Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Sitzung ist eröffnet.
Der Kollege Peter Hintze hat ebenso wie der Kollege
Manfred Nink vor wenigen Tagen seinen 60. Geburts-
tag begangen. Im Namen des ganzen Hauses gratuliere
ich dazu auch auf diesem Wege herzlich und wünsche al-
les Gute.
Die Kollegin Astrid Grotelüschen hat am 27. April
2010 auf ihre Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag
verzichtet. Als Nachfolgerin begrüße ich herzlich die
Kollegin Ewa Klamt.
Herzlich willkommen! Auf eine gute Zusammenarbeit!
Interfraktionell ist vereinbart worden, die heutige Ta-
gesordnung um eine Regierungserklärung der Bundes-
kanzlerin zu erweitern, die jetzt gleich zusammen mit
der ersten Lesung des Entwurfs des Währungsunion-Fi-
nanzstabilitätsgesetzes aufgerufen werden soll. Sind Sie
damit einverstanden? – Das ist offensichtlich der Fall.
Dann ist das so beschlossen.
Rede
Ich rufe also den Zusatzpunkt 1 sowie den Tagesord-
nungspunkt 1 auf:
ZP 1 Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin
zu den Maßnahmen zum Erhalt der Stabilität
der Währungsunion und zu dem bevorstehen-
den Sondergipfel der Euro-Länder am 7. Mai
2010 in Brüssel
1 Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Übernahme von Gewährleistun-
gen zum Erhalt der für die Finanzstabilität in
der Währungsunion erforderliche
fähigkeit der Hellenischen Repu
rungsunion-Finanzstabilitätsgesetz
– Drucksache 17/1544 –
zung
den 5. Mai 2010
.30 Uhr
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-
rung eineinhalb Stunden vorgesehen. – Auch hierzu höre
ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Die Bundesregierung hat amMontag vor dem Hintergrund der durch Griechenlandausgelösten Krise ein Gesetz zur Stabilisierung derWährungsunion in Europa beschlossen. Die Grund-lage für dieses Gesetz ist eine Ultima Ratio, also eineNotsituation. Die Notsituation besteht darin, dass Grie-chenland faktisch keinen Zugang zu den Finanzmärktenmehr hat. Daraus wären Auswirkungen auf die Stabilitättextdes Euro insgesamt entstanden. Das Vorliegen dieserNotsituation wurde durch die Europäische Zentralbank,die Europäische Kommission und den InternationalenWährungsfonds festgestellt. Dieser Notsituation soll miteinem Programm von IWF, EU-Kommission und EZBbegegnet werden.Das Programm hat eine Laufzeit von drei Jahren, wiealle Programme des Internationalen Währungsfonds. Eshat einen Umfang von insgesamt 110 Milliarden Euro.Der Internationale Währungsfonds wird davon 30 Mil-liarden Euro übernehmen. Die Euro-Zone übernimmt80 Milliarden Euro; der deutsche Anteil daran beträgtas bedeutet rund 22,4 Milliarden Euro inavon werden im ersten Jahr 8,4 Milliarden, in den Jahren 2011 und 2012 zusammenMilliarden Euro. Das Programm ist so ge-n Zahlungs-
28 Prozent, ddrei Jahren. DEuro anfalleninsgesamt 14staltet, dass Kredite gegeben werden. In Deutschland
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geschieht das durch die Kreditanstalt für Wiederaufbau.Für diese Kredite bürgt der Bund und damit in letzterKonsequenz der Steuerzahler, also wir alle.Das sind die nackten Zahlen, Daten, Fakten des Ihnenheute in erster Lesung vorliegenden Gesetzentwurfes.Diese nackten Zahlen, Daten, Fakten vermögen nichteinmal im Ansatz deutlich zu machen, wozu wir heutehier zusammengekommen sind. Wir sind heute hier zu-sammengekommen, weil wir in erster Lesung über einGesetz entscheiden müssen, das eine enorme Tragweitehat. Es ist – das kann nicht klar genug formuliert werden –von enormer Tragweite für Deutschland und für Europa.Die Überschrift dessen, was wir beraten – „Maßnah-men zum Erhalt der Stabilität der Währungsunion“ –,bringt diese Tragweite unzureichend zum Ausdruck.Worum es tatsächlich geht, wenn wir in diesem Hauseüber Maßnahmen zum Erhalt der Stabilität der Wäh-rungsunion beraten, müssen wir unmissverständlichbeim Namen nennen: Es geht um nicht mehr und nichtweniger als um die Zukunft Europas und damit um dieZukunft Deutschlands in Europa.
