt sich auch in der veränder-ten Aufgabenstellung von KFOR wider: Weil KFOR er-folgreich war, können wir die Soldatinnen und Soldatenseit dem vergangenen Jahr verstärkt für die Ausbildungvon Sicherheitskräften im Kosovo einsetzen. WeilKFOR erfolgreich war, können wir jetzt, gemeinsam mitunseren Verbündeten, die Missionsstärke deutlich ver-kleinern. Das Mandat, das ich dem Bundestag heute ge-meinsam mit dem Bundesverteidigungsminister vorlege,sieht eine Reduzierung der Obergrenze der Kräfte derBundeswehr von 3 500 auf 2 500 vor. Wir sind zuver-sichtlich, dass bald weitere Reduzierungen möglich wer-den. Militärisches Eingreifen – darin sind wir uns in die-sem Hause einig – ist immer nur das allerletzte Mittelder internationalen Politik. Dies ist eine Konstante derdeutschen Außenpolitik. Unser Ziel ist ein Kosovo, dasohne ausländische Truppen für seine eigene Sicherheitsorgen kann, und auf diesem Weg sind wir ein gutesStück vorangekommen.
Auf dem langen und sehr schwierigen Weg nach Eu-ropa muss das Kosovo noch enorme Herausforderungenbewältigen. Das hat die EU-Kommission in ihrem Fort-schrittsbericht 2009 festgestellt, und das soll auch nichtverschwiegen werden. Die Defizite bei der Bekämpfungvon Korruption und organisierter Kriminalität wurdendarin ausdrücklich angemahnt. Trotz Wachstumsratenzwischen 4 und 5 Prozent ist das Kosovo immer nochdas wirtschaftliche Schlusslicht in Europa. Über all dieseProbleme habe ich Anfang Mai mit Präsident FatmirSejdiu gesprochen, und ich bin zuversichtlich, dass ersowie seine ganze Regierung diese Probleme seines Lan-des auch energisch angehen. Er kann dabei auf die Un-terstützung Europas zählen. Mit der RechtsstaatsmissionEULEX hat die Europäische Union Verantwortung über-nommen. Sie will das Kosovo dabei unterstützen, zu ei-nem gleichberechtigten und ebenbürtigen Teil Europaszu werden.Der Schlüssel zu einer europäischen Zukunft liegt vorallem im Kosovo selbst. Das Kosovo soll schrittweisefür die Sicherheit im eigenen Land sorgen. Die PolizeiKosovos hat in den letzten Monaten die Verantwortungfür serbisch-orthodoxe Klöster und andere schutzbedürf-tige Kulturstätten übernommen. Das hört sich inDeutschland nicht sehr spektakulär an; aber angesichtseiner Geschichte der gegenseitigen Verletzungen ist eseine wirklich beachtliche Leistung, ein bedeutenderFortschritt. Wir sind immer leicht dabei, zu kritisieren,wenn etwas von dem, was wir uns vorgenommen haben,nicht gelingt. Aber wenn etwas gelingt, was wir uns ge-meinsam überparteilich in diesem Hause vorgenommenhaben, dann darf dies auch einmal erwähnt werden undpositive Resonanz finden, so meine ich, liebe Kollegin-nen und Kollegen.
Mit der Unabhängigkeit sind die Kosovo-Albaner zurMehrheit in ihrem Staat geworden. Mit der Anerken-nung des Staates Kosovo verbindet die internationaleGemeinschaft die Erwartung, dass das Kosovo mit die-ser neuen Machtverteilung verantwortungsvoll umgeht.
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4294 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Bundesminister Dr. Guido Westerwelle
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Die Verfassung des neuen Staates garantiert die Sicher-heit und Gleichberechtigung auch für die Kosovo-Ser-ben, die dort lebenden Roma und andere Minderheiten.Erst dann, wenn alle Ethnien im Kosovo in Freiheit undSicherheit leben können, wird das Kosovo zur Ruhekommen. Die Kommunalwahlen vom Herbst letztenJahres haben gezeigt, dass die Trennlinien zwischen denethnischen Gruppen nicht so eindeutig sind, wie es radi-kale Kräfte aller Gruppierungen immer wieder behaup-ten. In den mehrheitlich von ethnischen Serben bewohn-ten Gebieten im Süden des Kosovo haben sich vieleMenschen gegen einen Wahlboykott und für die Teil-nahme entschieden. Auch das ist bemerkenswert undsagt etwas über die Bevölkerung aus.
Frieden im Kosovo wird es aber auf Dauer nicht ge-gen Serbien, sondern nur mit Serbien geben. Dafür müs-sen wir die verantwortungsbewussten Kräfte im Kosovowie auch in Serbien stärken. Wir haben den PräsidentenBoris Tadic darin bestärkt, eine Politik der Verständi-gung und des Ausgleichs entschlossen zu verfolgen. Vordem Mut und der Durchsetzungskraft, mit der er sich ge-gen diejenigen wendet, die auf Konfrontation und Zwie-spalt setzen, habe ich – ich glaube, dass ich das nicht nurfür mich, sondern für die allermeisten Kollegen in die-sem Hause sage – sehr großen Respekt. Die große Mehr-heit der Menschen in Serbien und im Kosovo ist es leid,dass ihnen die Demütigungen, Zerstörungen und Mordeder Balkankriege den Weg in die Zukunft verstellen.Niemand wird die Opfer dieser Zeit vergessen. Kosovound Serbien gehen denselben Weg in die Zukunft. Es istein europäischer Weg, über den wir sprechen.
Dass der westliche Balkan heute eine europäischePerspektive hat, ist nicht zuletzt ein Verdienst der Solda-tinnen und Soldaten der Bundeswehr. Deswegen will ichdamit schließen – nicht als Pflichtübung, sondern in un-ser aller Namen von Herzen sprechend –: Sie verdienenunsere Anerkennung und unsere Unterstützung. Ichdanke ihnen wie auch ihren Familien, Freunden und An-gehörigen. Ihr Mut und ihre Tapferkeit machen diesenEinsatz erst möglich. Ich bitte um eine breite Zustim-mung für dieses Mandat.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Gernot Erler hat das Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Die SPD-Bundestagsfraktion wird einer Fortset-zung der deutschen Beteiligung an der Absicherung derFriedensregelung für Kosovo durch die KFOR-Missionmit großer Mehrheit zustimmen. Wir sehen dies als ei-nen noch notwendigen Beitrag im Rahmen eines nunschon über zehn Jahre andauernden, sehr breiten Enga-gements Deutschlands für eine gute Zukunft des Kosovound der gesamten Westbalkanregion.In diesem breiten Engagement finden wir sehr ver-schiedene Elemente. Das hat schon mit der Aufnahmeder Flüchtlinge in den Jahren 1998 und 1999 begonnen.Bis heute leben 300 000 Kosovaren in Deutschland.Dazu gehört die prominente Rolle Deutschlands als Ge-ber für den Wiederaufbau. Mit den von Deutschland be-reitgestellten Mitteln – allein 42 Millionen Euro im ver-gangenen Jahr – liegen wir hinter den VereinigtenStaaten an zweiter Stelle. Diese Mittel wurden für ver-schiedene Schwerpunkte verwendet: Aufbau der öffent-lichen Verwaltung, Demokratisierung, Stärkung derZivilgesellschaft, Bildungsmaßnahmen, aber auch Infra-struktur wie Wassermanagement und Stromversorgung.Zu unserem Engagement für den Kosovo zählt auchdie Unterstützung von EULEX, der bis heute größtenRechtsstaatsmission der Europäischen Union mit über2 600 Fachleuten – darunter etwa 1 000 Einheimische –,sowie des Aufbaus einer multiethnischen Justiz und ei-ner Polizei sowie einem Zollwesen. Wir sind ungewöhn-licherweise auch mit exekutiven Aufgaben betraut.Deutschland leistet nicht nur finanzielle Hilfen, sondernstellt auch circa 80 Polizisten sowie 25 Experten, Rich-ter, Staatsanwälte und Rechtsfachleute.Zu unserem Engagement gehören auch die langjäh-rige Unterstützung der Ahtisaari-Mission und die Unter-stützung der Troika bei ihrem Versuch, eine Einigungmit Serbien zu erreichen. Als das nicht funktionierte, ge-hörte dazu auch unsere frühe Anerkennung der Erklä-rung der Selbstständigkeit des Kosovo, und zwar nurvier Tage nach der Unabhängigkeitserklärung. Heute ha-ben sich dieser Anerkennung 66 Staaten angeschlossen.Wir unterstützen den Kosovo bei seinem Bemühen, indie regionale Zusammenarbeit einbezogen zu werden.Häufig ist das nur unter dem Label UNMIK, der Missionder Vereinten Nationen, möglich und mit der Unterstüt-zung der Arbeit des internationalen zivilen Repräsentan-ten, der gleichzeitig Sonderbeauftragter der EU ist undfür die vorläufig noch überwachte Souveränität des Ko-sovo eine wichtige Rolle spielt.Das alles zeigt: KFOR, die militärische Absicherungdes Friedens- und Stabilisierungsprozesses im Kosovo,ist Teil eines breiten politischen und finanziellen Gesamt-engagements Deutschlands, um dessen Details wir unsimmer wieder kümmern müssen. Zum Glück können wirheute sagen – hierin muss man dem Außenminister zu-stimmen –: Es ist verantwortbar, die Präsenz von KFORschrittweise zu reduzieren, weil sich die Sicherheitslageim Kosovo insgesamt verbessert hat, was für die Min-derheiten und ihren aktiven Anteil am politischen Lebenim Kosovo besonders wichtig ist – besonders im Südendes Kosovo wird das umgesetzt –, und weil heute blutigeAusschreitungen wie die vom März 2004 – wir habenund werden sie nicht vergessen – kaum noch denkbar er-scheinen. Auch andere Aufgaben sind erledigt. Zum Bei-spiel ist das Kosovo Protection Corps zum Sommer letz-
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Dr. h. c. Gernot Erler
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ten Jahres aufgelöst worden. Es gibt gute Fortschritte beider Aufstellung eigener Sicherheitskräfte im Kosovo un-ter dem Titel Kosovo Security Force.Das bedeutet, dass man die Truppenstärke von KFORdurch das sogenannte „Gate 1“ schon zum 1. Februardieses Jahres von 14 000 auf 10 000 Kräfte reduzierenkonnte. Es macht daher Sinn, die Obergrenze des deut-schen Anteils, wie es im Antrag der Bundesregierungsteht, von 3 500 auf 2 500 Kräfte herabzusetzen und sichauf eine – mit der KFOR etwa über die Stufen5 500 Mann, 2 500 Mann bis hin zum Abzug – weitereReduzierung vorzubereiten.Es gibt aber auch Probleme. Noch ist das, was in dergegenwärtigen Phase von KFOR als „deterrent pre-sence“ bezeichnet wird – also die abschreckende Anwe-senheit –, notwendig, also nicht verzichtbar, schon alleindeswegen, um jeden Rückschritt betreffend die Sicher-heitslage auszuschließen, aber auch, um den dringlichenErwartungen der internationalen Gemeinschaft, wasweitere Reformbemühungen im Kosovo angeht, Nach-druck zu verleihen. Solange die EU-Kommission, wie inihrem letzten Fortschrittsbericht vom 14. Oktober 2009niedergelegt, Grund dazu hat, mangelnde Fortschritte beider Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit und beim Auf-bau des Justizsystems im Kosovo zu beklagen, solangedringend Erfolge im Kampf gegen Korruption, Drogen-handel, organisierte Kriminalität und sogar Kinderarbeitangemahnt werden müssen, so lange kann es nicht zu ei-nem Ende der überwachten Souveränität kommen.Gerade gestern, am 19. Mai, hat die sehr angeseheneinternationale Organisation zur Politberatung ICG, dieInternational Crisis Group, einen neuen Bericht zumThema „Rechtsstaatlichkeit im unabhängigen Kosovo“veröffentlicht. Die ICG konstatiert Fortschritte, insbe-sondere im Bereich der Sicherheit von Minderheiten,aber kommt sehr kritisch und eindrucksvoll auf dieSchwächen des kosovarischen Justizsystems zu spre-chen. Ich möchte den Kernsatz aus diesem Gutachtenvorlesen: Im Zivilrecht ist es für Bürger wie Einheimi-sche und internationale Firmen praktisch unmöglich,ihre Rechte vor Gericht einzuklagen. – Dann wird daraufhingewiesen, dass das häufig dazu führt, dass Auseinan-dersetzungen nicht vor Gericht, sondern auf andere Art,inklusive Gewaltanwendung, ausgetragen werden.Solange diese Gefahr noch vorhanden ist, müssen wir imRahmen von KFOR mit reduzierten Kräften vor Ort ver-treten bleiben.Ich möchte mit zwei klaren Erwartungen abschließen,die ich an die Bundesregierung richte. Die erste Erwar-tung hat etwas mit dem Reduzierungsprozess bei KFORzu tun. Wir müssen verhindern, dass bei diesem weiterenReduktionsprozess Unordnung entsteht. Ich denkedaran, dass die Franzosen angekündigt haben, dass siebei „Gate 2“, also bei der nächsten Reduzierungsstufe,alle Truppen abziehen wollen. Wenn das zu einer ArtWettlauf wird, wer am schnellsten wieder draußen ist,kann das für den Kosovo gefährlich werden. Meine Her-ren Bundesminister, versuchen Sie, das zu verhindern;denn das wäre katastrophal für das Land. Zweitens – hier knüpfe ich gerne an die Schlussbe-merkung von Ihnen, Herr Dr. Westerwelle, an –: Es istschon wichtig, sich immer bewusst zu sein, wie wichtigfür alles Konstruktive, was im Kosovo und im Westbal-kan passiert, die verbindliche europäische Perspektiveist. Es ist gut, dass Sie das hier erwähnt haben. Besserwäre es gewesen, wenn schon im Koalitionsvertrag zumAusdruck gekommen wäre, dass das, was einst imJuni 2003 im Europäischen Rat von Thessaloniki gesagtworden ist, weiterhin verbindlich gilt. Ohne diese politi-sche Perspektive der europäischen Integration wird eskeine Motivation für nachhaltigen Fortschritt in derRegion geben. Deswegen möchte ich das hier noch ein-mal sehr deutlich ansprechen. Wir sollten zusammeneine solche Sicherheit geben.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Herr Bundesminister Karl-Theodor zu Guttenberg hatdas Wort.
Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg, Bun-desminister der Verteidigung:Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen!Meine Herren! Kollege Erler, wir erinnern uns sicherlichnoch alle genau an Thessaloniki. Thessaloniki gilt in sei-nen Grundausrichtungen. Das ist natürlich – das habenSie angesprochen – an entsprechende Fortschritte, dieaus der Region zu kommen haben, gebunden. Es ist aberwichtig, sich an diesen Bogen, an diesen Brückenschlagzu erinnern, der im Jahre 2003 über viele Grenzen hin-weg in großer Ernsthaftigkeit vollzogen wurde.Für manche ist es der vergessene Einsatz. Ich finde,nichts könnte falscher sein, als das in diese Richtung zudrängen. In der öffentlichen Berichterstattung ist es umden Kosovo tatsächlich vergleichsweise ruhig geworden.Jetzt kann man sagen, das verdanken wir – das ist auchso – natürlich dem Einsatz unserer Soldatinnen und Sol-daten. Wir verdanken es auch zahlreichen diplomati-schen Bemühungen, die auf den Weg gebracht wurden;sie wurden im Einzelnen angesprochen. Wir verdankenes aber auch dem Engagement vieler Vereinigungen zumBeispiel – das darf ich einmal mit Blick zu Ihnen, HerrErler, sagen – aus unserem Land, der Südosteuropa-Ge-sellschaft, die sich hier sehr eingebracht und immer wie-der versucht hat, die Dinge miteinander zu verknüpfen,dort kritisch zu sein, wo man kritisch sein musste, abereben auch konstruktive Impulse zu geben.Meine Damen und Herren, zur Stunde – wir diskutie-ren heute ja auch über die Zahlen – versehen etwa1 500 deutsche Soldatinnen und Soldaten in unserem Auf-trag ihren Dienst bei KFOR, fern der Heimat und auch un-ter fordernden Bedingungen. Wir neigen derzeit dazu, imWesentlichen nur einen Einsatz und die entsprechendenHerausforderungen zu benennen. Die Bedingungen fürunsere Soldatinnen und Soldaten sind auch im Kosovo
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Bundesminister Dr. Karl-Theodor Freiherr zu Guttenberg
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fordernd. Vor dem Hintergrund erinnere ich daran, dassdas einiges abfordert. Sie haben wesentlichen Anteil da-ran, dass das Kosovo heute ein unabhängiger demokrati-scher Staat ist. Was noch 2007 als Schreckgespenst andie Wand gemalt wurde, hat sich zum Glück nicht bestä-tigt, bei aller Wachsamkeit, die wir weiterhin an den Taglegen müssen. Das Jahr 2004 wurde erwähnt. Wir allewaren erschrocken über das, was sich dort ereignet hat,weil man auch damals glaubte, es sei um den Kosovo ru-hig geworden – und das war es nicht.Wir können jetzt mit Erleichterung und, glaube ich– das müssen wir gar nicht verhehlen –, mit einem ge-wissen Stolz auf diese KFOR-Operation blicken, müssenuns aber eben diese Wachsamkeit erhalten, eine Wach-samkeit, die an die nächsten und notwendigen Schrittezu binden ist. Herr Kollege Westerwelle hat auf einigeDefizite hingewiesen; auch Sie haben auf einige Defiziteverwiesen, die aus dem Land selbst heraus noch zu behe-ben sind. Hier müssen wir die Unterstützung geben, diewir geben können.Sicherheitspolitisch ist die Lage weitgehend stabil.Ich möchte noch eine andere Zahl nennen. Mittlerweilesind wir im Kosovo von anfangs mehr als 50 000 Solda-ten bei nunmehr unter 10 000 Soldaten. Schon das stehtfür eine Erfolgsgeschichte. Man darf auch einmal benen-nen, dass Auslandseinsätze eine Erfolgsgeschichte seinkönnen. Unser deutscher Beitrag konnte von ursprüng-lich 6 400 Soldaten – das war im Jahre 2000 – auf eben-jene 1 500 Soldaten reduziert werden.KFOR ist heute, bildlich gesprochen, nicht mehr die„Feuerwehr“, die in der ersten Linie steht; wir haben unsmittlerweile in die dritte Reihe begeben können. Dieerste Reihe bilden nun die kosovarischen Sicherheits-kräfte selbst. Die Rechtsstaatsmission EULEX wurdegenannt. Auch sie hat sich als ein richtiges und sehrschlüssiges Instrument erwiesen.Wir haben, wenn man so will, mit KFOR die Rolle einesStabilitätsankers übernommen. Wir sind damit in derdritten Reihe, haben aber alle Aufmerksamkeit. Diedritte Reihe ist kein schwacher Platz. Das ermöglicht dieAbsenkung der personellen Obergrenze von 3 500 auf2 500 Soldaten, die wir nun vornehmen. Jetzt mag manfragen: Wenn man dort 1 500 Soldaten hat, weshalb setztman die Obergrenze bei 2 500 an? Ich glaube, dass eswichtig ist, für den Fall einer Lageverschlechterungeinen erforderlichen Spielraum zu haben. Eine Lagever-schlechterung kann sich immer ergeben. Das ist in mei-nen Augen generell im Blick zu behalten, wenn wir überObergrenzen bei Auslandseinsätzen sprechen.Die wesentliche Rolle von KFOR ist – das haben Sie,Herr Erler und Herr Kollege Westerwelle, angesprochen –,die abschreckende Präsenz, die „deterrent presence“, wiees etwas martialisch umschrieben ist, zu bewahren. Siehat aber Sinn und ist als Stabilitätselement vorerst unver-zichtbar. Sie bleibt auch unverzichtbare Voraussetzungfür den Ausbau staatlicher Strukturen, um den Defizitenzu begegnen, für den Ausbau wirtschaftlich funktionsfä-higer Strukturen – hier ist weiterhin die Achillessehnedes Kosovo; die wirtschaftliche Entwicklung ist nicht so,dass es einem Tränen der Euphorie in die Augen treibt –und insbesondere für den kulturellen und interethnischenAussöhnungsprozess.Hier kommt es – ja, das ist vollkommen richtig –maßgeblich auf die Rolle Serbiens an. Wenn wir in denNorden des Kosovo blicken, sehen wir, dass dort nochEskalationspotenzial besteht. Auch dies zeigt, dass wirdie personellen Spielräume brauchen, um dort gegebe-nenfalls eine Präsenz vorhalten zu können und einermöglichen Eskalation entgegenzuwirken. Die zweige-teilte Stadt Mitrovica steht weiterhin paradigmatisch fürdas hier noch vorhandene Eskalationspotenzial.Zwischenfälle sind erfreulicherweise in letzter Zeitausgeblieben. Das kann diesen nächsten Schritt rechtfer-tigen. Aber ich will eines gern aufgreifen: Für uns allesollte gelten: together in, together out. Das ist sehr neu-deutsch. – Da schüttelt es den Kollegen Westerwelle.Die englische Aussprache von KFOR ist für ihn schonzu viel, und dann auch das noch.
– Nein, um Gottes willen. Das werde ich mit Sicherheitnicht tun. – In diesem Zusammenhang ist es wichtig, zusagen, dass einseitige, unilaterale Schritte nicht von Nut-zen sind. Dieses Signal senden wir auch an unsere Part-ner im Rahmen von KFOR.Ich glaube, insgesamt können und müssen wir von ei-ner Erfolgsgeschichte sprechen. Wir sollten das mit demDank an unsere Soldatinnen und Soldaten verbinden, diediesen verdient haben. Dieser Einsatz ist nicht verges-sen, unsere Soldaten sind nicht vergessen. Ich bitte umdie Unterstützung für die Verlängerung dieses Einsatzes.Herzlichen Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat Paul Schäfer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! DerKommandant der NATO-Truppen im Kosovo, GeneralBentler, hat vor wenigen Wochen festgestellt, der militä-rische Auftrag sei erfüllt. Nein, das ist nicht ganz richtig;er hat gesagt, er sei „weitgehend erfüllt“. Er hat weitergesagt – das möchte ich zitieren –:Es gibt keine Bedrohung mehr von außen. … AlleHerausforderungen, die im Kosovo noch zu meis-tern sind, haben nicht militärische Natur. Es gehtum soziale, politische, wirtschaftliche Fragen …Das ist der O-Ton von General Bentler. Wenn das so ist,dann ist es doch nur folgerichtig, sich auf die Lösung ge-nau dieser Fragen zu konzentrieren, zum Beispiel auf dienach wie vor hohe Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen.Man muss die wirtschaftlichen Fragen angehen. Wenn
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Paul Schäfer
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das, was der zuständige NATO-Kommandant sagt, rich-tig ist, dann wäre es auch folgerichtig, die Truppen nichtin Trippelschritten, sondern möglichst rasch abzuziehen.Genau das ist die Aufgabe.
Die Bundesregierung bleibt in ihrem Antrag die Ant-wort auf die Frage, warum man die Bundeswehr imKosovo behalten sollte, schuldig. Noch einmal: Es gibtkeine militärische Bedrohung von außen; das sagt derNATO-Kommandant. Dass man für die Ausbildung derkosovarischen Sicherheitskräfte, die 2 500 Mann umfas-sen sollen, 10 000 Soldaten benötigt, das halte ich fürvöllig abwegig. Wir werden daher der Verlängerung desKFOR-Mandats nicht zustimmen.
Die Linke ist dafür, die Bundeswehr dort abzuziehen.
Ich weiß, dass man die Aussage, der militärische Auf-trag sei weitgehend erfüllt, als Erfolg interpretierenkann. Der Minister hat das gerade getan. Durch dieNATO-Brille mag das wohl so scheinen.Ich will drei Einwände bringen:Erstens. Die Sache steht politisch und rechtlich weiterauf wackeligen Füßen.Zweitens. Eine nachhaltige wirtschaftliche und so-ziale Entwicklung ist nicht zu erkennen. Das Stichwortvom Schlusslicht Kosovo ist gefallen.Drittens. Die internationalen Verwerfungen, die die-ser selbstmandatierte Militäreinsatz der NATO hervorge-rufen hat, sind und bleiben erheblich.Zum Ersten: Kosovo hat sich einseitig für unabhängigerklärt. Die UNO-Resolution 1244, auf die sich die Mili-tärpräsenz stützt, sieht eine solche Sezession nicht vor.Deshalb hat die Stationierung der Bundeswehr dort un-seres Erachtens keine ausreichende rechtliche Grund-lage. Außerdem ist der internationale Status nach wievor ungeklärt. Nach wie vor weigert sich die Mehrzahlder UNO-Mitgliedstaaten, die Sezession des Kosovo an-zuerkennen. Sie lässt das beim Internationalen Gerichts-hof prüfen.Bezüglich der politischen Ansprüche, die die NATObei ihrer Militärintervention formuliert hat, die auch derGrund für das Eingreifen waren, muss man fragen: Kannman da von einem Erfolg reden? Ist die Mission, einmultiethnisches Kosovo zu schaffen, nicht mit denNATO-Luftangriffen zerstört worden? Jetzt sagt derKommandant, die Rückkehr von Kosovo-Serben müssewesentlich stärker gefördert werden. Bitte sehr, aber dashören wir seit zehn Jahren. Das ist ein hilfloser Appell.Auch das kennzeichnet die Realität dort.Zum Zweiten: Das öffentliche Gemeinwesen des Ko-sovo hängt am Tropf internationaler Unterstützungsleis-tungen. Es sind erhebliche Transfersummen dorthin ge-flossen, aber es gibt keine funktionierendenwirtschaftlichen und sozialstaatlichen Strukturen. DieStichworte „Korruption“ und „organisierte Kriminali-tät“ sind genannt worden. Meines Erachtens hat sichauch dort gezeigt, dass Quasi-Protektorate und Korrup-tion siamesische Zwillinge sind und bleiben.Zum Dritten: Was die internationalen Entwicklungenbetrifft, ist das Ganze eher abschreckend. Dieser Krieghat zur Schwächung der UNO und der OSZE geführtund war der Auftakt zur Verschärfung anderer Autono-mie- und Sezessionskonflikte über Europa hinaus. Ohneden Sündenfall Kosovo würde es heute anders um Ab-chasien und Südossetien stehen, und die UNO hätte an-dere Handhabemöglichkeiten, um dort politische Lösun-gen zu finden.
Wer der Region also eine neue Perspektive eröffnenwill, der muss die militärische Intervention beenden, dermuss die Stärkung des internationalen Rechts im Blickhaben, sich also auf völkerrechtlich gesicherten Pfadenbewegen und alles daransetzen, dass die Kräfte der Aus-söhnung und der Vernunft in der Region gestärkt wer-den. Das geht nur durch eine viel intensivere Unterstüt-zung zivilgesellschaftlicher Projekte. Die Alternative zueinem militärisch eingefrorenen Konflikt ist ein zivil ge-löster Konflikt. Genau das wollen wir. Dafür steht dieLinke.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Omid Nouripour ist der nächste Redner für
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nochvor wenigen Tagen hat sich der UN-Sicherheitsrat mitdem Kosovo beschäftigt. In der Debatte war immer wie-der zu hören, dass der Kosovo zwar stabil, aber poten-ziell fragil sei, und das, lieber Herr Kollege Schäfer, istder Grund, warum unser Engagement weiterhin ge-braucht wird.
Es geht darum, das, was an Sicherheit und Frieden bisherhergestellt worden ist, in dieser kritischen Situation nichtaufs Spiel zu setzen. Das ist der Grund, warum wir derMeinung sind, dass unser Einsatz dort fortgesetzt wer-den muss, zumindest zurzeit.Womit Sie aber recht haben, ist die Feststellung, dassdas alles nicht funktioniert, wenn man die sozialen Pro-bleme dort nicht angeht. Es gibt eine wunderbare Maß-zahl – sie ist nicht in der Sache wunderbar, macht es abersehr anschaulich –: die Jugendarbeitslosigkeit; sie liegtbei über 60 Prozent. Das ist ein Riesenproblem. Wirwünschen uns von der Bundesregierung, dass sie in derEU dafür eintritt, dass man sich gerade in den BereichenBildung und Ausbildung mehr anstrengt, weil das dereinzige – zivile – Weg ist, wie man eine langfristige Lö-
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Omid Nouripour
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sung für den Kosovo, die Sie gerade gefordert haben, er-reichen kann.
Der Kosovo ist ein unfertiger Staat. Die Problemesind bekannt: Der Aufbau der Administration, der Justiz-und Zollverwaltung etc., leidet unter Korruption und or-ganisierter Kriminalität. Es gibt große Probleme in die-sen Bereichen, die noch angegangen werden müssen.Wir müssen auch selbstkritisch feststellen: Die Ver-schachtelung von UNMIK und EULEX ist nicht immerhilfreich, sie ist nicht in allen Bereichen besonders ge-lungen. Manches muss verbessert werden. Das muss dieBundesregierung innerhalb der Europäischen Union zurSprache bringen.Eine isolierte Lösung für den Kosovo wird es nichtgeben. Wir brauchen einen regionalen Ansatz, allen vo-ran – das ist zu Recht gesagt worden – mit Serbien. Es istvon zentraler Bedeutung, der serbischen Bevölkerungklarzumachen, dass Serbien eine EU-Perspektive hat,dass sie die Chance haben wird, die historische TeilungEuropas, die weitgehend überwunden ist, sich am West-balkan aber noch zeigt, zu überwinden. Auch Serbienmuss eines Tages die Chance bekommen, in die Europäi-sche Union zu kommen.
Dabei darf man Bosnien nicht vergessen; auch Bosnienist in diesem Zusammenhang alles andere als unwichtig.Meine Damen und Herren, die KFOR-Mission undunsere Soldatinnen und Soldaten genießen vor Ort gro-ßen Respekt. Das liegt daran, dass sie eine gute Arbeitmachen. Deshalb möchte ich den Soldatinnen und Sol-daten an dieser Stelle im Namen meiner Fraktion unse-ren herzlichen Dank aussprechen.Die Truppenstärke von KFOR liegt jetzt unter 10 000Soldaten. Deshalb ist es richtig, dass wir die Obergrenzefür das Mandat jetzt auf 2 500 Soldaten absenken. DieBundesregierung gibt uns so verdammt wenige Möglich-keiten, sie zu loben, dass ich unterstreichen will: DieseEntscheidung ist richtig.
– Sie müssen mir zu Ende zuhören: Konterkariert wirddiese Entscheidung von einer falschen Entscheidung,nämlich der Unterzeichnung des Rückübernahmeabkom-mens mit dem Kosovo. Es gibt Warnungen vom UNHCR,von den Vereinten Nationen, von der OSZE, von denMenschenrechtsorganisationen, von den Flüchtlings-organisationen. Sie alle sagen: Zwangsrückführungen inden Kosovo – insbesondere von Roma und Angehörigenanderer ethnischer Minderheiten – sind schlicht unver-antwortlich. Das muss an dieser Stelle gesagt werden.
Nicht nur, dass diese Personen keinerlei soziale Perspek-tive, keinerlei Chance auf rechtliche Gleichbehandlunghaben: Dadurch, dass diese Personen in dieses Land ge-schickt werden – noch einmal: in ein potenziell fragilesLand –, setzen Sie die Stabilität des Landes aufs Spiel.Mit dem Anspruch, die Arbeit unserer Soldatinnen undSoldaten wirksam zu unterstützen, ist das nicht verein-bar.Deshalb meine Bitte: Denken Sie darüber nach, dieUnterzeichnung dieses Abkommens, zumindest zum jet-zigen Zeitpunkt, auszusetzen – Abschiebungen in denKosovo konterkarieren unser Engagement dort –, undsorgen Sie für eine Aufenthaltsgewährung aus humanitä-ren Gründen!Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Philipp Mißfelder ist der nächste Redner für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Zunächst einmal zu dem Beitrag meines Kolle-gen Nouripour: Herzlichen Dank für die gute Beschrei-bung der Situation im Kosovo. Ich glaube, dass die Ei-nigkeit, die wir – bis auf die Linkspartei, die sich leiderauch an dieser Stelle wenig verantwortungsbewusstzeigt – bei dieser Mission demonstrieren, die Kontinuitätdes Einsatzes sehr gut widerspiegelt.Kollege Nouripour hat es gesagt: Es sind große Fort-schritte zu erkennen. Sie werfen rechtliche Fragestellun-gen auf. Damit will ich auf Ihren letzten Punkt eingehen:Es ist natürlich so, dass wir in Deutschland bei Fragen,die Flüchtlinge und Asyl betreffen, klare rechtliche Vor-gaben mit nachprüfbaren Kriterien haben. Aufgrund derStabilität, die es im Kosovo – trotz aller Schwierigkei-ten – gibt, können wir unsere rechtlichen Maßstäbe, wasAbschiebung angeht, guten Gewissens anwenden. Des-halb unterstütze ich das, was wir dort auf den Weg brin-gen. Wir hatten in den letzten Jahren so viel Erfolg, dasswir unsere rechtlichen Kriterien weiterhin aufrechterhal-ten können; deshalb die konsequente Abschiebung,wenn der Tatbestand nicht mehr erfüllt ist, weil sich dieSituation im Heimatland wesentlich verbessert hat, manalso keinen Anspruch auf Aufenthaltsgewährung mehrhat.
Der zentrale Punkt, bei dem wir wieder übereinstim-men, ist die Zukunft des Kosovo. Herr Schäfer, ich binnicht damit einverstanden, dass Sie das Argument einesvermeintlich multiethnischen Kosovo – man kann sich ja
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Philipp Mißfelder
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wirklich darüber streiten, inwiefern der Begriff „multi-ethnisch“ so anzuwenden ist – erst verschleiernd, dannaber doch offensichtlich dafür nutzen, eine politischeDiskussion zu führen – Sie haben gesagt, wir hätten dieNATO-Brille auf –, die eigentlich in eine Zeit gehört, inder es die Konfrontation zwischen der NATO und einemanderen Machtbündnis gab.Sie haben in Ihrer Argumentation von dem Vehikelder angeblich multiethnischen Gesellschaft gesprochen.Diese Stellungnahme zeugt von anderen politischen In-teressen außerhalb Deutschlands und vor allem auch in-nerhalb der Region, was ich Ihnen nicht so einfachdurchgehen lassen will. Ich bin tatsächlich der Meinung,dass wir Serbien und auch die Kosovaren selber immerwieder auffordern müssen, einen gemeinsamen Weg inRichtung Europa zu gehen. Dieser Weg kann nur ge-meinsam begangen werden.
Deshalb ist jeder Versuch, die Struktur des Kosovo sofür seine Zwecke zu interpretieren, wie Sie das hier ge-tan haben, aus meiner Sicht nicht zulässig.Vor diesem Hintergrund und nach den Gesprächen,die wir in den letzten Monaten geführt haben, bin ich derMeinung, dass der Schwerpunkt unseres Engagements inZukunft natürlich auf der Unterstützung des zivilen Auf-baus liegen muss. Als uns der kosovarische Bildungs-minister vor ein paar Monaten besucht hat, wurde uns inall den Gesprächen, die wir mit ihm geführt haben, klar-gemacht, wie wichtig die Themen Bildung und Ausbil-dung und der Aufbau wirtschaftlicher Strukturen für dasKosovo selbst sind. Das müssen wir weiterhin unterstüt-zen. Der Rahmen, den wir dafür bieten, ist eben, dass wirdiese Mission auf Grundlage der Resolution der Verein-ten Nationen weiterhin durchführen.Selbstverständlich hätten wir es gerne, dass der Ein-satz nach so langer Zeit so erfolgreich ist, dass ein mili-tärisches Engagement nicht mehr notwendig ist. Ichdenke aber, dass durch die Herabsetzung der Obergrenzeund den durch beide Minister skizzierten Verlauf dieserMission deutlich wird, dass es sich um einen erfolgrei-chen Einsatz handelt.Um die Ernsthaftigkeit unserer Bemühungen im zivi-len Sektor deutlich machen zu können, brauchen wir na-türlich weiterhin diese militärische Komponente, die imÜbrigen – das ist ja nicht isoliert von den Menschen vorOrt oder isoliert in der Region zu sehen – auf breitesteAkzeptanz dort stößt. Das darf man auch nicht außerAcht lassen. Deshalb sollten wir die Verantwortlichen,die es im Kosovo schwer genug haben, eine vernünftigeZukunft zu gestalten, auch in dieser Debatte unterstüt-zen, indem wir sagen: Unser Engagement gilt erstensdem Aufbau der Zivilgesellschaft, und dies wird zwei-tens auch dadurch unterstrichen, dass wir uns unserermilitärischen Verantwortung stellen. – Es ist nämlichrichtig gesagt worden: Noch ist nicht alles von dem er-reicht, was wir uns vorgenommen haben, sondern unserEinsatz ist weiterhin notwendig.Deshalb wünsche ich unseren Soldatinnen und Solda-ten auch in diesem Einsatz weiterhin viel Erfolg mit hof-fentlich, wie der Herr Bundesverteidigungsministerdeutlich gemacht hat, möglichst wenigen Zwischenfäl-len, sodass ihre Präsenz zwar notwendig ist, aber schonvorauseilend eine Konsequenz hat, nämlich die, dassdurch die starke Militärpräsenz auch weiterhin gar keinebzw. kaum einmal Zwischenfälle geschehen, sondern diepolitische Stabilität obsiegt.Herzlichen Dank.
Zu einer Kurzintervention gebe ich Hans-ChristianStröbele das Wort.
Herr Kollege Mißfelder, ich wehre mich wieder dage-gen, dass Sie auch mich vereinnahmen, indem Sie sagen,wir alle seien dieser Auffassung. Sie müssen vorsichtigsein und sich immer erst bei mir erkundigen, ob Sie michda mit einbeziehen können.
Das war aber nicht der inhaltliche Grund meinerKurzintervention, sondern ich möchte zwei Bemerkun-gen der beiden Minister widersprechen.Sie haben unisono – ich glaube, der Außenministerzweimal – erklärt, das sei ein äußerst erfolgreicher Ein-satz der Bundeswehr gewesen, und der Verteidigungs-minister hat sogar von einer Erfolgsgeschichte diesesEinsatzes gesprochen.Die Älteren unter uns, vor allem Dienstältere im Par-lament wie ich, erinnern sich, dass der Einsatz seinerzeitam Ende der Bombardierung und des Krieges gegen Ser-bien beschlossen wurde und dass die Stationierung derTruppen im Kosovo damals mit Zustimmung der serbi-schen Regierung, auch von Milosevic, erfolgte. Mankann vielleicht von einer erzwungenen Zustimmung re-den, aber immerhin ist die Stationierung mit Zustim-mung Serbiens erfolgt.Zu dem Auftrag der KFOR-Truppe, die in den Ko-sovo geschickt worden ist, gehörte eine ganze Reihe vonAufgaben, von denen zwei ganz wesentlich waren: Siesollte erstens die multiethnische Entwicklung des Ko-sovo garantieren. Zweitens sollte sie garantieren, dassder Kosovo nicht unabhängig wird. Lesen Sie es nach!Das war damals eine der Bedingungen Serbiens für dieZustimmung: dass der Kosovo nicht selbstständig wird,sondern weiterhin ein autonomer Teil Serbiens bleibensoll.Diese beiden wichtigen und zentralen Punkte, die da-mals zur Zustimmung Serbiens geführt haben, sind nichteingehalten worden. Auch nach der Stationierung derKFOR-Truppe im Kosovo sind Zehntausende Roma undandere mit Gewalt vertrieben worden. Die Dörfer habengebrannt. Die Menschen sind mit körperlicher Gewalt
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4300 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Hans-Christian Ströbele
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bedroht, verletzt oder vertrieben worden. Einzelne sindauch getötet worden. Unterhalten Sie sich einmal mitden Roma, die noch heute in den Nachbarländern in La-gern leben oder die nach Deutschland gekommen sind!Das heißt, die multiethnische Entwicklung ist nichterreicht worden. Das andere Ziel, die Verhinderung derSelbstständigkeit des Kosovo, ist ebenfalls nicht erreichtworden. Der Verteidigungsminister feiert es sogar alsgroßen Erfolg, dass der Kosovo jetzt ein unabhängigerStaat geworden ist. Das war aber nicht der Auftrag derdeutschen Soldaten, die damals dort hingeschickt wor-den sind.Ich bitte darum, keine Geschichtsklitterung zu betrei-ben.
Herr Kollege Ströbele, eine Kurzintervention darf
drei Minuten nicht überschreiten, die jetzt schon mehr
als vorbei sind.
Ich belasse es bei diesen Richtigstellungen, dass Sie
mit Ihren Einschätzungen nicht richtig liegen, sondern
versuchen, die Geschichte zu verfälschen.
Möchte einer der Angesprochenen antworten? – Herr
Mißfelder, bitte schön.
Ich werde Sie in Zukunft, wenn ich die Grünen für
ihre verantwortungsbewusste Außenpolitik lobe, immer
davon ausnehmen,
weil Sie darauf bestanden und mich direkt angesprochen
haben. Das verspreche ich Ihnen als Erstes.
Zweitens, Herr Kollege Ströbele, möchte ich keine
historischen Vergleiche anstellen. Die Geschichtsbücher
zu diesem Thema sind größtenteils noch gar nicht ge-
schrieben. Es sind aber Argumente genannt worden, die
von ganz anderen Personen ins Feld geführt worden
sind. Ihre Argumentation halte ich für falsch.
Tatsächlich war es Auftrag der deutschen Soldaten
und der internationalen Gemeinschaft, zur Stabilität bei-
zutragen. Das ist auch gelungen. Sie haben von brennen-
den Dörfern gesprochen. Ich nehme Ihre Anregung ernst
und werde mich mit Vertretern der Roma treffen. Sie
können mir sicherlich sagen, mit wem ich am besten
sprechen sollte.
Ich bitte Sie aber, dass Sie sich vor Augen halten, wie
1998 die Situation im Kosovo war, und sich dann fragen,
ob das, was Sie heute dazu gesagt haben, dem Ernst der
damaligen Situation angemessen ist.
Damit schließe ich die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/1683 an die Ausschüsse vorgeschlagen,die in der Tagesordnung aufgeführt sind. – Damit sindSie einverstanden. Dann ist das so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 10 a und b sowieZusatzpunkt 7 auf:10 a) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Konstantin von Notz, Katja Dörner, VolkerBeck , weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENSexuellen Missbrauch effektiv bekämpfen –Netzsperren in Europa verhindern– Drucksache 17/1584 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
InnenausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss für Kultur und Medienb) Beratung des Antrags der Abgeordneten HalinaWawzyniak, Jan Korte, Herbert Behrens, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKEKeine Internetsperren in EU-Richtlinie auf-nehmen– Drucksache 17/1739 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
InnenausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss für Kultur und MedienZP 7 Beratung des Antrags der Abgeordneten
der Fraktion der SPDSexuellen Missbrauch von Kindern europa-weit effektiv bekämpfen – Opferschutz stär-ken– Drucksache 17/1746 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
InnenausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss für Kultur und MedienHierzu ist es verabredet, eine halbe Stunde zu debat-tieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.Dann ist das so beschlossen.Der Kollege Dr. Konstantin von Notz hat das Wort fürBündnis 90/Die Grünen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4301
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Und wieder müssen wir hier über Internet-sperren reden. Wir müssen dies tun, obwohl wir wissen,dass Netzsperren ineffektiv, unverhältnismäßig und kon-traproduktiv sind. Wir Grüne fordern seit langem wirk-same Maßnahmen zum Schutz von Kindern vor sexuel-lem Missbrauch. Umso enttäuschender ist das, was wirjetzt an Vorschlägen von der EU-Kommission vorgelegtbekommen. Es scheint so, als stünde der europäischenEbene und damit auch uns die hier längst abgeschlosseneDebatte über die Sinnlosigkeit von Internetsperren er-neut bevor. Das ist höchst unerfreulich.
Dieses Parlament hat sich intensiv mit dem Ansatzder Internetsperren beschäftigt. Nach langen Diskussio-nen sind wir fraktionsübergreifend zu dem Schluss ge-kommen, dass es sich um ein gänzlich untaugliches Mit-tel handelt.
Aus diesem Grund haben wir uns ebenfalls fraktions-übergreifend auf den Grundsatz „Löschen statt Sperren“geeinigt.
Das war eine richtige Entscheidung.
Die jüngste Kriminalitätsstatistik weist im Bereichder Darstellung von Kindesmissbrauch im Netz einen er-freulichen Rückgang der Straftaten um über 40 Prozentauf. Dennoch bleibt viel zu tun. Wir wissen, es gibt vieleAnsatzpunkte, den Kampf noch schlagkräftiger und er-folgreicher zu führen: Noch immer mangelt es den Straf-verfolgungsbehörden an qualifiziertem Personal. Es man-gelt an einer angemessenen technischen Ausstattung. Esmangelt an finanzieller Unterstützung von Beschwerde-stellen wie Inhope. Außerdem brauchen wir dringendbessere internationale Abkommen, selbst mit Ländernwie den USA, mit denen die Zusammenarbeit nach wievor schwierig ist. In all diesen Bereichen können wir mitgeringem Aufwand eine Menge erreichen. Trotzdem tunSie, meine Damen und Herren von Union und FDP,nichts, um effektiv Abhilfe zu schaffen.
Zudem stellt sich die Frage, ob die EU mit ihren Vor-schlägen nicht deutlich über ihre Kompetenzen hinaus-geht. Sowohl der Wissenschaftliche Dienst als auch dasEuropareferat des Bundestages haben ganz erheblicheZweifel an der Einhaltung des Subsidiaritätsgrundsatzesangemeldet. Was macht die vermeintliche Rechtsstaats-partei FDP, was machen CSU und CDU, die sich sonstnie genug als Wahrer deutscher Gesetzgebungsinteres-sen gerieren können? Sie verhindern die Klärung dieserwichtigen Frage, indem sie gestern im Rechtsausschussunseren Antrag gegen die Stimmen der gesamten Oppo-sition von der Tagesordnung nehmen
und so die Einspruchsfrist vorsätzlich verstreichen las-sen. Das ist ein absolutes Armutszeugnis, meine Damenund Herren.
Während der Deutsche Bundestag nun also schwarz-gelb-bedingt weiter über Netzsperren diskutieren muss,läuft in unserer Gesellschaft eine breite Debatte überMissbrauch, der in Schulen, Sportvereinen, aber vor al-lem auch in Familien stattfindet. Hier zu handeln ist dasGebot der Stunde.Bisher haben wir als Opposition in dem Glauben, dassSie endlich wirklich tätig werden, vieles hingenommen.Wir haben hingenommen, dass Sie ein Gesetz, das ord-nungsgemäß im Bundestag verabschiedet und vom Bun-despräsidenten unterschrieben wurde, auf verfassungs-rechtlich höchst fragwürdige Weise nicht anwenden.Anstatt nun endlich aus den Fehlern der Vergangenheitzu lernen, fechten Sie über Europa Ihren koalitionsinter-nen Streit aus. Wir sind nicht länger gewillt, dieser kon-traproduktiven Placebopolitik weiter zuzuschauen. Des-wegen fordern wir: Legen Sie endlich den „Aktionsplanzum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexuellerGewalt und Ausbeutung“ neu auf und entwickeln Sieeine Strategie, die sich nicht mit dem Aufstellen sinnlo-ser Stoppschilder beschäftigt, sondern uns tatsächlich imKampf gegen den sexuellen Missbrauch von Kindernweiterbringt. Wenn es Ihnen mit dem schwarz-gelbenKoalitionsvertrag und Ihrer Erklärung gegenüber demBundespräsidenten, warum Sie Teile des Zugangs-erschwerungsgesetzes nicht anwenden, auch nur ansatz-weise ernst ist, bleibt Ihnen überhaupt keine andereWahl: Stimmen Sie unserem Antrag zu!Ganz herzlichen Dank.
Ansgar Heveling ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es gehört zum politischen Alltag, zu erleben, dass be-stimmte Begriffe eine Art Pawlow’schen Reflex – na-mentlich bei der Opposition – auslösen. Unter Inkauf-nahme erheblicher politischer Ermüdungstendenzenwird dann die x-te Variation ein und desselben Themasin die Debatte eingebracht. Bedauerlicherweise ist bei
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4302 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Ansgar Heveling
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aller Wiederholung oft – genauso wie jetzt – nicht fest-zustellen, dass die alte Weisheit „Repetitio est mater stu-diorum“ zutrifft. Unser aktueller, den Pawlow’schen Re-flex auslösender politischer Begriff ist das Wort„Netzsperren“. Sobald es in irgendeinem Kontext auf-taucht, springt die Opposition auf und über jedes hinge-haltene Stöckchen. Jetzt ist es wieder einmal so weit.
Weil in dem Vorschlag für eine Richtlinie des Euro-päischen Parlamentes und des Rates zur Bekämpfungdes sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeu-tung von Kindern sowie Kinderpornografie in Art. 21ein Passus zur Sperrung des Zugangs von Webseiten, dieKinderpornografie enthalten, formuliert wird, haben wires gleich mit einem bunten Strauß von Anträgen vonSPD, Grünen und Linken zu tun. Unterschiedlich wort-reich und mit deutlich verschiedener Begründungstiefe– von ein paar dürren Zeilen bei den Linken bis hin zueiner anerkennenswert weitreichenden Auseinanderset-zung mit dem Thema bei den Grünen –
werden in gehölzartiger Verästelung riesige Argumenta-tionskulissen aufgebaut.
Entkleidet man die Anträge dieses ganzen Drumherumsund führt sie auf ihren Kern zurück, dann stellt man fest,dass es eigentlich nur um die hier bereits mehrfach ge-führte Auseinandersetzung geht, nämlich die Frage, obman für „Löschen statt sperren“ oder für „Löschen vorsperren“ steht. Ersteres ist der gemeinsame Tenor derAnträge der Opposition.
Unser hiesiges geltendes Gesetz zur Bekämpfung vonKinderpornografie in Kommunikationsnetzen geht in § 1Abs. 2 den zweitgenannten Weg und konstituiert dieMöglichkeit des Sperrens einer Internetseite nur, „soweitzulässige Maßnahmen, die auf die Löschung des Tele-medienangebots abzielen, nicht oder nicht in angemesse-ner Zeit erfolgversprechend sind“.
Die Debatte hierzu haben wir vor nicht allzu langer Zeitan dieser Stelle bereits geführt. In diese Richtung bewegtsich im Übrigen auch der Richtlinienentwurf, der denMitgliedstaaten aufgibt, die erforderlichen Maßnahmenzu treffen, „damit Webseiten, die Kinderpornografie ent-halten oder verbreiten, aus dem Internet entfernt wer-den“. Mithin steht nicht allein das Sperren von Internet-seiten im Mittelpunkt der vorgesehenen Richtlinie.Vielmehr greift der Entwurf das Thema „Löschen vonInternetseiten“ ebenso auf und gibt den Mitgliedstaatenauf, vorbehaltlich angemessener Schutzvorschrifteneben auch die erforderlichen Maßnahmen zu treffen,„damit der Zugang von Internet-Nutzern zu Webseiten,die Kinderpornografie enthalten oder verbreiten, ge-sperrt wird“.Die Forderungen der Opposition hierzu zielen nun– genauso wie in der Vergangenheit – darauf ab, demStaat die Alternativität von Schutzmaßnahmen aus derHand zu schlagen.
Hier genauso wie schon bei den jüngsten Debatten überdas Gesetz zur Bekämpfung von Kinderpornografie inKommunikationsnetzen stellt sich nach wie vor dieFrage, ob es klug ist, sich aller alternativer Handlungs-möglichkeiten zu berauben.
Auch mit den aktuellen Anträgen gelingt es der Opposi-tion unserer Ansicht nach nicht, diese Frage substan-ziiert zu beantworten.
Unbestritten ist die Möglichkeit des Sperrens von Inter-netseiten nach dem erfolglosen Versuch des Löschensnicht der Königsweg; das steht außer Frage. Aber es isteben eine Handlungsmöglichkeit. Solange kein anderertragfähiger Weg aufgezeigt wird, sind wir der Ansicht,dass sich der Staat dieser Option nicht berauben darf.
Die heutigen Anträge der Opposition bleiben jeden-falls die Antwort auf eine tragfähige Alternative erneutschuldig. Unseres Erachtens eröffnet eigentlich nur derAntrag der Grünen die Möglichkeit einer Auseinander-setzung mit dieser Frage. So ist die Aussage, es fehlederzeit vor allem an einer mehrdimensional angelegtenStrategie zur Bekämpfung von sexuellem Missbrauchvon Kindern, fraglos richtig. Aber was ist die Schlussfol-gerung daraus? Die Schlussfolgerung kann doch geradenicht sein, den Weg zur Mehrdimensionalität zu versper-ren, indem man mit dem Diktum „Löschen statt sperren“Alternativstrategien ausschließt.
Die Schlussfolgerung kann doch nicht sein, bei einemMedium, das sich bekanntermaßen nicht um Staatsgren-zen schert, was zweifellos auch einer seiner Vorzüge ist,Möglichkeiten zu einem einheitlichen Vorgehen in Eu-ropa zu torpedieren.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4303
Ansgar Heveling
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Dies alles ließe sich dann hinnehmen, würden die An-träge wenigstens Anregungen für neue Wege für die ge-forderten mehrdimensionalen Strategien liefern.
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen von Notz zulassen?
Ja.
Bitte schön.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Kennen Sie einen einzi-
gen Fall – das betrifft auch Polizeibeamte –, bei dem es
nicht gelungen ist, eine relevante Seite aus dem Internet
zu löschen? Kennen Sie einen einzigen Fall, da Sie hier
für das Sperren plädieren?
Das Problem tritt in dem Moment auf, in dem die
Sperrung dem nationalen Zugriff entzogen ist, dann,
wenn eine Seite nicht über nationale Regelungen erfolg-
reich gelöscht werden kann.
– Russland, die Niederlande.
– Sprechen Sie jetzt mit mir oder mit den Kollegen?
Herr von Notz, Sie haben eine Frage gestellt. Es wäre
vielleicht angebracht, der Antwort des Kollegen zu lau-
schen.
Es gibt tatsächlich Aussagen des BKA, die ich aus
dem Stegreif nicht wiedergeben kann, aber sie sind uns
vorgetragen worden. Ich kann das gerne klären, und
dann können wir uns darüber austauschen. Das Bundes-
kriminalamt ist im Moment beauftragt, entsprechende
Informationen zu sammeln. Es gab dazu schon eine Zwi-
scheninformation, die ich gerne besorgen werde. Dann
können wir uns darüber austauschen.
Zurück zum Thema. Ich sprach von Anregungen der
Opposition, die über reine inputorientierte Aussagen von
schlichter Allgemeingültigkeit wie eine personelle und
technische Stärkung der Strafverfolgungsbehörden oder
den weiteren Ausbau der internationalen Zusammenar-
beit hinausgehen. Keine Frage, da gehen wir mit Ihnen
d’accord; aber das sind Allgemeinplätze. Ist das der
mehrdimensionale Ansatz? Es klingt eher wie ein dünner
Aufguss. Auch personell und technisch gestärkte Straf-
verfolgungsbehörden bedürfen vor allem wirksamer und
schlagkräftiger Instrumente.
Summa summarum bleibt es dabei: Das Löschen von
Internetseiten ist fraglos der wünschenswerte Weg zur
Beseitigung kinderpornografischer Inhalte. Da er aber an
Grenzen stößt, bedarf es Alternativen.
Solange aber keine anderen wirksamen Möglichkeiten
aufgezeigt werden, darf man sich der Sperrmöglichkeit
aus unserer Sicht nicht endgültig begeben.
Die Opposition ihrerseits ist jedenfalls wieder einmal
den Beweis für neue Konzepte schuldig geblieben. Dann
aber ist und bleibt es unklug, andere Wege einfach per se
blockieren zu wollen.
Herzlichen Dank.
Burkhard Lischka hat jetzt das Wort für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrKollege Heveling, ich bin auf die Rede des KollegenBuschmann gespannt, weil ich nicht weiß, für wen Siehier gesprochen haben, als Sie „wir“ gesagt haben. Ichweiß nicht, ob Sie für die Unionsfraktion oder auch fürdie FDP-Fraktion gesprochen haben. An dem Beifallhabe ich gesehen, dass da doch Uneinigkeit besteht.Der Anlass für unsere heutige Debatte ist allerdings– das wissen Sie – ein EU-Richtlinienvorschlag, derdazu dienen soll, den sexuellen Missbrauch und die se-xuelle Ausbeutung von Kindern zu bekämpfen. Die Fra-gen, die durch diesen Richtlinienvorschlag aufgeworfenwerden, gehen weit, so finde ich, über das StreitthemaInternetsperren hinaus. Es stellt sich die Frage, wie wirStraftäter in diesem Bereich überführen können, wie wirKinderpornografie im Internet tatsächlich bekämpfenkönnen, wie wir den Missbrauch von Kindern verhin-dern können und wie wir die Prävention stärken können.Zu den Zahlen. Sie wissen, 12 000 Fälle von Kindes-missbrauch und 6 700 Fälle von Kinderpornografie ha-ben wir pro Jahr. Das sind zumindest die aktuellen Zah-len der Polizeilichen Kriminalstatistik des BKA. Wir allegemeinsam wissen: Die Dunkelziffer ist extrem hoch.
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4304 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Burkhard Lischka
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Allein die Ermittlungsstelle Kinderpornografie in demBundesland, aus dem ich komme, dem BundeslandSachsen-Anhalt, sichtet derzeit 365 Millionen Bilderund Filme.Jetzt liegt ein Richtlinienvorschlag der EU vor. Brüs-sel will die Rechtsharmonisierung, um konsequenter ge-gen Kinderpornografie im Internet und gegen sexuellenMissbrauch von Kindern vorgehen zu können. Mit demZiel stimmen wir als SPD-Fraktion überein, aber anmehr als einer Stelle – nicht nur bei den Internetsperren– sagen wir deutlich: Stopp, so dann nicht! – Ich will dasan drei Beispielen deutlich machen:Das erste Thema ist schon angesprochen worden: dieInternetsperren. Da gilt für uns die Maxime: „Löschenstatt sperren.“
Wir wollen Kinderpornografie im Internet bekämpfen.Sie wissen, dass Internetsperren teilweise ungenau sindund technisch leicht umgangen werden können. MeineÜberzeugung ist, dass sie zumindest keinen wesentli-chen Beitrag im Kampf gegen Kinderpornografie leis-ten, dass im Gegenteil eine Infrastruktur aufgebaut wird,die viele Bürgerinnen und Bürger unter dem Blickwinkelder Freiheits- und Bürgerrechte zu Recht kritisch sehen.Internetsperren sind deshalb aus unserer Sicht der fal-sche Weg.
Der zweite Punkt, den ich ansprechen möchte: DerRichtlinienvorschlag, so wie er jetzt vorliegt, würde dasEnde des deutschen dreistufigen Jugendschutzes bedeu-ten. Die Unterscheidung zwischen Kindern und Jugend-lichen, die wir derzeit haben, würde künftig entfallen,und das wäre aus unserer Sicht der falsche Weg; dennder Differenzierung zwischen Kindern und Jugendlichenliegt die richtige Überlegung zugrunde, dass die Schutz-würdigkeit von Kindern und Jugendlichen unterschied-lich zu beurteilen ist. Es ist eben nicht das Gleiche, ob essich um ein 10-jähriges Kind oder um einen fast 18-jäh-rigen Jugendlichen handelt. So wie der Richtlinienvor-schlag jetzt konzipiert ist, würde beispielsweise auch derverliebte 18-Jährige in ganz gefährliches Fahrwassermanövriert werden. Nach dem Wortlaut des Vorschlagsmacht sich nämlich ein 18-Jähriger strafbar, der bei sei-ner 17-jährigen Freundin über das Internet anklopft undsich mit ihr zu Intimitäten verabredet, wenn es in derFolgezeit zu diesen Intimitäten kommt. Das ist natürlichUnsinn. Das geht an der Lebenswirklichkeit vorbei.
Wir Sozialdemokraten wollen – genau wie die EU –das Grooming, das heißt die Anbahnung sexuellen Miss-brauchs über das Internet, unter Strafe stellen. Wir wollenaber nicht Heranwachsende und Gleichaltrige bei ihrenersten ganz normalen sexuellen Kontakten kriminalisie-ren.
Der dritte Punkt, den wir zu kritisieren haben: DerRichtlinienvorschlag dient – so der Titel – der Bekämp-fung des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Aus-beutung von Kindern. Ich befürchte allerdings, dass die-ser Titel doch sehr viel mehr verspricht, als an der einenoder anderen Stelle gehalten werden kann, vor allen Din-gen beim Opferschutz. Wir erleben in diesen Tagen undWochen, wie aus allen Winkeln der Republik neue Mel-dungen über Kindesmissbrauch an die Öffentlichkeitdringen, Meldungen aus Internaten, Schulen, sozialenEinrichtungen, Kirchen und Sportvereinen. Jahrzehnte-lang haben die Opfer geschwiegen. Für dieses Schwei-gen gibt es sicherlich sehr viele Gründe, auch sehr vieleindividuelle Gründe, zum Beispiel Furcht, Scham, Hilf-losigkeit oder Sprachlosigkeit. Aber eines ist auch offen-bar geworden: Für viele gab es in der Vergangenheitschlicht und einfach keine Anlaufstelle, an die sie sichals Kinder und Jugendliche, als Opfer hätten wendenkönnen. Es wurde nicht gesprochen über solche Dinge;so wird ein Priester in diesen Tagen in einer großen deut-schen Tageszeitung zitiert. Nur, eine Gesellschaft, dieüber das Thema „sexueller Missbrauch“ nicht spricht,die es verdrängt, die es tabuisiert, wird den Kampf gegenden sexuellen Missbrauch nicht gewinnen können.
Deshalb brauchen wir mehr Anlaufstellen und mehrVertrauenspersonen, an die sich unsere Kinder und Ju-gendlichen in ihrer Not wenden können. Wir brauchenmehr Schulungsprogramme für Eltern, Lehrer, Erzieherund Ärzte, damit sie sexuellen Missbrauch erkennen undadäquat reagieren können.
Wir brauchen mehr entsprechende Lerninhalte und Ge-spräche in unseren Schulen und Kindergärten, damitKinder und Jugendliche in allen Situationen sexuellenMissbrauchs, auch in der Familie, das selbsterhaltendeNein lernen können.Zur Prävention, die sich der Richtlinienvorschlag aufdie Fahnen geschrieben hat, gehört auch: Wir brauchenmehr Therapieangebote für pädophile Täter. 220 000Männer in Deutschland haben pädophile Neigungen; dieAnzahl der entsprechenden Therapieeinrichtungen hin-gegen können Sie an einer Hand abzählen. Das müssenwir ändern, sowohl in Deutschland als auch in Europa.Wir können natürlich keine der Taten, die jetzt nachJahrzehnten öffentlich werden, im Nachhinein ungesche-hen machen. Aber wir können etwas für unsere Kinderund Kindeskinder tun. Das sind wir nicht zuletzt den Op-fern der Vergangenheit schuldig.Noch einen Satz zu unserer gestrigen Rechtsaus-schusssitzung. Wir hatten uns eigentlich vorgenommen,über das Thema inhaltlich zu debattieren. Der Richtlinien-vorschlag stand auf der Tagesordnung. Die Regierungs-fraktionen haben ohne irgendeine erkennbare inhaltlicheBegründung das Thema von der Tagesordnung genom-men und vertagt. Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Erstenshalte ich das für keinen guten Stil.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4305
Burkhard Lischka
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Zweitens sagt das möglicherweise viel über den internenZustand der Regierungsfraktionen aus. Politische Pro-bleme löst man nicht dadurch, dass man sie vertagt.
Gerade dieses Thema hätte es verdient, gestern behan-delt zu werden.Recht herzlichen Dank.
Marco Buschmann hat das Wort für die FDP-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Es gibt Themen, die das Hohe Haus einen, unddazu gehört die Bekämpfung des sexuellen Missbrauchsvon Kindern und der Verbreitung der entsprechendenMissbrauchsdarstellungen, also dessen, was man ge-meinhin Kinderpornografie nennt.Der Missbrauch von Kindern gehört zu den schlimms-ten Straftaten, und die Verbreitung der Aufzeichnung die-ser Straftaten perpetuiert den Missbrauch. Deshalb müs-sen wir die Verbreitung der Missbrauchsdarstellungeneffektiv bekämpfen, auf allen Verbreitungskanälen, auchim Internet.
Mit dem Stichwort „Internet“ sind wir beim politi-schen Kern der heutigen Debatte. Herr Kollege Lischka,ich finde es gut, dass Sie hier auch andere Aspekte vor-getragen haben. Aber machen wir uns nichts vor: Das In-ternet ist heute der politische Knackpunkt.
Auch zwei der drei vorliegenden Anträge ranken sichausschließlich um dieses Thema.Dazu ist Folgendes zu sagen: Ich teile ausdrücklichdie Bewertung, dass das Prinzip „Löschen statt sperren“für die effektive Bekämpfung von Missbrauchsdarstel-lungen im Internet sorgt. Internetsperren überzeugenmich nicht, weil sie leicht zu umgehen sind
und das Problem der Verbreitung mithin nicht lösen. Imschlimmsten Fall könnten die für das Sperren erforderli-chen Sperrlisten von den kranken Menschen sogar alsWegweiser genutzt werden, um an die Inhalte, nach de-nen sie auf der Suche sind, zu gelangen.
