Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4385
(A) (C)
(D)(B)
– Naturnahen Wasserhaushalt durch Schutz
und Renaturierung von Nass- und Feuchtge-
serschutz. Ich habe die große Bitte, dass hier kein fal-
scher Eindruck erweckt wird. Wir haben in Deutschland
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlage 2
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung der Anträge:
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Beck (Köln), Volker BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
20.05.2010
Bender, Birgitt BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
20.05.2010
Binder, Karin DIE LINKE 20.05.2010
Binding (Heidelberg),
Lothar
SPD 20.05.2010
Bollmann, Gerd SPD 20.05.2010
Bosbach, Wolfgang CDU/CSU 20.05.2010
Goldmann, Hans-
Michael
FDP 20.05.2010
Groschek, Michael SPD 20.05.2010
Groth, Annette DIE LINKE 20.05.2010
Heinen-Esser, Ursula CDU/CSU 20.05.2010
Kramme, Anette SPD 20.05.2010
Kühn, Stephan BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
20.05.2010
Maurer, Ulrich DIE LINKE 20.05.2010
Monstadt, Dietrich CDU/CSU 20.05.2010
Nietan, Dietmar SPD 20.05.2010
Petermann, Jens DIE LINKE 20.05.2010
Pflug, Johannes SPD 20.05.2010
Reichenbach, Gerold SPD 20.05.2010
Schmidt (Eisleben),
Silvia
SPD 20.05.2010
Steinbach, Erika CDU/CSU 20.05.2010
Anlagen zum Stenografischen Bericht
bieten fördern – Hochwassergefahren min-
dern, Klima schützen
– Auenschutzprogramm vorlegen
(Tagesordnungspunkt 14 und Zusatztagesord-
nungspunkt 8)
Ingbert Liebing (CDU/CSU): Beide Anträge, der von
der Fraktion der SPD sowie der von Bündnis 90/Die Grü-
nen, enthalten wesentliche korrekte Beschreibungen von
Problemlagen und greifen eine Reihe von Themen auf,
die in der Tat noch einiger Lösungen bedürfen. Wasser,
die Verfügbarkeit von Trinkwasser, der Schutz des
Grundwassers, die Verbesserung der Wasserqualität einer
ganzen Reihe von Fließ- und Oberflächengewässern –
dies alles sind Themen, über die zu sprechen es sich alle-
mal lohnt. Ich halte es deshalb auch für eine lohnenswerte
Aufgabe, in den anschließenden Ausschussberatungen
den Versuch zu unternehmen, zu einem gemeinsamen
überfraktionellen Beschluss zu kommen.
Wasser, das ist ein sehr hohes Gut. Wir sind uns des-
sen oftmals gar nicht bewusst. Für uns ist es eine Selbst-
verständlichkeit, den Wasserhahn aufzudrehen und sau-
beres Trinkwasser zu bekommen. In anderen Ländern ist
dies keineswegs so. Dort fehlt Wasser als Grundlage je-
den Lebens. Der Klimawandel wird dieses Problem ver-
schärfen. Auch für uns wird jederzeit verfügbares
Grundwasser an jedem Ort Deutschlands nicht auf Dauer
selbstverständlich sein.
Der Klimawandel hat vielfältige und in Deutschland
regional unterschiedliche Auswirkungen. Darauf weist
der Antrag der SPD-Fraktion zu Recht hin. Den im An-
trag beschriebenen Auswirkungen möchte ich eine nicht
genannte Herausforderung hinzufügen. Während wir in
manchen Regionen Deutschlands zu wenig Wasser ha-
ben werden, werden wir in bestimmten Situationen ins-
besondere an der deutschen Nordseeküste zu viel Wasser
haben – und zwar nicht nur durch Sturmfluten und
Hochwasserstände von See aus, sondern auch durch Pro-
bleme bei der Binnenentwässerung. Schon heute ist es
so, dass in etlichen Niederungsgebieten die Ableitung
des Binnenwassers nur zu Zeiten von Niedrigwasser
möglich ist bzw. es ins Meer gepumpt werden muss.
Wenn jetzt wegen eines steigenden Meeresspiegels
und durch Klimaveränderungen diese verfügbaren Zeit-
fenster kleiner werden, bekommen wir auch bei der Bin-
nenentwässerung ein Problem – und das bei saisonal
steigenden Niederschlägen. Das ist eine Problemlage,
der wir uns auch widmen müssen. Deshalb ist es gut und
richtig, dass die Koalition sich vorgenommen hat, die
Anpassungsstrategie an den Klimawandel fortzuschrei-
ben.
Aus dem Antrag der SPD möchte ich für die heutige
Diskussion nur zwei weitere wesentliche Aspekte he-
rausgreifen. Zum einen geht es mir um den Grundwas-
4386 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
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(D)(B)
bereits ein hohes Schutzniveau. Aber aus der Umsetzung
der Wasserrahmenrichtlinie wissen wir auch, dass es
Problembereiche gibt. Die werden gerade in der Umset-
zung der Wasserrahmenrichtlinie seit einigen Jahren
identifiziert und mit Maßnahmenprogrammen angegan-
gen.
Grundwasserschutz war auch ein wichtiges Thema in
unseren Beratungen zum Wasserhaushaltsgesetz. Die
Föderalismusreform I gibt dem Bund eine höhere Kom-
petenz, die wir in der vergangenen Wahlperiode mit dem
neuen Wasserhaushaltsgesetz genutzt haben. Das Ergeb-
nis ist kein geringerer, sondern ein stärkerer Grundwas-
serschutz. Auf dieser Basis sind jetzt die notwendigen
Verordnungen zu erstellen. Das Umweltministerium ar-
beitet mit Hochdruck an diesem Thema, mit dem wir uns
in den kommenden Wochen ja noch intensiv beschäfti-
gen können. Insofern wäre es auch falsch, den Eindruck
zu erwecken, dass in diesem Sektor nichts geschieht.
Aus einer Reihe von Briefen und vielen Gesprächen
höre ich eher Kritik, dass das Umweltministerium mit
den bisherigen Entwürfen für eine Grundwasserverord-
nung über das Ziel hinausschießt und das Schutzniveau
zu stark anhebt. Insofern kann aus meiner Sicht über-
haupt nicht die Rede davon sein, dass es hier Defizite
seitens der Regierung gebe. Ausdrücklich möchte ich
das Umweltministerium ermuntern, mit den Verordnun-
gen auf der Basis des neuen Wasserhaushaltsgesetzes
das erreichte Schutzniveau zu verstetigen und dort, wo
wir Wasserprobleme haben, Instrumente zur Verbesse-
rung an die Hand zu geben. Dass dies praxistauglich sein
muss und Nutzungen, die bisher unproblematisch statt-
gefunden haben, auch in Zukunft weiterhin möglich sein
müssen, versteht sich aus meiner Sicht von selbst.
Als zweiten Bereich möchte ich den allerletzten
Punkt des Forderungskataloges der SPD an die Bundes-
regierung aufgreifen, weil ich hier schon anderer Auffas-
sung als die Antragsteller bin. Sie fordern, die Auswei-
sung von Gewässerrandstreifen in einer ausreichenden
Breite zu regeln. Dies ist doch gerade erst mit dem Was-
serhaushaltsgesetz geschehen. Ich halte nichts davon,
dass wir jedes Jahr die gleichen Schlachten aufs Neue
führen.
Im Wasserhaushaltsgesetz ist im vergangenen Jahr
ausdrücklich geregelt worden, dass Gewässerrandstrei-
fen im Außenbereich 5 Meter breit sind. Aber wir haben
auch ein Abweichungsrecht für die Länder aufgenom-
men und die Möglichkeit für die zuständigen Behörden
geschaffen, die Gewässerrandstreifen nach örtlichen Be-
dingungen zu verändern. Genau das ist auch sachge-
recht, weil die Verhältnisse in Deutschland nun einmal
unterschiedlich sind. Ich kann einen Gebirgsbach in den
Alpen nicht mit dem gleichen Maßstab messen wie Ent-
wässerungsgräben in der Marsch auf Eiderstedt. Insofern
kann ich zu dieser Forderung nur feststellen: Was da ge-
fordert wird, ist längst erledigt. Wir haben eine gute Re-
gelung im neuen Wasserhaushaltsgesetz; neuer gesetzli-
cher Änderungsbedarf besteht hier aus meiner Sicht
nicht.
Josef Göppel (CDU/CSU): Zum Schutz von
Feuchtgebieten wurden in den letzten Jahren erhebliche
Anstrengungen unternommen: Ich nenne die Nationale
Strategie zur biologischen Vielfalt, den Auenzustandsbe-
richt und das Positionspapier des Bundesamtes für Na-
turschutz zu Klimawandel, Landnutzung und Biodiversi-
tät. Um den Herausforderungen der Klimawandelfolgen
zu begegnen, hat die Bundesregierung im Dezember
2009 die Deutsche Anpassungsstrategie an den Klima-
wandel beschlossen. Zwei der 15 Handlungsfelder be-
schäftigen sich eingehend mit dem Thema Gewässer-
schutz.
Der Antrag der SPD greift wichtige Anliegen auf.
Dazu gehören die Reinhaltung des Grundwassers, die Si-
cherung der Trinkwasservorräte und die Sicherung der
Artenvielfalt. Im Zuge des Klimawandels werden Regio-
nen, die bereits bisher unter Trockenheit zu leiden ha-
ben, mit weiterer Verringerung der Sommernieder-
schläge rechnen müssen. Das betrifft große Gebiete in
Brandenburg. In Zukunft werden auch die klassischen
Weinanbaugebiete am Rhein und in Franken mit zuneh-
mender Trockenheit zu tun haben. Vor diesem Hinter-
grund bekommt der Grundwasserschutz besondere
Dringlichkeit. Die Verbesserung des Wasserrückhalts in
der Fläche trägt insbesondere unter dem Aspekt des Kli-
mawandels neben dem Hochwasserschutz und dem Er-
halt der biologischen Vielfalt zur Grundwasseranreiche-
rung und damit zur Grundwassersicherung bei.
Ich möchte in Ergänzung zu den Ausführungen mei-
nes Kollegen Liebing insbesondere auf die Natur-
schutzaspekte des Antrages eingehen. Grundsätzlich ist
erfreulich, dass die Energieerzeugung mit nachwachsen-
den Rohstoffen aus der Landwirtschaft zunimmt. Aller-
dings führt dies zum Beispiel zu vermehrtem Maisanbau
mit negativen Folgen für Landschaft und Wasserhaus-
halt. Mais gehört zu den wasserintensiven Kulturen. Der
zunehmende Anbau von Energiepflanzen führt zu mehr
Nutzungsdruck bis in die letzten Winkel der Fluren.
Diese Entwicklung muss genau beobachtet, gesteuert
und, wo nötig, eingeschränkt werden. Der energetische
Gewinn durch nachwachsende Rohstoffe darf nicht zu
einem Verlust an natürlichen Lebensgrundlagen führen.
Es ist allgemein bekannt, dass gerade in den Feuchtge-
bieten, Mooren, Flüssen und Flussauen die größte Arten-
vielfalt besteht.
Drei Beispiele aus dem Antrag zu diesem Tagesord-
nungspunkt möchte ich herausgreifen: Erstens die Forde-
rung, den Erhalt und die Renaturierung von Feuchtgebie-
ten bei der Neugestaltung der Gemeinsamen Agrarpolitik
einzubeziehen. Die Berücksichtigung des Wasserma-
nagements in der Gemeinsamen Agrarpolitik für die Zeit
nach 2013 ist eine ernsthafte Herausforderung. Genauso
wie ein TEN-Programm für die Verkehrsinfrastruktur
brauchen wir den Ausbau der „Green-Infrastruktur“ als
Netz für die biologische Vielfalt. Zweitens die Forderung
nach der Schaffung einer Genehmigungspflicht für den
Umbruch von Grünland und ein generelles Umbruchver-
bot auf feuchten und anmoorigen Standorten. Ich persön-
lich unterstütze ein solches Umbruchverbot. Drittens die
Forderung, die Ausweisung von Bauland in der Aue zu
unterlassen. Diese Forderung ist nicht neu, aber dennoch
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4387
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berechtigt. Die Ausweisung von Bauland in der Aue pro-
voziert Hochwasserschäden und erzwingt teure techni-
sche Schutzmaßnahmen, die volkswirtschaftlich nicht ge-
rechtfertigt sind.
Wir sollten versuchen, einen gemeinsamen Antrag
zum Schutz des Wasserhaushalts und der Feuchtgebiete
zustande zu bringen.
Oliver Kaczmarek (SPD): Die erste Hälfte des „In-
ternationalen Jahres der Biodiversität“ ist fast vorbei.
Leider hat sich bis heute der Bundestag kaum ernsthaft
mit dem Thema beschäftigt.
Wir haben deshalb unseren Antrag bewusst wenige
Tage vor dem „Internationalen Tag der biologischen
Vielfalt“ am kommenden Samstag gestellt. An diesem
Tag finden in ganz Deutschland auf Einladung zahlrei-
cher Verbände und Organisationen aus dem Bereich des
Naturschutzes Wanderungen statt, die für den Erhalt der
Artenvielfalt sensibilisieren sollen. Alle diese Aktivitä-
ten sind ehrenamtlich. Sie sind aber unverzichtbar für
den Naturschutz und insbesondere den Schutz der Arten-
vielfalt. Deshalb soll mit diesem Antrag auch ein Dank
an die vielen ehrenamtlichen Helfer im Naturschutz ver-
bunden werden.
Wir wissen alle, dass wir die für 2010 gesteckten
Ziele zur biologischen Vielfalt nicht erreichen werden.
Dies gilt für Deutschland, aber auch für die internatio-
nale Gemeinschaft. Das hat der Bericht der Vereinten
Nationen, der am Montag letzter Woche veröffentlicht
wurde, noch einmal gezeigt. Für uns darf das aber nur
bedeuten: Wir müssen die Anstrengungen nachhaltig
forcieren, um dem Schutz der biologischen Vielfalt den
notwendigen Stellenwert zu geben.
Moore, Fließgewässer, Auen und Grundwasseröko-
systeme haben für die Artenvielfalt und den Klimaschutz
eine besondere Bedeutung, wie unser Antrag beschreibt.
Wir glauben, dass dem insbesondere auf drei Handlungs-
feldern Nachdruck verliehen werden muss:
Erstens. Die Landwirtschaft kann einen bedeutsamen
Beitrag für den Erhalt und die Renaturierung von
Feuchtgebieten leisten. Dies gilt insbesondere für eine
strenger geregelte landwirtschaftliche Nutzung im Be-
reich von Fließgewässern und die notwendige massive
Einschränkung des Grünlandumbruchs.
Zweitens. Die Instrumente der Raumordnung können
einen weiteren wesentlichen Beitrag leisten. Ein ausge-
glichener Wasserhaushalt und der Rückhalt von Wasser
in der Fläche sollten als Leitziele Eingang in die Raum-
planung finden.
Und drittens weisen wir dem Naturschutz einen eige-
nen Stellenwert zu. Über die Ausweisung und Pflege
von Gewässerrandstreifen sollten beispielsweise auch
die Unternehmen der Wasserverbände zum Erhalt der
Artenvielfalt beitragen.
Das alles sind Vorschläge, die wir miteinander disku-
tieren sollten. Wichtig ist nur, dass wir auch zu konkre-
ten Aktivitäten kommen. Das erwarten auch die Ver-
bände und Organisationen von uns, denn nur geredet
wurde genug darüber.
Wasser ist die Grundlage für einzigartige Lebens-
räume. Es sorgt für ausgeglichene Ökosysteme. Deshalb
sollten wir den „Internationalen Tag der Biodiversität“
auch zum Anlass nehmen, uns mit der Bedeutung des
Wassers auseinanderzusetzen. Denn Wasser – das ist im-
mer wieder wichtig, zu betonen – ist keine x-beliebige
Ware. Deshalb sollten wir damit sorgfältig umgehen.
Die Auswirkungen des Klimawandels auf den Was-
serhaushalt sind insbesondere im globalen Maßstab im-
mens. Aber auch in Deutschland wird es zu vermehrten
Problemen kommen: durch plötzlich auftretenden Stark-
regen; Hochwasser, wie wir es in diesen Tagen aus Ost-
europa kommend sehen; kürzere Regenphasen sowie
längere Trockenperioden. Besonders bedroht davon sind
die sensiblen Ökosysteme der Moore, Auen und des
Grundwassers. In ihnen bildet sich eine Vielfalt von Le-
bensgemeinschaften und Arten ab. Dazu kommt, dass
insbesondere Moore und Auen als große CO2-Senken
gelten, das heißt, große Mengen des klimaschädlichen
Gases speichern können.
Wasser in der Fläche zu halten, ist also auch eine der
herausragenden Aufgaben für den Klimaschutz in
Deutschland. Wir sind deshalb der Auffassung, dass die
Erträge aus dem Emissionshandel auch für die Wieder-
vernässung von Mooren und die Reaktivierung von
Flussauen und Altarmen verwendet werden sollten.
Denn damit würden Klima und Biodiversität sinnvoll ge-
schützt.
Politisches Handeln ist also gefragt. Doch die Bun-
desregierung hat auch hier erneut Glaubwürdigkeit ver-
spielt. Ich will dazu nur ein Beispiel nennen: Zu einer
glaubwürdigen Naturschutzpolitik gehört es, dass poli-
tisch gemachte Zusagen eindeutig und einwandfrei ein-
gehalten werden. Das gilt auch für die auf dem Weltkli-
magipfel in Kopenhagen gegebene Zusicherung, pro
Jahr 420 Millionen Euro für den Klimaschutz in den Ent-
wicklungsländern bereitzustellen.
Es war bereits bekannt, dass diese Mittel mit den Ent-
wicklungshilfegeldern teilweise verrechnet werden. Nun
hat der Umweltminister in einem Zeitungsinterview ein-
räumen müssen, dass von den 1,2 Milliarden Euro, die
bis zum Ende der Wahlperiode fällig sind, 500 Millionen
Euro aus der Zusage auf der internationalen Biodiversi-
tätskonferenz stammen. Mittel also, die eigens für den
Erhalt der Artenvielfalt im Besonderen vorgesehen wa-
ren und nun verrechnet werden. Damit hat die Bundesre-
gierung nicht nur die Menschen und die Naturschutzver-
bände getäuscht, sondern auch die internationale
Gemeinschaft. Und so etwas richtet nachhaltigen Scha-
den an.