Das erlegt uns allen, die wir im Deutschen Bundestagunser Volk vertreten, sei es in der Regierung, sei es inder Opposition, eine außerordentlich große Verantwor-tung auf. Selten gibt es solche Situationen. Selten gibt esSituationen, in denen, erstens, ohne historisches Vorbild,zweitens, mit unmittelbarer Wirkung für den Augenblickund, drittens, mit weitreichender Wirkung für die Zu-kunft unseres Landes und Europas entschieden werdenmuss. Heute ist ein solcher Tag. Niemand kann uns, dengewählten Vertreterinnen und Vertretern unseres Volkes,diese Verantwortung abnehmen.Noch klarer wird die uns auferlegte Verantwortung,wenn wir uns vor Augen führen: Europa schaut heute aufDeutschland. Ohne uns, gegen uns kann und wird eskeine Entscheidung geben. Ohne uns, gegen uns kannund wird es keine Entscheidung geben, die ökonomischtragfähig ist und den rechtlichen Anforderungen sowohlmit Blick auf europäisches Recht als auch mit Blick aufnationales Recht in vollem Umfang Genüge tut.
In einem Wort: Mit uns, mit Deutschland, kann und wirdes eine Entscheidung geben, die der politisch-histori-schen Dimension der Situation insgesamt Rechnungträgt.
Ich bin fest überzeugt, dass Deutschland dieser Verant-wortung gerecht wird.
Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir heute, ei-nen Satz zu wiederholen, den ich in meiner Regierungs-erklärung am 25. März dieses Jahres, also in meiner Re-gierungserklärung vor dem letzten EU-Rat der Staats-und Regierungschefs, gesagt habe:Ein guter Europäer ist nicht unbedingt der, derschnell hilft. Ein guter Europäer ist der, der die eu-ropäischen Verträge und das jeweilige nationaleRecht achtet und so hilft, dass die Stabilität der Eu-rozone keinen Schaden nimmt.
Warnungen, Skepsis und Zweifel, ob es richtig war,Griechenland den Zugang zur Euro-Zone zu gewähren,hat es im Jahr der Entscheidung, also im Jahr 2000, zu-hauf gegeben. Es wurde auf die schlechte Wettbewerbs-fähigkeit Griechenlands hingewiesen, auf eine Überfor-derung des Landes insgesamt, unter dem Dach dereinheitlichen Währung die notwendigen Anpassungenzu vollziehen. Dennoch muss im Jahr 2000 bereits früh-zeitig eine vor allem politische Vorentscheidung zuguns-ten des Beitritts Griechenlands zur Euro-Zone gefallensein.Damit kein Missverständnis entsteht: Ich erwähnedies nicht, um in irgendeiner Form in eine Diskussionüber Schuldzuweisungen und Verantwortung einzutre-ten.
Ich erwähne dies nicht, um in eine Diskussion einzutre-ten, die sich hinsichtlich der damaligen Entscheidungetwa an die Adresse der damaligen rot-grünen Regierungrichten könnte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich führe eine solcheDiskussion nicht, weil sie, erstens, rückwärts gewandtwäre. Zweitens wäre sie völlig unergiebig; denn siewürde uns in keiner Weise von den Fakten befreien, mitdenen die heutige Regierung und die heutigen Abgeord-neten des Deutschen Bundestages umzugehen haben. Icherwähne diese Warnungen, diese Skepsis und die Zwei-fel aus einem anderen Grund. Ich erwähne sie, weil dashilft, dass wir uns über den Ernst der Lage keinerlei Illu-sionen mehr machen, dass wir uns dem Ernst der Lagestellen.
Dies kann in einem Satz zusammengefasst werden: Eu-ropa steht am Scheideweg.
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Mit Europa stehen alle 27 Mitgliedstaaten der Euro-päischen Union und die 16 Mitgliedstaaten der Euro-Gruppe am Scheideweg. Europa muss entscheiden, ob esden Weg der Vergangenheit fortsetzen will. Dieser Wegbestand zu oft darin, dass Probleme selten direkt beimNamen genannt wurden,
dass sie in der Folge nicht konsequent genug angegan-gen wurden, dass zu oft gehofft wurde, es werde sichschon alles regeln und irgendwie gut gehen.
Gut gemeint war nicht immer gut gemacht.
Europa muss sich entscheiden, ob es diesen Weg fort-setzen will,
dazu noch unter den Bedingungen der Globalisierungdes 21. Jahrhunderts, oder ob es erkennt, dass auch fürdie Union der 27 Mitgliedstaaten ein Zeitpunkt gekom-men ist, an dem sie ihre Kräfte vielleicht überschätzenkönnte, an dem sie von ihrer Substanz und über ihre Ver-hältnisse lebt, an dem sie von Fehlentscheidungen derVergangenheit eingeholt wird,
die sich nicht mehr verdecken lassen, sondern im Gegen-teil nur noch behoben werden können durch ein konse-quentes Aufdecken, durch eine schonungslose Analyseder Lage und eine daraus folgende Therapie.