Abgesehen davon freue ich mich über den Sinnes-wandel, der in diesem Haus stattgefunden hat. Das rich-tet sich einmal an die SPD. Noch am 18. Juni 2009 hatIhre Fraktion der Einführung von Netzsperren in dasdeutsche Recht die parlamentarische Mehrheit ver-schafft, und immerhin ein Großteil der Grünen hat sichbei der Frage enthalten.
Dass hier ein Fortschritt stattgefunden hat, finde ich sehrgut. Heute wenden Sie sich gegen das Instrument, fürdas Sie vor kurzem noch gestritten haben.
„Löschen statt sperren“ heißt bei Ihnen offenbar, das Ge-dächtnis zu löschen und sich besserer Einsicht nicht zuversperren. Diesen Lernfortschritt kann ich nur begrü-ßen.
Aber bei aller Sympathie: Hinter Ihren Anträgensteckt doch ein durchsichtiges politisches Manöver, dasmit der Sache selber nichts zu tun hat. Sie versuchen be-wusst, den Eindruck zu erwecken, man müsse die Bun-desregierung für die Frage der Netzsperren sensibilisie-ren oder auf den Pfad der Tugend zurückführen. Dennalle drei Oppositionsfraktionen haben einen Antrag nachArt. 23 Abs. 3 Grundgesetz gestellt. Ein entsprechenderBeschluss führt zu einer Verpflichtung der Bundesregie-rung, sich mit den Stellungnahmen, wie es in der Kom-mentarliteratur heißt – ich zitiere –,
auseinanderzusetzen und dies mit der gebotenenSorgfalt und Rücksichtnahme auf die in der jeweili-gen „Stellungnahme“ zum Ausdruck gebrachtenAuffassungen des Bundestages.Mittels dieser Anträge tun Sie so, als ob die Bundes-regierung das Thema Netzsperren gerade nicht mit dergebotenen Sorgfalt behandeln würde und in die falscheRichtung unterwegs wäre.
Da liegen Sie schlichtweg falsch.
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4306 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Marco Buschmann
(C)
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Die neue Bundesregierung unter Beteiligung der FDPhat bislang keinen Zweifel an ihrer Auffassung gelassen,
was den Umgang mit Netzsperren angeht.
Nehmen Sie die verfassungsrechtliche Prüfung desZugangserschwerungsgesetzes durch den Bundespräsi-denten. Hier hat die Bundesregierung dem Herrn Bun-despräsidenten ihre abgestimmte Auffassung mitgeteilt.Beteiligt waren das Bundesjustizministerium, das Bun-desinnenministerium und das Bundeskanzleramt. In derschriftlichen Stellungnahme, die bekannt geworden ist,heißt es:Die gegenwärtige Bundesregierung beabsichtigteine Gesetzesinitiative zur Löschung kinderporno-graphischer Inhalte im Internet. Bis zum Inkrafttre-ten dieser Regelung wird sich die Bundesregierungauf der Grundlage des Zugangserschwerungsgeset-zes ausschließlich und intensiv für die Löschungderartiger Seiten einsetzen, Zugangssperren abernicht vornehmen.Kurz gesagt: Die Bundesregierung folgt dem Prinzip„Löschen statt sperren“.
Sogar im Zusammenhang mit der hier zur Debattestehenden Richtlinie ist die Bundesjustizministerin be-reits aktiv geworden. In einem Brief an die zuständigeEU-Kommissarin Malmström heißt es, wie zu hörenwar,
dass für kinderpornografische Inhalte der Grundsatz„Löschen statt sperren“ gelten sollte und dass Netzsper-ren kein wirksames Mittel zur Bekämpfung dieser In-halte sind.
Herr Kollege, ich unterbreche Ihren Redefluss nur un-
gern. Aber Herr Ströbele würde Ihnen gerne eine Zwi-
schenfrage stellen, wodurch sich Ihre Redezeit verlän-
gern würde.
Bitte, Herr Kollege Ströbele.
Bitte schön.
Ich habe nur eine ganz kurze Frage.
Herr Kollege, für welche Bundesregierung sprechen
Sie?
Ich spreche für die Bundesregierung, die sich gegen-über dem Herrn Bundespräsidenten im Zusammenhangmit der materiellen Prüfung des Gesetzes, dem die SPDdie parlamentarische Mehrheit verschafft hat, geäußerthat – das war wohl klar –, also für die jetzige Bundesre-gierung.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, die Äußerun-gen vonseiten der Bundesregierung, die ich vorhinerwähnt habe, machen deutlich, dass die Bundesregie-rung – in Deutschland herrscht Gewaltenteilung – aus-reichend sensibilisiert und auf dem richtigen Weg ist.
Die FDP-Fraktion bestärkt die Bundesregierung auf ih-rem Weg.
Wir stärken allen beteiligten Bundesministern den Rü-cken. Wir sehen keinen Grund, warum wir durch Stel-lungnahmen nach Art. 23 Abs. 3 Grundgesetz den Ein-druck erwecken sollten, als würde die Bundesregierunghier eine andere Haltung einnehmen oder einen anderenWeg einschlagen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4307
Marco Buschmann
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Der Weg der Bundesregierung ist richtig, und er heißt:„Löschen statt sperren“.
Die Kollegin Halina Wawzyniak hat das Wort für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Lieber Herr Buschmann, ich schließe mich der
Frage meines Freundes Hans-Christian Ströbele an:
Wer ist hier die Bundesregierung? Sie, Herr Buschmann,
sind offensichtlich gegen Netzsperren; das nehme ich Ih-
nen ab, und das finde ich löblich. Allerdings hörte sich
das, was der Kollege Heveling gerade ausgeführt hat, ein
bisschen anders an.
Insofern würde ich gerne wissen, ob Sie sich in diesem
Punkt einig sind oder nicht.
Ich habe heute im Bundesministerium der Justiz am
runden Tisch „Sexueller Kindesmissbrauch in Abhän-
gigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffent-
lichen Einrichtungen und im familiären Bereich“ teilge-
nommen. Dort beraten Sachverständige, die Bundes-
regierung und Abgeordnete aller Fraktionen, wie man
das Problem der sexualisierten Gewalt gegen Kinder
umfassend angehen kann und muss. Ich halte diese Art
der Debatte für ausgesprochen sinnvoll und hilfreich.
Deshalb werden wir weiter an diesem runden Tisch teil-
nehmen.
Hier geht es nun aber um Netzsperren. Dazu sage ich
Ihnen: Jedes staatliche Handeln muss sich an einem
rechtsstaatlichen Kriterienkatalog messen lassen. Sie
müssten das besser wissen.
Das heißt, staatliche Maßnahmen müssen in einem ord-
nungsgemäßen Verfahren zustande kommen, der Grund-
satz der Verhältnismäßigkeit muss beachtet werden, und
schließlich sind die möglichen – auch die ungewünsch-
ten – Folgen der Maßnahmen zu würdigen. Offensicht-
lich hat die gesamte Opposition – auch ich – erhebliche
Zweifel daran, dass die von der EU-Kommission ge-
wünschten Maßnahmen diesen Maßstäben standhalten.
Ich möchte kurz auf das Verfahren eingehen. Sie ha-
ben gestern im Rechtsausschuss – darauf wurde bereits
hingewiesen – die Stellungnahme der Grünen, eine soge-
nannte Subsidiaritätsrüge, mit Ihrer Koalitionsmehrheit
einfach vom Tisch gewischt.
Damit sind die Fristen für die Einreichung einer solchen
Rüge nicht mehr einzuhalten. Mit ein bisschen Stil hät-
ten Sie einfach dagegenstimmen können, anstatt mit die-
sem formalen Mittel eine Debatte zu verhindern.
Ich finde, das ist für Ihr Verständnis vom Umgang mit
der Opposition bezeichnend. Damit wird im Übrigen die
Option der Nutzung eines im Lissabon-Vertrag vorgese-
henen demokratischen Instruments ausgehebelt.
Die Sperrung von Webseiten ist nicht dazu geeignet,
Kinderpornografie zu verhindern. Vielmehr schafft sie
durch die damit einhergehende Etablierung einer Sperr-
infrastruktur enorme Gefahren für die Meinungsfreiheit.
In Dänemark sind die geheimen Sperrlisten öffentlich
geworden. Ergebnis: 90 Prozent der gesperrten Seiten
waren ohne kinderpornografischen Inhalt.
Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage von
Herrn Grosse-Brömer von der CDU/CSU-Fraktion zu-
lassen?
Ja, selbstverständlich.
Bitte schön.
Liebe Frau Kollegin Wawzyniak, ist es vielleicht so,dass sich die Zahl der Zugriffe auf diese Seiten in Skan-dinavien, teilweise auch in Italien, durch das Sperren um40 Prozent und mehr reduziert hat?
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4308 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Michael Grosse-Brömer
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Können Sie mir, wenn das so ist, zustimmen, dass mandann beim Sperren von kinderpornografischen Seitennicht von einem völlig ineffektiven Mittel reden kann,sondern allenfalls davon, dass es keinen hundertprozen-tigen Erfolg hat? Aus dieser Tatsache resultiert, dass zu-mindest eine Fraktion im Deutschen Bundestag sagt:Eine Senkung der Zugriffszahlen um 40 Prozent ist esuns wert, nicht vollständig auf dieses effiziente Mittel zuverzichten.
Herr Grosse-Brömer, ich weiß nicht, wer hier von ei-
nem „völlig ineffektiven Mittel“ gesprochen hat. Das Zi-
tat stammt sicherlich nicht aus meiner Rede; ich habe
das nicht gesagt. Sie können das im Protokoll nachlesen.
Im Übrigen handelt es sich nicht um eine Frage der Effi-
zienz, sondern der Angemessenheit. Das Mittel der Sper-
rung ist angesichts der Folgen nicht angemessen.
Das Beispiel Dänemark zeigt, dass unsere Vermu-
tung, dass die Freiheit des Internets insgesamt einge-
schränkt werden soll, nicht völlig aus der Luft gegriffen
ist. Es liegt der Verdacht nahe, dass nunmehr europaweit
eine Sperrinfrastruktur geschaffen werden soll, die dem
freiheitlichen Gedanken eines weltweiten, offenen Inter-
nets total widerspricht. Ich sage Ihnen schon heute, dass
es nicht lange dauern wird, bis Lobbyisten der Musik-
und Unterhaltungsindustrie ihre Begehrlichkeiten im
Hinblick auf die Nutzung dieser Sperrinfrastruktur
durchsetzen werden.
Es ist nicht zu bestreiten, dass sich unsere Gesell-
schaft durch das Internet verändert hat. Wir sollten aber
nicht der Versuchung erliegen, das Internet zu verteufeln
und der digitalen Gesellschaft und der Netzgemeinschaft
wegen eines Problems, das eigentlich kein Problem des
Internets ist, künstlich Schranken aufzuerlegen. Wir soll-
ten uns davor hüten, das Internet zu überwachen und zu
zensieren. Wir sollten die Freiheit des Internets nicht
durch blinden Aktionismus kaputtmachen. Wir sollten,
so wie es Frau Leutheusser-Schnarrenberger in der Stutt-
garter Zeitung vom 3. Mai schrieb, die „Freiheit des In-
ternets bewahren“. – Jetzt könnten Sie von der FDP ein-
mal klatschen; schließlich ist das Ihre Ministerin.
Bewahren Sie also die Freiheit des Internets! Bewah-
ren Sie die Freiheit Europas! Missbrauchen Sie Europa
nicht als Hintertür bei der Einführung von Internet-
sperren!
Patrick Sensburg hat das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Ich verstehe die Heiterkeit der Oppositionsfrak-tionen nicht angesichts dessen, dass es um einen Inhaltgeht, der sich mit der Richtlinie zur Bekämpfung dessexuellen Missbrauchs und der sexuellen Ausbeutungvon Kindern sowie der Kinderpornografie, also mit denabscheulichsten Verbrechen an Kindern, beschäftigt.
Da Sie wissen, was da passiert – zwei bis drei Jahre alteKinder werden sexuell missbraucht, bis zum Tode –, ver-stehe ich die Heiterkeit auf der Oppositionsbank nicht.
Nach Angaben der Kommission werden pro Tag 200neue kinderpornografische Bilder oder Videos ins Netzgestellt. Es geht um den Schutz unserer Kinder, und wirmüssen lernen, dass wir das nicht zulassen, was wir auchim normalen Leben nicht zulassen: DVDs und CDs indieser Art würden wir nie erlauben, sondern sie konfis-zieren, und das muss auch für das Internet gelten.
Ich dachte eigentlich, dass wir uns einig wären – Herrvon Notz, hören Sie einmal ganz kurz zu –, wenn es umden Inhalt und das Ziel der Richtlinie geht. Aber beiBündnis 90/Die Grünen und auch bei der SPD scheintschon der Inhalt nicht mehr akzeptabel zu sein. Wenn ichdann unter dem Aspekt der strafrechtlichen Konsequenz
– ich zitiere es gerade –, unter dem Aspekt des Schutzesder Kinder vor solchen Verbrechen lese, das natürlicheBedürfnis von Jugendlichen nach Sexualität müsse re-spektiert werden – das steht in Ihrem Antrag –
– das steht in Ihrem Antrag zum heutigen Tag unterRandnummer 6 im letzten Satz; ich lege Ihnen diesgleich vor; ich habe es dabei –, dann frage ich mich: Washat das mit dem Schutz von Jugendlichen vor diesenVerbrechen zu tun?Herr von Notz, noch zur Erklärung – Sie mögen javielleicht zu dem, was Sie eben gesagt haben, dazuler-nen; Herr Lischka, das betrifft leider auch Sie –:
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4309
Dr. Patrick Sensburg
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Wenn Sie sich Art. 8 der Richtlinie ansehen, dann erken-nen Sie, dass es in der Richtlinie für genau die Fälle, dieSie eben zitiert haben, Ausnahmetatbestände gibt.
Entweder Sie müssen die Richtlinie noch einmal richtiglesen, oder ich verstehe Ihren Antrag nicht. Er scheintrein populistisch gemeint zu sein.
Kommen wir zur Subsidiarität. Im Kern greifen Siedas Subsidiaritätsprinzip und die Kompetenzordnung,die sich gerade aus Art. 21 des Richtlinienvorschlags er-gibt, an. Es ist wohl klar, dass sich die Richtlinie in denArt. 3 bis 5 mit dem Strafrecht beschäftigt und es auch inArt. 7 um Beihilfe und Anstiftung geht. Nach Art. 82 und83 Abs. 1 AEUV kann die EU „Mindestvorschriften …im Bereich besonders schwerer Kriminalität“ regeln. Er-klären Sie mir einmal, meine Damen und Herren von derOpposition, warum Kinderpornografie keine besondersschwere Kriminalität ist und warum die EU hierfür nichtzuständig sein soll.
Der Europäische Gerichtshof hat schon mehrfach ent-schieden, zuletzt 2002 und 2009 in den Entscheidungenzu British American Tobacco, dass die Schwerpunkt-theorie in diesem Fall gilt. Lassen Sie mich also deutlichfeststellen, dass der hier diskutierte Art. 21 des Richt-linienvorschlags Teil eines strafrechtlichen Gesamtkon-zepts gegen Kinderpornografie ist und somit an dieserStelle kein Bruch des Subsidiaritätsprinzips vorliegt.
Auch der Bundesrat Österreichs ist am 4. Mai zu demErgebnis gekommen, dass das Subsidiaritätsprinzip nichtverletzt ist. Italien hat in der Abgeordnetenkammer am18. Mai zugestimmt und Schweden im Rechtsausschussdes Reichstags am 6. Mai. Eine Stellungnahme nachArt. 23 Abs. 3 Grundgesetz ist daher hier nicht angesagt.
Statt bei einem solchen Thema Geschlossenheit im ge-samten Plenum zu zeigen und hier nicht in formalesStreiten zu verfallen, machen Sie genau das. Das istPopulismus.
Übrigens ist es auch keine Beschränkung der Mei-nungsfreiheit, wenn wir sagen: Als Ultima Ratio sperrenwir Seiten. Oder wollen Sie mir sagen, dass das Einstel-len von so abscheulichen Dingen unter die Meinungs-freiheit des Art. 5 Grundgesetz fällt?
Es ist auch keine Beschränkung der Informationsfreiheit.Oder wollen Sie mir sagen, dass es ein Recht gibt, sichim Internet über gequälte Kinder zu informieren? Hierist auch kein Recht der informationellen Selbstbestim-mung verletzt.
Oder wollen Sie mir sagen, dass es ein Recht gibt, sichüber diese Dinge zu informieren? Es sind doch geradedie Kinder, die in ihrem Recht auf informationelleSelbstbestimmung verletzt sind.
Herr von Notz, Sie waren es, die uns in der Diskus-sion im Februar in Bezug auf dieses Thema Populismusvorgeworfen haben. Sind die Argumente, die Sie ebenvorgebracht haben, nicht sehr viel mehr von Populismusgekennzeichnet?
Wenn Sie dann sagen, es gebe hier eine Zensur, halteich dem entgegen: Zensur meint Vorzensur. Das ist das,was wir unter Zensur verstehen. Dazu muss ich ganzehrlich sagen: Vorzensur bezieht sich auf Werke geisti-ger Art. Sie wollen mir doch nicht sagen, dass Kin-derpornografie im Internet geistige Werke sind, bei de-nen wir Vorzensur betreiben. Das ist wirklich großerQuatsch.
Gemeinsam mit der FDP werden wir weitere Alterna-tiven suchen. Dazu gehört zum Beispiel das gezielte Fil-tern von Filmen und Bildern. So können wir genau dieinkriminierten Inhalte herausfiltern. Rechtlich ist dieszum Teil möglich.Letztlich sage ich auch, dass der Richtlinienvorschlagin Art. 21 Abs. 2 das Löschen vor Sperren beinhaltet.Das steht doch in der Richtlinie. Deswegen weiß ich garnicht, welches Problem Sie damit haben. Die Regie-rungskoalition hat den richtigen Weg eingeschlagen.
Es geht aber auch darum, dass effektives Löschen nichtimmer notwendig ist. Herr von Notz, in Amerika wirdeine Vielzahl der Internetseiten nicht gelöscht und bleibtmonatelang freigeschaltet. Nur die IP-Adresse wird ge-ändert. Ihre Anträge sind daher inhaltlich und formal-rechtlich falsch und deswegen auch abzulehnen.Danke schön.
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4310 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Dr. Patrick Sensburg
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Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen
Konstantin von Notz das Wort.
Herzlichen Dank. – Herr Kollege Sensburg, das war
unterirdisches Niveau.
Diese Debatte erfordert eine gewisse Differenzierung,
damit man sich nicht gegenseitig die Förderung sexuel-
len Missbrauchs vorwirft. Diese Differenzierung lassen
Sie hier wirklich unter den Tisch fallen und argumentie-
ren auf unterstem Niveau. Wir wollen hier aber eine dif-
ferenzierte Debatte führen. Wenn Sie den Kern nicht er-
kennen, dann erläutert Ihr Koalitionspartner Ihnen
diesen sicher gern.
Es geht darum, dass die Internetsperren höchst ineffi-
zient sind. Die Zahlen, die hier genannt wurden, sind alle
nicht überprüft worden und sind daher nicht fest.
– Nein, das sind sie nicht. – Sie selbst sprechen sich im
Koalitionsvertrag gegen Internetsperren aus, weil Sie an
der Wirksamkeit zweifeln.
– Ja, ich rede auch mit Ihnen. Sie schreien hier ja herum.
Ich sage Ihnen: Wenn Sie wirklich effektiv gegen
Kindesmissbrauch und die Darstellung von Kindesmiss-
brauch im Internet vorgehen wollen, dann müssen Sie
andere Maßnahmen ergreifen, die sehr viel leichter um-
zusetzen sind. Sie sollten aber nicht versuchen, Sperr-
instrumente zu installieren, die der Sache letztlich nicht
dienen.
Hören Sie den Expertinnen und Experten zu! Viele Leute
werden Ihnen sagen, dass das der richtige Weg ist. Ihre
unterirdische Art, hier zu diskutieren, ist es jedenfalls
nicht.
Vielen Dank.
Herr Kollege Sensburg zur Erwiderung. Bitte schön.
Herr Kollege von Notz, Ihrer Bewertung schließe ich
mich nicht an; das werden Sie verstehen. Ich werde sie
auch nicht kommentieren. Uns ist klar, dass sowohl das
Löschen als auch das Sperren möglich ist. Dass das
Sperren von Seiten, die man nicht löschen kann, zumin-
dest als Option möglich sein sollte, ist eigentlich auch je-
dem klar. Das ist inzwischen sogar der Internet Commu-
nity klar.
Dort sagt man nämlich auch: Das Sperren von Internet-
seiten hat Erfolg.
Sie müssen sich noch einmal anhören, was Herr
Grosse-Brömer eben gesagt hat: Es gibt eine Vielzahl
von Ländern, in denen das Sperren wunderbar funktio-
niert. Genau das machen wir als Ultima Ratio. Wenn Sie
im Koalitionsvertrag einmal nachlesen, wie es funktio-
niert, dann sind Sie schlauer
und dann brauchen Sie auch nicht solche Kommentare
abzugeben.
Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 17/1584, 17/1739 und 17/1746 an diein der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. – Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Dannist das so beschlossen.Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 11 a und bauf:a) Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und der FDPModellversuch „Begleitetes Fahren mit 17“ indas Dauerrecht überführen– Drucksache 17/1573 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Wirtschaft und Technologieb) Beratung des Antrags der Abgeordneten DirkFischer , Arnold Vaatz, Volkmar Vogel
, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4311
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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Patrick Döring, Oliver Luksic, Werner Simmling,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDPErwerb von Zweiradführerscheinen erleich-tern– Drucksache 17/1574 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieHierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattie-ren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dannist das so beschlossen.Der Kollege Gero Storjohann hat das Wort für dieCDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir beraten heute zwei Anträge der christlich-liberalen Koalition zum Führerscheinrecht, die von Ih-nen in den Ausschüssen hoffentlich wohlwollend behan-delt werden und Ihre Zustimmung erfahren. Mein Kol-lege Thomas Jarzombek wird zum Bereich Anpassungdes Führerscheinwesens im Einzelnen sprechen. Ich be-fasse mich in erster Linie mit dem Modellversuch „Be-gleitetes Fahren mit 17“.Im Jahre 2004 hat Niedersachsen ohne rechtlicheGrundlage einen Modellversuch auf den Weg gebracht.Wir im Verkehrsausschuss waren schon lange dafür, hat-ten aber nie eine Mehrheit. Mittlerweile haben sich andereBundesländer diesem Weg peu à peu angeschlossen. Allemachen beim Projekt „Begleitetes Fahren mit 17“ mit.Das finden wir toll. Wir als christlich-liberale Koalitionvertreten die Auffassung, dass sich begleitetes Fahrenmit 17 bewährt hat. Die Ergebnisse des Modellversuchssind ausschließlich positiv.
Das Projekt verläuft nicht nur positiv, es ist auch beiden Fahranfängern und ihren Eltern gleichermaßen po-pulär. Es steigert die Verkehrssicherheit auf unserenStraßen. Deshalb bitten wir die Bundesregierung mitdem vorliegenden Antrag, das Modellprojekt mitWirkung zum 1. Januar 2011 in das Dauerrecht zu über-führen. Hierzu bitten wir die Bundesregierung um ent-sprechende Vorschläge zur Änderung des Straßenver-kehrsgesetzes und der Verordnung über die Zulassungvon Personen zum Straßenverkehr.Wie war das 2005? Damals lehnte die rot-grüne Bun-desregierung einen Gesetzesvorschlag der CDU/CSU-Fraktion zum begleiteten Fahren mit 17 ab. Mit diesemVorschlag forderten wir damals, frühzeitig bundesein-heitliche Vorgaben für den beginnenden Modellversuchaufzuzeigen. Aber aus parteipolitischen Gründen, diewir durchaus nachvollziehen können, wurde der Vor-schlag der Unionsfraktion von Rot-Grün abgelehnt.
– Auch von Sören Bartol. – Etwas später brachte dieBundesregierung einen eigenen Antrag gleichen Inhaltsein. Wir haben diesem rot-grünen Antrag damals zuge-stimmt, weil wir uns als Urheber dieser Idee verstandenhaben.Der Weg zu diesem finalen Antrag, den wir heute be-raten, war lang, aber wer neue Wege beschreiten willund innovative Ideen hat, muss manchmal dicke Bretterbohren. Deshalb wollen wir uns heute für das Dauerrechtaussprechen. Wir freuen uns besonders, dass alle Zweif-ler und Kritiker, die es lange Zeit gegeben hat, mittler-weile überzeugt sind.Teilnehmer des Modellversuchs haben die Möglich-keit, bereits mit sechzehneinhalb Jahren Fahrunterrichtin einer Fahrschule zu nehmen. Ab einem Alter von17 Jahren können sie den Pkw-Führerschein erwerben.Bis zur Volljährigkeit darf man zwar ans Steuer, aber nurgemeinsam mit einer registrierten Begleitperson.Diese Begleitperson muss mindestens 30 Jahre altsein und mindestens fünf Jahre im Besitz eines Pkw-Führerscheins sein. Hierdurch ist gewährleistet, dass essich um eine Person mit ausreichender Verkehrserfah-rung handelt. Auswertungen des Modellversuchs habenergeben, dass es sich meistens um die Eltern der Fahran-fänger handelt. Das ist wiederum ein Wermutstropfen,weil das deutlich macht, dass nie mehr als 30 Prozent derZielgruppe dieses Projekt in Anspruch nehmen werden.Das liegt an der Entwicklung unserer Gesellschaft.Seit 2004 haben bereits 380 000 junge Frauen undMänner am „BF 17“ teilgenommen. 2008 nahmen be-reits 25 Prozent aller Fahranfänger der Führerschein-klassen B und BE am begleiteten Fahren teil. Derzeit ge-hört es fest zum Alltag der Familien in Deutschland. DieFrage, wann heute ein heranwachsendes Kind mit demMachen des Führerscheins anfängt, stellt sich automa-tisch im Alter von 17. Was als kontroverses verkehrspo-litisches Projekt begann, ist zur Lebenswirklichkeit inDeutschland geworden.In der Fahrschule lernen Jugendliche die theoreti-schen und praktischen Grundfertigkeiten zum Führen ei-nes Kraftfahrzeugs. Doch Routine und Erfahrung imUmgang auch mit schwierigen Verkehrssituationen kön-nen sich nur langfristig entwickeln. Die wenigen Mo-nate, die man Fahrstunden nimmt, sind dafür in der Re-gel nicht ausreichend.Das Unfallrisiko junger Fahrer ist deutlich überdurch-schnittlich: Die Gruppe der 18- bis 24-Jährigen ist diegefährdetste aller Altersgruppen im Straßenverkehr. Ob-wohl sie nur 8,3 Prozent der Gesamtbevölkerung darstel-len, beträgt ihr Anteil an den Verunglückten und Getöte-ten im Straßenverkehr 20 Prozent. Ein Grund hierfür– das haben wir festgestellt – ist die mangelnde Fahr-praxis. Das begleitete Fahren setzt hier an und schafftAbhilfe.Neben die professionelle Fahrschulausbildung wirdergänzend ein eigenständiges Vorbereitungselement ge-setzt. Die Jugendlichen haben länger Zeit, das Fahrenunter Aufsicht zu üben. Wir haben uns damals zum Zielgesetzt, dass man mindestens 500 Kilometer begleitet
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4312 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Gero Storjohann
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fahren sollte, damit es sinnvoll ist. Man sollte nicht ein-fach den Führerschein mit 17 Jahren erwerben, dannnicht mehr üben und nicht begleitet fahren, aber mit18 Jahren dann plötzlich selbstständig fahren. DieUntersuchungen haben ergeben, dass durchschnittlich2 400 Kilometer in Begleitung zurückgelegt werden.Auch das unterstreicht die Sinnhaftigkeit und die Rich-tigkeit unserer damaligen Entscheidung.Die Fahranfänger berichten, dass sie sich sichererfühlen. Darüber hinaus beruhigt es sie, dass sie für denErnstfall einen erfahrenen Autofahrer neben sich sitzenhaben. Auch die Eltern sind eine Sorge los. Wir habenalso nicht nur ein gesteigertes subjektives Sicherheits-empfinden, sondern die Zahlen der BASt belegen auchobjektiv eine Erhöhung der Verkehrssicherheit.Gegenüber den Fahranfängern, die ihre Fahrerlaubnisauf herkömmliche Weise erwarben, zeigten sich die Teil-nehmer am begleiteten Fahren verkehrssicherer. Sie be-gingen im ersten Jahr des selbstständigen Fahrens rund20 Prozent weniger Verkehrsverstöße und waren in22 Prozent weniger Unfälle verwickelt.Zu Beginn des Modellversuchs gab es kritische Stim-men, die hinterfragten, ob 17-Jährige verantwortungs-voll genug seien, um bereits einen Führerschein zu besit-zen. Die Bedenken haben sich nicht bewahrheitet.Deshalb sind wir froh, in diese Problematik eingestiegenzu sein und eine Lösung aufgezeigt zu haben. Daherbitte ich Sie um Unterstützung unseres Antrags.
Die Kollegin Kirsten Lühmann spricht für die SPD-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen! LiebeKolleginnen! Das Abwerfen eines Pkws aus zehn MeternHöhe soll einen Aufprall mit 50 km/h auf ein stehendesHindernis simulieren. – Die Deutsche Verkehrswachtsetzt beim Thema Verkehrssicherheit auf spektakuläreMittel, um junge Fahrerinnen und Fahrer für die Gefah-ren des Straßenverkehrs zu sensibilisieren. „Hast du dieGröße? Fahr mit Verantwortung!“ fordert der DeutscheVerkehrssicherheitsrat. Auch die bundesdeutsche Anti-raserkampagne „Runter vom Gas!“ will auf die dramati-schen Folgen zu schnellen Fahrens aufmerksam machen.Zahlreiche Maßnahmen in den letzten Jahren habendafür gesorgt, dass unsere Straßen sicherer gewordensind: 2007 hat die Große Koalition ein Alkoholverbot fürFahranfänger eingeführt. Im selben Jahr hat der frühereVerkehrsminister Tiefensee die Nachrüstung von Lkwmit besseren Spiegeln vorgeschrieben, um den totenWinkel zu vermindern. Bußgelder für gefährliche Ver-kehrsdelikte wurden erhöht, und die anfangs erwähntenVerkehrssicherheitskampagnen wurden in Zusammen-arbeit mit dem Verkehrsministerium weiter modernisiertund besser auf die Zielgruppen ausgerichtet.Der Erfolg dieser Maßnahmen kann sich sehen las-sen: Noch nie gab es auf Deutschlands Straßen so wenigVerkehrstote wie heute. Von mehr als 21 300 im Jahr1970 ist die Zahl auf 4 500 im Jahr gesunken. 2009 hatsich diese positive Entwicklung fortgesetzt. 4 050 Ver-kehrstote sind ein neuer Tiefstand. Bei den jungen Ver-kehrsteilnehmerinnen und -teilnehmern zwischen 18 und24 Jahren ist die Zahl der Getöteten ebenfalls gesunken,und zwar seit 1991 um 63 Prozent von 2 750 auf 1 010.Aber – das wurde bereits von meinem Vorredner ge-sagt – in keiner anderen Altersgruppe war und ist das Ri-siko, im Straßenverkehr zu verunglücken, derart hoch.Junge Fahrerinnen und Fahrer haben immer noch eindreifach höheres Unfallrisiko als alle anderen Alters-gruppen. Statistisch gesehen – ich habe es einmal an-dersherum aufgezäumt – verunglückt alle sechs Minutenein 18- bis 24-Jähriger, alle acht Stunden stirbt ein jun-ger Mensch dieser Altersgruppe an den Folgen einesVerkehrsunfalls. Gründe für das hohe Unfallrisiko jun-ger Fahrerinnen und Fahrer sind der Wunsch, sich zu be-weisen, Lebenseinstellungen und mangelnde Erfahrung,insbesondere bei der Risikoabschätzung, die sich zu ei-nem gefährlichen Mix vermengen.Es wird wahrscheinlich nie gelingen, die Risikoquotevon jugendlichen Fahranfängern auf die von älteren underfahrenen Autofahrern zu reduzieren. Trotzdem zeigeninternationale Studien und die positiven Entwicklungender Unfallzahlen in den letzten Jahren: Das unverhältnis-mäßig hohe Risiko der Fahranfänger muss nicht als un-vermeidlich hingenommen werden. Die zentrale Forde-rung der Unfallforschung lautet deshalb zu Recht: DieErteilung der Fahrerlaubnis darf nicht das Ende desLernprozesses sein, sondern es muss – im Gegenteil –der Anfang eines praxisorientierten Lernens werden.Ein jugendlicher Fahranfänger muss Erfahrungen sam-meln. Der Modellversuch „Begleitetes Fahren mit 17“ be-stätigt diese Forderungen der Unfallforschung. Er zeigteinen Weg, wie junge Fahrerinnen und Fahrer bereits vorihren ersten selbstständigen Autofahrten Fahrpraxis er-werben können. Sicher haben einige von uns die glei-chen Erfahrungen gemacht, die ich zurzeit mache.Unsere jüngste Tochter macht seit einem halben Jahr be-gleitet ihre ersten Fahrerfahrungen. Sie ist von dreiTöchtern die einzige, die dieses Angebot wahrgenom-men hat. Damit liegen wir leicht unter dem Schnitt. Nachden mir vorliegenden Zahlen nehmen 50 Prozent dasAngebot wahr. Herr Storjohann, ich habe da andere Zah-len als Sie. Nach der von Ihnen genannten Zahl würdenwir im Durchschnitt liegen; wir können uns aussuchen,welche Zahlen wir nehmen. Sowohl bei unserer Tochterals auch bei ihren Bekannten, die ebenfalls ihre Fahr-erlaubnis mit 17 Jahren machten, sind die Akzeptanzund die Einsicht in die Vorteile des begleiteten Fahrenserstaunlich hoch.Auch die uns vorliegenden Ergebnisse der Evaluationzum begleiteten Fahren sind ermutigend; die Zahlenwurden von meinem Vorredner genannt. Wir Sozialde-mokraten haben bereits früh auf diese Erkenntnis ge-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4313
Kirsten Lühmann
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setzt. Herr Storjohann, es scheint ein Kind mit mehrerenVätern oder Müttern zu sein. Jedenfalls hat der damaligeVerkehrsminister der rot-grünen Bundesregierung, KurtBodewig, im Mai 2002 bei der Bundesanstalt für Stra-ßenwesen eine Projektgruppe eingerichtet. Sie hatte denAuftrag, ein Modell zu erarbeiten, durch das jugendli-chen Fahranfängern der Start in das selbstständigeFahren erleichtert werden sollte. Auf dem 41. Verkehrs-gerichtstag im Januar 2003 wurden die Ergebnisse vor-gestellt und gefordert, die rechtlichen Voraussetzungenzu schaffen, damit interessierte Bundesländer loslegenkönnen.Der vorliegende Antrag der Regierungskoalition legtrichtig dar: „Begleitetes Fahren mit 17“ ist ein Erfolgs-modell. Es muss in das Dauerrecht überführt werden.Aber mit diesen uns vorliegenden Befunden sind dieFragen zur Wirksamkeit des begleiteten Fahrens mit 17noch nicht abschließend geklärt. Der Evaluationszeit-raum ist einfach zu kurz. Die statistischen Zahlen sindermutigende Trends. Ob sich die Zahlen verstetigen,bleibt abzuwarten. Wir fordern deshalb, die Beobach-tung der Folgen weiterzuführen, um zu prüfen, ob einelängerfristige Wirksamkeit des begleiteten Fahrens indem Maße, wie wir es jetzt sehen, gegeben ist.Ihr Antrag hat noch einen weiteren Schönheitsfehler:„Begleitetes Fahren mit 17“ ist ein Ausbildungsweg, dervon Jahr zu Jahr von immer mehr Jugendlichen genutztwird, aber eben nur von der Hälfte derjenigen, die dies inAnspruch nehmen können. Wie wollen Sie die Jugendli-chen erreichen, die sich nicht daran beteiligen wollenoder können, weil sie zum Beispiel niemanden als Bei-fahrer benennen können? Das sind wahrscheinlich genaudie jungen Fahrenden mit dem überproportionalen Un-fallrisiko. Gerade sie hätten es nötig, unter AufsichtFahrpraxis vermittelt zu bekommen. Wir fordern Sie auf,Impulse und Ideen zu diesem Thema vorzulegen.Ich möchte, dass verkehrsauffällige junge Fahrer undFahrerinnen dazu verpflichtet werden, an speziellenFahrsicherheitstrainings teilzunehmen. Dazu gehörenzum Beispiel Fahrübungen, die den Teilnehmenden zei-gen, welche Risiken das Fahren bei herabgesetztemReibwert, zum Beispiel bei starkem Regen oder Schnee-fall, mit sich bringt. Die zurzeit üblichen Fahrproben beiNachschulungen von Heranwachsenden mit Fahrerlaub-nis auf Probe stellen doch eher Placebos dar und eignensich kaum für Erfahrungsgewinn oder eine dauerhafteBewusstseinsänderung.In dem zweiten uns vorliegenden Antrag fordern Sie,den Erwerb von Zweiradführerscheinen zu erleichtern.Es geht dabei um die Umsetzung der Dritten EG-Führer-schein-Richtlinie. Die in dem Gesetzentwurf vorgeschla-genen Erleichterungen beim Erwerb von Zweiradfahr-erlaubnissen unter bestimmten Bedingungen bewertenwir positiv. Personen, die im motorisierten Straßenver-kehr Erfahrungen vorweisen können, unbürokratischerden Erwerb von weiteren Fahrerlaubnisklassen zu er-möglichen, ist sinnvoll und birgt keine zusätzlichen Ge-fahren im Straßenverkehr.Diese EU-Richtlinie führt unter anderem eine neueFahrerlaubnisklasse AM für das Führen zweiräderigerKleinkrafträder ein. Das entspricht dem Mopedführer-schein, der frühestens mit 16 Jahren erworben werdenkann. Die Richtlinie ermöglicht das Herabsetzen der Al-tersgrenze auf 14 Jahre, verpflichtet uns aber nicht dazu.Sie fordern die Herabsetzung auf 15 Jahre. Mit dieserForderung haben wir Probleme. Sie mögen mir jetzt vor-werfen, durch meine langjährige Tätigkeit als Polizeibe-amtin sei ich in diesem Punkt einseitig geprägt. Sie ha-ben recht. Ich habe zu viele tödlich verunfallte jungeZweiradfahrer gesehen und ihren Eltern die schrecklicheNachricht überbracht. Aber meine Erfahrungen sind lei-der nicht einseitig, sondern decken sich mit den Ein-schätzungen von Fachleuten. Der Deutsche Verkehrs-sicherheitsrat und die Deutsche Verkehrswacht gehendavon aus, dass die Unfallzahlen steigen werden, wenndas Mindestalter herabgesetzt wird. Jugendliche in die-sem Alter haben bereits ein erhöhtes Unfallrisiko.Der Mofaführerschein, der in vielen Bundesländernein fester und wichtiger Bestandteil der schulischen Ver-kehrserziehung ist, erfüllt unserer Ansicht nach völligden Zweck, Jugendliche behutsam an das motorisierteFahren heranzuführen. Das Mofa ist ausreichend, umauch im ländlichen Raum Mobilität für Jugendliche biszu einem Alter von 16 Jahren sicherzustellen. In Öster-reich, wo die Altersgrenze bereits herabgesetzt wurde,haben sich die Mopedunfälle bei 15-Jährigen in einemZeitraum von zehn Jahren vervierzehnfacht. Solche Risi-ken sind nicht hinzunehmen. Wir sollten im Ausschussinsbesondere über diesen Punkt noch einmal eingehenddiskutieren, auch im Sinne der Verkehrssicherheit undder jungen Menschen.Danke schön.
Der Kollege Oliver Luksic hat jetzt das Wort für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir beraten mit diesen beiden Anträgen heute überwichtige Verbesserungen des Straßenverkehrsrechts. Ichfreue mich, dass es der Koalition gelungen ist, gleichmehrere sinnvolle und richtige Punkte in die Anträgeaufzunehmen. Wir wollen und werden mit diesen Maß-nahmen zwei Dinge erreichen: erstens mehr Sicherheit,sowohl für die Fahrerinnen und Fahrer selbst als auch fürdie anderen Verkehrsteilnehmer, und zweitens mehr Mo-bilität, insbesondere für junge Verkehrsteilnehmer inländlichen Gebieten. Wir wollen mit unserer Initiativejunge Menschen mobiler machen.
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4314 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Oliver Luksic
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Lassen Sie mich zunächst auf unseren Antrag zum be-gleiteten Fahren mit 17 eingehen. Als Saarländer habeich schon immer ein wenig neidisch über die Grenzenach Frankreich geschaut, wo das schon lange erlaubtist. Seit 1983 gibt es dort conduite accompagnée. Es hatsich dort genauso bewährt, wie wir das auch fürDeutschland vorhergesagt haben. Es hat sich als sinnvollerwiesen, die langjährige Forderung der Liberalen nacheiner Einführung in Deutschland umzusetzen. Auf Län-derebene ist dies bereits umfassend geschehen.Wenn man sich die Evaluationsergebnisse der BASt,der Bundesanstalt für Straßenwesen, zu diesem Modell-versuch der Länder anschaut, dann muss man sagen,dass die Fakten positiv sind. Allein die hohe Anzahl derTeilnehmer – 380 000 seit 2004, jedes Jahr steigend –zeigt, dass die Bereitschaft der Jugendlichen zur frühenAusbildung hoch ist. Wichtiger aber ist, dass es 22 Pro-zent weniger Unfälle und 20 Prozent weniger Verkehrs-verstöße im Vergleich zu den Jugendlichen gibt, die ih-ren Führerschein ohne die begleitete Phase erwerben.Ich glaube, diese Zahlen sprechen für sich. Sie machendeutlich: Die Verkehrssicherheit wird dadurch deutlicherhöht, dass die jugendlichen Fahrer früher und in Be-gleitung an den Verkehr herangeführt werden.
Besonders erfreulich ist – das zeigt die Evaluation –,dass die positiven Effekte auf das Fahrvermögen derFahranfänger nicht nur kurzfristig sind, sondern dauer-haft wirken.
All diese Punkte zeigen uns, dass der Modellversucherfolgreich war und ist und ins Dauerrecht überführtwerden sollte. Ich kann die Kolleginnen und Kollegender Opposition nur auffordern, dem Antrag zuzustim-men. Ich glaube, die Fakten sprechen für sich. Wirmachen mit diesem Antrag einen wichtigen Schritt zurStärkung der Fahrausbildung. Natürlich gibt es darüberhinausgehend noch Verbesserungsmöglichkeiten. Esstimmt natürlich, dass mehr Jugendliche daran teilneh-men müssen. Man kann zumindest darüber nachdenken,wie in Österreich eine zweite Stufe einzuführen, wennder Führerschein dadurch nicht teurer wird.Neben dem begleiteten Fahren widmen wir uns heuteim Rahmen der Umsetzung der Dritten EG-Führer-schein-Richtlinie auch Neuregelungen bei den Zweirad-führerscheinen. Es ist gut und richtig, dass die Bundes-regierung diese Richtlinie frühzeitig in deutsches Rechtumsetzt.Die beiden Hauptziele dieser Neuregelung sind: Er-halt und Verbesserung der Sicherheit im Straßenverkehrsowie Entbürokratisierung und Erleichterung beim Er-werb von Zweiradführerscheinen. Für uns ist klar:Erfahrene Fahrer dürfen beim Aufstieg innerhalb dereinzelnen Motorradklassen nicht mit Fahranfängerngleichgestellt werden.
Beim Aufstieg in den neuen Klassen – von A1 nachA2 und von A2 nach A – kann man wohl davon ausge-hen, dass nach zwei Jahren nur noch eine Einweisungund eine praktische Prüfung erforderlich sind; die theo-retischen Kenntnisse sind dann offensichtlich vorhan-den.Auch für Inhaber des alten Führerscheins der Klasse 3– diese Klasse enthält die Genehmigung für das Führenvon Krafträdern bis 125 Kubikzentimeter Hubraum, alsoder neuen Klasse A1 – macht die Koalition etwas Sinn-volles: Es wäre ungerecht, diese Verkehrsteilnehmerbeim Aufstieg in die Klasse A2 zu benachteiligen. Dahersind eine praktische Prüfung und eine Überprüfung derfür die Klasse A2 spezifischen Kenntnisse ausreichend.Bei der Führerscheinklasse AM, der neuen Moped-klasse, wollen wir die Möglichkeit, die uns die EU-Richtlinie gibt, nutzen und wie zahlreiche andere euro-päische Länder, beispielsweise Österreich und Frank-reich, vom Mindestalter, das in der Richtlinie vorge-schlagen wird, abweichen. Was den Vergleich vonZahlen angeht, muss man sagen: Wenn die Jugendlichenvorher noch nicht fahren durften, ist es klar, dass dieVergleichszahlen gestiegen sind, Frau Lühmann. DieMobilität junger Menschen, gerade in Flächenländern,wird – das ist einer der Hauptaspekte – deutlich gestärkt.Das wollen wir als Koalition.
Auch unter dem Aspekt der Verkehrssicherheit ist dieAbsenkung des Mindestalters um ein Jahr nicht so pro-blematisch, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag.
Der Erwerb des neuen Mopedführerscheins setzt näm-lich eine solide Ausbildung voraus. Ein gut ausgebilde-ter 15-Jähriger auf einem Zweirad der Klasse AM stelltim Vergleich zu einem 15-Jährigen auf einem Mofa– diese dürfen sich derzeit mit weniger Ausbildung aufder Straße bewegen – keine Bedrohung der Verkehrs-sicherheit dar. Im Gegenteil: Verantwortungsvolles Ver-halten im Straßenverkehr kann durch die Absenkung desMindestalters auf 15 Jahre bereits ein Jahr früher erlerntund gefestigt werden. Das ist gut für die Verkehrssicher-heit. Wer sich anschaut, welche Faktoren bei Unfällen15- bis 18-Jähriger mit Zweirädern eine Rolle spielen– unangemessene Geschwindigkeit, Fehler bei der Vor-fahrt und beim Wenden und Abbiegen –, sieht, dass dasalles Punkte sind, an denen durch eine bessere Ausbil-dung gearbeitet werden kann.Wenn unsere Argumente Sie nicht überzeugen, willich darauf hinweisen, dass der Verkehrsminister vonMecklenburg-Vorpommern, SPD, das, was wir vorschla-gen – Mopedführerschein AM mit 15 –, ebenfalls befür-wortet. So falsch kann das, was wir vorschlagen, alsonicht sein.
Lassen Sie mich abschließend sagen, dass wir mitdem begleiteten Fahren mit 17 und mit den Erleichterun-gen beim Erwerb von Zweiradführerscheinen die Sicher-heit auf der Straße stärken und die Mobilität insbe-sondere junger Menschen verbessern. Das sind die
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4315
Oliver Luksic
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Leitlinien unserer Arbeit zur Verbesserung der Sicher-heit im Straßenverkehr, jetzt und in der Zukunft.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Thomas Lutze hat das Wort für die Fraktion Die
Linke.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-
legen! Ich bin sehr dankbar, dass wir heute trotz der Ban-
ken- und Euro-Krise einmal über vermeintlich irdische
Themen reden können.
Es geht im Grundsatz darum, inwieweit Jugendliche
unter 18 Jahren die volle Verantwortung für ihr Handeln
im Straßenverkehr übernehmen können. Uns Erwachse-
nen erscheint diese Frage auf den ersten Blick vielleicht
nebensächlich. Junge Menschen sind jedoch in großer
Erwartung, ein Fahrzeug selbst steuern zu können. Viele
zählen die Wochen und Tage, bis sie endlich – von links
im Übrigen – einsteigen können. Mir ging es vor rund
zwanzig Jahren nicht anders.
Zu den Anträgen. Sie beantragen unter anderem, dass
das Fahren mit 17 in Begleitung eines Erwachsenen bun-
desweit umgesetzt wird. Als Linke stimmen wir dem
ohne Vorbehalt zu. Alle Pilotprojekte – auch die in dem
Bundesland, aus dem der Kollege von der FDP und ich
kommen – haben gezeigt, dass die öffentlich geäußerten
Vorbehalte der Vergangenheit offensichtlich gegen-
standslos sind. Selbst die Versicherungskonzerne – die ja
bei der Versicherung junger Fahrzeugführerinnen und
Fahrzeugführer besonders sensibel, genauer gesagt:
teuer, sind – geben mittlerweile Beitragsnachlässe, wenn
ein Jugendlicher an diesem Programm teilgenommen
hat.
Im Antrag mit dem Titel „Erwerb von Zweiradführer-
scheinen erleichtern“ sind auch die Punkte 1 und 3 un-
strittig. Wer mehrere Jahre Fahrpraxis hat, sollte einen
erleichterten Zugang zu einer höherliegenden Führer-
scheinklasse erhalten. Die Anforderungen an die theore-
tischen Kenntnisse sind beim Erwerb eines Führer-
scheins für einen Motorroller oder ein Motorrad nicht
viel anders. Die Praxis ist, das ist richtig dargestellt, sehr
verschieden.
Bei der Herabsetzung der Altersgrenze für die Nut-
zung von Zweirädern sind wir nicht so optimistisch wie
die Antragstellerinnen und Antragsteller. Mehrere ein-
flussreiche Organisationen sagen, dass das Unfallrisiko
bzw. die Unfallgefahr und damit die Gefahr von schwe-
ren Verletzungen in der genannten Altersgruppe beson-
ders hoch sind. Allen ist bekannt, dass selbst ein kleiner
Unfall mit einem Zweirad ganz andere körperliche Fol-
gen haben kann als ein vergleichbarer Unfall mit einem
Pkw. Zweiräder haben bekanntlich keine Knautschzone,
dafür ist aber – das betrifft jetzt genau junge Leute – der
Spaßfaktor deutlich höher als bei einem Pkw.
Ein wichtiger Faktor ist hier die sogenannte Risikobe-
reitschaft. Ob ein 14- oder 15-Jähriger das Risiko immer
richtig einschätzen kann, bezweifelt nicht nur die Linke.
Wir plädieren dafür, dies im Ausschuss noch einmal un-
aufgeregt zu debattieren.
Dennoch, liebe Kolleginnen und Kollegen vor allen
Dingen von der Union, wenn Sie hier und heute Ihre An-
träge auf Herabsetzung der Altersgrenzen ernst meinen,
wovon ich einmal ausgehe, dann geben Sie doch viel-
leicht auch an anderer Stelle, zum Beispiel bei der He-
rabsetzung des Wahlalters, Ihren Widerstand auf.
Wer es als 16- oder 15-Jähriger schafft, eine nicht ganz
einfache Fahrprüfung zu bestehen, der kann auch die
Politik von CDU und Linken verantwortungsbewusst
unterscheiden.
Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Winfried Hermann
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen undHerren! Ich hätte meine Rede jetzt fast damit eröffnenkönnen, dass wir selten so undogmatisch diskutiert ha-ben wie heute und dass es einen fraktionsübergreifendenKonsens und keine Ideologie mehr gibt. Durch denSchlusssatz des Kollegen Lutze wird dann aber doch ge-zeigt, dass es immer noch einen Drive gibt, irgendetwasPolitisches für eine bestimmte Richtung herauszuholen.Ich glaube, über die heute zu behandelnden Themenkann man wirklich sachlich diskutieren, und das habenauch alle Rednerinnen und Redner getan.Ich denke, dass es eine große Übereinkunft darübergibt, dass sich dieser fünfjährige Modellversuch „Be-gleitetes Fahren ab 17“ gelohnt hat. Ich fand es auchrichtig, dass wir ihn unternommen haben und dass mandas in allen Bundesländern ausprobiert hat. Die Ergeb-nisse sind sehr positiv. Die Unfallzahlen – das haben allein ihren Reden belegt – sind deutlich zurückgegangen.Das ist für mich und für uns die Hauptbegründung, umzu sagen: Das ist ein gutes Modell; lasst uns das jetzt ineinem Gesetz umsetzen. – Ich glaube, dafür gibt es aucheine breite Unterstützung.
Das ist übrigens auch ein schönes Beispiel dafür, dassman jungen Menschen tatsächlich mehr Verantwortungübertragen und mehr Mobilität ermöglichen kann undtrotzdem nichts an Sicherheit verliert, sondern im Ge-genteil: Diese Methode ist sicherer als die Methode, dass
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4316 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Winfried Hermann
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man mit 18 Jahren den Führerschein machen und danneinfach unbegleitet losfahren kann.An dieser Stelle will ich kritisch anmerken: Wir soll-ten uns auch Gedanken darüber machen, wie wir diedrastisch hohen Unfallzahlen – sie sind überdurchschnitt-lich hoch – bei den 18- bis 25-jährigen Fahranfängern re-duzieren können. Besonders auffällig ist, dass es über-wiegend junge Männer sind und dass überwiegend zuschnell gefahren wird. Verantwortlich dafür ist also dieKraftmeierei, in jungen Jahren zu glauben, man könnebeim Fahren fliegen. Das geht dann meistens schief, weilman dann zwar tatsächlich fliegt, aber gegen den Baum.Ich glaube, diese Herausforderung müssen wir anneh-men.In dem zweiten Antrag, den wir behandeln, geht esum die Erleichterung beim Erwerb eines Führerscheinsfür Zweiräder. Ich glaube, auch das ist bürokratisch sehrviel einfacher und zu rechtfertigen; das ist eine gute Re-gelung. Auch diese werden wir unterstützen.Beim vierten Punkt in diesem Antrag geht es um dieErleichterung beim Erwerb eines Mopedführerscheinsdurch das Herabsetzen des Alters auf 15 Jahre. Das istaus unserer Sicht problematisch.Hier möchte ich gerne auch noch einmal an Sie alleappellieren. Sie haben hinsichtlich des begleiteten Fah-rens darauf hingewiesen, dass es einen Sicherheitsge-winn gebracht hat, und Sie haben Statistiken bemüht,also haben Sie sie sich auch angeguckt. Bei einem Blickin die Statistiken ist es unübersehbar, dass die 10- bis15-Jährigen und die 15- bis 25-Jährigen Hochrisikogrup-pen im Verkehrswesen sind. Selbst diejenigen, die nochkein Moped oder Mofa haben, verunfallen relativ häufigim Straßenverkehr durch zu schnelles Fahren mit demRad. Es ist ein Problem, dass sich diese jungen Men-schen ihrer Verantwortung noch nicht bewusst sind
und sich schwertun, die Geschwindigkeit und die Folgenim Straßenverkehr einzuschätzen. Damit tun sie sich ex-trem schwer.Deswegen glauben wir, dass es nicht zu verantwortenist, in diesem Wissen das Mindestalter zu senken, zumaldie Europäische Union ein Mindestalter von 16 Jahrenals Regelfall ansieht; Ausnahmen sind möglich.Ich darf Sie, liebe Koalitionäre, daran erinnern, dassSie sonst immer das EU-Recht eins zu eins umsetzenwollen. Jetzt, wo Sie die Möglichkeit dazu hätten, wol-len Sie es lockern. Ich glaube, dass das eher als Zuschlagan die Branche zu verstehen ist. Sie haben die verschie-denen Forderungen in Ihrem Antrag begründet. Erstaun-licherweise haben Sie aber genau diesen Punkt nicht be-gründet. Sie hätten ihn auch nicht begründen können.Denn der einzige Grund dafür ist, dass sich die Lobbyder zweiradproduzierenden Industrie mehr Kundschaftwünscht.
Ich finde, das ist das schwächste Argument.Sicherheit geht vor. Lassen Sie uns darüber noch ein-mal im Ausschuss verhandeln. In den anderen Punktenkönnen wir uns selbstverständlich einigen, und vielleichtist das auch in diesem Punkt möglich.Danke schön.
Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Thomas Jarzombek für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich binsehr erfreut, zusammenfassend festzustellen, dass fastalle unsere Vorschläge in diesem Hause einen breitenKonsens finden. Der einzige Punkt, in dem es offensicht-lich unterschiedliche Einschätzungen gibt, ist das Min-destalter für den Erwerb der Fahrerlaubnis derKlasse AM, das wir von 16 auf 15 Jahre senken wollen.Das hier skizzierte Problem ergibt sich nicht unbe-dingt erst durch motorisierten Verkehr. Mein Fundstückfür heute ist ein Zitat, das von dem Schriftsteller MarkTwain überliefert ist, der in seiner Jugend unter anderemauf einem großen Mississippi-Dampfer als Schiffsjungegearbeitet und dort ausgiebig das Fluchen gelernt hat.Jahre später, als Mark Twain bereits verheiratet war, ka-men Fahrräder auf. Der Dichter befasste sich sofort mitdiesen neuartigen Vehikeln, kehrte aber von seiner erstenAusfahrt reichlich mitgenommen zurück. Seiner Frau er-klärte er sofort, er wisse jetzt erst richtig, was Fluchenheiße. „Aber du hast mir doch versprochen, nicht mehrzu fluchen“, warf ihm seine Frau vor. „Ich habe ja auchgar nicht geflucht“, erwiderte Mark Twain, „das taten dieLeute, die ich über den Haufen gefahren habe“.
Insofern braucht es – das hat der Ausschussvorsitzendegut skizziert – dafür zuweilen gar keine Motorisierung.Wir wollen dennoch gerade in den ländlichen Räu-men mehr Mobilität für Jugendliche, auch für 15-Jäh-rige. Es gibt einige gute Argumente, die dafürsprechen.Mit dem Mofaführerschein ab 15 sind wir in Deutsch-land relativ konservativ. Andere Länder nutzen die EU-Richtlinien anders aus. Italien und Spanien zum Bei-spiel, die schon eher als heißblütig angesehen werdenkönnen, erlauben das Mopedfahren bereits ab 14 Jahren.Die BASt hat festgestellt, dass gerade im Bereich derMopeds auch unsere Maßnahmen für mehr Verkehrssi-cherheit getragen haben. Die Zahl der Verkehrstoten indiesem Bereich ist um 10 Prozent zurückgegangen.Die Zahlen, die wir aus Österreich hören, finde ich,ehrlich gesagt, wenig nachvollziehbar. Wie kann sich dieZahl der Verkehrsunfälle vervierzehnfachen, wenn dasFahren ab 15 vorher gar nicht erlaubt war und man des-halb eigentlich von null ausgehen muss? Das ist mit mei-
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Thomas Jarzombek
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nem mathematischen Verständnis nur bedingt kompati-bel.
Ein weiterer Punkt ist die Frage nach dem heutigenStatus quo bei den 15-Jährigen; denn sie dürfen schonmotorisiert fahren, nämlich mit einem 25 km/h schnellenMofa. Winfried Hermann fährt neuerdings auch ein25 km/h schnelles Pedelec ohne irgendwelche Auflagen,ohne Einweisung und Prüfung.
Ich habe gehört, dass bei manchen Jugendlichen derWunsch aufkommt, diese Geräte, wie es neudeutschheißt, zu pimpen, also die Geschwindigkeit zu erhöhen.Dem setzen wir an dieser Stelle eine deutlich bessereAusbildung entgegen: einen richtigen Führerschein mitallem Drum und Dran.Dies bringt mich zu dem nächsten Punkt: Als hier voreinigen Jahren über die Frage diskutiert wurde, wie esmit der Sicherheit des begleiteten Autofahrens ab 17 sei,gab es von der BASt ebenfalls große Bedenken, was dieVerkehrssicherheit anbetrifft. Sie sehen, dass diese Be-fürchtungen sich überhaupt nicht erfüllt haben. Im Ge-genteil, wir alle haben heute festgestellt, dass dies einegroße Erfolgsgeschichte für uns ist. Am Ende ist sichauch die Landschaft in den Verbänden nicht einig. Ge-nauso viele, wie dagegen sind, sind auch dafür. Nicht zu-letzt haben wir gestern noch mit dem ADAC gespro-chen, der uns gesagt hat: Wir erkennen zumindest keinenFortschritt in der Sicherheit, weshalb wir nicht dafürsind; aber ob es unbedingt schlechter wird, wissen wirhalt auch nicht.Mein letzter Punkt: Ganz unabhängig von diesemThema können wir gemeinsam noch eine ganze Mengemachen, was die Fahrsicherheit gerade im Bereich derMopeds und der Jugendlichen betrifft. Ein Themakönnte zum Beispiel sein, hier mehr ABS zu etablierenund, was eben auch die Kollegin von den Sozialdemo-kraten angesprochen hat, noch mehr Motivation fürFahrsicherheitstrainings zu finden, was für die jungenLeute sicherlich eine wirklich hilfreiche Sache ist, diewir fördern müssen.Deshalb danke ich Ihnen, dass Sie an so vielen Stellenzustimmen. Ich hoffe, dass Sie sich eine Zustimmungzur Klasse AM noch überlegen; denn Sie wollen mit Si-cherheit nicht, dass man hinterher sagt, dass unsere Ju-gendlichen flotter unterwegs sind als die Opposition.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/1573 und 17/1574 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Christoph Strässer, Angelika Graf ,
Iris Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD
Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpakt über ein
Individualbeschwerdeverfahren ratifizieren
– Drucksache 17/1049 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe,
damit sind Sie einverstanden. Dann können wir so ver-
fahren.
Ich eröffne die Aussprache. Als erster Redner hat der
Kollege Ullrich Meßmer für die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! AlbertEinstein hat einmal gesagt:Ein Großteil der Geschichte ist erfüllt vom Kampfum die Menschenrechte, einem ewigen Streit, beidem niemals ein endgültiger Sieg zu erringen ist.Aber in diesem Kampf zu ermüden, würde den Un-tergang der Gesellschaft bedeuten.Diese Aufforderung gilt bis heute, und sie wird auch inZukunft gelten. Besonders in Zeiten der Globalisierungsind arbeitende Menschen auf international gültige Re-geln angewiesen, und sie brauchen verbindliche, ja, ga-rantierte Rechte, die sie auch nach Ausschöpfung des na-tionalen Beschwerdewegs erstreiten können, nicht nur inanderen Ländern, sondern sicherlich auch bei uns inDeutschland.
WSK-Rechte, die im UN-Sozialpakt festgeschriebensind, schützen weltweit Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen, sozialen undkulturellen Rechte. Ich sage: Das ist gut so in einer Welt,die, wie wir zurzeit erleben, von einem starken Finanz-kapitalismus getrieben ist. Dort müssen sich die Men-schen auch wiederfinden.
Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hatnun, exakt 60 Jahre nach der Allgemeinen Erklärung derMenschenrechte, das Zusatzprotokoll zum UN-Sozial-pakt über ein Individualbeschwerdeverfahren angenom-men. Ein prominenter Termin, meine Damen und Her-ren, für ein nicht weniger prominentes Anliegen; dennerst durch das Zusatzprotokoll wird der UN-Sozialpakt,
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Ullrich Meßmer
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werden die sogenannten WSK-Rechte den bürgerlichenund politischen Rechten gleichgesetzt.Erst wenn der Zugang zu entsprechenden individuel-len Beschwerdemechanismen sichergestellt ist, erfülltsich der allgemein anerkannte Grundsatz der Unteilbar-keit und der Interdependenz aller Menschenrechte.
Das Zusatzprotokoll tritt dann in Kraft, wenn es zehnStaaten ratifiziert haben. 31 haben es bislang unterzeich-net, darunter zehn aus Europa. Bedauerlicherweise zähltDeutschland nicht dazu. Dabei hat Deutschland das Zu-standekommen des UN-Sozialpakts konstruktiv begleitetund auch bei den internationalen Verhandlungen überdas Fakultativprotokoll aktiv und konkret mitgearbeitet.Umso erstaunlicher ist das jetzige Zögern.
Die aktive Rolle Deutschlands zeigt sich nicht zuletzt da-rin, dass es bisher alle Kernabkommen des UN-Men-schenrechtsschutzes anerkannt hat, alle Fakultativproto-kolle zum UN-Sozialpakt – mit Ausnahme des erwähntenZusatzprotokolls – unterzeichnet hat und sich weltweitim Bereich der WSK-Rechte engagiert.Auch im Vorfeld der bereits unterzeichneten Abkom-men und Zusatzprotokolle gab es viele Diskussionen und– genauso wie in anderen Ländern – immer wieder Be-denken. Vor allen Dingen wird vor einer drohenden Be-schwerdeflut gewarnt. Wenn wir uns ansehen, wie es inder Vergangenheit war, können wir überprüfen, ob es tat-sächlich eine Beschwerdeflut gegeben hat. Ich meine,dass bei ganzen 22 Individualbeschwerdeverfahren ge-gen die Bundesrepublik Deutschland in den letzten Jah-ren von einer Beschwerdeflut oder einer überbordendenZahl an Beschwerden weiß Gott keine Rede sein kann.Wenn man die Analyse fortsetzt, stellt man fest, dass da-von 17 Verfahren abgewiesen, zwei Verfahren abgebro-chen wurden und es sich bei einem Verfahren um einenicht festgestellte Rechtsverletzung handelt. Am Endebleibt eine einzige tatsächlich bewiesene Rechtsverlet-zung aufgrund einer Individualbeschwerde übrig. Werangesichts dessen behauptet, es gebe eine Beschwerde-flut oder es werde mit dem Ausland Politik gegen das In-land gemacht, irrt sich. Die Zahlen geben das insgesamtnicht her.