Moore, Auen, Fließgewässer und Grundwassersys-
teme haben eine enorme Bedeutung für den Klimaschutz
und für den Erhalt der Artenvielfalt. Dafür zu sensibili-
sieren, ist eines der Ziele des Wandertages zum „Interna-
tionalen Tag der Biodiversität“ am kommenden Sams-
tag. Es wird höchste Zeit, dass der Bundestag dessen
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(D)(B)
Anliegen nicht nur verbal unterstützt, sondern sie auch
kraftvoll in die politische Tat umsetzt.
Horst Meierhofer (FDP): Flüsse, Auen und Feucht-
gebiete sind von enormer Bedeutung für die biologische
Vielfalt, den Klimawandel und den Hochwasserschutz.
Wie wichtig sie sind, sehen wir gerade an den Über-
schwemmungen in Osteuropa. Schon fünf Menschen
sind den Fluten zum Opfer gefallen. Morgen wird das
Hochwasser an der Oder erwartet. Alle Anzeichen spre-
chen aber Gott sei Dank dafür, dass die Heftigkeit der
Überschwemmungen an der Oder nicht so gravierend
sein wird.
Aufgrund der überragenden Bedeutung hat die FDP
schon in ihrem Wahlprogramm den Schutz von Flüssen
und Auen festgeschrieben. Auch der Koalitionsvertrag
misst den Flüssen und Auen einen großen Stellenwert
bei. Wir belassen es aber nicht bei Lippenbekenntnissen.
Die Koalition handelt. Nachdem der Auenzustandsbe-
richt im Oktober vergangenen Jahres vorgelegt wurde,
werden die Daten jetzt evaluiert und der Öffentlichkeit
zugänglich gemacht werden. Künftig wird man sich mit
einem Mausklick kilometergenau den Zustand der Auen
in Deutschland anschauen können. Im Bundesprogramm
für biologische Vielfalt werden die Auen und der Auen-
schutz eine zentrale Rolle spielen. Der Koalitionsvertrag
wird umgesetzt. Die zuständigen Ministerien arbeiten
bereits daran.
Deutschland ist ein dicht besiedeltes, industrialisiertes
Land. Nachteilige Veränderungen an den Gewässern, die
über Jahrzehnte erfolgt sind, können nicht in wenigen
Jahren beseitigt werden. Einige Veränderungen, zum
Beispiel durch die Nutzung der Flüsse als Wasserstra-
ßen, lassen sich auch nicht von heute auf morgen rück-
gängig machen, zum Beispiel am Rhein, einer der meist
befahrenen Schifffahrtsstraßen in Europa.
Wir sind uns dessen bewusst, dass die Umsetzung und
das Erreichen der Ziele der Wasserrahmenrichtlinie ein
Kraftakt werden wird. Aber – wir sind dran. Ich möchte
hier nur einige Beispiele nennen:
Deutschland war einer von 9 der 27 EU-Mitgliedstaa-
ten, die am 22. Dezember 2009 die Bewirtschaftungs-
pläne und Maßnahmenprogramme nach der Wasserrah-
menrichtlinie aufgestellt und die Pläne veröffentlicht
hatte.
Pünktlich am Weltwassertag, dem 22. März 2010, hat
Deutschland für die zehn Flussgebietseinheiten, die für
unser Land relevant sind, alle Bewirtschaftungspläne of-
fiziell an die Europäische Kommission übermittelt.
Damit liegt für die nächsten sechs Jahre eine Planung
für die Verbesserung des Zustandes der Gewässer in
Deutschland vor. Es sind von den Bundesländern viele
Maßnahmen vorgesehen, die nun konkret umgesetzt
werden müssen. Das betrifft Maßnahmen im Bereich der
Durchgängigkeit der Gewässer, aber auch bei den diffusen
und punktuellen Belastungen, zum Beispiel Maßnahmen
in der Landwirtschaft. Die Umsetzung der Wasserrah-
menrichtlinie wird bis Ende 2015 geschätzt
9,4 Milliarden Euro in Deutschland kosten.
Es braucht Zeit, die Wasserrahmenrichtlinie umzuset-
zen. Der nächste Bewirtschaftungsplan muss 2015 vor-
liegen, der darauffolgende 2021. Die Bundesländer, die
für die Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie zuständig
sind, haben in vielen Fällen Fristverlängerungen in An-
spruch genommen; wie im Übrigen die anderen EU-
Staaten auch.
Auch der Klimawandel soll in den nächsten Bewirt-
schaftungsplänen berücksichtigt werden, das heißt, die
Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie soll diesen Be-
lastungsfaktor in Zukunft auch mit einbeziehen. Als die
Wasserrahmenrichtlinie 2000 in Kraft trat, war das noch
kein so brisantes Thema. Wasserknappheit, Erhöhung
der Wassertemperaturen, Niedrigwasser für die Schiff-
fahrt, vermehrte Dürren vor allem im Süden Europas
werden für die Staaten bei der Wasserbewirtschaftung
eine Rolle spielen. Wichtig sind hier belastbare Aussa-
gen zu den Klimaveränderungen und ihren Auswirkun-
gen, die für Mitteleuropa nicht einfach zu treffen sind.
Etwas möchte ich noch besonders hervorheben: die
aktive Arbeit der Wasser- und Schifffahrtsverwaltung
bei der Umsetzung der Wasserrahmenrichtlinie an Bun-
deswasserstraßen. Was noch vor einigen Jahren als un-
möglich betrachtet wurde, wird jetzt Realität. Die Was-
ser- und Schifffahrtsverwaltung fühlt sich nicht mehr nur
für die Erhaltung der Wasserstraßen verantwortlich, son-
dern auch für die Verbesserung des ökologischen Zu-
stands. Natürlich ist dies ein Prozess. Und natürlich
klappt es noch nicht überall. Es ist aber an der Zeit, dass
Flüsse nicht nur als Wasserstraßen, sondern als Lebens-
raum für Tiere, Pflanzen und Menschen gesehen werden.
Es ist gut, dass die Anträge gestellt wurden und wir
über das wichtige Thema im Bundestag und den Aus-
schüssen reden – Ihre Forderungen allerdings werden
heute schon erfüllt.
Sabine Stüber (DIE LINKE): „Wasser ist keine übli-
che Handelsware, sondern ein ererbtes Gut, das ge-
schützt, verteidigt und entsprechend behandelt werden
muss …“ – dieses kämpferische Zitat ist der Begründung
der EU-Kommission zur Wasserrahmenrichtlinie ent-
nommen. Die Richtlinie verpflichtet alle EU-Staaten –
aus gutem Grund, wie ich meine –, sich um das Wasser
in ihrem Land zu kümmern. Das Ziel dabei ist, einen gu-
ten ökologischen und chemischen Zustand für oberirdi-
sche Gewässer und eine gute Qualität des Grundwassers
zu erreichen. Um es verkürzt zu sagen: Es geht um einen
naturnahen ausgeglichenen Landschaftswasserhaushalt.
Durch den Klimawandel gewinnt die Wasserrückhaltung
in der Landschaft immer mehr an Bedeutung, insbeson-
dere für wasserabhängige Lebensräume, wie Feuchtge-
biete, Moore und Auen mit ihrer speziellen Artenvielfalt.
Wir haben das Jahr der biologischen Vielfalt und in
dieser Woche auch noch den internationalen Tag der bio-
logischen Vielfalt. Da darf und muss man, trotz aller
schwergewichtigen politischen Debatten zur Rettung des
Euro, auch einmal über die Rettung unserer Lebens-
grundlagen nachdenken und sprechen. Der Landschafts-
wasserhaushalt gehört zweifelsohne dazu und benötigt
dringend einen Schutzschirm. Im Gegensatz zu dem Ret-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4389
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(D)(B)
tungspaket für den Euro, ist die Wirkung der Maßnah-
men für einen naturnahen Landschaftswasserhaushalt
bekannt.
Der Antrag der SPD zum naturnahen Wasserhaushalt
und der Antrag der Fraktion der Grünen zum Auen-
schutz sind kleine Rettungspakete, wenn sie umgesetzt
werden.
Ein naturnaher Landschaftswasserhaushalt bedeutet
auch funktionstüchtige Moore als Lebensraum für viele
heimische Arten. Gleichzeitig binden intakte Moore CO2
und leisten damit eine Beitrag zum Klimaschutz.
Mit naturnahen Flussauen wird der Hochwasser-
schutz verbessert, weil den Flüssen mehr Raum gegeben
wird. Das kann man sich einzigartig für Deutschland in
Brandenburg bei Lenzen an der Elbe ansehen. Der 6 Ki-
lometer lange neue Deich wurde 1 300 Meter landein-
wärts verlegt. So entstanden 425 Hektar neue Überflu-
tungsflächen für die Elbe. Die Schlitzung des alten
Deiches ermöglicht an sechs Stellen einen ungesteuerten
Wassereintritt in das Gebiet. So regenerieren sich jetzt
verschiedene Lebensräume wie Auwald, Auengewässer
oder halboffene Weidelandschaft.
Die Menschen zeigen mit Stolz, wie sich ihre Land-
schaft in den letzten Jahren verändert hat und wie viel-
fältig sich die Pflanzen- und Tierwelt entwickelt. Es gibt
viel zu sehen auf dem neuen Deich, über den der Elbe-
radweg führt. Kranich und Schwarzstorch brüten hier.
300 Hektar naturnaher Auwald wachsen nach Initial-
pflanzungen vor etwa zehn Jahren. Bei Hochwasser
kann die neue Überflutungsfläche zusätzlich rund 15
Millionen Kubikmeter Wasser speichern.
Im Moment wäre mir bei der Hochwasserwarnung
wohler, wenn es auch an der Oder mehr Platz für Wasser
gäbe. Genau das kann man vielleicht bald mit einem Au-
enschutzprogramm erreichen.
Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die
Flussauen in Deutschland sind ein besonders wertvoller,
aber auch ein besonders bedrohter Naturraum. Sie sind
besonders schützenswert, weil sie wichtige Funktionen
miteinander verbinden. Sie dienen dem natürlichen
Hochwasserschutz, sind Lebensraum für eine Vielzahl
von Arten, verbessern die Wasserqualität und dienen
dem Klimaschutz.
Der Antrag der SPD zum verstärkten Schutz des Was-
serhaushalts findet in seinen Grundsätzen unsere Zu-
stimmung. Wasser ist die Grundlage allen Lebens. Was-
ser ist Nahrungsmittel und keine Ware wie jede andere.
Der Antrag der SPD ist aber auch sehr unkonkret und
wirft einiges durcheinander. Viele Stichworte bleiben
nur Worthülsen.
Die Forderungen der SPD zur Überarbeitung des
Wasserhaushaltsgesetzes entsprechen ziemlich genau
den Änderungsanträgen, die wir vor fast einem Jahr bei
der Verabschiedung des Wasserhaushaltsgesetzes hier im
Bundestag zur Abstimmung gestellt haben. Damals wur-
den sie auch mit den Stimmen der SPD abgelehnt –
nachzulesen im Protokoll der 228. Sitzung des 16. Deut-
schen Bundestages. Ausreichend breite Gewässerrand-
streifen, den Wasserrückhalt in der Fläche verbessern,
Bauland in Flussauen verbieten, das sind alles grüne
Forderungen, die sie vor nicht mal 12 Monaten abge-
lehnt haben.
Die Forderungen der Kolleginnen und Kollegen von
der SPD-Fraktion zur Erreichung der Ziele der Wasser-
rahmenrichtlinie bis 2015 sind wirklich aller Ehren wert.
Allein wir wissen, das wird nichts. Die Bewirtschaf-
tungspläne liegen vor, und da kann man nachlesen, wie
es bestellt ist um die Umsetzung der Wasserrahmenricht-
linie, WRRL, in Deutschland. Die Ziele der WRRL wer-
den verfehlt. Hier ein paar Beispiele:
In der Flussgebietsgemeinschaft Elbe werden nur 10 Pro-
zent der Flüsse bis 2015 den guten ökologischen Zustand
erreichen.
In der FGG Weser sind es an Ober- und Mittelweser
nur 9 Prozent, an Fulda und Diemel 16 Prozent.
Das ist ernüchternd. Und der Bund ist da mit in der
Verantwortung, sei es an den Bundeswasserstraßen oder
bei der Umsetzung der WRRL gegenüber Europa. Es
sind konkrete Ideen und Lösungen gefragt. Daran man-
gelt es bis heute, und da liefert auch der SPD-Antrag nur
wenig Konstruktives.
Wir wollen wassergebundene Biotope schützen, des-
halb benennen wir ein konkretes Instrument, wie das ge-
macht werden soll: das Auenschutzprogramm. Das Au-
enschutzprogramm muss ressortübergreifend umgesetzt
werden. Wirtschaft, Landwirtschaft, Bauen, Verkehr, das
sind alles Bereiche, die wesentliche Einflüsse auf die
Flüsse und Flussauen in Deutschland haben. Deshalb
müssen sie bei Erarbeitung und Umsetzung des Pro-
gramms mit einbezogen werden.
Besonders wichtig erscheint uns beispielsweise der
Verzicht auf unnötige Ausbaumaßnahmen an Bundes-
wasserstraßen. Der Ausbau der mittleren Elbe und der
Elbe-Saale-Kanal sind Projekte, die mehr schaden als
nutzen.
Ein weiterer wichtiger Handlungsbereich liegt bei den
Richtlinien zu Pflanzenschutz- und Düngemitteln. Hier
müssen wir umgehend eine Reduzierung der indirekten
Einträge in die Gewässer erreichen. Die bestehenden Re-
gelungen reichen dazu nicht aus.
Zum Abschluss noch ein paar Worte an die Koali-
tionsfraktionen:
– Für den Natur- und Hochwasserschutz sollen natürli-
che Auen reaktiviert und Flusstäler, wo immer mög-
lich, renaturiert werden.
– Das ist eine der Forderungen aus dem Koalitionsver-
trag. CDU, CSU und FDP können mit unserem An-
trag diese Forderung umsetzen.
Ich freue mich auf die weitere Beratung in den Aus-
schüssen.
4390 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
(A) (C)
(D)(B)
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Umsetzung der Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates über Endenergieeffi-
zienz und Energiedienstleistungen (Tagesord-
nungspunkt 15)
Thomas Bareiß (CDU/CSU): Im letzten Monat habe
ich an dieser Stelle zum Antrag der Grünen „Energieeffi-
zienzgesetz unverzüglich vorlegen“ gesprochen. Heute
haben wir bereits die erste Lesung zur Umsetzung der
EU-Richtlinie über Endenergieeffizienz und Energie-
dienstleistungen. Sie sehen, die Regierung arbeitet effi-
zient.
Wir haben nun einen Gesetzentwurf vorliegen, mit
dem wir sehr zufrieden sein können. Es gibt noch ein
paar Punkte, die mir wichtig sind in der weiteren Geset-
zesberatung. Beispielsweise sollten wir uns nochmals
die Sorgepflicht der Energieunternehmen vornehmen.
Hier darf es nicht zu unverhältnismäßigen Belastungen
und Marktverzerrungen kommen. An kleinen Stell-
schrauben gilt es also noch zu drehen, dann steht einer
Eins-zu-eins-Umsetzung der EU-Richtlinie nichts mehr
im Wege.
Stellenwert der Energieeffizienz. Ich denke, wir sind
uns alle darin einig, dass im Bereich der Energieeffizienz
noch erhebliche Potenziale liegen. Der Schlüssel dafür
liegt unter anderem in der Erhöhung der Energieeffi-
zienz durch den Einsatz innovativer Energietechnolo-
gien – sowohl auf der Seite der Energiebereitstellung als
auch auf der Nachfrageseite. Wer zum Beispiel energie-
sparende Gebäude oder Fahrzeuge mit einem geringen
Kraftstoffverbrauch herstellt bzw. einsetzt, hat bei stei-
genden Energiepreisen auf dem heimischen Markt, aber
auch auf den Exportmärkten hohe Wettbewerbsvorteile.
Gleichzeitig verringert eine Erhöhung der Energieeffi-
zienz die Abhängigkeit von Energieimporten und senkt
die Energiekosten für Verbraucher und Wirtschaft.
Große Erfolge wurden bereits erzielt. Die Umsetzung
der EU-Richtlinie ist ein weiterer wichtiger Schritt zur
Erreichung unserer ambitionierten Energieeffizienzziele.
Fakt ist aber auch, dass wir in diesem Bereich bereits ei-
nige Erfolge vorweisen können. Mit dem Integrierten
Energie- und Klimaprogramm unserer Bundesregierung
setzten wir zum Beispiel auf den weiteren Ausbau der
gekoppelten Erzeugung von Strom und Wärme, also auf
die Kraft-Wärme-Kopplung. Um Brennstoffe effizient
zu nutzen, soll bis 2020 der Anteil der hocheffizienten
Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen an der Stromproduk-
tion von derzeit circa 12 Prozent auf circa 25 Prozent
verdoppelt werden.
Die Gebäudesanierung ist ein weiterer wichtiger Be-
reich, in dem es noch erhebliche Potenziale gibt und wo
wir aber ebenfalls schon einige Erfolge erzielen konnten:
Auf Antrag der CDU/CSU-Fraktion hat der Haus-
haltsausschuss Anfang des Jahres die Mittel zur
Förderung von Maßnahmen zur energetischen Gebäude-
sanierung im Rahmen des CO2-Gebäudesanierungspro-
gramms um 400 Millionen Euro erhöht. Äußerst bemer-
kenswert ist dabei übrigens, dass die SPD den Antrag im
Ausschuss abgelehnt hat, und dies, obwohl sie dieses
Programm in den vergangenen Jahren in der Großen Ko-
alition noch mitgetragen hat.