Ich bin der Überzeugung: Dieser Zeitpunkt ist spätestensjetzt gekommen.
Die Bundesregierung hat sich deshalb für den zweitenWeg entschieden. Sie hat sich für den zweiten Weg ent-schlossen, weil sie überzeugt ist: Ein guter Europäer istnicht unbedingt der, der schnell hilft und damit vielleichtnur den Anschein erweckt, als ob er das Problem lösenwürde.
Ein guter Europäer ist vielmehr der, der die europäischenVerträge und das jeweilige nationale Recht achtet und sodazu beiträgt, dass die Stabilität der Euro-Zone und derganzen Europäischen Union keinen Schaden nimmt.
So, aber auch nur so kann es uns gelingen, den Kreis-lauf sich immer schneller und immer höher auftürmen-der Probleme zu durchbrechen. So beenden wir das Le-ben von der Substanz und über die Verhältnisse. Sodienen wir dem Wohl Europas und Deutschlands.
Auf dieser Grundlage hat die Bundesregierung in denVerhandlungen mit Europa auf allen politischen Ebenenvon Beginn an wieder und wieder deutlich gemacht,
dass wir Hilfen an Griechenland nur in strikter Überein-stimmung mit dem europäischen Recht und dem deut-schen Verfassungsrecht, das heißt, nur unter folgendenvier Voraussetzungen leisten werden und leisten kön-nen:Erste Voraussetzung. Der Schlüssel zur Lösung derKrise liegt in Griechenland. Wir haben darauf bestanden,dass Griechenland sich zu einer umfassenden Eigenan-strengung verpflichtet. Eine Konsolidierung ohne maxi-male Selbsthilfe Griechenlands hätte im Widerspruch zuden bei uns durch die Rechtsprechung des Bundesverfas-sungsgerichts und die europäischen Verträge abgesicher-ten Prinzipien der Stabilitätsgemeinschaft gestanden. Soetwas war mit mir nicht zu machen. Das hat die Bundes-regierung, ganz gleich, wie stark der Druck in Europaund Deutschland auch immer war, von Beginn an striktabgelehnt.
Seit Sonntag liegen der Bundesregierung die Einzel-heiten der geplanten Vereinbarung zwischen dem Inter-nationalen Währungsfonds, den 15 Mitgliedstaaten undGriechenland vor.
Aus dieser Vereinbarung wird deutlich: Griechenlandverpflichtet sich zu einer umfassenden, zu einer maxi-malen Eigenanstrengung. Das Land muss alles tun undtut alles, um seine exorbitante Staatsverschuldung ab-zubauen. Die Vereinbarung sieht einschneidende Maß-nahmen vor. Das Programm ist ehrgeizig. Es soll dieWettbewerbsfähigkeit Griechenlands erhöhen, damit dasLand seine Verschuldung aus eigener Kraft abbauenkann. Nur so lässt sich das Vertrauen der Kapitalmärkte
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wiedergewinnen. Dieses Programm erfüllt deshalb un-sere erste Voraussetzung.
Ich füge hinzu: Ich traue meinem griechischen Amts-kollegen, Ministerpräsidenten Papandreou, zu, diesesProgramm, auch wenn es eine wahrhaft gewaltige Auf-gabe ist, mit Unterstützung der europäischen Partner unddes IWF umzusetzen.
Zweite Voraussetzung. Der Internationale Währungs-fonds muss eingebunden werden. Wir haben daraufbestanden, auch wenn wir mit dieser Haltung in derEuropäischen Union zu Beginn in der Minderheit waren.Es ist der Internationale Währungsfonds, der mit seinenErfahrungen einen wertvollen – ich sage: unverzichtba-ren – Beitrag zu einer erfolgreichen Umsetzung des grie-chischen Sanierungsprogramms leistet. Ohne Deutsch-land wäre es zu einer Einbeziehung des IWF nichtgekommen.Zur Wahrheit des heutigen Tages gehört ein Weiteres:Auch das Programm Griechenlands mit den notwendi-gen Eigenanstrengungen hätten wir niemals erreicht,wenn Deutschland zu einem frühen Zeitpunkt, wie vonfast allen gefordert, finanziellen Hilfen ohne ausrei-chende Entscheidungsgrundlage zugestimmt hätte.