Man kann das aber auch beispielhaft an dem UN-Über-einkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskrimi-nierung der Frau sehen. Hier hat Deutschland das Zu-satzprotokoll über ein Individualbeschwerdeverfahrenratifiziert. Aber viel entscheidender ist: Bereits hier sinddie WSK-Rechte in Form von sozialen Rechten enthal-ten. Zur befürchteten Beschwerdeflut darf man feststel-len: Es gab eine einzige Beschwerde, und diese wurdedann als unzulässig abgewiesen. Vor dem Hintergrunddieser Erfahrung kann von einer Beschwerdeflut weißGott keine Rede sein.Die Gegner einer Ratifizierung führen immer wiederan, die WSK-Rechte seien teilweise so unbestimmt for-muliert, dass internationale Kontrollinstanzen daraus fal-sche Schlussfolgerungen bei einem Abgleich zum Bei-spiel mit dem deutschen Arbeits- und Sozialrecht ziehenkönnten. Zudem wird befürchtet, dass Organisationendiese Beschwerdeverfahren oft nutzen, um eigene Zielezu verfolgen und zu befördern, die nicht im Einklang mitdem Beschwerdeverfahren und den WSK-Rechten ste-hen. Ich will gar nicht bestreiten, dass wir uns mit eini-gen Konfliktfeldern zu befassen haben. So wird zumBeispiel in der Diskussion das WSK-Recht auf freie ge-werkschaftliche Betätigung als eine Gefahr für dasStreikverbot für Beamte in Deutschland gesehen. Nichtalle, aber viele sehen dieses Streikverbot als Anachronis-mus. Auch ich persönlich finde, dass es sich hier um ei-nen Anachronismus in Europa und damit eher um ein in-nenpolitisches Thema handelt.
Oder es wird angeführt, dass das WSK-Recht auf un-gehinderten Zugang zu Bildung im Widerspruch zurEinführung von Studiengebühren in einigen Bundeslän-dern stehen könnte. Ich will an dieser Stelle sehr deutlichsagen: Ich sehe das genauso wie eine Reihe von Bundes-ländern, die dafür zuständig sind. Hessen und das Saar-land haben die Studiengebühren abgeschafft, sodass einsolches Verfahren erst gar nicht nötig werden wird.
Angesichts der Tatsache, dass dieses individuelle Be-schwerdeverfahren erst möglich wird, wenn der gesamteRechtsweg in Deutschland ausgeschöpft ist, was bei unsauch den Gang zum Bundesverfassungsgericht, in daswir alle ein sehr hohes Vertrauen haben – das gilt auchfür die Anerkennung weltweiter Rechte –, einschließt,kann man sagen, dass die Unterzeichnung dieses Ab-kommens nicht dazu führen würde, dass wir insgesamtmehr Beschwerdeverfahren bekämen und dass sich dieBundesrepublik Deutschland blamieren könnte. Ich weißallerdings auch, dass wir die innenpolitische Diskussiondarüber führen müssen.Warum riskieren wir eigentlich in dieser Frage deninternationalen Ruf Deutschlands, gerade wenn es über-wiegend um die Rechte der Leistungsträger der Gesell-schaft geht, nämlich um die Rechte der Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer in der Gesellschaft?
Haben nicht die Erfahrungen mit den bereits bestehen-den Individualbeschwerdemechanismen deutlich ge-zeigt, dass Deutschland wegen seines Rechtssystemsund seines im internationalen Vergleich durchaus gutenSozialsystems keine Sorge vor einer Klageflut habenmuss? Aus meiner Sicht ergeben sich aus der Ratifizie-rung des Zusatzprotokolls keinerlei neue Verpflichtun-gen über jene hinaus, zu denen sich Deutschland als Ver-tragsstaat des UN-Sozialpakts ohnehin verpflichtet hat.Deshalb würde ich gerne denen, die zweifeln und zö-gern, mit Erlaubnis der Frau Präsidentin ein Zitat vortra-gen.
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Herr Kollege, bitte das Zitat als Schlusswort, weil Sie
die Redezeit schon überschritten haben.
Ich möchte einen Konservativen zitieren, der alles
Notwendige zu dem gesagt hat, wohin auch wir mit un-
serem Antrag kommen müssen:
Es ist besser, unvollkommene Entscheidungen
durchzuführen, als beständig nach vollkommenen
Entscheidungen zu suchen, die es niemals geben
wird.
Diesen Rat hat uns niemand anderer als Charles de
Gaulle gegeben. Diesem Rat folgen wir mit unserem An-
trag.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun der Kollege Jürgen Klimke für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-legen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir sprechenheute über ein Thema, das jeden Zuschauer und jede Zu-schauerin, jeden Zuhörer und jede Zuhörerin interessiert.Es ist ein wichtiges Thema. Nur, ich bin nicht ganz si-cher, ob auch nach den Ausführungen von HerrnMeßmer zum Beispiel unsere Gäste auf der Zuschauer-tribüne wirklich verstehen, worum es überhaupt geht.Vielleicht darf ich versuchen, den Sachverhalt aus mei-ner Sicht kurz darzustellen.Wir behandeln die Frage, inwieweit es künftig jedemDeutschen möglich ist, vor internationalen Gerichtenpersönlich zu klagen, sein eigenes Recht dann internatio-nal einzufordern, wenn insbesondere soziale und kultu-relle Rechte vom deutschen Staat nicht anerkannt odereingeschränkt werden und vor deutschen Gerichten nichtdurchsetzbar sind. Diese neue Klageoption wird dannmöglich sein, wenn alle deutschen und europäischen Ge-richte das eigene Anliegen abgelehnt haben. Jeder hatdann eine weitere Option, die eigenen Rechte durchzu-setzen. Damit diese Erweiterung gelingen kann, mussDeutschland ein sogenanntes Fakultativprotokoll zu deminternationalen UN-Sozialpakt unterzeichnen. Darumgeht es. Die SPD fordert eine rasche Unterzeichnung.Ich möchte Ihnen erklären, warum diese Zeichnung,wenn sie übereilt erfolgt, kontraproduktiv ist. Mit Zu-stimmung der Präsidentin darf ich dazu aus einem Briefzitieren. Dieser Brief wurde am 3. September 2009 vonden ehemaligen SPD-Bundesministern für Arbeit undSoziales sowie für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung, Olaf Scholz und Heidemarie Wieczorek-Zeul, geschrieben. Der Brief der Minister ist eine Ant-wort auf ein Schreiben der Generalsekretärin von Amne-sty International Deutschland, Dr. Monika Lüke. Darinwird Folgendes festgestellt: „Wir bitten Sie daher umVerständnis, dass die Bundesregierung ihre Prüfungnoch nicht in einem Zeitraum abschließen kann, der ihreine Zeichnung des Fakultativprotokolls noch im Sep-tember erlauben würde. Das schließt aber eine Zeich-nung zu einem späteren Zeitpunkt nicht aus.“ –
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, insbe-sondere lieber Herr Strässer, dieser Zeitpunkt ist noch nichtgekommen. Die Dauer der Prüfung ist nicht absehbar, dasich die Ressortabstimmung zwischen den einzelnen betei-ligten Ressorts komplexer gestaltet, als angenommenwurde. Ich erachte es als absolut nachvollziehbar, dasssich die Bundesregierung die nötige Zeit nimmt, damitalle juristischen Bedenken ausgeräumt werden können.Alle beteiligten Vertreter der Bundesregierung – das istauch schon gesagt worden – streben einen zügigen Ab-schluss der Beratungen an.Die deutsche Regierung handelt bedacht und mit an-gemessenem Sachverstand. Daher sollten wir eher dieFrage stellen, warum Sie auf einmal eine sofortige Prü-fung fordern. Der Sinn dieser Antragstellung erschließtsich mir nicht. Warum also plötzlich dieser Antrag?Die SPD sollte in den elf Jahren ihrer Regierungsver-antwortung gelernt haben, dass Prüfungen unsererMinisterien sorgfältig und lückenlos sein müssen. HabenSie von der SPD in den sechs Monaten Opposition ver-gessen, wie nachhaltig ministeriale Arbeit funktioniert?
Haben Sie vergessen, wie Ihre Position, die Position Ih-rer Minister, die ich gerade zitiert habe, noch vor sechsMonaten war? Natürlich haben Sie es vergessen; sonstwürden Sie heute nicht diese Forderung nach einer ra-schen Ratifizierung stellen.Wieder einmal zeigt sich, dass die SPD, gerade wasGesetze betrifft, versucht, alles sehr schnell und unge-prüft durchzudrücken. Die Arbeitsweise, mit der heißenNadel zu stricken, ist mittlerweile ziemlich legendär.Wir haben erfahren müssen, dass das Verfassungsgerichtin Karlsruhe Gesetze kassiert hat, die von der rot-grünenKoalition gekommen sind, weil sie rechtlich nicht halt-bar waren.
Diese Nachlässigkeit – gelinde gesagt – machen wirnicht mit. Dazu bringen Sie uns nicht. Das Thema, überdas wir heute diskutieren, ist zu wichtig, als dass wiratemlos der Forderung nach einer raschen Ratifizierunghinterherlaufen sollten.
Der gleichen Ansicht war die letzte Bundesregierungund ist auch die jetzige Bundesregierung. Aus diesem
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Jürgen Klimke
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Grund werden wir Ihrem Antrag nicht folgen, sondernihn ablehnen.Die Ablehnung des Antrags heißt aber nicht, dass wirden Schutz der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellenRechte, der sogenannten WSK-Rechte, und ihre juristi-sche Durchsetzbarkeit verneinen; ganz im Gegenteil:Die Koalition ist für starke Rechte der Bürger in der UN-Weltgemeinschaft. Es ist richtig, dass die UN die WSK-Rechte nicht mehr als Stiefkinder des internationalenMenschenrechtsschutzes behandeln. Der UN-Sozialpakthat die WSK-Rechte zu Recht gestärkt, waren sie dochdem Vorurteil ausgesetzt, im Gegensatz zu den bürgerli-chen und den politischen Rechten keine richtigen, keineeinklagbaren Menschenrechte zu sein. Die Bundesregie-rung vertritt ohne Zweifel mit Nachdruck die WSK-Rechte, indem sie die Einklagbarkeit dieser Rechte unddamit auch den Inhalt des heute diskutierten Fakultativ-protokolls als grundsätzlich richtig erachtet.Im Übrigen war es die letzte Bundesregierung unterBeteiligung der CDU/CSU, die die Verhandlungen inNew York kraftvoll, aktiv – das wurde ja schon gesagt –und konstruktiv vorangetrieben hat. Gerade aus diesemGrunde können Sie uns mit Ihrem Antrag heute nicht in-direkt unterstellen, dass wir die Ratifizierung des Fakul-tativprotokolls verhindern oder verzögern wollen. Wirsind genau der gegenteiligen Auffassung. Die Koalitionwill die WSK-Rechte zukünftig stärker in der Konzep-tion der Entwicklungs- und Menschenrechtspolitikverankern. Der Prozess, der mit dem Meilenstein derWiener Menschenrechtskonvention von 1993 begann, istnoch nicht beendet. Auch an dieser Stelle müssen dieWSK-Rechte immer wieder betont und angemahnt wer-den.Ich möchte daran erinnern, dass die Diskussion umdie WSK-Rechte in den vergangenen Jahren gleichdurch mehrere Entwicklungen an neuem Schwung ge-wonnen hat. Nicht zu vernachlässigen ist in diesemZusammenhang der Mechanismus, den alle Menschen-rechtskonventionen auf UN-Ebene zu eigen haben. Die-ser Mechanismus besagt, dass die Einhaltung der vonden Staaten in dem betreffenden Vertrag übernommenenvölkerrechtlichen Verpflichtungen immer wieder über-prüft werden muss. Wie andere UN-Menschenrechts-pakte auch, verpflichtet der Sozialpakt die Staaten,regelmäßig über Maßnahmen zu berichten, die sie zurVerwirklichung dieser Rechte ergriffen haben. Zu diesenMaßnahmen gehört, dass der Staat einen Aktionsplan er-stellt, der Angaben darüber enthält, wie er die volle Ver-wirklichung der WSK-Rechte erreichen will. Diese Be-richte werden dem UN-Ausschuss für wirtschaftliche,soziale und kulturelle Rechte, dem Sozialausschuss, vor-gelegt. Gerade dieser Sozialausschuss hat Deutschlandin der Wahrung der WSK-Rechte immer gute Noten ge-geben.Die bisherigen Möglichkeiten der Klage vor den ver-schiedenen deutschen und europäischen Gerichten er-scheinen mir daher durchaus ausreichend. Sollten zu-sätzliche Möglichkeiten der Klage vor internationalenGerichten eine weitere Verbesserung bringen, werdenwir von der CDU/CSU-Fraktion uns nicht dagegen sper-ren. Die genaue Prüfung dieser Option ist aber unab-dingbar. Aus diesem Grunde muss die Bundesregierunggenau untersuchen, wie eine weitere Einklagemöglich-keit den Gesamtinteressen des deutschen Staates wirk-lich dient.Selbst der von der SPD ins Feld geführte Experte Pro-fessor Dr. Riedel, der mehrfach bei Expertensitzungender beratenden Ministerien einbezogen wurde, merkt an,dass die Zahl der zu erwartenden Justizfälle – auch Siehaben es gesagt, Herr Meßmer – auf der Grundlage desFakultativprotokolls verschwindend gering sein wird.Folglich treibt uns bei dem derzeitigen Prüfverfahren derBundesregierung nicht eine möglicherweise eintretendeoder vorhandene mögliche Annahme einer massenhaftensozialen Ungerechtigkeit gegenüber den deutschen Bür-gern.Zudem möchte ich auch dem Argument von HerrnMeßmer widersprechen, dass die Ratifizierung keineneuen Verpflichtungen für den deutschen Staat ergebe.Woher nehmen Sie eigentlich die Gewissheit, wenn Ih-nen alle Experten eine weitreichende Prüfung vorschla-gen?In diesem Zusammenhang möchte ich besonders dieFrage der Überlappung von UN-Menschenrechtsmecha-nismen aufwerfen. Es ist die Verpflichtung der Bundes-regierung, hier mögliche Gesetzesfallen zu ermitteln undin die Gesamtbewertung einzuarbeiten. Schon deswegenwäre eine rasche Ratifizierung kontraproduktiv.Selbst wenn man auf dem Standpunkt steht, dass dieWSK-Beschwerdeverfahren nicht von einer generellenReform des UN-Rechtssystems abhängig gemacht wer-den sollten, ist die derzeit laufende Prüfung nicht zu ver-nachlässigen.Des Weiteren ist von der Bundesregierung zu prüfen,ob die Justiziabilität dieser Rechte insgesamt mit demArgument infrage gestellt werden kann, dass es sich beiden im Sozialpakt verankerten Rechten eben nicht umvon einzelnen Personen einklagbare Rechte, sondern nurum allgemeine Zielformulierungen von nur geringer Be-stimmtheit mit dem Ziel einer sukzessiven Umsetzung inden einzelnen Staaten handelt.Mit einer ungeprüften Ratifizierung läuft man zusätz-lich Gefahr, dass die Gerichtsentscheidungen des Sozial-paktes in Deutschland als nicht rechtsbindend anerkanntwerden könnten. Charakter und Vollzug der Strafen imRahmen der nationalen Strafrechte müssen beachtet wer-den. Sie können doch nicht ernsthaft nur Empfehlungenin Bezug auf einen Einzelfall als Ergebnis der Verfahrenwollen.Schließlich sind Bedenken berechtigt, dass ein Indivi-dualbeschwerdeverfahren weitaus mehr Arbeitsaufwandfür das jeweilige Kontrollorgan bedeutet und folglichzeitnahe Entscheidungen kaum möglich sind. Auch Be-fürchtungen hinsichtlich eines gewissen Qualitätsverlus-tes der gesamten Kontrolltätigkeit des Fachausschussessind nicht von der Hand zu weisen. In diesem Zusam-menhang ist auch das Stichwort „Überlastung“ zu nen-nen. Ein gutes Beispiel ist der Europäische Gerichtshof
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4321
Jürgen Klimke
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für Menschenrechte, der sich wegen Überlastung refor-mieren will.Abschließend sei gesagt, dass der internationale Men-schenrechtsschutz in den vergangenen Jahrzehnten be-reits erfreuliche Fortschritte gemacht hat, insbesonderewas Rechtsetzung und Überprüfungsmechanismen be-trifft. Die größten Defizite sind naturgemäß bei derDurchsetzung bzw. bei der Verwirklichung des Schutzeszu finden.Diesen Bereich in enger Verbindung mit dem Monito-ring weiter auszubauen und zu verbessern, muss das An-liegen der Staatengemeinschaft und der Zivilgesellschaftsein. Die Individualbeschwerde kann einen wesentlichenBeitrag zur Institutionalisierung bzw. Verrechtlichungder Menschenrechte leisten. Daher sollte sie nach einge-hender Prüfung durch die Bundesregierung Teil eines je-den Menschenrechtsabkommens sein.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Katrin
Werner das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Die Linke unterstützt das Anliegen
des vorliegenden Antrags. Es ist für uns selbstverständ-
lich, dass wir die Rechte von Betroffenen stärken wol-
len, deren wirtschaftliche, soziale und kulturelle Men-
schenrechte verletzt werden. Der vorliegende Antrag
verweist insbesondere auf das Recht auf angemessene
Unterbringung, das Recht auf Nahrung und das Recht
auf Wasser. Die Unterzeichnung des Zusatzprotokolls ist
für uns unstrittig und unverzichtbar.
Aber in ihrem Antrag lobt die SPD ihre Regierungsbi-
lanz in der internationalen Menschenrechtspolitik. Die
Linke meint, zur nachträglichen Beschönigung von Rot-
Grün und Schwarz-Rot besteht nicht der geringste An-
lass. Auch in dieser Frage entdeckt die SPD erst reich-
lich spät und in der Opposition plötzlich Handlungsbe-
darf in Bereichen, die sie in ihrer eigenen Regierungszeit
vernachlässigt hat.
Ausgerechnet unter Rot-Grün wurden die finanziellen
Zusagen in der Entwicklungszusammenarbeit nicht ein-
mal zur Hälfte erfüllt. Frau Wieczorek-Zeul hat als Bun-
desministerin das zugesagte Ziel, 0,7 Prozent des Brutto-
inlandsprodukts für Entwicklungshilfe zur Verfügung zu
stellen, weit verfehlt. Ich frage: Stellt sich die SPD so
etwa die aktive und konstruktive Rolle vor, von der sie in
ihrem Antrag spricht?
Allerdings sieht es auch unter der jetzigen schwarz-
gelben Bundesregierung kaum besser aus.
Vor der Wahl wollte Herr Niebel von der FDP das Bun-
desministerium, das er nun als Minister führt, sogar ab-
schaffen. Das lässt Schlimmes befürchten. Das Protokoll
liegt schon seit Dezember 2008 vor, und die Bundesre-
gierung hat nicht zu den Erstunterzeichnern gehört. Von
einer Vorbildfunktion bei den Menschenrechten kann so-
mit keine Rede sein. Dies gilt leider für die frühere und
die jetzige Bundesregierung.
Meine Damen und Herren, es lässt sich eine deutliche
Kontinuität bei der Vernachlässigung der Menschen-
rechtspolitik feststellen. Das gilt insbesondere im eige-
nen Land. Seit Hartz IV sind 2,5 Millionen Kinder von
Armut betroffen. Von Sassnitz bis München müssen im-
mer mehr arme und wohnungslose Menschen Suppenkü-
chen aufsuchen, um wenigstens eine warme Mahlzeit am
Tag zu bekommen. Immer mehr Menschen müssen zu
den Tafeln gehen, um sich mit Grundnahrungsmitteln
wie Milch, Mehl und Gemüse zu versorgen. Die Linke
sagt: Alle Menschen haben das Recht auf einen ange-
messenen Lebensstandard.
Dem werden wir nicht einmal im eigenen Land gerecht
und in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit
auch nicht. Dies muss sich endlich ändern.
Die Linke unterstützt ein Individualbeschwerdever-
fahren zum UN-Sozialpakt. Aber im Unterschied zur
SPD sehen wir keinen Grund zum Lob der Regierung.
Weder unter Rot-Grün noch unter Schwarz-Gelb wurde
den Menschenrechten der erforderliche Stellenwert ein-
geräumt.
Nächster Redner ist der Kollege Pascal Kober für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hatdas Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpakt über ein Indivi-dualbeschwerdeverfahren am 10. Dezember 2008 ange-nommen, 60 Jahre nach der Verkündung der Allgemei-nen Erklärung der Menschenrechte. Im UN-Sozialpaktgeht es um den Schutz elementarer Rechte. Es geht zumBeispiel um das Recht auf Ernährung, das Recht auf Ge-sundheit, das Recht auf Bildung und das Recht auf Ar-beit. Das sind elementare Rechte, zu denen sich diechristlich-liberale Koalition bekennt und für deren För-derung und Umsetzung sie sich weltweit einsetzt.
Die wertegeleitete Außenpolitik und Entwicklungs-hilfepolitik dieser christlich-liberalen Koalition hat sichaber nicht nur zum Ziel gesetzt, für diese wirtschaftli-chen, sozialen und kulturellen Rechte weltweit einzutre-
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4322 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Pascal Kober
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ten. Sie hat sich auch zum Ziel gesetzt, die Schaffung derVoraussetzungen für die Gewährung der wirtschaftli-chen, sozialen und kulturellen Rechte weltweit zu beför-dern. Zu diesen Voraussetzungen gehören zum Beispieldie Stärkung rechtsstaatlicher Strukturen und vor allemdie Armutsbekämpfung. Erinnern möchte ich in diesemZusammenhang an den Einsatz unserer beiden Bundes-minister Guido Westerwelle und Dirk Niebel für die in-ternationale Anerkennung eines Menschenrechtes aufWasser und Sanitärversorgung.
Mit dem Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpakt überein Individualbeschwerdeverfahren wurde ein Kommu-nikationsverfahren als Rechtsmittel beschlossen. DerUN-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelleRechte ist damit nicht mehr nur für das Berichtsprü-fungsverfahren, sondern auch für internationale Be-schwerdeverfahren und Untersuchungsverfahren vor Ortzuständig. Bisher gab es als Mittel zur Überprüfung derEinhaltung der sogenannten WSK-Rechte innerhalb derMitgliedstaaten der Vereinten Nationen nur die Staaten-berichte, in denen Rechenschaft über die Menschen-rechtssituation abgelegt und Verbesserungsmaßnahmenvorgeschlagen werden mussten.Tritt nun das Zusatzprotokoll in Kraft, können Einzel-personen im Rahmen des Individualbeschwerdeverfah-rens bzw. Gruppen vor einem internationalen GremiumBeschwerde gegen ihren Staat einlegen. Voraussetzungfür die Einklagbarkeit der WSK-Rechte ist dabei freilichdie Ausschöpfung des nationalen Rechtswegs.Liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD-Fraktion, inIhrem vorliegenden Antrag fordern Sie die Bundesregie-rung nun auf, das Zusatzprotokoll zum UN-Sozialpaktüber ein Individualbeschwerdeverfahren zu zeichnen undzu ratifizieren. Sie begründen dies unter anderem damit,dass durch die Ratifizierung des Zusatzprotokolls – abge-sehen von den ohnehin vorhandenen Verpflichtungen zurEinhaltung des UN-Sozialpaktes – keine zusätzlichenVerpflichtungen auf Deutschland zukommen.Nun ist aber generell zu bedenken, dass durch die Ein-führung des Individualbeschwerdeverfahrens – darauf sindSie, Herr Meßmer, selbst eingegangen – der Arbeitsauf-wand beim jeweiligen Kontrollorgan dramatisch ansteigenkönnte, was schnelle und effektive Entscheidungswegeerschweren würde. Ein bedauerliches Negativbeispiel füreine solche Entwicklung sehen Sie beim EuropäischenGerichtshof für Menschenrechte, dessen Funktionsfähig-keit aufgrund der explosionsartigen Zunahme der Zahlder Streitfälle in den letzten Jahren praktisch gelähmtwurde. Gegen ein Individualbeschwerdeverfahren sprä-che auch, dass es ausreichend Rechtswege auf regionaler,nationaler, aber auch auf internationaler Ebene gibt, aufdie man zum Schutz seiner wirtschaftlichen, sozialen undkulturellen Rechte zurückgreifen könnte.Zudem ist der Nutzen des Individualbeschwerdever-fahrens beschränkt, da die Entscheidungen über die Be-schwerden keine rechtsverbindlichen Urteile sind, son-dern Empfehlungen in Bezug auf den Einzelfall, woraussich dann allgemeine Zielformulierungen ergeben, diedie Staaten Schritt für Schritt umsetzen sollen.All die Punkte, die ich aufgeführt habe, bedeuten nunaber nicht, dass Individualbeschwerdeverfahren keinenSinn machen. Man muss in diesem Zusammenhang frei-lich positiv anmerken, dass die mangelnde Rechtsbin-dung und Durchsetzbarkeit ein Defizit ist, das wir im ge-samten Völkerrecht finden, sodass man das Verfahrender Individualbeschwerde in Fachkreisen trotz der man-gelnden Rechtsbindung als ein wichtiges Instrument desinternationalen Menschenrechtsschutzes betrachtet.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Bundesrepublikhat die Verhandlungen zur Verabschiedung des Zusatz-protokolls aktiv und konstruktiv begleitet. Um die Fra-gen zu klären, die sich im Hinblick auf eine Ratifizie-rung des Zusatzprotokolls von deutscher Seite ergeben,findet zurzeit auf Ressortebene ein Überprüfungsverfah-ren statt; gegebenenfalls werden diese Fragen noch indiesem Monat sogar auf Staatssekretärsebene bespro-chen. Ich denke, wir sollten im Sinne einer vernünftigenund effizienten Arbeit dieses Parlaments und der Regie-rung die Ergebnisse dieses Überprüfungsverfahrens ab-warten.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Tom
Koenigs für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir unterstützen das Anliegen des SPD-Antra-ges. Wir brauchen ein Individualbeschwerdeverfahrenzum UN-Sozialpakt. Menschenrechtsverletzungen sindimmer Einzelfälle. Jedes Menschenrechtsabkommenmuss deswegen individuelle Beschwerden ermöglichen,und zwar auf allen Ebenen. Die Menschenrechte unddieses Abkommen sind zum Schutz jedes einzelnenMenschen da; sie umfassen individuelle Rechte. Folg-lich muss jeder einzelne Mensch die Möglichkeit haben,eine Verletzung seiner Rechte vor Gericht zu bringenund öffentlich zu machen, und zwar auf allen Ebenen,auch auf internationaler Ebene.Durch die Individualbeschwerde können Menschen,deren Rechte verletzt wurden, nicht nur ihr Recht be-kommen, sondern auch die öffentliche, staatliche Aner-kennung, dass sie dieses Recht haben. Damit wird, so-weit das eben geht, die Würde dieser Menschenwiederhergestellt. Es gibt deshalb keinen Grund, dass eszwar beim Zivilpakt die Möglichkeit zur individuellenBeschwerde auf internationaler Ebene gibt, beim Sozial-pakt aber nicht.
1973 hat Deutschland den Sozialpakt ratifiziert. DieWSK-Rechte gelten also seit fast 40 Jahren. Seit andert-halb Jahren wäre es auch Deutschland möglich, das Indi-
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Tom Koenigs
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vidualbeschwerdeverfahren zuzulassen. Die Prüfunghätte also auch zum Ende kommen können. 31 Staatenhaben es bisher ratifiziert, Deutschland aber nicht.Gerade im Bereich der WSK-Rechte sind Individual-beschwerdeverfahren sinnvoll; denn die Kritiker derWSK-Rechte sagen ja immer, diese Rechte seien zu ab-strakt. Der Sprecher der CDU/CSU hat sich sogar zu derÄußerung verstiegen, man müsse prüfen, ob dies nichtnur allgemeine Ziele und nicht knallharte Rechte seien.Individualbeschwerden machen aber deutlich, wie diesekollektiven Rechte auf die einzelnen Lebensgeschichtenund Schicksale der Menschen einwirken. Dadurch wer-den Menschenrechte greifbar. Individuelle Beschwerde-verfahren zeigen anschaulich, dass WSK-Rechte ganzkonkrete Ansprüche bedeuten.Bislang gab es nur den Staatenbericht zum UN-So-zialpakt, in dem überprüft wurde, ob die Staaten den So-zialpakt einhalten. In ihm bleiben aber die Menschen-rechte des Einzelnen relativ allgemein und relativ diffus,meist in Statistiken versteckt. Durch das Individualbe-schwerdeverfahren werden Menschenrechte auch fürNichtexperten, auch für die Opfer, greifbar und ver-ständlich. Einzelfälle sind anschaulich. Die Opfer wer-den sichtbar, ihre Geschichten werden öffentlich undnachvollziehbar. Rechtsträger müssen ihre Rechte ein-fordern können, und dies durch alle Instanzen. Das istein Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit.
Außenpolitisch engagiert sich Deutschland bereitsüber viele Regierungen hin für die WSK-Rechte. Wir ha-ben jetzt auch gehört, dass offensichtlich die gegenwär-tige Regierung dies wieder will. Dann frage ich: Wielange wollen Sie denn noch prüfen? So lange wie bei derILO-Resolution?
In Ihrem Koalitionsvertrag steht wenigstens, Menschen-rechtspolitik sei eine zentrale Konstante. Fangen Siebitte damit an, machen Sie es gleich und prüfen Sie nichtbis zum Sankt-Nimmerleins-Tag.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/1049 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Wie ich sehe, sindSie damit einverstanden. Dann ist die Überweisung sobeschlossen.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 13 a bis e auf:a) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachtenEntwurfs eines … Gesetzes zur Änderung desBundeswaldgesetzes– Drucksache 17/1220 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Tourismusb) Unterrichtung durch die BundesregierungWaldbericht der Bundesregierung 2009– Drucksache 16/13350 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Tourismusc) Beratung des Antrags der Abgeordneten PetraCrone, Dirk Becker, Gerd Bollmann, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPDBundeswaldgesetz nachhaltig gestalten –Schutz und Pflege des Ökosystems für heutigeund künftige Generationen– Drucksache 17/1050 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Tourismusd) Beratung des Antrags der Abgeordneten CorneliaBehm, Undine Kurth , UlrikeHöfken, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDas Bundeswaldgesetz novellieren und ökolo-gische Mindeststandards für die Waldbewirt-schaftung einführen– Drucksache 17/1586 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheite) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Kirsten Tackmann, Dr. Gesine Lötzsch,Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter undder Fraktion DIE LINKEBundeswaldgesetz ändern – Naturnahe Wald-bewirtschaftung fördern– Drucksache 17/1743 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für TourismusNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe,auch damit sind Sie einverstanden. Dann werden wir soverfahren.Als erster Rednerin erteile ich der Ministerin für Er-nährung, Landwirtschaft, Verbraucherschutz und Lan-
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Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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desentwicklung aus dem Land Niedersachsen das Wort,unserer ehemaligen Kollegin Astrid Grotelüschen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Abgeord-nete! Nur wenige Gesetze haben langfristig Bestand.Das Bundeswaldgesetz, das wir in der nächsten halbenStunde diskutieren werden, wurde im Jahr 1975 verkün-det und gehört sicherlich zu denjenigen Gesetzen, diediese Langfristigkeit widerspiegeln. Das liegt daran,dass sein Ziel, nämlich die Erhaltung des Waldes und dieFörderung der Forstwirtschaft, damals wie heute vongroßer Bedeutung war bzw. ist.Geänderte gesellschaftliche Ansprüche an unserenWald und an dessen Bewirtschaftung erfordern jedoch inbestimmten Abständen eine gewisse Prüfung oder gege-benenfalls Weiterentwicklung des rechtlichen Rahmens.Deshalb möchte ich Ihnen im Folgenden darstellen, wa-rum die Änderungen, die wir in der nächsten halbenStunde diskutieren, sehr notwendig sind.So bedarf es, auf die Praxis bezogen, seitens der forst-lichen Zusammenschlüsse einer weiteren Größenent-wicklung, damit diese als Marktpartner gegenüber derHolzindustrie, die sich ja in den letzten Jahren sehr starkkonzentriert hat, als Gegengewicht wieder eine gewisseAugenhöhe bekommen. Das kann nur durch den Zusam-menschluss bestehender Forstbetriebsgemeinschaften zuforstwirtschaftlichen Vereinigungen geschehen.Die Waldbesitzer in Deutschland haben gemäß demBundeswaldgesetz die Möglichkeit, sich zur Überwin-dung von Strukturmängeln in privatrechtlichen Zusam-menschlüssen zu organisieren. Diese forstwirtschaftli-chen Zusammenschlüsse garantieren eine optimaleSicherstellung und Beratung bzw. Betreuung der zahlrei-chen Besitzer kleinstrukturierter Waldflächen. In Nieder-sachsen hat die überwiegende Zahl der Besitzer vonKleinprivatwald – die durchschnittliche Größe liegt bei12,8 Hektar – diese Chance bereits genutzt. Rund70 Prozent der Besitzer von Nichtstaatswald haben sichbereits in ungefähr 108 Forstgemeinschaften organisiert.Die nach bisherigem Recht vorhandene starke Be-schränkung der Aufgaben von forstwirtschaftlichen Ver-einigungen führt dazu, dass sie nicht mehr den heutigenErfordernissen des Holzmarktes und vor allen Dingenauch nicht mehr denen an eine professionelle Struktur ei-ner solchen Organisation entsprechen.
Auf Bundesebene wird daher schon seit längerem übereine Änderung des Abschnitts zu forstwirtschaftlichenZusammenschlüssen im Bundeswaldgesetz diskutiert.Dies ist bisher, wie ich finde, ohne die dringend notwen-digen Erfolge geschehen.
Die Zusammenschlüsse haben daher in zulässigerWeise, aber mit großem Aufwand, andere, aber eherkomplizierte rechtliche Konstruktionen entwickelt. Des-halb muss es unser Hauptziel sein, diesen forstwirt-schaftlichen Vereinigungen umgehend die Möglichkeitzu geben, im Sinne einer integrierten Entwicklung fürden ländlichen Raum als Dienstleister erfolgreich undvor allen Dingen innovativ tätig zu werden.
Die Vermarktung des Holzes stellt die Haupteinnah-mequelle für die Waldbesitzenden dar. Dies bedeutet,dass die forstwirtschaftlichen Vereinigungen den Ver-kauf des Holzes für die Mitglieder nicht nur koordinie-ren sollen, sondern das Holz auch selber vermarkten dür-fen. Zudem würde den Zusammenschlüssen in allenBundesländern die angestrebte Änderung des Bundes-waldgesetzes außerordentlich dabei helfen, sich zukünf-tig in einfacher Weise marktangepasst entwickeln zukönnen.Der vorliegende Entwurf nutzt außerdem die Chance,in zwei weiteren Punkten Rechtsklarheit zu schaffen.Der nachwachsende Rohstoff Holz wird sowohl bei Kurz-umtriebsplantagen als auch bei Agroforstsystemen auflandwirtschaftlichen Flächen produziert. Diese genann-ten Kulturformen gleichen eher einer landwirtschaftli-chen Nutzung und sind mit einer ordnungsgemäßen undnachhaltigen Bewirtschaftung im Sinne des § 11 desBundeswaldgesetzes nicht vereinbar.Mit der Herausnahme der bisherigen Definition desWaldes können wir in Zukunft Diskussionen über Zu-ordnungen vermeiden; das Bundeswaldgesetz stellt näm-lich bei der Zuordnung zum Wald zurzeit ausschließlichauf das äußere Erscheinungsbild ab. Damit es keineMissverständnisse gibt, möchte ich aber ergänzend da-rauf hinweisen, dass historische Wirtschaftsformen wieder Niederwald oder der Mittelwald aufgrund ihresWuchsverhaltens und ihrer Struktur natürlich weiterhinWald bleiben.Die zweite Klarstellung ist mit dem vorgesehenen Zu-satz zur Frage der Haftung beim Betreten des Waldesvorgesehen. Das Bundeswaldgesetz gestattet jeder-mann, den Wald auch außerhalb der Wege zu betreten.Dabei hat sich – das wissen wir alle – das Erholungsver-halten der Besucher sehr stark verändert. Die Ausschil-derung von Wanderwegen lenkt insgesamt natürlichmehr Besucher in den Wald. Zudem führen neue Erho-lungsformen – auch das wissen wir; ich will nurMountainbiking als Beispiel nennen – zu verändertenGefährdungssituationen im Wald. Gleichzeitig werdenWaldbesitzer durch Vorschriften aus unterschiedlichenRechtsbereichen – hier sei nur das Natur- und das Arten-schutzrecht genannt – gezwungen, gefährliche Situatio-nen, die zum Beispiel durch Totholz entstehen können,zu dulden. Es besteht andererseits jedoch für den Wald-besitzer nicht das Recht, der Verkehrssicherungspflichtüber ein dauerhaftes Sperren nachzukommen.Die Änderung in unserem Entwurf stellt daher klar,dass der Waldbesitzer für waldtypische Gefahren, wie eszum Beispiel das Totholz darstellt, nicht haftet. Damit
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4325
Ministerin Astrid Grotelüschen
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wird die geltende Rechtsprechung in das Gesetz über-nommen. Das ist also schon gelebte Praxis.Ich hoffe, dass ich Ihnen anhand dieser wenigen Bei-spiele – ich habe nur sechs Minuten Redezeit und dieUhr läuft gegen mich – darstellen konnte, warum wireine Anpassung des Waldgesetzes einfordern. Ich bittedaher den Bundestag, den vom Bundesrat eingebrachtenGesetzentwurf weiter zu beraten, und ich hoffe, dass Sieihn als Gesetz verabschieden.Herzlichen Dank fürs Zuhören.
Frau Ministerin, Sie haben schon bald nach Ihrer
Wahl in den Deutschen Bundestag Ihre neue jetzige Auf-
gabe als Ministerin in Niedersachsen übernommen. Dies
war nun Ihre erste Rede in diesem Haus, nicht nur in der
Funktion als Ministerin.
Herzlichen Glückwunsch dazu, verbunden mit den bes-
ten Wünschen für Ihre weitere Arbeit!
Nächste Rednerin ist die Kollegin Petra Crone für die
SPD-Fraktion.
Guten Abend! Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meinelieben Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen undHerren! Wir unternehmen heute den dritten Anlauf, dasBundeswaldgesetz zu novellieren.
Aller guten Dinge sind drei. Viele Fragen sind unter denFraktionen völlig unstrittig.
Auch forstwirtschaftliche und Naturschutzakteure gebengrünes Licht.In Kürze: Modernisierungsbedarf – das wurde ebenschon gesagt – besteht in der Abgrenzung der Begriffe„Agroforstsysteme“ und „Kurzumtriebsplantagen“ vomBegriff „Wald“. KUPs werden vor allem als Option fürdie steigende Holznachfrage und unter gewissen Anfor-derungen als Alternative mit positiven Wirkungen fürbiologische Vielfalt und Böden verstanden.Zukünftig wollen wir die Besitzer kleiner Wälderstärken. Sie können ihr Holz zu fairen Bedingungen nut-zen und auf den Markt bringen. Dafür erweitern wir denAufgabenkatalog der forstwirtschaftlichen Vereinigun-gen.Diskussionsbedarf besteht momentan noch bei derVerkehrssicherungspflicht. Ich bin aber zuversichtlich,dass eine Lösung im berechtigten Interesse der Waldbe-sitzer gefunden wird. Aber dieser Punkt führt uns leiderschon hinaus aus der schönen, seltenen Einigkeit. SobaldBelange des Naturschutzes angesprochen werden, endetdie Kooperation.
Cornelia Behm, Christel Happach-Kasan, GeorgSchirmbeck – er ist heute nicht da – und KirstenTackmann – Sie, meine lieben Kollegen und Kollegin-nen, kümmern sich schon seit vielen Jahren verdienst-voll um den Wald.
Inwieweit einige von Ihnen zum Scheitern der erstenbeiden Anläufe einer Novellierung beigetragen haben,dazu will ich keine Mutmaßungen anstellen.
Als neue wald- und forstpolitische Sprecherin derSPD-Bundestagsfraktion will ich drei Punkte anspre-chen.Erstens. Wem der Wald am Herzen liegt, der sollte be-reit sein, Gesetze, die zum Teil seit 1975 nicht mehr an-gefasst wurden, zu ändern.Zweitens. Meine politischen Forderungen für unserenWald sind realistisch, aber auch maximal.
Drittens. Ich sehe trotz Konfliktpotenzial, dass die Ge-meinsamkeiten größer sind als die Gegensätze.
Wir müssen unser Waldgesetz jetzt an die geändertenZeiten anpassen. Die nächsten 20, 30 Jahre sind für denKlimawandel entscheidend. Der Wald muss mit immerextremeren Wetterlagen klarkommen. Die Abgase ausVerkehr und Landwirtschaft setzen ihn noch immer unterStress. Laut Waldbericht verbleiben die Schäden auf ho-hem Niveau. Es mangelt an alten Wäldern, an Alt- undTotholz. Beim Artenrückgang ist keine Trendwende zuverzeichnen. Ich erinnere hier an unsere internationalwie national eingegangenen Verpflichtungen zum Schutzder biologischen Vielfalt.Das alles lässt nur einen Schluss zu: Wir brauchenMindeststandards im Naturschutz für die gesamte Wald-fläche.
Wir wissen inzwischen so viel über ökologische undökonomische Zusammenhänge im Wald und in derForstwirtschaft. Dieses Wissen muss sich in einem mo-dernen Bundeswaldgesetz wiederfinden.
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4326 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Petra Crone
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Darum will die SPD-Bundestagsfraktion die „gutefachliche Praxis“ im Bundeswaldgesetz verankern. Im-mer höre ich ein verstärktes Raunen allein bei der Nen-nung dieser drei Worte. Deshalb sage ich es einmal so:Wir müssen unsere Wälder in die Lage versetzen, aussich heraus zu funktionieren. Die Nutzung des Waldesstresst ihn. Das ist letzten Endes nicht zu vermeiden. Un-sere Pflicht ist es aber, den Stress für das Ökosystem aufein Minimum zu beschränken.
Der SPD ist klar: Der Wald muss wirtschaftlich genutztwerden. Doch wir wollen, dass das naturnah geschieht.Viele Forstbetriebe, auch bei mir im Sauerland, tun dasin vorbildlicher Weise. Ich kann aber nicht alle Formender Waldbewirtschaftung gleichsam loben. Es gibt Wald-besitzer, die sehr verantwortungsvoll vorgehen, und an-dere, die das nicht tun.Wenn wir die „gute fachliche Praxis“ im Gesetz ver-ankern, hauen wir den schwarzen Schafen der Brancheempfindlich auf die Finger. Denn die bereichern sichdoch auf Kosten der naturnahen Waldwirtschaft. Mit derAufnahme in das Bundeswaldgesetz binden wir alleForstbetriebe an ein Mindestniveau des Naturschutzes.Damit schaffen wir auch wettbewerbsrechtlich eineneinheitlichen Rahmen.Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, ichglaube auch nicht, dass die „gute fachliche Praxis“ imBundeswaldgesetz alle Probleme löst. Aber ohne siewird es auch nicht gehen. Sie ist ein wichtiges Instru-ment der Naturschutzpolitik im Wald. Warum geht nichtbeim Wald, was doch bei der Landwirtschaft geht? Daist es verankert.Klar brauchen wir naturnahe Waldwirtschaft, brauchtes Vertragsnaturschutz, Beratungen, Zertifizierungenund in Zukunft vermehrt wohl auch ein Honorierungs-system von Natur- und Klimaschutzleistungen. Der Mixaus den Instrumenten macht es.Sicher kennen Sie die umfangreiche wissenschaftli-che Arbeit zu den Bausteinen einer Naturschutzpolitikim Wald des BfN. Die kommt zu dem Schluss: Mit denKriterien der „guten fachlichen Praxis“ sind keine gra-vierenden ökonomischen Auswirkungen zu befürchten.Auch die forstliche Förderung bliebe weitgehend unbe-einträchtigt.Wir schlagen ja auch eine Regelungsverteilung zwi-schen Bund und Ländern vor. Da bleibt viel Spielraumfür die Präzisierung bei den Ländern.Ein Naturschutz, der keine gesellschaftspolitischeAkzeptanz hat, wird langfristig scheitern. Eine Bewirt-schaftung, die unsere Wälder und ihre Lebensformenempfindlich stört oder sogar zerstört, hat schon heutekeine gesellschaftspolitische Akzeptanz mehr.Daher meine Bitte an Sie: Setzen wir uns noch einmalan einen Tisch und beraten wir über die gesetzliche Ver-ankerung der GfP. Hier können wir alle gemeinsam ei-nen guten Aufschlag schon vor dem Internationalen Jahrder Wälder 2011 machen.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Christel Happach-
Kasan von der FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Liebe Frau Kollegin Crone, eine solcheCharmeoffensive der SPD-Fraktion habe ich in diesemHause relativ selten erlebt. Ich bedanke mich ausdrück-lich für Ihre netten Worte. Herzlichen Dank dafür!
Die beiden Beiträge haben deutlich gemacht: Wir allesind uns über die Notwendigkeit, das Bundeswaldgesetzzu ändern, einig. Die Anträge der Oppositionsfraktionenspiegeln dies durchaus wider, auch wenn wir nicht in al-len Punkten so weit gehen wollen, wie die SPD-Kollegines hier dargestellt hat. Man muss allerdings feststellen:Obwohl wir uns alle einig sind, dass das Waldgesetz ge-ändert werden muss, hat es die Große Koalition nicht aufden Weg gebracht. Mit der gegenseitigen Blockierunghaben damals die Koalitionspartner dem Land gescha-det.
Ich hoffe, lieber Kollege Bleser, dass wir das jetzt schaf-fen und ein ordentliches Waldgesetz auf den Weg brin-gen werden.
– Vielen Dank für den Beifall von allen Seiten.
Es ist ausgeführt worden: Im Bestreben, die Biodiver-sität im Wald zu erhöhen, sind die Totholzanteile imWald schrittweise erhöht worden. Das bedeutet, dassmehr Insektenarten ein Heim finden. Totholz stärkt dieBiodiversität, aber gleichzeitig wird das Gefährdungsri-siko für Waldbesucher erhöht. Tote Bäume sind ebennicht so stabil wie lebende. Wir haben das Recht auffreies Betreten der Wälder. Waldbesitzer dürfen ihreWälder nicht absperren. Deswegen wollen wir – das isthier von verschiedenen Seiten dargestellt worden –, dassWaldbesitzer nicht für waldtypische Gefahren haften.Verschiedene Gerichtsurteile zeigen uns, dass wir mitdieser Formulierung eine ganze Reihe von Konfliktenvermeiden können. Ich denke mir auch, dass wir alleindurch die Diskussion über waldtypische Gefahren dazubeitragen, dass sich Waldbesucher bewusst werden, dasses diese waldtypischen Gefahren gibt, und sich entspre-chend verhalten. Ein Waldweg ist eben kein glattes Par-kett. Man kann dort stolpern.
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Dr. Christel Happach-Kasan
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Holz ist unser wichtigster nachwachsender Rohstoff.Das Cluster „Forst und Holz“ trägt entscheidend zurwirtschaftlichen Stärkung der ländlichen Räume bei.1,2 Millionen Beschäftigte, 170 Milliarden Euro Um-satz, das hat schon eine ganz erhebliche Bedeutung. Vorfünf Jahren wurden 60 Prozent des nachwachsendenHolzes genutzt. Inzwischen sind es 90 Prozent. Es ist at-traktiver geworden, Holz einzuschlagen. Die verstärkteenergetische Nutzung hat dazu einen Beitrag geleistet.Es ist aber auch deutlich, dass wir keine Übernutzungunserer Wälder haben; das ist gut.
Wir wollen, dass das so bleibt. Deswegen gibt es inverschiedenen Regionen Deutschlands – wir haben hierim Bundestag in der letzten Legislaturperiode darüberdiskutiert – Projekte in Kurzumtriebsplantagen, Holz fürdie energetische und stoffliche Nutzung zu produzieren.Wettbewerbsfähigkeit mit anderen Produktionen vonBiomasse wird nur erreicht, wenn wir für solche Pro-jekte – es gibt sie in Schleswig-Holstein genauso wie inSachsen, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg –endlich Rechtssicherheit schaffen. Der Wissenschaftli-che Beirat des Agrarministeriums hat schon 2007 auf dieVorzüge von Kurzumtriebsplantagen hingewiesen.Florian Schöne vom NABU hat bei einer Anhörung derFDP-Bundestagsfraktion deutlich gemacht, dass in Ener-gieholzplantagen die pflanzliche und tierische Biodiver-sität vergleichsweise gut und deutlich besser als in Dau-erkulturen von Mais ist. Es ist selten so, dass Ökologieund Ökonomie derartig Hand in Hand gehen. Deswegenwollen wir diese gesetzliche Änderung.
Ich freue mich sehr, dass das Bundesforschungsministe-rium in der Ausschreibung „Nachhaltiges Landmanage-ment“ auch einem Projekt den Zuschlag gegeben hat, indem wissenschaftliche Fragestellungen der Produktionund Bereitstellung von Dendromasse untersucht werdensollen, sprich: Kurzumtriebsplantagen.In verschiedenen Regionen Deutschlands erfolgen aufbestimmten Flächen land- und forstwirtschaftliche Nut-zung parallel. Das soll möglich bleiben; das ist unser fes-ter Wille. Ein Offenhalten der Landschaft kann aber nurüber die Bewirtschaftung der Flächen erreicht werden.Ohne Pflege und Bewirtschaftung von Wiesen, Bachtä-lern, Almweiden, ja sogar von ehemaligen Wattflächen– Beispiel: das Katinger Watt in Schleswig-Holstein –wächst dort Wald; denn die potenzielle Vegetation inDeutschland ist Wald. Wenn dort Wald wächst, dann istes nach der Definition unseres BundeswaldgesetzesWald.
– Sehr geehrter Herr Kollege, ich bitte Sie herzlich, eineZwischenfrage zu stellen, damit wir darüber diskutierenkönnen, mir aber nicht in die Redezeit hineinzufunken.Das finde ich nicht in Ordnung.
Herr Präsident, würden Sie bitte?
Herr Kollege Müller, wollen Sie Ihrer Auftragsfrage
nachkommen? – Bitte.
Sehr geschätzte Frau Kollegin, welche Bedeutung
messen Sie in diesem Zusammenhang der deutschen
Alm- und Alpwirtschaft bei?
Werter Herr Kollege, ich bedanke mich für dieseFrage und möchte ausdrücklich hinzufügen, dass ich Sienicht herausgefordert habe, aber Ihr Begehren in IhrenAugen ablesen konnte. So gut funktioniert die Zusam-menarbeit.
Ich glaube, dass die Almwirtschaften im Alpengebietgenauso wie andere Bergwirtschaften in anderen Mittel-gebietsregionen in Deutschland eine herausragende Be-deutung haben. Ich bin sehr mit Ihnen einer Meinung,dass wir Flächen mit landwirtschaftlicher und forstwirt-schaftlicher Nutzung vom Waldbegriff ausnehmen soll-ten. Wenn aber infolge der natürlichen Entwicklung – daspassiert auch in Deutschland – auf einer solchen Fläche,auf der die landwirtschaftliche Nutzung nicht mehr er-folgt, ein Wald wächst, wenn sie mit Waldbäumen be-stockt ist, dann ist diese Fläche Wald und kann damitkeine Direktzahlungen im Sinne der Landwirtschaftmehr erzielen.
– Herr Kollege, ich bedanke mich für diese freundlicheFrage.Der dritte Änderungsbedarf – auch das ist hier schondargestellt worden – besteht bei den forstwirtschaftli-chen Zusammenschlüssen, die wir stärken wollen. Beider Bewirtschaftung der sehr vielen kleinen Privatwäldersind sie von entscheidender Bedeutung.Wir haben drei Anträge der Opposition vorliegen. DerAntrag der SPD hat eine sehr pragmatische Handschrift.Herzlichen Dank dafür. Der Antrag der Grünen, liebeKollegin Cornelia Behm, ist ein bisschen kleinteilig ge-raten.
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4328 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Dr. Christel Happach-Kasan
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Ich hatte beim Lesen den Eindruck, dass wir für alle10 Hektar Wald eine eigene Verordnung brauchen, damitwir allen Ansprüchen gerecht werden können. Ich findees ein bisschen schade, dass sich die Grünen nicht mitdem Waldbericht der Bundesregierung beschäftigt habenund die Erkenntnisse, die dort sehr deutlich und an-schaulich niedergelegt wurden, nicht in ihrem Antragverwertet haben. Das wäre meines Erachtens wichtig ge-wesen, damit wir eine fachlich gute Diskussion hierzubekommen. Die Definition der guten fachlichen Praxisim Bundesgesetz erübrigt sich nach meiner Auffassung.Der Waldbericht zeigt auf, dass Waldbesitzer mit ihremEigentum weitgehend verantwortlich umgehen.Wir sollten uns auf die gesetzlichen Regelungen be-schränken, die wirklich erforderlich sind. Mir macht dieweiterhin hohe Zahl der tödlichen Arbeitsunfälle imWald – bis zu 20 pro Jahr – sehr viel mehr Sorge als feh-lende Paragrafen.In diesem Sinne hoffe ich auf eine gute und konstruk-tive Diskussion.Danke schön.
Das Wort hat die Kollegin Kirsten Tackmann von der
Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Gäste! LiebeKolleginnen und Kollegen! Seit Jahren ist es absolut un-strittig, dass wir dringend eine Novellierung des Bundes-waldgesetzes brauchen. Die Opposition ist an demThema immer drangeblieben. Deswegen bin ich froh,dass jetzt der Bundesrat die Initiative ergriffen hat. Mitder Koalition wäre das wahrscheinlich nichts geworden.In drei Punkten sind sich alle fünf Fraktionen in die-sem Haus einig: Erstens soll die Agroforstwirtschaft ausdem Begriff „Wald“ herausgenommen werden. Zweitenswollen wir die Verkehrssicherungspflicht der Rechtspre-chung anpassen. Und drittens wollen wir den Kleinpri-vatwaldbesitzerinnen und -besitzern etwas unter dieArme greifen.Zum Thema Agroforst: Flächen zum Energieholzan-bau und Ackerflächen mit einem kombinierten Anbauvon Bäumen und Kulturpflanzen sollen im Sinne desBundeswaldgesetzes kein Wald mehr sein, damit mandas Holz auch kurzfristig nutzen kann. Damit wirdgleichzeitig die seit über 200 Jahren bestehende Tren-nung zwischen Forstwirtschaft und Landwirtschaft et-was aufgeweicht. Hierbei geht es zum einen um seitJahrhunderten bekannte Mischnutzungen wie Streuobst-wiesen oder sogenannte Hudewälder, also die Kombina-tion zwischen Wald und Weidehaltung. Zum anderengeht es aber auch um relativ neue Ideen wie den Energie-holzanbau auf Kurzumtriebsplantagen oder die Pflan-zung von Baumreihen in Getreidefeldern. Allerdingsmüssen wir bei dieser Türöffnung aus unserer Sicht auchdas Risiko im Blick behalten. Kurzumtriebsplantagendürfen nicht zu großflächigen Monokulturen werden.Der sogenannten Vermaisung der Landwirtschaft darfnicht die sogenannte Verpappelung folgen.
Wir wollen allerdings auch keine Beschränkung derAgroforstsysteme auf den Pflanzenbau – darum ging esgerade in der Debatte –, wie es jetzt befürchtet wird.Forst- und Tierhaltungssysteme auf einer Fläche müsseneingeschlossen werden, damit die Neuregelungen auchfür Almbeweidung und Hudewälder gelten.Zur Verkehrssicherungspflicht: Niemand will dieWaldeigentümer aus ihren Pflichten entlassen, die Linkeschon gar nicht. Art. 14 des Grundgesetzes gilt: Eigen-tum verpflichtet und muss zum Gemeinwohl verwendetwerden.Aber natürlich hat der Wald nicht nur ökologischeund forstliche Funktionen. Er ist auch Erholungsraum.Seine öffentliche Zugänglichkeit ist für uns unverzicht-bar, und zwar unabhängig von der Eigentumsform. Dasgilt gerade in der Nähe von Städten. Ein erholsamerWaldspaziergang ist für die Forstwirtschaft ja der pureLobbyismus. Ich möchte aber natürlich niemandem zu-muten, durch herabstürzende Äste oder umstürzendeBäume verletzt zu werden. Solche Risiken gibt es imWald, wenn wir ihn nicht parkähnlich aufräumen wollen.Daher ist es aus unserer Sicht sinnvoll, abseits von starkgenutzten Waldwegen auf die Pflicht zur Fällung vonkranken oder toten Bäumen zu verzichten. Dabei geht eseigentlich nur um die Anpassung der Regelungen an diegängige Rechtsprechung.Zum Kleinprivatwald: Die Unterstützung der Klein-privatwaldbesitzer ist aus unserer Sicht längst überfälligund dringend erforderlich; denn sie liegt in unser allerInteresse, weil es hier auch um die Mobilisierung vonHolzreserven geht, die dringend gebraucht werden undden Nutzungsdruck vom restlichen Wald etwas wegneh-men.Diese drei Änderungen reichen uns als Linken nichtaus. Darum fordern wir in unserem Antrag, die soge-nannte ordnungsgemäße Forstwirtschaft so zu formulie-ren, dass naturnahe Wälder erreicht werden. Dazugehören aus unserer Sicht ganz klar: die Wahl standort-gerechter, einheimischer Baumarten; kahlschlagfreiesWirtschaften; die Gestaltung der Waldränder als Biotop-übergang von Wald zu Acker und Wiese; die Reduzie-rung der Bodenbearbeitung und -verdichtung; die Ver-meidung von Pflanzenschutz- und Düngemitteln; ange-passte Wilddichten, die eine natürliche Verjüngung desWaldes ermöglichen; der Verzicht auf gentechnisch ver-ändertes Pflanz- und Saatgut. Nicht zu vergessen: Zu ei-ner fachgerechten Waldbewirtschaftung gehört qualifi-ziertes Personal in bedarfsgerechter Anzahl. Ich freuemich sehr auf die Diskussion im Ausschuss.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4329
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Das Wort hat die Kollegin Cornelia Behm von der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Das Bundeswaldgesetz ist 35 Jahre alt gewor-
den. Wenn ich meine Kollegen anschaue, muss ich
sagen: Mit 35 ist man noch jung. Aber ein Gesetz, das
sich mit Ökosystemen befasst, ist mit 35 Jahren ange-
sichts der stark veränderten Umweltbedingungen schon
in die Jahre gekommen. Dass Novellierungsbedarf
besteht, darüber gibt es, glaube ich, keinen Streit.
Deswegen hat ja auch die Koalition in ihren Koalitions-
vertrag geschrieben: „Das Bundeswaldgesetz wird no-
velliert.“ Gekommen ist aber nichts.
Jetzt hat der Bundesrat dem Druck aus der Gesell-
schaft, vor allen Dingen aus der Holzbranche, nachgege-
ben und eine Novelle vorgelegt, aber nur eine Mikrono-
velle. Sie sind wirklich beim kleinsten gemeinsamen
Nenner stehen geblieben. Sie haben sich der Verkehrs-
sicherungspflicht angenommen, Sie haben sich der
Kurzumtriebsplantagen und sogar der Agroforstsysteme
angenommen, und Sie wollen die Vermarktung durch
forstwirtschaftliche Zusammenschlüsse verbessern. Das
alles ist unstrittig.
Ich will zu zwei von diesen Punkten etwas sagen. Bei
der Verkehrssicherungspflicht wollen Sie – so steht es in
der Begründung – im Grunde genommen nur die gültige
Rechtsprechung gesetzlich festlegen. Das entspricht in
keiner Weise den Erwartungen: Es entspricht weder den
Erwartungen der Waldbesitzer noch denen der Forstleute
noch denen der Naturschützer.
Nötig wäre eine Lockerung der Verkehrssicherungs-
pflicht durch eine räumlich differenzierte Betrachtung:
An den Hauptverkehrswegen muss tatsächlich Sicherheit
herrschen. Im Waldesinnern ist es jedoch zumutbar, dass
man mit waldtypischen Gefahren rechnet und entspre-
chend umsichtig ist.
Zu den Kurzumtriebsplantagen. Im Koalitionsvertrag
kommen nur Kurzumtriebsplantagen vor und keine
Agroforstsysteme. Das finde ich ziemlich schwach; denn
es ist leider nicht so, wie meine Kollegin Christel
Happach-Kasan sagt, dass Kurzumtriebsplantagen eine
hohe Biodiversität aufweisen. Kurzumtriebsplantagen
sind Monokulturen von Forstpflanzen auf dem Acker
und nichts anderes.
Wenn der NABU spricht, dann spricht er von wahr-
haften Agroforstsystemen. Diese Agroforstsysteme sind
nicht nur in der Lage, die Ertragsfähigkeit von Agrarflä-
chen zu erhöhen, sondern auch die Biodiversität. Daran
sollte man insbesondere im UN-Jahr der Biodiversität
denken und entsprechende Regelungen treffen.
Es ist mein Anliegen, dass man nicht nur, wie es unser
Staatssekretär will, bestehende Agroforstsysteme wie
Streuobstwiesen und Almweiden schützt, sondern dass
man sich in diesem Hause verstärkt darum bemüht, dass
neue Agroforstsysteme angelegt werden.
Ich komme jetzt zu den wesentlichen Defiziten – ich
habe ja von einer Mikronovelle gesprochen –: Sie haben
sich nicht dazu hinreißen lassen, Standards zu setzen für
klimaplastische Wälder, die die Leistungen für den Na-
turhaushalt auf Dauer sicherstellen.
Wir haben Ihnen in der vergangenen Legislaturperiode
einen Antrag vorgelegt, und wir haben Ihnen auch dieses
Mal wieder einen Antrag vorgelegt, in dem die notwendi-
gen Mindestanforderungen stehen, um die Ziele, die wir
alle haben – darüber haben wir ja oft genug gesprochen;
sie sind unstrittig –, zu erreichen, nämlich naturnahe,
vitale Wälder, Biodiversität der Waldökosysteme, Erhö-
hung der CO2-Speicherung, Versorgung mit dem nach-
wachsenden Rohstoff Holz und auch Schutz vor Über-
nutzung.
Dafür gibt es einen breiten gesellschaftlichen Kon-
sens; nur: Die Koalition sperrt sich.
Sie sagt: Es gibt keinen Regelungsbedarf, die Waldbesit-
zer handeln eigenverantwortlich, und die machen schon
alles schön im Sinne der Nachhaltigkeit. – Sie wissen es
aber doch selbst: Die Wirklichkeit sieht anders aus.
Herr Präsident, lassen Sie mich noch ein paar Sätze
sagen. – Gerade auch in den ostdeutschen Bundeslän-
dern sehe ich zunehmend, dass es eine neue Klasse der
Waldbesitzer gibt, die einzig und allein gewinnorientiert
ist.
Meine Damen und Herren von der Koalition, damit, die-
sen Interessen nachzugeben, erweisen Sie dem Wald,
dem Klimaschutz, der Biodiversität und damit auch der
Zukunft der ländlichen Regionen einen Bärendienst.
Wir bleiben dran, wir wollen eine Makronovelle, und
dafür werde ich mich auch weiterhin einsetzen.
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkterteile ich dem Kollegen Alois Gerig von der CDU/CSU-Fraktion das Wort.
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4330 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
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Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Der Wald hat für unser Land eineüberragende Bedeutung. Deshalb kommt auch der No-vellierung des Waldgesetzes eine überragende Bedeu-tung zu.Da 31 Prozent unseres Landes mit Wäldern bedecktsind, prägen sie nicht nur das Landschaftsbild in vielfäl-tiger Weise, sondern sie bilden auch die grüne Lunge fürunsere Bürger.
Als CO2-Speicher sind unsere Wälder aktive Klima-schützer und für uns Menschen unverzichtbar, weil sieeinen wichtigen Beitrag für die Trinkwasserversorgungund den Immissionsschutz leisten. Sie dienen als Le-bensraum für Pflanzen und Tiere zur Bewahrung derSchöpfung und zum Erhalt der Artenvielfalt. Für unsMenschen sind sie ein wichtiger Raum für Ruhe undErholung.Neben all den wichtigen, unersetzbaren ökologischenFunktionen gewinnt auch die ökonomische Seite unsererWälder mehr und mehr an Bedeutung. Sie sind einerseitsein unverzichtbarer Rohstofflieferant als Grundlage füreine leistungsfähige Holzindustrie, die gerade im ländli-chen Raum für Wertschöpfung und Arbeitsplätze sorgt,und bieten andererseits die Grundlage für nachwach-sende Rohstoffe im Bereich der alternativen Energien.