Mit der beschlossenen Erhöhung steht im Haushalts-
jahr 2010 nun ein Programmvolumen in Höhe von
1,5 Milliarden Euro zur Förderung von Maßnahmen zur
Energieeinsparung und Reduzierung des CO2-Aussto-
ßes bei Wohngebäuden, in Großwohnsiedlungen und bei
kommunalen Einrichtungen, wie zum Beispiel Schulen
und Kindergärten, zur Verfügung.
Mit Maßnahmen wie dem Energieeinspargesetz, der
Heizkostenverordnung und der Energieeinsparverord-
nung hat die Bundesregierung in den vergangenen Jah-
ren bereits weitere wichtige Schritte vollzogen.
Ich möchte an dieser Stelle aber auch nochmals klar-
stellen, dass zu einer nachhaltigen Politik nicht nur eine
nachhaltige Energiepolitik, sondern auch eine nachhal-
tige Haushaltspolitik gehört. Wir müssen uns daher
immer auch fragen, mit welchen Kosten unsere Zielset-
zungen verbunden sind, und zwar auch für die Volks-
wirtschaft und die Privathaushalte. Wir haben die ambi-
tioniertesten Klimaschutzziele der Welt; das gilt auch für
die Energieeffizienz. In unserem Energiekonzept werden
wir aber auch auf ein ausgewogenes Verhältnis zwischen
unseren Einsparzielen und den entstehenden Kosten ach-
ten.
Die Umsetzung der EU-Richtlinie ist nun ein wichti-
ger Schritt, um beim Thema Energieeffizienz voranzu-
kommen. Klar ist natürlich auch, dass wir weitere Maß-
nahmen folgen lassen müssen. Auch darin sind wir uns
sicherlich alle einig. Dabei spielt das für Oktober ge-
plante Energiekonzept der Bundesregierung eine wich-
tige Rolle. Ich will an dieser Stelle nochmals davor war-
nen, dass sich die Diskussion um das Energiekonzept auf
den Punkt Laufzeitverlängerung der Kernenergie be-
schränkt. Dies ist sicherlich ein sehr wichtiger Aspekt.
Allerdings halte ich das Thema Energieeffizienz eben-
falls für essenziell. Bei dem Energiekonzept werden wir
deshalb darauf achten, klar herauszuheben, mit welchen
Mitteln wir unsere ambitionierten Ziele erreichen kön-
nen.
Die Steigerung der Energieeffizienz ist der Königs-
weg, nicht nur, um unsere ehrgeizigen Klimaziele zu er-
reichen, sondern auch aus Gründen der Versorgungs-
sicherheit und der Wirtschaftlichkeit. Mit dem Gesetz
zur Umsetzung der EU-Energiedienstleistungsrichtlinie
ist ein wichtiger Schritt getan, dem wir nicht zuletzt im
Rahmen unseres Energiekonzepts weitere wichtige
Schritte folgen lassen werden.
Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU): Bei der Debatte um
Energieeffizienz sollten wir uns einen Satz Immanuel
Kants zu Herzen nehmen: „Ich kann, weil ich will, was
ich muss.“
Mir stellt sich die Frage, wie weit die Oppositionspar-
teien die Aufklärung beim Thema Energieeffizienz in-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4391
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zwischen hinter sich gelassen haben, wenn sie, statt an
den Verstand und den freien Willen der Menschheit zu
appellieren, ein Korsett aus Vorschriften, Kontrolle und
Überwachung fordern. Wir tun dies nicht. Wir möchten
vielmehr die Energiekompetenz der Verbraucher stärken.
Mit dem heute im Bundestag vorgestellten Gesetzent-
wurf setzen wir – nach zähen Verhandlungen und langen
Streitigkeiten – die europäische Richtlinie über End-
energieeffizienz und Energiedienstleistungen eins zu
eins in deutsches Recht um. Die EU-Mitgliedstaaten ha-
ben sich mit der Richtlinie auf einen generellen nationa-
len Einsparwert von 9 Prozent für den Zeitraum zwi-
schen 2008 und 2016 geeinigt, der auf verschiedenen
Wegen erreicht werden kann. Die Richtlinie lässt den
Mitgliedstaaten explizit die Wahl zwischen verschiede-
nen Instrumenten.
Wir haben uns zum Ziel gesetzt, geeignete politische
Rahmenbedingungen zu schaffen und gezielt Anreize
dafür zu geben, dass sich der Markt der Energiedienst-
leistungen und Energieeinsparmaßnahmen schnell ent-
wickeln kann. Wichtig ist uns dabei, dass die Energieein-
sparmaßnahmen wirtschaftlich umsetzbar sind, damit
vor allem die Belastungen für die Bürgerinnen und Bür-
ger auf ein Minimum reduziert werden können.
Um Ökonomie und Ökologie gewinnbringend zu ver-
knüpfen, brauchen wir bei der Energieeffizienz eine
strikte Orientierung an Wirtschaftlichkeit. Energiesparen
kann man nur mit den Menschen und den Unternehmen,
nicht gegen sie. Also nicht durch Diktat und Zwang, son-
dern durch Anreize.
Mit dem Gesetzentwurf sind wir zwar etwas verspä-
tet, aber für die Zielerreichung haben wir bereits einen
guten Teil der Wegstrecke zurückgelegt: Wie von der EU
in der Richtlinie gefordert, lag unser erster Nationaler
Aktionsplan 2007 pünktlich vor. Er orientiert sich an den
Zielen der Wirtschaftlichkeit:
Wir haben die energetischen Anforderungen an Ge-
bäude deutlich verschärft, verstärkt in die Energieeffi-
zienz öffentlicher Gebäude investiert und gleichzeitig
das CO2-Gebäudesanierungsprogramm erweitert. Eine
weitere Verschärfung der Anforderungen ist für 2012 ge-
plant. Zusätzlich haben wir bestehende Programme zur
Energieberatung privater Verbraucher deutlich ausge-
weitet.
Im Bereich Gewerbe, Haushalte, Land- und Forst-
wirtschaft, Handel, Dienstleistungen sowie im Verkehrs-
sektor wurden neue Programme aufgelegt, die kosten-
günstige Effizienzpotenziale mobilisieren. Inzwischen
wird in diesen Bereichen mit viel staatlichem Geld zu
Möglichkeiten der Effizienzsteigerung geforscht.
Durch die Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes ha-
ben wir das Messwesen bei Strom und Gas für den Wett-
bewerb liberalisiert; eine dringende Voraussetzung für
die zügige Verbreitung der zeitgenauen Verbrauchsmes-
sung und somit für einen mündigen Endabnehmer.
Des Weiteren haben wir mit der Novelle der Verord-
nung über die Heizkostenabrechnung einen weiteren An-
reiz zum Sparen gegeben, denn der verbrauchsabhängige
Anteil der Abrechnung bei Mietwohnungen wurde er-
höht.
Auch der Bund und seine Einrichtungen selbst sind zu
einem guten Beispiel geworden. Seit 2008 gibt es Leit-
linien zur Beschaffung energieeffizienter Produkte, die
von allen Bundesbehörden anzuwenden sind. Die Län-
der und Kommunen überprüfen derzeit, ob eine derartige
Verpflichtung auch für sie infrage kommt.
Mit der KWK-Novelle haben wir eine Verdoppelung
des Anteils von Strom aus KWK auf 25 Prozent der jähr-
lichen Gesamtstromerzeugung bis 2020 beschlossen. Ich
gebe zu, das geht nicht per Dekret. Aber – und hier
kommt wieder die Freiwilligkeit ins Spiel –: Zusätzlich
hat sich die Wirtschaft zur verstärkten KWK-Förderung
verpflichtet. Des Weiteren haben wir mit unserer Klima-
schutzinitiative Richtlinien zur Förderung von Mini-
KWK verabschiedet.
Besonders für unseren Mittelstand haben wir weitere
Förderprogramme aufgelegt. Mit dem „Sonderfonds
Energieeffizienz in KMU“ vergibt der Staat zinsgünstige
Kredite an kleine Unternehmen. Im Koalitionsvertrag
haben wir uns darauf geeinigt, dass wir zusätzlich Inves-
titionsanreize durch Änderungen im Mietrecht und durch
Einführung des Energiecontracting geben wollen.
Das alles sind marktorientierte und gleichzeitig tech-
nologieoffene Anreize, die wir gezielt einsetzen, um un-
seren Bürgerinnen und Bürgern, aber auch unseren Un-
ternehmen das Energiesparen schmackhaft zu machen.
Und wir sind bereits heute auf einem guten Weg, unser
Einsparziel zu erreichen.
Mit der marktwirtschaftlichen Eins-zu-eins-Umset-
zung der Energiedienstleistungsrichtlinie kommen wir
jetzt einen formalen Schritt weiter:
Wir verpflichten die Bundesregierung auf die Festle-
gung eines nationalen Energieeinsparwertes.
Wir führen neue Informationspflichten für Energie-
versorgungsunternehmen ein bis hin zu Energieaudits,
die vom Unternehmen selbst angeboten werden müssen,
wenn für den Endverbraucher keine anderen Energiebe-
rater greifbar sind.
Wir übertragen die Aufsicht einer Bundesstelle für
Energieeffizienz und schaffen somit einen einheitlichen
Ansprechpartner. Diese Bundesstelle wird beim Bundes-
amt für Ausfuhrkontrolle, BAFA, eingerichtet.
Dennoch bleibt auch nach der Umsetzung der Richtli-
nie noch jede Menge Arbeit zu tun: Wir müssen die
Energiekompetenz der Verbraucher weiter stärken, zum
Beispiel durch unbürokratische Kennzeichnung des
Energieverbrauchs von energierelevanten Produkten.
Denn nur der gut informierte – aufgeklärte – Verbrau-
cher wird seinen Beitrag dazu leisten, dass Deutschland
seine Energieeinsparziele erreicht.
Rolf Hempelmann (SPD): Die Energieeffizienz,
also die effiziente Erzeugung, Nutzung von sowie ein
sparsamer Umgang mit Energie ist einer der wichtigsten
Grundpfeiler der Energiepolitik. Denn eine Volkswirt-
4392 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
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schaft ist nicht um so leistungsstärker, je mehr Mega-
wattstunden sie erzeugt und verbraucht, sondern je mehr
Wirtschaftskraft sie aus so wenig Energieeinsatz wie
möglich erschafft. Ein effizienter und sparsamer Einsatz
von Energie birgt zum einen enorme ökonomische Po-
tenziale für die Wirtschaft und privaten Verbraucher. In
Zeiten stetig steigender Rohstoff- und Energiepreise er-
möglicht ein effizienter Einsatz von Energie finanzielle
Einsparungen für Unternehmen und Privatkunden. Da-
rüber hinaus führt die Entwicklung und der Export von
Effizienztechnologien zu steigendem Umsatz und der
Schaffung neuer Arbeitsplätze in der Industrie. Auf der
anderen Seite ist eine Energieeffizienzpolitik ein wichti-
ger Teil der notwendigen Klimaschutzpolitik. Gerade in
diesem Bereich hat sich Frau Merkel in letzten Jahren
gerne als sogenannte Klimakanzlerin inszeniert.
Wenn die von mir geschilderten Effekte eintreten sol-
len, sind weitgreifende Umwälzungen in allen Energie-
sektoren nötig. Das heißt, die Politik muss die Entste-
hung eines neuen Geschäftsmodells begleiten und, wenn
nötig, auch forcieren. In diesem Geschäftsmodell wer-
den Energielieferanten und Verbraucher in einem Boot
sitzen, denn das Ziel ist nicht mehr die reine Versorgung
des Kunden mit soviel Energiemengen wie möglich.
Vielmehr wandelt sich der Energielieferant zu einem
Energiedienstleister, der, genau wie der Kunde, ein Inte-
resse daran hat, dass der Verbraucher fürs Betreiben sei-
ner elektrischen Geräte oder das Heizen seiner Wohnung
so wenig Energie wie möglich verbraucht.
Wenn diese Ziele erfolgreich umgesetzt werden sol-
len, ist es nötig, in einem Energieeffizienzgesetz Wege
dorthin aufzuzeigen. Umso bedauerlicher ist es, dass wir
heute in diesem Hohen Hause ein Energieeffizienzgesetz
diskutieren, das seinen Namen nicht verdient. Ich denke,
es herrscht hier Konsens darüber, dass Energieeffizienz
die Grundlage einer nachhaltigen Energie-, Umwelt-,
Klima- und Wirtschaftspolitik ist. In keinem dieser Sek-
toren wird die schwarz-gelbe Bundesregierung mit die-
sem Gesetzentwurf den großen Anforderungen auch nur
annähernd gerecht.Wirtschaftsminister Brüderle lobt öf-
fentlich die, ich zitiere: „marktwirtschaftliche Eins-zu-
eins-Umsetzung“ der Vorgaben der Europäischen Union.
Bei genauerem Hinsehen wird jedoch schnell klar: Mit
dieser Vorlage fallen Sie sogar hinter die EU-Vorgaben
zurück. Die EU hat das Ziel formuliert, innerhalb von
neun Jahren mindestens 9 Prozent der Endenergie einzu-
sparen. Nun hat das wissenschaftliche Institut errech-
net, dass dieses 9-Prozent-Ziel mit dem vorgelegten
Gesetzentwurf verfehlt wird.
Im ganzen Gesetzestext findet sich nicht eine klare
Vorgabe zur Energieeinsparung. Stattdessen wimmelt es
von unverbindlichen Formulierungen, in denen viel von
Freiwilligkeit und Information die Rede ist. Und wenn
man nach der Ausgestaltung wichtiger Effizienzmaßnah-
men sucht – beispielsweise der Art der Beratung von
Endkunden, der Sorgepflicht der Energieunternehmen
oder der Anforderungen an die Anbieter von Energiebe-
ratungen –, findet man lediglich Verordnungsermächti-
gungen für die Bundesregierung – ohne Beteiligung des
Bundestages. Das heißt, Sie verschieben die Umsetzung
zentraler Maßnahmen zur Erhöhung der Energieeffi-
zienz auf einen späteren Zeitpunkt und ohne Beteiligung
der gewählten Volksvertreter. Deshalb bitte ich die Kol-
leginnen und Kollegen, sich im Laufe des folgenden Ge-
setzgebungsprozesses dafür einzusetzen, dass die Mit-
spracherechte des Parlamentes bei solch wichtigen
Fragen nicht durch nebulöse Verordnungsermächtigun-
gen beschnitten werden.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist ein großer Schritt
zurück. Denn was Vorhaben im Effizienzbereich angeht,
waren wir in Deutschland schon einmal viel weiter. So
hat sich die Bundesregierung bereits im Jahr 2007 dazu
bekannt, die Energieproduktivität bis zum Jahr 2020 im
Vergleich zu 1990 zu verdoppeln. Dies bedeutet, dass ab
heute der Energieaufwand zur Erzeugung einer Einheit
des Bruttoinlandsproduktes Jahr für Jahr um deutlich
mehr als drei Prozent sinken müsste. Dieser Aspekt fin-
det sich übrigens auch im Koalitionsvertrag der großen
Koalition von 2005. Das zeigt, wenn die Union mit der
FDP Energie- und Klimapolitik betreibt, kommt dabei
nichts Gutes für unser Land heraus. Den energiepoliti-
schen Dilettantismus dieser Koalition konnte man schon
beim Umgang mit dem Marktanreizprogramm und dem
CO2-Gebäudesanierungsprogramm bewundern, welche
ebenfalls von der großen Koalition ins Leben gerufen
und nun von Schwarz-Gelb zu Grabe getragen wurden.
Darüber hinaus hat sich die damalige Bundesregie-
rung ebenfalls im Jahr 2007 das Ziel gesetzt, den End-
energieverbrauch in Deutschland bis 2020 um 20 Prozent
gegenüber 2005 zu reduzieren. Von all diesen wichtigen
und unter öffentlichkeitswirksamen Einsatz der ehemali-
gen Klimakanzlerin auf europäischer Ebene ausgehan-
delten Zielen ist in dem vom Kabinett beschlossenen Ge-
setzentwurf keine Rede mehr. Aus festen Zielen zur
Energieeffizienz und -einsparung sind unter Schwarz-
Gelb also bisher nicht greifbare sogenannte Richtwerte
geworden. Eine verlässliche Energie- und Klimapolitik
sieht anders aus!
Ich möchte an dieser Stelle noch kurz einige Maßnah-
men nennen, die aus unserer Sicht nötig sind, um das
Thema Energieeffizienz voranzubringen. Absolut uner-
lässlich ist die Einbeziehung der Energielieferanten in
Effizienzmaßnahmen. Denn nur so werden diese zum
Energiedienstleister. Zudem sollten standardisierte und
überprüfbare Effizienzmaßnahmen und -programme
festgelegt werden. Auch müssen jene Bürgerinnen und
Bürger bei Energieeinsparmaßnahmen unterstützt wer-
den, die dies aus eigener Kraft nicht leisten können. Dies
könnte durch die Einrichtung eines Energieeffizienz-
fonds gewährleistet werden.
Ich appelliere an meine Kolleginnen und Kollegen,
sich im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher,
der Wirtschaft, der Umwelt und des Klimas für wirk-
same Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz
einzusetzen. Die SPD-Fraktion wird diesen Prozess mit
konstruktiven Vorschlägen begleiten.
Klaus Breil (FDP): Eines vorab: Vor nicht einmal ei-
nem Monat hatten die Grünen mit einem Antrag auf die
Umsetzung der EU-Richtlinie über Energieeffizienz und
Energiedienstleistungen gedrängt. Heute sitzen wir hier
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4393
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schon zur ersten Lesung des Umsetzungsgesetzes. Die
Zeit damals hätten wir sicher besser nutzen können.
Aber zur Sache: Im internationalen Vergleich liegt
Deutschland zusammen mit Japan in der Gruppe derjeni-
gen Staaten mit der höchsten Energieproduktivität. Seit
1990 wurde der Primärenergieverbrauch bei wachsen-
dem Sozialprodukt in Deutschland sogar absolut ge-
senkt. Die Entkoppelung des Energieverbrauchs vom
Wirtschaftswachstum halte ich für die wichtigste globale
Herausforderung, um nachhaltige Fortschritte im Klima-
schutz zu erzielen. Deutsche Unternehmen liegen bei
„grünen“ Industrieprodukten ganz vorne. Sie haben sich
auf den Weltmärkten einen beachtlichen Anteil von
mehr als 16 Prozent erarbeitet. Deutschland zeigt damit
auch den Emerging Markets, dass Energieeffizienz und
Wirtschaftswachstum kein Widerspruch, sondern – ganz
im Gegenteil – nachhaltige Zukunftsinvestitionen in die
Wettbewerbsfähigkeit sind.