Vielmehr hätten wir das Gegenteil bewirkt. Eine früheHilfe ohne ausreichende Entscheidungsgrundlage hättenur die Erwartungen gesteigert, dass hochverschuldeteMitglieder der Euro-Zone ohne eigene Konsolidierungs-anstrengungen schnell mit großzügigen Hilfen rechnenkönnten.
Das hätte zu ähnlichen Destabilisierungen geführt wieeine grundsätzliche Verweigerung der Hilfen an Grie-chenland. Dem hat die Einbindung des IWF mit seinerlangjährigen Erfahrung bei der Sanierung von hoch-verschuldeten Staaten, bei der Erarbeitung eines Sanie-rungsprogramms und bei der konsequenten Überwa-chung der Umsetzung des Programms entgegengewirkt.
So, aber auch nur so schaffen wir es, in Europa zu dengewohnten Pfaden zu kommen und nicht so schnell zuglauben, ein Problem sei bereits gelöst, wenn es schnellgelöst wird, obwohl es in Wahrheit immer größer wird
und nachfolgende Generationen, wie heute uns, einesTages einholt, meine Damen und Herren.
Mit der am 26. März auf dem Rat der EU-Staats- undRegierungschefs beschlossenen Einbeziehung des IWFwurde also auch die zweite Voraussetzung erfüllt. Ichfüge hinzu: Sie hat sich, wie wir sehen, schon jetzt be-währt.Dritte Voraussetzung. Griechenland ist nicht mehr inder Lage, sich selbst auf den internationalen Kapital-märkten zu refinanzieren. Dies ist nicht allein ein Pro-blem Griechenlands, sondern Ausgangspunkt unabseh-barer Folgen für den gesamten Euro-Raum.
Deshalb gilt als vierte Voraussetzung: Die zu be-schließenden Hilfen für Griechenland sind alternativlos,um die Finanzstabilität des Euro-Gebietes zu sichern.Wir schützen also unsere Währung, wenn wir handeln.
Dazu haben die Europäische Zentralbank und dieEuropäische Kommission unmissverständlich dargelegt:Die sofortigen Hilfen sind das letzte Mittel zur Gewähr-leistung der Finanzstabilität im Euro-Gebiet insge-samt. Sie müssen erfolgen, damit es nicht zu einerKettenreaktion im europäischen und internationalenFinanzsystem und zu einer Ansteckung anderer Euro-Mitglieder kommt. Nachdem gerade das Gröbste derFinanzkrise des Jahres 2008 überwunden ist und sich dasEuro-Gebiet auf dem Weg der Erholung befindet, wür-den systemgefährdende Störungen der Finanzmärktediese Erholung zunichtemachen. Eine erneute Finanz-krise würde zu spürbaren Wohlstandsverlusten und zuhöherer Arbeitslosigkeit auch in Deutschland führen.Im Übrigen wird klar: So richtig es ist, alles dafür zutun, dass hemmungslosen Spekulationen an den MärktenEinhalt geboten wird
und Ratingagenturen klaren Regeln unterworfen werden,so unabweisbar ist es, der ganzen Wahrheit ins Auge zusehen. Ursache oder Auslöser für die Lage in Griechen-land und die Folgen für den ganzen Euro-Raum warennicht allein hemmungslose Spekulationen an den Märk-ten und das Verhalten der Ratingagenturen.
Der Tag der ganzen Wahrheit war vielmehr der 22. Aprildieses Jahres. An dem Tag meldete Eurostat beim grie-
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chischen Haushaltsdefizit eine nochmalige Korrekturnach oben an. Es wurde deutlich: Die von Griechenlandzu zahlenden Zinsen stiegen in exorbitante Höhe. EineRefinanzierung Griechenlands am Kapitalmarkt wurdepraktisch unmöglich. Damit stand die griechische Zah-lungsunfähigkeit unmittelbar bevor. Einen Tag später,am 23. April, hat Griechenland um Hilfe nachgesucht.Meine Damen und Herren, der Europäische Rat derStaats- und Regierungschefs hat am 25. März dieses Jah-res Griechenland für eine solche Situation Hilfen untergenau den genannten vier Bedingungen in Aussicht ge-stellt. Alle vier müssen erfüllt sein; keine einzige dieservier Voraussetzungen ist entbehrlich. Die Analysen desIWF, der Europäischen Zentralbank und der Europäi-schen Union lassen keinen Zweifel zu: Alle vier Voraus-setzungen sind jetzt erfüllt. Sie sind die Grundlage unse-rer Entscheidungen in dieser Woche, und sie markierenpolitisch wie rechtlich ihren Rahmen.Hinzu kommt die Klärung einer Beteiligung derGläubiger. Die Bundesregierung will in dieser Wocheeine Entscheidung, die auch die Verantwortung der Ban-ken und anderer Gläubiger deutlich werden lässt.