Die Koalition will die vielfältigen Funktionen des Wal-des erhalten und zum Wohle von Mensch und Umweltnoch weiter ausbauen.Zu den wichtigsten Gesetzesänderungen in allerKürze, weil wir uns in dem Bereich ja relativ einig sind:Erstens. Kurzumtriebsplantagen und Agroforst-systeme sind vom Waldbegriff des Bundeswaldgesetzesauszunehmen, weil es sich bei der Art der Bewirtschaf-tung um eine ackerbauliche Nutzung handelt, die abergenauso auf Nachhaltigkeit ausgelegt ist.Holz ist mit Abstand der wichtigste Energieträger imBereich der erneuerbaren Energien in Deutschland, unddeshalb ist genügend Energieholz eine wichtige Voraus-setzung, um die erneuerbaren Energien in Deutschlandauszubauen und unsere ehrgeizigen Klimaschutzziele zuerreichen.
Ein zweites Anliegen des Gesetzentwurfes ist, dieWaldbesitzer bei der Verkehrssicherungspflicht zu ent-lasten. Von den Waldbesitzern wird einerseits aus Natur-schutzgründen verlangt, vermehrt Totholz und umgefal-lene Bäume im Wald zu belassen, wodurch sichandererseits mehr Gefahrensituationen für die – glückli-cherweise zahlreicher werdenden – Naherholungssu-chenden ergeben können. Da der Wald für alle zugäng-lich ist und dies auch bleiben soll und muss, dürfen dieWaldbesitzer nicht zur Haftung für waldtypische Gefah-ren herangezogen werden. Als Drittes ist im Gesetzentwurf vorgesehen, dieAufgaben der forstwirtschaftlichen Vereinigungen zuerweitern. Um den Waldeigentümern zukünftig denHolzverkauf zu erleichtern, will der Gesetzentwurf errei-chen, dass die forstwirtschaftlichen Vereinigungen dasHolz ihrer Mitglieder auch vermarkten dürfen. Diesstärkt die Waldbesitzer auf einem Holzmarkt, der mehrund mehr durch Konzentrationsprozesse auf der Abneh-merseite gekennzeichnet ist, wie die Kollegin Happach-Kasan bereits ausgeführt hat.Alles in allem geht der Gesetzentwurf des Bundesra-tes in die richtige Richtung. Die CDU/CSU will diesenGesetzentwurf unterstützen, weil er wichtige Vorgabenunserer Koalitionsvereinbarung aufgreift.Ich danke dem Land Niedersachsen, heute durch dieehemalige Kollegin Frau Ministerin Astrid Grotelüschenvertreten, dass dieser Gesetzentwurf über den Bundesratin das Gesetzgebungsverfahren eingebracht wurde.
In unseren Beratungen im Bundestag, zu denen aucheine Anhörung am 7. Juni gehört, sollte nun überlegtwerden, ob noch Ergänzungen am Gesetzentwurf erfor-derlich sind. Diverse Gedanken dazu haben wir bereitseingebracht.Was nach unserer Auffassung nicht explizit im Bun-deswaldgesetz festgeschrieben werden sollte, ist die gutefachliche Praxis in der Waldwirtschaft, liebe Kollegin-nen von der Opposition. Denn der Waldbericht 2009macht unter anderem deutlich, dass die Waldstrukturenin Deutschland sehr vielfältig sind. Deshalb tritt dieUnion dafür ein, die gute fachliche Praxis wie seithervon den Ländern durch Vorgaben für eine ordnungs-gemäße Forstwirtschaft regeln zu lassen. Die nachhal-tige Wirtschaftsweise ist ohnehin bereits festgeschrie-ben.Eine Neustrukturierung würde zu einem hohen Kon-trollaufwand und damit zu noch mehr Bürokratie für alleBeteiligten führen. Aus meiner Sicht sollten wir viel-mehr darauf achten, dass in der Forstverwaltung und inder Forstwirtschaft auch in Zukunft genügend gut ausge-bildete Fachkräfte eingesetzt werden.
Die Bundesregierung hat erfreulicherweise angekün-digt, im Herbst dieses Jahres die Waldstrategie 2020vorzulegen. Auch deshalb lehnen wir weitergehende An-träge der Opposition zum jetzigen Zeitpunkt ab.Die nicht leichte Aufgabe für die Zukunft besteht da-rin, den Wald zu schützen, geänderte Nutzungsansprü-che mit der Leistungsfähigkeit des Waldes in Einklangzu bringen und den Wald auf die Klimaveränderungenvorzubereiten. Lassen Sie uns mit der Novellierung desWaldgesetzes die richtigen Rahmenbedingungen dafürschaffen.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4331
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Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 17/1220, 16/13350, 17/1050, 17/1586und 17/1743 an die in der Tagesordnung aufgeführtenAusschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstan-den? – Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen sobeschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 sowie Zusatz-punkt 8 auf:14 Beratung des Antrags der Abgeordneten OliverKaczmarek, Dirk Becker, Marco Bülow, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPDNaturnahen Wasserhaushalt durch Schutzund Renaturierung von Nass- und Feuchtge-bieten fördern – Hochwassergefahren min-dern, Klima schützen– Drucksache 17/1748 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten NicoleMaisch, Undine Kurth , DorotheaSteiner, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENAuenschutzprogramm vorlegen– Drucksache 17/1760 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –Ich sehe, Sie sind damit einverstanden. Es handelt sichum die Reden der Kollegen Ingbert Liebing, JosefGöppel, CDU/CSU, Oliver Kaczmarek, SPD, HorstMeierhofer, FDP, Sabine Stüber, Die Linke, NicoleMaisch, Bündnis 90/Die Grünen.1)Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 17/1748 und 17/1760 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind dieÜberweisungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-zung der Richtlinie des Europäischen Parla-ments und des Rates über Endenergieeffizienzund Energiedienstleistungen– Drucksache 17/1719 –1) Anlage 2Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
RechtsausschussAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAuch zu diesem Tagesordnungspunkt wollen wir dieReden zu Protokoll nehmen. Es handelt sich um die Re-den der Kollegen Thomas Bareiß und Dr. GeorgNüßlein, CDU/CSU, Rolf Hempelmann, SPD, undKlaus Breil, FDP, sowie der Kolleginnen DorothéeMenzner, Die Linke, und Ingrid Nestle, Bündnis 90/DieGrünen.2)Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/1719 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Siedamit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 sowie die Zu-satzpunkte 9 und 10 auf:16 Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. IljaSeifert, Dr. Martina Bunge, Heidrun Bluhm, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEAktionsplan zur Umsetzung der UN-Konven-tion über die Rechte von Menschen mit Behin-derungen vorlegen– Drucksache 17/1578 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
SportausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für TourismusZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten MarkusKurth, Monika Lazar, Katja Dörner, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENBericht der Bundesregierung über die Lagebehinderter Menschen und die Entwicklungihrer Teilhabe umfassender und detailliertervorlegen– Drucksache 17/1762 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendZP 10 Beratung des Antrags der Abgeordneten MarkusKurth, Elisabeth Scharfenberg, Katja Dörner,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN2) Anlage 3
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4332 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Handlungsaufträge aus dem UN-Übereinkom-men über die Rechte von Menschen mit Behin-derungen– Drucksache 17/1761 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
SportausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für TourismusAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-schlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Kollegen Ilja Seifert von der Fraktion Die Linkedas Wort.
Politische Entscheidungen … müssen sich an denInhalten der UN-Konvention über die Rechte derMenschen mit Behinderungen messen lassen.Das ist ein Zitat aus dem Koalitionsvertrag, Herr Prä-sident, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen. Aber was haben Sie denn bisher politisch ent-schieden? Sie haben die Kriegseinsätze verlängert. Daserhöht höchstens die Zahl der behinderten Menschen,hilft ihnen aber nicht. Sie haben den Haushalt 2010 ver-abschiedet und darin nicht einmal der Bundeszentrale fürpolitische Bildung den Auftrag erteilt, wenigstens überdas Vorhandensein der UNO-Konvention, geschweigedenn über ihre Inhalte, aufzuklären. Außerdem habenSie sehr viel Geld für Banken ausgegeben.Dies wiederum lässt bei Menschen mit Behinderun-gen große Befürchtungen erwachsen, dass Teilhabe-sicherung und Nachteilsausgleich oder eine Veränderungder Eingliederungshilfe auf den Sankt-Nimmerleins-Tagverschoben werden. Das alles sind Dinge, die Menschenmit Behinderungen wirklich helfen würden.
Aber Sie haben es bisher nicht für nötig erachtet, ir-gendeine Debatte zu führen oder gar irgendeine Ent-scheidung für Menschen mit Behinderungen und dieWeiterentwicklung der Behindertenpolitik zu treffen.Deshalb bietet die Linke Ihnen heute die Möglichkeit,erstmalig in dieser Legislaturperiode über dieses Themazu reden. Das Thema lautet: Verbesserung der Teilhabe-möglichkeiten für Menschen mit Behinderungen. Bei Ih-nen nur Zögern und Zaudern!Unsere Initiative, unser Antrag, diese Debatte heutezu führen, will nichts anderes als eine Beschleunigungund Verbesserung der Arbeit an der Umsetzungskonzep-tion für die UNO-Konvention.
Wir– ich zitiere wiederum Ihren Koalitionsvertrag –treten für eine tatsächliche Teilhabe von Menschenmit Behinderungen am gesellschaftlichen Lebenein.Ja, wo denn bitte? Wo treten Sie denn dafür ein? Bis jetzthaben Sie dafür noch gar nichts getan.Unser Ziel ist,– wiederum Zitat Koalitionsvertrag –die Rahmenbedingungen für Menschen mit undohne Behinderungen positiv zu gestalten.Ja, dann tun Sie es doch bitte, und lassen Sie Ihr Zögernund Zaudern!
Ich sage Ihnen einmal, was Sie schon hätten tun kön-nen: Sie hätten Barrierefreiheit als Kriterium für öffentli-che Ausschreibungen verpflichtend einführen können.Das haben Sie nicht gemacht, genau wie Ihre Vorgänger-regierung, die das nicht einmal bei den Konjunkturpro-grammen getan hat. Sie hätten eine Optimierung desPersönlichen Budgets vornehmen können. Sie hätten dieElternassistenz einführen können. Sie hätten – das habeich vorhin schon einmal gesagt – die Bundeszentrale fürpolitische Bildung damit beauftragen können, eine ent-sprechende Kampagne einzuleiten. Dies hätte nicht ein-mal Geld gekostet. Sie hätten, liebe Damen und Herrenvon der Regierung, in jeder Ihrer Reden erwähnen kön-nen, dass es in unserem Land Menschen mit Behinde-rung gibt, die das Recht haben, von Ihnen wahrgenom-men zu werden, und teilhaben wollen. Das hätteüberhaupt nichts gekostet, hätte aber gezeigt, dass Siewissen, dass Sie eine Verpflichtung haben, für diese10 Prozent der Bevölkerung etwas zu tun.
Das haben Sie unterlassen. Wir registrieren Zögern undZaudern.Nun setzen Sie endlich eine Arbeitsgruppe ein, die ei-nen Aktionsplan erarbeiten soll. Aber über die Ergeb-nisse soll erst im März nächsten Jahres im Kabinett bera-ten werden, anderthalb Jahre nach der Bundestagswahl,zwei Jahre nach Inkrafttreten der Konvention als Bun-desgesetz. Übrigens findet die Beteiligung der Betroffe-nen an der Erarbeitung dieses Aktionsplans auf derSpielwiese statt. Der Beauftragte der Bundesregierungfür die Belange behinderter Menschen darf mit den Ver-bänden und deren Vertreterinnen und Vertretern so tun,als ob irgendeine Beteiligung stattfände. Die eigentlicheArbeitsgruppe ist im Arbeitsministerium angesiedelt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4333
Dr. Ilja Seifert
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Das ist alles andere als die Umsetzung des Mottos„Nicht ohne uns über uns!“.
Die Konvention böte gute Chancen, ein Nutzen-für-alle-Konzept zu etablieren. Lassen Sie es uns gemein-sam tun! Überwinden wir gemeinsam das Zögern undZaudern rasch und gut!
Das Wort hat jetzt die Kollegin Maria Michalk von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die Rechte der Menschen mit Behinderung sindseit der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonven-tion vor gut einem Jahr in Deutschland eben nicht nurallgemeine Bürgerrechte, sondern ein Umsetzungsauf-trag, der alle angeht; darin sind wir uns einig. Wir wissenund erkennen an, dass Diskriminierung und gesellschaft-liche Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung einVerstoß gegen fundamentale Menschenrechte sind.Diese gilt es zu schützen, zu respektieren und durchzu-setzen, und das auf nahezu jedem Politikfeld. Trotzdemkennt jeder von uns gelebte Beispiele, wo gerade dasnicht geschieht. Deshalb setzt die UN-Konvention in derTat einen Akzent zur allgemeinen öffentlichen und allge-genwärtigen Diskussion über den Wert unseres mit-menschlichen Zusammenlebens und die Verantwortungfüreinander.Viele politische Entscheidungen berühren die Be-lange von Menschen mit Behinderung. Es handelt sichtatsächlich um ein Querschnittsthema. Ich verweise aus-drücklich auf viele gesetzliche Regelungen in unseremLand, die in all den Jahren gemeinsam erstritten und er-kämpft, aber auch umgesetzt wurden. Mir ist es ein be-sonderes Bedürfnis, daran zu erinnern, welche großarti-gen ideellen und materiellen Hilfen vor allem Familien,Betroffene und Einrichtungen in den neuen Bundeslän-dern in den vergangenen 20 Jahren in der Betreuung vonbehinderten Menschen erfahren haben. Viele wissen,welche Zustände zuvor herrschten. Wir danken, dass esheute wesentlich besser ist.
Nicht alles ist aber perfekt; auch darin sind wir uns ei-nig. Wir wissen, dass wir immer wieder mit Umset-zungsproblemen zu kämpfen haben. Uns beschwerenSchnittstellensituationen, in denen sich die Betroffenenob der Diskussion, wer eigentlich zuständig ist oder wernicht, im Regen stehen gelassen fühlen. Deshalb hat dieCDU/CSU-Bundestagsfraktion ein objektives Interessedaran, unseren Regelmechanismus an den Zielen derUN-Behindertenrechtskonvention auszurichten.
Wir werden nicht alles auf einmal machen. Es müssenPrioritäten gesetzt werden, und darüber findet eine im-mer stärkere öffentliche Diskussion statt. Nach wie vorsehen wir große Handlungsfelder. Ich möchte drei nen-nen: die Barrierefreiheit, die Bildung und den Arbeits-markt.Zum ersten Feld, der Barrierefreiheit. Das ist ein wei-tes Feld, und deshalb ist die Barrierefreiheit zentral indieser Konvention. Eine konsequent barrierefreie Um-welt ist elementar für die umfassende gesellschaftlicheTeilhabe von Menschen mit Behinderung. Ob im öffent-lichen Nahverkehr, in öffentlichen Gebäuden, in Arzt-praxen, in Privatwohnungen, in Restaurants, in Hotelsoder in der Tele- und Internetkommunikation, am Ar-beitsplatz, im Theater oder im Supermarkt – hier erlebtder betroffene Mensch seine wahre Teilhabe. Hier ent-scheidet sich unter anderem, ob er glücklich oder ebenauch unglücklich ist. Es muss für Menschen mit Behin-derung selbstverständlich sein, sich überall, vom Kinobis zum Internetportal, unbehindert bewegen zu können.Je mehr das jeder von uns allen verinnerlicht, destoselbstverständlicher wird das in unserer Gesellschaftwerden. Wer dabei ist, braucht nicht mehr integriert zuwerden. Ohne Barrierefreiheit keine Inklusion und um-gekehrt.Der zweite Schwerpunkt ist die Bildung. Wir wissen:Die Grundlagen für die berufliche Zukunft werden mitder Schulbildung gelegt. Gerade wenn es um die Ausbil-dung von Kindern mit Behinderung geht, haben wir inDeutschland im Vergleich zu anderen Ländern ein Um-denken nötig. Wir sind mit der Ratifizierung der UN-Konvention aufgefordert, für diese Kinder gleich guteStartbedingungen zu schaffen. Das bisherige zweiglei-sige Konzept von Förder- und Regelschulen gehört derVergangenheit an.
Die Konvention macht klare Vorgaben, wie die Schule inZukunft aussehen wird. Eine inklusive Bildung von An-fang an, also vom Kindergarten bis zur Universität, lau-tet das Ziel. Auch hier gilt: Wer von klein auf nie ausge-schlossen war, der muss auch später als Jugendlicher undErwachsener nicht integriert werden. Aber noch einmal:Wir werden nicht alles auf einmal umsetzen, wir werdenSchritt für Schritt an dieser Verwirklichung arbeiten.
Alle, Bund und Länder gleichermaßen, haben den Vor-gaben der Konvention zugestimmt. Daher gibt es jetztkeine Ausflüchte mehr. So konsequent will ich das hierformulieren. Das Ziel muss mit vereinten Bundes- undLänderkräften gemeinsam umgesetzt werden. Der Auf-bau eines inklusiven Schulsystems lässt sich nicht alleinmit pädagogisch ausgefeilten Konzepten oder angepass-ten Schulgesetzen stemmen. Ganz wesentlich ist, dasssich in den Köpfen aller Beteiligten ein Wandel voll-zieht. Dieser neue Ansatz, diese notwendige Reformwird mit Sicherheit zunächst bei vielen auf Skepsis oder
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4334 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Maria Michalk
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auch Vorurteile stoßen, was wir hier und da schon erle-ben können. Aber wir brauchen Eltern, Lehrer, Schüler,die Medien, die Kommunalpolitiker, ja, eigentlich alle,um dieses schöne Ziel zu erreichen.
Unsere politische Aufgabe ist es, sie für die immensenVorteile der inklusiven Bildung zu gewinnen, zu sensibi-lisieren.
Wer die Vielfalt der Menschen bereits im Kindergartenund in der Schule erfährt, für den wird das gemeinsameMiteinander am Arbeitsplatz oder in der Freizeit ganzselbstverständlich werden. Das ist ein großer Gewinn,ein Schritt hin zu einer toleranten Gesellschaft, in derniemand aufgrund seiner Behinderung ausgeschlossenwird. So wollen wir unser Zukunftshaus bauen.
Als dritte Säule hat die Beschäftigung eine Schlüssel-funktion. Das ist eine Komponente, um die wir alle rin-gen müssen. Nicht nur in Zeiten der Finanz- und Wirt-schaftskrise haben es Menschen mit Behinderungbesonders schwer, auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zufassen. Das ist kein Geheimnis. Doch unabhängig davonunterlag die gesamte Berufswelt in den vergangenenJahrzehnten einem starken Wandel, dem sich alle Arbeit-nehmer ausgesetzt sehen. Unsere heutige auf Wissen ba-sierende Dienstleistungsgesellschaft erwartet als Kern-kompetenzen Bildung und lebenslanges Lernen. Sie sinddie Voraussetzung für alle Menschen geworden. In derVergangenheit hat die Bundesregierung viele Instru-mente entwickelt – das wird wohl niemand hier bestrei-ten können –, um auf die besonderen Bedürfnisse vonMenschen mit Behinderung einzugehen und diese ineine reguläre Beschäftigung zu integrieren.Doch leider zeigt die aktuelle Arbeitslosenstatistikauch, dass wir offensichtlich nicht effizient genuggewirkt haben. Hier gilt es, den Hebel anzusetzen. Wasfunktioniert, ist weiter zu fördern. Doch darüber hinaussind neue Möglichkeiten auszuhandeln und umzusetzen.Fest steht: Wir sind aktuell noch weit von einer inklu-siven Arbeitswelt entfernt. Hier gilt es, in den Köpfender Arbeitgeber bestehende Barrieren abzubauen. Men-schen mit Behinderung sind leistungsfähige Arbeitneh-mer. Sie sind zum Teil auch selber Arbeitgeber, alsoUnternehmer. Das sollten wir in der Diskussion auchöffentlich stärker hervorheben, und wir sollten ihre Leis-tungen auch würdigen.
Wichtige Voraussetzungen sind natürlich immer dieäußeren Bedingungen. Sie müssen den Bedürfnissenangepasst sein. Einschränkungen gehen nicht auf einindividuelles Defizit zurück – so will ich es einmal for-mulieren –, sondern das Defizit ergibt sich aus den be-stehenden Hürden, die den Menschen in der konkretenSituation im Wege stehen. Diese einzudämmen und zubeseitigen, ist die konkrete Aufgabe. Damit tut sich man-cher Arbeitgeber schwer. Wir möchten noch einmaldaran erinnern, dass Arbeitgeber materielle Unterstüt-zung erhalten können. Viele nutzen diese Möglichkeitauch. Leider aber ist es immer noch weit verbreitet, dieseMühe mit der Zahlung der Behindertenabgabe zu umge-hen. Auch das müssen wir stärker öffentlich thematisie-ren. Wir müssen das Problem gemeinsam lösen.Sie merken, meine Damen und Herren: Die Anforde-rungen sind hoch. Die Vorgaben der UN-Konventionsind komplex und deshalb nicht von heute auf morgenumsetzbar. Aber wir müssen unsere Anstrengungenintensivieren. Darin sind wir uns einig. Das ist der ein-zige gemeinsame Nenner, den ich in den drei jetzt zurDebatte stehenden Anträgen finde.Die Bundesregierung arbeitet aktuell an dem dafürnotwendigen nationalen Aktionsplan. Sie tut es intensivunter Beteiligung der Betroffenen und aller Verbändeund Interessenvertretungen. Sie arbeitet mit Hochdruck,aber auch – das füge ich hinzu – mit Ruhe; denn mit demnationalen Aktionsplan werden die fundamentalen Wei-chen für die Umsetzung gestellt. Alle Aspekte, die fürMenschen mit Behinderung wichtig sind, werden zurKenntnis genommen und einbezogen. Das ist derAnspruch, dem sich unsere Bundesregierung im Bundes-ministerium für Arbeit und Soziales stellt. Dazu trifft siesich mit den Interessenvertretern von Menschen mit Be-hinderung. Sie werden als Experten in eigener Sache indie konzeptionelle Vorbereitung eingebunden; das kannwohl niemand bestreiten; das ist Fakt.
Das kostet Zeit, die wir uns, wie ich finde, aber auchgönnen sollten.An diesem Vorgehen wird deutlich: Das Prinzip derInklusion ist der Leitgedanke bereits in der Planungs-phase; das geht nicht auf die Schnelle. Menschen mitBehinderung können ihre Kritik, aber auch ihre Erfah-rung von Anfang an mit einbringen und damit den Um-setzungsprozess konstruktiv beeinflussen und, wenn esgut geht, sogar beschleunigen.Was bereits bei den Verhandlungen im Entstehungs-prozess der Konvention als Leitlinie galt, wird auch wei-terhin gelten. „Nicht über uns ohne uns!“ lautet der Leit-satz.
Die Bundesregierung ist auf einem sehr guten Weg.Wir werden diesen Prozess als Parlament auch weiterhingut begleiten. Wir wissen, das wird auch unser Parla-ment erreichen. Lieber Kollege Dr. Seifert, ich kannIhnen jetzt nicht ersparen, zu sagen: Ich wundere michsehr darüber, dass Sie in Ihrem Antrag den30. November als Zielpunkt formulieren. Sie wissendoch, dass alle Behindertenverbände und alle Interessen-vertreter dem vorgesehenen Zeitplan zugestimmt haben.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4335
Maria Michalk
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Wir haben jetzt die Möglichkeit, viele Dinge, dienoch nicht richtig umgesetzt sind, gemeinsam zu gestal-ten und auf den Weg zu bringen.Vielen Dank, dass Sie mir zugehört haben.
Das Wort hat die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Frau Michalk, schade, dass Sie bzw. Ihre Fraktion kei-
nen Antrag bzw. Gesetzentwurf vorgelegt haben. So ha-
ben wir nur Ihre schönen Worte.
Die Linken und Bündnis 90/Die Grünen haben An-
träge vorgelegt. Sie fordern die Bundesregierung auf, die
UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit
Behinderungen umzusetzen. Wir begrüßen diese Initia-
tive.
Die Umsetzung der UN-Konvention ist auch für uns
überaus wichtig.
Es ist gut, dass wir heute, trotz der späten Stunde, un-
sere Reden halten, statt sie, Herr Seifert, wie leider
schon oft bei diesem Thema zu Protokoll zu geben und
auf diese Weise in Ordnern verschwinden zu lassen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, Ihr
Antrag geht in die richtige Richtung. Wir hätten uns je-
doch konkretere Forderungen gewünscht.
Auch lassen Sie die komplizierten föderalen Verflech-
tungen weitgehend unberücksichtigt. Gleiches gilt für
die Arbeit in den Ländern. Hier geht der Antrag über-
haupt nicht auf das ein, was dort bereits angestoßen
wurde.
Inhaltliche Schwierigkeiten sehe ich unter folgenden
sieben Gesichtspunkten.
Erstens. Der Antrag verwendet den Begriff der Inklu-
sion und fordert, dass dieser, wie Sie es ausdrücken, „er-
schlossen“ wird. Die SPD-Bundestagsfraktion ist der
Meinung, dass man eher die Definition von Inklusion
stärker herausheben sollte. Der Begriff muss nicht neu
erschlossen, sondern klarer definiert werden.
Wir bedauern sehr, dass für die deutsche Übersetzung
der UN-Behindertenrechtskonvention auf Betreiben der
von CDU und CSU regierten Bundesländer darauf
bestanden wurde, Inklusion mit „Einbeziehung“ und
„Integration“ zu übersetzen. Diese Übersetzung ist irre-
führend. Während Inklusion von einer unmittelbaren Zu-
gehörigkeit von Menschen mit Behinderung in der Ge-
sellschaft ausgeht, sieht die deutsche Übersetzung dies
aus der Außenperspektive, und zwar aus der Sicht der
Menschen ohne Behinderung. Einbeziehung bedeutet,
jemanden hereinholen; Inklusion dagegen bedeutet eine
unmittelbare gesellschaftliche Zugehörigkeit. Das ist es,
was wir wollen.
Insofern braucht man den Begriff nicht neu zu erschlie-
ßen, wie Sie es sagen, sondern man muss ihn klar defi-
niert anwenden. Das muss Teil des Aktionsplans sein.
Zweitens. Die Bemerkungen zur Teilhabesicherung
im Antrag werfen eine grundlegende Frage auf. Es liest
sich hier so, als ob eine Trennung zwischen dem Persön-
lichen Budget einerseits und dem Ausbau der Versor-
gungsinfrastruktur andererseits vorgenommen werden
soll. Das eine darf das andere aber nicht ausschließen. Es
gibt Bedarfe, die sicherlich besser durch eine vorzuhal-
tende Infrastruktur bedient werden sollten. Dazu zählen
zum Beispiel die Integrationsfachdienste, Dienste in öf-
fentlichen Einrichtungen oder medizinische Dienste.
Bedarfe, die sich anhand der Nachfrage aus Persönlichen
Budgets ergeben, kommen hinzu. Der heute vorliegende
Antrag stellt diese Kombination zwar in Aussicht, aller-
dings aus unserer Sicht viel zu unbestimmt. Ich rate Ih-
nen, Herr Seifert: Werden Sie konkreter;
sonst – da bin ich mir sicher – überfordern Sie diese
Bundesregierung mit selbstständigem Denken.
Drittens. Auch was den Punkt der beruflichen Teil-
habe anbelangt, bleibt der Antrag leider unkonkret. Der
Aktionsplan muss dringend mit einer Reform der Ein-
gliederungshilfe verknüpft werden. Wir brauchen hier
aber konkrete Aussagen zum Beispiel zur Zukunft der
Werkstätten und der Integrationsämter, zur beruflichen
Rehabilitation und auch zur Rolle der Kostenträger.
Viertens. Was der Antrag zum selbstbestimmten Woh-
nen sagt, ist vollkommen richtig. Allerdings sind wir
hier schon weiter.
Frau Kollegin Hiller-Ohm, erlauben Sie eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Seifert?
Das möchte ich jetzt nicht, Herr Seifert.
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4336 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Gabriele Hiller-Ohm
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– Wir haben dazu noch andere Gelegenheiten. UnsereBerichterstatterin, Frau Silvia Schmidt, kann das direktmit Ihnen klären, wenn Ihnen das recht ist.Was im Antrag zum selbstbestimmten Wohnen steht,ist richtig. Allerdings sind wir hier schon weiter. Ich zi-tiere aus dem Eckpunktepapier der Bund-Länder-Ar-beitsgruppe der Arbeits- und Sozialministerkonferenz:Die notwendige Unterstützung des Menschen mitBehinderungen orientiert sich nicht mehr an einerbestimmten Wohnform.Weiter heißt es:Die bisherigen Regelungen zur Zumutbarkeit sindnicht mehr erforderlich. Das Wunsch- und Wahl-recht wird weiterhin gewährleistet.Fünftens: zur Statistik. Die von der Konvention gefor-derten Daten müssen selbstverständlich auch in den Be-hindertenbericht der Bundesregierung einfließen. Wirfordern, den Bericht und seine Rechtsgrundlage auch da-hin gehend zu überprüfen.Sechstens. Was den Punkt „Armut und Behinderun-gen“ im Antrag betrifft, begrüßen wir die Stoßrichtungausdrücklich. Aber auch hier muss viel deutlicher her-vorgehoben werden, dass keine Sonderbehandlung, son-dern Inklusion angestrebt wird.
Es geht um Teilhabe und Leben inmitten der Gesell-schaft. Die sozialen Gründe, warum Menschen mit Be-hinderung von Armut bedroht sind, müssen aufgezeigtwerden. Hier von spezifischen Bedarfen zu sprechen, istaus unserer Sicht inhaltlich zu dünn und nicht zielfüh-rend.Siebtens. Schlussendlich hegen wir große Bedenken,ob ein Ultimatum zum 30. November 2010 sinnvoll ist;da stimme ich Ihnen, Frau Kollegin Michalk, zu. Selbst-verständlich wollen wir die Situation von Menschen mitBehinderung verbessern, und selbstverständlich wollenauch wir die schnelle Umsetzung der UN-Konvention.Ein Hauruckverfahren zulasten der Betroffenen lehnenwir jedoch ab.
Meine Damen und Herren, auch die Anträge desBündnisses 90/Die Grünen gehen in die richtige Rich-tung. Aber auch hier vermissen wir den einen oder ande-ren wichtigen Aspekt, zum Beispiel die Reform derEingliederungshilfe nach den Vorgaben der UN-Kon-vention. Wir müssen wirksam verhindern, dass am Endedes Persönlichen Budgets nicht doch wieder eine statio-näre Unterbringung praktiziert wird, obwohl andereWünsche bestehen.
Im Hinblick auf den entsprechenden Antrag der Grü-nen befürchte ich in diesem Zusammenhang einen Deu-tungsspielraum, der von der Bundesregierung ausgenutztwerden kann. Der hessische Ministerpräsident hatbereits anklingen lassen, dass alle Leistungen, auch odervielleicht besonders solche im sozialen Bereich, auf denPrüfstand gestellt werden sollen. Umso wichtiger ist es,Diskussionen über mögliche Leistungskürzungen vonAnfang an zu verhindern.
Ich komme zum Schluss. Wir brauchen eine starke In-klusion, einen starken politischen Durchsetzungswillenund natürlich auch die nötige Durchsetzungskraft. Dieheute vorliegenden Anträge, in denen wichtige Fragengestellt werden, bieten einen guten Aufschlag. Die SPD-Fraktion wird einen eigenen Antrag vorlegen, in dem wiralle bemängelten Aspekte aufgreifen und dem wir hier indiesem Hause gemeinsam zustimmen können.Danke.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Gabriele Molitor von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Da-zugehören von Anfang an und ohne Wenn und Aber, dasist es, was Menschen mit Behinderung möchten. UnserZiel muss es sein, ein selbstverständliches Miteinandervon behinderten und nicht behinderten Menschen zuerreichen; das ist unsere Aufgabe. Lieber Herr Seifert,ich hätte mich sehr darüber gefreut, wenn Sie in IhremRedebeitrag darauf eingegangen wären und konkreteVorschläge dazu eingebracht hätten.
Die UN-Behindertenrechtskonvention markiert einenMeilenstein auf dem Weg zu einer selbstbestimmtenTeilhabe am gesellschaftlichen Leben. Das Zauberwort– es ist heute Abend schon häufiger genannt worden –heißt Inklusion. Damit ist gemeint, dass sich die Gesell-schaft und nicht der Einzelne auf die Rahmenbedingun-gen der Menschen mit Behinderung einzustellen hat.
Wir verstehen Behinderung nämlich nicht als Schwäche,sondern sie ist Teil menschlicher Normalität, und Behin-derte gehören nicht an den Rand der Gesellschaft, son-dern sie sind wichtiger Teil von uns.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4337
Gabriele Molitor
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Die Konvention hat aber nicht nur eine neue Denk-richtung vorgegeben, sondern ein Umdenken eingeleitet;ein Bewusstseinswandel ist im Gang. Dabei müssen wirsehr behutsam sein, also nicht blind dafür sein, inwiefernInklusion vor Ort schon gelebt wird. Wir würden vieleMenschen vor den Kopf stoßen, wenn wir jetzt so täten,als müssten wir von Bundesseite jetzt erst alles in Gangsetzen und anstoßen. Diesen Eindruck erwecken aber dieuns vorgelegten Anträge. Darin ist nur die Rede davon,gesetzliche Fristen zu verschärfen, Sanktionen einzufüh-ren usw.
Natürlich müssen wir handeln. Deutschland hat denWillen dazu unter Beweis gestellt; denn die Behinder-tenrechtskonvention wurde 2009 ratifiziert.
Wir sollten aber darauf schauen, was die Betroffenenwollen, die eine oder sogar mehrere Behinderungen ha-ben: Was sind ihre Wünsche und Möglichkeiten? Des-wegen haben wir in der Koalition gesagt: Wir wollen ei-nen Aktionsplan aufsetzen. Wir haben hier einen Anstoßgegeben und bewusst eine sehr offene Formulierung ge-wählt, weil wir hier keine Vorgaben machen wollen.
Vielmehr wollen wir in der Diskussion mit allen zusam-men ein Konzept entwickeln, wie wir das Leben mitei-nander verbessern können. Das ist unser Ansatz.
Es gibt bereits viele wichtige und gute Ansätze. Ichmöchte zwei Stichpunkte nennen: die unterstützte Be-schäftigung und das Persönliche Budget. Es geht darum,diese positiven Beispiele weiterzuentwickeln. Wir kön-nen in der Praxis schon viele gute Modelle beobachten,zum Beispiel die integrativen Kindertagesstätten,
die in meinen Augen eine Erfolgsgeschichte sind.
– Natürlich können es noch mehr werden; das möchteich gar nicht in Abrede stellen. Aber ich möchte die inte-grativen Kindertagesstätten zumindest nennen.Daneben gibt es Integrationsfirmen. Ich habe mir inmeinem Wahlkreis verschiedene Integrationsfirmen an-gesehen. Dort wird die Teilhabe von Menschen mit Be-hinderungen am Arbeitsleben schon unmittelbar gelebt.Die Teilhabe am Arbeitsleben ist ein wichtiges Anlie-gen. Vor allen Dingen die kleinen Betriebe und die Mit-telständler nehmen ganz bewusst Menschen mit Behin-derungen in ihren Betrieben auf, weil sie feststellen, dassdiese sehr gute Arbeit leisten können. Es profitieren alsoalle davon.Ein anderer Bereich ist heute schon angesprochenworden, auch wenn er nicht unmittelbar in die Zustän-digkeit des Bundes fällt: der Bildungsbereich. Der Bil-dungsbereich hat eine wichtige Funktion; denn der Über-gang von der Schule in die Berufsausbildung hatnatürlich eine große Bedeutsamkeit. Es geht uns Libera-len darum, den Bildungsbereich weiter zu öffnen, damitmehr behinderte Kinder Regelschulen besuchen können.Ich sage hier aber ausdrücklich: Ich möchte nicht dieMöglichkeiten der Förderschulen in Abrede stellen. Esgeht doch darum, jedem Kind das seinen Fähigkeitenentsprechende Bildungsangebot zu unterbreiten.
Gerade im Bildungsbereich geht es auch darum, dieKommunen einzubeziehen. Wir können nicht einfachfordern, Schulen weiter auszubauen, ohne zu sagen, wiewir das finanzieren wollen. Das ist ein wichtiger Punkt.
Es geht darum, die Kommunen bei dieser wichtigenFrage an die Hand zu nehmen.Wir Liberale wollen diesen Aktionsplan, weil er fürdie Umsetzung der Konvention so wichtig ist. Deswegenhaben wir uns in der Koalitionsvereinbarung dafür stark-gemacht. Es geht aber nicht darum, jetzt einen Wettlaufzu starten: Wer ist schneller?
Es geht vielmehr darum, mit Bedacht zu schauen, alleeinzubeziehen und tatsächlich zu besseren Konzepten zugelangen.
Mit der Umsetzung der UN-Konvention gehen wireine große Aufgabe an. Viele Politikfelder müssen ein-bezogen werden; aber davor scheuen wir uns nicht. Wirwerden hier Konzepte vorlegen; wir sind schon an derArbeit. Lassen Sie uns nicht nur darauf schauen, welcheDefizite vorhanden sind! Lassen Sie uns vielmehr dieguten Beispiele zum Vorbild nehmen! Auf diese Sicht-weise kommt es an. Wenn wir das beachten, werden wirhier zum Erfolg kommen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hatder Kollege Markus Kurth von Bündnis 90/Die Grünendas Wort.
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4338 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
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Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Wenn man diese Debatte verfolgt und die Rednerund Rednerinnen der Regierungskoalition gehört hat, sofällt doch zweierlei auf: erstens die Widersprüchlichkeitzwischen den Absichten und Zielen, die Sie verkünden,und dem tatsächlichen Handeln der Regierungskoalition,und zweitens die Unverbindlichkeit, die letztlich in IhrenAussagen steckt.
Ganz offensichtlich gibt es Widersprüche oder Un-klarheiten, inwieweit Sie mit der Umsetzung der Zieleder UN-Konvention überhaupt Ernst machen wollen.
Wenn Frau Molitor sagt, dass man nicht unbedingt in ei-nen Wettlauf eintreten müsse, und ganz allgemein vonder Verbesserung der Bedingungen spricht, dann ver-misse ich das klare Bekenntnis, dass es selbstverständ-lich auch gesetzgeberischen Handlungsbedarf gibt.
Ziele, die Sie in Richtung Bildung und Arbeit formulierthaben, lassen sich ohne gesetzgeberische Änderungennicht umsetzen.
Wie erklären Sie sich dann aber, dass zum BeispielStaatssekretär Brauksiepe im Arbeits- und Sozial-ausschuss am 3. März, als wir dieses Thema schonbehandelten, eindeutig erklärte, es gebe keinen gesetzge-berischen Handlungsbedarf, jedenfalls sehe die Bundes-regierung ihn nicht? Klären Sie das einmal auf!
Der zweite Punkt sind diese sehr allgemeinen Aussa-gen. Ich fürchte, das setzt sich in dem Aktionsplan derBundesregierung fort. Warum klammern Sie beispiels-weise den großen Bereich der Eingliederungshilfe fürMenschen mit Behinderungen, vom finanziellen Volu-men und von den betroffenen Lebensbereichen her derbedeutendste Bereich, aus dem Aktionsplan aus?
Das müssen Sie wirklich einmal erklären. Sie haben her-vorragende Vorlagen zum Beispiel durch das Eckpunkte-papier der Arbeits- und Sozialministerkonferenz, diesich sehr gut mit den Zielen der UN-Konvention verbin-den ließen. Ich kann Ihnen auch sagen, was Sie ganzkonkret streichen könnten, nämlich den Mehrkostenvor-behalt, wenn es um das Wunsch- und Wahlrecht geht,unabhängige Assistenz bei der Wahrnehmung des Per-sönlichen Budgets und viele andere Punkte mehr, die wirbereits seit Jahren in unsere Anträge zur Reform der Ein-gliederungshilfe schreiben.
Vor einem weiteren Thema drückt sich die Bundesre-gierung. Frau Michalk, ich habe es jetzt mit Freuden ge-hört, als Sie sagten, wir müssten die Mehrgliedrigkeit imBildungssystem überwinden und brauchten als Ziel dengemeinsamen Unterricht. Aber auf acht mündliche Fra-gen der Grünen-Fraktion hat die Bundesregierung dieVerantwortung für den Bildungsbereich in Gänze vonsich gewiesen;
sie hat ihre gesamtstaatliche Verantwortung verleugnet.Dabei wäre das wichtig. Art. 8 der UN-Konvention er-legt der Bundesregierung die Pflicht auf, wirksameKampagnen zur Bewusstseinsbildung einzuleiten, ge-rade im Bildungssystem. Das ist der Schlüssel für dievon Ihnen beschworenen Veränderungen in den Köpfen.
Was es bedeuten kann, wenn aus diesem Parlamentund von dieser Regierung keine klaren Bekenntnisse zuden Zielen und Rechten der UN-Konvention kommen,
zeigt sich in der bayerischen Provinz. Es liegt nämlichein gemeinsames Schreiben des Bayerischen Städtetags,des Bayerischen Gemeindetages und des BayerischenLandkreistages vor, das mit Einsparmöglichkeiten im so-zialen Bereich aufwartet. Das müssen Sie sich einmalangucken. Darin wird offensiv das Wunsch- und Wahl-recht der Menschen mit Behinderungen infrage gestellt;es soll eingeschränkt werden. In stationären Einrichtun-gen sollen Einbettzimmer eher zur Ausnahme werden,und Menschen mit Behinderungen und deren Verwandtesollen an den Kosten der Eingliederungshilfe weitausstärker beteiligt werden. Das sind kleinteilige und wirk-lich mit ganz kleiner Münze vorgenommene Sparvor-schläge, die an der Notwendigkeit einer systemischenVeränderung des Systems der Leistungserbringung weitvorbeigehen.
Dabei wäre mehr Wirtschaftlichkeit mit mehr Selbst-ständigkeit von Menschen mit Behinderungen absolut zuverbinden. Wir sehen, dass hier von den bayerischenKirchturmpolitikern, die in diesen Verbänden sitzen, fastschon der Versuch vorsätzlicher Menschenrechtsverlet-zungen unternommen wird.
Ich fordere Sie als Bundesregierung auf – wir werdenauch unseren Teil beitragen –, nach den Kriterien derUN-Menschenrechtskonvention jetzt ein gutes Stück vo-ranzukommen und hier nicht mehr zuzuwarten.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4339
Markus Kurth
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Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/1578, 17/1762 und 17/1761 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur
Änderung des Vierten Buches Sozialgesetz-
buch und anderer Gesetze
– Drucksache 17/1684 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Wir werden die Reden dazu zu Protokoll nehmen. Es
handelt sich um die Reden der Kolleginnen und Kolle-
gen Peter Wichtel und Max Straubinger, CDU/CSU,
Anette Kramme, SPD, Johannes Vogel, FDP, Katja
Kipping, Die Linke, und Markus Kurth, Bündnis 90/Die
Grünen.
Seit der Konstituierung des Deutschen Bundestages
im Herbst des vergangenen Jahres hat die Bundesregie-
rung auf dem Feld der Arbeits- und Sozialpolitik bereits
deutliche Erfolge erwirken können. Die laufenden Ge-
setzgebungsvorhaben und nicht zuletzt die jüngsten sta-
tistischen Daten des Arbeitsmarktes verdeutlichen das
nachhaltige Engagement der christlich-liberalen Koali-
tion. Mit der Verlängerung der bewährten Sonderrege-
lung der Kurzarbeit und der Jobcenterreform kann die
soziale Sicherung der Menschen auch in wirtschaftlich
herausfordernder Zeit gewährleistet werden. Insbeson-
dere der Rückgang der Zahl der Erwerbslosen im Monat
April um 162 000 verdeutlicht den Erfolg der arbeits-
markt- und sozialpolitischen Instrumente der Bundes-
regierung.
Auch in dem heute vorliegenden Antrag geht es um ei-
nen weiteren und bedeutsamen Schritt, um unsere sozia-
len Sicherungssysteme den wirtschaftlichen Strukturen
anzupassen und entscheidend zu verbessern. Der Ent-
wurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Vierten
Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze soll die
Sozialgesetzgebung durch vereinzelte Modifikationen
den gegebenen Herausforderungen anpassen. Damit
wird eine Rechtsgrundlage geschaffen, um den Sozial-
staat weiter zu festigen und das Vertrauen der Bürgerin-
nen und Bürger in die Sicherungssysteme zu stärken.
So sieht der Entwurf vor, den Deutschen Gewerk-
schaftsbund in das elektronische Entgeltnachweis-
verfahren ELENA einzubeziehen. Der DGB soll als Ver-
treter der Arbeitnehmerinteressen unmittelbar in das
Verfahren zur Festlegung der technischen Vorschriften
für die Datensätze integriert werden. Das von der
Bundesregierung vorgesehene Anhörungsrecht zur Ge-
nehmigung der gemeinsamen Grundsätze im ELENA-
Verfahren soll dabei auf gleiche Weise auf die Gewerk-
schaften erstreckt werden, wie es bisher für die Be-
teiligung der Arbeitgeberverbände geregelt ist. Ent-
sprechend der Vertretung der Arbeitgeber durch die
Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände
sieht die Regierung daher die Beteiligung des Deutschen
Gewerkschaftsbundes vor. Die Intention des elektroni-
schen Entgeltnachweisverfahrens, Kosten einzusparen
und Bürokratie abzubauen, wird so weiter nachhaltig
verfolgt. Wirtschaftlichkeit und Effektivität gehen hier
Hand in Hand.
Weitere entscheidende Bausteine des vorliegenden
Gesetzentwurfes tangieren die gesetzliche Unfallversi-
cherung. So sollen die Unfallversicherungsträger zu-
künftig verpflichtet sein, eine Regelung zur Verletzten-
geldberechnung bei nicht kontinuierlicher
Arbeitsverrichtung in ihre Satzungen zu integrieren.
Eine derartige Ermächtigung war bisher optional, dem-
entsprechend haben nicht alle Unfallversicherungsträ-
ger davon auch Gebrauch gemacht. Auch die Berück-
sichtigung von Arbeitseinkommen aus selbstständiger
Tätigkeit wird als obligatorisch verankert. So wird ge-
setzlich festgeschrieben, dass das Verletztengeld auch in
atypischen Fällen bei selbstständig Tätigen seine Funk-
tion als Entgeltersatz erfüllt. Als Beispiel diene hier der
Fall, in welchem die selbstständige Tätigkeit erst im
Laufe des Bemessungszeitraums aufgenommen wurde.
Auch hier wird deutlich, dass wir die soziale Sicherheit
der Menschen und deren Vertrauen in den Sozialstaat
weiter nachhaltig stärken werden.
Ein zentraler Bestandteil des Gesetzentwurfes be-
schäftigt sich dagegen mit dem System der gesetzlichen
Unfallversicherung. Im Oktober 2008 wurde mit dem
Unfallversicherungsmodernisierungsgesetz eine ebenso
notwendige wie effektive Änderung der bestehenden
Strukturen der Versicherungsträger beschlossen. Ziel
des UVMG war unter anderem die Straffung der Organi-
sation durch eine Reduzierung der gewerblichen Berufs-
genossenschaften auf freiwilliger Basis. Die Umsetzung
der Zielvorgabe, die Träger bis zum 31. Dezember des
vergangenen Jahres auf 9 zu reduzieren, wurde aller-
dings nicht vollständig erreicht. Die Trägerzahl durch
freiwillige Fusionen hat sich bis zum Ablauf der Frist
auf 13 reduziert. Vor diesem Hintergrund gilt es nun, mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf eine Rechtsgrundlage
zu verabschieden, um die Straffung der Organisation des
Systems erfolgreich abzuschließen. Dazu soll der Ge-
setzgeber ermächtigt werden, die noch notwendigen Fu-
sionen herbeizuführen.
Dabei gilt es deutlich zu betonen, dass der Grundsatz
des Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Un-
fallversicherung – Vorrang für die Selbstverwaltung –
sich grundsätzlich bewährt hat. Daher sollen die Einzel-
heiten der Fusionen, entsprechend der bereits dem
UVMG zugrunde liegenden Zurückhaltung des Gesetz-
gebers, auch weiterhin von der Selbstverwaltung ent-
schieden werden. Auch die bestehenden Regelungen des
Siebten Buches Sozialgesetzbuch bezüglich freiwilliger
Peter Wichtel
(C)
(B)
Fusionen von gewerblichen Berufsgenossenschaften
werden weiterhin gelten. Der vorliegende Gesetzentwurf
der Bundesregierung bestimmt neben den Fusionspart-
nern lediglich die Fristen für das weitere Verfahren. So
wird ein zeitnaher Abschluss der Neuorganisation des
Systems der gesetzlichen Unfallversicherung gewähr-
leistet.
Auch die im vorliegenden Entwurf vorgesehene Frist
für die Fusionen bis zum 1. Januar 2011 ist überaus an-
gemessen. Die Verhandlungen zwischen der Berufsge-
nossenschaft Nahrungsmittel und Gaststätten und der
Fleischerei-Berufsgenossenschaft konnten zwar bisher
nicht innerhalb der gesetzten Frist erfolgreich abge-
schlossen werden. Andere Berufsgenossenschaften ha-
ben vergleichbar schwierige Verhandlungen aber positiv
gestaltet und letztendlich fusioniert. Rufe nach eine Ver-
längerung der Frist sind unbegründet und zudem nicht
zielführend. Die Fusionshindernisse sind nicht im zeitli-
chen Bereich zu suchen. Vielmehr erscheint es notwen-
dig, mit einer zeitlich angemessenen Grenze den Fu-
sionsdruck auf die Beteiligten aufrecht zu erhalten.
Abschließend betrachtet eröffnet der vorliegende
Entwurf nicht nur die Möglichkeit, das Unfallversiche-
rungsmodernisierungsgesetz erfolgreich abzuschließen.
Das Dritte Gesetz zur Änderung des Vierten Buches So-
zialgesetzbuch und anderer Gesetze wird die Sozialge-
setzgebung den gegebenen und zukünftigen Herausfor-
derungen anpassen und so die Wirtschaftlichkeit und die
Effektivität des Sozialsystems nachhaltig steigern. Da-
bei geht es um nicht mehr und nicht weniger als die so-
ziale Sicherung der Bürgerinnen und Bürger und deren
Vertrauen in den Sozialstaat.
Es ist unsere Aufgabe, mit einer verantwortungsvol-
len und nachhaltigen Arbeits- und Sozialpolitik die
Grundlage für soziale Sicherheit und Gerechtigkeit zu
schaffen. Dieser Verantwortung kommen wir, auch mit
dem vorliegenden Gesetzentwurf, jetzt und in Zukunft
nach.
Der heute eingebrachte Gesetzentwurf sieht die Ver-längerung einzelner befristeter arbeitsmarktpolitischerInstrumente vor. Verlängert werden die Entgeltsiche-rung für ältere Arbeitnehmer, der Eingliederungs-zuschuss für Ältere, die Maßnahmen zur Weiterbildungälterer beschäftigter Arbeitnehmer und die Regelung zurerweiterten Berufsorientierung. Durch die Verlängerungwird es ermöglicht, die Wirkung über einen längerenZeitraum besser beurteilen zu können; das schafft denfür eine Evaluation erforderlichen zeitlichen Spielraum.Die arbeitsmarktpolitischen Instrumente sollen bis zumJahr 2011 überprüft werden.Da noch nicht alle Berufsgenossenschaften den ge-fassten Beschluss des Hauptverbandes der gewerblichenBerufsgenossenschaften vom 1. Dezember 2006 zur Re-duzierung der Anzahl der Berufsgenossenschaften um-gesetzt haben, soll diesem mit dem heutigen Gesetzent-wurf Nachdruck verliehen werden. Deshalb sieht derGesetzentwurf eine Fristsetzung zur Fusion zum 1. Ja-nuar 2011 vor. Ich würde es aber sehr begrüßen, wennZu Protokolldie betroffenen Berufsgenossenschaften die Fusionsge-spräche noch einmal mit großem Nachdruck betreibenwürden und versuchten, ihre Bedenken in Gesprächenmit der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung undihren jeweiligen Fusionspartnern auszuräumen. Im Hin-blick auf eine nachhaltige, kostengünstige Verwaltungmüssen die gesteckten Ziele der Organisationsreformder gesetzlichen Unfallversicherung und des Beschlus-ses des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenos-senschaften vom 1. Dezember 2006 baldmöglichst er-reicht werden.Der Bundesrat kritisiert in seiner Stellungnahme dieHerausnahme der im Referentenentwurf zum vorliegen-den Gesetzentwurf ursprünglich vorgesehenen Strei-chung der Einrichtung der Weiterleitungsstellen. DieserKritik schließe ich mich an. Diese mit dem Gesetz zurStärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Kranken-versicherung ab 1. Januar 2011 eingeführte Regelung,nach der Arbeitgeber auf Antrag die Meldungen zurSozialversicherung, Beitragsnachweise und sämtlicheZahlungen ab dem 1. Januar 2011 an eine sogenannteWeiterleitungsstelle ihrer Wahl einreichen können, führtzu Doppelstrukturen. Sie schafft umfangreiche und kos-tenaufwendige Schnittstellen, ohne den Arbeitgebernnennenswerte Vorteile zu verschaffen.Die Weiterleitungsstellen sollen die Meldungen zurSozialversicherung, die Beiträge zur Sozialversicherungund die Beitragsnachweise vom Arbeitgeber entgegen-nehmen und an die zuständigen Einzugsstellen, also dieKrankenkassen, weiterleiten. Arbeitgeber, die weiterhinwie bisher direkt mit der oder den Krankenkassen ab-rechnen wollen, können allerdings auch das bisherigeVerfahren einfach fortsetzen. Dies ist eine unbefriedi-gende Lösung, die verbessert werden sollte, was bisheraber nicht geschehen ist. Sie bewirkt nach Auffassungder Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberver-bände, BDA, keine signifikanten Einsparmöglichkeitenoder qualitativen Verbesserungen der Prozesse des Bei-tragseinzuges.Für den Arbeitgeber würde sich lediglich der Zah-lungsmodus auf einen Überweisungsvorgang reduzie-ren, was im Zeitalter des Onlinebanking keine spürbareErsparnis mit sich brächte. Die Einrichtung der zentra-len Weiterleitungsstellen brächte aber Kosten mit sich,die letztlich aus von Arbeitnehmern und Arbeitgebern zutragenden Beitragseinnahmen zu finanzieren sind.Zudem ist zu befürchten, dass zahlungsunwillige undnicht zahlungsfähige Arbeitgeber die Nichtabführungvon Sozialversicherungsbeiträgen verschleiern können,indem sie unterschiedliche Angaben gegenüber denKrankenkassen bzw. den zentralen Weiterleitungsstellenmachen.Bei einem Ausfall würden nicht nur Einnahmen ausKrankenversicherungsbeiträgen verloren gehen, betrof-fen wäre vielmehr der Gesamtsozialversicherungsbei-trag, also die Beitragseinnahmen aus der Kranken-,Renten-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung.Der Normenkontrollrat wies in seiner Stellungnahmevom 18. März 2010 darauf hin, dass durch die Automa-
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4340 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
gegebene RedenMax Straubinger
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tisierung der Datenerfassung und Datenübermittlungein wesentlicher Grund für die Weiterleitungsstellen inihrer derzeit vorgesehenen Form entfallen ist. Es stelltsich daher die berechtigte Frage, ob die zu erwartendengeringen Einsparungen bei den Unternehmen die Kos-ten der Krankenkassen zum Einrichten und Betreibender Weiterleitungsstellen rechtfertigen.Das Thema Beitragseinzug ist grundsätzlicher Natur.Ich plädiere daher dafür, den Beitragseinzug weiter beiden Krankenkassen zu belassen und die vorgesehenenBeitragsweiterleitungsstellen in dieser Form nicht ein-zurichten.
Mit dem Dritten Gesetz zur Änderung des ViertenBuches Sozialgesetzbuch werden verschiedene Vor-schläge und Anregungen zu einzelnen sozialpolitischenRegelungen aufgegriffen sowie die veränderte Recht-sprechung berücksichtigt. Jenseits der hier formuliertentechnischen Änderungen und der Umsetzung neuerRechtsprechung enthält der Gesetzentwurf der Bundes-regierung allerdings auch Regelungen, die sehr wohlvon politischer Bedeutung sind.An erster Stelle ist hier die Formulierung eines neuen§ 225 SGB VII zu nennen, mit dem die Neuorganisationder gewerblichen Berufsgenossenschaften umgesetztwerden soll.Mit dem von der damaligen Großen Koalition be-schlossenen Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichenUnfallversicherung, UVMG, vom 30. Oktober 2008 wargerade auch die Neuorganisation der Unfallversiche-rungsträger der Deutschen Gesetzlichen Unfallversi-cherung vorgesehen. Die 26 gewerblichen Berufsgenos-senschaften sollten bis zum 1. Januar 2010 zu 9 Trägernfusionieren. Hierdurch sollte – so die damalige Geset-zesbegründung – „die Bildung ausgewogener und nach-haltig leistungsfähiger Träger“ sowie „eine Erhöhungder Effizienz der Verwaltungen und Einsparungen beiden Verwaltungskosten“ erreicht werden. Dieser freiwil-lige Fusionsprozess ist – mit allen Schwierigkeiten, dieso etwas mit sich bringt – weitgehend erfolgreich ver-laufen. Dieser Prozess ist damit ein Beleg für die funk-tionierende Selbstverwaltung. Allerdings wurde die Zahlvon 9 Trägern nicht ganz erreicht; gegenwärtig existie-ren noch 13 Träger. Es ist daher sachgerecht, dassnunmehr – wie bereits im UVMG für diesen Fall ange-kündigt – eine gesetzliche Vorgabe erfolgt, welche Be-rufsgenossenschaften bis zum 1. Januar 2011 zu gemein-samen Trägern fusionieren sollen. Die vorgeschlageneRegelung wird dabei nicht nur von den übrigen Unfall-versicherungsträgern erwartet, sondern sie wird auchvon den Sozialpartnern unterstützt. Auch die SPD-Bun-destagsfraktion trägt diese Regelung mit.Allerdings verstehe ich natürlich, dass gerade diekleineren Berufsgenossenschaften ganz grundsätzlichbefürchten, im Rahmen eines großen Trägers ihre bran-chenspezifischen Belange nicht ausreichend vertreten zukönnen. Dies gilt insbesondere für die branchenbezo-gene Prävention, die die Kernaufgabe der Unfallversi-cherung darstellt. Hier bin ich für Vorschläge offen, wieZu Protokolldiesen Bedenken im Gesetzgebungsverfahren noch bes-ser Rechnung getragen werden kann. Den Vorschlag desBundesrates, den dieser in seiner Stellungnahme zumGesetzentwurf vom 7. Mai 2010 unterbreitet hat, näm-lich eine Verlängerung der Frist um neun Monate, findeich dabei nicht sinnvoll: Wenn der bisherige Appell, frei-willig zu fusionieren, nicht gefruchtet hat, so wird auchdie Verschiebung des Stichtages, bis zu dem die beteilig-ten Berufsgenossenschaften eine Fusion erreichen sol-len, nicht fruchten. Sinnvoller scheint mir ein Vorschlagzu sein, den Bedenken im Rahmen der neuen Selbstver-waltung Rechnung zu tragen, indem Transparenz undMitwirkung im Rahmen der Vertreterversammlung ver-bessert werden: Hier könnte überlegt werden, bei Fusio-nen von mehr als vier Trägern größere Vertreterver-sammlungen zuzulassen, als dies durch die jetzigeMaximalgröße von 60 Mitgliedern ermöglicht wird. Be-reits in der allgemeinen Begründung zum UVMG wardiese Begrenzung bei Trägern, die aus Fusionen hervor-gehen, als nicht notwendig formuliert worden; aller-dings fehlte eine gesetzliche Normierung. Sinnvoller-weise sollte man diese Regelung nicht als Dauerlösungeröffnen, sondern für einen Übergangszeitraum ermög-lichen: Hier wäre zum Beispiel an den Ablauf der nächs-ten auf die Fusion folgenden Sozialwahlperiode zu den-ken, also an den Zeitraum bis 2017. Mit einer derartigenLösung würde sowohl den Interessen der bereits fusio-nierten Berufsgenossenschaften als auch der jetzt nochvor der Fusion stehenden Berufsgenossenschaften ge-dient.Die im Gesetzentwurf vorgesehenen Regelungen, dieden Datenschutz berühren, sind teilweise kritisch zu be-werten. Für die SPD-Bundestagsfraktion gilt derGrundsatz, dass personenbezogene Arbeitnehmerdatennur für die benötigten Zwecke verwendet werden unddass im Hinblick auf den Grundsatz der Datensparsam-keit nur anlassbezogene Daten ermittelt werden dürfen.Es ist daher zu begrüßen, dass künftig bei derSchwarzarbeitsbekämpfung hierzu die verschiedenenDienststellen intensiv zusammenarbeiten und Datenaustauschen können. Allerdings erscheint es nicht ver-hältnismäßig, einen automatisierten Zugriff auf die beider Datenstelle der Rentenversicherungsträger gespei-cherten Sozialdaten zuzulassen und dazu als Begrün-dung bereits einen „gewissen Anfangsverdacht“ für eineSteuerstraftat genügen zu lassen. Zumindest muss si-chergestellt sein, dass nur dann auf die Daten zugegrif-fen wird, wenn zum einen ein dringender Verdacht aufScheinselbstständigkeit, Kettenbetrug im Baugewerbe,Scheinrechnungen oder auf unrichtige Angaben hin-sichtlich des Umfanges der Beschäftigung von Arbeit-nehmern besteht und zum anderen ohne die Daten einBeweis nicht möglich ist.Letztendlich möchte ich noch einen Punkt anspre-chen, bei dem die Bundesregierung vom Referentenent-wurf bis zum Gesetzentwurf offensichtlich der Mut ver-lassen hat; ich spreche vom Verzicht auf die Streichungder sogenannten Weiterleitungsstellen. Die Möglichkeit,dass Arbeitgeber ab dem 1. Januar 2011 für alle Be-schäftigten die Meldungen zur Sozialversicherung, dieBeitragsnachweise und sämtliche Zahlungen an eine
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4341
gegebene RedenAnette Kramme
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Weiterleitungsstelle ihrer Wahl richten, ist im Rahmendes Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der ge-setzlichen Krankenversicherung auf Wunsch der CDU/CSU geschaffen worden. Die SPD-Bundestagsfraktionunterstützte zwar das Ziel, Arbeitgeber vom Verwal-tungsaufwand zu entlasten; doch war sie skeptisch, obdies mit den Weiterleitungsstellen tatsächlich erreichtwird. Sie fürchtete, dass – im Gegenteil – ein Verwal-tungsmehraufwand erzeugt wird, da die Umlagesätze fürdie Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, U1, und bei Mut-terschaft, U2, bei den einzelnen Krankenkassen differie-ren, sodass allein schon deshalb auch in Zukunft arbeit-nehmerbezogene Stammdaten geführt werden müssen.Mittlerweile ist auch die Bundesvereinigung derDeutschen Arbeitgeberverbände zu der Auffassung ge-kommen, dass die Einrichtung von Weiterleitungsstellenkeine signifikanten Einsparmöglichkeiten oder qualita-tive Verbesserungen beim Beitragseinzug mit sich brin-gen würde. Da neben den Krankenkassen auch die Ren-tenversicherung und die Unfallversicherung sowie derDGB die Einrichtung von Weiterleitungsstellen für über-flüssig erachten, fordert die SPD-Bundestagsfraktiondie Bundesregierung auf, dem Votum des Bundesrates zufolgen, und die ursprünglich im Referentenentwurf vor-gesehene Streichung vorzunehmen.