Der Gesetzesentwurf zur Umsetzung der europäi-
schen Dienstleistungsrichtlinie, der uns hier heute vor-
liegt, ist ein wichtiger Schritt auf unserem Weg hin zur
weiteren Steigerung unserer Energieeffizienz. Der Ent-
wurf, wie er heute vorliegt, entspricht endlich der im Ko-
alitionsvertrag festgeschriebenen Eins-zu-eins-Umset-
zung der europäischen Vorgaben. Das Ziel der Richtlinie
ist die europaweite Einsparung beim Endenergiever-
brauch von mindestens 9 Prozent bis 2017: Dazu zählen
Einsparungen in Unternehmen wie auch in privaten
Haushalten, aber auch in der öffentlichen Hand. Der Ge-
setzentwurf ermächtigt die beim BAFA angesiedelte
Bundesstelle für Energieeffizienz, einen nationalen
Energieeinsparrichtwert festzulegen. Dies wird nunmehr
zügig auf der Basis des Nationalen Energieeffizienz-Ak-
tionsplans von 2007 geschehen. Dieser Aktionsplan soll
dann bis Juni 2014 noch einmal aktualisiert werden.
Schon mit der am 20. April von der Bundesregierung
beschlossenen Änderung der Vergabeverordnung wur-
den Anforderungen der Richtlinie an das Vergaberecht
umgesetzt. Zusammen mit den Maßnahmen des Inte-
grierten Energie- und Klimaprogramms zur Steigerung
der Energieeffizienz sind damit alle wesentlichen
Schritte zur Umsetzung der Richtlinie abgeschlossen.
Aber Hand aufs Herz: Was kümmert die Bürgerinnen
und Bürger oder die Mittelständlerin und den Mittel-
ständler ein Einsparungsziel der Bundesregierung? Die
oder der Einzelne interessiert sich nicht dafür, wie viel
Endenergie Deutschland bis wann einsparen muss! Was
interessiert, sind die direkten Auswirkungen des Geset-
zes auf das Tagesgeschäft. Wenn man einen ganz beacht-
lichen Anteil der Arbeitszeit für überbordende Bürokra-
tie aufwenden muss, dann ist das gewiss nicht im
Interesse derer, die für die Wertschöpfung und Wirt-
schaftsleistung unseres Landes stehen.
Im Gegensatz zu den dirigistischen Ansätzen des Ent-
wurfs eines von der SPD beeinflussten Energieeffizienz-
gesetzes aus der letzten Legislaturperiode setzt der vor-
liegende Entwurf auf die Entwicklung eines Marktes für
Energiedienstleistungen und anderen Energieeffizienz-
maßnahmen. Der Entwurf kennt keinen Zwang von Un-
ternehmen zur Einführung von Energiemanagementsys-
temen. Denn staatlich oktroyierte Bürokratie setzt in den
Unternehmen keine Effizienzpotenziale frei; vielmehr
blockiert sie dringend benötigte Kapazitäten; besonders
in kleinen Betrieben. Notwendig sind aber umfassende
Informationen über solche Energieeinsparmaßnahmen,
die sich für Energieverbraucher wirtschaftlich rechnen
und damit einen hohen Anreiz zur Eigeninitiative setzen.
Als zentrale Hilfestellung für alle Verbraucher wer-
den Energielieferanten die am Markt verfügbaren
Dienstleister, Verbraucherorganisationen und Energie-
agenturen unterrichten. Im jetzigen Gesetzesentwurf
steht zentral die Stärkung der Transparenz im Markt. Ich
bin davon überzeugt, dass der Endkunde besonders von
den ausgeweiteten Informationen über sparsamen Ener-
gieeinsatz profitieren wird. Viele Gruppen können heute
aufatmen. Denn sie wissen, dass die planwirtschaftlichen
Gängelungen des Entwurfs aus der letzten Legislaturpe-
riode verworfen wurden. Im Übrigen zeigt sich das Inte-
resse der Verbraucher am Thema an folgenden Zahlen:
Lag die Zahl der Energieberatungen durch Verbraucher-
zentralen 2000 noch bei 50 000, sind für das Jahr 2010
circa 100 000 Beratungen geplant. Bei den Vor-Ort-Be-
ratungen im Gebäudebereich hat sich in zehn Jahren die
Anzahl der Beratungen verzehnfacht.
In diesem Zusammenhang halte ich die Vorbildfunk-
tion der öffentlichen Hand insbesondere bei Energieein-
sparungen im Gebäudebereich für eminent wichtig.
Dazu ist der öffentliche Sektor nunmehr im Gesetzent-
wurf aufgefordert. Gelungene Beispiele der öffentlichen
Hand sollen zeigen, mit welchen baulichen Maßnahmen
man die strengen Anforderungen der Energieeinsparver-
ordnung übertreffen und dabei noch kurz- und länger-
fristig wirtschaftliche Vorteile erzielen kann. In diesem
Sinne sind auch die Gespräche der Bundesregierung mit
der Energiewirtschaft über das freiwillige Angebot von
Stromsparschecks zu verstehen.
Ich halte es für entscheidend, dass wir den marktori-
entierten Weg über die Aktivierung des Eigeninteresses
sowohl der gewerblichen Wirtschaft als auch des Ver-
brauchers an Energieeinsparungen und energieeffizien-
ten Produkten und Gebäuden konsequent weitergehen.
Deshalb haben wir das CO2-Gebäudesanierungspro-
gramm verlängert. Erfolge wie der KfW-Sonderfond
Energieeffizienz in kleinen und mittleren Unternehmen
mit über 7 000 geförderten Beratungen bestätigen diesen
Weg. Es ist ein Weg, den wir gemeinsam mit unserem
Koalitionspartner weiterhin gehen werden.
Dorothée Menzner (DIE LINKE): Der Stromver-
brauch in Deutschland ist seit 1992 um 10 Prozent ge-
stiegen, die CO2-Emissionen durch Stromerzeugung sind
immer noch auf dem damaligen Niveau. Seit fast 20 Jah-
ren tut sich also fast nichts im Stromsektor. Nichts, was
auch nur ansatzweise dazu geeignet ist, die klimapoliti-
schen Ziele zu erreichen. Der Mehrverbrauch an Strom
wird zwar durch erneuerbare Energien gedeckt, fossile
Kraftwerke aber nicht zurückgebaut, und so bleiben die
erderwärmenden Treibhausgasemissionen konstant. Das
alles können Sie sich detailliert auf den Seiten des Bun-
desumweltamtes anschauen.
4394 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
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(D)(B)
Wir, die Politik, aber auch die Bürgerinnen und Bür-
ger reden seit Jahren darüber, dass Strom und Energie
eingespart, Energie effizient eingesetzt werden muss; al-
lein, es fehlt den politischen Akteuren der Wille, diesen
Weg konsequent zu gehen. Seit 2006 hat die Bundesre-
gierung den Auftrag, ein Gesetz vorzulegen, das Maß-
nahmen zur effizienten Nutzung von Energie in gelten-
des Recht fassen soll. 2008 hätte es vorliegen müssen.
Jetzt endlich, kurz vor einer Rüge durch die EU, haben
wir einen Entwurf auf dem Tisch.
Anstatt aber die Chance und die Zeit zu nutzen, end-
lich wirkungsvolle Maßnahmen zu Energieeffizienz auf
den Weg zu bringen, legt die Bundesregierung ein
weichgespültes, völlig unmotiviertes Schriftstück vor,
das vielleicht gerade so ausreicht, wenigstens formal der
Richtlinie des Europäischen Parlaments gerecht zu wer-
den, aber selbst das scheint mir zweifelhaft. Keine kon-
kreten Maßgaben, keine ordnungspolitischen Vorgaben
an Wirtschaft und Länder, nur luftige Absichtserklärun-
gen und unverbindliche Freiwilligkeiten finden sich in
diesem Entwurf. Es zeigt sich, dass die Bundesregierung
das Thema Energieeffizienz nicht ernsthaft angeht und
man bekommt fast den Eindruck, die Koalition finde das
Thema lästig.
Dabei gibt es zahlreiche Studien, die riesige wirt-
schaftlich erschließbare Energieeffizienzpotenziale aus-
machen, die in Handel, Gewerbe, Industrie, aber auch in
privaten Haushalten einfach nicht genutzt werden, so-
lange es keine ordnungsrechtliche Steuerung gibt. Aber
die brauchen wir, um den Stromverbrauch endlich zu
senken und die billigste Maßnahme, die uns energiepoli-
tisch zur Verfügung steht, um die Emissionsziele zu er-
reichen, nämlich Energie effizient zu nutzen, endlich
festzuschreiben. Die Strommenge von zwei Atomkraft-
werken ist notwendig, um alle Stand-by-Geräte Deutsch-
lands im ausgeschalteten Zustand mit Strom zu versor-
gen.
Es gibt so viele Möglichkeiten, wie man gegen Ener-
gieverschwendung vorgehen kann – wenn man denn den
Willen dazu hat. Stattdessen werden Förderprogramme
wie das der KfW für energetische Gebäudesanierung
von der Koalition gekürzt, eine Haushaltssperre für er-
neuerbare Wärme verfügt, die Vergütung für Solarstrom
im EEG über alle Maßen abgesenkt und Maßnahmen zur
Steigerung der Energieeffizienz von Ihnen nicht wirklich
angegangen. Das ist keine zukunftsfähige Politik, das
führt uns in die ökologische Krise und das wird die
Linke nicht mitverantworten.
Die Linke fordert stattdessen die Festlegung konkre-
ter Einsparziele im Gesetzentwurf. Ähnlich wie bei
Emissionszielen brauchen wir Zielmarken, bis wann
Einsparziele erreicht werden müssen. Und da reicht es
nicht aus, das eben mal die Bundesregierung festlegen
zu lassen, damit die nächste Regierung es vielleicht wie-
der aufhebt – siehe Atomkonsens –, so etwas muss sich
im Gesetzestext wiederfinden.
Die Linke fordert eine Kennzeichnungspflicht für En-
ergieeffizienzklassen für sämtliche Elektrogeräte, wie es
heute bereits bei Waschmaschinen und Kühlschränken
vorgeschrieben ist.
Die Linke fordert ein Verbot von Stand-by-Geräten
und kostenlose Energieberatung für alle Verbraucherin-
nen und Verbraucher.
Die Linke fordert einen aus den Einnahmen des Emis-
sionshandels gespeisten Energiesparfond, aus dem spezi-
fische Steuerungsmaßnahmen und Anreizprogramme
finanziert werden. Konjunkturprogramme für Energieef-
fizienz ließen sich daraus finanzieren, was sinnvoller
und nachhaltiger wäre als die ressourcenverschleudernde
Abwrackprämie.
Es gibt viele Möglichkeiten, wie man solch einen Ge-
setzentwurf sinnvoll und vernünftig ausgestalten könnte,
um mit Blick auf die Zukunft den Energiebedarf zu sen-
ken. Aber der Regierungsentwurf ist die manifestierte
Ideen- und Fantasielosigkeit.
Zurück in die Zukunft: Die Linke erwartet mit Span-
nung die Anhörung zu diesem Entwurf und die Vor-
schläge der Experten sowie die weitere Debatte.
Ingrid Nestle (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Jetzt
erst recht. In Zeiten der Wirtschafts- und Finanzkrise
kommt vieles unter die Räder. Doch ich sage: Die Ener-
gieeffizienz brauchen wir jetzt erst recht. Sie sagen, dass
die Zeiten der Verschwendung vorbei sein müssen. Dann
hören Sie auf mit der Energieverschwendung! Sie sagen,
dass wir vor der größten Finanz- und Wirtschaftskrise
seit vielen Jahrzehnten stehen. Dann sorgen Sie dafür,
dass mit Energieeffizienztechnologien die europäische
Wirtschaft gestärkt wird, anstatt Jahr für Jahr Milliarden
von Euro für den Import von fossilen Energieträgern
auszugeben. Allein im Jahr 2008 waren das 87 Milliar-
den Euro. Jetzt erst recht brauchen wir die Energieeffi-
zienz. Aber auch alle alten Argumente sind weiterhin
gültig: Unabhängigkeit von Energieimporten, Klima-
schutz. Auch die Ziele für erneuerbare Energien werden
wir nur erreichen, wenn wir mit Energieeffizienz voran-
kommen.
Nach Jahren des Stillstands legen Sie einen Gesetz-
entwurf vor, jedoch nur gezwungenermaßen und nicht
aus eigenem Antrieb. Sie legen das Gesetz vor, weil ein
Vertragsverletzungsverfahren der EU läuft. Aber was
lange währt, wird längst nicht gut. Denn was Sie uns hier
jetzt auftischen wollen, grenzt schon an Arbeitsverwei-
gerung. Neben wenigen kleinen Begleitmaßnahmen wie
dem Sammeln von Informationen bei der Bundesstelle
für Energieeffizienz besteht das Kernstück des vorlie-
genden Gesetzentwurfs daraus, dass die Verbraucher
einmal im Jahr auf ihrer Stromrechnung einen Hinweis
auf eine Internetseite bekommen, auf der sich eine Liste
von Anbietern von Energiedienstleistungen befindet.
Sehr geehrte Damen und Herren der Regierungskoali-
tion, das ist ein Suchspiel und kein Energieeffizienzge-
setz. Ein kleiner Hinweis auf der Stromrechnung bringt
noch keine Energieeinsparung.
Auch die Vorgaben der EU werden Sie mit diesem
Entwurf verfehlen. Mit diesem lahmen Gesetz gelingt es
Ihnen nicht einmal, verspätet die EU-Richtlinie umzu-
setzen. Sie verweisen in Ihrem Gesetzentwurf darauf,
mit Maßnahmen aus dem Integrierten Energie- und Kli-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4395
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maprogramm, IEKP, die Effizienzziele erreichen zu wol-
len, zum Beispiel mit der Novelle des Energiewirt-
schaftsgesetzes zur Öffnung des Messwesens bei Strom
und Gas für den Wettbewerb. Aber es fehlen klare Stan-
dards, mit denen Innovation tatsächlich zu Einsparungen
führen könnte.
Als Verbesserung aufgeführt haben Sie auch die No-
velle der Energieeinsparverordnung. Doch in der Novel-
lierung der Energieeinsparverordnung 2009 verwässern
eine Vielzahl an Ausnahmeregelungen die ohnehin
schon wenig ambitionierten Vorgaben zur Energieein-
sparung zusätzlich. Sie wollen Förderprogramme zur en-
ergetischen Sanierung von Gebäuden; aber Sie stellen
dieses Jahr weniger Gelder zur Verfügung als im letzten
Jahr, und für das nächste Jahr sehen Sie nur noch einen
Bruchteil vor. Sie setzen auf Kraft-Wärme-Kopplung,
aber auch für die KWK haben Sie Gelder gestrichen.
Das novellierte KWK-Gesetz sorgt dafür, dass der Aus-
bau in Deutschland stagniert und Sie von ihren Zielen
meilenweit entfernt sind. Sie wollen die Klimaschutzini-
tiative für die Zielerreichung in Ihrem Gesetzesentwurf
nutzen, aber genau diese Mittel haben Sie gekürzt, und
einen Teil haben Sie mit einer Haushaltssperre versehen.
So geht Energieeffizienz nicht.
Nun sprechen Sie davon, dass das nur ein Umset-
zungsgesetz der EU-Richtlinie sei und dass im Herbst im
Rahmen des Energiekonzeptes mehr zu erwarten sei.
Dass Sie heute schon davon sprechen, im Bereich der
Energieeffizienz im Herbst nachzulegen, zeigt doch
auch, dass Sie Ihr eigenes Gesetz für nicht zielführend
halten. Die Debatten mit Regierungsvertretern unter-
mauern leider, dass im Herbst nicht mehr zu erwarten
sein wird. Denn warum steht in diesem Gesetz so wenig?
Dieser Entwurf entspricht fast eins zu eins der Wunsch-
vorstellung des Bundeswirtschaftsministeriums. Die Um-
weltpolitiker Ihrer Fraktion wollen mehr; aber es fehlt
ihnen an Durchsetzungskraft. Nehmen wir als Beispiel
die Haushaltsverhandlungen. Die internationalen Klima-
schutzmittel wurden drastisch gekürzt, die Mittel aus
dem Marktanreizprogramm mit einer Haushaltssperre
versehen, und Mittel für Energieeffizienz werden Jahr
für Jahr in großen Schritten weniger. Wir glauben nicht
an die schönen Worte, wir wollen Taten sehen.
Wir haben in unserem Antrag gezeigt, wie ein Energie-
effizienzgesetz aussehen kann. Für den Endkundenbe-
reich fordern wir, konkret Verantwortliche zu benennen,
die Energieeffizienzmaßnahmen durchführen müssen.
Die Kosten werden wie beim EEG auf alle Stromkunden
umgelegt. Hierbei profitiert die ganze Gesellschaft: durch
Energieeinsparungen und durch Vermeidung externer
Kosten.
Für die Industrie fordern wir geregelte Energieaudits
und Energieberatung mit konkreten Energiesparvor-
schlägen sowie eine verlässliche Evaluation. Wir fordern
dynamische Effizienzstandards. Wir fordern einen Ener-
gieeffizienzfonds mit einem Volumen von 3 Milliarden
Euro, und das, wohlgemerkt, bei einem Haushalt, der
weniger Schulden aufweist als der Ihre.
Sie reden in Zeiten der Krise ständig davon, Ver-
schwendung zu stoppen. Fangen Sie an: Stoppen Sie
endlich die teure Energieverschwendung!