Der Bundesfinanzminister hat dazu Gespräche geführt.
Banken und Gläubiger dürfen sich ihrer Verantwortungnicht entziehen.
Deshalb begrüße ich, dass es hierzu ganz offensichtlicheine Bereitschaft bei Banken und Gläubigern gibt.
Besonders wichtig in diesem Zusammenhang ist, dassdie Finanzwirtschaft plant, bestehende Kreditlinien anGriechenland und griechische Banken bis 2012 aufrecht-zuerhalten.
Ich füge aber hinzu: Wenn sich die Banken von einemsolchen freiwilligen Beitrag erhoffen sollten, dass wirsie gleichsam als Gegenleistung bei einer Bankenabgabeoder anderen Maßnahmen entlasten,
dann haben sie sich gründlich getäuscht.
An dieser Stelle auch ein Wort zur internationalenFinanztransaktionsteuer. Der damalige Finanzminis-ter und ich haben uns beim G-20-Gipfel in Pittsburgh da-für eingesetzt, dass eine solche internationale Finanz-transaktionsteuer Realität wird.
Daraufhin hat es einen G-20-Beschluss gegeben, der denInternationalen Währungsfonds um Vorschläge gebetenhat,
in welcher Form man die Banken in die Verantwortungeinbeziehen kann.
Inzwischen liegen die Empfehlungen des InternationalenWährungsfonds für die nächste Tagung der G 20 in Ka-nada vor.
Der Internationale Währungsfonds unterstützt, dass wireine Bankenabgabe erheben, so wie es Deutschland vor-sieht.
Der Internationale Währungsfonds verwirft die Idee ei-ner internationalen Finanztransaktionsteuer.
– Ich würde an Ihrer Stelle einfach einmal zuhören. Siekönnten ja vielleicht noch etwas lernen. Wirklich: Ein-fach einmal zuhören.
Der Internationale Währungsfonds weist darauf hin,dass eine internationale Finanztransaktionsteuer auch dieRealwirtschaft trifft, und empfiehlt stattdessen eineBesteuerung der Gewinne und Gehälter der Banken.
Ich finde, wir tun gut daran, den Empfehlungen des In-ternationalen Währungsfonds eine große Beachtung zuschenken. Ich bitte auch die Opposition, sich mit diesenVorschlägen auseinanderzusetzen.
Ich sage auch in Richtung der Banken: Wenn jemandin unserer Gesellschaft eine Gegenleistung erbringenmuss, dann ist das nicht der Staat gegenüber den Ban-ken, sondern dann sind das die Banken gegenüber demStaat und damit gegenüber den Menschen in Deutsch-land. Aus dieser Verantwortung werden wir sie nicht ent-lassen, meine Damen und Herren.
Deshalb werden wir uns mit Nachdruck für weitereRegulierungsmaßnahmen bei Derivaten, Hedgefonds
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und Leerverkäufen in Europa und weltweit einsetzen;denn das Primat der Politik gegenüber den Finanz-märkten muss – das ist mein Ziel, das ist das Ziel derBundesregierung und sicherlich auch dieses Hohen Hau-ses – wiederhergestellt werden. Daran müssen wir arbei-ten, und dabei werden wir nicht ruhen, meine Damenund Herren.
Ein Zweites muss klipp und klar sein: Mit den jetzt zubeschließenden Maßnahmen für Griechenland kann esnicht getan sein. Die Stabilität des Euro muss langfristiggesichert werden. Wiederholungen müssen vermiedenwerden. Die wirtschafts- und finanzpolitische Koordi-nierung und die gegenseitige Überwachung in Europamüssen verbessert werden. Das muss auch ein Elementder neuen Wachstumsstrategie 2020 werden, die wirim Juni verabschieden. Ich kann mir beim besten Willennicht vorstellen, wie wir in wenigen Wochen dieseWachstumsstrategie verabschieden, ohne dass sie in kon-kreter Form in einem Zeitplan und ersten Maßnahmendeutlich macht, dass und wie Europa die Lehren aus die-ser Krise zieht. Es wird ein Wille zu stärkerer wirt-schafts- und finanzpolitischer Zusammenarbeit notwen-dig sein.Ich kann auch niemandem ersparen, dass dabei insbe-sondere die Aufmerksamkeit auf solche Mitgliedstaatengelenkt wird, die über keine ausreichende Wettbewerbs-fähigkeit verfügen. Dabei geht es nicht, um das gleichvorwegzusagen, um Schuldzuweisungen; es geht statt-dessen einmal mehr um die Abwendung von Schaden fürden gesamten Euro-Raum. Diese Abwehr von Schadenist – das ist meine Überzeugung – nur durch einen Wegder Offenheit, der Klarheit und auch der Schonungslo-sigkeit zu erreichen.