Heute beraten wir ein umfangreiches Gesetzesvorha-ben der Bundesregierung. Wir haben in vielerlei Hin-sicht Änderungsbedarf, dem wir nun umfassend nach-kommen werden. Um niemanden zu langweilen, werdeich nicht näher auf die vielen redaktionellen Anpassun-gen eingehen, die im SGB-IV-Änderungsgesetz enthaltensind. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass hier imHause Dissens über Interpunktionsfragen herrscht. Dasunterstelle ich jetzt einfach einmal.Stellvertretend lassen sich einige Punkte aus dem Pa-ket herausgreifen, an denen sich zeigen lässt, dassmanchmal auch mit kleinen Änderungen sinnvolle Wir-kungen erzielt werden können. Nehmen wir etwa dieEinfügung in den § 28 b SGB IV. Das damit geschaffeneAnhörungsrecht für den Deutschen Gewerkschaftsbundhalte ich für eine zweckmäßige Ergänzung. Die bishe-rige Regelung, die bei der Meldepflicht im Rahmen derSozialversicherung die Beteiligung diverser Akteurevorsieht, normiert bisher auch explizit die teilnehmendeRolle der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitge-berverbände. Da erscheint es nur angemessen, die Ar-beitnehmerseite nicht außen vor zu lassen. Dies giltumso mehr angesichts der umfangreichen Datenerfas-sung im Zusammenhang mit ELENA. Ich bin mir sicher,dass der DGB ein guter Anwalt des Arbeitnehmerdaten-schutzes sein wird.Ferner ist die Neuorganisation der gewerblichen Be-rufsgenossenschaften ein wichtiger Punkt. Die gesetzli-chen Unfallversicherungen sind ein relativ altes System.Ihre Anfänge gehen schließlich bis ins 19. Jahrhundertzurück. Es ist sicherlich nicht übertrieben, zu behaup-ten, dass sich seither ein grundsätzlicher Wandel der In-dustrie- und Dienstleistungsgesellschaft vollzogen hat.Zu ProtokollDieser Wandel hat sich aber nicht in der Organisationder Berufsgenossenschaften niedergeschlagen; vielmehrwurden alte Strukturen beibehalten. Dies hat schließlichauch zu einer starken Beitragsspreizung geführt, außer-dem zu einer bisweilen überproportionalen Steigerungder Beitragssätze bei einzelnen Berufsgenossenschaften.Völlig zu Recht – das sage ich gerne an die Adresse derOpposition – hat deswegen noch die schwarz-rote Bun-desregierung der vergangenen Legislaturperiode daraufhingewiesen, dass manche „strukturschwachen Bran-chen die Beitragssatzsteigerungen nicht mehr alleinetragen können“.Abgesehen von der Beitragssatzproblematik istschließlich eine zu stark aufgegliederte Trägerland-schaft nicht mehr aktuell und allgemein nicht wün-schenswert. Ein zeitgemäßes Sozialversicherungssystemsollte mindestens auch verwaltungstechnischen Effi-zienzgesichtspunkten genügen. Durch eine Bündelungder Kräfte und Straffung der Organisationsstrukturenlässt sich dies gewährleisten. Insofern begrüßt die FDP-Fraktion die im Gesetzentwurf vorgesehene Fusionsver-pflichtung der Berufsgenossenschaften Nahrungsmittelund Gaststätten und Fleischerei einerseits sowie der Be-rufsgenossenschaften Metall Nord Süd, Maschinenbauund Metall, Hütten und Walzwerke als auch Holz ande-rerseits. Im Übrigen werden wir hier nur hinsichtlichder Rahmenbedingungen gesetzgeberisch tätig; die kon-krete Ausgestaltung überlassen wir den Akteuren selbst.Als Liberalen freut mich auch besonders, dass wir mitdem neuen § 83 a SGB IV eine Informationspflicht beider unrechtmäßigen Kenntniserlangung von Sozialdateneinrichten werden. Somit verbessern wir den Daten-schutz merklich, was gerade in einem so sensiblen Be-reich wie demjenigen der Sozialversicherung von größ-ter Bedeutung ist. Hier werden nicht nur empfindlichepersonenbezogene Daten erhoben und übermittelt, son-dern schlechterdings auch eine große Menge an Daten.So notwendig dies alles ist, so notwendig ist es auch, andieser Stelle für einen lückenlosen Datenschutz zu sor-gen. Gut, dass wir dem hiermit gerecht werden. Damiterreichen wir ein einheitliches Schutzniveau.Abschließend möchte ich bemerken, dass auch dieÄnderung des Alterssicherungsgesetzes der Landwirtewichtige liberale Anliegen berücksichtigt. Denn wir ver-einfachen eine Informationspflicht und machen so denbetroffenen Bürgerinnen und Bürgern einfach das Lebenleichter. Durch die widerlegbare Fingierung der Fort-geltung des Befreiungsantrags von der Versicherungs-pflicht bei einer Wiederaufnahme der einschlägigensozialversicherungspflichtigen Tätigkeit reduzieren wirden Aufwand erheblich, den die jeweiligen Personensonst betreiben müssen. Häufig genug wird aus Un-kenntnis kein neuer Befreiungsantrag gestellt, sodassBeitragsrückstände entstehen. Dies wird bald ein Endehaben, was ich ausdrücklich begrüße.Ich denke, das Gesetz zeigt, dass auch bei wenigerspektakulären Vorgängen sauber, solide und sorgfältiggearbeitet wird. Die Bundesregierung steht im Großenwie im Kleinen für eine solche Vorgehensweise. Ich
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4342 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
gegebene RedenJohannes Vogel
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werbe um breite Zustimmung und danke Ihnen für IhreAufmerksamkeit.
Der uns vorliegende Gesetzentwurf soll das Vierte
Buch Sozialgesetzbuch sowie weitere Gesetze an sehr
vielen Stellen aus recht unterschiedlichen Gründen än-
dern. Laut Aussage der Bundesregierung ergibt sich die-
ser umfangreiche Änderungsbedarf nicht zuletzt aus
einer Vielzahl von Anregungen, unter anderem des Bun-
desrechnungshofes, des Petitionsausschusses, der Ar-
beitgeber und Gewerkschaften sowie der Sozialver-
sicherungsträger und nicht zuletzt auch als Konsequenz
aus der Rechtsprechung. Weiterhin seien noch viele re-
daktionelle Änderungen erforderlich.
Mit dem Gesetzentwurf wird eine Reihe von Zielen
verfolgt; die wichtigsten möchte ich hier gern noch ein-
mal benennen: die Schaffung eines Anhörungsrechtes
für die Gewerkschaften zum ELENA-Datensatz, eine
Fristsetzung für die Fusion einzelner Berufsgenossen-
schaften, die Umsetzung eines Vorschlags des Petitions-
ausschusses zur Berücksichtigung von Arbeitseinkom-
men beim Verletztengeld und die Vereinfachung des
Verfahrens bei Entscheidungen über die Prozesskosten-
hilfe.
Uns liegt zu diesem Gesetzentwurf auch eine Stel-
lungnahme des Bundesrates vor. In dieser werden einige
der geplanten Änderungen kritisiert, beispielsweise dass
die vorgesehene Beschränkung des Anhörungsrechts bei
ELENA ausschließlich auf den Deutschen Gewerk-
schaftsbund beschränkt werden soll. Die Bundesländer
fordern stattdessen ein solches Recht für alle Gewerk-
schaften. Weiterhin hält die Länderkammer die vorgese-
henen Fristen für die Fusion einiger Berufsgenossen-
schaften für „zu knapp bemessen“. Darüber hinaus regt
der Bundesrat einige Klarstellungen und Prüfungen an.
In ihrer Gegenäußerung lehnt die Bundesregierung die
Vorschläge des Bundesrates jedoch weitgehend ab.
Aus Perspektive der Linken ist der Gesetzentwurf un-
problematisch. Bei den Vorgaben zu den Fristen zur Fu-
sion einiger Berufsgenossenschaften sehen wir keinen
dringlichen Veränderungsbedarf. Zur Forderung nach
einer Ausweitung des Anhörungsrechts bei ELENA
– wenn Sie mir diese Bemerkung an dieser Stelle ge-
statten –: ELENA an sich sehen wir als Linke nach wie
vor mehr als kritisch; denn während die bei ELENA
schon heute ersichtlichen Risiken in erster Linie im
Bereich des Datenschutzes riesig sind, zeigen sich die
vermeintlichen Vorteile ziemlich mickrig. Die Frage der
Gewerkschaften sollte auf alle Fälle im Zuge der anste-
henden weiteren parlamentarischen Beratung noch ein-
mal erörtert werden.
Auf einen Punkt möchte ich noch näher eingehen: Si-
cher haben auch Sie von verschiedenen Krankenkassen
Schreiben erhalten, in denen darauf hingewiesen wurde,
dass im Referentenentwurf vorgesehen war, die durch
das Gesetz zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetz-
lichen Krankenversicherung festgelegte Einführung von
sogenannten Weiterleitungsstellen wieder zu streichen.
Um es noch einmal zu erläutern: Für Sozialversiche-
Zu Protokoll
rungsbeiträge waren ab 2011 zentrale Weiterleitungs-
stellen geplant. Die Vorstellung „einer Beitragseinzugs-
stelle“ für alle SV-Beiträge stand bei dieser Regelung
Pate – ganz gleich, bei welchen Kassen die Arbeitneh-
mer versichert sind. Der Vorteil für die Arbeitgeber läge
auf der Hand. Arbeitgeber hätten nur noch mit einer
Stelle zu tun. Es würde keine Rolle mehr spielen, bei wel-
chem Versicherungsträger die Arbeitnehmer kranken-
versichert sind. Die Kassen kritisieren diese zusätzliche
Stelle als „kostenintensive Doppelstruktur“; auch die
Arbeitgeberverbände sähen aufgrund der modernen Da-
tentechnik keinen Vorteil mehr, was nun insgesamt die
Einrichtung von Weiterleitungsstellen überflüssig oder
gar kontraproduktiv macht.
Dieses Vorhaben wurde verständlicherweise von den
Krankenkassen begrüßt: Nun taucht es allerdings im
vorliegenden Gesetzentwurf nicht wieder auf. Hierzu
wären im weiteren parlamentarischen Verfahren im Aus-
schuss die Hintergründe und Begründungen zu klären.
Wir haben uns in den letzten Wochen viel mit den in-ternationalen Finanzmärkten und mit der durch Speku-lation entstandenen Unsicherheit beschäftigt. Das wargut und notwendig. Die EU hat damit begonnen, denZockern an den Finanzmärkten die Rote Karte zu zeigen.Wir müssen denen, die keine echten Werte schaffen, son-dern eher als Scharlatane unterwegs sind, sehr deutlichmachen, dass sie nicht auf die Solidarität unserer Ge-sellschaft zählen dürfen.Ganz anders sieht es mit den vielen Millionen hart ar-beitenden Menschen in Deutschland aus. Sie zahlen re-gelmäßig Beiträge in unsere Sozialversicherungen undhaben ein gutes Recht darauf, dass die Politik diese Sys-teme auch gesetzgeberisch immer auf dem neuestenStand hält. So können Unsicherheiten in der Rechtsan-wendung vermieden und Kosten der Bürokratie gesenktwerden. Auch die eine oder andere Anpassung redaktio-neller Natur aufgrund von Anmerkungen, zum Beispielaus Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, ist not-wendig.Die Fusionen bestimmter Berufsgenossenschaften auffreiwilliger Basis sind in den letzten Jahren erfolgreichgewesen. Das spart Verwaltungskosten, und dieser Wegmuss fortgesetzt werden. Wir dürfen allerdings dort, woauf freiwilliger Basis keine Verbesserungen erfolgt sind,auch nicht davor zurückschrecken, gegebenenfalls aufgesetzgeberischem Wege für Fusionen zu sorgen; dennes geht um den effektiven Einsatz von Sozialversiche-rungsbeiträgen. Das ändert nichts daran, dass der Vor-rang der Selbstverwaltung sich in der gesetzlichenUnfallversicherung bewährt hat. Der Gesetzentwurf be-stimmt neben den zu fusionierenden Berufsgenossen-schaften nur eine Frist, bis zu der die Fusion zu erfolgenhat. Ein großes Maß an Eigenverantwortung und Selbst-verwaltung ist also gesichert.Nicht nur der Datenschutz allgemein, sondern auchund gerade der Sozialdatenschutz sollte uns allen einbesonderes Anliegen sein; denn derjenige, dessen Datenhier verarbeitet werden, kann nicht darüber bestimmen,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4343
gegebene Reden
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4344 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Markus Kurth
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ob seine Daten erfasst werden. Als in den Sozialversi-cherungssystemen versicherter Arbeitnehmer muss erhinnehmen, dass Daten erhoben und erfasst werden.Umso wichtiger ist es, sicherzustellen, dass alle mit denDaten in Kontakt kommenden Institutionen regelmäßigüberprüft werden. Es muss sichergestellt sein, dass alleorganisatorischen und technischen Maßnahmen getrof-fen worden sind, die einen Missbrauch oder eine unnö-tige Weitergabe von Daten verhindern. Hierzu gehörtauch eine angemessene Bußgeldbewährung bei einemVerstoß gegen die Informationspflicht bei unrechtmäßi-ger Erlangung der Kenntnis von Sozialdaten.Unser sozialpartnerschaftliches Modell der sozialenSicherung ist international ein Exportschlager. Viel-leicht wirkt es auf den ersten Blick nicht sexy. Aber es istsicher, krisen- und zukunftsfest. Die gesetzliche Unfall-versicherung, die wir hier in kleinen Details verbessern,wird zum Beispiel in China gerade in großen Schritteneingeführt. Hunderttausende Menschen kommen dortpro Jahr in eine gesetzliche Unfallversicherung nachdeutschem Vorbild. Auf diesem Erfolg dürfen wir unsnicht ausruhen; aber darauf kann man Stolz sein. Solidi-tät wird auf Dauer über windige Geschäftemacher sie-gen, die Menschen damit ködern, dass mit null Einsatz15 Prozent Rendite zu erwirtschaften sind. Lassen sieuns Deutschland zur sozialen und ökologischen Indus-trie- und Dienstleistungsgesellschaft des 21. Jahrhun-derts machen, die es nicht nötig hat, sich im Kasinokapi-talismus zu verzocken.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/1684 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Valerie Wilms, Hans-Josef Fell, Bärbel Höhn,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Schutz der Meere vor Vermüllung und ande-
ren Verschmutzungen
– Drucksache 17/1763 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus
Auch hierzu sollen die Reden zu Protokoll genom-
men werden. Es handelt sich um die Reden der Kollegin-
nen und Kollegen Ingbert Liebing und Josef Göppel,
CDU/CSU, Frank Schwabe, SPD, Angelika Brunkhorst,
FDP, Sabine Stüber, Die Linke, und Dr. Valerie Wilms,
Bündnis 90/Die Grünen.1)
1) Anlage 4
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1763 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:
Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten
Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung
des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung
„Deutsches Historisches Museum“
– Drucksache 17/1400 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Kultur und Medien
– Drucksache 17/1751 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Strobl
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Reiner Deutschmann
Dr. Lukrezia Jochimsen
Claudia Roth
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-
schlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Thomas Strobl von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Zugegeben, es hat etwas länger gedauert;aber heute ist es so weit.
Nach intensiven und kontroversen Beratungen innerhalbdieses Hohen Hauses, aber auch außerhalb des Parla-ments können wir die Gesetzesnovelle zum DeutschenHistorischen Museum heute zum Abschluss bringen.Zentral geht es um folgende Frage: Wie kann die ge-plante Ausstellung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“,die dem Gedenken einer der schrecklichen Entwicklun-gen im Kontext der nationalsozialistischen Expansionund Vernichtungspolitik und ihren Folgen gewidmet ist,am sinnvollsten organisiert werden, um den Anspruchvon Wissenschaftlichkeit und Wahrhaftigkeit zu erfül-len? Die dem Bundestag nun vorliegende Novelle hat,wie ich finde, auf diese Frage eine sehr gute Antwort ge-funden und verdient deshalb, mit großer Mehrheit ange-nommen zu werden.
Es gilt, auch und gerade mit Blick auf den eigentlichenKerngedanken des Gesetzes, nämlich die Versöhnung,zu handeln. Zur Versöhnung kommt es durch Erinne-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4345
Thomas Strobl
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rung, vor allem aber durch objektive Aufarbeitung desVergangenen.Ich möchte es noch einmal in Erinnerung rufen: Nichtbeabsichtigt sind qualitative, inhaltliche Änderungen zurersten Fassung des Gesetzes aus dem Jahre 2008. Bei derim Mittelpunkt der Novelle stehenden unselbstständigenStiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ soll es umrein organisatorische Änderungen gehen. Beispielsweisewird der Stiftungsrat von 13 auf 21 Mitglieder vergrö-ßert. Auch dem wissenschaftlichen Beraterkreis sollenmehr Personen angehören, und zwar bis zu 15 Personenanstatt der bisher maximal neun Personen. Dadurch solleine Verbreiterung des wissenschaftlichen Spektrums er-reicht werden, nicht zuletzt auch mit Blick auf eine inter-nationale Besetzung.In diesem Zusammenhang sind zuletzt immer wiederVorwürfe erhoben worden, durch diese Verbreiterungwürde dem Bund der Vertriebenen ein zu großer Einflusseingeräumt und es sei eine Majorisierung des Stiftungs-rates durch die Vertriebenenorganisation zu befürchten.Dies ist nachgerade absurd.
Ich will gerne kurz Nachhilfe in Sachen Mathematik er-teilen, die man insbesondere bei der Linken nötig zu ha-ben scheint. Majorisierung, also Dominanz im Sinne ei-ner Mehrheitsherrschaft, läge in einem Gremium von21 Personen bekanntlich erst ab einer Anzahl von min-destens zwölf Mitgliedern vor. Das ist das Doppelte desAnteils, den das Stiftungsgesetz für Vertreter des Vertrie-benenbundes vorsieht. Sechs Mitglieder darf der Bundder Vertriebenen stellen, was – wie immer man es auchdrehen und wenden und welch obskure Rechenkunst-stückchen man auch anstellen mag – bei 21 Mitgliedernganz bestimmt keine Mehrheit darstellt, sondern wenigerals ein Drittel, also eine deutliche Minderheit.Richtig ist lediglich, dass der Bund der Vertriebenen,wie übrigens andere Organisationen auch, zahlenmäßigstärker im Stiftungsrat vertreten sein wird. Das ist aberdoch nur recht und billig; denn wer, wenn nicht die Ver-triebenen selbst, hat allen moralischen Anspruch auf an-gemessene Berücksichtigung in einer Stiftung, die derAufarbeitung der Tragödie Vertreibung dienen soll!
In den Rat der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöh-nung“ gehören deshalb notwendigerweise, ja zuvörderstdie Vertriebenen selbst. Ansonsten machte die Veranstal-tung keinen Sinn, sie wäre eine Farce.Dem stimmt übrigens – wofür ich sehr dankbar bin –prinzipiell der Vizepräsident dieses Hohen Hauses, derKollege Wolfgang Thierse, zu. In einem vor wenigen Ta-gen erschienenen Zeitungsbeitrag hebt der SPD-Kollegedie Rolle hervor, die die Vertriebenen in der Geschichteunserer Republik gespielt haben. Er beschreibt undrühmt zu Recht die von den Heimatvertriebenen undEntrechteten geleistete Hilfe beim Wiederaufbau nach1945. Er betont das rastlose Engagement dieser Millio-nen Bundesbürger zugunsten der Versöhnung und derVölkerverständigung und bezeichnet es als mustergültig,was von dieser Gruppe in gesamtstaatlichem Interesseerreicht wurde.
Ich gehe sogar so weit, zu sagen: Die Vertriebenensind ganz wesentlich mit dafür verantwortlich, dass ausder nun über 60-jährigen Geschichte der BundesrepublikDeutschland eine Erfolgsgeschichte geworden ist. Esgilt, diese bemerkenswerte Leistung hervorzuheben. Essoll deshalb betont werden, wie beeindruckend es ist,dass eine Gruppe von Bundesbürgern mit besondererLeiderfahrung sich zu keinem Zeitpunkt ins Schnecken-haus der Selbstbemitleidung zurückgezogen hat, sondernseit Jahrzehnten politisch konstruktiv und offen am Baudes gemeinsamen Hauses Europa, das unser Schicksalund unsere Zukunft gleichermaßen ist, mitarbeitet.
Dass nun diese Gruppe und der von Frau KolleginSteinbach so engagiert geführte Verband vor dem ge-schilderten Hintergrund alles Recht der Welt haben, dieeigene Stimme zu erheben, wenn es darum geht, die Er-innerung an das erfahrene Unrecht und Leid wachzuhal-ten, ist für mich klar und die logische Konsequenz ausdem zuvor Gesagten. Das, denke ich, haben die Heimat-vertriebenen verdient. Ich finde, das schulden wir ihnenüber alle Parteigrenzen hinweg.
Die im Geiste der Versöhnung gehaltene Stiftung, diedurch die Novelle übrigens auch eine höhere demokrati-sche Legitimation bekommt, weil die Mitglieder vomBundestag und nicht länger von der Bundesregierung be-rufen werden, kann nun ihre verantwortungsvolle Arbeitaufnehmen.
Dass sie das rasch tun kann, ist zu wünschen; denn un-sere gesamte Gesellschaft in Deutschland und darüberhinaus wird von der Stiftungsarbeit profitieren.Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
Das Wort hat jetzt der Kollege Wolfgang Thierse von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen! Ichwiederhole, was ich schon mehrfach gesagt habe: Die
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Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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SPD-Fraktion steht grundsätzlich hinter dem Stiftungs-projekt „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“.
In der Koalitionsvereinbarung von 2005 hatten wirmit der CDU/CSU das Sichtbare Zeichen verankert und2008 die Konzeption und den Gesetzentwurf für die Stif-tung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ auf den Weg ge-bracht und verabschiedet. An allem habe ich maßgeblichmitgewirkt.Mit dem Beschluss des Deutschen Bundestages von2008 ist die Erinnerung an Flucht und Vertreibung in einneues Stadium übergegangen. Das Parlament hat sie zuseiner Sache gemacht. Sie ist nicht mehr Eigentum derprofessionellen Vertriebenen des BdV und ist deren ide-eller und moralischer Verwaltung und vor allem jedwe-dem Alleinanspruch entzogen. Bei allen Verdiensten derVertriebenen in der Geschichte der Bundesrepublik istdies ein neuer Schritt; das ist ganz wichtig. Der DeutscheBundestag hat die Erinnerung an diesen Teil deutscherund europäischer Geschichte zur Angelegenheit der ge-samten Republik, der gesamten Gesellschaft gemacht.Deshalb darf die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöh-nung“ nicht der verlängerte Arm der Vertriebenen sein.Dem widerspricht die jetzt vorgesehene Verdoppelungder Sitze des BdV im Stiftungsrat.
Ziel der Stiftung ist einerseits, an die Opfer von Fluchtund Vertreibung zu erinnern, und andererseits – das war fürdie Sozialdemokraten immer der maßgebliche Aspekt –,durch historische Wahrheit zur Versöhnung beizutragen.
Diesem Anliegen hat der quälende Streit um die Beteili-gung Erika Steinbachs im Stiftungsrat geschadet, wie anden Rücktritten des polnischen Historikers TomaszSzarota, der tschechischen Wissenschaftlerin KristinaKaiserova und von Helga Hirsch als Mitglieder des wis-senschaftlichen Beirats deutlich geworden ist.
Die Ausweitung des Einflusses des Bundes der Ver-triebenen durch die Erhöhung der Mitgliederzahl imStiftungsrat trägt nicht dazu bei, den entstandenen Scha-den wieder gutzumachen.
Das Gegenteil ist der Fall. Statt Vertrauen in das Pro-jekt zu schaffen, was ich mir wünsche, gibt die Gesetzes-novellierung eher Anlass zu Misstrauen. Natürlich kön-nen wir als Abgeordnete schwerlich etwas dagegenhaben, dass künftig der Deutsche Bundestag über dieBesetzung des Stiftungsrates entscheidet. Selbstver-ständlich nicht! Aber durch die Blockabstimmung allerMitglieder des Stiftungsrates bleibt – ganz nüchtern be-trachtet – der Einfluss des Deutschen Bundestages aufdie Besetzung doch eher gering. Es ist auch schwerlichetwas dagegen einzuwenden, dass die Anzahl der Mit-glieder des wissenschaftlichen Beirates erhöht wird.Aber diese Änderung und die Erhöhung der Anzahl derStiftungsratsmitglieder sind doch lediglich kosmetischeÄnderungen, die verbergen sollen, dass der Einfluss desBdV ausgeweitet werden soll. Deswegen haben dochFrau Steinbach und der BdV das so begrüßt: weil siemehr Einfluss als Erfolg sehen. Das soll nun ein biss-chen kaschiert werden.Die vorliegende Gesetzesänderung ist eben das Er-gebnis eines erfolgreichen Erpressungsversuchs des BdV.Daran führt kein Weg vorbei.
Den zwischen BdV und Bundesregierung erzieltenKompromiss hatten wir bereits im Februar deutlich kriti-siert. Deshalb werden wir dem jetzt in Gesetzestext ge-gossenen Ergebnis nicht zustimmen.Der ganze Vorgang ist – das kann ich Ihnen nicht er-sparen – für die Regierungskoalition durchaus peinlich.Deshalb ist nachvollziehbar, dass die CDU/CSU-Frak-tion den Gesetzentwurf ursprünglich ohne Debatte still-schweigend durchwinken wollte. Dabei hätte, liebeKolleginnen und Kollegen, die Änderung des Stiftungs-gesetzes auch Chancen für einen Neuanfang der Stiftungbedeuten können; das hat meine Kollegin AngelicaSchwall-Düren in der Ersten Lesung ausführlich darge-legt. Deswegen nenne ich nur einige Stichworte: Warumist nur der BdV im Stiftungsrat vertreten und nicht auchandere Vereine oder Projekte, die seit Jahren erfolgrei-che Versöhnungsarbeit leisten? Es gibt viel mehr als denBdV. Warum sind nicht ausländische Vertreter im Stif-tungsrat, sondern nur im wissenschaftlichen Beirat, wa-rum nicht auch ein Vertreter der muslimischen Gemein-schaft?
Diese sinnvollen Änderungen waren nicht möglich, weildie Bundesregierung neuerlich mit dem BdV hätte ver-handeln müssen. Das zeigt einmal mehr die ganze Pein-lichkeit des Streits.Der Streit hat es nicht leichter gemacht, das Projektzum Erfolg zu führen. Dieses Projekt kann nur gelingen– und ich wünsche mir das Gelingen des Projektes –,wenn es nicht ein nationales, sondern ein nachbarschaft-lich europäisches Projekt wird.
Dabei geht es nicht darum, wie in vielen Zuschriften im-mer wieder behauptet und vom BdV befeuert, dass pol-nische oder tschechische Wissenschaftler den Deutschenihr Geschichtsbild diktieren wollten. Zur historischenWahrheit gehört nicht nur die Sichtweise der professio-nellen Vertriebenen, sondern auch die Perspektive unse-rer europäischen Nachbarn.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4347
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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– Sie wissen genau, wen ich meine.
Wie kann das Projekt jetzt noch gelingen? Ausgewie-sene Experten mit internationalem Ruf müssen ermun-tert werden, im wissenschaftlichen Beirat mitzuarbeiten.Dabei kann an die erfolgreiche Arbeit internationalerExpertengremien angeknüpft werden. Seit Jahren arbei-ten deutsche, polnische und tschechische Wissenschaft-ler in Historikerkommissionen gemeinsam an demThema. Bisher wurde es versäumt, diese Arbeit für dieStiftung ausreichend nutzbar zu machen.Wir brauchen endlich einen diskussionswürdigen Ent-wurf für die Ausstellungskonzeption. Seit der Verab-schiedung des Stiftungsgesetzes im Herbst 2008 gibt eskeine bemerkbaren Fortschritte. Zahlreiche Fragen sindnach wie vor ungeklärt. Was soll in der Ausstellung dar-gestellt werden? Welches Wissen soll sie vermitteln?Wie soll sich diese Ausstellung von anderen Ausstellun-gen zu dem Thema unterscheiden? Welche Vertreibungs-geschichten sollen dargestellt werden? Diese Fragensollten gemeinsam mit anderen, mit internationalen re-nommierten Historikern diskutiert werden.
Wir Sozialdemokraten werden alles uns Mögliche undErlaubte dafür tun, dass das uns wichtige Anliegen, derOpfer von Flucht und Vertreibung im Geiste der Versöh-nung zu gedenken, umgesetzt wird.In Deutschland brauchen Erinnerungs- und Gedenk-projekte einen langen Atem. Das zeigen das Holocaust-mahnmal und die Dauerausstellung des Deutschen His-torischen Museums. Der Streit und die Debatten darüberhaben jeweils viele Jahre gedauert. Das hat aber nichtgeschadet, im Gegenteil. Die Diskussion auch über die-ses Projekt muss offen und gemeinsam mit unserenNachbarn geführt werden. Die deutsche Geschichte ge-hört nun einmal nicht nur uns Deutschen. Sie ist eine eu-ropäische Angelegenheit. Das ist auch in Ordnung so.
Das Wort hat der Kollege Patrick Kurth von der FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Gäste auf der Besuchertribüne! Herzlich be-grüße ich – das sei mir erlaubt – meine Eltern an diesemspäten Abend.
Meine Damen und Herren, man kann nicht behaupten,dass dieses Thema heimlich an der Öffentlichkeit vorbei-gegangen ist. Vorbeigegangen aber sind aufgrund der per-sonellen Diskussionen und aller anderen Debatten, diegeführt worden sind, der ernsthafte Hintergrund und dieNotwendigkeit dieser Gesetzesänderung. Wie notwendigdie Rückkehr zur Versachlichung der Diskussion ist, er-kennt man leider auch an den Begrifflichkeiten, die hierzum Teil gebraucht werden. Herr Thierse – wir arbeiten inanderen Gremien sehr gut zusammen –, ich finde es nichtrichtig, wenn Sie der Bundesregierung und dem Deut-schen Bundestag allen Ernstes bei einer derart sensiblenDebatte und in diesem historischen Kontext vorwerfen,erpressbar zu sein.
Es ist nicht richtig, hier das Wort Erpressung zu verwen-den.
Ich habe mir einmal angeschaut, was das Wort Er-pressung – Sie haben das heute auch in einer Pressemit-teilung verwendet – eigentlich bedeutet. Ein wesentli-ches Merkmal der Erpressung ist, dass der Erpresser inverwerflicher und eigensinniger Gesinnung einen Vorteilfür sich selbst einseitig und zum Schaden des Erpresstenerstrebt.
Das heißt, er profitiert von etwas. – Schauen wir uns ein-mal an, wer hier profitiert. Die Kirchen profitieren. DerZentralrat der Juden profitiert. Der BdV profitiert, undder Deutsche Bundestag profitiert. Sind das alles Erpres-ser?
Der wissenschaftliche Beraterkreis wird spürbar ver-größert. Der größte Profiteur ist der Stiftungszweckselbst, weil die Meinungsbildung im Stiftungsrat auf einbreiteres gesamtgesellschaftliches Fundament gestelltwird.
Die wissenschaftliche Fundiertheit wird wesentlich bes-ser gewährleistet. Die Besetzung des Stiftungsrates istjetzt demokratischer gestaltet, weil der Bundestag dieMitglieder wählt. Die Tatsache, dass er eine Gesamtlistewählt, ist keine Ausnahme, sondern bei solchen Ent-scheidungen die Regel.
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4348 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Patrick Kurth
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Von daher bitte ich Sie, Herr Thierse, und vielleichtauch nachfolgende Rednerinnen und Redner: Gehen Siein solch sensiblen Debatten bitte sorgsam mit Begriffenwie „Erpressung“ um. Sie diskreditieren sonst das guteund umsichtige Ergebnis und von vornherein die Arbeitder Stiftung im In- und Ausland.
Ich bitte Sie, zur sachlichen Debatte zurückzukehren.Wir reden über „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. Dasist der Name der Stiftung. Der FDP geht es dabei umzwei gleichberechtigte Absichten, um zwei gleichbe-rechtigte Interessen. Erstens geht es uns um Vergangen-heitsbetrachtung und Erinnerung, ja. Zweitens geht esuns darum, Lehren für die Zukunft daraus zu ziehen, undum die Zukunftsausrichtung aktueller Politik. Wir betrei-ben die Aufarbeitung im Rahmen dieser Stiftung – dasist auch bei ähnlichen Projekten unser Anspruch – nichtnur wegen der notwendigen Vergangenheitsbewältigungoder wegen des erforderlichen Erinnerns, sondern wirbetreiben diese Aufarbeitung auch, um auf die Zukunftgerichtet urteilsfähig zu bleiben. Urteilsfähigkeit heißt indiesem Zusammenhang, aus den historischen Ereignis-sen Konsequenzen für unser zukünftiges Handeln undfür unsere Beurteilungskraft zu ziehen.Zur Vergangenheitsbetrachtung: Wir wissen – das istunbestritten – um die deutsche Schuld. Wir wissen, dassdas Deutsche Reich einen furchtbaren Krieg mit einembis dahin unbekannten Ausmaß an Verbrechen über Eu-ropa gebracht hat. Aber wir wissen auch um die Schre-cken der Vertreibung und die schrecklichen Folgen, diediese Flucht mit sich brachte. In der gesamten Diskus-sion – auch bei der Stiftung – darf es nicht darum gehen,Krieg und Kriegsfolgen gegeneinander aufzurechnen.Die Verbrechen der Deutschen werden nicht kleinerdurch Verbrechen an Deutschen, und die Verbrechen derDeutschen rechtfertigen nicht Verbrechen an Deutschen.Wir dürfen Verbrechen nicht gegeneinander aufwiegen.
Leid und Schuld sind immer individuell. Aber – auchdas muss gesagt werden – der Holocaust und die Tatender Naziherrschaft haben einen herausragenden Stellen-wert und müssen diesen herausragenden Stellenwertimmer besitzen.Zur Zukunftsausrichtung: Um es klar zu sagen: Wennman die Behandlung des Themas Vertreibung aus-schließlich tatsächlich Vertriebenen überlässt, ist dasThema in gar nicht allzu ferner Zeit aus dem gesell-schaftlichen Verständnis heraus.
Das geht natürlich nicht. Das Thema muss wach bleiben,weil Vertreibung auch heute noch ein vorhandenes undbestehendes Problem ist. Nicht nur die Vertreibung derDeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg soll thematisiertwerden, sondern auch das Schicksal von Vertriebenenanderer Nationen. Dies ist bis heute aktuell und hält bisheute an.Die Stiftungsorgane müssen jetzt so schnell wie mög-lich ihre Arbeit aufnehmen. Die Stiftung muss jetztanfangen, zielgerichtet inhaltliche Arbeit zu leisten. Derbis jetzt bestehende Schwebezustand, der die Stiftungauch in der internationalen Wahrnehmung schwächt,muss so schnell wie möglich beendet werden. Ich bitteSie deshalb alle um Ihre Zustimmung zu dieser gelunge-nen Novelle.Ich bedanke mich sehr herzlich.
Das Wort hat die Kollegin Lukrezia Jochimsen von
der Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Vortotal leeren Tribünen – mit Ausnahme der Eltern desKollegen Kurth, die dankenswerterweise da sind – dis-kutieren wir jetzt als letzten Tagesordnungspunkt übereines der großen Themen der Erinnerungskultur. Ichfinde, die Art, wie wir darüber diskutieren, ist dem nichtangemessen. Statt eine groß angelegte Debatte mit derÖffentlichkeit zu führen, treibt die Regierungskoalitionihren Gesetzentwurf zur Errichtung der Stiftung „Flucht,Vertreibung, Versöhnung“ fast unter Ausschluss der Öf-fentlichkeit durchs Parlament.
Der Grund: So soll ein Skandal versteckt werden.
– Doch: Der Skandal der Erpressung der Bundesregie-rung durch den Bund der Vertriebenen.
Alle Hauptpunkte des neuen Gesetzes gehen auf For-derungen des Bundes der Vertriebenen zurück, der sichals Interessenvertretung damit eine Bundesstiftung zurBeute macht.
Die sechs Vertreter des Bundes der Vertriebenen – ichbleibe dabei; ich kann rechnen – dominieren als größteEinzelgruppe den Stiftungsrat, während zum Beispielder Bundestag nur vier Vertreter in den Stiftungsrat ent-senden darf.
Während im geltenden Gesetz ein zweistufiges Beru-fungsverfahren festgelegt war – die Organisationen be-nennen, aber das Kabinett entscheidet über die Benen-nungen und beruft –, darf der Bundestag jetzt nur über
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4349
Dr. Lukrezia Jochimsen
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ein fertiges Personalpaket mit 21 feststehenden Benen-nungen entscheiden. Zitat:Der Wahl liegt ein Gesamtvorschlag zugrunde, dernur als Ganzes angenommen oder abgelehnt wer-den kann.„Nur als Ganzes angenommen oder abgelehnt“, dasnenne ich ein völlig undemokratisches Verfahren.
Während es von den Koalitionsfraktionen auch noch alsbesonderes Beispiel für Transparenz und als Stärkungder Rolle des Parlaments verkauft wird, nenne ich eseine Missachtung des Parlaments.
Ich frage mich, welche Abgeordnete und welcher Abge-ordnete mit ein bisschen Selbstrespekt so etwas mit sichmachen lässt.Was ist aus dem prestigereichen Vorhaben mit demMotto „Sichtbares Zeichen“ von 2005 geworden? EinGeschacher über die Personalie Steinbach. Eine Beschä-digung des deutsch-polnischen Verhältnisses. Ein Grün-dungsdirektor, der behauptet, dass in der Geschichte derBundesrepublik – wohlgemerkt: der Bundesrepublik –das Schicksal der Vertriebenen nicht angemessen behan-delt worden sei. Eine Institution, die von internationalenWissenschaftlern verlassen wurde. Insgesamt ein Scha-densfall für die Erinnerungspolitik.Die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ istwahrlich auf einem schlechten Weg. Die parlamentari-sche Zustimmung hat dramatisch abgenommen. Wäh-rend das vorige Gesetz vom Dezember 2008 mit derZustimmung der Stimmen von CDU/CSU, SPD undFDP bei Enthaltung der Grünen verabschiedet wurdeund nur die Linksfraktion es ablehnte, ist das heute ganzanders.
Sie haben immer gesagt, es gehe Ihnen um großeZustimmung des Parlaments. Sie wissen ganz genau,dass Sie diese große Zustimmung des Parlaments nichthaben: Alle drei Oppositionsparteien lehnen heute dieGesetzesänderungen ab.
Das sind über 46 Prozent, fast die Hälfte der Abgeordne-ten.
Die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ ist jetztein reines CDU/CSU-FDP-Projekt. Das mag die Koali-tionsfraktionen nicht stören; doch nach dem heutigenAbend können sie nicht mehr behaupten, dass dieseInstitution der Erinnerungskultur von einer großenMehrheit des Bundestages gewollt sei. Das ist eigentlichdas Einzige, was heute gut ist, und einiger Trost an die-sem Abend.Danke schön.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Tabea Rößner von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Die Gesetzesnovelle zur Stiftung „Flucht, Vertrei-bung, Versöhnung“ ist reine Camouflage;
denn hier werden Tatsachen beschönigt und nicht beimNamen genannt. Es geht doch nicht wirklich darum, „derKomplexität der Aufgabenstellung“ der Stiftung „besserRechnung zu tragen“, wie es in dem Entwurf hochtra-bend heißt. Es geht einzig und allein darum, einen Streitinnerhalb der Koalition durch einen faulen Kompromissbeiseitezuschieben. Wenn Sie ehrlich wären, würden Siedas eingestehen.
Kanzlerin Merkel ließ den Konflikt um die Ansprü-che von Frau Steinbach und ihres Bundes der Vertriebe-nen monatelang treiben, ohne politisch zu entscheiden.Statt Verantwortung zu übernehmen, duckte die Kanzle-rin sich weg und riskierte damit eine Verschlechterungder Beziehungen zu unseren östlichen Nachbarländern.Der nun vorliegende Gesetzentwurf ist Ausdruck derSchwäche und der Handlungsunfähigkeit der RegierungMerkel/Westerwelle. Er wird dem Stiftungszweck nichtgerecht.
Wenn es wirklich um die Sache ginge, dann wäre jetztein Neustart des Projektes nötig gewesen, durch den dasursprüngliche Anliegen der Stiftung wieder in den Vor-dergrund gerückt worden wäre, nämlich die Versöhnungund die Darstellung der europäischen Dimension vonFlucht und Vertreibung.
Ich frage mich: Warum muss die Zahl der Vertreterdes Bundes der Vertriebenen im Stiftungsrat von drei aufsechs verdoppelt werden, während andere Gruppen garnicht vertreten sind, Gruppen, die in besonderem MaßeOpfer von Vertreibung waren, wie zum Beispiel Romaund Sinti?
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4350 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Tabea Rößner
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Wer im 20. Jahrhundert über Flucht und Vertreibung re-det, der kommt auch an Muslimen als Opfer nicht mehrvorbei.Um das Einknicken vor den Ansprüchen von FrauSteinbach zu kaschieren, musste die Koalition eine nochstärkere Vergrößerung des Stiftungsrates von 13 auf jetztvorgeschlagene 21 Mitglieder vornehmen. Doch dieErfahrung zeigt, dass sich mit einer solchen Ausweitungdie Handlungsfähigkeit eines Gremiums nicht verbes-sert, sondern dass die Abläufe noch komplizierter wer-den.
Dass statt zwei nunmehr vier Mitglieder des Deut-schen Bundestages dem Stiftungsrat angehören sollen,ist nur auf den ersten Blick positiv zu bewerten. Offenbleibt ja, welche Fraktionen einbezogen werden sollen.
Stark kritikbedürftig ist auch das Wahlverfahren; FrauJochimsen hat es gesagt.
Es ist nicht demokratisch, sondern folgt dem Prinzip„Friss, Vogel, oder stirb“, wenn dem Deutschen Bundes-tag ein Listenvorschlag unterbreitet wird, der nur unver-ändert angenommen oder abgelehnt werden kann. Einselbstbewusstes Parlament kann eine derartige Regelungnicht zulassen.
Es gibt Anlass zu großer Sorge, dass sich die auslän-dischen Vertreter aus dem wissenschaftlichen Beirat derStiftung zurückgezogen haben;
denn ohne eine angemessene Beteiligung von renom-mierten Wissenschaftlern und Fachleuten aus den Nach-barländern verliert die Stiftung ihre Glaubwürdigkeitund kann sie nicht funktionieren.Die Stiftung braucht, wie gesagt, keine Camouflagefür einen faulen Kompromiss, sondern einen ernsthaftenund grundlegenden Neustart, mit dem der pro-europäi-sche Versöhnungsgedanke gestärkt wird.
In der vorgelegten Form lehnt die Fraktion von Bünd-nis 90/Die Grünen die Novelle ab.Vielen Dank.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
nun der Kollege Stephan Mayer von der CDU/CSU-
Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenKolleginnen! Sehr geehrte Kollegen! Mit der heutigenBeschlussfassung über den vorliegenden Gesetzentwurfwird endlich das Kapitel einer langwierigen und allesandere als einfachen Diskussion darüber abgeschlossen,wie der Stiftungsrat der Stiftung „Flucht, Vertreibung,Versöhnung“ besetzt werden soll. Der heute vorliegendeGesetzentwurf ist ein guter und ausgewogener Kompro-miss, der meines Erachtens von allen Beteiligten getra-gen werden kann, die an den Verhandlungen beteiligtwaren.
Ich bin insbesondere froh darüber, dass mit der heuti-gen Beschlussfassung endlich auch die Zeit der Irritatio-nen und der Verunsicherungen darüber zu Ende geht,wie es mit dem Ausstellungs-, Dokumentations- und Be-gegnungszentrum im Deutschlandhaus am AnhalterBahnhof hier in Berlin weitergehen soll. Damit werdenGott sei Dank aber auch all diejenigen in Deutschlandund andernorts Lügen gestraft, die dachten, man müsseder Stiftung und dem Begegnungszentrum nur genügendKlötze zwischen die Beine werfen, dann würden dieseschon scheitern. Das Zentrum gegen Vertreibung wirdentstehen, und es wird unter einer stärkeren Beteiligungderjenigen entstehen, die am stärksten und am intensivs-ten mit dem Thema verbunden sind, nämlich der Vertrie-benen und deren Nachkommen.Herr Kollege Thierse, ich muss schon sagen: Ich per-sönlich finde es unsäglich, dass Sie hier von „professio-nellen Vertriebenen“ gesprochen haben.
Sie werden damit dem Leid und dem Schicksal von15 Millionen Deutschen, die nach dem Zweiten Welt-krieg vertrieben wurden oder flüchten mussten, in keinerWeise gerecht.
Ich finde dies umso unerträglicher – das sage ich andieser Stelle auch ganz deutlich –, da ich weiß, dass Siein Breslau geboren wurden. Man muss einfach daraufhinweisen, dass nicht derjenige vertrieben wurde, derpersönlich Schuld auf sich geladen hatte, sondern obman vertrieben wurde oder nicht, hing einzig und alleinvon dem Umstand ab, ob man in dem – in Anführungs-zeichen – falschen Wohnort lebte oder nicht.
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Stephan Mayer
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Es gilt, auch das an dieser Stelle zu sagen. Hier von„professionellen Vertriebenen“ zu sprechen, halte ich fürherabwürdigend. Ich kann nur mein Unverständnis undKopfschütteln zum Ausdruck bringen. Ich finde es er-bärmlich.
Ebenso unerträglich und unverschämt finde ich, dassSie das Wort Erpressung in den Mund nehmen. Erpres-sung ist ein Straftatbestand. Mit was hätte denn der BdV,der Bund der Vertriebenen, erpressen sollen? Er hattedoch gar kein Erpressungspotenzial.
Das sagen Sie, Herr Thierse, als jemand, der vor kurzemselber straffällig geworden ist. Das halte ich für eineBrüskierung.
Die SPD und auch die anderen Oppositionsfraktionenhaben heute deutlich gezeigt, welch Geistes Kind siesind.
Dies finde ich umso bedauerlicher, meine lieben Kolle-ginnen und Kollegen von der SPD, als es Peter Glotzwar, ein hochanerkannter und hochprofilierter Politikeraus Ihren Reihen, der zusammen mit Erika Steinbach imJahr 2000 die Stiftung „Zentrum gegen Vertreibungen“gegründet hat.
Gerade deshalb hätte ich persönlich es für außer-ordentlich nachvollziehbar und gut verständlich gehal-ten, wenn die Dame, auf deren Initiative das Zentrum ge-gen Vertreibungen in Berlin entsteht, im Stiftungsrathätte mitarbeiten dürfen. Das war leider nicht möglich.
Aber es war keine Erpressung, sondern ein Akt desAufeinanderzugehens, dass der BdV und insbesondereseine Präsidentin die Hand ausgestreckt und damit erstdie Grundlage für den jetzt gefundenen Kompromiss ge-schaffen haben.
Frau Steinbach, eine hochanerkannte, profilierte und ins-besondere – das möchte ich an dieser Stelle betonen – in-tegre Kollegin, hat die Hand ausgestreckt.
Dennoch ist es richtig, dass mit diesem Kompromisseine deutlich verstärkte Vertretung der Vertriebenen der22 Landsmannschaften des BdV im Stiftungsrat möglichist. Das möchte ich an dieser Stelle sagen, weil hier dieFrage aufgeworfen wird, warum nicht die anderen Ver-triebenenorganisationen, sondern der BdV zum Zugekommt.Der BdV ist nun einmal der Dachverband der Heimat-vertriebenen in Deutschland.
Man kann darüber streiten, wie viele Mitglieder er hat.Ich sage aber offen: Egal, ob es 2 Millionen oder1,5 Millionen sind, der BdV ist und bleibt die Dachorga-nisation von 22 Landsmannschaften der Heimatvertrie-benen in Deutschland und hat deshalb aus meiner Sichtdas Recht, im Stiftungsrat entsprechend vertreten zusein.
Um was ging es Ihnen in dieser Diskussion? Ihnenging es doch nur darum, den BdV zu diskreditieren.
Ihnen ging es doch nur darum, die Präsidentin des BdVin ein Licht des Revanchismus und des Reaktionären zurücken.
Dies ist Ihnen Gott sei Dank nicht gelungen. Wir sindmit diesem Gesetzentwurf einen deutlichen Schritt wei-tergekommen.Ich persönlich halte es auch für außerordentlich be-grüßenswert, dass die Bedeutung der Stiftung auch da-durch gehoben wird, dass dieses Hohe Haus in Zukunftdarüber befinden wird, wer im Stiftungsrat mitarbeitenwird.
Das steigert die Bedeutung der Stiftung erheblich.Zuallerletzt möchte ich noch darauf hinweisen, dassdie Erweiterung des wissenschaftlichen Beirats von9 auf 15 Personen zu begrüßen ist. Damit wird eine pro-fundere und auch breitere Einbeziehung von Wissen-schaftlern möglich.Ich würde es außerordentlich begrüßen, wenn sichinsbesondere auch Historiker aus Tschechien und Polenbereiterklären würden, vorurteilsfrei und aufgeschlos-sen mitzuarbeiten, nach dem Grundsatz, dass nur echteAufklärung und Wahrheit die Grundlage für wahre Ver-ständigung und Versöhnung sein können. Dazu soll dieStiftung dienen.
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Stephan Mayer
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In diesem Sinne kann ich nur der Hoffnung Ausdruckverleihen, dass wir in Zukunft wieder zur Ruhe undSachlichkeit zurückkehren, damit diese wichtige Stif-tung ihrer Arbeit nachgehen kann und das Zentrum ge-gen Vertreibungen in Berlin möglichst zügig und gewis-senhaft weiterentwickelt werden kann.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Herr Kollege Mayer, ich rüge Ihren Vorwurf gegen-
über dem Kollegen Thierse, er sei straffällig. Er ist nicht
straffällig, und er ist auch nicht verurteilt. Das ist kein
parlamentarischer Sprachgebrauch im direkten Umgang
miteinander.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten
Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes zur Errich-
tung einer Stiftung „Deutsches Historisches Museum“.
Der Ausschuss für Kultur und Medien empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/1751, den
Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und der
FDP auf Drucksache 17/1400 anzunehmen. Ich bitte die-
jenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um
das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Burkhard Lischka, Dr. Peter Danckert, Sebastian
Edathy, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Vereinfachung des Verfahrens nach der
Grundstücksverkehrsordnung
– Drucksache 17/1426 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Interfraktionell wird wiederum vorgeschlagen, die
Reden zu Protokoll zu nehmen. Es handelt sich um die
Kolleginnen und Kollegen Dr. Jan-Marco Luczak, CDU/
CSU, Burkhard Lischka, SPD, Marco Buschmann, FDP,
Heidrun Bluhm, Die Linke, Wolfgang Wieland,
Bündnis 90/Die Grünen.1)
1) Anlage 5
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/1426 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Sahra Wagenknecht, Klaus Ernst,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Unternehmensmitbestimmung lückenlos garan-
tieren
– Drucksache 17/1413 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden der Kolleginnen und Kollegen Gitta Connemann
und Ulrich Lange, CDU/CSU, Ottmar Schreiner, SPD,
Sebastian Blumenthal, FDP, Jutta Krellmann, Die Linke,
und Beate Müller-Gemmeke, Bündnis 90/Die Grünen.
Wir debattieren heute einmal mehr einen Antrag aus
der Villa Kunterbunt. Dort lebte ein kleines Mädchen
namens Pippi Langstrumpf nach dem Motto „Ich mach’
mir meine Welt, widde, widde, wie sie mir gefällt“. Pippi
lebte in einem Land der Fantasie, der Illusion, abseits
der Realität – wie die Fraktion der Linken. Dies zeigt
der vorliegende Antrag. Denn sein Hauptmerkmal ist die
Ignoranz der Sach- und Rechtslage.
Die Fraktion der Linken widmet sich nunmehr den
Unternehmen, die nicht in inländischen Rechtsformen
wie der GmbH oder der AG, sondern in einer ausländi-
schen Rechtsform wie der britischen „Limited“ oder der
niederländischen „B.V.“ firmieren. Eine wachsende
Zahl von großen Unternehmen, die in Deutschland an-
sässig seien, werde laut Darstellung der Linken diese
ausländischen Rechtsformen nutzen, um das deutsche
Mitbestimmungsrecht zu unterlaufen. Deshalb müsse
unsere nationale Unternehmensbestimmung nach dem
Drittelbeteiligungsgesetz – für Unternehmen mit 500 bis
2 000 Beschäftigten – und dem Mitbestimmungsgesetz
– für Unternehmen mit mehr als 2 000 Beschäftigten –
gesetzlich auf diese ausländischen Rechtsformen ausge-
weitet werden.
Die einzige Aussage, die im Antrag der Linken der
Realität entspricht, ist die Zahl 37. Ja, es ist richtig, dass
in Deutschland 37 Unternehmen mit mehr als 500 Be-
schäftigten in einer ausländischen Rechtsform betrieben
werden. Aber das war es dann auch schon. Denn dem
stehen folgende Zahlen gegenüber: In Deutschland un-
terliegen etwa 700 Unternehmen dem Mitbestimmungs-
gesetz, hälftige Beteiligung der Arbeitnehmervertreter
im Aufsichtsrat, und weitere 1 500 Unternehmen dem
Drittelbeteiligungsgesetz, Drittelbeteiligung der Arbeit-
nehmer im Aufsichtsrat. Die Zahl von 37 ausländischen
Gesellschaften ist dagegen verschwindend gering. Dies
Gitta Connemann
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entspricht 1,68 Prozent der großen Unternehmen. Es
gibt also keine Flut von Unternehmen, die in ausländi-
sche Rechtsformen stürzen. Das von den Linken be-
schriebene Phänomen einer allgemeinen Tendenz der
Mitbestimmungsumgehung ist also lediglich ein Produkt
ihrer Fantasie. Die verschwindend geringe Zahl macht
deutlich, dass bei den großen Gesellschaften eine Mitbe-
stimmungsumgehung nicht im Vordergrund steht. Schon
die Sachlage wird also falsch beschrieben.
Leider setzt sich das bei der Darstellung der Rechts-
lage fort. Vor der Aufsetzung des Antrages hätte den Lin-
ken eine Befassung mit dem Europarecht gutgetan. Denn
dann hätte man gewusst, dass eine Ausweitung der deut-
schen Mitbestimmung auf ausländische Gesellschafts-
formen mit dem Europarecht nicht vereinbar ist. Die
herrschende Meinung in der rechtswissenschaftlichen
Literatur sieht in einer solchen einen Verstoß gegen den
europäischen Grundsatz der Niederlassungsfreiheit.
Der Europäische Gerichtshof hat in seinen Grundsatz-
entscheidungen zur Niederlassungsfreiheit wiederholt
Folgendes festgestellt: Gesellschaften, die nach dem
Recht eines anderen EU- oder EWR-Mitgliedsstaats
wirksam gegründet worden sind, sind auch in Deutsch-
land in ihrer ausländischen Rechtsform anzuerkennen,
und zwar selbst dann, wenn sie überwiegend oder gar
ausschließlich in Deutschland tätig sind, siehe nur
Rechtssachen Centros, Überseering, Inspire Art, Sevic
und Cartesio.
Eine englische Private Limited Company, Limited,
und eine niederländische Besloten Vennootschap, B. V.,
sind also als solche zu behandeln, ohne dass es darauf
ankommt, wo die Gesellschaft geschäftlich aktiv ist.
Denn es gilt die sogenannte Gründungstheorie. Danach
sind die gesellschaftsrechtlichen Verhältnisse eines Un-
ternehmens nach dem Recht zu beurteilen, nach dem es
gegründet wurde. Was die Reichweite des ausländischen
Gesellschaftsrechts angeht: Das Gesellschaftsstatut um-
fasst dabei alle Aspekte der gesellschaftsrechtlichen
Verfassung des Unternehmens. Dazu gehört nach herr-
schender Auffassung in der rechtswissenschaftlichen
Literatur, zum Beispiel Ulmer/Habersack/Henssler,
Spahlinger/Wegen, Junker, auch die Unternehmensmit-
bestimmung. Eine in Deutschland operierende Gesell-
schaft aus dem Ausland unterliegt daher nur dann
unseren nationalen Regelungen zur Unternehmensmit-
bestimmung, wenn das berufene ausländische Gesell-
schaftsrecht dies vorsieht. Einer Ausweitung der Unter-
nehmensmitbestimmung auf ausländische Rechtsformen
von EU- oder EWR-Mitgliedstaaten scheitert deshalb an
den rechtlichen Hürden, die der Europäische Gerichts-
hof zum Schutz der Niederlassungsfreiheit errichtet hat;
siehe nur Junker, Henssler, Riegger, Horn, Veit/Wichert,
Müller-Bonanni. Uns als nationalem Gesetzgeber ist es
also europarechtlich verwehrt, den Geltungsbefehl der
deutschen Gesetze zur Unternehmensmitbestimmung auf
Auslandsgesellschaften zu erstrecken.
Die Linken ignorieren mit Ihrem Antrag die Sach-
und Rechtslage. Entsprechend ihres Vorbildes Pippi
Langstrumpf machen Sie sich die Welt eben so, wie diese
ihnen gefällt. So darf aber kein Gesetzgeber arbeiten.
Zu Protokoll
Drei mal drei ergibt eben nicht sechs. Deshalb werden
wir ihren Antrag ablehnen.
Mit ihrem Antrag fordert Die Linke gesetzlicheBestimmungen dafür zu schaffen, dass die deutschenVorschriften für das Mitbestimmungsrecht auch für Ge-sellschaften mit ausländischer Rechtsform, die inDeutschland ihren Verwaltungssitz haben, gelten.Wie ist die derzeitige Rechtslage? Unterliegt eine inDeutschland tätige Gesellschaft einem ausländischenGesellschaftsstatut, ist das ausländische Mitbestim-mungsrecht anzuwenden, wenn es im Gründungsstaatder Gesellschaft überhaupt Mitbestimmungsregelungengibt.Wenn man den Antrag liest, möchte man meinen, inDeutschland habe die große Mitbestimmungsflucht be-gonnen. Die von den Linken wie so häufig ignorierte Re-alität zeigt ein ganz anderes Bild.Die Fraktion Die Linke zitiert die Hans-Böckler-Stif-tung. Deren empirische Arbeit habe ergeben, dass sichdie Anzahl ausländischer Kapitalgesellschaften mit in-ländischem Verwaltungssitz oder Zweigniederlassungund mitbestimmungsrelevanter Größe zwischen Januar2006 und November 2009 um zehn auf insgesamt 16 Un-ternehmen erhöht hat. Im gleichen Zeitraum hat sich dieAnzahl deutscher Personengesellschaften mit ausländi-schem Komplementär in mitbestimmungsrelevanterGröße ebenfalls um zehn auf insgesamt 21 erhöht. BeideFallgestaltungen zusammen ergeben den von der Frak-tion Die Linke genannten Anstieg von 17 auf 37 Unter-nehmen.Nach einer Studie der Universität Jena zum Drit-telbeteiligungsgesetz fallen unter dieses Gesetz circa1 500 Unternehmen, vom Mitbestimmungsgesetz werdencirca 700 Unternehmen erfasst. Wer ernsthaft die ge-nannten Zahlen miteinander vergleicht, sieht sofort: Esist kein wirkliches Problem in unserer Gesellschaft. Beidiesem Zahlenverhältnis kann nicht von einem drängen-den Problem gesprochen werden.Selbst die von der Linksfraktion zitierte Hans-Böckler-Stiftung räumt freimütig ein, dass, wie schon dieBiedenkopf-Kommission richtigerweise erkannt hat, an-gesichts von 700 quasi paritätisch mitbestimmten undvon circa 1 500 drittelbeteiligten Unternehmen die Un-tersuchungsergebnisse nicht auf eine verbreitete Fluchtschließen lassen, die die deutsche gesetzliche Mitbestim-mung infrage stellen könnte. Aber diese Schlussfolge-rung verschweigt die Fraktion Die Linke, was von dieserpopulistischen Partei eigentlich auch nicht anders zu er-warten ist.Tatsächlicher gesetzlicher Handlungsbedarf bestehtimmer dann, wenn Unternehmen eine vermeintliche ge-setzgeberische Lücke dazu ausnutzen, um sich uner-wünschte Vorteile zu verschaffen. Dies ist aber aufgrundder Untersuchungsergebnisse nicht erkennbar. In dengenannten 37 Firmen wurde eine andere Rechtsformnicht gewählt, um das deutsche Mitbestimmungsrecht zuumgehen. Ausländische Investoren haben mit ihrem Sys-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4353
gegebene RedenUlrich Lange
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tem Erfahrung und fügen sie in unser System ein. Es istgrundsätzlich zu begrüßen, dass es zu Wahlmöglichkei-ten und einem Wettbewerb der Gesellschaftsrechtssys-teme innerhalb Europas gekommen ist. Eine Einschrän-kung der Niederlassungsfreiheit unter – das wurdebereits oben angesprochen – Missbrauchsgesichtspunk-ten ist meines Erachtens nicht zu rechtfertigen.Ich möchte noch darauf hinweisen, dass der Vor-schlag der EU-Kommission zur Errichtung der Europäi-schen Privatgesellschaft, EPG, den Zugang kleiner undmittelständischer Unternehmen zum europäischen Bin-nenmarkt erleichtern soll.Bereits mit ihrer Anfrage vom 24. März 2009– Drucksache 16/12526 – hat die Linksfraktion eine an-gebliche Mitbestimmungsflucht thematisiert. Geben Siedoch auf und kommen Sie auf den Boden unserer Ar-beitswelt zurück. Ihr populistischer Antrag wird in die-sem Hause keine Mehrheit finden, da kein aktuellerHandlungsbedarf besteht. Am besten ziehen Sie ihn ein-fach zurück.
Deutschland ist das einzige Land in der EU, in demdie Reallöhne im Durchschnitt nicht gestiegen sind, son-dern seit bald zwei Jahrzehnten stagnieren. Das bedeu-tet: Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden inDeutschland am wachsenden Wohlstand real nicht mehrbeteiligt. Dieser Umstand spiegelt sich auch in der his-torisch niedrigen Lohnquote und der steigenden Armuttrotz Arbeit sehr gut wider. Ursächlich hierfür ist dasShareholder-Value-Prinzip, das einzig und allein das Ei-gentümerinteresse nach raschen und hohen Profiten inden Mittelpunkt des unternehmerischen Wirtschaftensstellt. Um dieses Ziel zu erreichen, verlieren Instrumenteder Mitbestimmung zunehmend an Einfluss. Immer mehrBeschäftigte müssen auf Mitbestimmungsrechte verzich-ten. Durch Mitbestimmung soll die alleinige Orientie-rung der Unternehmen an der Profitmaximierung abergerade verhindert werden.In Deutschland sorgen das Drittelbeteiligungsgesetz,das Mitbestimmungsgesetz und das Montanmitbestim-mungsgesetz für eine demokratische Teilhabe der Beleg-schaft und ihrer Vertreter an unternehmerischen Ent-scheidungen: in Kapitalgesellschaften mit mehr als 500Beschäftigten stellen die Arbeitnehmer ein Drittel derSitze im Aufsichtsrat, in Kapitalgesellschaften mit mehrals 2 000 Beschäftigten ist der Aufsichtsrat paritätischbesetzt. Allerdings hat der Vorsitzende des Aufsichtsra-tes, der immer der Anteilseignerseite angehört, eineDoppelstimme. In der Montanindustrie, die aus histori-schen Gründen eine Sonderstellung innehat, wird derAufsichtsrat paritätisch besetzt. Vor und in der Wirt-schafts- und Finanzkrise haben Belegschaftsvertretun-gen immer wieder Alternativkonzepte zu Standortverla-gerungen oder Massenentlassungen eingebracht. Siehaben für die langfristigen Interessen ihres Unterneh-mens gekämpft. Ohne dieses Engagement hätte uns dieKrise viel stärker getroffen.Nun gilt es, die Unternehmensmitbestimmung an dieveränderten Rahmenbedingungen anzupassen. Auf-Zu Protokollgrund einer jüngeren Rechtsprechung des EuGH zurvölligen Niederlassungsfreiheit können in Deutschlandansässige Unternehmen mit einer ausländischen Rechts-form geführt werden. In der Folge versuchen eine stei-gende Zahl von Unternehmen, die deutsche Mitbestim-mung hierdurch zu umgehen. Das bedeutet mittlerweile:Während 2006 nur 17 in Deutschland ansässige Firmenmit mindestens 500 Beschäftigten sich über eine auslän-dische Rechtsform wie zum Beispiel eine britischeLimited, eine niederländische B.V. oder eine US-ameri-kanische Incorporated der deutschen Mitbestimmungentziehen konnten, waren es laut dem Boeckler-Impuls5/2010 der Hans-Böckler-Stiftung im November 2009bereits 37. Weder Mitbestimmungsgesetz noch Drittelbe-teiligungsgetz greifen in diesem Umfeld. Für die Be-schäftigten heißt das: keine demokratische Teilhabe amUnternehmen und damit keine Mitbestimmungsrechte.Es ist aber auch eine ungerechte Behandlung gegenüberallen anderen Unternehmen mit deutscher Rechtsform,die ihrer Belegschaft Mitbestimmungsrechte einräumen.Die Mitbestimmung in Unternehmen ist ein wesentli-cher Eckpfeiler unserer sozialen und demokratischenGesellschaftsordnung. Mitbestimmung hat sich bewährt.Die Interessen der Menschen müssen im Vordergrund ei-nes sozial verantwortbaren Wirtschaftens stehen – Stake-holder müssen Vorrang haben, Nachhaltigkeit muss vorKurzfristigkeit stehen. Mitbestimmungskritiker sagen,die unternehmerische Mitbestimmung sei nicht mehrzeitgemäß, sei Störfaktor und Standortnachteil in Eu-ropa. Die Kritiker irren. Es handelt sich nicht um einen„Irrtum der Geschichte“. Mitbestimmung ist zeitgemä-ßer denn je. Das ist die Lehre aus der jüngsten Wirt-schaftskrise. Mitbestimmung ist ein Standortvorteil: Sieerhöht Motivation und Produktivität der Mitarbeiter undträgt wesentlich zum nachhaltigen wirtschaftlichen Er-folg von Unternehmen bei. Volkswirtschaften profitierenvon der Unternehmensmitbestimmung. Unternehmenmit ausgedehnter Mitbestimmung weisen eine gerech-tere Einkommensverteilung auf, besitzen eine gute wirt-schaftliche Attraktivität, verfügen über eine starke Welt-marktposition, und der soziale Frieden ist weitestgehendsichergestellt. Unternehmensmitbestimmung ermöglichtzuvörderst die Kontrolle wirtschaftlicher Macht.Selbstverständlich sollen Unternehmen wettbewerbs-fähig und profitabel bleiben. Unternehmensmitbestim-mung widerspricht dem nicht: Analysen zum Beispielvon Dr. Sigurt Vitols aus dem Jahr 2006 zeigen, dass dieMitbestimmung keine negativen Auswirkungen auf dieEigenkapitalrendite und Börsenbewertung von Unter-nehmen hat. Die Volkswagen AG lebt das vor: Eine ex-zellente Marktposition ist bei Volkswagen nicht trotz,sondern wegen einer starken Mitbestimmung und damiteiner rechtlichen und wirtschaftlichen Gleichstellungvon Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern erreichtworden. In der „Financial Times“ von heute ist zu lesen,dass die Volkswagen AG sich auf einem massiven Ex-pansionskurs befinde. Neben der paritätischen Mitbe-stimmung schreibt das VW-Gesetz im Falle von Stand-ortverlagerung und Errichtung von Produktionsstätteneine Zweidrittelmehrheit im Aufsichtsrat vor. Die EU-Kommission hat in dieser Regelung – Art. 4, Abs. 2 VW-
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4354 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
gegebene RedenOttmar Schreiner
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Gesetz – keine Verletzung der Kapitalverkehrsfreiheitgesehen.Um Standortverlagerungen zu erschweren und dieUnternehmensmitbestimmung zu stärken, sollten wirauch über eine diesbezügliche Erweiterung der Mitbe-stimmungsrechte auf alle Kapitalgesellschaften disku-tieren. Jedes dritte Großunternehmen und sogar jedeszweite Kleinunternehmen kehrt nach einiger Zeit nachDeutschland zurück. Vieles wäre den Unternehmen undder Belegschaft erspart geblieben, hätte ein Mitsprache-recht der Arbeitnehmerseite existiert.Die Europäische Rechtsprechung billigt den nationa-len Gesetzgebern auch einen Spielraum für den Schutzvon Arbeitnehmerinteressen zu. Lassen Sie uns gemein-sam diesen Spielraum für die Arbeitnehmerinnen unddie Arbeitnehmer nutzen. Die SPD hat bereits im Juni2007 in ihrem Bericht zur Zukunft der Mitbestimmung inDeutschland und Europa und im Beschluss des SPD-Präsidiums vom 15. März 2010 eine Anpassung der Un-ternehmensmitbestimmung an die Europäisierung undInternationalisierung der Unternehmen gefordert.Meine Partei und ich wollen die deutsche Mitbestim-mung gesetzlich auf Auslandsgesellschaften und Unter-nehmen mit europäischer Rechtsform mit inländischemVerwaltungssitz ausdehnen, einen gesetzlichen Mindest-katalog zustimmungsbedürftiger Geschäfte im Auf-sichtsrat einführen, die paritätische Mitbestimmungschon auf Unternehmen mit mehr als 1 000 Beschäftig-ten ausweiten. Das wäre auch ein wirksamer Schutz ge-gen die schlimmsten Auswirkungen des Finanzmarkt-kapitalismus.Lassen wir nicht zu, dass der soziale Frieden durchdie Umgehung der Unternehmensmitbestimmung ge-fährdet wird. Politik, Wirtschaft und Gewerkschaftenstehen hier gemeinsam in der Verantwortung. Darumlassen Sie uns gemeinsam für mehr Mitbestimmung unddemokratische Teilhabe in Deutschland und in Europaarbeiten.