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Schutz der Meere
vor Vermüllung und anderen Verschmutzungen
(Tagesordnungspunkt 18)
Ingbert Liebing (CDU/CSU): Heute ist ein besonde-
rer Tag: Jedes Jahr am 20. Mai begehen wir den „Euro-
päischen Tag der Meere“. Der „Europäische Tag der
Meere“ wurde von der EU offiziell im Jahr 2008 ins Le-
ben gerufen. Er dient dazu, uns an die entscheidende
Rolle der Ozeane und Meere zu erinnern und die zur See
gehörenden Sektoren besser sichtbar zu machen und ihre
Bedeutung für unser tägliches Leben stärker ins Be-
wusstsein der Menschen zu rufen. Nicht zuletzt will die-
ser Tag und die mit ihm verbundene jährliche EU-Kon-
ferenz einen Beitrag dazu leisten, durch die stärkere
Einbeziehung der Interessengruppen, die Bildung von
Netzwerken und den Austausch bewährter Praktiken zu
einer neuen Kultur des sektor- und politikfeldübergrei-
fenden Dialogs beizutragen.
Damit ist der „Europäische Tag der Meere“ Ausdruck
der integrierten Meerespolitik der EU, die im Jahr 2007
konzipiert wurde und sich seitdem rasch entwickelt hat.
Die Grundlinie dieser Politik haben wir hier im Deut-
schen Bundestag einhellig begrüßt. Ihr sektorübergrei-
fender Ansatz hebt die Bedeutung der Meeres- und
Küstenwirtschaft für nachhaltiges Wachstum und Be-
schäftigung in Europa hervor. Sie verfolgt das Ziel,
Innovation zu erleichtern, Synergien zu erzeugen, ein
kohärenteres Vorgehen zu ermöglichen und die wert-
volle Ökologie der Meere zu schützen.
Vor diesem Hintergrund wird deutlich: Die Meerespo-
litik erfährt eine hohe Aufmerksamkeit. Der Schutz der
Meere ist ein wichtiges Anliegen, dem in den vergange-
nen Jahren auf verschiedenen Ebenen verstärkt Rech-
nung getragen wurde. Obwohl bereits viel Gutes erreicht
werden konnte, geben wir uns mit dem bisher Erzielten
noch nicht zufrieden. Denn noch lange sind nicht alle
Probleme einer zufriedenstellenden Lösung zugeführt
worden.
Diese allgemeine Situationsbeschreibung der Meeres-
schutzpolitik gilt auch für den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Schutz der
Meere vor Vermüllung und anderen Verschmutzungen“,
der uns heute zur Beratung vorliegt. Der Müll in den
Meeren, verursacht zum Beispiel durch die Seeschiff-
fahrt oder die Fischerei, stellt nach wie vor ein Problem
dar, obwohl das Einbringen von Plastikmüll in die Meere
bereits weltweit verboten ist. Durch die Ansammlung
von Plastikmüll in bestimmten Meeresgebieten verwech-
seln Meerestiere und Vögel diesen mit Nahrung und ver-
enden qualvoll. Mikroteile gelangen durch die Fische
zudem auch in unsere Nahrungskette. Und da Plastik
4396 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
(A) (C)
(D)(B)
nicht „vergeht“, führt die „Entsorgung“ von Plastikver-
packungen zu einer dauerhaften Verseuchung der Meere.
Die Vermüllung der Meere ist aber nicht nur in ökolo-
gischer, sondern auch in ökonomischer Hinsicht ein Pro-
blem. Das habe ich in meiner Zeit als Bürgermeister auf
Sylt erlebt. Erhebliche Reinigungskosten belasten die
betroffenen Gemeinden mit dem Herausholen des Mülls
aus den Meeren und der Säuberung der Strände. Dieses
Beispiel macht deutlich, dass die Probleme, die aus der
Vermüllung der Meere resultieren, nicht nur ökologi-
scher, sondern auch ökonomischer Natur sind – insbe-
sondere mit Blick auf die Tourismusbranche.
Allerdings warne ich auch davor, ein falsches Bild zu
zeichnen. Unsere Küsten und Strände sind ein großarti-
ger Naturraum, dessen Wert unsere Gäste zu schätzen
wissen. Nicht von ungefähr kommen Hunderttausende
immer gerne an die Strände der Nord- und Ostsee zu-
rück. Deshalb sollten wir es auch, anders, als der vorlie-
gende Antrag der Grünen es tut, vermeiden, den Ein-
druck zu erwecken, als sei alles schlecht und bislang
nichts Substanzielles zugunsten des Meeresschutzes er-
reicht worden. Das Gegenteil ist der Fall.
Ich möchte, neben der bereits eingangs erwähnten
Initiierung einer gemeinsamen, integrieren EU-Meeres-
politik, auf folgende weitere Beispiele verweisen:
– Den Baltic Sea Action Plan der Umweltminister der
Ostseeanliegerstaaten, HELCOM, der konkrete Maß-
nahmen zur Verbesserung der Gewässerqualität und
Biodiversität des Meeresökosystems Ostsee beinhal-
tet.
– Die EU-Meeresstrategie-Richtlinie mit dem Ziel ei-
nes guten Umweltzustandes der europäischen Meere
bis 2020. Auf dem Weg dorthin wird unter anderem
bis Ende 2010 ein Maßnahmenprogramm vorgelegt.
– Die „Nationale Strategie für die nachhaltige Nutzung
und den Schutz der Meere“, ein wesentlicher Bau-
stein der nationalen Meerespolitik.
Dies zeigt: Die Bundesregierung betrachtet das
Thema „Vermüllung der Meere“ als ernst zu nehmendes
Problem und widmet sich seit einigen Jahren intensiv ei-
ner Lösung.
Aber zurück zum Antrag: Grundsätzlich wäre es sinn-
voller gewesen, hätte sich der Antrag, wie es seine Über-
schrift zunächst vermuten lässt, auch wirklich auf das
Problem des Mülls in den Meeren konzentriert. Stattdes-
sen beinhaltet er ein Sammelsurium verschiedenster
meerespolitischer Probleme. Er enthält auch zu viele
ordnungsrechtliche Regelungen, anstatt positive Anreize
zu setzen. Erschwerend kommt hinzu, dass manche Dar-
stellung nicht korrekt ist bzw. ganz fehlt.
Hinsichtlich einer fehlerhaften Darstellung verweise
ich auf die Aussage auf Seite 1 des Antrags, dass für die
problematischen Schiffsemissionen bislang keine befrie-
digende Lösung gefunden worden sei. Dem halte ich
entgegen, dass in diesem Zusammenhang bereits viel er-
reicht wurde, nämlich das Verbot des sogenannten Bun-
ker-C-Öls für Nord- und Ostsee als Schiffsdiesel sowie
die Begrenzung von Schwefel, bzw. auf EU- und IMO-
Ebene in Erarbeitung ist. Die Ausweisung von Immis-
sionsschutz-Sondergebieten, SECAs, durch die IMO für
Nord- und Ostsee ist doch ein gutes Beispiel; allerdings
auch dafür, wie schwer es ist, diese Regelungen isoliert
national zu betrachten, ohne gleichzeitig nachteilige
Wettbewerbsverzerrungen hervorzurufen. Deshalb ist es
richtig, dass diese Regelungen über Nord- und Ostsee hi-
naus ausgedehnt werden.
Ein Beispiel für das Fehlen eines zentralen Punkts in
Zusammenhang mit dem Thema „Verschmutzung der
Meere“ ist die notwendige Steuerbefreiung von Land-
strom für Schiffe. Hierzu gab es bereits in der Vergan-
genheit ein einheitliches Votum im Deutschen Bundes-
tag, das die Bundesregierung auffordert, die
Steuerbefreiung von Landstrom auf europäischer Ebene
zu unterstützen. Ich habe den neuen EU-Energiekom-
missar Günther Oettinger auf dieses Thema hingewie-
sen, das seit Jahren auf der EU-Ebene nicht voran-
kommt. Er will sich darum kümmern, hat er zugesagt.
Herausgreifen möchte ich ferner drei weitere Punkte
des Antrags:
Erstens die praxisfremde Forderung nach Nutzung bio-
zidfreier Anti-Fouling-Anstriche: Ich habe gerade erst
vor einigen Wochen den größten mittelständischen Her-
steller von Anti-Fouling-Mitteln in Deutschland besucht,
ein Unternehmen in der Nähe von Hamburg. Die haben
den Versuch mit biozidfreien Produkten gemacht – mit ne-
gativem Ergebnis: geringere Wirkung des Anstrichs,
keine Akzeptanz auf dem Markt. Auf eine durchschla-
gende Wirkung der Anti-Fouling-Produkte können wir
aber nicht verzichten, und zwar auch aus Naturschutz-
gründen. Schließlich geht es auch um die Vermeidung
des Einzugs invasiver Arten. Nicht zuletzt sollten wir in
diesem Zusammenhang auch berücksichtigen, dass wir
hier in Deutschland gute und sichere Anti-Fouling-Pro-
dukte mit einer sicheren Verwendung von Bioziden her-
stellen. Dies ist in jedem Fall sinnvoller, als würden bei-
spielsweise Werften in China und in Korea weniger
sicherere Anti-Fouling-Mittel anderswo beziehen oder
selber herstellen.
Zweitens halte ich den Hinweis auf eine allgemeine
Müllvermeidungsstrategie zwar für gut, aber für die Ver-
meidung von Müll im Meer für wenig hilfreich. Um ziel-
gerichtet Müll zu vermeiden, halte ich es für sinnvoller,
die verantwortlichen Akteure einzubinden, und zwar
weltweit. Biologisch abbaubare Produkte müssen gerade
zielgerichtet für den Einsatz an Bord entwickelt und ver-
marktet werden. Gleichzeitig brauchen wir eine noch
bessere Überwachung mit Fahndungsdruck, um mögli-
che Müllsünder abzuschrecken.
Drittens kritisiere ich den Antrag, weil er das Thema
„Schiffsverkehr“ zu negativ darstellt. Neben allen Pro-
blemen, die aus dem Schiffsverkehr für den Meeres-
schutz unstrittig resultieren können, sollten wir nicht
vergessen, dass der Schiffsverkehr das umweltfreund-
lichste Verkehrsmittel ist. Eine Verlagerung des Waren-
verkehrs auf die Landseite wäre mit einer massiven Zu-
nahme von Emissionen verbunden. Dies kann nicht
gewollt sein.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4397
(A) (C)
(D)(B)
Der Schutz der Meeresökologie ist ein wichtiges
Thema, es stellt auch einen Eigenwert an sich dar. Wir
müssen die Meere aber auch schützen, um ihre Poten-
ziale nachhaltiger nutzen zu können – sei es in der Fi-
scherei, in der Energiegewinnung oder in der Gewin-
nung mariner Wirkstoffe. Unser Ziel ist dabei ein
ausgewogenes Verhältnis von Schutz und Nutzung, die
nur eine nachhaltige Nutzung sein kann. Daran werden
wir uns auch bei den weiteren Beratungen orientieren.
Josef Göppel (CDU/CSU): Jedes Jahr am 20. Mai
wird der „Europäische Tag der Meere“ begangen, so
auch heute. Der Tag der Meere soll die entscheidende
Rolle der Ozeane und Meere hervorheben und dazu bei-
tragen, ihre Bedeutung ins Bewusstsein der Menschen
zu rufen. Ich erinnere daran, dass die Weltmeere 71 Pro-
zent der Erdoberfläche bedecken. Sie bilden das größte
zusammenhängende Ökosystem der Erde. Die Meere
verdienen deshalb unsere besondere politische und öf-
fentliche Aufmerksamkeit. Die Erhaltung der Meere ist
nicht nur ein Anliegen des Umwelt- und Naturschutzes,
sondern liegt auch in unserem sozialen und wirtschaftli-
chen Interesse.
Der Kinodokumentarfilm Plastic Planet von Regis-
seur Werner Boote beweist eindringlich, wie Plastik
oder, besser gesagt, „synthetische Kunststoffe“ gerade in
den Meeresökosystemen weltweit zu einem gravieren-
den Problem geworden sind. Nach einer Studie des Um-
weltbundesamtes bestehen mehr als zwei Drittel des
Meeresmülls aus Plastik. Neben den ökologischen Schä-
den verursacht der Abfall ganz reale Kosten: In Osthol-
stein entstehen zum Beispiel pro Jahr Unkosten in Höhe
zwischen 750 000 und 1,2 Millionen Euro für die Ent-
sorgung gestrandeter Abfälle. Alleine bei der Reinigung
des 7 Kilometer langen Westerländer Badestrandes auf
Sylt fallen täglich bis zu zwei Tonnen Müll an. Das ent-
spricht 23 000 gefüllten Müllsäcken im Jahr. Die Ver-
müllung der Meere ist ein ernst zu nehmendes Problem.
Deshalb teile ich die Einschätzung des Präsidenten des
Umweltbundesamtes, Jochen Flasbarth, der sagt: „Es ist
höchste Zeit, endlich effektive Strategien gegen den
Meeresmüll zu entwickeln.“
Seit dem 15. Juli 2008 ist die Europäische Meeresstra-
tegie-Rahmenrichtlinie 2008/56/EG, MSRL, in Kraft. Ziel
der Richtlinie ist es, den Meeresschutz und die Meeres-
nutzung in eine Balance zu bringen. Bis zum Jahr 2020
soll damit ein „guter Umweltzustand“ der europäischen
Meere erreicht werden. Am 1. Oktober 2008 hat die
Bundesregierung die „Nationale Strategie für die nach-
haltige Nutzung und den Schutz der Meere“, kurz: „Na-
tionale Meeresstrategie“, beschlossen. Damit wird die
Europäische Richtlinie in deutsches Recht umgesetzt.
Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit hat mit Erlass vom 17. Juli 2009 das
Umweltbundesamt beauftragt, einen Bericht zu erstellen,
wie die Aufgaben aus der EU-Meeresstrategie-Richtlinie
in Nord- und Ostsee erfüllt werden können. Der Bericht
des Umweltbundesamtes vom 12. Oktober 2009 „Um-
setzung der Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie: Abfälle
im Meer“ liegt für jedermann öffentlich zugänglich unter
dem Titel „Abfälle im Meer – Ein gravierendes ökologi-
sches, ökonomisches und ästhetisches Problem“ vor.
Ich unterstreiche ausdrücklich die Notwendigkeit,
zum Schutz der Meere aktiv zu handeln. Die Müllver-
meidung muss dabei Vorrang haben. Der Antrag und die
Presse der letzten Monate – ich denke dabei an den Spie-
gelartikel „Müllflut in den Ozeanen: Regierungspapier
enthüllt Scheitern des Meeresschutzes“ – rückt unsere
politischen Bemühungen für den Meeresschutz nach
meiner Meinung in ein falsches Licht. Die Nationale
Meeresstrategie zeigt, dass wir den richtigen Weg einge-
schlagen haben.
Bei der Umsetzung der Nationalen Meeresstrategie
befinden wir uns in der ersten Phase: Der Analyse des
Ist-Zustandes und dem Aufzeigen von Lösungsansätzen.
Mit dem Bericht des Umweltbundesamtes liegen nun die
ersten Ergebnisse vor. Ich teile die Auffassung, dass
diese Ergebnisse der Analyse erschreckend sind. Jetzt
muss die Nationale Meeresstrategie konsequent umge-
setzt werden.
Der vorliegende Antrag rennt offene Türen ein. Un-
terstützen Sie deshalb den Bundesumweltminister bei
der Umsetzung der Nationalen Meeresstrategie.
Frank Schwabe (SPD): Gut dass heute, anlässlich
des „Europäischen Tages der Meere“, hier diese Debatte
zum Thema Meere und deren Schutz stattfindet.
Seit der verheerenden Explosion auf der Bohrplatt-
form „Deepwater Horizon“ im Golf von Mexiko am
20. April 2010 überschlagen sich die Artikel in der
Presse zum Thema Bedrohung und Schutz der Meere.
Amerika bereitet sich auf eine der schwersten Umwelt-
katastrophen in der Geschichte des Landes vor, denn das
austretende Öl bedroht hochsensible Ökosysteme mit
bisher kaum absehbaren Folgen und Kosten für Mensch
und Meeresökosysteme.
Aber wir dürfen uns diesem wichtigen Thema nicht
nur annehmen, wenn es große Schlagzeilen in den Me-
dien gibt. Denn die größte Bedrohung der Meere sind
nicht nur die spektakulären Umweltkatastrophen, wie
wir sie gerade im Golf von Mexiko erleben, sondern die
alltägliche Verschmutzung, die es nicht auf die Titelsei-
ten der Zeitung schafft, aber umso verheerender ist. Vie-
len von uns sind die dramatischen Bilder von großen
Tankerunglücken oder Katastrophen auf Bohrinseln im
Gedächtnis, wenn wir an Öl im Meer denken. Doch so
spektakulär diese Unfälle auch sind, sie stellen nicht den
Haupteintrag von Öl in die Meere dar. Nur etwa 13 Pro-
zent des jährlich ins Meer gelangenden Öls stammt von
Tankerunfällen. Der weitaus größte Anteil von rund
3 Millionen Tonnen Öl, die jährlich in die Weltmeere
fließen, stammt vom normalen Schiffsverkehr, aus kom-
munalen Abwässern und vom täglichen Betrieb auf den
Ölplattformen.
Neben der Verschmutzung durch Öl werden die mari-
nen Ökosysteme derzeit vor allem durch den Eintrag ge-
fährlicher Stoffe, durch Überdüngung, durch schädliche
Wirkungen der Fischerei wie Überfischung und durch
die Zerstörung von Lebensräumen durch schweres Fang-
4398 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
(A) (C)
(D)(B)
geschirr bedroht. Hinzu kommen die Einschleppung
fremder Tier- und Pflanzenarten, die eventuell mit ein-
heimischen Arten konkurrieren, die Verluste von Habita-
ten und Wirkungen von Lärmquellen, die zum Beispiel
Meeressäuger stören oder gar schädigen können.
In zunehmendem Maße wächst die Bedrohung der
Meere durch den Klimawandel. Die Folgen des Klima-
wandels werden voraussichtlich immens sein. Wenn die
globale Erwärmung nicht auf unter 2 Grad Celsius be-
grenzt wird, drohen ganze marine Ökosysteme zu ver-
schwinden.