Wir haben die Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Euro-päische Währungsunion langfristig auf ein stabiles Fun-dament gestellt wird. Dazu gehört eine schnellere undstraffere Anwendung von Sanktionen gegen Euro-Mit-gliedstaaten, die ihrer Verpflichtung zur Senkung desDefizits unter 3 Prozent nicht nachkommen. Dazu gehörteine Diskussion um verstärkte und vor allem wirksameSanktionen bei Verstoß gegen den Stabilitätspakt.Ich sage es unmissverständlich: Teil dieser Sanktio-nen müssen auch Suspendierungen aus dem EU-Haus-halt sein. Wer sich nicht an die Maastricht-Defizitgrenzehält, der verwirkt einen Teil seiner Strukturfonds- oderAgrarmittel.
In letzter Konsequenz heißt das nichts anderes, als noto-rischen Defizitsündern zumindest vorübergehend dasStimmrecht zu entziehen. Für den äußersten Notfallmuss auch ein Verfahren für eine geordnete Insolvenz ei-nes Mitgliedstaates entwickelt werden.
In einem Satz zusammengefasst: Wenn zur dauerhaf-ten Erhöhung der Stabilität der Wirtschafts- und Wäh-rungsunion Vertragsänderungen unumgänglich sind– das sind sie mit großer Wahrscheinlichkeit –, dannsetzt sich die Bundesregierung, dann setze ich mich auchganz persönlich dafür mit allem Nachdruck ein. Wiemühselig und langwierig ein solcher Prozess auch immersein mag, das darf uns nicht daran hindern, das Richtigezu tun.
Meine Damen und Herren, ich bin überzeugt: Dassind wir den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landesschuldig, das sind wir unseren nachfolgenden Generatio-nen schuldig. Ich sagte es: Europa steht am Scheideweg.Die Entwicklung in Griechenland hat uns drastisch vorAugen geführt, wohin eine unsolide Haushalts- undFinanzpolitik führen kann. Es beweist sich auch für un-ser eigenes nationales Vorgehen als wegweisend, dasswir im vergangenen Jahr eine Schuldenbremse in unsereVerfassung aufgenommen haben; sie gilt ab dem nächs-ten Jahr.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Der jetzt vorgeschlagene Lö-sungsweg einschließlich der vierteljährlichen Überprü-fungen der Umsetzung des griechischen Programms bie-tet mehr Chancen als jede andere Alternative. Er bietetdie bestmögliche Gewähr dafür, dass der deutsche Steu-erzahler, der über den Bund für die Kredite der Kreditan-stalt für Wiederaufbau bürgt, von einer Inanspruch-nahme verschont bleibt.1997 hat die Bundesregierung von Helmut Kohl,Theo Waigel und Klaus Kinkel darauf bestanden, dassder Europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt ein-geführt wird. Die Aufgabe meiner Regierung und allerMitglieder dieses Hauses heute ist es, darauf zu beste-hen, dass dieser Stabilitätspakt durchgesetzt wird, ihn zuverteidigen und ihn als Lehre aus dieser Krise weiterzu-entwickeln.
Wir müssen ihn so ausgestalten, dass er nicht mehr un-terlaufen werden kann, sondern strikt einzuhalten ist. Sowie die Regierung Helmut Kohl 1997 größte Wider-stände überwinden musste, so muss auch unsere politi-sche Generation heute große Widerstände überwinden.
Deutschland, der stärksten Wirtschaftsnation Euro-pas, kommt in dieser Lage eine besondere Verantwor-tung zu, und Deutschland nimmt diese Verantwortungwahr.