In dem vorliegenden Antrag fordert die Fraktion Die
Linke, die gesetzlichen Voraussetzungen dafür zu schaf-
fen, dass die deutschen Vorschriften über die unterneh-
merische Mitbestimmung – namentlich die des Drittel-
beteiligungsgesetzes und des Mitbestimmungsgesetzes –
auch für Gesellschaften mit ausländischer Rechtsform
gelten, die in Deutschland ihren Verwaltungssitz haben.
Um diese Forderung zu bewerten, sollten wir uns zu-
nächst mit den im Antrag und in der Begründung formu-
lierten Behauptungen beschäftigen. So wird behauptet:
Neue Untersuchungen zeigen allerdings, dass die
Umgehung der deutschen Mitbestimmungsgesetze
und die Gefahr einer „Flucht aus der Mitbestim-
mung“ zunehmen. … Wie eine aktuelle Studie von Ju-
risten der Hans-Böckler-Stiftung ergab, ist die Um-
gehung deutscher Mitbestimmungsregelungen mit
Hilfe ausländischer Rechtsformen mittlerweile zu ei-
nem drängenden Problem geworden: Die Zahl der in
Deutschland ansässigen Unternehmen, die in
Deutschland mindestens 500 Beschäftigte und eine
Zu Protokoll
rein ausländische Rechtsform oder eine Kombination
stiegen.
Bei der erwähnten Quelle handelt es sich um die Stu-
die „Mitbestimmungsrelevante Unternehmen mit aus-
ländischen/kombiniert ausländischen Rechtsformen“
aus dem Jahr 2010.
Die erwähnte Studie der Hans-Böckler-Stiftung ist im
Antrag der Fraktion Die Linke nicht im Wortlaut wieder-
gegeben worden – aus gutem Grund. Denn die Bewer-
tung der Studie fällt – im Gegensatz zur eben wiederge-
gebenen Behauptung – sehr differenziert aus. So heißt es
in der Studie im Wortlaut:
Die vorliegende Untersuchung beweist einerseits,
dass weiterhin das von Mitbestimmungskritikern
zuweilen verbreitete Bild einer Sturmflut von Aus-
landsgesellschaften, die unter Vermeidung der Mit-
bestimmung in Deutschland tätig werden, nicht mit
der Realität übereinstimmt. Andererseits ist festzu-
stellen, dass die Zahl der mitbestimmungsrelevan-
ten Fälle seit Abschluss der Biedenkopfkommission
deutlich zugenommen hat . Dies
stützt die Forderung, durch eine Erstreckung der
Mitbestimmungsgesetze auf Auslandsgesellschaf-
ten Rechtssicherheit herzustellen.
Es wird also zunächst festgestellt, dass – anders als die
Linke in ihrem Antrag zu suggerieren versucht – keine
Rede davon sein kann, dass die Gefahr einer „Flucht aus
der Mitbestimmung“ droht. Vielmehr wird von der
Hans-Böckler-Stiftung sogar klargestellt – Zitat –:
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4355
(C)
(B)
Auch wir beobachten mit Sorge, dass die Errungen-schaften der deutschen Unternehmensmitbestimmungdurch Unternehmen mit ausländischen Rechtsformen,beispielsweise die britische Limited oder die holländi-sche B. V., untergraben wird. Dazu gehören auch deut-sche Scheinauslandsgesellschaften, die ausländischeRechtsformen mit dem Ziel nutzen, die deutsche Unter-nehmensmitbestimmung zu umgehen.Diese Unternehmen können aufgrund der Rechtspre-chung des Europäischen Gerichtshofs zur Niederlas-sungsfreiheit als ausländische Kapitalgesellschaften inihrer ursprünglichen Rechtsform in Deutschland, unterAnwendung eines ausländischen Gesellschaftsstatuts,tätig werden und so die Mitbestimmung umgehen.Diese Tatsache wurde bereits 2006 in der Regie-rungskommission zur Modernisierung der deutschenUnternehmensmitbestimmung diskutiert. Aufgrund derwenigen Fälle wurde damals auf eine Empfehlung anden Gesetzgeber, die Bestimmungen zur Unternehmens-mitbestimmung auf alle Unternehmen – auch auf dieausländischen Rechtsformen – auszudehnen, verzichtet.Nach wie vor ist die Umgehung der Unternehmens-mitbestimmung kein Massenphänomen. Dennoch ist dieZahl dieser Unternehmen mittlerweile deutlich –, von17 Unternehmen in 2006 auf heute 37 Unternehmen –,gestiegen. Deswegen muss die Bundesregierung handelnund, wie in dem Antrag der Fraktion Die Linke gefor-dert, die Unternehmensmitbestimmung lückenlos aufalle Unternehmensformen ausdehnen. Das gilt für alleFormen der Unternehmensmitbestimmung nach demDrittelbeteiligungsgesetz und dem Mitbestimmungsge-setz.Diese Umgehung der deutschen Mitbestimmungs-rechte ist nicht gerecht; denn die Beschäftigten werdenanders behandelt und haben weniger Partizipations-rechte.Die Unternehmensmitbestimmung ist eine historischeErrungenschaft, die wesentlicher Bestandteil unsererDemokratie ist. Damit müssen wir behutsam umgehen,und wir müssen alles dafür tun, dass diese Errungen-schaft bewahrt wird. Sie stiftet soziale Wertschätzungund gesellschaftlichen Zusammenhalt und könnte einMittel sein, die großen Unternehmen wieder stärker aufdas Gemeinwohl zu verpflichten.
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4356 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4357
Beate Müller-Gemmeke
(C)
(B)
Wir haben hier eine rechtliche Lücke, und jedes Un-ternehmen, das diese Lücke nutzt, macht dieses Problemgrößer. Deswegen fordern wir die Regierung auf, mit ei-ner gesetzlichen Regelung nicht länger zu warten.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1413 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Kekeritz, Ute Koczy, Thilo Hoppe, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Die Ziele der Bundesregierung in der Weltge-
sundheitsorganisation neu ausrichten
– Drucksache 17/1581 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Gesundheit
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden der Kolleginnen und Kollegen Sabine Weiss,
CDU/CSU, Karin Roth, SPD, Helga Daub, FDP, Niema
Movassat, Die Linke, Uwe Kekeritz, Bündnis 90/Die
Grünen.
Zunächst einmal: Wir alle sind froh darüber, dass die
Bundesrepublik Deutschland nach neun Jahren Absti-
nenz wieder im Exekutivrat der Weltgesundheitsorgani-
sation vertreten ist. Und wir sind uns, glaube ich, auch
alle darüber einig, dass wir mit Dr. Ewold Seeba einen
hochqualifizierten und höchst engagierten Vertreter in
diesen Exekutivrat entsandt haben. Seine Arbeit und die
Arbeit seines Teams werden wir als Parlamentsab-
geordnete mit allen Kräften unterstützen.
Deutschland ist drittgrößter Geldgeber der Weltge-
sundheitsorganisation, und das auch in Zeiten der welt-
weiten Finanz- und Wirtschaftkrise. Uns ist daran gele-
gen, dass jeder einzelne Euro, den unsere steuerzahlende
Bevölkerung in die WHO investiert, ein gut angelegter
Euro ist; Geld, mit dem wir die weltweite Gesundheit
stärken. Es geht um die Gesundheit der Menschen welt-
weit, wohlgemerkt, nicht allein um die Gesundheit der
Industriezweige, die auf diesem Gebiet ihr Geld verdie-
nen, oder um die Gesundheit derjenigen, die sich Medi-
kamente und ärztliche Versorgung finanziell leisten kön-
nen.
Wir wollen eine starke und leistungsfähige WHO,
auch darin sind wir uns, denke ich, einig in diesem
Hause. Wir wollen eine Weltgesundheitsorganisation,
die ihre ehrgeizigen Ziele erreichen kann: den „best-
möglichen Gesundheitszustand aller Völker“, wie es
ihre Verfassung formuliert. Diesem Auftrag stellt sich
auch die Bundesregierung während ihrer dreijährigen
Mitgliedschaft im Exekutivrat.
Nun haben die Antragstellerinnen und Antragsteller
der Grünen viel Mühe und Fleiß darauf verwendet, die
ihrer Meinung nach vorrangigen Aufgabenbereiche
darzustellen. Das Ganze steht dann auch noch unter der
Überschrift: „Die Ziele der Bundesregierung in der
Weltgesundheitsorganisation neu ausrichten.“
Sie haben in Ihrem Antrag selbst erfreulich oft festge-
stellt, dass der Arbeitsansatz der Bundesregierung
grundsätzlich begrüßenswert ist. Auf dieser Basis lässt
sich ja schon einmal gut arbeiten. Warum dann aller-
dings die Ziele der Bundesregierung neu ausgerichtet
werden müssen, bleibt mir doch schleierhaft.
Im Grunde sind wir uns doch darüber einig, dass die
Schwerpunkte Stärkung von Gesundheitssystemen und
Pandemievorsorge unbestritten in den Zielkatalog gehö-
ren. Sie hätten gern den Bereich der Medikamentenver-
sorgung dezidiert auf die Agenda gehoben. Ich hatte,
ehrlich gesagt, nie den Eindruck, als sei dieses Aufga-
benfeld von der Agenda abgesetzt gewesen. Im Gegen-
teil: Der kostengünstige Zugang zu wichtigen Arzneimit-
teln für die Transformations- und Entwicklungsländer
steht seit Jahren ganz oben auf unserer Aufgabenliste.
Die Bundesregierung unter Kanzlerin Angela Merkel
ist seit Jahren dabei, Wege zu eröffnen, dass die ärmeren
Länder der Welt Zugang zu kostengünstigen Medika-
menten erhalten, und dies nicht nur für die gängigen
Krankheiten, sondern auch und gerade bei den „verges-
senen Krankheiten“, bei denen die Hersteller zunächst
einmal wenig lukrative Vermarktungschancen sehen.
Allerdings, das habe ich auch schon bei der Beratung
Ihres Antrags zum Thema Generika gesagt, im Mittel-
punkt muss die Frage der Qualität der Arzneimittel ste-
hen. Der weltweite Gesundheitsmarkt ist, Patent hin
oder her, eine lukrative Einnahmequelle und der Tum-
melplatz etlicher rücksichtsloser bis krimineller Ge-
schäftemacher. Hier reicht die plakative Forderung
„Versorgung von Entwicklungsländern mit Generika si-
chern“ nicht aus.
Dieses Thema muss der Deutsche Bundestag auch
nicht als neues Ziel für die Arbeit in der WHO definie-
ren. Da sind dicke Bretter zu bohren.Da ist die WHO seit
Jahren dran, und dabei wird sich der Vertreter der Bun-
desregierung im Exekutivrat auch nicht in die zweite
Reihe stellen, und wir alle tun gut daran, ihn dabei zu
unterstützen.
Mit dem Arbeitsschwerpunkt „Pandemievorsorge“
scheinen sich die Antragstellerinnen und Antragsteller
der Grünen etwas schwer zu tun. Aber auch da steht zu-
nächst einmal kein Dissens im Raum: Das Thema selbst
wird als wichtig anerkannt. Unterschiede gibt es, was
die Rolle der WHO im aktuellen Pandemiegeschehen
rund um die Schweinegrippe angeht.
Die Sichtweise der Antragsteller scheint eindeutig:
Die WHO hat sich in die Fänge der Pharmaindustrie
begeben, viel zu früh den Pandemiefall ausgerufen, eine
überflüssige Produktion von Impfstoff veranlasst und
Sabine Weiss
(C)
(B)
darüber hinaus die Versorgung der ärmeren Länder gar
nicht mehr im Blick gehabt. Die Glaubwürdigkeit der
WHO habe darunter gelitten und nun solle die Bundes-
regierung dafür sorgen, dass dies wieder ins Lot kommt. –
Dies ist eine politische Sichtweise, die durchaus nicht
von allen geteilt werden muss. Dr. Seeba ist da ganz
anderer Auffassung, ich zitiere:
Die WHO spielt in der globalen Gesundheitsde-
batte eine zentrale, zum Teil normsetzende Rolle.
Hervorzuheben sind die Internationalen Gesund-
heitsvorschriften von 2005, die sich aktuell im Zu-
sammenhang mit der Influenza A/H1N1, der so ge-
nannten Schweinegrippe, bewährt haben …
Auch die Generaldirektorin der WHO stellte bei der
Eröffnung der 62. Weltgesundheitsversammlung in Genf
die Rolle der WHO bei der Pandemievorsorge am Bei-
spiel der Schweinegrippe deutlich und positiv heraus.
Wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grü-
nen, von einer Glaubwürdigkeitskrise der WHO beim
Thema Pandemie sprechen, so mag das Ihre politische
Auffassung sein. Sie muss dennoch nicht von allen
geteilt werden. Vor allem ist sie jedenfalls kein Grund,
hier eine Neuausrichtung der Ziele der Bundesregierung
vorzunehmen. Die Pandemievorsorge ist erklärtes Ziel
der WHO, und die Bundesregierung als Mitglied im Exe-
kutivrat der Weltgesundheitsorganisation steht voll und
ganz hinter diesem Ziel.
Im Übrigen ist Ihre Argumentation zur Rolle der
WHO nicht ganz ohne Widersprüche. Auf der einen Seite
fordern Sie eine internationale Führungsrolle der Welt-
gesundheitsorganisation. So steht es in Ihrem Antrag für
den Bereich der Stärkung der Gesundheitssysteme.
Gleichzeitig attestieren Sie der WHO einen „dramati-
schen Glaubwürdigkeitsverlust“ beim Thema Pande-
mievorsorge. Das ist in meinen Augen keine glückliche
Methode, für eine weltweite Akzeptanz der WHO zu sor-
gen. Wenn ich einen Partner stärken will, darf ich ihm
nicht im gleichen Atemzug einen „dramatischen Glaub-
würdigkeitsverlust“ bescheinigen.
Wir haben durch unsere Mitgliedschaft im Exekutiv-
rat die Chance, die Rolle der WHO mitzubestimmen,
ihre Arbeit und Effektivität kritisch zu hinterfragen und
gleichzeitig an den Stellschrauben zu drehen, die am
Ende zu weltweiter Stärkung und Anerkennung führen.
Da braucht es aber keine Neuausrichtung der Ziele, so
wie es der vorliegende Antrag Glauben macht.
Sie beschreiben im wesentlichen Punkte, die hier im
Deutschen Bundestag und im Alltagsgeschäft von Bun-
desregierung und WHO-Vertretung unstrittig und selbst-
verständlich sind. Da brauchen wir keine Neuausrich-
tung, und darüber müssen wir uns hier und heute nicht
erneut verständigen.Da, wo Ihr Antrag zuspitzt, im
Bereich Pandemievorsorge, im Bereich Generika-Ver-
sorgung und beim Thema der sektoralen Budgethilfe,
kommen Sie zu politischen Schlussfolgerungen, die wir
im Einzelnen nicht unbedingt teilen. Von daher wird die
CDU/CSU Ihrem Antrag nicht zustimmen. Wir sollten
unsere Zeit und Anstrengung weniger darauf verwenden,
Zu Protokoll
gemeinsame Zielsetzungen immer wieder neu einzufor-
dern, sondern diese tatsächlich auch zu erreichen.
Die Weltgesundheitsorganisation, WHO, hat in denvergangenen Jahren in hervorragender Weise dazu bei-getragen, die Weltgesundheit in den Mittelpunkt der öf-fentlichen Wahrnehmung zu rücken. Vieles, was in denIndustrieländern selbstverständlich ist, fehlt in den Ent-wicklungsländern mit verheerenden Auswirkungen. DieWHO als Sonderorganisation der Vereinten Nationenmuss sich aus meiner Sicht für die Realisierung der Mil-lenniumsziele im Bereich Gesundheit, zum Beispiel derBekämpfung der Mütter- und Kindersterblichkeit, derBekämpfung von HIV/Aids, Tuberkulose, Malaria undden Zugang zu bezahlbaren Medikamenten, in besonde-rem Maße einsetzen. Die Verantwortung für eine Verbes-serung der Weltgesundheit kann von den 193 Mitglied-staaten nur sehr unterschiedlich wahrgenommenwerden, weil den Entwicklungsländer die finanziellenMittel fehlen, die Bevölkerung beispielsweise mit ausrei-chend kostengünstigen Medikamenten zu versorgen oderein funktionierendes Gesundheitssystem bereitzustellen.Trotzdem, so scheint es jetzt zu sein, haben laut derGeneraldirektorin der WHO, Frau Dr. Margaret Chan,die Entwicklungsländer und die Geberstaaten erkannt,dass schlechte Gesundheitsdienste zu weitreichendenvolkswirtschaftlichen Verlusten führen. Diese „revolu-tionäre“ Erkenntnis muss dazu führen, dass die Investi-tionen in die Gesundheitssysteme ebenso wie in dieGesundheitsvorsorge eine hohe Priorität in der Ent-wicklungszusammenarbeit erhalten.Es ist schon beschämend, dass das Millenniumsziel,die Müttersterblichkeit entscheidend zu reduzieren, biszum Jahr 2010 kaum erfolgreich umgesetzt wurde. Im-mer noch sterben jährlich rund 530 000 Mütter, weil sienicht ausreichend während Schwangerschaft und Ge-burt versorgt wurden. Es ist Frau Dr. Chan zuzustim-men, dass hier dringender Handlungsbedarf besteht.Die Frage ist nur, welche Rolle kann hierbei die WHOspielen?Inwieweit hat zum Beispiel die WHO darauf gedrun-gen, in allen von ihr verfolgten Programmen zur Verbes-serung der Gesundheitsversorgung auf die Gleichstel-lung der Geschlechter im Rahmen einer Genderstrategiezu achten? Es ist doch bekannt, dass gerade Frauen inden Entwicklungsländern die tragende Rolle für einenachhaltige Entwicklung zukommt und sie gleichzeitigam stärksten von den Problemen in der Gesundheitsver-sorgung und der mangelnden Prävention betroffen sind.Die Qualität der Gesundheitsversorgung hängt auchvon der ausreichenden Verfügbarkeit medizinischenPersonals ab. Deshalb muss die WHO darauf drängen,dass ihr Verhaltenskodex für die Rekrutierung medizini-schen Personals international eingehalten wird. DieBundesregierung ist aufgefordert, dies auch auf natio-naler Ebene einzuhalten.Beim Thema HIV/Aids sind durchaus Erfolge zu ver-zeichnen; das ist auch bitter nötig, denn in den letzten
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4358 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
gegebene RedenKarin Roth
(C)
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20 Jahren gab es einen Anstieg der HIV-Infizierten von7,5 Millionen Betroffenen auf über 33 Millionen im Jahr2008. Täglich infizieren sich 7 400 Menschen neu. Täg-lich sterben 5 500 Menschen an HIV/Aids, dabei tragendie Frauen die Hauptlast dieser Epidemie. In Subsa-hara-Afrika sind 60 Prozent der Infizierten weiblich.Diese weltweite Epidemie, die jedoch vor allem das süd-liche Afrika trifft, ist eine Herausforderung für alle, ins-besondere für die betroffenen Länder, die Geberstaaten,die Wissenschaft, die Pharmaindustrie und die Hilfsor-ganisationen.Die WHO hat eine globale Verantwortung für denAufbau der Gesundheitssysteme. Dabei geht es um einebessere Betreuung der Patienten und einen effizienterenEinsatz der Medikamente, um eine höhere Wirksamkeitzu erreichen. Die Verbesserung der Verfügbarkeit derMedikamente und vor allem der Wirksamkeit durchnachhaltige Therapiebegleitung auf der einen Seite istfür die Menschen in den Entwicklungsländern existen-ziell. Dazu gehört auch die Bezahlbarkeit der Medika-mente, indem beispielsweise der Zugang zu und die Pro-duktion von Generika nicht behindert, sondern gefördertwerden. Auf der anderen Seite geht es auch um die Ent-wicklung von Medikamenten zur Prävention und damitum die Verhinderung von Epidemien. Ein leuchtendesBeispiel der Präventivmedizin ist die Ausrottung derPocken schon vor 30 Jahren. Jetzt geht es darum, diedrei großen Krankheiten mehr als bisher ins Visier zunehmen.Ein wichtiges Feld zur Entwicklung von Medikamen-ten für die vernachlässigten Krankheiten ist die Unter-stützung globaler Forschungsnetzwerke im Rahmen vonProduktentwicklungspartnerschaften, PDPs. Hierzu be-darf es einer mit den Akteuren abgestimmten Vorgehens-weise, um Doppelstrukturen zu vermeiden. In Zukunftmuss geklärt werden, wie die Zusammenarbeit zwischenWHO, dem Global Fund, GAVI und anderen multilate-ralen Initiativen abgestimmt werden kann.Die WHO müsste eine führende, koordinierende Rollebei der Festlegung der Forschungsinitiativen auch fürdie vernachlässigten Krankheiten übernehmen und da-bei gemeinsam mit ihren Mitgliedstaaten und der EUentsprechende Forschungsprogramme initiieren.Die WHO mit ihrer globalen Expertise seit über60 Jahren muss im Rahmen der globalen Gesundheits-politik eine aktive Rolle spielen. Dazu muss sie von denMitgliedstaaten finanziell in die Lage versetzt werden.Eine Unterstützung der multilateralen Organisationensteht dabei nicht im Widerspruch zu einer effizientendeutschen Entwicklungspolitik.Wenn die WHO zusätzlich auf freiwillige Beiträge derMitgliedstaaten angewiesen ist, um ihre Arbeit zu leis-ten, so stellt sich die Frage, ob nicht ein anderer Finan-zierungsmechanismus notwendig ist, um ein nachhalti-ges Wirken zu gewährleisten. Im Rahmen der Diskussionüber die Reformen innerhalb der WHO sollte die Bun-desregierung ihr bisheriges Engagement bestätigen undprüfen, ob nicht zusätzliche freiwillige Beiträge zur Ver-besserung der notwendigen Koordinierungsaufgabenerforderlich sind.Zu ProtokollEs ist keine Frage, der Weltgesundheitsorganisationkommt in der jetzigen Phase der Globalisierung eine be-deutendere Rolle als bisher zu. Vieles muss multilateralgeregelt werden, ohne die nationale Verantwortung au-ßer Acht zu lassen. Die neuen globalen Netzwerke, dieim Rahmen von Stiftungen und anderen Nichtregie-rungsorganisationen zusätzliche sinnvolle Arbeitleisten, sollten stärker als bisher auch in kooperativeStrukturen der WHO aufgenommen werden. Das Zusam-menwirken aller in der globalen Gesundheitspolitik Ver-antwortlichen kann somit zu einer größeren Dynamikund auch zu mehr Effizienz führen.
Vorab möchte ich den Kollegen und Kolleginnen vonBündnis 90/Die Grünen sagen, dass ich mich sehr freue,dass sie in ihrem Antrag so viel Lob für die Arbeit derBundesregierung finden.Und ich bin sicher, dass ihre Erwartungen auch er-füllt werden, wenn es um die Rolle Deutschlands im Exe-kutivrat der WHO geht. Als drittgrößter Geber zum re-gulären Haushalt der Weltgesundheitsorganisation hatDeutschland eine starke Stimme, die die Bundesregie-rung dafür nutzen muss und nutzen wird, essenzielle Bei-träge zur Verbesserung der Weltgesundheit zu leisten.Gesundheit ist die Voraussetzung für Entwicklung.Gesundheit ist im Koalitionsvertrag zu Recht als einerder Schlüsselsektoren der Entwicklungszusammenarbeitgenannt worden. Die Einsetzung des Unterausschusses„Gesundheit in den Entwicklungsländern“ ist nur einZeichen des Willens, diesen Bereich zum Erfolg zu füh-ren. Das heißt, der Deutsche Bundestag erkennt die Be-deutung des Themas an und will sich den drängendenFragen zur Gesundheitsversorgung in Entwicklungslän-dern nachdrücklich widmen. Die Fortschritte bei derErreichung der Gesundheits-Milleniums-Ziele sind nochnicht zufriedenstellend, das wissen wir natürlich – überPartei- und Fraktionsgrenzen hinweg.Auch stimmen wir als FDP in vielen Bereichen denSchwerpunktsetzungen der Vorgängerregierungen indiesem Bereich zu, sei es die Stärkung der Gesundheits-systeme oder die bessere Koordinierung der vielen glo-balen Initiativen. Es ist wichtig, dass dies weitergeführtwird.Wo wir aber Handlungsbedarf sehen, ist in der Um-setzung der gesteckten Ziele und in gewisser Weise auchin Bezug auf die Maßnahmen. Finanzierung von Ge-sundheit ist für uns ein produktives Investment, das demDreiklang von Armutsbekämpfung, Menschenrechtenund Wirtschaftswachstum zugutekommt. Nur gesundeMenschen sind in der Lage, sich selbst zu helfen.Wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, dass dort, woRegierungen noch nicht einmal in der Lage sind, eineBasisgesundheitsversorgung zu gewährleisten, viele pri-vate und gemeinnützige Projekte mit der Bereitstellungvon Absicherungen gegen Gesundheitsrisiken einenwichtigen Beitrag leisten. Damit ist die Zusammenarbeitmit Nichtregierungsorganisationen und dem Privatsek-tor in Deutschland und in den Partnerländern zentral
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4359
gegebene RedenHelga Daub
(C)
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für den Erfolg unserer Politik. Die Rolle der WHO alsKoordinator darf hier nicht unter-, aber auch nichtüberschätzt werden. Bereits jetzt ist die WHO intensiv inInitiativen zur Gesundheitssystemstärkung involviert.Erlauben Sie mir, an dieser Stelle darauf hinzuwei-sen, dass die als Beispiel – und es ist ein gutes Beispiel –genannte Plattform der GAVI Alliance, des GFATM undder Weltbank seit einigen Monaten nicht mehr „JointPlatform For Health Systems Strengthening“ heißt, son-dern „Health System Funding Platform“.So einig wir uns in den Grundsätzen der Stärkung derGesundheitssysteme und der internationalen Zusam-menarbeit auch sind – die Frage der Finanzierungs-möglichkeiten bewerten wir als Liberale anders. Gut50 Prozent unserer Gesundheitsmittel werden über mul-tilaterale Kanäle geleitet. Selbstverständlich bleibtDeutschland aktiver Mitspieler und Partner auf globalerEbene. Aber: Multilaterale Ansätze sind nicht automa-tisch effizienter als bilaterale. Die FDP-Fraktion be-grüßt ausdrücklich die Initiative des BMZ, dass bei jedereinzelnen Organisation detailliert geprüft werden soll:Wie effizient arbeitet sie? Welche Möglichkeiten des in-haltlichen Einflusses bieten sich? Und vor allem: Wietransparent gestaltet sich die Kontrolle der verwendetenMittel?Effizienz und Transparenz: Das sind auch dieGründe, warum wir die Budgethilfe, auch die sektoraleBudgethilfe, wesentlich differenzierter betrachten alsdie Kolleginnen und Kollegen von den Grünen. Der For-derung ihres Antrags, zur Gesundheitssystemstärkungdas Instrument der sektoralen Budgethilfe verstärkt he-ranzuziehen, können wir daher keinesfalls zustimmen.In der Frage, wie die Rahmenbedingungen für dieVerfügbarkeit von essenziellen Medikamenten verbes-sert werden können, liegen wir erfreulicherweise überKoalitions- und Fraktionsgrenzen hinweg sehr nah bei-einander. So stimmen wir in der Einschätzung überein,dass die WHO ihre Kooperation mit der World TradeOrganisation, WTO, und der World Intellectual PropertyOrganisation, WIPO, verstärken möge. Ich würde dieAufzählung gerne noch um die United Nations Confe-rence on Trade and Development, UNCTAD, ergänzen.Aus unserer Zusammenarbeit im AWZ kennen wirbereits unsere abweichenden Meinungen bezüglich Han-delsabkommen und -einschränkungen bei Medikamen-ten, insbesondere Generika. Auch wir begrüßen natür-lich den möglichst umfassenden Zugang zuMedikamenten, insbesondere für die ärmsten Länder.Allerdings darf man hier auch den Schutz der Bevölke-rung dieser Länder nicht außer Acht lassen. Kontrollengewährleisten auch Schutz vor minderwertigen Medika-menten oder gar Fälschungen. Im Hinblick auf Schwel-lenländer sollte versucht werden, eine Balance zwischengesundheits- und handelspolitischen Zielen zu errei-chen.Unsere inhaltlichen Differenzen beschränken sichalso auf einige wenige Punkte. Auch wenn wir dem An-trag aus den genannten Gründen nicht zustimmen kön-nen, bin ich zuversichtlich, dass wir gemeinsam in denZu Protokollzuständigen Ausschüssen zielführende Akzente setzenund politische Rahmenbedingungen schaffen können,um die Stärkung von Gesundheitssystemen weiter voran-zubringen und dem deutschen Sitz im Exekutivrat derWHO auch und gerade von entwicklungspolitischerSeite gestaltendes Gewicht geben können.
Die Gesundheitslage ist für die meisten Menschen aufder Welt auch im 21. Jahrhundert katastrophal: Knapp13 Millionen Menschen sterben jährlich an Krankhei-ten, die eigentlich behandelbar wären. Jährlich sterben2 Millionen Menschen an Malaria, weil ihnen der nötigeZugang zu den unbezahlbaren und patentierten Arznei-mitteln fehlt. Auf der anderen Seite verdienen FirmenMilliarden an Blockbustern für Wohlstandsleiden wieHaarausfall, Schlaf- oder Erektionsstörungen. LautWHO ist knapp ein Drittel der Weltbevölkerung vom Zu-gang zu lebenswichtigen Arzneimitteln abgeschnitten.Die Generaldirektorin der WHO, Margaret Chan,musste die sogenannte internationale Gemeinschaft erstvor wenigen Wochen erneut dazu aufrufen, sich unver-züglich für die Umsetzung der UN-Entwicklungszieleeinzusetzen. Vier der acht im Jahr 2000 anvisiertenZiele befassen sich mit Gesundheitsfragen.Die bisherige Bilanz ist ein erbärmliches Zeugnis fürdie mangelnde Solidarität der Industriestaaten. Europa,die USA und Japan verbrauchen alleine 83 Prozent derweltweiten Arzneimittel. Immer noch hat die Sicherungder eigenen Wirtschaftsinteressen Vorrang vor Men-schenleben. In den Bereichen Verbesserung der Mütter-gesundheit wurden gerade einmal 9 Prozent, bei derVerringerung der Kindersterblichkeit 32 Prozent derMillenniumsmarken erreicht. Zur tatsächlichen Umset-zung der Millenniumsziele wären schon vor Jahren eineAbkehr vom neoliberalen Dogma und eine Hinwendungzu einer gerechten Weltwirtschaftsordnung unabdingbargewesen. Nur so hätten Entwicklungsländer eigenefunktionierende Gesundheitssysteme aufbauen können.Der vorliegende Antrag der Grünen trägt den Titel„Die Ziele der Bundesregierung in der Weltgesundheits-organisation neu ausrichten“. Darin steht nichts Fal-sches, aber leider auch nichts, wodurch die vorhande-nen Probleme grundsätzlich gelöst werden könnten.Wenn wir nicht endlich bereit sind, mehr finanzielle Mit-tel zur Verfügung zu stellen und die richtige Politik auchgegen die Interessen der Pharmaindustrie durchzuset-zen, wird sich die Situation nicht verbessern. Institutemit dem Forschungsschwerpunkt „vernachlässigteKrankheiten“, zum Beispiel das Max-Planck-Institut fürInfektionsbiologie, brauchen endlich mehr öffentlicheFinanzmittel. Die Linke hat ihre Vorstellungen zu diesemThema bereits in der letzten Legislaturperiode in demBundestagsantrag „Öffentlich finanzierte Pharmainno-vationen zur wirksamen Bekämpfung von vernachlässig-ten Krankheiten in den Entwicklungsländern einsetzen“detailliert dargestellt.Die Bundesregierung muss sich auf europäischerEbene endlich dafür einsetzen, dass im Sinne der Be-schlüsse der WHO keine weitere Verschärfung des welt-
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4360 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
gegebene RedenNiema Movassat
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weiten Schutzes von Verwertung- und Eigentumsrechtenan pharmazeutischen Innovationen stattfindet. Dies be-trifft TRIPS-plus-Bestimmungen ebenso wie die ACTA-Verhandlungen. Die EU und mit ihr Deutschland betrei-ben verhängnisvollerweise derzeit jedoch eine entge-gengesetzte Strategie. Das kurz vor dem Abschluss ste-hende Freihandelsabkommen der EU mit Indiengefährdet die weltweite Versorgung von Aids-Krankenmit bezahlbaren antiretroviralen Medikamenten massiv.„Ärzte ohne Grenzen“ bezieht derzeit 80 Prozent der zurBehandlung von HIV-Kranken benötigten Präparatevom indischen Generikamarkt. Sollten die Patentlaufzei-ten verlängert und eine Datenexklusivität, wie von derEU geplant, umgesetzt werden, hätte dies unmittelbareFolgen für die Überlebenschancen HunderttausenderMenschen. Dies sind nur zwei von zahlreichen Beispie-len, die die grundsätzliche Stoßrichtung der von der EUderzeit mit mehreren Ländern angestrebten Freihandels-abkommen verdeutlichen.Mit großem politischen Druck drängt die Europäi-sche Union zum Abschluss von Abkommen, die soziale,ökologische und menschenrechtliche Auswirkungen aufdie Menschen in den betroffenen Ländern ausblendet.Die Linke lehnt diese Freihandelsabkommen grundsätz-lich ab. Nur solidarische Wirtschaftsbeziehungen, dieden Bedürfnissen der Menschen Vorrang einräumen vorden Interessen internationaler Konzerne, werden dieGesundheitslage in den Ländern des Südens nachhaltigverbessern.
Die globale Gesundheit verbessern, das ist der Auf-trag der Weltgesundheitsorganisation. Deutschland istdrittgrößter Geber zum regulären Haushalt und noch bis2011 Mitglied des Exekutivrates, der die WHO-Ver-sammlung vorbereitet. Damit haben wir einen besonde-ren Einfluss und eine herausragende moralischeVerpflichtung, wichtige Weichenstellungen zur Verbesse-rung der globalen Gesundheit voranzutreiben.Die Bundesregierung verkennt die Realität, wenn siedie Gesundheit in Entwicklungsländern einseitig durchdas Engagement vor Ort nachhaltig verbessern will unddabei weitere Faktoren wie Patentrecht, Medikamenten-handel, Forschung und Entwicklung stiefmütterlich be-handelt. Wir müssen uns vor Ort engagieren, Wirkungwird dies aber nur zeigen, wenn die internationalenRahmenbedingungen stimmen, auf die die Bundesregie-rung direkt über die EU und vor allem in der WHO Ein-fluss nehmen muss. Diese Einflussnahme ist bisher lei-der nicht zu erkennen. Zwei Beispiele:Forschung und Entwicklung finden noch immer größ-tenteils in Westeuropa und Nordamerika statt; doch lei-der profitieren Entwicklungsländer kaum davon. Seitvielen Jahrzehnten hat es keine ausreichenden politi-schen Vorgaben gegeben. Im Gegenteil: Die EU gene-riert sich mehr als Interessenvertreter der europäischenPharmaindustrie. Zwischen 1974 und 2004 kamen 1 556neue Medikamentenwirkstoffe auf den Markt. Acht Me-dikamente entfallen auf Malaria, Tuberkulose und alleanderen – völlig vernachlässigten – Tropenkrankheiten.Zu ProtokollAuf der anderen Seite werden jedes Jahr Potenzmittel imWert von circa 4 Milliarden Dollar verkauft. Der Marktder Lifestyle-Medikamente wächst unaufhaltsam.Das Problem besteht seit Jahrzehnten. Die Kanzlerinhat es im Juni 2009 immerhin geschafft, die Zuständig-keit für diese Forschung in ihrem Kabinett zu klären; sieliegt nun beim Forschungsministerium. Viel passiert istin der Förderung der Forschung zu vernachlässigtenKrankheiten trotzdem nicht, und in der Schwerpunktset-zung der Bundesregierung für die WHO taucht derPunkt überhaupt nicht auf.Ebenso wenig sind Generikaproduktion und -handelTeil der Agenda der Bundesregierung in der WHO. DieGesundheitssituation in den Entwicklungsländern ver-langt solidarisches, globales Handeln. Die Menschendort sind auf günstige Generika angewiesen! Momentannutzen 92 Prozent derjenigen, die in Entwicklungslän-dern gegen HIV behandelt werden, Generika, die meis-ten davon aus Indien.Mit den TRIPS-Verhandlungen und im Rahmen derDoha-Erklärung von 2001 wird zu Recht internationalanerkannt, dass die öffentliche Gesundheit weltweitüber dem Recht auf Patentschutz und Profit steht. Trotz-dem versucht die EU mit starker Unterstützung der Bun-desregierung derzeit ein Freihandelsabkommen mitIndien abzuschließen, das einen strikten Patentschutzbeinhaltet. Völlig inakzeptabel ist, dass dieses ange-strebte TRIPS-Plus-Abkommen noch schärfere Bedin-gungen enthalten soll als international üblich. Damitwürde die Generikaproduktion massiv behindert. Fürviele Menschen in den Entwicklungsländern würde dieseinem Todesurteil gleichkommen.Das gleiche Muster findet sich auch in Verhandlun-gen zu Freihandelsabkommen mit lateinamerikanischenStaaten. Die Bundesregierung macht sich internationalunglaubwürdig. Es ist elementar, hier ein internationalkohärentes Vorgehen zu entwickeln, welches die Medi-kamentenversorgung in Entwicklungsländern gewähr-leistet. Dies müsste Schwerpunkt der deutschen Bemü-hungen in der WHO sein. Leider verzichtet dieBundesregierung darauf.Der Fokus der Bundesregierung, die Gesundheits-systeme in Entwicklungsländern zu stärken, ist grund-sätzlich zu begrüßen. Der internationale Schwung, derderzeit in diese Debatte kommt, muss genutzt und voran-getrieben werden. Gute, letztlich multilaterale Ansätzekommen zum Beispiel vom Globalen Fonds zur Bekämp-fung von HIV/Aids, Malaria und Tuberkulose, von GAVI,DNDi und der Weltbank. Die WHO muss hier eine Füh-rungsrolle übernehmen, die Initiativen bündeln und zu-sammenführen.Ein wesentlicher Aspekt dieser Ansätze ist die Ge-meinnützigkeit. Leider wird auch im Bereich „Gesund-heitssysteme und soziale Sicherung“ immer deutlicher,dass die Regierungskoalition die Bedeutung der Ge-meinnützigkeit nicht verstanden hat. Die deutsche Versi-cherungswirtschaft, unterstützt durch die Bundesregie-rung und gefördert durch das BMZ, greift in deninzwischen schwer umkämpften internationalen Mikro-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4361
gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
4362 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Uwe Kekeritz
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versicherungsmarkt ein. Gleichzeitig unterstützt dieBundesregierung massiv den Fonds „Leapfrog“, derstolz auf seiner Homepage verkündet, er generiere„strong returns for investors“! Die schwarz-gelbeKoalition muss sich entscheiden, ob sie sich für die „Re-turns“ der deutschen Versicherungswirtschaft einsetzenwill oder ob sie zum Aufbau eines tragfähigen Versiche-rungswesens in den Entwicklungsländern beitragen will.Momentan bestehen diesbezüglich erhebliche Zweifel.Die Systematik ist klar: Sobald deutsche und europäi-sche Interessen auf dem Spiel stehen, taucht die Bundes-regierung entwicklungspolitisch ab, ignoriert Fragender globalen Gesundheit und verschreibt sich vorwie-gend der Wirtschaftsförderung. Selbst wo ein durchausbegrüßenswerter Schwerpunkt gesetzt wird, in diesemFall bei der Gesundheitssystemförderung, kann es sichdie Bundesregierung offensichtlich nicht verkneifen, aufdie Schaffung von Exportmärkten für deutsche Firmenzu setzen. Es ist grundsätzlich nichts dagegen einzuwen-den, wenn von deutscher Entwicklungszusammenarbeitauch deutsche Firmen profitieren. Entwicklungspolitikkann aber kein Mittel zur Förderung deutscher Groß-konzerne sein.Neben dem Schwerpunkt Gesundheitssystemstärkungmöchte die schwarz-gelbe Koalition die Pandemievor-sorge ins Visier nehmen. Die WHO hat im Zuge der so-genannten Schweinegrippepandemie massiv an Glaub-würdigkeit verloren – bei uns in Deutschland, aber vorallem international in Entwicklungs- und Schwellenlän-dern. Warum wurde die Definition der Pandemiestufe 6geändert? Welche Rolle spielten große Pharmakonzernein diesem Prozess? Zum Beispiel sind einige Mitgliederder „Strategic Advisory Group of Experts“, SAGE, diedie WHO zur Impf- und Immunisierungspolitik berät,nachweislich finanziell von Pharmaunternehmen ab-hängig. Mittlerweile steht das Pandemiemanagementder WHO weltweit in scharfer Kritik.Im Januar hat es im Europarat eine sehr aufschluss-reiche Anhörung zu diesem Thema gegeben, die dieZweifel am Vorgehen der WHO vergrößert hat. EinerEinladung zu einer zweiten Anhörung des EuroparatesEnde März ist die WHO überhaupt nicht mehr gefolgt.Vor allem in Entwicklungs- und Schwellenländern regtsich zusehends Widerstand gegen das Vorgehen derWHO. Wir können von Glück reden, dass die sogenannteSchweinegrippe ein Fehlalarm war. Bei einer wirklichenGefahr wäre es schlecht um die Versorgung der Men-schen in Entwicklungsländern bestellt gewesen. Mexikomusste sich Impfdosen von Kanada leihen. Indonesienstellte bereits 2007 während der so genannten Vogel-grippe die Zusammenarbeit mit der WHO ein, da dieImpfstoffversorgung für Entwicklungsländer katastro-phal war.Es liegt nun an der schwarz-gelben Koalition zu han-deln und die Initiative zu ergreifen. An Ansatzpunktenmangelt es nicht: Die WHO muss die Kooperation mitWTO und WIPO verstärken. Dabei muss sie mit Unter-stützung der Bundesregierung das Thema globale Ge-sundheit vehement auf die Tagesordnung bringen. Wirerleben derzeit in vielen bi- und multilateralen Verhand-lungen starke Angriffe auf TRIPS-Flexibilitäten zurSicherung der öffentlichen Gesundheit. Die WHO musshier ein ernstzunehmender Gegenspieler werden.Die Forschung zu vernachlässigten Krankheiten wirdin der WHO diskutiert; hier gibt es viele gute Ansätze. Inder Praxis gehen die Entwicklungen jedoch nur langsamvoran und werden häufig von der Zivilgesellschaft ge-trieben. Hier bedarf es eines klaren Bekenntnisses derBundesregierung und einer schnellen Umsetzung vonProgrammen in Deutschland und international über dieWHO.Die Gesundheitssystemstärkung muss sowohl in derWHO als auch bilateral vorangetrieben werden. Wo im-mer es die Governance-Kriterien zulassen, muss durchsektorale Budgethilfe ein langfristig selbsttragendesSystem in Eigenregie der Partnerländer unterstützt wer-den.Die Vorgänge im Zusammenhang mit der H1N1-Pan-demie müssen aufgeklärt werden, und es müssen Kon-zepte entwickelt werden, wie in Zukunft eine objektiveBeurteilung der Lage und eine globale Versorgung allerMenschen erreicht werden können. Die WHO hat hierzubereits eine Kommission eingesetzt. Die Bundesregie-rung muss sicherstellen, dass diese nicht zur Farce wird,dass umfassend aufgeklärt wird und dass konkrete Vor-schläge ausgearbeitet werden.Deutschland ist nach neun Jahren Pause seit 2009wieder im Exekutivrat der WHO vertreten, und wir ha-ben Einfluss auf die zukünftige Ausrichtung der WHO.Es wird Zeit, dass wir das kleinkarierte egozentrischeDenken hinter uns lassen und das vorantreiben, was Zielder WHO ist: die globale Gesundheit!
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1581 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katrin
Kunert, Dr. Gesine Lötzsch, Dr. Barbara Höll,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Für eine immissions- und baurechtliche Privi-
legierung von Sportanlagen
– Drucksache 17/1742 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Sportausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich um die
Reden der Kolleginnen und Kollegen Dr. Michael Paul,
CDU/CSU, Ute Vogt und Hans-Joachim Hacker, SPD,
Judith Skudelny, FDP, Katrin Kunert, Die Linke,
Winfried Hermann, Bündnis 90/Die Grünen.
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Der Sport leistet für die Aktivierung und den Zusam-menhalt einer modernen Gesellschaft unverzichtbareBeiträge, die es zu fördern gilt. Darüber besteht Einig-keit, und genau so haben es die Koalitionspartner derCDU/CSU- und der FDP-Fraktion im Koalitionsvertragfestgeschrieben.In dem Antrag der Linksfraktion, der hier heute bera-ten wird, ist zu lesen, dass zur Erfüllung dieser Förde-rungsaufgabe ein hinreichender Zugang zu Sportange-boten bestehen muss. Weiter sei die Bundesregierungaufgrund ihrer gesamtstaatlichen Verantwortung in derPflicht, Rahmenbedingungen für die Entfaltung desBreitensports zu schaffen. Und, dass zu diesem Zweckeine ausreichende Zahl an wohnortnahen und gut zu er-reichenden Sportanlagen vorgehalten oder geschaffenwerden müsse.Auch in diesem Punkt besteht Einigkeit. Der Sport,hier insbesondere der Schul-, Universitäts- und Breiten-sport, ist für eine motorische Entwicklung vor allem vonKindern und Jugendlichen, aber ebenso für die Gesund-heit aller anderen Bevölkerungsgruppen unerlässlich.Rechtlich verbindliche Regelungen dafür zu schaffen,dass der Sport von allen Teilen der Gesellschaft ausge-übt werden kann, ist daher eine wichtige Aufgabe derPolitik.Diese wichtige Aufgabe hat die damalige christlich-liberale Bundesregierung bereits im Jahre 1991 erkannt.Sie hat sich dieser Verantwortung gestellt und mit der18. BImSchV, der sogenannten Sportanlagenlärmschutz-verordnung, genau diese rechtlich verbindlichen Rege-lungen geschaffen. Diese Verordnung, die eine Konkreti-sierung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes darstellt,bewirkt nämlich genau das, was der hier diskutierte An-trag nach Aussage der Linksfraktion zum Ziel hat:Sportanlagen werden, als Bereicherung des sozialenund kulturellen Lebens, durch diese Verordnung mit denihnen gebührenden Privilegien versehen und eben nichtgenauso behandelt, wie etwa eine störende Industriean-lage.Dass diese Privilegierung greift und rechtlich Be-stand hat, zeigt sich auch mit Blick auf die Rechtspre-chung zu diesem Thema. Anders, als es uns die Links-fraktion hier weismachen will, gibt es nämlich nichtetwa Hunderte Verfahren, bei denen im Konflikt zwi-schen Sportbelangen und Anwohnerinteressen dem Brei-ten- oder Spitzensport eine Absage erteilt worden wäre.Ich sage es noch konkreter: Die Recherche in den Recht-sprechungsdatenbanken belegt, dass schon die Zahl derFälle, in denen ein Gerichtsverfahren überhaupt nur er-öffnet wurde, seit der Einführung der 18. BImSchV dras-tisch zurückgegangen ist. Die Zahl der Entscheidungenzulasten des Weiterbetriebes einer Sportanlage in diesenVerfahren tendiert sogar gegen null.Die Linksfraktion scheint nun der Auffassung zu sein,die Privilegierung ginge nicht weit genug. Nur so ist zuverstehen, dass in ihrem Antrag gefordert wird,Sportlärm solle gar nicht erst als Lärm im Sinne desBundes-Immissionsschutzgesetzes qualifiziert werden.Das heißt im Klartext, dass Gerichtsverfahren der An-Zu Protokollwohner gegen Sportanlagen grundsätzlich erfolglos wä-ren. Eine solche Regelung wäre verfassungsrechtlichäußerst bedenklich – schließlich würde durch sie denAnwohnern der grundgesetzlich garantierte effektiveRechtsschutz abgeschnitten.Gerade im Fall von Lärmemissionen verbietet sichzudem eine pauschale Beurteilung der Umgebungsbe-einträchtigung. Die Störungsintensität hängt vielmehrentscheidend von der Lautstärke, der Bebauung, derFrequenz und dem Wiederholungstakt ab. Es ist daherzwingend notwendig, in jedem einzelnen Fall zu bewer-ten, wie intensiv die Belastung der Umgebung tatsäch-lich ist.Unter diesen Aspekten frage ich mich, wie die Forde-rung nach bedingungsloser Privilegierung der Sportan-lagen mit der im selben Antrag von der Linksfraktion ge-stellten Forderung nach einem angemessenen Ausgleichder Belange der Sporttreibenden und der Anwohner inEinklang zu bringen sein soll. Ein solcher Ansatz ist völ-lig ungeeignet, wenn nicht das Kind mit dem Bade aus-geschüttet werden soll.Vielmehr ist durch die Sportanlagenlärmschutzver-ordnung, die im JURIS-Ausdruck auf elf Seiten Text aus-schließlich und umfassend dieses Thema behandelt, einRechtsregime gegeben, dass den Besonderheiten dieserKonstellation, der Privilegierungsnotwendigkeit vonSportanlagen einerseits und dem ebenso erforderlichenAnwohnerschutz andererseits, angemessen Rechnungträgt.Das Gleiche gilt auch für die Änderungen, die dieLinksfraktion im Bereich des Bauplanungsrechts vor-schlägt, nämlich jede Sportanlagen bedingungslos in je-dem Wohngebiet zuzulassen.Die Einrichtung von reinen Wohngebieten und Klein-siedlungsgebieten durch den Gesetzgeber dient dem be-rechtigten Interesse der Anwohner, vor Beeinträchtigun-gen durch andere bauliche Nutzungen geschützt zu sein.Gleichwohl ist das Interesse der Bewohner dieser Ge-biete an ortsnah eingerichteten Sportanlagen im Gesetzdurch eine Zulassungsmöglichkeit für diese Anlagen be-rücksichtigt. Dass die Zulassung von Sportanlagen anbestimmte Kriterien geknüpft ist und einer besonderenPrüfung im Einzelfall bedarf, ist wiederum nur dem an-gemessenen Ausgleich zwischen Anwohnerinteressenund dem Interesse der Sporttreibenden geschuldet. Einepauschale, bedingungslose Zulassung aller Arten vonSportanlagen, wie sie hier gefordert wird, ist daher insolchen Wohngebieten fehl am Platze.Der Gedanke, der dem hier diskutierten Antrag zu-grunde liegt, nämlich den Breitensport für alle Alters-gruppen und insbesondere für Kinder und Jugendlichezu ermöglichen, ist allerdings richtig und auch als Auf-gabe der Koalition bestimmt worden.Durch die hier vorgeschlagene Umsetzung würdenaber völlig unnötig die präzisen Regelungen des bereitsbestehenden Rechtsregimes beseitigt und durch genera-lisierte Regelungen ersetzt, die eine Berücksichtigungder ebenfalls berechtigten Anwohnerinteressen nichtmehr ermöglichen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4363
gegebene RedenDr. Michael Paul
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Eine solche bewusste Verschlechterung des Rege-lungszustandes, durch die obendrein keine direkte Ver-besserung für die Sportförderung erreicht wird, kannund wird durch die CDU/CSU-Fraktion nicht unterstütztwerden.
Diese Initiative für eine immissions- und baurecht-
liche Privilegierung von Sportanlagen wäre nicht not-
wendig, wenn die Bundesregierung ihrer Arbeit nach-
kommen und die Beschlüsse des Parlaments umsetzen
würde. Denn am 2. Juli letzten Jahres hat das Parlament
im Rahmen eines Antrags, Drucksache 16/13578, unter
anderem Folgendes beschlossen:
Zudem wird die Bundesregierung aufgefordert, …
die Lärmschutzbestimmungen gemeinsam mit den
Bundesländern so zu verändern, dass Sport- und
Spielplätze nicht mehr so stark in ihrer Nutzung
eingeschränkt und somit dringend benötigte Bewe-
gungsräume eingeengt werden. Hierzu sind mögli-
che kurzfristige Vorschläge zu unterbreiten …
Nur war es aufgrund der Bundestagswahl jedenfalls
dem sozialdemokratischen Teil der damaligen Regie-
rung leider nicht mehr möglich, dieses Votum umzuset-
zen. Aber ich wüsste nicht, was den christdemokrati-
schen Teil, der damals wie heute regiert, daran hindert,
diesen Beschlüssen Taten folgen zu lassen.
Es besteht großer Handlungsbedarf! Es sind nicht
nur Sportplätze, denen das Aus droht. Auch die Zahl der
Bolzplätze wird immer kleiner, weil Anwohner gegen
diese klagen – und sich dabei auf das Bundes-Immis-
sionsschutzgesetz berufen. Auch in meinem Wahlkreis
Stuttgart sind bereits Sport- und Bolzplätze von Schlie-
ßung bedroht oder nur noch unter großen Einschrän-
kungen nutzbar. Für Jugendliche gerade in größeren
Städten ist dies eine fatale Entwicklung. Auf den Bolz-
plätzen findet Integration statt, bewegen sich Jugendli-
che, statt fernzusehen, und dort können sie Zeit sinnvoll
miteinander verbringen. Man kann sich Kampagnen für
mehr Bewegung, gesunde Ernährung und bewusstere
Lebensweisen komplett sparen, wenn gleichzeitig die
Freiräume und Spielflächen immer weniger werden.
Wenn nicht bald Maßnahmen ergriffen werden, werden
immer mehr Plätze schließen müssen. Diese dann wie-
der in Betrieb zu nehmen, dürfte sicher um einiges
schwieriger werden, als bestehende Anlagen zu erhal-
ten.
Der vorliegende Antrag schweigt jedoch über alles,
was über Sportplätze hinausgeht, und greift damit zu
kurz. Richtig ist, dass viele Vereine darauf angewiesen
sind, dass wir den gesetzlichen Rahmen ändern, weil
sonst vielerorts der Breitensport nicht mehr stattfinden
kann. Aber der SPD geht es nicht allein um den organi-
sierten Sport. Wir möchten auch denjenigen Jugendli-
chen eine Chance geben, die nicht in Vereinen, sondern
eben auf Bolzplätzen ihre Freizeit verbringen. Ich will
offen sagen: Ich bin mir nicht sicher, ob die im Antrag
vorgeschlagene Lösung in Form einer Einzelauflistung
von Ausnahmen in § 3 Bundes-Immissionsschutzgesetz
der zielführende Ansatz ist, der unsere Probleme lösen
Zu Protokoll
kann. Aber wir wissen, dass wir schnell eine gesetzliche
Neuregelung brauchen.
Die Bundesregierung hat bereits den Auftrag, uns Lö-
sungsansätze vorzuschlagen. Ich fordere sie daher auf,
die notwendigen Vorschläge nicht nur in Bezug auf
Sportstätten schnell vorzulegen, sondern gleich den vor-
liegenden SPD-Antrag zur Privilegierung von Kinder-
lärm und die Verbesserung der Nutzung von Bolzplätzen
dabei einzubeziehen. Das Thema verdient eine ausführ-
liche Debatte, und es erfordert ein zügiges Handeln der
Bundesregierung.
Sport gehört zum Leben, Sport gehört in unser Leben.Als wichtiger Teil gesellschaftlicher Aktivitäten gehörendamit kleinere und größere Sportplätze oder Sporthallenin unsere Mitte. Das führt immer wieder zu Konflikten;denn es bleibt nicht aus, dass die Sportlerinnen undSportler angefeuert werden, dass es auch Geräuschegibt, wenn der Ball in ein Tor fliegt oder gegen eineWand prallt. Wir wollen aber, dass Sport in unserenStädten und Gemeinden „um die Ecke“ getrieben wer-den kann, dass man nicht weit raus in unbewohnte Ge-genden fahren muss, um Fußball oder Tennis zu spielen.Wir können die Konflikte um Lärm nicht wegdiskutieren.Wir brauchen dazu Rücksichtnahme und Toleranz –Rücksicht auf Anwohnerinnen und Anwohner, Toleranzfür Sportlerinnen und Sportler.Der Deutsche Bundestag hat sich schon mehrfach mitdem Thema Sport und Lärm beschäftigt. Ich möchte nuran einen Antrag erinnern. Im vergangenen Jahrbeschloss der Bundestag den Antrag „Sport fördertIntegration“. Mit diesem Beschluss der damaligen Ko-alitionsfraktionen wurde die Bundesregierung aufgefor-dert, kurzfristig Vorschläge zu unterbreiten, die Lärm-schutzbestimmungen gemeinsam mit den Bundesländernso zu verändern, dass Sport- und Spielplätze nicht mehrso stark in ihrer Nutzung eingeschränkt werden. Das istauch Ziel des Antrags der Linken. Aufgrund des Bundes-tagsbeschlusses bedürfte es dieses Antrags überhauptnicht, denn der Bundestag hat sich schon unmissver-ständlich geäußert.Ich habe die Bundesregierung vor wenigen Wochendazu befragt, wie sie mit diesem Beschluss des Bundes-tages in diesem Punkt bisher umgegangen ist. Leiderkam als Antwort nur, dass die Bundesregierung hier wei-ter prüft, welche Änderungen im Lärmschutzrecht vor-genommen werden müssen. Ich wünschte mir, dass eshier etwas schneller ginge. Die Startphase für dieschwarz-gelbe Bundesregierung ist wahrlich vorbei.Wir haben bei der Problematik des Kinderlärms vonKindertageseinrichtungen – ich verweise auf den SPD-Antrag dazu – Ähnliches diskutiert und warten auch hierdarauf, dass die Bundesregierung reagiert. Der Antragder Linken muss in den Fachausschüssen debattiert wer-den. Wir sind uns sicher in der Intention des Antrages ei-nig, dafür haben wir bereits den benannten Beschlussgefasst. Ob das Bundesimmissionsrecht in dieser Formgeändert werden muss oder ob nach der vorgeschlage-nen Änderung noch Fragen offen bleiben oder ob sie zu
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4364 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
gegebene RedenHans-Joachim Hacker
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weit geht – Stichwort: große Fußballstadien –, das soll-ten wir eingehend fachlich diskutieren.
Die Fraktion Die Linke fordert in ihrem Antrag Ände-
rungen des Bundesimmissionsschutzgesetzes und der
Baunutzungsverordnung. Die Änderungen sollen zum ei-
nen bewirken, dass Lärm aus Sportanlagen nicht mehr
als störender Lärm qualifiziert wird. Zum anderen for-
dert der Antrag eine Erhöhung der festgelegten Lärm-
grenzwerte auch in reinen Wohngebieten und – durch
Änderung der Baunutzungsverordnung – eine grund-
sätzliche Zulässigkeit von Sportanlagen in Wohngebie-
ten.
Die FDP ist gegen eine generelle Privilegierung von
Sportanlagen. Wenn es sich um Bolzplätze handelt, also
kleinere Spielplätze ohne technische Infrastruktur wie
Umkleiden, Duschen usw., und diese mitten in Wohnge-
bieten gelegen sind, ist die Situation anders zu beurtei-
len. Hier ist es sinnvoll, diese zumindest für Kinder bis
14 Jahren in reinen Wohngebieten zu privilegieren.
Denn nur durch die Ansiedlung solcher Freizeiträume in
unmittelbarer Nähe zur schützenden Umgebung, bei-
spielsweise dem Elternhaus, ist gewährleistet, dass Kin-
der diese Bolzplätze wirklich nutzen. Sportanlagen da-
gegen sind bereits ausreichend geschützt.
Die 18. Bundesimmissionsschutzverordnung – Sport-
anlagen-Lärmschutzverordnung – regelt die Emissions-
werte für Sportanlagen. Diese sind unterschiedlich hoch
ausgestaltet für Gewerbegebiete, Mischgebiete, reine
Wohngebiete etc. Da Sportanlagen im Regelfall eher au-
ßerhalb von Wohngebieten angesiedelt sind, sind die un-
terschiedlichen Lärmgrenzwerte für unterschiedliche
Siedlungsräume eine praktikable Lösung.
Das im Antrag genannte Beispiel der Anlage in Ber-
lin-Kreuzberg ist dagegen ein Sonderfall und taugt nicht
dazu, den Antrag zu begründen. Auf dem vom Berliner
Senat finanziell unterstützten Gelände wird seit den
60er-Jahren Fußball gespielt. Kinder- und Jugend-
mannschaften des Fußballclubs S. C. Berliner Amateure
trainieren wochentags zwischen 16.00 und 21.00 Uhr.
Im Wege gerichtlicher Verfügungen hatten Anwohner in
der Vergangenheit allerdings erstritten, dass keine Tril-
lerpfeifen mehr genutzt werden dürfen. Außerdem muss
das Flutlicht wochentags ab 21.00 Uhr abgeschaltet
werden. Und sonntags darf nur bis 15.00 Uhr trainiert
werden. Die getroffenen Einschränkungen für die Trai-
ningszeiten sind meiner Meinung nach gerechtfertigt.
Unter 16-Jährige haben, in Anlehnung an das Jugend-
schutzgesetz, bis 22.00 Uhr zu Hause zu sein. Insofern
fügt sich eine bis maximal 21.00 Uhr andauernde Trai-
ningszeit zuzüglich Umkleiden und Heimfahrt in eine
übliche Praxis ein.
Neben diesem nicht allgemein gültigen Beispiel der
Berliner Sportanlage versucht die Linke in ihrem An-
trag, arm gegen reich auszuspielen. Der Verweis auf die
vermeintlich klagewütigen Eigentümer von Luxuswoh-
nungen ist aber keine Begründung für die Forderungen.
Lärmschutz ist für die FDP kein Problem von wohlha-
benden Bevölkerungsschichten. Auch sozial schwache
Zu Protokoll
Menschen können von Lärm krank werden. Selbst ein
dahinterstehender Einwand, ärmere Menschen würden
mangels finanzieller Mittel nicht so häufig vor Gericht
ziehen, trägt nicht: Durch die Möglichkeit der Prozess-
kostenhilfe können auch diese gerichtlich gegen den
Lärmverursacher vorgehen. Auf diesem Weg können
auch finanzschwächere Menschen ihre berechtigten In-
teressen durchsetzen!