Plastikmüll ist ein weltweites Problem und gefährdet
in zunehmendem Maße unsere Meere und Küsten. Von
den jährlich bis zu 240 Millionen Tonnen produziertem
Plastik landen nach Schätzungen des Umweltprogramms
der Vereinten Nationen mehr als 6,4 Millionen Tonnen
Müll in den Ozeanen
Ich könnte diese Liste der Gefahren noch um einige
Punkte erweitern. Dabei wissen wir doch alle, dass wir
unsere Anstrengungen zum Schutz der Meere drama-
tisch erhöhen müssen.
Wie wichtig die Meere sind, erschließt sich mit einem
Blick, wenn man unseren Planeten aus dem Weltall be-
trachtet. Wir leben auf einem blauen Planeten. Die
Meere bedecken 71 Prozent der Erdoberfläche, bieten
volumenmäßig 99 Prozent des Lebensraumes auf dem
Planeten und stellen somit das größte Ökosystem dar.
Die Meere sind Ursprung allen Lebens, sie sind Regula-
tor für das Klima unserer Erde, sie bergen gewaltige
Energieressourcen und sind eine wichtige Nahrungs-
quelle. Die Meere sind ein kostbares Naturerbe. Sie bil-
den die größten zusammenhängenden Ökosysteme der
Erde. Der Schutz der Meere ist deshalb besonders wich-
tig.
Lange Zeit wurden die Meere in einem Irrglauben an
die Unerschöpflichkeit der Ressourcen und eine gren-
zenlose Regenerationsfähigkeit genutzt. Die Folgen die-
ses Handels wurden viel zu spät erkannt. Heute drohen
ökologische Risiken und negative Auswirkungen auf die
Meeresumwelt. In nur wenigen Jahrzehnten hat der
Mensch es geschafft, die ältesten Lebensräume unseres
Planeten bis an die Belastungsgrenze und darüber hinaus
auszubeuten. Der faszinierenden Vielfalt der Ozeane
droht die Vernichtung. Damit wird aber auch gleichzeitig
die Nutzung der Meere durch den Menschen beeinträch-
tigt. Meeresumweltschutz dient also dazu, Schädigungen
des Ökosystems Meer zu verhindern und gleichzeitig das
Potenzial für ihre nachhaltige Nutzung zu sichern. Die-
ses Ziel kann am besten durch die Integration meeres-
schutzrelevanter Aspekte in andere Politikbereiche wie
Fischerei, Landwirtschaft, Industrie, Verkehr usw. er-
reicht werden.
Die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko zeigt aber
auch, dass es richtig war, dass sich die SPD schon vor ei-
nigen Jahren für eine Strategie „weg vom Öl“ entschie-
den hat. Und das nicht nur aus Gründen des Klimaschut-
zes, sondern weil das „schwarze Gold“ auf der ganzen
Welt dreckige Spuren hinterlässt. Erdöl belastet die Um-
welt von der Suche, über die Förderung, Verarbeitung
und den Transport bis hin zum Verbrauch. Mitverant-
wortlich dafür: die weltweit operierenden Ölkonzerne,
die viel für Gewinnmaximierung, aber wenig bis nichts
für Umweltschutz und Menschenrechte übrig haben. Öl-
leckagen verseuchen Böden und Gewässer, machen
Ackerflächen unbrauchbar, das Trinkwasser ungenießbar
und töten Fischbestände und andere Lebewesen. Öltep-
piche aus verunglückten Tankern verseuchen Küstenge-
biete, lassen Vögel und Meerestiere qualvoll krepieren
und bringen die örtlichen Fischer um ihre Existenz. Mit
Erdöl und Chemikalien belastete Abwässer, Schlämme
und Bohrgestein werden von Ölplattformen ins Meer ge-
kippt, vergiften die Meeresflora und -fauna und landen
letztlich in der Nahrungskette.
Neben dem Öl werden die Meere auch durch andere
Stoffe dauerhaft belastet. Nicht erst seit dem Film „Plas-
tic Planet“ wissen wir, dass wahre Müllteppiche im Meer
schwimmen. Mehr als Zweidrittel des Meeresmülls be-
steht aus Plastik. Dieser ist für die Ökosysteme beson-
ders gravierend, denn für viele Meerestierarten ist er le-
bensbedrohlich, zum Beispiel für Meeresschildkröten,
die an Plastiktüten ersticken können. Verschärfend hinzu
kommt die lange Abbauzeit von Plastikkunststoffen, die
bis zu 450 Jahre beträgt.
Neben der Bedrohung der Meerestiere verursacht der
Meeresmüll hohe ökonomische Kosten. Das Umwelt-
bundesamt hat gestern bekannt gegeben, dass allein bei
der Reinigung des fast 7 Kilometer langen Westerländer
Badestrands auf Sylt jeden Tag bis zu 2 Tonnen Müll an-
fallen. Das entspricht jährlich circa 23 000 Müllsäcken –
allein für die Reinigung des Strandes bei Westerland!
Laut Umweltbundesamt entstehen in Ostholstein jährlich
Kosten für die Müllbeseitigung zwischen 750 000 und
1,2 Millionen Euro. Obwohl in vielen Häfen bereits Auf-
fanganlagen für Schiffsmüll existieren, geht die Abfall-
menge nicht signifikant zurück. Das liegt auch an den
Entsorgungskosten. Die Abnahme ist nicht immer kos-
tenfrei, die Preise dafür schwanken von Hafen zu Hafen.
Der Antrag der Grünen fordert daher zu Recht von
der Bundesregierung, dass sie Strategien erarbeiten
muss, um den Eintrag von Müll ins Meer zu reduzieren.
Auch muss sich die Bundesregierung auf internationaler
Ebene verstärkt für die Schaffung eines globalen Netz-
werkes von Meeresschutzgebieten durch das UN-Über-
einkommen über biologische Vielfalt, CBD, einsetzen.
Zwar ist die Schaffung von Meeresschutzgebieten äu-
ßerst wichtig, sie alleine werden jedoch nicht ausreichen,
um die biologische Vielfalt der Meere zu sichern. Hinzu-
kommen muss ein Umdenken in der Fischerei. Die ge-
genwärtige Überfischung und Übernutzung der Fischbe-
stände muss beendet werden. Zurzeit fangen zu viele
Fischer zu viel Fisch. Wissenschaftliche Empfehlungen
für Fangquoten werden nicht umgesetzt, und in vielen
Meeresregionen fehlen Regularien ganz. Insgesamt do-
miniert kurzfristiger Profit über langfristige Nutzung.
Zukunft hat jedoch nur eine Fischerei, die sich an dem
Kriterium der Nachhaltigkeit orientiert. Arbeitsplätze in
der Fischerei werden nicht durch den Meeresschutz be-
droht, sondern durch den Raubbau an der Natur. Die
Überfischung heute macht die Fischer morgen arbeitslos.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4399
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(D)(B)
Bisher ist diese Erkenntnis leider noch nicht überall an-
gekommen.
Der nächste wichtige Schritt hin zu einer nachhaltigen
Fischerei ist mit der Reform der Gemeinsamen Fische-
reipolitik in der EU-Politik möglich. Bei dieser Reform
muss sich die Bundesregierung auf EU-Ebene dafür ein-
setzen, dass die Fischerei auf einen Kurs gebracht wird,
der die Ökosysteme schont und ein Überleben bedrohter
Arten sichert.
Sei es auf nationaler Ebene, sei in europäischen oder
internationalen Verhandlungen – Ziel muss sein, die
Nutzung und Bewahrung der Meere wieder miteinander
zu verbinden. Ansonsten wird es zum Kollaps ganzer
Fischbestände kommen und zu Tausenden von arbeitslo-
sen Fischern. Das hat uns die Entwicklung vor Neufund-
land deutlich gezeigt. Aufgabe der Politik ist hierbei, in
einen engen Dialog mit den relevanten Akteuren zu tre-
ten und kurzfristiges Profitdenken durch langfristige
Verantwortung abzulösen.
Angelika Brunkhorst (FDP): Die Grünen haben
hier einen Ziel- und Forderungskatalog vorgelegt, der ihr
großes Herz und Anliegen für den Meeresnaturschutz
darlegt. Sie können sicher sein, auch uns Liberalen ist
der Schutz der Meere ein wichtiges Anliegen.
Meere bilden die größten zusammenhängenden Öko-
systeme unserer Erde und sind für uns eine wesentliche
Lebensgrundlage. Sie haben eine enorme Bedeutung für
eine intakte Umwelt und besitzen gleichzeitig ein be-
trächtliches Potenzial für wirtschaftliches Wachstum.
Deshalb sollten wir diese besondere, einzigartige Res-
source schützen.
70 Prozent des Sauerstoffs, den wir einatmen, wird
von der Meeresflora produziert. Sieben Zehntel der Erd-
oberfläche sind von Weltmeeren bedeckt. Gut ein Drittel
der Weltmeere ist 4 000 bis 5 000 Meter tief. Eine lang-
fristige erfolgreiche Meerespolitik basiert auf abgesi-
chertem Wissen über die Ressource Meer und einer in-
takten Meeresumwelt. Wir sind uns alle einig, dass das
Meer vor Verschmutzungen und Müll geschützt werden
muss – gerade am heutigen „Europäischen Tag der
Meere“.
Die Adressaten des Antrags sind direkt die Bundes-
regierung und mittelbar die EU und international die
IMO. Mit insgesamt 38 Forderungsspiegelstrichen be-
inhaltet er einen thematisch breiten Ansatz.
Die Grünen müssten eigentlich wissen, dass einige ih-
rer Forderungen an Schutz und Genehmigungsstandards
im Sinne des Meeresumweltschutzes bereits auf einem
guten Weg sind und in einigen europäischen oder inter-
nationalen Abkommen vertraglich umgesetzt wurden.
Der Schutz der Meere ist neben der Sicherheit der
Seefahrt eines der Hauptanliegen der International Mari-
time Organization, IMO. Ein international einheitlicher
Meeresumweltschutz auf der Ebene der IMO hat dabei
immer den Vorteil global abgestimmter Maßnahmen und
der Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit der europäi-
schen Schifffahrt. Die Überwachung und Durchführung
der vereinbarten Maßnahmen ist auf europäischer Ebene
schwierig.
Das MARPOL-Übereinkommen ist ein internationa-
les, weltweit geltendes Übereinkommen zum Schutz der
Meeresumwelt. Hier finden sich allgemeine aber auch
spezielle Regelungen zu den verschiedenen Arten von
Verschmutzungen im Zusammenhang mit dem Schiffs-
betrieb. Gemäß dieser Regelung ist zum Beispiel das
Einleiten von Schiffsabwasser grundsätzlich verboten.
Auch die Verschmutzung der Luft durch Seeschiffe
sollte vermieden werden. Das Einleiten von Schiffsmüll
ist auch strengstens verboten. Zuwiderhandlungen gegen
Vorschriften über das Einbringen von Schiffsmüll stellen
gemäß § 6 Abs. 1 MARPOL-ZuwV Ordnungswidrigkei-
ten dar, die mit Geldbußen bis zu 50 000 Euro geahndet
werden können. Die von den Grünen geforderten Rege-
lungen existieren schon.
Ehrlich gesagt machen mir allerdings die vielen For-
derungen im Bereich der weltweiten Schiffsverkehre
Sorge. Ein Herz für die Seeschifffahrt haben die Grünen
anscheinend nicht, wobei circa 90 Prozent aller interkon-
tinentalen Warenbewegungen mit dem Schiff erfolgen,
Tendenz steigend. Zudem gehört das Verkehrsmittel
Schiff, legt man den CO2-Ausstoß pro Tonne im Ver-
gleich zu anderen Verkehrsträgern zugrunde, zu den
umweltverträglichsten. Die höchst anspruchsvollen Ver-
schärfungen an technische Auslegung der Schiffe, Zerti-
fizierung, Art der Kraftstoffe, Restriktionsgebote und
Strafsysteme und vieles mehr – und das möglichst auch
alles zugleich – sind gleichbedeutend damit, dass man
am besten die Seeschifffahrt ganz abschaffen sollte. Das
kann nicht wirklich ihr Ernst sein.
Nur ein integrativer Politikansatz kann die diversen
Nutzungs- und Schutzinstrumente zusammenführen. Alle
Maßnahmen in der Küstenzone müssen daher auf der Ba-
sis ganzheitlicher und nachhaltiger Ansätze geplant, ent-
schieden und kontrolliert werden. Eine solche Gesamtbe-
trachtung erfordert die Entwicklung eines adäquaten
Instrumentariums im Rahmen eines Küstenzonenma-
nagements. Eine stärkere Verknüpfung der verschiedenen
maritimen Sektoren und Akteure dient auch einer Verfah-
rens- und Planungsbeschleunigung.
Wir werden auf europäischer Ebene darauf hinwirken,
dass ein globales System von Meeresschutzgebieten ge-
schaffen wird. In Nord- und Ostsee werden wir in enger
Abstimmung mit den betroffenen Bundesländern die
Einrichtung von Meeresschutzgebieten prüfen.
Der vorliegende Antrag ist eine Diskussionsgrund-
lage für eine kontroverse, aber vielleicht auch an der ei-
nen oder anderen Stelle fruchtbare Diskussion im Fach-
ausschuss. Ich freue mich darauf.
Sabine Stüber (DIE LINKE): „Das unendliche Lä-
cheln des Meeres“ ist der Titel einer interessanten Foto-
ausstellung, die zurzeit in Bad Saarow zu sehen ist. Eine
Begegnung mit Orten und Momenten für die Seele – so
las sich das gestern in der Presse, und so nähere ich mich
auch am liebsten dem Meer. Das klappt auch immer wie-
der mit der Faszination, wenn ich davor stehe.
4400 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
(A) (C)
(D)(B)
Dabei wissen wir alle, dass der Schein trügt, doch kei-
ner will am Strand oder in der kleinen Kneipe am Hafen
beim „frischen Fisch“ daran denken. Und wenn doch,
dann haben wir es uns so schlimm nun wirklich nicht
vorgestellt.
Die Umweltkatastrophe im Golf von Mexiko wird
immer bedrohlicher. Vier Wochen nach dem Untergang
der Bohrinsel konnte der Ölaustritt noch nicht gestoppt
werden. Ganze Meeresregionen werden so auf Jahr-
zehnte hinaus vergiftet. Hinzu kommen auch immer
noch Abfälle, man kann sagen jeglicher Art, aus der
Schifffahrt. Neben Verklappung von Dünnsäure und den
Schwerölrückständen bei der Tankreinigung reicht die
Palette bis hin zu radioaktiven Abfällen. Das Meer – ein
Fass ohne Boden? Nichts zu sehen und doch ein Müllei-
mer. Tonnenweise lagern sich Plastiktüten, Styroporreste
und alte Fischernetze am Meeresboden ab. Knapp
80 Prozent des Meeresmülls besteht aus Plastik. Ver-
schärfend hinzu kommt die lange Abbauzeit, die bis zu
450 Jahre beträgt. Der Plastikmüll wird oft mit der Nah-
rung aufgenommen und ist dann für viele Meerestiere le-
bensbedrohlich.
600 000 Kubikmeter Müll machen die Nordsee zu ei-
nem der mit am stärksten verschmutzten Meere. Und
20 000 Tonnen kommen jährlich dazu.
Die Weltmeere haben die Grenzen ihrer Belastbarkeit
erreicht. Eine Notbremse muss gezogen werden. Die eu-
ropäische Meeresstrategie fordert von den Mitgliedstaa-
ten, das Müllvorkommen in ihren Meeresregionen zu be-
werten und die Einträge dahingehend zu regulieren, dass
2020 ein guter Umweltzustand der Meeresökosysteme
hergestellt ist. Das Ziel ist gesetzt, den Weg dahin müs-
sen die Mitgliedstaaten gehen.
Die Linke unterstützt den Antrag der Fraktion der
Grünen. Damit ist ein guter erster Aufschlag vorgege-
ben. Um einen Schritt weiterzukommen, sollten aber aus
unserer Sicht klare Prioritäten mit zeitlichen Vorgaben
dafür festgelegt werden, was wir wann für den Meeres-
schutz vor unserer Haustür tun werden. In dem Antrag
finden sich durchaus praktikable Vorschläge. Aber all
das ist nicht ausreichend, um die Meere umfassend zu
schützen.
Initiativen zur Minderung der Belastungen durch die
Seeschifffahrt sowohl auf europäischer als auch auf in-
ternationaler Ebene müssen weiter vorangetrieben wer-
den. Oder nehmen wir nur das Stichwort Emissionen im
Schiffsverkehr. Auch da sollte man sich nicht aus-
schließlich auf technische Lösungen konzentrieren.
Es geht auch um Maßhalten beim Ressourcenver-
brauch, wenn wir an den besorgniserregenden Zustand
der Fischbestände denken. Deshalb sind auch weiterge-
hende Reformen in der gemeinsamen Fischereipolitik er-
forderlich.
Der Antrag verweist auf viele Defizite und es wird
klar, dass ein umfassender Meeresschutz keinen Auf-
schub mehr duldet.
Dr. Valerie Wilms (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Dieses Haus wird morgen über ein milliardenschweres
Rettungsprogramm für den Euro und die Finanzmärkte
entscheiden. Wir kennen hierfür die Ursachen: Fehler im
System und das unverantwortliche Handeln Einzelner,
denen es durch nicht vorhandene oder zu lasche Regeln
auch noch leicht gemacht wird.
Das Gleiche geschieht mit unseren Meeren: Die Ozea-
ne erscheinen unerschöpflich in ihren Ressourcen, ihre
Ausbeutung vollzieht sich weitgehend ohne Kontrolle –
und Abfälle werden entsorgt, weil man glaubt, inmitten
dieser riesigen Menge Wasser würde es nicht weiter auf-
fallen. Im Golf von Mexiko können wir derzeit täglich
beobachten, was dann geschieht: Die unerschöpflich er-
scheinende Ressource steht am Rande des Kollapses.
Auch hier braucht es Milliarden, um die Schäden zu be-
heben.