Die glückliche Geschichte Deutschlands nach demZweiten Weltkrieg, die Entwicklung zu einem freien, ei-nigen und starken Land ist von der parallel verlaufenenGeschichte der Europäischen Union nicht einmal in Ge-danken zu trennen. Die europäische Einigung ihrerseits
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Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
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ist ohne die deutsche Beteiligung überhaupt nicht vor-stellbar. Deutschland lebt in der Europäischen Union ineiner Schicksalsgemeinschaft. Ihr verdanken wir Jahr-zehnte des Friedens, des Wohlstands und des Einverneh-mens mit unseren Nachbarn. Der Krieg, der – nicht zu-letzt durch deutsche Schuld – immer wieder Europaverwüstet hat, verschont unseren Kontinent inzwischenso lange wie nie zuvor in der jüngeren Geschichte.Wir Bürgerinnen und Bürger Europas sind zu unse-rem Glück vereint. Für diese Überzeugung hat noch jededeutsche Bundesregierung – von Konrad Adenauer bisheute – gearbeitet. Wir arbeiten für ein starkes Europa,das seine Rolle in der Welt geeint und entschieden wahr-nimmt, das seine Werte und Interessen selbstbewusstverteidigt. Das war, ist und bleibt Deutschlands und Eu-ropas Zukunft.Ich bitte Sie heute um Ihre Zustimmung zu dem vor-liegenden Gesetzentwurf.
Mit ihm schützen wir die Bürger unseres Landes,
mit ihm treffen wir die notwendigen Entscheidungen fürDeutschland, für die Bürgerinnen und Bürger unseresLandes, und mit ihm leisten wir zusammen mit unserenPartnern in Europa unseren Beitrag für eine gute ZukunftEuropas – denn es geht um die Zukunft Europas.Herzlichen Dank.
Ich eröffne die Aussprache.
Das Wort erhält zunächst der Kollege Dr. Frank-
Walter Steinmeier für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Die Entscheidung, die wir in dieser Woche im DeutschenBundestag zu treffen haben, ist über die Jahre gesehenvielleicht die folgenreichste und deshalb schwerste Ent-scheidung, die wir zu treffen haben. Dies ist eine Ent-scheidung, die die Menschen – wir haben das auf denStraßen erleben können – ganz ohne Zweifel verun-sichert und beunruhigt.Was wir hier erleben – das sage ich in Erinnerung anmanche Wortbeiträge auch von Beteiligten hier aus die-sem Hohen Hause –, ist aber keine Griechenland-Krise,sondern das ist ein bisschen mehr als das: Das ist diegrößte Belastungsprobe für die europäische Integra-tion seit den Römischen Verträgen. Ich habe bei denÄußerungen in den letzten Tagen nicht immer den Ein-druck gehabt, dass das jedem aus den Koalitionsfraktio-nen hier bewusst war.
Frau Bundeskanzlerin, deshalb verbitten wir uns jedeselbstgerechte Belehrung in der Form, wie wir sie ebengehört haben.
Es ist doch eine Frechheit, uns, der SPD-Fraktion, zu er-klären, die Beiziehung des IWF sei notwendig gewesen.Wer von den Kolleginnen und Kollegen hat das in derVergangenheit bestritten?
Sie und die Regierung haben geschwankt wie ein Rohrim Wind und erklären das nachträglich zur Strategie.Das ist doch so durchsichtig wie nur irgendetwas.
Um aber allen Missverständnissen, den gewollten wieden ungewollten, von vornherein den Boden zu entzie-hen, sage ich, meine Damen und Herren: Jawohl, daseuropäische Rettungspaket muss sein, die deutsche Be-teiligung daran auch. – Wir haben den Weg dafür geöff-net, dass ohne kleinliche Streitereien über das Verfahrenhier im Hohen Hause des Deutschen Bundestages in die-ser Woche entschieden werden kann. Frau Merkel, wirwerfen Ihnen nicht vor, dass Sie handeln. Im Gegenteil:Wir werfen Ihnen vor, dass Sie erst jetzt handeln. DasUnheil, dass Sie bis hierhin angerichtet haben, ist näm-lich gewaltig.
Hier vorne sitzt der Kollege Poß aus meiner Fraktion.