Fakt ist: Der demografische Wandel zwingt uns zu
angemessener Interessenabwägung, ohne die eine
Gruppe über die andere zu stellen. Denn die Zahl der
Rechtsstreitigkeiten nimmt nicht etwa aufgrund mangel-
hafter Gesetze zu. Sie nimmt zu aufgrund einer geringe-
ren Toleranz von Mensch zu Mensch. Die Anzahl älterer
Mitbürger in der Gesellschaft wächst. Wir wissen alle,
dass ältere Menschen ruhebedürftiger sind. Die subjek-
tive Schwelle, ab wann Lärm als störend empfunden
wird, liegt demzufolge bei mehr Menschen niedriger als
noch vor einigen Jahren oder Jahrzehnten.
Ich finde es im Sinne eines guten Miteinanders grund-
falsch, pauschal zugunsten einer Gruppe zu entscheiden.
Das aber will der vorliegende Antrag. Er will Sportan-
lagen regelmäßig privilegieren. Die Lösung darf aber
nicht heißen: Privilegierung des einen und Ausschluss
des anderen. Die Lösung muss vielmehr „Denken im
Vorfeld“ heißen – zum Beispiel durch intelligente Flä-
chenplanung.
Was der vorliegende Antrag hier verschweigt: Durch
eine Ausschöpfung der bereits zur Verfügung stehenden
politischen Instrumente – hier maßgeblich ein intelli-
gentes Bauplanungsrecht – hätte die Situation in der
Berliner Körtestraße entscheidend entschärft werden
können. Denn ein Bebauungsplanverfahren hätte die Zu-
kunft des Sportplatzes sichern können. Dieser wurde
aber von Linken und Grünen im Bezirk abgelehnt. Das
richtige Agieren auf kommunaler Ebene hätte den An-
trag also vielleicht überflüssig gemacht.
Die Linke befasst sich in diesem Plenum nicht zumersten Mal mit der gesellschaftlichen Bedeutung desSports. Im Fokus steht heute der Breitensport, der nachwie vor von unschätzbar großer Bedeutung für unsereGesellschaft ist. Die rund 90 000 Turn- und Sportver-eine mit ihren etwa 27 Millionen Mitgliedern fördern be-reits im frühen Kindesalter soziale Kompetenzen und dieFähigkeit des respektvollen Umgangs von Menschen un-terschiedlichster sozialer und kultureller Herkunft. DieStärke des Breitensports liegt gerade darin, dass die fürein friedliches und solidarisches Miteinander in der Ge-sellschaft erforderlichen Fähigkeiten quasi spielenderlernt werden. Örtliche Sportvereine sowohl im ländli-chen Raum als auch in den Städten haben die Fähigkei-ten, die Einwohnerinnen und Einwohner eines Dorfesoder eines Stadtviertels auf vielfältige Weise zusammen-zubringen. Zu denken ist hierbei nicht nur an die Begeg-nungen im Rahmen sportlicher Wettkämpfe, sondernauch im Rahmen von Vereinsfesten und Veranstaltungen.Auch wenn wir in Bezug auf die eben genannten posi-tiven Impulse des Sports von einer großen Zustimmung
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4365
gegebene RedenKatrin Kunert
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in diesem Hause ausgehen können, müssen wir leiderzunehmend zur Kenntnis nehmen, dass es für Sportlerin-nen, Sportler und Sportvereine in der Praxis immerschwieriger wird, ihre Aktivitäten in einem angemesse-nen Rahmen auszuüben. Wir stellen fest, dass die Akzep-tanz für den Breitensport und die damit verbundenesportliche Betätigung zumindest in Teilen der Gesell-schaft abnimmt. Ähnlich wie bei den Klagen gegen densogenannten Kinderlärm kommt es im Bereich vonSportanlagen in zunehmendem Maße zu gerichtlichenAuseinandersetzungen zwischen Betreibern und Nutze-rinnen und Nutzern der Anlagen auf der einen und denAnwohnerinnen und Anwohnern auf der anderen Seite.Damit keine Missverständnisse entstehen: Die Frak-tion Die Linke möchte die Anwohnerinnen und Anwoh-ner von Sportanlagen keinesfalls ihrer legitimen Rechteberauben, sich gegen eine übermäßige Lärmbelästigungzu wehren. Selbstverständlich sind Sportanlagen stetsauch nach immissionsrechtlichen Gesichtspunkten zubeurteilen. Auch wenn man sportlichen Aktivitäten einennoch so hohen gesellschaftlichen Wert beimisst, ist klar,dass sich die von Sportanlagen ausgehenden Immissio-nen störend auf die Anwohnerinnen und Anwohner aus-wirken können. Die Aufgabe des Gesetzgebers und derGerichte besteht mithin darin, dafür zu sorgen, dass dieBelange der Anwohnerinnen und Anwohner und derNutzerinnen und Nutzer von Sportanlagen in einen an-gemessenen Ausgleich gebracht werden.Nun häufen sich jedoch Fälle, in denen die Klagenvon Anwohnerinnen und Anwohnern dazu führen, dassSportplätze, die zum Teil seit Jahrzehnten in Betriebsind, Auflagen erteilt bekommen, die den sportlichen Be-trieb nahezu unmöglich machen. So verbietet zum Bei-spiel ein Gericht den Betreibern eines seit Jahrzehntenbestehenden Fußballplatzes den Spielbetrieb am Sonn-tagnachmittag, weil eine Nachbarin zuvor geklagt hatte.Jeder, der sich im Vereinsfußball auskennt, weiß, wiewichtig der Sonntag als Spieltag ist.Der Deutsche Olympische Sportbund vertritt die Auf-fassung, dass breitensportliche Betätigung dort möglichsein soll, wo die Menschen leben. Dem stimmen wir zu,da eine Verlagerung von Sportanlagen in weniger be-wohnte Randgebiete oder Industriegebiete in vielen Fäl-len dazu führt, dass bestimmte gesellschaftliche Grup-pen letztlich von deren Nutzung ausgeschlossen werdenund der Breitensport so sein Potenzial nicht vollausspielen kann. Im Deutschen Bundestag ist eine Ver-ständigung darüber notwendig, in welchem AusmaßLärmimmissionen von Sportanlagen in bewohnten Ge-bieten zumutbar sind.Wir sind der Meinung, dass die legitimen Ruhebe-dürfnisse von Anwohnerinnen und Anwohnern rechtlichgeschützt werden können, ohne dass die Belange derSporttreibenden komplett zurückgestellt werden müssen.Wir fordern, dass die von Sportanlagen ausgehendenLärmimmissionen in der Regel nicht mehr als schädli-che Umwelteinwirkung angesehen werden. Außerdemzeigen praktische Erfahrungen, dass bereits eine mini-male Erhöhung der maßgeblichen Immissionsrichtwertein der Sportanlagenlärmschutzverordnung dazu führenZu Protokollwürde, dass der Spielbetrieb auf Sportplätzen, etwa inForm des sonntäglichen Fußballspiels, nicht mehr soohne Weiteres verboten werden kann. Ich bitte daher umZustimmung zu unserem Antrag.
Die Linke verweist in ihrem Antrag auf die große ge-sellschaftliche Bedeutung des Breitensports und darauf,dass alle gesellschaftlichen Gruppen hinreichend Zu-gang zu Angeboten des Breitensports haben sollen. DieLinke sieht den Bund in der Pflicht, die Rahmenbedin-gungen für eine angemessene Entwicklung des Breiten-sports zu optimieren.Richtig ist: Die Sportvereine können ihrer Aufgabenur dann nachkommen, wenn genügend Sportanlagenim Wohnumfeld zur Verfügung stehen. Immissionendurch Aktivitäten in Sportanlagen möchte die Linkerechtlich nicht mit den Immissionen durch Gewerbe-oder Verkehrslärm gleichgesetzt wissen, da es sich beiErsterem um eine Ausdrucksform und Begleiterschei-nungen sozialen Verhaltens handelt. Sportanlagen soll-ten deswegen nicht in erster Linie als regelungsbedürf-tige Störungen, sondern als Bereicherung des sozialenund kulturellen Lebens angesehen werden. Konkret for-dert die Linke in ihrem Antrag von der Bundesregierungeinen Gesetzesentwurf, der sportliche Anlagen immissi-ons- und baurechtlich privilegiert.Dies soll durch eine Reihe von Maßnahmen gesche-hen: Ergänzung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes,§ 3 Abs. 1 – von Sportanlagen ausgehender Lärm stelltin der Regel keine schädliche Umwelteinwirkung imSinne dieses Gesetzes dar –; Angleichung der Immis-sionsrichtwerte für reine Wohngebiete an die für all-gemeine Wohngebiete und Kleinsiedlungsgebiete in derSportanlagenlärmschutzverordnung; Aufhebung derfestgelegten Ruhezeiten für Sonn- und Feiertage; Ergän-zung der 18. Verordnung zur Durchführung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes – Übergangsfristen zur Ein-haltung der Immissionsrichtwerte sollen durch die zu-ständige Behörde bis 2020 bzw. in Ausnahmefällen bis2022 gewährt werden können –; Änderung der Baunut-zungsverordnung: Anlagen, die sportlichen Zweckendienen, sollen in der Regel zulässig kategorisiert wer-den, nicht nur in Ausnahmefällen.Jetzt ist die Frage zu stellen: Ist eine Neuregelung derLärmschutzvorschriften an dieser Stelle notwendig oderkontraproduktiv? Schließlich plant die Linke mit derEinfügung in den Definitionsteil des Bundes-Immis-sionsschutzgesetzes, § 3, eine grundsätzliche Neujustie-rung. Aber ist es richtig, dass in der Praxis immer undüberall der Lärm von Sportanlagen keine schädlichenoder belastenden Folgen für die Umgebung hat? Hierdifferenziert die Linke überhaupt nicht zwischen wohn-ortnahen Bolzplätzen, auf denen die Kinder und Jugend-lichen aus der Umgebung spielen, und kommerziellgenutzten Sportstätten, auf denen sich mitunter Zehntau-sende Zuschauer unter Flutlicht und erheblichem Lärmaufhalten.Mit den Vorschlägen will die Linke mit Blick auf dieAnlage unterschiedslos Lärmschutzstandards aufwei-
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4366 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4367
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chen. Dies scheint uns überhaupt nicht der geeigneteWeg. Sinn und Zweck der 18. Verordnung zur Durchfüh-rung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes war schließ-lich, einen Kompromiss zwischen Sporttreibenden,Sportveranstaltern und Anwohnern zu finden. Man kannaus unserer Sicht durchaus die Frage stellen, ob die Re-gelungen auch für kleine, nicht kommerziell genutzteSportanlagen in Wohngebieten angemessen sind oder obes hier Neuregelungen braucht.Selbstverständlich gibt es einen deutlichen Unter-schied zwischen Lärm, der durch Industrieanlagen oderVerkehr entsteht, und Lärm, den Kinder und Jugendlicheauf öffentlichen Sportplätzen verursachen. Deswegenmüssen beide Lärmbeeinträchtigungen auch unter-schiedlich behandelt werden. Sporttreibende Menschensollen in unserer Gesellschaft nicht als Ärgernis wahr-genommen werden. Wir sollten vielmehr froh sein, wennsich Menschen sportlich betätigen und nicht nur zuHause vor dem Fernseher, der Spielkonsole oder demComputer sitzen, vor allem Kinder.Für uns Grüne hat der Breitensport eine sehr hohegesellschaftliche Bedeutung! In unserem Sportpro-gramm haben wir ausgeführt, dass die Rahmenbedin-gungen für den Breitensport verbessert werden müssen.Denn Spiel und Sport machen nicht nur Spaß, sondernsind menschliche Grundbedürfnisse. Regelmäßigesportliche Betätigung fördert außerdem Gesundheit, Le-bensfreude, soziales Miteinander und Lernvermögen.Dies sollte die Gesellschaft auch anerkennen, selbstwenn es für die eine oder den anderen, der in der Nach-barschaft von Sportanlagen wohnt, nicht immer aufWohlwollen stößt. Das gilt auch für spielende Kinder imGarten oder auf der Straße. Wir wollen nicht wenigerMenschen auf den Straßen, Plätzen und eben auch inSportanlagen sehen, die sich körperlich betätigen, son-dern mehr davon.Leider wurde auch in der Stadtplanung bisher viel zuwenig Rücksicht darauf genommen, Möglichkeiten fürkörperliche Betätigungen zu schaffen. Dennoch: WennAnlagen in dicht bewohnten Gegenden liegen und hoch-frequentiert sind, müssen die Sporttreibenden und ihreZuschauer auf dafür vorgesehenen Anlagen Rücksichtnehmen, auf die Bedürfnisse von Anwohnern in dicht be-wohnten Gegenden. Eine rechtliche Lösung des Pro-blems ist nicht so einfach, wie es sich die Linke, nach ih-rem Antrag zu urteilen, macht. Die Problematik bedarfder Anhörung von Fachleuten und einer eingehendenBeratung in den Ausschüssen.Mit uns ist eine derart pauschale Absenkung vonLärmschutzstandards nicht zu machen; ich sage dies mitBedacht auch als Sportpolitiker. Überdies finde ich esschon erstaunlich, dass der Linken etwa beim Fluglärmkein Grenzwert scharf genug ist. Aber wo es nebenbeiauch um eine fortbestehende Privilegierung der Sport-stätten in den neuen Ländern geht – die schon Über-gangsfristen von 10 Jahren für Lärmschutzmaßnahmenerhielten –, ist der Linken der Schutz der Bevölkerungvor Lärm doch sehr wenig wert. Die Politik muss eineRegelung finden, die Spiel und Sport im Wohngebiet er-möglicht und zugleich auch Anwohnerinteressen be-rücksichtigt. Lauten kommerziellen Spektakelsport al-lerdings sollten wir keineswegs privilegieren zulastender Anwohner.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1742 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstan-
den? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so be-
schlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Behm, Friedrich Ostendorff, Dr. Wolfgang
Strengmann-Kuhn, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Hofabgabe als Voraussetzung für den Bezug
einer Altersrente für Landwirte abschaffen
– Drucksache 17/1203 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden auch
diese Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich
um die Kolleginnen und Kollegen Marlene Mortler,
CDU/CSU, Heinz Paula, SPD, Dr. Edmund Peter
Geisen, FDP, Alexander Süßmair, Die Linke, Cornelia
Behm, Bündnis 90/Die Grünen.
In den letzten zehn Jahren haben sich die Politik, die
Verbände und die Praktiker mehrmals intensiv und er-
gebnisoffen mit der sogenannten Hofabgabeklausel be-
schäftigt. Als Ergebnis dieser Diskussion, die sämtliche
Argumente für und wider eine Abgabeverpflichtung be-
rücksichtigt hat, steht die Erkenntnis, dass die Hofabga-
beklausel grundsätzlich erhalten werden sollte. Grund-
lage ist das Gesetz über die Alterssicherung der
Landwirte. Hier ist klar festgelegt, dass Voraussetzung
für den Bezug einer Rentenleistung grundsätzlich die
Abgabe des Unternehmens ist.
Diese Abgabeklausel ist nach wie vor ein notwendiges
strukturpolitisches Instrument. Sie erhält und verbessert
die Flächengrundlage für die wirtschaftenden Betriebe.
Sie sorgt dafür, dass gut ausgebildete, motivierte Be-
triebsleiter ans Ruder kommen, weil der rechtzeitige Ge-
nerationswechsel gefördert wird. Diese Klausel wirkt
schließlich der Zersplitterung von Bewirtschaftungsflä-
chen sowie einer Überalterung der aktiven landwirt-
schaftlichen Unternehmerinnen und Unternehmer entge-
gen. Es ist auch ein Erfolg deutscher Politik, dass unsere
aktiven Landwirte im Durchschnitt europaweit die
jüngsten sind.
Der Bund gibt jährlich rund 3,8 Milliarden Euro für
die landwirtschaftlichen Sozialsysteme aus. Diese Ei-
genständigkeit der Systeme wollen wir erhalten. Dafür
sind auch „Gegenleistungen“ wie die Hofabgabeklausel
notwendig. Eine derart einschneidende Regelung findet
sich – darauf weisen die Antragsteller zu Recht hin – im
Marlene Mortler
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Bereich der gesetzlichen Rentenversicherung nicht. Da-
her ist es richtig, dass die Beiträge zur Alterssicherung
der Landwirte gegenüber der gesetzlichen Rentenversi-
cherung eine bessere Rentabilität aufweisen. Auch wenn
unterstellt wird, dass nur der 10-prozentige Vorteil ge-
genüber der gesetzlichen Rentenversicherung bei Ab-
schaffung der Hofabgabeklausel gestrichen wird, würde
dies am Ende 10 Prozent niedrigere Renten bedeuten.
Das darf nicht das Ziel sein!
Sie unterstellen uns weiter, dass eine Abschaffung der
Hofabgabeklausel die Beiträge zu den landwirtschaftli-
chen Altersrenten vervielfachen würde. Das ist eine
Phantomdiskussion. Sie hat mit der Realität nichts zu
tun, und sie ist sachlich schlichtweg falsch.
Ich kann auch eine Diskriminierung jüngerer Ehegat-
ten nicht erkennen. Die Möglichkeit, das Unternehmen
an einen jüngeren Ehegatten abzugeben, wurde erst vor
wenigen Jahren ausgeweitet. Das deckt zwar nicht alle
Fälle ab; aber eine Abgabe unter Ehegatten kann jetzt bis
zu einem maximalen Altersunterschied von zehn Jahren,
das heißt ab dem 55. Lebensjahr des nicht rentenberech-
tigten Ehegatten, bewirkt werden. Dies ändert allerdings
nichts an der Tatsache, dass die Unternehmensabgabe
grundsätzlich an die nachfolgende Generation stattfin-
den soll. Genau diesem Gedanken trägt die gerade er-
wähnte Erleichterung bei der „Ehegattenabgabe“ Rech-
nung.
Für den Fall, dass Hofnachfolger aufgrund ihres Al-
ters noch nicht dazu in der Lage sind, das landwirt-
schaftliche Unternehmen als Betriebsleiter zu überneh-
men, besteht die Möglichkeit, dass der übernehmende
Elternteil, also meist die Mutter, den landwirtschaftli-
chen Betrieb fortführt, bis die Nachfolge in die nächste
Generation geregelt werden kann. Diesen Aspekt lassen
die Antragsteller völlig außer Acht. Also auch hier ha-
ben wir schon Verbesserungen für die Praxis erreicht.
Hofabgabe hin oder her: Probleme, die sich zum Bei-
spiel bei der gewerblichen Tierhaltung, bei Schwierig-
keiten der Verpachtung von Steillagenweinbauflächen
oder der Nichtgewährung der Bäuerinnenrente bei feh-
lender Hofabgabe durch den Ehegatten ergeben, sind zu
lösen.
Eine generelle Abschaffung der Hofabgabeklausel
lehnen wir ab, auch wenn uns bewusst ist, dass die Hof-
abgabe dann besonders schwerfällt, wenn es keinen
Nachfolger gibt und der Renteneintritt damit automa-
tisch zur Einstellung der Betriebstätigkeit führt. Den-
noch hat die intensive Diskussion unter den aktiven
Landwirten gezeigt, dass sich die überwältigende Mehr-
heit ohne Vorbehalt für eine Beibehaltung der Hofabga-
beklausel ausspricht. CDU und CSU haben es sich im-
mer zum Grundsatz gemacht, auf die Praktiker zu hören.
Deshalb lehnen wir den vorliegenden Antrag ab.
Eine Petition eines Landwirte-Ehepaares aus Nord-rhein-Westfalen beschäftigt seit einiger Zeit meine Kol-leginnen und Kollegen aus dem Petitionsausschuss: EinEhepaar, das in naher Zukunft das Rentenalter erreicht,wehrt sich aus unterschiedlichen Gründen gegen dieZu ProtokollHofabgabe als Voraussetzung dafür, ihre Rente aus derAlterssicherung der Landwirte zu erhalten.Auch eine Übertragung an einen gemeinnützigen Hofist ihnen nicht möglich, solange sie im Vorstand des alsVerein eingetragenen Hofes bleiben. Dies ist gesetzlichso vorgeschrieben. Behalten sie bei Eintritt in das Ren-tenalter ihren Hof oder bleiben sie in einer führendenPosition des gemeinnützigen Vereins, müssen sie auf ihreAlterssicherung aus der AdL verzichten.Das Ehepaar sieht sich gegenüber anderen Rentnern– auch im Sinne des Gleichheitsgrundsatzes im Grund-gesetz – benachteiligt. Sie empfinden diese Regelung alsin hohem Maße ungerecht. Sie fordern, dass das Gesetzzur Alterssicherung für Landwirte, ALG, geändert wird.5 Prozent der in Deutschland wirtschaftenden Land-wirte – so sagen es die Zahlen – sehen diese Regelungals Beschneidung ihrer Grundrechte an und fühlen sichgegenüber anderen Berufsgruppen benachteiligt. Zu-meist aus sehr individuellen Gründen.Einige klagten vor dem Bundesverfassungsgericht.Alle hohen Gerichte haben bisher die sogenannte Hof-abgabeklausel als verfassungsgemäß bestätigt. Eine Be-nachteiligung gegenüber anderen Berufsgruppen seinicht gegeben.Sie von den Grünen fordern in dem uns vorliegendenAntrag die Abschaffung der Hofabgabeklausel. Sie be-zeichnen sie als – ich zitiere – „nicht mehr zeitgemäßund in höchstem Maße ungerecht.“ Als Begründung füh-ren Sie den demografischen Wandel an. Die Hofabgabe-klausel beschleunige das Höfesterben und den Struktur-wandel. Sie bezeichnen es als zutiefst ungerecht, wenndie Landwirte ihre Beiträge vierzig Jahre lang zahlen,ihnen die Rente aber am Ende verwehrt wird, wenn sieihren Hof nicht abgeben. Sie bezeichnen es als skanda-lös, dass ein Landwirt seine Rente verliert, wenn er sei-nen Hof an einen zehn Jahre jüngeren Ehegatten über-schreibt. Sie führen an, dass das bessere Beitrags-Leistungs-Verhältnis der AdL gegenüber der gesetzli-chen Rentenversicherung keine Verweigerung der Ren-tenzahlungen bei Beibehaltung des Hofes rechtfertigt.Sie übersehen jedoch dabei, dass jeder Landwirt sei-nen Hof und 1,5 Hektar Land behalten darf, dass Ren-tenempfänger anderer Berufsgruppen zwar 400 Eurodazuverdienen, nicht jedoch ein Unternehmen weiter-führen dürfen. Sie übersehen, dass das Bundesverfas-sungsgericht die Regelung der Hofabgabe mehrfach alsmit dem Grundgesetz vereinbar erklärt hat. Und Sieübersehen eines: Die Hofabgabe war bisher immer poli-tisch gewollt, und zwar parteiübergreifend.1957 wurde die Notwendigkeit einer Alterssicherungfür selbstständige Landwirte anerkannt. Als Vorausset-zung für den Erhalt der Alterssicherung gilt seitdem dieAbgabe des Hofes bzw. des landwirtschaftlichen Unter-nehmens. Auch nach der Reform des Agrarsozialgesetzes1995 wurde das Instrument der Hofabgabe beibehalten.In § 11 Abs. 1 Satz 3 des Gesetzes zur Alterssicherungfür Landwirte, ALG, ist festgelegt, dass Landwirte An-spruch auf Altersrente haben, wenn sie das Unternehmender Landwirtschaft abgegeben haben.
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4368 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
gegebene RedenHeinz Paula
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Die Pflicht zur Abgabe des Hofes wurde hauptsäch-lich aus agrarstrukturellen Gründen eingeführt. Markt-orientierung und erhöhte Produktivität auf größerenFlächen waren das Ziel. Das war sinnvoll. Und es warerfolgreich. Es war beabsichtigt, der jüngeren Genera-tion rechtzeitig die Chance zu geben, den Hof der Eltern– oder in einigen Fällen auch von Fremden – zu über-nehmen. Und damit auch rechtzeitig die Verantwortungfür den Hof.Deutschland ist das Land mit den jüngsten Landwir-ten in Europa. Die jüngere Generation ist mutiger, inno-vativer und kreativer. Sie gehen oft neue Wege und su-chen Marktnischen, scheuen weniger Veränderungen alsdie ältere Generation. Sie erhalten die Wettbewerbsfä-higkeit und verbessern damit auch die Einkommenssi-tuation der landwirtschaftlichen Betriebe.Heutzutage ist es allerdings so, dass viele Kinder an-dere Wege gehen. Die Zahl der Übergaben eines Hofesan die eigenen Kinder sinkt stetig. Die alternative Über-nahme geschieht häufig durch fremde, expansionswil-lige Landwirte, durch Nebenerwerbslandwirte und grö-ßere Agrarbetriebe, die auch Flächen aufkaufen, dienicht unmittelbar in der Nähe ihrer Unternehmen liegen.Daher wollen die Landwirte häufig ihre, in vielen Fälleneher kleinen Höfe, Unternehmen und Genossenschafts-anteile behalten und so lange weiterwirtschaften, wie eseben geht. Der Hof und die Landwirtschaft ist seit vielenJahren ihr Lebensmittelpunkt, den sie nicht mit Beginndes Rentenalters verlassen wollen.Die Betriebsabgabe wird in vielen Fällen umgangen.Das stellen die Kollegen und Kolleginnen der Grünen inihrem Antrag fest. In wie vielen genau, wissen sie undwissen wir nicht. Meine Fraktion tendiert dazu, sich die-ser Realität zu stellen. Wir können nicht die Augen vorder Tatsache verschließen, dass die Hofabgabeklauselfür viele Landwirte anscheinend eine erhebliche Ein-schränkung ihres späteren Lebens bedeutet.Neben der rechtzeitigen Übergabe der landwirtschaft-lichen Unternehmen an die jüngere Generation verfolgtedie Hofabgabe noch ein anderes Ziel: Die Verpachtung,der Verkauf beziehungsweise die Auflösung pachtfreiwerdender Flächen sollte die Hofkonzentration fördern.Es war beabsichtigt, aus vielen kleineren einige größereHöfe zu schaffen. Diese konnten besser und wettbe-werbsfähiger wirtschaften. Die rechtzeitige Hofabgabesollte die Flächen leichter für andere zugängig machen.Somit sollte der Strukturwandel in der Landwirtschaftunterstützt werden. Diese Ziele entsprachen der damali-gen Ausrichtung unserer Agrarpolitik und waren durch-aus sinnvoll.Heute sehen wir vieles in einem anderen Licht. Agrar-politik ist nicht mehr nur Agrar- und Wirtschaftspolitik.Sie ist zugleich Umweltpolitik, Tierschutzpolitik, Ver-braucherpolitik, Tourismuspolitik. Sie ist multifunktio-nal. Nicht mehr die Größe eines landwirtschaftlichenUnternehmens ist ausschlaggebend, sondern die Art undWeise der landwirtschaftlichen Bewirtschaftung. Spätes-tens in der zurzeit laufenden Diskussion um die Neuaus-richtung der gemeinsamen europäischen Agrarpolitikbekommen Merkmale wie Erhaltung der Artenvielfalt,Zu ProtokollSicherung der Bodenfunktion und der Wasserhaushalte,Tierschutz und Klimaschutz einen weitaus höheren Stel-lenwert. Dies sollten wir beachten, wenn wir über einemögliche Abschaffung der Hofabgabeklausel diskutie-ren.Die Alterssicherung der Landwirte ist seit jeher alsTeilsicherung konzipiert. Sie ist bewusst so gestaltet,dass sie als zusätzliche Geldleistung zum betrieblichenAnteil wirkt. Sie wird ausdrücklich als staatlich geför-derte Geldleistung definiert. Die Höhe der Alterssiche-rung für Landwirte beträgt 475 Euro. Der Ehegatte er-hält 224 Euro. Diese Leistungen sind unabhängig vonder Unternehmensgröße. Zusätzliche Rentenleistungenerhalten die Landwirte unter anderem durch die privateAltersvorsorge.Die Hofabgabeklausel war immer eng an die hohenBundeszuschüsse gebunden. Keine andere Berufsgruppein Deutschland erhält derart hohe Zuschüsse wie dieLandwirte. 70 Prozent der AdL werden durch Steuermit-tel finanziert.Die Hofabgabe wurde auch als Ausgleich für die ho-hen Zuzahlungen definiert. Durch dieses Instrumentwerden die hohen Bundeszuschüsse quasi legitimiert.Bisher ist die Hofabgabe politisch gewollt. Es liegt anuns, diese Klausel abzuschaffen oder zu ändern. Auf dasSozialversicherungssystem als Ganzes wird die Abschaf-fung keine Auswirkungen haben.In vielen Punkten stimme ich den Kolleginnen undKollegen der Grünen zu. Aber ich sehe auch: Die Hof-abgabe hat sich über Jahre bewährt und war auch an ih-ren Zielen gemessen sehr erfolgreich. Ich sehe auch,95 Prozent der Landwirte und landwirtschaftlichen Un-ternehmen haben keine Probleme mit der Abgabe.Das ist also kein Thema, was man in einem Schnell-schuss einfach so abhandelt. Das Für und das Widerwollen sorgsam abgewogen sein: Was sagen die Betrof-fenen zu diesem Thema? Was sagt der Bauernverband?Was sagt die AbL? Was sagen diejenigen, für die Pflichtzur Hofübergabe kein Problem darstellt? Gibt es Mög-lichkeiten, nur Teile dieser Klausel zu ändern, eine Här-tefallregelung einzuführen, damit beispielsweise das zuAnfang erwähnte Ehepaar seinen Hof behalten kann,obwohl die für die Tiere notwendige Fläche einen hal-ben Hektar zu groß ist? Welche Möglichkeiten gibt es,Problemen solcher Art zu begegnen?Wir suchen das Gespräch mit den Betroffenen. Wirwollen die Meinungen und Sichtweisen der anderen Be-teiligten hören. Erst dann werden wir entscheiden, wasmöglich und nötig ist. Meine Fraktion wird sich daher– trotz einiger Übereinstimmungen – bei der Abstim-mung zu diesem Antrag enthalten.
Mit der Hofabgabe als Voraussetzung für den Bezugeiner Altersrente für Landwirte verfolgte der Gesetzge-ber 1957 ein agrarstrukturpolitisches Ziel: Die Jung-landwirte sollten die Chance erhalten, ihr Wissen undKönnen und damit häufig den Mut zur Modernisierung
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4369
gegebene RedenDr. Edmund Peter Geisen
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in die landwirtschaftlichen Betriebe einzubringen. DasZiel war erfolgreich: Die Hofabgabe hat entscheidenddazu beigetragen, dass die deutschen Landwirte imDurchschnitt jünger sind als Ihre Kollegen in den ande-ren EU-Staaten.Nun ist das Gesetz zur Alterssicherung der Landwirteschon ein halbes Jahrhundert in Kraft – und die Land-wirtschaft hat einen tiefgreifenden Strukturwandel hin-ter sich: Von den knapp 1,5 Millionen Betrieben Mitteder 50er-Jahre waren 2008 noch rund 380 000 übrig.Während ein Landwirt 1950 zehn Menschen mit Nah-rungsmitteln versorgte, ernährt er 2006 schon 127 Men-schen. Die durchschnittlichen Betriebsgrößen habensich mehr als verdoppelt, viele Haupterwerbsbetriebesind zu Nebenerwerbsbetrieben geworden. Und inzwi-schen kommen auf 100 aktive Beitragszahler in derlandwirtschaftlichen Rentenkasse rund 250 Rentenemp-fänger.Diesem Strukturwandel in der Landwirtschaft willund muss die Bundesregierung Rechnung tragen. Soübernimmt der Bund, ähnlich wie im Bergbau, mit der1995 eingefügten Defizitdeckung inzwischen rund70 Prozent der Kosten der Alterssicherung der Land-wirte. Bei den Bergleuten liegt das Verhältnis Beiträgezu Bundesmittel sogar bei eins zu sechs.Aber führt der Strukturwandel wirklich dazu, dass dieHofabgabe zutiefst ungerecht ist, sogar das Höfesterbenbeschleunigt und deshalb abgeschafft werden muss, wieBündnis 90/Die Grünen im vorliegenden Antrag verlan-gen?Ich habe während meiner Zeit im Petitionsausschussmehrere Petitionen erhalten, die diese These stützen: Dawar zum Beispiel der Fall eines Landwirtes, der den Hofnicht an seine Frau abgeben konnte, weil diese wesent-lich jünger war als er. Oder der des Landwirtes, der sei-nen gepachteten Betrieb aufgrund der wirtschaftlichenSituation weder zu einem angemessenen Preis verpach-ten noch ihn stilllegen konnte, da seine zu erwartendeRente unter Sozialhilfeniveau lag.Auch habe ich viele Gespräche geführt mit Landwir-ten, die vehement für eine Abschaffung plädieren – vorallem, weil die angestrebte Förderung des Generatio-nenwechsels mangels Interesse gar nicht oder nur zumSchein zustande komme und weil in Eigentumsrechteeingegriffen werde. Spricht man hingegen mit Vertreterndes Deutschen Bauernverbandes, so kommt man zu demSchluss, dass dies alles doch eher Einzelfälle sind unddie breite Mehrheit mit der aktuellen Regelung zufriedenist.Mein Fazit: Ja, ich halte die Hofabgabeverpflichtungfür reformbedürftig und fordere die Bundesregierungauf, zu prüfen, inwieweit der strukturelle Wandel in derLandwirtschaft Anpassungen notwendig macht. Ich haltejedoch zum gegenwärtigen Zeitpunkt nichts davon, dieHofabgabeklausel komplett abzuschaffen. Hier erwarteich auch mit Spannung, ob und wie möglicherweise dieGerichte entscheiden.Das eindeutige Votum der Landjugend ist für michausschlaggebend: Wir müssen den Junglandwirten dieZu ProtokollChance lassen, den Hof zu übernehmen – um ihnen ihreZukunft nicht zu verbauen und um modernes Know-howund Management in die Betriebe zu bringen. Es gilt, ge-meinsam mit dem Berufsstand eine befriedigende Lö-sung für alle zu finden. Dafür setze ich mich ein.
Im Antrag 17/1203 fordert die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, die Hofabgabeklausel für den Bezug derAltersrente für Landwirtinnen und Landwirte zu strei-chen. Als Argument wird angeführt, dass es zutiefst un-gerecht und nicht mehr zeitgemäß sei, diese Regelungbeizubehalten. Bezieher von Renten aus der normalengesetzlichen Rentenversicherung müssten auch nicht,wenn sie das Alter für den Bezug der Rente erreicht hät-ten, nachweisen, dass sie ihre Beschäftigung aufgegebenhätten. Das ist zwar formal richtig; trotzdem ist dasPrinzip der Rentenversicherung so, dass Beschäftigte,die in den Ruhestand gehen, ihre bisherige Stelle aufge-ben und dann sozial über die Rentenversicherung ver-sorgt werden, und nicht so, dass Menschen nach Eintrittin die Rente normal weiterarbeiten.Agrarpolitisch wird die Verpflichtung zur Hofabgabedamit begründet, dass der Betrieb von Landwirten, dieRente beziehen wollen, freigegeben wird für einen Nach-folger. Vergessen darf man dabei nicht, dass das gesamteSystem der landwirtschaftlichen Alterssicherung staat-lich hoch subventioniert ist. Die Betriebe müssen des-halb nur geringe Beiträge zur Rentenversicherung zah-len und erhalten selbst bei den Beiträgen nochZuschüsse, wenn sie bestimmte Einkommensgrenzen un-terschreiten. Außerdem dürfen auch Landwirte, die inRente gehen und ihren Betrieb abgeben, weiterarbeiten.Sie bekommen ihre Rente und dürfen zuverdienen, alsogenau so wie Beschäftigte, die in den Ruhestand gehen.Nur ihren Betrieb müssen sie weitervererben oder ver-pachten.Die Debatte um die Aufgabe der Hofabgabeklausel inder Rentenversicherung, konzentriert sich gerade aufdie Regionen in Deutschland, in denen die Strukturennach wie vor ungünstig sind und die Landwirtschaftheute kein angemessenes Einkommen garantieren kann.Würde man jetzt landwirtschaftlichen Betriebsleiterneine Rente aus der landwirtschaftlichen Alterssicherungzahlen, die allein vom Alter der Person abhängt, ent-spräche dies auch noch einer Art Quersubventionierungder landwirtschaftlichen Erzeugung. Dies könnte dazuführen, dass Landwirte länger als wirtschaftlich sinnvollihren Betrieb fortführen. In Anbetracht der Überalte-rung landwirtschaftlicher Betriebe würde diese einenGenerationenwechsel noch erschweren. Aber gerade umden Generationenwechsel geht es in dieser Regelung.Die Landjugend in Deutschland fordert daher, auf jedenFall die Hofabgabeklausel beizubehalten. Die Linkesieht daher den Antrag der Grünen mit Skepsis.Ein Aspekt der bisherigen Regelung erscheint aberauch aus unserer Sicht völlig unsinnig, nämlich dieNichtgewährung einer Rente an Landwirte, wenn sie ih-ren Betrieb an zehn Jahre jüngere Ehegatten übertra-gen. Es ist diskriminierend und nicht nachvollziehbar,
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4370 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4371
Alexander Süßmair
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warum ältere Ehegatten einen Betrieb weiterführen dür-fen, jüngere aber nicht. Diese Regelung ist auch für dieLinke völlig unhaltbar, vor allem, da sie in erster LinieFrauen diskriminieren dürfte, die häufiger in diese Si-tuation geraten als Männer.
Seit der letzten Legislaturperiode beschäftige ich
mich als Abgeordnete mit der Frage der Hofabgabe-
klausel. Dabei wurde ich mit ziemlich absurden Fällen
konfrontiert. So wuchs meine Überzeugung, dass die Ab-
gabe des eigenen Hofes als Voraussetzung dafür, dass
Landwirte eine Altersrente bekommen, zutiefst unge-
recht und schon längst nicht mehr zeitgemäß ist.
Als besonders skandalös und diskriminierend emp-
finde ich es, dass Landwirten die Rente verweigert wird,
wenn sie ihren Hof an mehr als zehn Jahre jüngere Ehe-
gatten abgeben. Dafür gibt es keinen vernünftigen
Grund; denn man sollte annehmen, dass es für Ehegat-
ten, die das Rentenalter noch nicht erreicht haben,
selbstverständlich ist, die Erwerbstätigkeit fortzusetzen.
Es ist doch absurd, wenn in einer solchen Situation der
eigene Hof abgegeben werden muss. Das gilt umso mehr
für Ehegatten, die mehr als zehn Jahre vor Erreichen der
Regelaltersgrenze stehen. Diese Regelung führt das vor-
gebliche Ziel der Hofabgabeklausel, für eine jüngere Al-
tersstruktur bei den Landwirten zu sorgen, völlig ad ab-
surdum.
Besonders von den Absurditäten der Hofabgabeklau-
sel betroffen sind auch diejenigen Landwirte, die gemäß
EALG begünstigtes Land von der BVVG gekauft haben.
Diese Landwirte dürfen das Land aus durchaus guten
Gründen 15 Jahre lang – bis vor wenigen Jahren waren
es 20 Jahre – nicht veräußern; andernfalls wird der
Kauf rückabgewickelt. Wenn diese Landwirte nun die
Regelaltersgrenze erreichen, dürfen sie das Land also
nicht verkaufen, sondern allenfalls verpachten. Warum
aber soll ein Altenteiler gezwungen sein, seinen Hof zu
verpachten statt zu verkaufen, wenn er schon mit der Er-
werbstätigkeit aufhört?
Wenn man sich mit Landwirten unterhält, dann hört
man, dass in der Praxis oft Scheinpachtverträge ge-
schlossen werden, um der Hofabgabeklausel Genüge zu
tun. Das heißt, die Hofabgabeklausel entspricht nicht
der sozialen Realität auf dem Lande und wird den Be-
dürfnissen der Landwirte überhaupt nicht gerecht. Es ist
ganz offensichtlich, dass viele Landwirte ihren Hof ent-
weder nicht abgeben wollen oder können – sei es, weil
ihnen der Hofnachfolger fehlt, sei es, weil sie die Arbeit
auf dem Hof weiterhin brauchen, um finanziell über die
Runden zu kommen, sei es, weil ihnen sonst der Lebens-
inhalt fehlt. Kann es richtig sein, diese Landwirte in
diese rechtliche Dunkelgrauzone zu drängen?
Noch etwas zu der Behauptung, ohne Hofabgabe-
klausel würden die Bundeszuschüsse zur Alterssiche-
rung der Landwirte in Höhe von 2,3 Milliarden Euro
komplett gestrichen und demzufolge würden die Bei-
träge um ein Mehrfaches steigen. Hat jemals jemand
von Ihnen den Landwirten diese Kürzung angedroht?
Gibt es hier im Hause wirklich eine Fraktion, die den
Landwirten 2,3 Milliarden Euro an Zuschüssen für die
landwirtschaftlichen Alterskassen streichen will, nur
weil durch die Abschaffung der Hofabgabeklausel ein
paar Millionen Euro an Renten zusätzlich ausgezahlt
werden müssen? Das kann ich mir bei allen Meinungs-
unterschieden zwischen uns beim besten Willen nicht
vorstellen. Trotzdem will zumindest der Bauernverband
die Landwirte glauben machen, dass die Koalition ge-
nau das tun werde. Ich denke, das sollten Sie nicht auf
sich sitzen lassen und umgehend richtigstellen.
Richtig ist, dass die Alterskassenbeiträge der Land-
wirte um ein paar Euro steigen müssten. Das aber ist ge-
rechtfertigt. Denn bisher ist es der kleine Teil der Land-
wirte, die ihren Rentenanspruch vollständig verlieren,
die allen Landwirten die Senkung der Rentenbeiträge
um diese paar Euro finanzieren. Zukünftig darf es je-
doch nicht mehr so sein, dass eine kleine Gruppe von
Landwirten diese geringfügige Senkung der Beiträge für
alle Landwirte zahlt. Solidarität muss hier wieder vom
Kopf auf die Füße gestellt werden.
Unter den Landwirten wächst der Widerstand gegen
die Hofabgabeklausel, das lässt sich aus den Rückmel-
dungen, die ich bekomme, deutlich ablesen. Das zeigt
sich nicht zuletzt an den laufenden Klagen aus Westfa-
len. Wir Bündnisgrüne wollen jedoch nicht warten, bis
diese Klagen juristisch entschieden sind. Denn eigent-
lich wäre es besser, das Thema politisch zu entscheiden.
Mit unserem Antrag wollen wir Sie daher auf unsere
Seite ziehen und erreichen, dass die Bundesregierung in
dieser Frage endlich umsteuert und die überkommene
Hofabgabeklausel abschafft.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1203 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Jan Korte, Ulla Jelpke, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion DIE LINKE
Ehegattennachzug ohne Sprachhürden ermög-
lichen
– Drucksache 17/1577 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden auch
diese Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich
um die Kolleginnen und Kollegen Reinhard Grindel und
Stephan Mayer, CDU/CSU, Rüdiger Veit, SPD, Hartfrid
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(C)
(B)
Wolff, FDP, Sevim Dağdelen, Die Linke, Memet Kilic,
Bündnis 90/Die Grünen.
Der Antrag der Fraktion Die Linke ist integrations-feindlich, er ist frauenfeindlich und er geht von falschenrechtlichen Voraussetzungen aus. Deshalb lehnen wirihn ab. Aus jeder Zeile dieses unverantwortlichen An-trags ist Realitätsverweigerung herauszulesen. Sie ha-ben aus den Fehlern der Multi-Kulti-Politik nichts ge-lernt. Linke Ideologen haben daran geglaubt, und tundas offenbar vereinzelt immer noch, dass sich die Aus-länder in unserem Land nach einiger Zeit automatischintegrieren würden und deshalb auf eine sachgerechteSteuerung der Zuwanderung verzichtet werden könne.Erst der von der CDU/CSU 2005 herbeigeführte Kurs-wechsel, mit dem wir zu einer konsequenten Integra-tionspolitik gekommen sind unter dem Motto „Fördernund Fordern“, hat zu einer deutlichen Verbesserung derSprachkompetenz unserer ausländischen Mitbürger unddamit auch zu einem deutlich besseren Miteinander vonZuwanderern und Aufnahmegesellschaft geführt. Daswill die Linke mit ihrem Antrag torpedieren. Sie wollenParallelgesellschaften zementieren, weil sie glauben,daraus politisches Kapital schlagen zu können. Sie wol-len eine andere Republik. Wir wollen das nicht.Der Antrag ist integrationsfeindlich, weil er auf einInstrument der Zuwanderungspolitik verzichten will, mitdem es gelungen ist, auch ausländischen Familien, diebisher um alle unsere Integrationsangebote einen gro-ßen Bogen gemacht haben, die klare Botschaft zu ver-mitteln: Ohne Deutsch geht es nicht! Es ist doch einealte Erfahrung in der Integrationsarbeit, dass geradeschlecht integrierte Familien diejenigen sind, bei denenes auch nach einem teilweise jahrzehntelangen Aufent-halt leider noch üblich ist, dass sich junge Frauen undMänner nicht aus ihrem persönlichen Wohnumfeld oderFreundeskreis Ehepartner suchen, sondern dies in deralten Heimat ihrer Eltern tun. Die nachziehenden Ehe-gatten kommen in aller Regel in eine Familie, in der keinDeutsch gesprochen wird und in der dann vor allem dieKinder ohne jegliche Deutschkenntnisse aufwachsen.Damit haben sie von Anfang an keine guten schulischenund beruflichen Perspektiven. Mit dem verpflichtendenNachweis einfacher Deutschkenntnisse erwerben dienachziehenden Ehegatten schon vor ihrem Aufenthalt inunserem Land erste Sprachkenntnisse. In den Kursen,zum Beispiel der Goethe-Institute, lernen sie darüber hi-naus etwas über Sitten und Gebräuche in Deutschland,erlangen wichtige Kenntnisse über Fragen des alltägli-chen Lebens und erfahren auch etwas über unserenStaatsaufbau und unsere Gesetze. Den nachziehendenEhegatten ist Deutschland also nicht so fremd, und sieerfahren, wie wichtig es ist, durch den Erwerb vonDeutschkenntnissen besser in unserem Land leben zukönnen. Es gibt keinen Grund, auf diese wichtige Vorbe-reitung auf ein Leben in Deutschland zu verzichten. Undwir bringen auf diesem Weg deutsche Sprachkenntnisseauch in Familien, die bisher zu abgeschottet in unseremLand gelebt haben.Zu ProtokollDer Antrag ist auch frauenfeindlich. Wir wissendurch die Ausländerbehörden, Selbsthilfegruppen undunsere Visastellen im Ausland, dass es nach wie vor ineinem erheblichen Umfang Zwangsehen gibt. Die Linkeverweigert mit ihrem Antrag den zuziehenden Ehefrauendas Recht, sich gegen Zwangsehen überhaupt zur Wehrsetzen zu können. Das muss doch nun wirklich jeder-mann einsichtig sein: Was helfen denn die schönstenBeratungsangebote und Krisentelefone, wenn die betrof-fenen Frauen schon allein mangels ausreichenderSprachkenntnisse noch nicht einmal in der Lage sind,überhaupt die Polizei um Hilfe zu rufen, wenn ihnen Ge-walt angetan wird. Außerdem wird in den vorbereiten-den Sprachkursen durch die geschulten Mitarbeiter na-türlich sehr genau hingesehen, ob man vielleicht Fällevon Zwangsehen erkennen und noch vor der Übersied-lung nach Deutschland Hilfe holen und Beratungsange-bote machen kann. Wir stärken die betroffenen Frauen,sich gegen Gewalt und Zwang zur Wehr zu setzen. DieLinke will aus ideologischer Verblendung die zwangs-verheirateten Frauen ihrem Schicksal überlassen. Ichsage es nochmal: Das ist in schlimmer Weise frauen-feindlich und mit uns nicht zu machen. Die Zahlen überdie Entwicklung des Ehegattennachzugs sprechen einedeutliche Sprache und werden von der Linken bewusstfehlinterpretiert. Nach einem Einbruch beim Familien-nachzug unmittelbar nach der Einführung des Sprach-nachweises sind die Zahlen jetzt wieder deutlich höher.Das ist logisch, weil viele nachziehende Ehegatten ersteinmal die Sprachkenntnisse erwerben mussten. Wennsich jetzt gerade bei Frauen aus den Ländern, in denenklassischerweise Zwangsehen vorkommen, die Zahlennoch auf einem niedrigeren Niveau bewegen, kann dasvernünftigerweise nur so interpretiert werden, dass essich dabei eben um Frauen handelt, die früher noch alsZwangsverheiratete nach Deutschland verbrachtworden wären. Es sagt Ihnen jeder informierte Sozial-arbeiter oder ehrenamtliche Integrationslotse oder dieStadtteilmütter in Neukölln, dass es für manche funda-mentalistisch geprägte Familie eben nicht mehr attrak-tiv ist, eine junge Frau zwangsweise zu verheiraten,wenn sie Deutsch kann und damit in der Lage ist, sichselbst zu helfen und zu wehren. Die von Ihnen kritisier-ten Zahlen sind also gerade ein Beleg dafür, dass unserKonzept aufgegangen ist.Die Linke bewertet auch die Rechtslage völlig falsch.In einem bemerkenswert deutlichen Urteil hat das Bun-desverwaltungsgericht die neuen Spracherfordernissefür in jeder Hinsicht rechtmäßig erklärt. Es hat damitübrigens auch einigen in den Reihen unseres früherenKoalitionspartners widersprochen, die, wie etwa derAbgeordnete Edathy, in infamer Weise unserer damalseigentlich gemeinsam beschlossenen Regelung die Ver-fassungsmäßigkeit abgesprochen haben. Die Regelung,so die Bundesverwaltungsrichter, dient der Integrationund verhindert Zwangsehen. Es handele sich deshalb umeinen rechtmäßigen Ausgleich des privaten Interesses aneinem ehelichen und familiären Zusammenleben imBundesgebiet mit gegenläufigen öffentlichen Interessen.Die Richter haben es auch als zulässig angesehen, dassauf eine allgemeine Härtefallregelung verzichtet wurde,aus der zutreffenden Überlegung heraus, dass damit die
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4372 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
gegebene RedenReinhard Grindel
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ganze Vorschrift leerlaufen würde. In dem konkretenFall, der vom Bundesverwaltungsgericht entschiedenwurde, handelte es sich sogar um eine Analphabetin.Die Richter haben gleichwohl einen Zeitraum von einemJahr, in dem man unschwer die einfachen Deutschkennt-nisse erwerben kann, als zumutbar betrachtet.Anders als die Linke es behauptet, ist nach dem Urteildes Gerichts die Regelung auch mit dem Europarechtvereinbar, weil die Richtlinie über die Familienzusam-menführung die EU-Mitgliedstaaten ausdrücklich er-mächtigt, den Nachzug der Betroffenen von der Erfül-lung von Integrationsanforderungen abhängig zumachen. Insofern ist ein anderslautendes Urteil desEuGH bezogen auf den Familiennachzug von Dritt-staatsangehörigen zu EU-Bürgern, das sich einseitig ander Freizügigkeit orientiert, auch völlig unverständlich.Die Richter in Straßburg will ich von hier aus nach-drücklich auffordern, ihre Rechtsprechung zu korrigie-ren. Sie ist integrationsfeindlich.Die Bundesverwaltungsrichter haben es gleichwohlauch als zulässig erachtet, dass der Gesetzgeber für eineReihe von Drittstaaten wie etwa die USA oder JapanAusnahmeregelungen erlassen hat. Ich will dazu ergän-zen, dass es integrationspolitisch natürlich einen großenUnterschied macht, ob ein Ehegatte auf Dauer inDeutschland lebt oder seinem Partner nur für eine vo-rübergehende berufliche Tätigkeit in Deutschland nach-folgt. Es ist sicher auch ein Unterschied, ob ein Ehegattefließend Englisch oder Französisch oder eben Türkisch,Kurdisch oder Arabisch spricht.CDU/CSU und FDP haben in ihrem Koalitionsver-trag vereinbart, die praktische Umsetzung der Regelungüber den Spracherwerb zu überprüfen. Dabei geht esetwa um eine organisatorische Vereinfachung der Er-bringung des Nachweises über den Spracherwerb. DieGoethe-Institute haben hier eine gewisse Monopolstel-lung, die nicht notwendig ist. Gleichzeitig muss es dabeibleiben, dass auch in unseren Visastellen in Zusammen-hang mit der Anhörung des nachzugswilligen Familien-mitglieds eine Prüfung der Sprachkompetenz stattfindenkann. Die Evaluation des verpflichtenden Sprachnach-weises wird zügig abgeschlossen. Insbesondere aberauch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts bestä-tigt, dass das Instrument als solches rechtlich zulässig,und integrations- sowie frauenpolitisch dringend er-wünscht ist.
Angesichts dessen, dass nunmehr auch das Bundes-verwaltungsgericht am 30. März 2010 die Regelungenzum deutschen Aufenthaltsrecht als verfassungs- undeuroparechtskonform bestätigt hat – vgl. Urteil desBVerwG v. 30.03.2010 – 1 C 8.09V – sind die rechtlichenAusführungen der Linken zur angeblichen Verfassungs-und Europarechtswidrigkeit in ihrem Antrag schlichtfalsch und nicht haltbar.Aber auch bereits vor dem Urteil des Bundesverwal-tungsgerichts haben alle Verwaltungsgerichte, die mitder Überprüfung von abgewiesenen Anträgen auf Ehe-gattennachzug wegen fehlender Deutschkenntnisse be-Zu Protokollschäftigt waren, die bestehende Rechtslage für verfas-sungsgemäß und europarechtskonform gehalten – vgl.VG Ansbach, Urteil vom 20. Oktober 2009; VG Berlin,Urteil vom 11. März 2009; VG Freiburg, Urteil vom20. November 2009. Die Regelungen des Gesetzes überden Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integrationvon Ausländern im Bundesgebiet stünden insbesondereim Einklang mit den Vorgaben der EU-Richtlinie 2003/86/EG zur Familienzusammenführung vom 22. Septem-ber 2003.Schließlich ermächtigt gerade Art. 7 Abs. 2 der Richt-linie die Mitgliedstaaten, von Drittstaatsangehörigen zuverlangen, dass sie vor dem Nachzug Integrationsmaß-nahmen durchgeführt haben. Den Nachweis über dieerfolgten Integrationsmaßnahmen müssen die Antrag-steller auch gemäß Art. 5 Abs. 2 Satz 1 der Richtliniebereits zum Zeitpunkt der Antragstellung und nicht erstnach erfolgter Einreise vorlegen. Dass dies auch nichtwegen Unzumutbarkeit gegen den Grundsatz der Ver-hältnismäßigkeit verstößt, wurde ebenfalls durch dieRechtsprechung der Verwaltungsgerichte bereits festge-stellt und nunmehr durch das Bundesverwaltungsgerichtin der zuvor bereits zitierten Entscheidung auch oberge-richtlich bestätigt.Ein Anspruch auf Ehegattennachzug besteht dahernach deutschem Recht gemäß § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2AufenthG nur, wenn sich der Ehegatte zumindest aufeinfache Art in deutscher Sprache verständigen kann.Dieser Nachweis kann auch durch die erfolgreiche Ab-legung eines Sprachtests im Ausland erbracht werden.Hierbei handelt es sich schlicht um eine wünschens-werte und erforderliche Voraussetzung für dieIntegration der nachziehenden Ehegatten. Schließlichist die Basis jeglicher Integration das Erlernen derSprache. Sie ist Voraussetzung für die freie Entfaltungder eigenen Persönlichkeit und die Eingliederung in dieGesellschaft. Ich sehe daher auch keinen Anlass für eineÄnderung des bestehenden Rechts.Wie das Bundesverwaltungsgericht in seiner Ent-scheidung zutreffend festgestellt hat, ist das Spracher-fordernis in § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG auch mitdem besonderen Schutz zu vereinbaren, den Ehe undFamilie nach dem Grundgesetz genießen. Art. 6 GGgewährt nach der Rechtsprechung des Bundesverfas-sungsgerichts keinen Anspruch auf Einreise und Aufent-halt zu einem hier lebenden Familienangehörigen, son-dern verpflichtet zu einem schonenden Ausgleich desprivaten Interesses an einem ehelichen und familiärenZusammenleben im Bundesgebiet mit gegenläufigenöffentlichen Interessen. Dies hat das Bundesverfas-sungsgericht bereits in seiner Entscheidung vom 12. Mai1987 – Az. 2 BvR 1226/83, 2 BvR 101/84, 2 BvR 313/84 –klargestellt. Es verstoße insbesondere auch nicht gegendas Schutz- und Förderungsgebot von Art. 6 Abs. 1 undAbs. 2 Satz 1 GG, wenn den Betroffenen zugemutetwürde, in das jeweilige Heimatland überzusiedeln, so-fern sie zeitlich unbegrenzt die Lebensgemeinschaft mitihren Ehegatten sogleich herstellen wollten. Dieser Auf-fassung wird die derzeit geltende Regelung, die einZusammenleben im Bundesgebiet im Übrigen regelmä-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4373
gegebene RedenStephan Mayer
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ßig nur für einen überschaubaren Zeitraum verhindert,gerecht.Die Vorschrift ist im Übrigen auch nicht deshalb ver-fassungswidrig, weil sie keine allgemeine Ausnahmere-gelung für Härtefälle enthält. Falls die deutschenSprachkenntnisse aus nicht zu vertretenden Gründen in-nerhalb eines angemessenen Zeitraums nicht erworbenwerden können und keine zumutbare Möglichkeit be-steht, die Lebensgemeinschaft im Ausland herzustellen,kann der verfassungsrechtlich gebotene Interessenaus-gleich einfachgesetzlich auf andere Weise, etwa durchdie Erteilung einer vorübergehenden Aufenthaltserlaub-nis zum Zwecke des Spracherwerbs – § 16 Abs. 5AufenthG – herbeigeführt werden.Abschließend möchte ich noch etwas zu den von derLinken aufgeführten Zahlen zu angeblich gescheitertenSprachtests von zuzugswilligen Ehegatten ausführen.Die bisherigen Erkenntnisse aus einer noch nicht voll-ständig abgeschlossenen Evaluierung der geltendenRechtslage legen im Gegensatz zu den Schilderungen imAntrag der Linken das Ergebnis nahe, dass zuzugswilli-gen Ehegatten in den Herkunftstaaten auch tatsächlichausreichende und zumutbare Möglichkeiten zum Erwerbeinfacher deutscher Sprachkenntnisse und zum Ablegender Sprachprüfung zur Verfügung stehen. Die Zahl derzum Ehegattennachzug erteilten Visa sank zwar un-mittelbar nach Einführung des Sprachnachweiserfor-dernisses. Im langjährigen Vergleich konnte allerdingsauch bereits vor der Einführung des Spracherfordernis-ses ein Rückgang bei Erteilung der Visa zum Ehegatten-nachzug festgestellt werden. In den letzten Monaten istzudem die Zahl der Visa wieder angestiegen. Diesbelegt, dass Schwankungen in diesem Bereich nicht un-üblich sind.Es liegen somit weder die in dem Antrag geschilder-ten rechtlichen noch die tatsächlichen Voraussetzungenfür ein Einschreiten des Bundestages vor.