Ganz deutlich wird hier – wie eben auch bei der Fi-
nanzkrise –, dass global gehandelt werden muss. Allein
können wir die Probleme unserer Ozeane nicht lösen.
Aber wir dürfen uns auch nicht dahinter verstecken: Glo-
bale Lösungen bedeuten nicht, dass wir die Hände in den
Schoß legen und auf die Vereinten Nationen und IMO
warten können. Nein, das Handeln beginnt hier bei uns.
Als wichtige europäische Nation können wir maßgeblich
die Richtung beeinflussen. Hierzu haben wir Grüne ei-
nen Vorschlag auf den Tisch gelegt; denn wir müssen
ganz klar feststellen: Das Bewusstsein für die Sensibili-
tät der marinen Ökosysteme hat sich zwar geändert, und
auf europäischer und globaler Ebene gibt es erkennbar
Initiativen und Anstrengungen. Aber: Der Zustand der
Meere ist weiterhin akut gefährdet!
Wenn wir weitermachen wie bisher, stehen wir abseh-
bar vor leergefischten, vergifteten und ölverschmutzten
Meeren. Am politischen Handeln in der Finanzkrise soll-
ten wir uns dabei nicht orientieren. Das ist wahrlich kein
Glanzstück: Obwohl wir die Katastrophe seit mindestens
eineinhalb Jahren beobachten, machen wir uns erst jetzt
viel zu langsam und viel zu unentschlossen auf den Weg
zu neuen Regeln. Ich kann nur hoffen, dass wir diese
Fehler als mahnendes Beispiel nehmen und beim Mee-
resschutz endlich einmal rechtzeitig, präventiv und frak-
tionsübergreifend handeln. Denn ein milliardenschweres
Programm wird es für die Meere ganz sicher nicht ge-
ben, und das, obwohl die Ozeane für mich absolut „sys-
temrelevant“ sind, wie es in der derzeitigen Krise so oft
heißt. Ohne ein Leben in den Meeren gibt es auch kein
Leben an Land. Das sollte uns immer klar sein.
Deswegen fordere ich Sie auf, die von der EU ge-
machten Vorschläge zu präzisieren und so zu fassen,
dass sie auch eindeutig und messbar sind. Mit schwam-
migen Wunschvorstellungen kommen wir nicht weiter.
Um die Meere zu schützen, brauchen wir klare Maßnah-
men:
Erstens müssen wir alle dafür sorgen, dass durch die
Landwirtschaft weniger Stickstoff und Nitrat in die
Flüsse und anschließend in die Meere gelangt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4401
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(D)(B)
Zweitens müssen wir endlich ein verbindliches und
einheitliches Entsorgungssystem für den Müll auf Schif-
fen durchsetzen.
Drittens sollten wir die Fischer zum Teil eines Entsor-
gungssystems machen: Für gesammelten Müll erhalten
sie eine Vergütung, die mit einer Gebühr für verlorene
Netze verrechnet wird.
Viertens müssen wir den Schiffsverkehr endlich in
den internationalen Klimaschutz einbeziehen und dafür
sorgen, dass mit sauberem Treibstoff statt mit Raffinerie-
rückständen gefahren wird.
Dies ist nur ein Teil der dringend notwendigen Maß-
nahmen, um die wertvollen Ressourcen der Meere auch
für die nächsten Generationen zu erhalten. Wir müssen
endlich bei der Nutzung der Meere nachhaltig handeln.
Wir haben es in der Hand und heute – am europäischen
Tag der Meere – müssen wir endlich damit beginnen.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Vereinfachung des Verfahrens nach der Grund-
stücksverkehrsordnung (Tagesordnungspunkt 20)
Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): Wir haben es
heute mit einem etwas sperrigen Thema zu tun: Wir spre-
chen über den Gesetzentwurf zur Vereinfachung des Ver-
fahrens nach der Grundstücksverkehrsordnung. Im Kern
geht es dabei darum, die Beschränkung der Verkehrsfä-
higkeit von Grundstücken in den neuen Bundesländern
auslaufen zu lassen. Momentan bedürfen Grundstücksge-
schäfte dort nämlich einer besonderen Grundstücksver-
kehrsgenehmigung durch die Ämter zur Regelung offe-
ner Vermögensfragen, um etwaige Restitutionsansprüche
nach dem Vermögensgesetz zu sichern.
Auch heute – etwa 20 Jahre nach dem Fall der Mauer
und der Wiedervereinigung – ist die Lösung der offenen
Vermögensfragen eine der wichtigsten und zugleich
schwierigsten Herausforderungen auf dem Weg zu einem
vollständig geeinten Deutschland. Deswegen ist es
ebenso wichtig wie richtig, sich mit dem Restitutionsver-
fahren auseinanderzusetzen und sich die derzeitige
Rechtslage genau im Hinblick auf den Verbesserungsbe-
darf anzusehen. Obwohl dieser Entwurf aus der Feder
meiner SPD-Kolleginnen und Kollegen stammt, lässt sich
sein Anliegen nicht von vornherein von der Hand weisen.
Das Gesetz soll nämlich, wie zu lesen ist, grundsätzlich
ermöglichen, dass Grundstücke, die nicht mit Rücküber-
tragungsansprüchen belastet sind, unbeschränkt am
Grundstücksverkehr teilnehmen können. Das ist vernünf-
tig. Gleichzeitig wollen die geschätzten Kolleginnen und
Kollegen von der SPD sicherstellen, „den Sicherungsge-
danken zielgenau zugunsten noch offener vermögens-
rechtlicher Ansprüche aufrechtzuerhalten“. Auch das ist
vernünftig. Richtig ist es obendrein; denn es gilt dem ver-
mögensrechtlichen Grundsatz „Rückgabe vor Entschädi-
gung“ in seiner jetzigen Form Rechnung zu tragen. Da-
von werden wir als Unionsabgeordnete auch nicht
abweichen.
Im Gesetzentwurf schreibt man nun, dass die Grund-
stücksgeschäfte innerhalb des Beitrittsgebiets durch das
derzeitige Verfahren belastet werden.
Man zählt auf, erstens, die zeitliche Verzögerung für
alle Beteiligten, zweitens, finanzielle Belastungen durch
Bereitstellungszinsen und Gebühren sowie, drittens, die
Behinderung von Investitionen in den ostdeutschen Län-
dern. Dieser Problemdarstellung kann ich mich durchaus
anschließen; denn es dürfte kaum zu bestreiten sein, dass
Genehmigungsverfahren – solche Verfahren dauern in
den vorliegenden Fällen um die drei Monate – nicht ge-
rade zur Verfahrensbeschleunigung beitragen. Wenn bei
diesen Genehmigungsverfahren in den allermeisten Fäl-
len keine Restitutionsansprüche im Raum stehen, kann
das vom Ergebnis her niemanden befriedigen. Dann er-
füllt die Grundstücksverkehrsordnung ihren Sicherungs-
zweck nämlich wirklich, wie im Gesetzentwurf zu lesen
ist, zunehmend auf Kosten des übrigen Grundstücksver-
kehrs.
Es bleibt also festzuhalten: Betrachtet man den Titel
des Gesetzes und das grundsätzliche Anliegen, könnte
ich dem Antrag im Grundsatz folgen. Doch wie so oft
steckt der Teufel im Detail. Schauen wir uns einmal an,
auf welcher Grundlage und wie Sie das Gesetzesziel er-
reichen wollen. Um bei den rechtstatsächlichen Annah-
men des Gesetzentwurfs anzufangen:
Sie behaupten, dass in Sachsen-Anhalt bereits mehr als
99 Prozent der grundstücksbezogenen vermögensrechtli-
chen Ansprüche beschieden werden konnten und dass in
den übrigen Ländern „überwiegend ein vergleichbarer
Abarbeitungsstand erreicht worden“ sei. Fundierte Daten
zu den anderen neuen Bundesländern bleiben sie indes
schuldig. Angesichts der durchaus unterschiedlichen
Ausgangslagen in den neuen Ländern habe ich meine
Zweifel, ob die Zahlen aus Sachsen-Anhalt tatsächlich
verallgemeinerungsfähig sind.
Doch wenden wir uns vorrangig dem vorgeschlage-
nen Anmeldeverfahren zu. Auch hier bin ich mir nicht so
sicher, ob dieses so vorteilhaft ist, wie es auf den ersten
Blick scheint. Freilich, die theoretischen Vorteile liegen
auf der Hand. Die vorgeschlagene Lösung über einen
Anmeldevermerk wäre geeignet, alle Grundstückstrans-
aktionen vom Genehmigungserfordernis auszunehmen,
in denen keine Restitutionsansprüche in Betracht kom-
men. Dies würde bei Grundstückskaufverträgen zu einer
beschleunigten Abwicklung und einer Kostensenkung
führen. Auch würde durch den Abwicklungsvermerk am
bewährten Verfahren nach der GVO festgehalten.
So sehr diese Vorteile aus Sicht der Betroffenen im
Grundstücksverkehr auch zu begrüßen wären: Der vor-
liegende Gesetzentwurf verschweigt uns leider auch
erhebliche Probleme bzw. blendet einige gravierende
Folgen einfach aus. Eintragung und Löschung des An-
meldevermerks erfordern zunächst ein neues Verfahren.
Auch das kostet Zeit und Geld. Der Gesetzentwurf sagt
nichts dazu, wie insbesondere die Löschung des Anmel-
devermerks zu gestalten ist. Allerdings wurde ein ähnli-
4402 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
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(D)(B)
ches Verfahren beim Sanierungsvermerk bereits mit Er-
folg erprobt, sodass ich hierin letztlich nicht das
entscheidende Problem sehe.
Viel erheblicher dürfte aber der Punkt sein, den der
Gesetzentwurf lapidar hinter dem Stichwort „einmaliger
Verwaltungsaufwand“ versteckt. Was steckt tatsächlich
dahinter? An die Restitutionsanträge wurden seinerzeit
keine hohen Anforderungen gestellt. Es kam lediglich
auf eine gewisse Bestimmbarkeit an, tagesaktuelle Ka-
tasterangaben wurden nicht verlangt. Diese Ausgangs-
lage hat aber Auswirkungen für die künftige Eintragung
eines Anmeldevermerks. Das Grundbuchamt bräuchte
für die Eintragung des Anmeldevermerks nämlich eine
präzise katastermäßige Bezeichnung des betroffenen
Flurstücks. Gibt es diese nicht – entweder weil es sie nie
gab oder weil die Grundstücke seit der Wende neu ver-
messen wurden –, was dann? Dann muss die begehrte
Eintragung eigentlich zurückgewiesen werden; denn
nachforschen dürfte das Grundbuchamt wohl nicht, da
das Verfahren „ohne inhaltliche Prüfungskompetenz des
Grundbuchamtes“ ausgestaltet werden soll. Es bliebe
also Sache der ersuchenden Ämter, sich darum zu küm-
mern oder den Eintragungsantrag sozusagen blindzustel-
len und zu schauen, was passiert. Das kann kaum befrie-
digen. Wenn andererseits für die Antragstellung
intensive Nachprüfungen erforderlich sind und diese den
Ämtern – in Person der Rechtspfleger – zugewiesen wer-
den, so resultieren daraus Kosten, und zwar nicht uner-
hebliche. Mit dem derzeitigen Personalbestand dürfte
der Arbeitsaufwand nämlich kaum zu bewältigen sein.
Wer diese Kosten finanziert, besagt der Antrag leider
nicht. Dies alles verbirgt sich hinter dem scheinbar
harmlosen „einmaligen Verwaltungsaufwand“.
Hieran schließt sich eine zweite, ebenso wichtige
Frage an: Wie ist mit den Folgen fehlerhafter Eintragun-
gen umzugehen? Eine gewisse Fehlerquote lässt sich
nach dem Vorgesagten kaum ausschließen. Fest steht:
Wird aus welchen Gründen auch immer kein Anmelde-
vermerk im Grundbuch eingetragen, verliert der Restitu-
tionsanspruch seine dingliche Sicherung. Denn die Pu-
blizität des Grundbuches trägt eine Richtigkeitsgewähr
in sich und vermittelt entsprechenden guten Glauben.
Ein Dritter könnte das Grundstück also gutgläubig er-
werben, auch wenn es tatsächlich restitutionsbehaftet ist.
Der eigentlich Berechtigte würde dann seinen Restitu-
tionsanspruch verlieren und ginge im Ergebnis leer aus.
Was würde dieser tun? Er würde sich wohl kaum klaglos
in sein Schicksal ergeben. Nein, er würde mit einiger Si-
cherheit den Staat in Haftung nehmen wollen. Zu diesem
Risiko besagt der vorliegende Gesetzentwurf leider auch
nichts.
Ebenso wenig finde ich zur umgekehrten Frage et-
was: Wie wollen wir künftig mit „offensichtlich unbe-
gründeten Restitutionsanträgen“ umgehen? Hierunter
fallen beispielsweise Personen, die zwischen 1945 und
1949 enteignet wurden, demnach an sich einen An-
spruch hätten, diesen aber aus bekannten Gründen auf-
grund der deutschen und europäischen Rechtsprechung
nicht erfüllt bekommen. Derzeit ist dieses Problem in § 1
Abs. 2 Satz 2 Grundstücksverkehrsordnung geregelt.
Aber künftig? Auch hierzu findet sich im Gesetzentwurf
der SPD leider nichts.
Ein weiterer Punkt dürfte in der Praxis eine nicht un-
erhebliche Rolle spielen. Ich spreche von der Publizität,
die das Restitutionsverfahren durch den Anmeldever-
merk erhält. Auf der einen Seite ist es natürlich gerade
Sinn und Zweck, den guten Glauben an die Eigentümer-
stellung am Grundstück bzw. dessen Lastenfreiheit zu
erschüttern. Auf der anderen Seite aber frage ich mich,
wie beispielsweise die rechtssichere Eintragung einer
Grundschuld zur Absicherung von Krediten nach dem
Jahr 2014 möglich sein soll. Nach der bisherigen Rechts-
lage war nur vor dem Eigentümerwechsel eine Genehmi-
gung nach der GVO einzuholen. Eine Belastung mit ei-
ner Grundschuld zugunsten einer Bank oder zugunsten
eines Wohnrechts zugunsten eines Familienangehörigen
ist ohne Genehmigung möglich. Und künftig? Wir soll-
ten uns diese Frage jedenfalls stellen. Auch sollten wir
uns die Frage stellen, ob das bisherige Rechtssystem in
diesem Punkt geändert oder angepasst werden soll.
Hierzu lese ich im Gesetzentwurf, wie gesagt, leider
nichts.
Kommen wir als Letztes zu dem von Ihnen vorgegebe-
nen 1. Januar 2014. Ich möchte noch einmal darauf hin-
weisen: Nach diesem Zeitpunkt sind alle bestehenden,
aber aus welchen Gründen auch immer nicht eingetrage-
nen Rückübertragungsansprüche wegen der Gutglau-
benswirkung des Grundbuchs gefährdet. Aus diesem
Grunde sollten wir auch diesen Zeitpunkt im weiteren
Verfahren genau überprüfen.
Ich möchte die wesentlichen offenen Fragen zusam-
menfassen: Erstens. Es ist ungeklärt, ob und inwieweit
die restitutionsbehafteten Grundstücke im Einzelfall
überhaupt identifiziert werden können. Hieraus folgt,
zweitens, dass eine erhebliche Fehlerquote zumindest
nicht ausgeschlossen werden kann, die, drittens, Staats-
haftungsansprüche nach sich ziehen können. Viertens,
der Anmeldevermerk würde es dem derzeitigen Eigen-
tümer wohl faktisch unmöglich machen, wie bisher
durch Grundschulden besicherte Kredite aufzunehmen.
Fünftens ist offen, wie mit „offensichtlich unbegründe-
ten Restitutionsanträgen“ umzugehen ist.
Es bleibt also festzuhalten: Das Ziel des Gesetzent-
wurfs, den – ich zitiere – „der GVO zugrundeliegenden
Sicherungsgedanken zielgenau zugunsten noch offener
vermögensrechtlicher Ansprüche weiter zu verfolgen“,
nicht mit Rückübertragungsansprüchen belasteten Grund-
stücken aber „eine unbeschränkte Teilnahme am Grund-
stücksverkehr zu ermöglichen“ teile ich. Allein der Weg,
der mit dem vorliegenden Gesetzentwurf verfolgt wird,
scheint mir nicht vollkommen und bis in die Details
durchdacht zu sein.
Burkhard Lischka (SPD): In Ihrem Koalitionsver-
trag haben Sie vereinbart, in dieser Legislaturperiode
Genehmigungsverfahren, die bundesgesetzlich geregelt
sind, zu überprüfen, zu verkürzen und zu beschleunigen.
Regeln, so heißt es in ihrem Koalitionsvertrag, sind kein
Selbstzweck, weshalb es nicht mehr Regeln geben soll
als erforderlich. Nun sehen wir Sozialdemokratinnen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4403
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(D)(B)
und Sozialdemokraten mit Sorge, dass sich diese Bun-
desregierung seit inzwischen einem halben Jahr in einer
Art Selbstfindungsprozess befindet und politische Auf-
gaben so beherzt anpackt wie ein Murmeltier im Winter-
schlaf. Bekanntlich kann der Winterschlaf eines Mur-
meltiers acht oder sogar neun Monate dauern. Ganz so
viel Zeit wollen wir Ihnen nicht lassen. Und deshalb le-
gen wir hier heute einen Antrag vor, mit dem Sie ganz
praktisch etwas zum Thema „Bürokratieabbau“ beitra-
gen können; einem Thema, dem Sie sich immerhin auf
vier Seiten Ihres Koalitionsvertrages unter der Über-
schrift „Investitionsbremsen lösen“ beschäftigen. Also,
bitte schön: Hier haben Sie die Möglichkeit, das zu tun.
Mit unserem Antrag wollen wir ein Genehmigungs-
verfahren beenden, dass es erstens nur in den ostdeut-
schen Bundesländern gibt, das zweitens Investitionen er-
schwert und verzögert und das drittens bei den
betroffenen Bürgerinnen und Bürgern Jahr für Jahr unnö-
tige Kosten in Millionenhöhe verursacht. Worum geht
es? Direkt nach der deutschen Wiedervereinigung wurde
in den ostdeutschen Bundesländern, einschließlich des
ehemaligen Ostteils von Berlin, ein Genehmigungsver-
fahren bei Immobilienkaufverträgen eingeführt: die so-
genannte „Genehmigung nach der Grundstücksverkehrs-
ordnung“. Danach musste bei jedem Immobilienvertrag,
von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, eine Geneh-
migung eingeholt werden, in deren Rahmen überprüft
wurde, ob hinsichtlich des verkauften Grundstücks ein
Rückübertragungsanspruch von einem Alteigentümer
vorliegt. Gab es einen solchen Rückübertragungsan-
spruch, so durfte das verkaufte Haus, das verkaufte
Grundstück nicht auf den Käufer übertragen werden. Lag
kein Anspruch vor, so konnte der neue Eigentümer ins
Grundbuch eingetragen werden. Nahezu jeder Kaufver-
trag über ein Grundstück, ein Ein- oder Mehrfamilien-
haus, eine gewerbliche Immobilie, eine Eigentumswoh-
nung, ein Erbbaurecht wurde in den letzten 20 Jahren
diesem Genehmigungsprozedere in den neuen Bundes-
ländern unterworfen. Und dieses Prozedere war und ist
eine immense Belastung für den Immobilienverkehr der
ostdeutschen Bundesländer. Auf die Erteilung der Ge-
nehmigung musste teilweise ein oder zwei Jahre gewartet
werden. Während dieser Zeit unterblieben – im Einzel-
fall millionenschwere – Investitionen, weil eine Eigen-
tumsumschreibung eben ohne diese Genehmigung nicht
möglich war. Immobilienkäufer mussten, während sie
auf die Genehmigung warteten, im Regelfall Bereitstel-
lungszinsen an ihre finanzierende Bank zahlen: oft vier-
und fünfstellige Beträge. Und: Jede Genehmigung – egal
ob ein Rückübertragungsanspruch vorlag oder nicht –
war und ist gebührenpflichtig. Allein in Sachen-Anhalt
mussten Immobilienerwerber im vergangenen Jahr fast
1 Million Euro an Gebühren für diese Genehmigung be-
rappen. Macht in 20 Jahren etwa 20 Millionen Euro nur
in Sachsen-Anhalt. Für alle ostdeutschen Bundesländer
und Berlin bedeutet das weit mehr als 100 Millionen
Euro Gebühren in den letzten 20 Jahren.
Wir Sozialdemokraten wollen diese Benachteiligung
des ostdeutschen Immobilienverkehrs, diese Benachtei-
ligung für Investitionen in den neuen Ländern beenden.
Dafür ist es 20 Jahre nach der Wiedervereinigung
höchste Zeit. Denn inzwischen sind über 99 Prozent der
Rückübertragungsansprüche abgearbeitet und entschie-
den. Konkret heißt das: Während im vergangenen Jahr
– allein in Sachsen-Anhalt – über 15 000 Immobilien-
verträge das Genehmigungsverfahren nach der Grund-
stücksverkehrsordnung durchlaufen mussten, waren
ganze 37 Grundstücke hiervon tatsächlich noch mit ei-
nem Restitutionsanspruch belastet. Es gibt Regionen in
Ostdeutschland, da gibt es schon seit Jahren keinen offe-
nen Restitutionsanspruch mehr; trotzdem muss für alle
Grundstücksverträge noch eine Genehmigung eingeholt
werden. Es ist jetzt schon absehbar, dass irgendwann in
naher Zukunft der letzte Rückübertragungsanspruch
rechtskräftig beschieden wird und trotzdem noch alle
Grundstücksverträge in den neuen Ländern diesem Ge-
nehmigungsverfahren unterworfen sind. Das ist Unsinn.
Und das wollen wir Sozialdemokraten beenden.
Deshalb schlagen wir vor, ab dem 1. Januar 2014 das
Genehmigungsverfahren nur noch auf diejenigen Grund-
stücke zu beschränken, für die tatsächlich ein Rücküber-
tragungsanspruch vorliegt, und den restlichen Immobi-
lienverkehr in den ostdeutschen Bundesländern von
dieser Investitionsbremse zu befreien und den gleichen
Regeln zu unterwerfen, wie sie für den Immobilienver-
kehr in den alten Ländern gelten. Ein riesiger Bürokratie-
aufwand würde damit entfallen: Investitionen werden be-
schleunigt, die Betroffenen sparen Zeit, Geld und Nerven,
und die Verwaltungen in den ostdeutschen Kommunen
und Landkreisen werden entlastet.
Wie sagen Sie so schön in Ihrem Koalitionsvertrag –
ich zitiere nochmals:
Wir halten an der Zielsetzung fest, die Lebensver-
hältnisse in Deutschland … bundesweit … anzu-
gleichen.
Also, bitte schön: Hier können Sie das ganz praktisch
und im Sinne der Bürger unter Beweis stellen.
Marco Buschmann (FDP): Die wesentliche Funk-
tion der Grundstücksverkehrsordnung ist die Sicherung
möglicher Rückübertragungsansprüche, die sich aus
dem Vermögensgesetz ergeben. Die dingliche Rücküber-
tragung soll nicht dadurch unmöglich werden, dass zu-
vor veräußert wurde. Hier sieht der Gesetzgeber schon
heute eine dingliche Sicherung vor. Vor Übertragung
muss zunächst geprüft werden, ob ein entgegenstehender
Übertragungsanspruch besteht. Der Vorschlag der SPD-
Bundestagsfraktion fordert lediglich den Ersatz einer be-
reits bestehenden dinglichen Sicherung durch eine neue.
Der hier vorliegende Vorschlag, einzelne Vorschriften
der Grundstücksverkehrsordnung, der Grundbuchord-
nung und des Vermögensgesetzes zu ändern, um den Si-
cherungsgedanken zielgenau zugunsten der noch offe-
nen vermögensrechtlichen Ansprüche zu gestalten, hat
in der Theorie durchaus einen gewissen Charme. Der
Gedanke, die Prüfung durch eine Eintragung ins Grund-
buch zu ersetzen, enthebt den vermeintlichen Erwerber
davon, auf das Ergebnis einer Prüfung warten zu müs-
sen.
4404 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
(A) (C)
(D)(B)
Praktisch ist dieser Vorschlag aber derzeit undurch-
führbar. Folge wäre ein unüberschaubarer Rechercheauf-
wand. Denn all die Recherchen, die bisher auf Antrag
und damit über die Zeit gestreckt erfolgen, müssten dann
quasi auf einen Schlag erledigt werden. Die notwendige
grundbuchgenaue Bezeichnung der Grundstücke würde
eine übergroße Belastung der Grundbuchämter durch
eine Vorratseintragung der Vermerke zur Folge haben.
Wie Sie sehen, setzt die Wirklichkeit dem Charme der
geforderten Gesetzesänderung Grenzen.
Um der Mehrbelastung in den Grundbuchämtern dann
Herr zu werden, hätte man zwei Möglichkeiten: Zum ei-
nen könnte man zusätzliches Personal einstellen – ein
Vorschlag, der mit Blick auf die Haushaltslage der öffent-
lichen Hand gleich wieder verworfen werden kann. Im
anderen Fall würden alle anderen Aufgaben in den
Grundbuchämtern liegen bleiben. Und das kann nicht ge-
wollt sein. Auch in Zukunft müssen etwa Grundbuchein-
tragungen möglichst zügig bearbeitet werden.
Diese massiven Belastungen in der Praxis werden si-
cher auch der Grund dafür gewesen sein, dass ein in-
haltsgleicher Antrag des Landes Sachsen-Anhalt im
Bundesrat bereits 2006 zu keiner Einigung zwischen den
betroffenen Ländern führte.
In meinen Augen sollte es zunächst Aufgabe der be-
troffenen Länder sein, sich hier über eine mögliche Re-
gelung zu verständigen und entsprechende Vorschläge
zu unterbreiten.
Heidrun Bluhm (DIE LINKE): Wir sollen uns hier
positionieren zu einem Gesetzentwurf, der die Anwen-
dung der Grundstücksverkehrsordnung verändert. Be-
vor ich das für meine Fraktion tue, möchte ich einige
Worte zum eigentlichen Grundübel der ganzen Ge-
schichte sagen.
Zur Sicherung von Restitutionsansprüchen von Alt-
eigentümern wurde 1993 das Gesetz „Rückgabe vor Ent-
schädigung“ von einer Koalition verabschiedet, wie sie
heute wieder vor uns sitzt. Dieses Gesetz führte nach
17 Jahren Anwendung in den neuen Bundesländern zu
zum Teil verheerenden Auswirkungen auf die Städte im
Osten. Schauen Sie nach Plauen im Vogtland: Hier ha-
ben viele Alteigentümer ihre Häuser zurückübertragen
bekommen. Nach Aussagen der Bauverwaltung haben
viele Eigentümer seit diesem Zeitpunkt ihre Immobilien
noch nicht ein einziges Mal persönlich besichtigt. Viele
haben bis heute keinen einzigen Cent in ihre Häuser in-
vestiert. Dort stehen mitten in den Altstadtvierteln Rui-
nen en gros. Die Mieter sind in die Plattenbauten gezo-
gen, und die Quartiere sind perforiert, soll heißen: ein
Haus kein Haus, ein Haus eine Bauruine. Heute gibt das
Land Sachsen Fördermittel an die Alteigentümer für den
Abriss ihrer Häuser, und auch das mit nur wenig Erfolg.
Ein anderes Beispiel ist Köthen, eine IBA-Stadt in Sach-
sen-Anhalt: Hier wird über homöopathische Rezepte im
wahrsten Sinne des Wortes versucht, die Eigentümer zu
provozieren, sich ihrer Häuser jetzt anzunehmen und der
Eigentümerverpflichtung endlich gerecht zu werden.
Auch Medienberichte zu Leipzig haben das Grundübel
des damaligen Gesetzes intensiv beleuchtet.
Heute ist also zu konstatieren, dass die Rückgabe der
Immobilien an die Eigentümer eine falsche Entschei-
dung war. Damit sind logischerweise auch alle Begleit-
gesetze und Verordnungen zur Durchsetzung dieser
Rückgabe falsch. Das, was die SPD hier heute beantragt,
könnte auf den ersten Blick vermitteln, dass es jetzt end-
lich an der Zeit sei, einen Mangel zu beseitigen. Aber
wie die SPD in ihrer Begründung bereits selbst einräumt,
handelt es sich dabei nur noch um eine ganz kleine
Gruppe von Menschen, die davon vielleicht profitieren
würde. Ich finde, dafür hätte die SPD in den vergange-
nen Jahren, wenigstens in der Zeit unter Kanzler
Schröder, genügend Zeit gehabt. Damals wären noch
mehr Alteigentümer in den Genuss der vermeintlichen
Vorteilsregelung dieses vorliegenden Gesetzentwurfes
gekommen. Heute betrifft das nur noch ganze 1 Prozent
aller Antragsfälle – ein bisschen viel Aufwand. Diesen
aber will die SPD gerade abbauen.
Ich fürchte, dass, so halbherzig wie die Sache ange-
gangen wird, keines der beschriebenen Probleme – wenn
es denn welche sind – gelöst werden kann. Ich fürchte
auch, dass das vorgeschlagene Prozedere nicht zu weni-
ger, sondern zu mehr Verwaltungsaufwand und damit na-
türlich auch zu mehr Kosten – wenn auch an anderer
Stelle – führt. Unsere Rückfrage in die Praxis von Nota-
riaten hat nämlich ergeben, dass nach dortiger Einschät-
zung der größte Teil der Grundstücksgeschäfte mittler-
weile gar nicht mehr dem Erfordernis einer Genehmigung
nach § 2 der Grundstücksverkehrsordnung, GVO, unter-
liegt. Wie sollen an dieser Stelle Verwaltungsaufwand
und Verwaltungskosten gesenkt werden, wenn hier unter
Punkt 6 noch ein weiterer zu prüfender Sachverhalt, näm-
lich der kreierte „Anmeldevermerk“, eingeführt werden
soll?
Auch diesbezüglich haben unsere Rückfragen erge-
ben, dass bei der Vielzahl von einzuholenden Genehmi-
gungen und Bescheinigungen im Grundstücksverkehr
gar nicht gesagt werden kann, ob darunter die Grund-
stücksverkehrsgenehmigung die meiste Zeit verbraucht
oder ob es – je nach örtlichen Gegebenheiten – eine Lö-
schungsbewilligung, die Beauflagungen aus einer Sanie-
rungssatzung, die Bedenken von Trägern öffentlicher
Belange oder andere „Zeitfresser“ sind.
Schließlich: Ihr zitiertes Beispiel aus Sachsen-Anhalt
zeigt, dass im Jahr 2009 durchschnittlich 56,33 Euro pro
Grundstücksgeschäft an Gebühren für die Erteilung der
Grundstücksverkehrsgenehmigung aufgewendet wurden,
was immerhin Einnahmen für die Landkreise von
846 000 Euro zur Folge hatte. Stattdessen entstünden bei
den Landesämtern oder den Mittelbehörden zur Rege-
lung offener Vermögensfragen und bei den Grundbuch-
ämtern Mehrkosten aus dem von ihnen vorgeschlagenen
„Anmeldevermerk“.
Nach Ihren Vorstellungen müssten zunächst die Grund-
stücke, für die keine vermögensrechtlichen Ansprüche
angemeldet sind, verwaltungstechnisch von jenen Grund-
stücken separiert werden, für die solche Ansprüche ange-
meldet, aber noch nicht abschließend bearbeitet sind. Das
wäre der erste zusätzliche Verwaltungsaufwand, der aus
Ihrer Systematik entstünde, der in Ihrem Begründungs-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 43. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010 4405
(A) (C)
(D)(B)
text aber keine Berücksichtigung findet. Für den verblei-
benden Rest der Grundstücke wollen Sie die Landesämter
bzw. die zuständigen Mittelbehörden zur Regelung offe-
ner Vermögensfragen verpflichten, die Grundbuchämter
zu ersuchen. Das ist dann schon der zweite zusätzliche
Verwaltungsaufwand. Der dritte zusätzliche Verwal-
tungsaufwand entstünde, wenn die Grundbuchämter – Ih-
rer Änderung der Grundstücksverkehrsordnung folgend –
einen Anmeldevermerk in Abteilung II des Grundbuchs
einzutragen hätten. Ein Vierter folgte automatisch aus der
Eintragung, nämlich bei der Löschung eben dieses An-
meldevermerkes. Das alles soll nichts kosten und Verwal-
tungsaufwand einsparen?
Fazit: Prüfen Sie bitte noch einmal, wie groß das Pro-
blem und der Handlungsdruck wirklich sind. Vielleicht
kommen Sie dann wie ich zu der Auffassung, dass die
Grundstücksverkehrsordnung in der Fassung der Be-
kanntmachung vom 20. Dezember 1993, zuletzt geän-
dert durch Art. 4 Abs. 44 des Gesetzes vom 22. Septem-
ber 2005, tatsächlich historisch überholt ist und ersatz-
und schadlos abgeschafft werden kann. Das wäre eine
wirkliche Einsparung von Verwaltungsaufwand.
später aufgrund berechtigter Ansprüche wieder heraus-
geben, ist er weitaus stärker geschädigt. Den Schutz des
Käufers nehmen Sie von der SPD auch weiterhin ernst.
Ich frage aber, ob die Schutzmechanismen, die Sie vor-
gesehen haben, reichen. Denn ich will ja nicht ein Haus
kaufen, und es später wieder herausgeben müssen.
Sie wollen den Käufer schützen, indem Sie in das
Grundbuch eintragen lassen, dass ein Anspruch auf
Rückübertragung gestellt worden ist. Das klingt erst ein-
mal gut. Denn spätestens der Notar wird dann darüber
aufklären, was es mit einem solchen Anspruch auf sich
hat und dass es alte berechtigte Ansprüche auf das An-
wesen gibt. Wenn man ihr Gesetz aber genau liest und
mit der alten Rechtslage vergleicht, ergibt sich doch ein
wichtiger Unterschied. Die Grundstücksverkehrsgeneh-
migung wird heute auch dann nicht erteilt, wenn nur eine
Mitteilung über einen solchen Restitutionsantrag einge-
gangen ist. Die Vormerkung kommt nach Ihrer Vorstel-
lung aber nur dann ins Grundbuch, wenn ein Antrag auf
Rückgabe auch wirklich gestellt wurde.
Was ich auch vermisse, sind Aussagen zu Anträgen,
die nicht von Privatpersonen, sondern von Institutionen
Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Der Antrag der Kolleginnen und Kollegen von der SPD
klingt auf den ersten Blick vernünftig. Wer wollte nicht
von einer lästigen Genehmigungserfordernis befreit wer-
den und Geld für eine Verwaltungsgebühr sparen? Die
Zahlen, die Sie dafür nennen, sind auch durchaus beein-
druckend.
Dass für jeden Kauf eines Grundstücks in den neuen
Bundesländern und in Ost-Berlin auch fast zwanzig
Jahre nach der Wiedervereinigung noch bescheinigt wer-
den muss, dass das Grundstück frei von Ansprüchen ist,
hat aber auch seinen Grund. Der Käufer soll geschützt
werden. Denn erwirbt er das Grundstück, muss es aber
gestellt worden sind.
Ich vermisse ganz konkret, was Sie für den Fall vor-
schlagen, wenn nur eine Mitteilung über einen Rück-
gabeantrag bei der Behörde vorliegt. Bisher heißt das: Es
wird keine Genehmigung erteilt. Ihr Gesetzentwurf sagt
dazu aber nichts, sodass ich annehme, dass es dann auch
zu einer Grundbucheintragung käme. Das wären dann
allerdings Steine statt Brot für die Käufer, die sich nur
eine Genehmigung sparen wollten, die in Berlin im
Höchstfall 250 Euro kostet und in der Praxis heute schon
binnen weniger Tage erteilt wird. Vielleicht haben Sie
auf diese Frage auch eine Antwort. Der Ansatz ist ver-
nünftig, die Antwort auf die Frage nach dem Käufer-
schutz warte ich ab.
43. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 20. Mai 2010
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5