Mit dem vorliegenden Antrag möchten die Kollegin-nen und Kollegen von der Linken das im August 2007 imRahmen des sogenannten Richtlinienumsetzungsgeset-zes eingeführte Erfordernis des Spracherwerbs für Ehe-gatten vor der Einreise nach Deutschland abschaffen.Ich brauche nicht daran erinnert zu werden, dass dieseRegelung unter der Großen Koalition eingeführt wordenist, also auch von uns mitgetragen wurde. Ebenso richtigist jedoch, dass ganz viele von uns – ich gehöre auchdazu – die Einführung des Spracherwerbs für falsch ge-halten haben. Das zeigen insgesamt fünf Erklärungenvon SPD-Bundestagsabgeordneten nach § 31 Geschäfts-ordnung und nicht zuletzt 21 Gegenstimmen und 5 Ent-haltungen zum zweiten Richtlinienumsetzungsgesetz.Diese Zerrissenheit in der eigenen Fraktion hat zumBeispiel der Kollege Sebastian Edathy in seiner Redevom 14. Juni 2007 zum Ausdruck gebracht, indem erklar sagte, dass man dem Richtlinienumsetzungsgesetzzustimmen wird, obwohl es so schwerwiegende Mängelaufweist wie die Einführung ebendieses Spracher-werberfordernisses. Auch ich habe dem GesetzentwurfZu Protokollzwar zugestimmt, aber in einer gesonderten Erklärungdeutlich gemacht, mit wie viel Bauchschmerzen und mitwie vielen Zugeständnissen. Schon in dieser Erklärunghabe ich die Einführung des Spracherwerberfordernis-ses als eindeutig negativ und als eine Verschlechterungbeim Familiennachzug beschrieben. Dass viele von unsdem Gesetzentwurf dennoch zugestimmt haben, liegteinzig und allein darin, dass die Kompromisse, insbe-sondere die Verschärfungen im Familienzusammenzug,der „Preis“ für die erstmalige Einführung einer gesetz-lichen Altfallregelung waren.Diese Altfallregelung hat dazu beigetragen, dass füreinen Teil der bis dahin bei uns nur mit einer Duldunglebenden Menschen der Teufelskreis nach dem Motto„Hast du keine Arbeit, bekommst du keine Aufent-haltserlaubnis; hast du keine Aufenthaltserlaubnis, be-kommst du keine Arbeit“ durchbrochen werden konnte.Hier ging es um Menschen, die bereits seit zum Teil sehrlanger Zeit bei uns gelebt haben. Maßgeblich um ihneneine Perspektive zu geben, habe ich damals dem Gesetzzugestimmt.Die Einführung des Spacherwerberfordernisses sollteneben der Verbesserung der Integrationschancen fürnachziehende ausländische Ehegatten vor allem ein Mit-tel zur Bekämpfung von Zwangsehen sein. Bis heutekenne ich keine einzige Studie oder irgendwelches Zah-lenmaterial, welches belegen würde, dass die Anzahl derZwangsehen nach Einführung der Neuregelungen imEhegattennachzug zurückgegangen wäre. Eine Rege-lung, deren Wirksamkeit nicht plausibel ist, ist jedochüberflüssig und im Grunde schon deswegen abzuschaf-fen.Zudem ist es für mich und viele von uns nach wie vorschwierig, zu akzeptieren, dass die Regelung eben nichtalle nachziehenden Ehegatten betrifft, sondern nur An-wendung findet auf bestimmte Gruppen und Ethnien. Ichselbst habe diese Regelung sogar immer für verfas-sungsrechtlich höchst problematisch gehalten und es andieser Stelle auch gesagt. Nach wie vor bin ich davonüberzeugt, dass sich beispielsweise zwangsverheirateteFrauen viel besser aus einer Zwangsehe befreien kön-nen, wenn sie bereits in Deutschland sind, als wenn sieim Herkunftsland aufgehalten werden.Allerdings gibt es, was die rechtliche Bewertungdes Spracherwerberfordernisses anbelangt, seit dem30. März 2010 ein Urteil des Bundesverwaltungsgerich-tes. In einer Entscheidung kommt das Bundesverwal-tungsgericht zu dem Ergebnis, dass das Beherrschenvon einfachen Deutschkenntnissen als Voraussetzungfür den Ehegattennachzug sowohl mit Art. 6 Grundge-setz als auch mit der EU-Familienzusammenführungs-richtlinie im Einklang steht. Die Entscheidung desBundesverwaltungsgerichtes muss man nicht teilen;ich jedenfalls sehe sie sehr kritisch. Zudem sind schonFälle vorgekommen, in denen das Bundesverfassungs-gericht gegen das Bundesverwaltungsgericht entschie-den hat.Aber man wird jetzt nicht mehr ohne Weiteres sagenkönnen – schon gar nicht, ohne sich mit den Argumentenunseres obersten Verwaltungsgerichts auseinanderzu-
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4374 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
gegebene RedenRüdiger Veit
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setzen –, dass die Neuregelung des Familiennachzugspauschal gegen das Grundrecht auf Schutz der Ehe undFamilie, Art. 6 Grundgesetz, und die Familienzusam-menführungsrichtlinie verstößt. Genau das macht dieFraktion Die Linke aber pauschal in weiten Teilen derBegründung ihres Gesetzentwurfes, ohne sich auch nurein einziges Mal mit den Argumenten des Bundesverwal-tungsgerichtes auseinanderzusetzen. Das ist, mit Ver-laub, nicht gerade gründlich erarbeitet.Ich habe zudem den Eindruck, dass bei dem in demAntrag genannten Zahlenmaterial nicht viel sorgfältigergearbeitet wurde. Vor ziemlich genau einem Jahr, imMai 2009, haben wir in der SPD-Querschnittsarbeits-gruppe „Migration und Integration“ das Thema „Inte-gration von Migrantinnen“ behandelt. In einem The-menblock ging es um die Frage der Wirksamkeit derneuen Regelungen zum Ehegattennachzug. In diesemZusammenhang berichteten Staatsministerin ProfessorDr. Böhmer, Beauftragte für Migration, Flüchtlinge undIntegration, und Dr. Griesbeck, Vizepräsident des Bun-desamtes für Migration und Flüchtlinge, dass die Zah-len der erteilten Visa zum Familienzusammenzug 2008,also kurz nach Einführung der Regelung, zurückgegan-gen seien, sich aber bereits 2009 wieder auf dem Niveauvon 2007 befänden. Das mir vorliegende Zahlenmate-rial, das ich in Vorbereitung mit meiner Stellungnahmezum vorliegenden Antrag beim BAMF eingeholt habe,bestätigt diese Aussage.Zudem berichtete Frau Kollegin ProfessorDr. Böhmer in der vorerwähnten Sitzung unserer Quer-schnittsarbeitsgruppe, dass sie auf einer Reise in dieTürkei erfahren habe, die türkische Regierung stehe demEhegattennachzugsanforderungen nach wie vor kritischgegenüber, allerdings vornehmlich deshalb, weil es sichum eine gesetzliche Regelung handelt und nicht, weil sienicht vom Inhalt der Regelung überzeugt sei. Schon ausden dargestellten handwerklichen Mängeln, die der An-trag der Fraktion Die Linke aufweist – das heißt wegender fehlenden Auseinandersetzung mit dem Urteil desBundesverwaltungsgerichtes und wegen des unsauberaufgeführten Zahlenmaterials –, wobei es sich nicht umKleinigkeiten handelt, über die großzügig hinweggese-hen werden könnte, empfehle ich, den Antrag abzuleh-nen.Zudem erzwingt das Zahlenmaterial kein sofortigesund umgehendes Handeln. Andere Regelungen, zum Bei-spiel die Schaffung eines wirksamen, dauerhaften undfortlaufenden Bleiberechts, sind aus meiner Sicht imMoment dringender.Ich will auch heute nicht verheimlichen, dass die Ehe-gattennachzugsregelungen innerhalb der SPD-Fraktionnach wie vor umstritten sind. Anlässlich der Debattezum zweiten Richtlinienumsetzungsgesetz habe ich ge-sagt: „Für mich ist das Richtlinienumsetzungsgesetz einschmerzhafter Kompromiss. Einige von uns sagen: Wirwollen einen Spracherwerb im Herkunftsland. Andere,auch in unseren Reihen, sagen: Das halten wir für ver-fassungswidrig und kritikwürdig.“Auch nach dem Urteil des Bundesverwaltungsgerich-tes gehöre ich immer noch zu der zweiten Gruppe. AusZu Protokollmeiner Sicht wäre es zumindest politisch das Richtige,die Erschwernisse im Ehegattennachzug wieder abzu-schaffen. Wenn sich das Zahlenmaterial diesbezüglichändert, werden wir über einen eigenen Gesetzesentwurfberaten.Hartfrid Wolff (FDP):Seit der Änderung des Aufenthaltsgesetzes im Jahre2007 durch die Koalition aus Union und SPD wird vonPersonen, die ein Visum zum Zwecke des Ehegatten-nachzuges nach Deutschland beantragen, die Fähigkeitzur Verständigung in deutscher Sprache „auf einfacheArt“ verlangt. In der Umsetzung der gesetzlichen Vorga-ben hat sich hinsichtlich des Erwerbs und des Nachwei-ses der erforderlichen Sprachkenntnisse eine Praxis he-rausgebildet, die die Antragsteller vor zusätzliche, inEinzelfällen unzumutbare Hürden stellt. Dazu gehörtehinsichtlich des Nachweises von Sprachkenntnissen derausschließliche Verweis auf Kurse und Prüfungen derGoethe-Institute. Zudem waren die deutschen Auslands-vertretungen angewiesen, nur in Ausnahmefällen auchandere Sprachzertifikate als das Sprachzertifikat „StartDeutsch 1“ des Goethe-Instituts anzuerkennen.Die FDP hatte diese Regelung auch deshalb kriti-siert: Weder existieren in allen Ländern Goethe-Insti-tute, noch ist es zumutbar, dass Antragsteller bis zudreimonatige Sprachkurse in Hunderten von KilometernEntfernung von ihrem Wohnort oder sogar in Nachbar-ländern absolvieren müssen und somit weder ihrerErwerbstätigkeit nachgehen können noch über eineständige Unterkunft verfügen. Eine regelmäßigeSprachkursteilnahme unter solchen Umständen kannunzumutbar sein. Eine einmalige Teilnahme an einerSprachstandserhebung kann dagegen durchaus auch beieinem gewissen Aufwand zumutbar sein, weil dadurchdie Einreiseerlaubnis für Deutschland im Rahmen desEhegattennachzugs erworben wird. Deshalb muss esmöglich sein, einen entsprechenden Sprachnachweisauch ohne Kursteilnahme zu erbringen, wenn dieSprachkenntnisse auf anderem Wege erworben wurden.Wichtig ist, dass die sprachliche Qualifikation verläss-lich erhoben wurde.Ein Problem entstand zudem aus der Privilegierungnichtdeutscher EU-Bürger: Unionsbürger müssen keineSprachkenntnisse vorweisen; auch mögliche Familien-angehörige aus Nicht-EU-Staaten benötigen beim Fami-liennachzug zu in Deutschland lebenden Unionsbürgernkeine Sprachkenntnisse. Diese Ungleichbehandlungführt im Ergebnis zu Ehen erster und zweiter Klasse. An-statt beim Nachweis der Deutschkenntnisse auf dieStaatsangehörigkeit desjenigen abzuheben, der seinenEhegatten in die Bundesrepublik nachholen möchte, ha-ben wir 2007 vorgeschlagen, im Sinne der Gleichbe-handlung unter Berücksichtigung der Rechtsprechungdes EuGH auf die Staatsangehörigkeit des nachziehen-den Ehegatten abzuheben. Ebenso fehlt eine allgemeineHärtefallregelung.In der Koalitionsvereinbarung ist festgelegt, dass dergrundsätzliche Ansatz, den Beginn des Spracherwerbsfür Ehegatten schon vor Zuzug hierher beginnen zu las-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4375
gegebene RedenHartfrid Wolff
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sen, sinnvoll ist. Zuwanderer sind in Deutschland will-kommen. Sie sind aber selbst auch klar gefordert. Diedeutsche Sprache, die Grund- und Menschenrechte so-wie Demokratie und Rechtsstaat sind das für alle gel-tende Fundament unserer Gesellschaft. Die Linke will,wie sie auch mit dem vorliegenden Antrag beweist, et-was anderes: Sie will die Abschaffung der Nachzugsre-gelung. Damit will sie, wie immer in ihren Anträgen zurMigrationspolitik, die Akzeptanz von Ausländern inDeutschland erschweren und die deutsche Gesellschaftdesintegrieren, indem sie falsche Erwartungen wecktund statt Engagement nur Anspruchsdenken fördert. DieFDP hat hingegen mit der Union vereinbart, dass dieProbleme, die durch die Nachzugsregelung 2007 ent-standen sind, behoben werden sollen. Wir wollen dieMöglichkeiten verbessern, im Ausland Deutsch zu ler-nen, und wir wollen den Sprachnachweis organisato-risch vereinfachen. Dabei soll vor allem das Monopoldes Goethe-Instituts gelockert werden.Ein Wort noch zu dem in diesem Zusammenhang stetsgemachten Verweis auf Art. 6 Grundgesetz. Der Schutzder Familie, auf den Art. 6 GG den Staat verpflichtet,entbindet die zu schützenden Familien nicht von derPflicht, auf zumutbare Weise Verantwortung für unsereZivilgesellschaft zu übernehmen. Art. 6 GG ist von denVätern und Müttern des GG nie als Freibrief für unkon-trollierte und bedingungslose Zuwanderung nachDeutschland gedacht gewesen. Bis heute wird er von derRechtssprechung auch nicht so interpretiert. Familien-nachzug sollte zudem vor allem bedeuten, dass bei Zu-wanderung bestehende Familien bei Inte-grationsbereitschaft eine Zuzugsmöglichkeit erhaltensollen. Die Kultivierung von desintegrierten Parallel-gesellschaften durch systematische und von Großfamilien-clans organisierte Verheiratung von Zuwanderern oderZuwandererkindern mit Partnern aus dem Herkunfts-land ist nicht gewollt und mit dem Grundanliegen vonArt. 6 GG nicht vereinbar.Die Linken verwenden jeden beliebigen Vorgang ausder Zuwanderungspolitik, um einer ungesteuerten Zu-wanderung das Wort zu reden. Wachsende Belastungenfür die sozialen Sicherungssysteme und ansteigendeAusländerfeindlichkeit nehmen die Linken dafür billi-gend in Kauf. Wir Liberalen haben mit der Union dage-gen eine Steuerung der Zuwanderung nach zusammen-hängenden, klaren, transparenten und gewichtetenKriterien vereinbart. Wir wollen eine neue Kultur desWillkommens, die nicht falsche Versprechungen auf Kos-ten anderer Leute macht, sondern Chancen und Per-spektiven eröffnet, für die, die nicht nur „territorial“nach Deutschland kommen, sondern auch in seinerSprache und Kultur sowie seiner Gesellschaft mit ihrenGrundwerten ankommen wollen, und diejenigen aner-kennt, die das geschafft haben.
Wir beraten vorliegend einen Antrag meiner Frak-tion, weil die seit Ende August 2007 geltende Neurege-lung, wonach im Rahmen des Ehegattennachzugs bereitsvor der Einreise deutsche Sprachkenntnisse nachzuwei-sen sind, zu einer erheblichen Einschränkung des Ehe-Zu Protokollgattennachzugs geführt hat. 2008 lag die Zahl der zumEhegattennachzug erteilten Visa um 22 Prozent unterdem Wert von 2006. Direkt nach Inkrafttreten der Neure-gelung gab es einen drastischen Einbruch der Visum-zahlen um weltweit 40 Prozent, bezogen auf die Türkeigar um 67,5 Prozent.Es ist nicht hinnehmbar, dass die Bundesregierungdie Betroffenen dafür verantwortlich macht. Nicht an-ders ist die Bemerkung der Bundesregierung in ihrerAntwort auf meine Kleine Anfrage mit der Drucksachen-nummer 17/1112 zu verstehen. Laut Bundesregierunghaben sich diejenigen, die die Deutschprüfung im Aus-land nicht bestanden haben, oftmals einfach nicht aus-reichend auf die Prüfung vorbereitet. Das ist eine Un-verschämtheit! Es ist der gezielte Versuch, über dieeingeführten diskriminierenden Regelungen zum Ehe-gattennachzug hinwegzutäuschen und die bestehendenProbleme auf die Betroffenen abzuwälzen.Ließen sich die geforderten Sprachkenntnisse leichtund schnell erwerben, hätte die Zahl der erteilten Visaim ersten Quartal 2008, das heißt vier bis sieben Monatenach Inkrafttreten der Regelung, in etwa wieder demWert von vor der Gesetzesänderung entsprechen müs-sen; tatsächlich aber lag sie immer noch um mehr als30 Prozent darunter. Nur 64 Prozent aller Prüfungsteil-nehmenden weltweit bestanden im Jahr 2009 denDeutschtest, der Voraussetzung für den Ehegattennach-zug ist. Nicht erfasst wird dabei, wie viele Versuche dieBetroffenen unternehmen mussten, um den Sprachtest zubestehen. Vermutlich schafft nur etwa die Hälfte allernachzugswilligen Ehegatten die Hürde des Sprachtestsim ersten Anlauf.Problematisch ist auch, dass die Erfolgsaussichten,den Sprachkurs zu bestehen, dann größer sind, wennKurse am Goethe-Institut absolviert wurden. Doch vieleBetroffene haben keinen Zugang zu einem Sprachkurseines Goethe-Instituts im Ausland. Viele können sichdiesen auch schlicht nicht leisten. Denn um Sprachkursebesuchen zu können, müssen die Betroffenen oftmals inweiter entfernte Städte reisen, sie müssen sich dort eineUnterkunft nehmen und können in der Zeit des Sprach-erwerbs nicht erwerbstätig sein. Besonders prekär istdie Situation in Afrika, Asien und Lateinamerika. Fürdie Bundesregierung aber ist all dies zumutbar. Vermut-lich hält es die Bundesregierung auch für zumutbar, un-ter Brücken schlafen zu müssen, wenn das Geld fürÜbernachtungsmöglichkeiten nicht ausreicht.All das ist wenig überraschend, denn das Ziel derNeuregelung ist die soziale Selektion beim Ehegatten-nachzug und der Ausschluss sogenannter bildungsfernerund sozial ausgegrenzter Menschen. Diese Selektions-wirkung wurde von der Bundesregierung sogar mehroder weniger eingeräumt. So hält sie finanzielle Belas-tungen in Höhe mehrerer Tausend Euro aufgrund vonsich hinziehenden Visumverfahren ausdrücklich für zumut-bar; sehen Sie dazu die Bundestagsdrucksache 16/10732,Fragen 11 und 15. Die vorgegebenen Ziele einer angeb-lichen Bekämpfung von Zwangsverheiratungen oder ei-ner Förderung der Integration können nach Auffassungaller fachkundigen Verbände mit Sprachtests im Ausland
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4376 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
gegebene RedenSevim Daðdelen
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Sevim Dağdelengar nicht erreicht werden. Im Gegenteil: Der Druck aufZwangsverheiratete im Ausland dürfte sich häufig sogarnoch vergrößern, und die Integration in Deutschlandwird durch die Hürde des Spracherwerbs im Auslandganz klar behindert und verzögert.Die Bundesregierung täuscht aber nicht nur die Öf-fentlichkeit, indem sie den Betroffenen die Verantwor-tung für ihre Situation zuschiebt. Sie täuscht die Öffent-lichkeit überdies in dem Sinne, dass sie eine nachAngaben der Bundesregierung bereits im Jahr 2009 fer-tiggestellte Evaluierung der Auswirkungen der Neurege-lung der Sprachnachweise beim Ehegattennachzugnicht veröffentlicht. Dabei handelt es sich nicht einmalum eine unabhängige Evaluierung, sondern um eine in-terne Bewertung. Doch vermutlich passen der Bundesre-gierung die Fakten nicht ins politische Konzept und las-sen sich kaum beschönigen. Denn selbst im Rahmeneiner vom Ministerium veranlassten Evaluierung dürftedie Notwendigkeit zumindest einer Härtefallregelung fürAusnahmefälle offenkundig geworden sein. Eine solcheHärtefallregelung als Minimallösung, wie von der FDPnoch vor kurzem im Parlament gefordert wurde, wirdaber von der CDU/CSU abgelehnt.Die Linke hat die Neuregelung von Beginn an als eineverfassungswidrige Einschränkung des Familiennach-zugs und als eine Selektion nach Nützlichkeitskriterienabgelehnt. Verfassungs- und europarechtliche Bedenkenwurden auch von zahlreichen Sachverständigen im Rah-men der Anhörung zum EU-Richtlinienumsetzungsge-setz im Innenausschuss des Bundestages 2007 vorgetra-gen. Die Verwirklichung eines Grundrechts darf nichtvom Geldbeutel der Betroffenen oder ihrer Fähigkeitzum Fremdsprachenerwerb abhängig gemacht werden.Völlig unverständlich ist, warum das Bundesverwal-tungsgericht in seiner Entscheidung zum Ehegatten-nachzug vom 30. März 2010 die europarechtlichen Fra-gen nicht dem Europäischen Gerichtshof zur Prüfungund Entscheidung vorgelegt hat. Nicht nachvollziehbarist auch, dass sich das Bundesverwaltungsgericht im Er-gebnis über die inhaltlichen Argumente und mühsam do-kumentierten Einzelfälle hinwegsetzt, die die Verfas-sungs- und Europarechtswidrigkeit der Neuregelungbelegen. Stattdessen wurde offenbar unkritisch die durchnichts zu belegende Behauptung der Großen Koalitioneiner angeblich beabsichtigten Verhinderung vonZwangsverheiratungen und Erleichterung der Integra-tion übernommen. Tatsächlich ist die Regelung familien-feindlich, diskriminierend und sozial selektierend. Fürdie Betroffenen ist sie mit einer Zwangstrennung auf un-bestimmte Zeit, erheblichen Kosten und psychischen Be-lastungen verbunden.Die Linke ist nach wie vor fest davon überzeugt, dassdie Regelung gegen den Grundsatz der Verhältnismäßig-keit verstößt und mit Art. 6 des Grundgesetzes unverein-bar ist. Damit stehen wir nicht alleine. Der DeutscheGewerkschaftsbund bewertete in einer Stellungnahmedie Neuregelung als nicht zu akzeptierende soziale Se-lektion. Auch der Paritätische Wohlfahrtsverband for-derte in seiner Bilanz vom 27. August 2009 „Ein Jahrnach der Reform des Zuwanderungsgesetzes“ die Ab-Zu Protokollschaffung der Nachweispflicht von einfachen Sprach-kenntnissen als Voraussetzung für den Ehegattennach-zug. Es handele sich um eine soziale Selektion, die mitdem grundgesetzlich geschützten Recht auf Ehe und Fa-milie nicht vereinbar sei. Selbst der Präsident des Deut-schen Roten Kreuzes und ehemalige Bundesinnenminis-ter Rudolf Seiters, CDU, forderte in einem Brief vom9. Oktober 2008 an den damaligen BundesinnenministerWolfgang Schäuble aufgrund der Erfahrungen des DRKmit der Neuregelung eine Ausnahme- bzw. Härtefallre-gelung bis hin zur Rückgängigmachung der Gesetzes-verschärfung.In ihrem Antrag fordert die Linke eine sofortige Rück-nahme der diskriminierenden Beschränkungen des Ehe-gattennachzugs. Das Parlament sollte im Interesse derMenschen nicht darauf warten, dass uns der Europäi-sche Gerichtshof oder das Bundesverfassungsgerichtdiesen Job abnimmt. Aus all diesen sowie weiterenGründen und Erfahrungen haben wir unseren Antrageingebracht. Es muss Schluss sein mit der für alle offen-sichtlichen Diskriminierung. Deshalb bitten wir um Un-terstützung des Antrags.
Seit der Einführung des Spracherfordernisses beimEhegattennachzug im Jahr 2007 kommt es bei der Ertei-lung der Aufenthaltserlaubnis zu Verzögerungen, die so-gar Jahre ausmachen können. In dieser Zeit müssen dieEhegatten getrennt voneinander leben und Härten ver-schiedenster Art ertragen. Der Spracherwerb im Aus-land ist oft kaum möglich, da es zum Beispiel in ländli-chen Regionen an Schulungsmöglichkeiten fehlt. In derRegel werden von den Auslandsvertretungen zum Nach-weis der Deutschkenntnisse nur Zertifikate des Goethe-Institutes anerkannt. Jedoch existieren Goethe-Institutenicht in allen Regionen, nicht einmal in allen Ländern.Zudem sind die Sprachkurse allzu oft mit hohen Kostenverbunden, die für viele Menschen eine erhebliche Be-lastung bedeuten. Kurse beim Goethe-Institut sindteuer; oft übersteigen die Kosten ein durchschnittlichesMonatsgehalt in den Herkunftsländern.Die Pflicht, Deutsch im Herkunftsland unter schwie-rigen Bedingungen zu lernen, trifft sozial schwache Per-sonen besonders heftig. Auch für Personen ohne odermit nur wenig Erfahrung mit Bildungseinrichtungenstellt das Spracherfordernis eine erhebliche Hürde dar.So kann die Regelung etwa für Analphabeten zu einemdauerhaften Einreisehindernis führen. Das Spracherfor-dernis verfehlt die Ziele, die es erreichen soll. Es wirktZwangsehen nicht entgegen und trägt zur Integrationder nachziehenden Ehegatten nicht bei. Somit kann esdie Eingriffe in Art. 6 Grundgesetz nicht rechtfertigen.Die Einführung des Sprachnachweises wurde von derGroßen Koalition damit begründet, dass SprachkurseZwangsverheiratungen verhindern. Belege dafür gibt esnicht. Sprachkurse können zwar die individuelle Hand-lungsfähigkeit und damit die persönliche Autonomiesteigern; wie Sprachwissenschaftlerinnen und Sprach-wissenschaftler jedoch zeigen, gelingt das nur dann,wenn sie kontextbezogen stattfinden und mit Orientie-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4377
gegebene Reden
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4378 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Memet Kilic
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rungen im Gesellschafts- und Unterstützungssystem desZielstaates verbunden sind. Derartiges „Empower-ment“ durch Sprachkurse ist daher erst im Zielland,etwa im Rahmen der Integrationskurse, nicht aber durchFernlehrkurse vor der Einreise zu gewährleisten. DasSpracherfordernis ist also nicht geeignet, Zwangsver-heiratungen entgegenzuwirken.Die Einschränkung des Grundrechts auf Ehe- und Fa-milienleben ist zudem unverhältnismäßig. Denn sie be-trifft eine große Zahl von Einwanderinnen und Einwan-derer, während Zwangsehen nur in wenigen Ländern undhier jeweils nur bei kleinen Bevölkerungsgruppen ge-schlossen werden. Auch nach Aussagen der Bundesre-gierung spielen Zwangsverheiratungen beim Ehegatten-nachzug überhaupt nur in Ausnahmefällen eine Rolle.Der Eingriff in das Recht auf familiäres Zusammenle-ben in Deutschland ist auch durch das Ziel der Integra-tion nicht gerechtfertigt. Denn es gibt mildere Mittel,durch die der intendierte Zweck besser erreicht wird.Sprachen lernt man am besten dort, wo sie gesprochenwerden. Nur dann ist gewährleistet, dass das in den Kur-sen erworbene Wissen praktisch umgesetzt und eingeübtwird, nicht zuletzt mithilfe der hier lebenden Familien-angehörigen und Freunde und unterstützt durch dieSprachanwendung im Alltag. Kurz: Der Spracherwerbim Inland ist viel leichter, schneller, kostengünstiger undweitaus weniger belastend für die Betroffenen als imAusland.In Bezug auf den Ehegattennachzug zu Deutschenstellt die Regelung zudem eine „Inländerdiskriminie-rung“ dar. Denn der Nachzug zu Deutschen wird andersbehandelt als der Nachzug zu Unionsbürgerinnen undUnionsbürgern. Während Ehegatten deutscher Staats-angehöriger vor der Einreise Sprachkenntnisse nach-weisen müssen, sind Ehegatten von Unionsbürgerinnenund Unionsbürgern von dieser Verpflichtung befreit.Letztere können sich auf die vorteilhafteren Regelungendes gemeinschaftsrechtlichen Freizügigkeitsrechts beru-fen. Mangels sachlicher Rechtfertigung dieser Un-gleichbehandlung steht die Regelung nicht im Einklangmit Art. 3 Grundgesetz.Das Spracherfordernis gilt auch nicht für alle Ehe-gatten von Ausländerinnen und Ausländern. So müssenbeispielsweise Ehegatten von Staatsangehörigen ausLändern, mit denen Deutschland enge wirtschaftlicheBeziehungen pflegt, Sprachkenntnisse nicht nachweisen.Ausgenommen von der Nachweispflicht sind auch Ehe-gatten von Unionsbürgerinnen und Unionsbürgernsowie die Ehegatten von Hochqualifizierten, Selbststän-digen und Forscherinnen und Forschern. Diese Bevor-zugung bestimmter Drittstaatsangehöriger ist im Hin-blick auf den vorgeblichen Zweck des Sprachnachweisessachfremd.Wir betrachten die Regelungen zum Spracherwerbbeim Familiennachzug als menschenunwürdig, verfas-sungswidrig und überflüssig. Daher haben wir uns inunserem Gesetzentwurf mit der Drucksachennum-mer 17/1626 für ihre Abschaffung ausgesprochen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1577 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie einverstan-
den? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel
Sarrazin, Viola von Cramon-Taubadel, Ulrike
Höfken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu dem Vorschlag
der Europäischen Kommission für eine Ver-
ordnung des Europäischen Parlaments und
des Rates über die Bürgerinitiative
KOM(2010) 119 endg.; Ratsdok. 8399/10
hier: Stellungnahme gegenüber der Bundes-
regierung gemäß Artikel 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes
Europäische Bürgerinitiative – Für mehr Bür-
gerbeteiligung in der EU
– Drucksache 17/1781 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Petitionsausschuss
Ausweislich der Tagesordnung werden die Reden zu
Protokoll genommen. Es handelt sich um die Reden der
Kolleginnen und Kollegen Thomas Dörflinger, Karl
Holmeier, CDU/CSU, Michael Roth, SPD, Dr. Stefan
Ruppert, FDP, Dr. Dieter Dehm, Die Linke, Manuel
Sarrazin, Bündnis 90/Die Grünen.
Zu den vielen positiven Neuigkeiten, die der Vertrag
von Lissabon in die europäische politische Realität ge-
bracht hat, gehört die Europäische Bürgerinitiative
nach Art. 11 Abs. 4 EUV. Insofern ist es gut, im Lichte
des Verordnungsvorschlags des Europäischen Parla-
ments und des Rates im Deutschen Bundestag eine De-
batte hierüber zu führen, auch wenn – und dies schicke
ich voraus – im uns heute vorliegenden Antrag wenig zu
finden ist, was unsere Zustimmung finden kann. An vie-
len Punkten ist der Vorschlag der Kolleginnen und Kol-
legen des Europäischen Parlaments und des Rates ziel-
führender. Ich will dies schlaglichtartig aufzeigen:
Erstens. Der Verordnungsvorschlag gibt als Richt-
schnur für das Mindestalter der Antragsteller das Wahl-
alter in den Mitgliedstaaten an. Wir halten dies für ziel-
führend. Der Vorschlag des Antrags der Grünen geht
von einem Mindestalter von 16 Jahren aus; dies korres-
pondiert nicht mit den Bestimmungen des deutschen
Wahlgesetzes.
Zweitens. Bündnis 90/Die Grünen fordern ein einklag-
bares Recht auf obligatorische Befassung der Kommis-
sion mit einer formal erfolgreich eingereichten Initiative.
Das liegt nicht in der Intention der Vertragsautoren von
Lissabon. Ein solches Recht, die Europäische Kommis-
sion habe sich mit eingereichten Vorlagen zu befassen,
hat im Übrigen nicht einmal der Deutsche Bundestag.
Thomas Dörflinger
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Drittens. Bündnis 90/Die Grünen fordern, den An-
tragstellern müsse eine informelle Vorabberatung durch
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kommission zur
Verfügung gestellt werden. Mit Verlaub: Das ist etwas zu
viel des Guten und käme der Praxis gleich, dass der Pe-
titionsausschuss beim Deutschen Bundestag die Peten-
ten selbst vorab berät.
Viertens. Bündnis 90/Die Grünen fordern, dass die
1 Million benötigter Unterschriften aus mindestens ei-
nem Viertel der Mitgliedstaaten stammen solle. Der Ver-
ordnungsvorschlag geht von einem Drittel aus. Wenn
man weiß, dass die grüne Position in der von der Kom-
mission durchgeführten Anhörung insbesondere von Or-
ganisationen vertreten wurde, wird die Absicht etwas
deutlicher. Hier soll offensichtlich befreundeten Organi-
sationen der Zugang erleichtert werden; Klientelpolitik
im klassischen Sinne. Diese Auffassung teilen wir nicht.
Man kann trefflich darüber streiten, ob eine Zulässig-
keit vorab durch die Kommission oder ex ante geprüft
werden sollte. Im Interesse möglicher Initianten sollte es
liegen, dass der Fall vermieden wird, dass mit verhält-
nismäßig großem Aufwand eine Initiative gestartet und
durchgeführt wird, von der sich nachher herausstellt, sie
war überhaupt nicht zulässig. Die Hoffnung, alleine
durch diesen Prozess werde schon eine europäische öf-
fentliche Debatte ausgelöst, scheint mir dagegen eher
virtueller Natur zu sein.
Letzte Bemerkung: Die Europäische Bürgerinitiative
soll die repräsentative Demokratie und damit das Parla-
ment ergänzen und nicht ersetzen; sie soll auch nicht in
Teilen Aufgaben der Legislative übernehmen. Insofern
können wir den vorgelegten Antrag nicht mittragen.
Demokratie hat Konjunktur – und das inmitten einerWirtschafts- und Finanzkrise. Nachdem durch den Ver-trag von Lissabon bereits die Mitwirkungsmöglichkeitendes Europäischen Parlamentes und die Einbindung dernationalen Parlamente in den europäischen Gesetzge-bungsprozess verbessert wurden, setzen wir nun auf eu-ropäischer Ebene ein weiteres Zeichen zur Stärkung derDemokratie.Wir geben den Startschuss für ein echtes europäi-sches Volksbegehren – die Europäische Bürgerinitiative.Den Grundstein dafür haben wir bereits im Vertrag vonLissabon gelegt, und derzeit diskutieren wir mit der Eu-ropäischen Kommission und unseren europäischenPartnern die Einzelheiten für das konkrete Verfahren zurAusgestaltung der Bürgerinitiative.Doch lassen Sie mich vielleicht zunächst kurz erläu-tern, worum es bei dieser Europäischen Bürgerinitiativeeigentlich genau geht und was sie bedeutet. In ihrem Zu-sammenhang wird viel von der sogenannten partizipato-rischen Demokratie gesprochen, im Gegensatz zur re-präsentativen Demokratie, die wir hier als Abgeordneteim Deutschen Bundestag praktizieren. Da es sich jedochbei der Europäischen Bürgerinitiative um ein Instrumenthandelt, das direkt für die Bürgerinnen und Bürger ge-schaffen wurde, sollten wir uns vielleicht bei der Erläu-Zu Protokollterung dieses Instruments etwas verständlicher ausdrü-cken.Die Europäische Bürgerinitiative ist, wie eingangsbereits kurz erwähnt, eine Art Volks- oder Bürgerbegeh-ren auf europäischer Ebene. Sie erlaubt den Unionsbür-gern erstmals in der Geschichte der EU, europäischeRechtsvorschriften direkt anzuregen – mit der Samm-lung von mindestens einer Million Unterschriften zu ei-nem ganz konkreten Thema. Die Bürger können mit die-sen Unterschriften die Kommission auffordern, konkreteGesetzesvorschläge auf europäischer Ebene vorzulegen.Dies gilt selbstverständlich nur im Rahmen der Kompe-tenzen, die die EU hat. Das sogenannte Prinzip der be-grenzten Einzelermächtigung und das Subsidiaritäts-prinzip bleiben also gewahrt.In Deutschland ist uns das von Länder- und Kommu-nalebene bereits bekannt. Im Bund gibt es so etwasnicht, dafür aber nun in Europa. Das ist ein Meilensteinfür die Demokratie. Wir sind damit in Europa also sogarein Stück weiter als in Deutschland.Ziel der Europäischen Bürgerinitiative ist es, einenspürbaren Akzent zu setzen, um die EU bürgernäher zumachen. Wir von der CDU/CSU haben immer klarge-macht, dass wir nicht nur ein starkes, sondern vor allemauch ein bürgernahes Europa wollen. Das haben wir inunseren Wahlprogrammen und auch im Koalitionsver-trag festgeschrieben. Mit der Europäischen Bürgerinitia-tive setzen wir dies nun um. Die Menschen in der EUkönnen sich mit dieser Initiative selbst Gehör verschaf-fen und erhalten die Möglichkeit, selbst ein Wort mitzu-reden. Die Europäische Bürgerinitiative hat damit einenimmensen symbolischen Wert und ist ein Beleg dafür,dass es der EU ernst damit ist, sich um die Belange ihrerBürgerinnen und Bürger zu kümmern.Außerdem soll die Bürgerinitiative grenzüberschrei-tende europaweite Debatten fördern, weniger auf natio-nale Themen und nationale Interessen begrenzt, sondernverstärkt auf gesamteuropäische Themen. Damit leistenwir einen bedeutenden Beitrag zur Förderung der euro-päischen Identität.Ziel bei der Ausgestaltung der europäischen Bürger-initiative muss es sein, dass die Bürgerinnen und Bürgerdieses Instrument aktiv nutzen. Es darf nicht nur einpopulistisches Vehikel für Oppositionsparteien oderauch für Mitgliedstaaten sein, deren Vorstellungen zubestimmten Themen nicht mehrheitsfähig sind. In diesenTagen beschleicht mich jedoch der Eindruck, dass dieseInitiative für die Bürger genau hierzu missbraucht wird.Ich bin der Letzte, der hohe bürokratische Hürden fürdie Bürgerinitiative fordert. Ich sehe mich eher alsKämpfer für Bürokratieabbau an allen Fronten. Posi-tion von CDU und CSU war es auch von Anfang an, dieEuropäische Bürgerinitiative unbürokratisch, unkompli-ziert und praktikabel auszugestalten. Aber es muss na-türlich auch hinreichend sichergestellt sein, dass diesesInstrument tatsächlich ein Instrument der Bürgerinnenund Bürger wird und eben nicht als populistisches Mittelmissbraucht werden kann.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4379
gegebene RedenKarl Holmeier
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Genauso muss sichergestellt sein, dass es keinenMissbrauch durch fingierte Unterschriften gibt. Das istnicht einfach, denn die Nachprüfung von einer MillionUnterschriften in ganz Europa ist verständlicherweiseeine echte Herausforderung. Ich bin jedoch zuversicht-lich, dass wir das in den aktuellen Verhandlungen in denGriff bekommen.Was die Forderung der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen angeht, das Mindestalter auf 16 Jahre festzule-gen, denke ich, ist es sinnvoll, sich hier am Wahlrecht fürdas Europäische Parlament zu orientieren. Die Europäi-sche Bürgerinitiative ist ein demokratisches Instrumentauf europäischer Ebene und wir sollten hier in Europakeine unterschiedlichen Altersgrenzen einführen.Insgesamt sind wir mit dem, was zurzeit von der Eu-ropäischen Kommission vorgelegt wurde, auf einem sehrguten Weg. Dem aktuellen Verordnungsvorschlag stehenkeine wesentlichen Bedenken entgegen. Ich halte daherauch eine besondere Intervention des Deutschen Bun-destages nicht für erforderlich. Dies gilt insbesondereauch im Hinblick auf den Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen, den ich vor dem Hintergrundmeiner Ausführungen ablehne.Angesichts der bedeutenden gesamteuropäischen He-rausforderungen, vor denen wir in diesen Tagen stehen,ist diese Europäische Bürgerinitiative ein Signal für unsalle, für unseren europäischen Gemeinsinn, die gemein-same Solidarität in Europa und die gemeinsame Identi-tät.
Denk ich an Europa in der Nacht, bin ich um denSchlaf gebracht. – Man muss nicht erst Heinrich Heinesberühmtes Zitat in abgewandelter Form bemühen, umdas beherrschende Thema dieser Tage in den Blick zunehmen: Wird das vereinte Europa die dramatischeKrise überstehen? Oder endet eine wohl einmalige Er-folgsgeschichte europäischer Integration, weil wir voreinem ungezügelten Raubtierkapitalismus und einerwachsenden Entsolidarisierung als Staaten- und Bürger-union kapitulieren?Trotz aller berechtigten Sorge: Von Schwarzmalereihalte ich nichts. Anlass zu Optimismus ist sicher auchdas neue Instrument der Europäischen Bürgerinitiative.Mit dem Vertrag von Lissabon und der Bürgerinitiativewagen wir mehr Demokratie. Gerade jetzt ist nicht einWeniger, sondern ein Mehr an Bürgerbeteiligung in Eu-ropa entscheidend. Bürgerinnen und Bürger haben eineChance verdient, sich stärker in den Entscheidungspro-zess der EU einzubringen. Wir Sozialdemokratinnen undSozialdemokraten haben uns schon im Verfassungskon-vent für eine Europäische Bürgerinitiative stark ge-macht, und das mit Erfolg! Heute debattieren wir überdie konkrete Umsetzung. Endlich liegt ein Verordnungs-entwurf der EU-Kommission auf dem Tisch.Die SPD will die Bürgerinnen und Bürger zur Teil-habe in der EU ermuntern. Die Europäische Bürgerini-tiative ist ein wichtiger Baustein direkter Demokratie.Die Europäische Bürgerinitiative ist stets als ein Glanz-Zu Protokollstück des Verfassungsvertrages bzw. des Vertrages vonLissabon bewertet worden. Jetzt muss das Projekt mög-lichst unbürokratisch und bürgerfreundlich ausgestaltetwerden, damit es wirken und von der Bevölkerung auchangenommen werden kann. Meine Fraktion hat sichbereits mit einer ausführlichen Stellungnahme am öf-fentlichen Konsultationsprozess der Europäischen Kom-mission zur Ausgestaltung der Europäischen Bürgerini-tiative beteiligt. Denn bis auf die Mindestanzahl von1 Million Unterschriften aus einer bestimmten Anzahlvon Mitgliedstaaten schreibt der Vertrag von Lissabonnicht viel zur Durchführung einer Europäischen Bürger-initiative vor. Deshalb sind viele der Forderungen, diedie Grünen-Fraktion in ihrem Antrag nennt, durchausunterstützenswert.Das Quorum für die Anzahl der Unterstützer pro Mit-gliedsland hat die Kommission selbst herabgesetzt. Dasist schon einer unserer ersten Erfolge. Der ursprüngli-che Prozentsatz von 0,2 Prozent der Bevölkerung hättebeispielsweise für Deutschland bedeutet, dass sich un-gefähr 160 000 Bürgerinnen und Bürger hätten beteili-gen müssen. Wenn ich mich recht entsinne, fand selbstdie Petition an den Deutschen Bundestag zu den umstrit-tenen Internetsperren nicht einmal 140 000 Unterzeich-ner. Das zeigt: Eine Mindestanzahl von 160 000 wareinfach zu hoch angelegt. Das haben im Konsultations-verfahren nicht nur wir bemängelt, sondern auch eineVielzahl weiterer Akteure – auch aus anderen Mitglied-staaten. Der aktuelle Vorschlag fußt zwar auf einer kom-plizierten Berechnungsgrundlage; aber die erforderli-che Unterstützerzahl wurde für Deutschland damit auf72 000 vermindert. Das ist gut so.Der nun vorliegende Vorschlag der Kommission legtjedoch in vielen Bereichen die Messlatte weiterhin zuhoch an. Der Rat und das Parlament sind nun in derPflicht, im weiteren Verfahren, die zu hohen Hürden imInteresse der Bürgerinnen und Bürger herabzusetzen.Wir werden sehr genau beobachten, wie sich die Bun-desregierung in den Verhandlungen verhalten wird.Ich möchte einige weitere Punkte benennen, die zukorrigieren sind, damit dieses Instrument für die Orga-nisatorinnen und Organisatoren von Bürgerinitiativenvereinfacht wird. Nur dann wird es den EU-Bürgerinnenund -Bürgern möglich sein, sich über die Grenzen derMitgliedstaaten hinaus zu vernetzen, gemeinsame Anlie-gen zu verfolgen und mitzugestalten. Eine Schicksalsge-meinschaft muss auch immer Gestaltungsgemeinschaftsein.Erstens sollte die Mindestanzahl der Mitgliedstaaten,die im aktuellen Vorschlag bei neun liegt, auf ein Viertel,also derzeit sieben Mitgliedstaaten, herabgesetzt wer-den. Mit Unterstützern aus sieben Mitgliedstaaten ist eineuropäisches Interesse ausreichend gewährleistet. Wirunterstützen damit den Vorschlag des EuropäischenParlaments.Zweitens spricht sich meine Fraktion für eine Verlän-gerung des Zeitraums von 12 auf 18 Monate aus. DieVernetzung der Organisatorinnen und Organisatorenaus mehreren EU-Mitgliedstaaten bedeutet einen sehrhohen Aufwand. Dem muss mit einem angemessenen
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4380 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
gegebene RedenMichael Roth
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Zeitraum Rechnung getragen werden. Wenn die nötigeAnzahl von Unterstützern von 1 Million vor Ablauf die-ser Zeit erreicht wird, beginnt die Arbeit der Kommis-sion eben früher.Drittens ist die im vorliegenden Entwurf vorgeschrie-bene Angabe der Personalausweisnummer fraglich.Diese Vorgabe kennt auch das deutsche Petitionsrechtnicht. Aus welchem Grund sollte diese Erschwernis füreine Bürgerinitiative auf europäischer Ebene gelten, dieschlussendlich keine Pflicht, sondern lediglich eine Auf-forderung zum Handeln des europäischen Gesetzgebersbeinhaltet?Unsere Position werden wir als SPD-Fraktion in ei-nem eigenen Antrag im Deutschen Bundestag detailliertdarstellen, und wir werden die Bundesregierung auffor-dern, sich für weitere Vereinfachungen im Sinne derBürgerfreundlichkeit einzusetzen. Die Abwehrhaltungder Kolleginnen und Kollegen der CDU gegen direktde-mokratische Elemente vermag ich nicht nachzuvollzie-hen. Zeigen Sie jetzt, ob Ihnen das Projekt einer EU derBürgerinnen und Bürger ebenso wichtig ist wie uns. De-mokratie und Europa werden von oben nicht funktionie-ren, sondern nur von unten.Nur wenn das gelingt, werden wir die Akzeptanz derEU bei den Bürgerinnen und Bürgern steigern. Nochscheint diese vielen Menschen als bürokratisch-techno-kratisches Ungetüm. Brüssel ist vielen fern. Das verhin-dert die Herausbildung eines europäischen Bewusst-seins, das wir auch zur Bewältigung von Krisendringend benötigen. Die Europäische Bürgerinitiativevermag Debatten auf europäischer Ebene anzustoßen.Wir brauchen diese europaweiten Debatten auch, ummehr Menschen an die Wahlurnen bei den Wahlen zumEuropäischen Parlament zu bewegen. Das EuropäischeParlament als einziges demokratisch legitimiertes Or-gan der EU verdient das Interesse und die Anerkennungder Wählerinnen und Wähler.Die Menschen in der EU verstehen nicht, warum siedie Kosten der Krise, die schamlose Banker und Speku-lanten verursacht haben, allein schultern sollen. Erfreu-lich, dass diese Einsicht jetzt doch, wenn auch verspätetund im Schneckentempo, bei der schwarz-gelben Koali-tion durchdringt.Wenn die Europäische Bürgerinitiative jetzt schon ge-nutzt werden könnte, hätte ich keinen Zweifel am erfolg-reichen Ausgang einer Initiative zur Zügelung der Fi-nanzmärkte. Es hätte den konservativen und liberalenKräften in der EU längst den Wind aus den Segeln ge-nommen und sie endlich zu mutigen Schritten zur weit-reichenden Finanzmarktregulierung gezwungen. DerBeschluss der Sozialdemokratischen Parteien Deutsch-lands und Österreichs vom 17. Mai 2010 war nur dererste Schritt einer europaweiten Mobilisierung für dasgemeinsame Anliegen, die Märkte wieder dem Primatder Politik unterzuordnen. Es ist wünschenswert, dasssich Rat und Europäisches Parlament schnell auf ge-nannte Korrekturen verständigen und die Verordnungzur Durchführung einer Europäischen Bürgerinitiativeschnell in Kraft treten kann. Wir haben schon genug Zeitvertan.Zu ProtokollIn der heutigen Ausgabe der „Süddeutschen Zeitung“formuliert ein Journalist zutreffend: „Auch Tiefpunktehaben einen Höhepunkt“. Der Tiefpunkt, den wir in derWirtschaft und auf den Finanzmärkten gerade erleben,kann zu einem Höhepunkt des Interesses für Europawerden. Selten hat Europapolitik so viel Aufmerksamkeitwie dieser Tage erhalten. Diese Chance gilt es zu nutzen.
Demokratie lebt von der Beteiligung der Bürger amGeschehen in Gesellschaft und Staat. Selbst ein reprä-sentatives System, wie es in Deutschland und der Euro-päischen Union zu finden ist, kann immer noch um Ele-mente der direkten Demokratie, das heißt durch stärkereund unmittelbare Einbeziehung des Bürgerwillens, be-reichert werden. Das ist ein wichtiger Grundsatz libera-ler Politik. Mit der Europäischen Bürgerinitiative, diezuerst im Verfassungsvertrag der EU Erwähnung fandund dann erfreulicherweise in den Vertrag von Lissabonübernommen wurde, wird erstmals ein bedeutsames di-rektdemokratisches Instrument auf der europäischenEbene geschaffen. Es soll den Bürgern eine unmittelbareTeilnahme am europäischen Gesetzgebungsverfahrenermöglichen.Aus demokratietheoretischer Sicht kann die Europäi-sche Bürgerinitiative eine Lücke im politischen Systemder EU in Bezug auf Bürgerpartizipation und Kontrolleder europäischen Politik füllen. Diese ist vor allemdurch die Ausweitung der qualifizierten Mehrheitsent-scheidungen im Rat der EU im Zuge der vergangenenVertragsrevisionen entstanden. So sind mit der Schaf-fung der Europäischen Bürgerinitiative eine Vielzahlvon Chancen für das politische System der Europäi-schen Union verbunden: zum ersten eine direkte Mitwir-kung der Bürger am Gesetzgebungsverfahren und damitauch eine mögliche Erweiterung des Wissens und desVerständnisses für europäische Politik, zum zweiten eineStärkung von Pluralismus in der EU, da auch Minder-heiten stärker Berücksichtigung finden werden. Letztlichkann die Europäische Bürgerinitiative auch einen Bei-trag zur Herausbildung von transnationalen Diskursenleisten. Es erscheint jedoch ein wenig illusorisch, vondem Instrument den Aufbau einer europäischen Öffent-lichkeit zu erwarten, wie es im Antrag der Grünen an-klingt; denn die Bürgerinitiative wird wohl vor allemvon Minderheiten genutzt werden. Nichtsdestotrotz istdie Schaffung des neuen direktdemokratischen Elementsauf europäischer Ebene ein bedeutsamer Schritt.Welche Praxis sich hinsichtlich der EuropäischenBürgerinitiative in den kommenden Jahren einspielenwird, hängt in hohem Maße von der konkreten Ausge-staltung der Verordnung ab. Hier muss es aber eine sinn-volle Balance zwischen Effektivität und Nutzerfreund-lichkeit des neuen Instruments einerseits und Schutz vorMissbrauch der Europäischen Bürgerinitiative anderer-seits geben. Gerade dieses Gleichgewicht lassen die imAntrag der Grünen gestellten Forderungen doch etwasvermissen.Ich möchte jedoch zuerst die Kernelemente des An-trags benennen, die bei uns Liberalen ausdrücklich auf
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4381
gegebene RedenDr. Stefan Ruppert
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Zustimmung stoßen. Zum einen ist die geforderte Min-destanzahl der Mitgliedstaaten, aus denen die Unter-stützungsbekundungen kommen müssen, mit sieben, waseinem Viertel entspricht, zu begrüßen. Auch das von derEU-Kommission vorgeschlagene degressiv proportio-nale System zur Bestimmung der Mindestanzahl derBürger pro Land, die für eine erfolgreiche Bürgerinitia-tive notwendig sind, befürworten wir. Darüber hinauskann aus unserer Sicht die Forderung unterstützt wer-den, dass eine Zulässigkeitsprüfung durch die Kommis-sion bereits zum Zeitpunkt der Registrierung und nichterst, wie im ursprünglichen Entwurf vorgesehen, nachder Sammlung von 300 000 Unterstützungen erfolgt.Der Antrag der Grünen bleibt aber hinter dem An-spruch zurück, das Instrument der Europäischen Bür-gerinitiative gegenüber Missbrauch zu schützen. Zwarwird im Antrag beispielsweise thematisiert, die Bürger-initiative vor der Instrumentalisierung und Durchset-zung rein nationaler Interessen zu bewahren; konkreteVorschläge dazu kommen bei ihnen jedoch nicht zurSprache. Vielmehr ist erkennbar, dass sie mit ihren sehrfreizügigen und weitreichenden Forderungen die Hür-den zu niedrig ansetzen und deshalb die Effektivität derEuropäischen Bürgerinitiative gefährden. In diesem Zu-sammenhang ist etwa der Zeitraum für die Sammlungvon Unterschriften zu nennen, der mit zwölf Monaten zulang ist. Auch das von ihnen geforderte einheitlicheMindestalter von 16 Jahren zur Teilnahme an der Initia-tive ist unverhältnismäßig. Obwohl sie die von uns favo-risierte Kopplung der Teilnahme an die Altersgrenze fürdie Wahlen zum Europäischen Parlament als „rück-schrittlich“ bezeichnen, müssen sie dennoch anerken-nen, dass sich eine klare Mehrheit im Anhörungsverfah-ren für diese Regelung ausgesprochen hat.Abschließend sei auf die in ihrem Antrag sehr weitrei-chend skizzierten Widerspruchs- und Einklagungsrechteverwiesen, die nicht unproblematisch sind. Im Grünbuchder Kommission wie auch im ersten Verordnungsvor-schlag wurden solche Forderungen gar nicht themati-siert. Auch im Konsultationsverfahren spielten sie ledig-lich am Rande eine Rolle. So kann ich abschließend nurzu dem Urteil kommen, dass ihrem Antrag trotz einigerpositiv hervorzuhebender Punkte in der Summe die not-wendige Balance fehlt, um eine solide Grundlage füreine effektive und missbrauchssichere Ausgestaltung derEuropäischen Bürgerinitiative zu liefern.
Die Lektüre des Antrags Ihrer Fraktion hat mich rat-los zurückgelassen: Ich frage mich, ob wir von densel-ben vertraglichen Grundlagen ausgehen. Gleich imFeststellungsteil nehmen Sie positiv Bezug auf Art. 11Abs. 4 des Lissabon-Vertrags, mit dem die EuropäischeBürgerinitiative, EBI, eingeführt und in ihren Grundzü-gen umrissen wird. In dem Zusammenhang stellen Siefest – ich zitiere –: „Die EBI verkörpert ein neues Ele-ment partizipatorischer Demokratie. Der Einfluss mög-lichst vieler Bürgerinnen und Bürger auf die politischeWillensbildung wird die demokratische Arbeitsweise derEU bereichern. Das neue Instrument bietet der EU eineeinzigartige Chance, näher an die Bürgerinnen und Bür-Zu Protokollger zu rücken …“ Ich frage mich, an welcher Stelle Siein Art. 11 Abs. 4 des Lissabon-Vertrags eine „einzigar-tige Chance“ für mehr Bürgerbeteiligung und wo SieAnsatzpunkte für eine demokratischere EU entdeckenkonnten. Mir ist dies nicht gelungen.Der Wortlaut des entsprechenden Artikels liest sichwie folgt – ich zitiere aus dem Vertragstext –: „Unions-bürgerinnen und Unionsbürger … können die Initiativeergreifen und die Europäische Kommission auffordern,im Rahmen ihrer Befugnisse geeignete Vorschläge zuThemen unterbreiten, zu denen es nach Ansicht jenerBürgerinnen und Bürger eines Rechtsakts der Union be-darf, um die Verträge umzusetzen.“ Nach meiner Lesartdieser Passage eröffnet sie keine Chancen für eine di-rekte Beteiligung der EU-Bürgerinnen und -Bürger ander politischen Gestaltung, ganz im Gegenteil. Im Textwird sogar jede effektive Beteiligung ausgeschlossen.Lassen Sie mich diese Einschätzung, mit der ich im Üb-rigen keineswegs allein stehe, sondern die von meinerFraktion sowie von zahlreichen Bürgerrechtsorganisa-tionen wie zum Beispiel von „Mehr Demokratie e. V.“geteilt wird, begründen:Erstens. Nach Vertragslage kann eine EBI die EU-Kommission lediglich dazu auffordern, Vorschläge fürRechtsakte – also „EU-Gesetzesvorschläge“ – zur Um-setzung der EU-Verträge zu entwickeln. Damit ist ausge-schlossen, dass Vertragsänderungen oder Ergänzungendes Lissabon-Vertragswerkes eingefordert werden kön-nen. Beispielsweise ließe sich die Aufnahme einer sozia-len Fortschrittsklausel in den Lissabon-Vertrag, wie diesunter anderem von meiner Fraktion, aber auch von Ge-werkschaften und zivilgesellschaftlichen Initiativen ver-langt wird, nicht über eine Bürgerinitiative verwirkli-chen, da dies eine Primärrechtsänderung darstellt.Damit bleibt die EBI ein zahnloses Instrument, das denBürgerinnen und Bürgern eine Beteiligung an den wich-tigsten europapolitischen Fragen von vornherein ver-weigert.Zweitens. Dies zeigt sich auch daran, dass sich dieInitiatorinnen und Initiatoren von Bürgerinitiativen nuran die EU-Kommission und nicht an das EU-Parlamentoder den Rat wenden können.Drittens. Last, but not least enthält der Vertragstextkeinerlei Formulierungen, die die Kommission inhalt-lich und politisch an die von einer Bürgerinitiative erho-benen Forderungen binden. Es ist somit theoretischmöglich, dass die Kommission ein Bürgerinnen- oderBürgeranliegen zwar aufgreift, daraus aber einen Vor-schlag einer EU-Verordnung mit komplett anderer poli-tischer Stoßrichtung entwickelt.Der Lissabon-Vertrag hat die EU nicht demokrati-scher gemacht, sondern er hat bestehende Demokratie-defizite festgeschrieben. Das gilt, liebe Kolleginnen undKollegen von den Grünen, auch ganz konkret für die di-rektdemokratischen Elemente. Art. 11 Abs. 4 EUV stutztdie angeblich mit „Lissabon“ angestrebten erweitertenMitbestimmungsrechte auf den Status unverbindlicherMassenpetitionen zurück. Eine undemokratische EU,die eine wirkliche, direkte Beteiligung ihrer Mitbürge-rinnen und Mitbürger am politischen Prozess verhin-
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4382 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
gegebene RedenDr. Diether Dehm
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dert, schadet der europäischen Idee. Anstatt politischeund soziale Integration zu ermöglichen, fördert sie Des-integration und den Rückfall in Nationalismen. Davorhat die Linke immer gewarnt, und auch darum habenwir gegen den Lissabon-Vertrag geklagt.Die EBI in ihrem jetzigen Zuschnitt trägt dieser Ge-fahr keine Rechnung. Dabei haben Erfahrungen aus ver-schiedenen EU-Mitgliedstaaten gezeigt, dass die Erwar-tungen der Bürgerinnen und Bürger schnell frustriertwerden, wenn einerseits die organisatorischen und for-malen Voraussetzungen einer direkten Beteiligung zuhoch angesetzt und andererseits die Bürgerinitiativenkeine politisch bindende Wirkung für die Regierendenhaben und somit ignoriert werden können, wenn dasVolk nicht nach der Pfeife der Mächtigen tanzen will.Wer direktdemokratische Einflussmöglichkeiten großar-tig ankündigt und zugleich die Bedingungen dafür so zu-schneidet, dass wirkliche Mitsprache per definitionemausgeschlossen wird, riskiert wachsende Politikverdros-senheit und die Abkehr der Bürgerinnen und Bürger vonjeder demokratischen Mitgestaltung – ob fahrlässigoder bewusst, lasse ich hier einmal dahingestellt.Der Vorschlag der EU-Kommission für eine Verord-nung über die Europäische Bürgerinitiative vom 6. Aprildiesen Jahres – KOM 119 – an das EuropäischeParlament und an den Rat, auf die sich der Antrag vonBündnis 90/Die Grünen bezieht, und in dem die genauenVerfahren und Bedingungen für die EBI festgelegt wer-den, riskiert genau dies. Er ist unter Demokratiege-sichtspunkten in höchstem Maße ungenügend. Erwar-tungsgemäß werden von der Kommission die obenangesprochenen elementaren Mängel des Vertragstextesmit keiner Silbe angesprochen; es werden keine vertrag-lichen Änderungen oder Korrekturen angeregt, die einewirkliche Demokratisierung der EU gewährleisten wür-den.Darüber hinaus setzt die EU-Kommission die For-malkriterien für Bürgerinitiativen unverhältnismäßighoch an: Dies betrifft beispielsweise die Mindestbedin-gungen des Quorums, die neben der Festlegung derMindestzahl der Unterstützerinnen und Unterstützer aufinsgesamt 1 Millionen Unionsbürgerinnen und -bürgerauch vorschreibt, dass die Initiative eine festgelegteMindestzahl von Unterstützerinnen und Unterstützern inmindestens 30 Prozent der Mitgliedstaaten findet. In An-betracht der Tatsache, dass die EBI derzeit nur auffor-dernden und keinen verbindlichen Charakter hat, istdies nur als Schikane zu bewerten, die sich besondersgegen Graswurzelbewegungen mit begrenzten finanziel-len und organisatorischen Mitteln richtet. Auch die Vor-schriften zur Unterschriftensammlung, die neben demNamen, der Adresse und des Geburtsdatums der Unter-stützerin oder des Unterstützers auch die Angabe zurAusweis- und Sozialversicherungsnummer verlangen,erschweren die Sammlung von Unterstützungsbekun-dungen erheblich und unnötig. Einige dieser und weite-rer Hürden, die die Kommission der direkten Bürgerbe-teiligung entgegenstellt, werden zwar im Antrag derGrünen angesprochen; allerdings vermisse ich dort dienötige Vehemenz.Zu ProtokollBezeichnend ist, dass im Grünen-Antrag das fakti-sche Vetorecht, das sich die EU-Kommission in ihremVorschlag selbst einräumt, nicht als das bezeichnet wird,was es ist: Es ist nach meiner Auffassung ein Skandal,dass sich die Kommission in Art. 4 ihres Vorschlagsselbst das Recht nimmt, eine Bürgerinitiative durchNichtregistrierung bereits im Vorfeld zu verhindern. DieKriterien sind jedoch derart vage formuliert, dass sieleicht politisch missbraucht werden können. Die Mög-lichkeit, „unangemessene“ Initiativen zu verhindern, er-öffnet der Kommission Tür und Tor für willkürliche Ent-scheidungen gegen politisch unliebsame Initiativen.Dass der Kommissionsvorschlag weder hier noch beider Zulässigkeitsprüfung, Art. 8, Einspruchsrechte derInitiatorinnen und Initiatoren von Bürgerinitiativen vor-sieht, spricht Bände.Mit ihrem Vorschlag zur EBI wirft die EU-Kommis-sion die bekannten Nebelkerzen. Es ist schade, dass Sie,verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,sich erneut davon blenden lassen. Damit eine demokra-tische EU und eine direkte Bürgerinnen- und Bürgerbe-teiligung an europapolitischen Prozessen Realität wer-den können, bedarf es weit mehr als der – zweifellosrichtigen, letztlich aber kosmetischen – Korrekturen amKommissionsvorschlag, die Sie hier und heute einfor-dern. Wir von der Linken bleiben dabei: Der Lissabon-Vertrag muss grundlegend korrigiert und die EU mussdurch effektive und bindende Instrumente der Bürgerbe-teiligung wirklich demokratisiert werden.
Wir alle wissen, Europa steht vor wegweisenden Ent-scheidungen. Mit der Zustimmung zu den Griechenland-Hilfen in der vergangenen Sitzungswoche und der Ein-führung eines europäischen Rettungsschirms sind dieHausaufgaben noch lange nicht gemacht. Wir müssendie Probleme bei den Wurzeln packen und die Ursachenfür die Krise bekämpfen. Die Finanzmärkte müssen um-fassend reguliert, die Regeln für die Euro-Zone grundle-gend reformiert werden. Die europäische Gestaltung derWirtschaftspolitiken und die Nachhaltigkeit öffentlicherHaushalte werden noch Monate Platz eins der europäi-schen Agenda einnehmen. Bei der Tragweite, die dieseEntscheidungen haben und haben werden, sollte uns al-len eines besonders am Herzen liegen: die Interessender Bürgerinnen und Bürger Europas. Sie müssen mitge-nommen werden auf dem Weg zu mehr europäischer In-tegration, ihre Stimmen müssen Gehör finden bei derkünftigen Ausgestaltung der EU. Die Bürgerinnen undBürger müssen mitentscheiden, in welchem Europa sieleben möchten.Mit dem Vertrag von Lissabon, genauer gesagt, mitder darin verankerten Bürgerinitiative bekommen dieEU-Bürgerinnen und Bürger ein neues Instrument derPartizipation. Künftig werden eine Million Bürgerinnenund Bürger die Kommission auffordern können, im Rah-men ihrer Befugnisse geeignete Rechtsetzungsvor-schläge zur Umsetzung der EU-Verträge vorzulegen.Wir Bündnisgrünen sehen in dieser neuen Bestimmungdie einmalige Chance, die EU noch näher an ihre Bürge-rinnen und Bürger zu rücken. Wir haben uns bereits im
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4383
gegebene Reden
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4384 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Manuel Sarrazin
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Februar an der Konsultation beteiligt und der Kommis-sion mitgeteilt, wie wir uns die Ausgestaltung der Bür-gerinitiative konkret vorstellen. Aus den Koalitionsfrak-tionen habe ich bisher zu dem Thema allerdings herzlichwenig gehört.Ich freue mich, wenn künftig vermehrt grenzüber-schreitende Debatten zu europäischen Fragen stattfin-den und der Aufbau einer europäischen Öffentlichkeitextrem aufwendig, sondern für alle Beteiligten eine Zu-mutung. Es bedarf niedriger Hürden und unkomplizier-ter Regeln. Nur so werden sich auch Privatpersonen so-wie kleinere und weniger gut vernetzte Organisationenermutigt fühlen, eigene Initiativen zu starten.Gleichzeitig muss aber auch gewährleistet werden,dass die Europäische Bürgerinitiative nicht als Deck-mantel für nationale Interessen dient. Meine Fraktionspürbar wird. Ich weiß, dass diese Ziele nicht einfach zuerreichen sind. Umso wichtiger ist es, dass auch dieBürgerinnen und Bürger das neue Instrument der Bür-gerinitiative als Chance sehen und nicht bereits im Vor-feld durch zu hohe Hürden und undurchsichtige Regelnvon ihrem Engagement abgehalten werden. Das Verfah-ren für die Organisation und Durchführung einer Initia-tive muss daher transparent, verbindlich, nutzerfreund-lich und unbürokratisch ausgestaltet werden. Für unsGrüne bedeutet das konkret:Ein Anliegen von mindestens einer Million Bürgerin-nen und Bürger darf nicht sang- und klanglos in einerSchublade der Kommission verschwinden. AngemeldeteInitiativen müssen beispielsweise in ein Online-Registeraufgenommen und Ergebnisse von Zulässigkeitsprüfun-gen öffentlich gemacht werden. Außerdem sollten Orga-nisatorinnen und Organisatoren ein Widerspruchsrechtgegen das Ergebnis der Zulässigkeitsprüfung und einRecht auf öffentliche Anhörung erhalten.Ein hohes Maß an Transparenz muss gewährleistetwerden. Wir finden, dass alle Finanzierungsquellen ei-ner geplanten Initiative offengelegt werden müssen.Mit der Bürgerinitiative bekommt die EU auch end-lich die Möglichkeit, junge Menschen verstärkt an euro-päischen Prozessen und Debatten zu beteiligen. Geradejunge Menschen müssen ermutigt werden, sich aktiv amdemokratischen Leben zu beteiligen und ihre Anliegenüber nationale Grenzen hinaus zu formulieren. Die vonder Kommission vorgeschlagene Kopplung des Mindest-beteiligungsalters an die Altersgrenze für Wahlen zumEuropäischen Parlament wäre vor diesem Hintergrundextrem rückwärtsgewandt. Wir Grüne fordern, dass sichalle EU-Bürgerinnen und Bürger ab 16 Jahren beteili-gen dürfen.Außerdem ist es uns wichtig, dass eine freie Unter-schriftensammlung möglich ist. Insbesondere muss einzentral bei der Kommission oder einer geeigneten drit-ten Stelle angesiedeltes System zur Onlinemitzeichnunggeschaffen werden. Das von der Kommission vorge-schlagene System, von den Organisatorinnen und Orga-nisatoren für jede Bürgerinitiative ein eigenes Online-Sammelsystem einrichten zu lassen, wäre nicht nurspricht sich dafür aus, dass die Unterschriften aus min-destens einem Viertel der Mitgliedstaaten kommen müs-sen und das Quorum für die Mindestzahl an Unterstüt-zungsbekundungen pro Mitgliedstaat je nach Größe desLandes zwischen 0,05 Prozent und 0,2 Prozent der Be-völkerung gestaffelt wird.Last, not least ist es unerlässlich, innerhalb des ge-samten Verfahrens den Schutz natürlicher Personen beider Verarbeitung personenbezogener Daten sicherzu-stellen.Eigentlich dachte ich, dass sich zumindest bei demThema Bürgerbeteiligung alle einig sind. Doch da hatteich die Rechnung ohne die Bundesregierung gemacht.Aus Kommissionskreisen erfuhr ich, dass die Bundesre-gierung nun auch noch bei der Bürgerinitiative auf derBremse steht. In den Ratsverhandlungen drängt sie der-zeit darauf, dass das Inkrafttreten der Umsetzungsver-ordnung um Monate hinausgezögert wird. Angeblichgibt es bei einigen Punkten noch Prüfungsbedarf. Ichfinde, die Bürgerinnen und Bürger haben ein Recht aufangemessene Beteiligung, und das so schnell wie mög-lich. Die Bundesregierung scheint immer noch nicht ver-standen zu haben, dass es um das Vertrauen der Bürge-rinnen und Bürger in die EU geht. Sie sollte endlich ihreVerzögerungsspielchen sein lassen und sich im Rat fürzügige Verhandlungen einsetzen. Wir brauchen jetzt einEuropa der Bürgerinnen und Bürger.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1781 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist das so beschlos-
sen.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 21. Mai 2010, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.