Er hat Ihrem Finanzminister am 11. Februar dieses Jah-res geschrieben und ihn gefragt: Was ist los? Was ge-denkt die Regierung in der Causa Griechenland zu tun? –Das hat er sich ja nicht selbst ausgedacht,
sondern er hat ein bisschen auf die Finanzmärkte ge-schaut
und gesehen: Da ist etwas beunruhigend in Bewegunggeraten; da gibt es angriffslustige Hedgefonds, die Spe-kulationswellen gegen Griechenland losgetreten undden Wert des Euro ins Sinken gebracht haben.Im Februar war doch schon erkennbar, dass Griechen-land ganz gefährlich ins Trudeln geriet. Wer das hörenund sehen wollte, der konnte einigermaßen wissen, wasda auf uns zukommen würde. Das war der Zeitpunkt, zuhandeln, und da hätte eine gute Regierung mit einemKrisenmanagement begonnen, das Parlament hier infor-miert
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3728 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Mai 2010
Dr. Frank-Walter Steinmeier
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und Handlungsoptionen ausgeleuchtet. Das wäre einvernünftiges Krisenmanagement gewesen. Nichts da-von! Ich habe es nicht gesehen. Stattdessen Verschieben,Verschleiern, Schönreden.Erst hieß es: „Es wird schon nicht so schlimm kom-men“, dann wurde es eine Zeit lang zum griechischenProblem erklärt, dann begann – das habe ich doch in gu-ter Erinnerung – diese merkwürdige Taktiererei rund umden 9. Mai dieses Jahres. Wir haben sehr wohl gespürt,dass viele bei Ihnen gehofft haben, dass der griechischeAntrag erst am 14. Mai kommt und nicht bereits Endedes vergangenen Monats. Es kam dann doch anders.Die Krönung – ich kann nicht darauf verzichten, dashier zu erwähnen – war aber doch dieses Theater, beidem ich bis heute nicht weiß, wer eigentlich die ent-scheidenden Rollen besetzt hatte: auf der einen Seite dieBundeskanzlerin auf einem Bismarck-Sockel auf Seite 2der Bild-Zeitung mit dem Motto „Kein Euro für Grie-chenland“ und auf der anderen Seite gleichzeitig dasSignal des Finanzministers an die Europäer: Am Endewerden wir bei diesem Rettungspaket von Europa schonmitmachen. – Das ist unanständig. So geht man mit demParlament und der Öffentlichkeit nicht um.
Frau Merkel, die Regierungserklärung, die Sie geradeabgegeben haben, war keine Werbung für eine breite Zu-stimmung hier im Parlament.
Ich bin auch nicht mit dieser Erwartung hierhergekom-men; das sage ich ganz ehrlich. Ich hätte aber Verständ-nis dafür gehabt, wenn Sie gesagt hätten: Für eine Ent-scheidung von einer solchen Tragweite brauchen wireine stärkere Mehrheit als nur die Mehrheit der eigenenKoalitionsfraktionen. – Ich unterstelle Ihnen auch durch-aus, dass Sie nicht nur deshalb ein Interesse daran haben,weil Sie sich Ihrer eigenen Mehrheit unsicher sind. Dennauch ich sage aus meinem Demokratieverständnis he-raus: Es wäre gut, wenn bei Entscheidungen solcherTragweite die im Deutschen Bundestag vertretenen Par-teien nicht Lichtjahre und Galaxien voneinander entferntwären. Deshalb habe ich öffentlich wie auch in Gesprä-chen mit Herrn Schäuble und Ihnen gesagt: Ich schließenicht aus, dass wir am Freitag zu einer gemeinsamenEntscheidung kommen. Aber ich habe ebenso deutlichund auch das von Anfang an gesagt: Eine Zustimmungzu einer nackten Kreditermächtigung wird es mit derSPD im Deutschen Bundestag nicht geben.
Das ist keine Antwort auf die Bedrohung, erst rechtkeine angemessene.Ich will noch hinzufügen: Das Verhalten der letztenWoche – ich habe es kurz skizziert – hat uns eine mögli-che Einigung am Freitag nicht gerade erleichtert. Wennsich das ändern soll, Frau Merkel, dann müssen Sie IhrVerhalten und das Verhalten der Regierung ändern.
Sie haben wochenlang versucht, uns herauszuhalten. Esgab wochenlang nicht den Ansatz eines Versuchs, ent-weder – das wäre ja auch möglich gewesen – ein Paketmit einer eigenen Konzeption vorzulegen, wie man mitder Causa Griechenland und den Folgen umgehen will,oder uns, die Opposition, einzuladen und sich anzuhö-ren, welche Gedanken, Ideen und Vorschläge wir haben,um miteinander ins Gespräch zu kommen.Ich habe früher immer gesagt: Eine gute Regierungmuss funktionieren wie Brandschutz. Sie muss Gefahrenanalysieren, vorausschauend handeln und vor allen Din-gen entschlossen führen. Diese Regierung ist keinBrandschutz für Deutschland. Sie haben die Dinge trei-ben lassen und rufen jetzt, wo es lichterloh brennt, nachder Feuerwehr. Ein bisschen spät, würde ich sagen.
Wenn es nur das wäre, dann hätte ich darauf verzichtet,dies zu erwähnen. Entscheidender ist, finde ich: Siebeide, Kanzlerin und Vizekanzler, haben auf der Brückegefehlt, als das Schiff in Seenot geraten ist.
Sie haben es einfach laufen lassen, als die Neunmal-klugen bei Ihnen gerufen haben: „Mir gebbet nix!“,oder: „Sollen die Griechen doch ein paar Inseln verkau-fen“. – Wo war da Führung? Wo war da Krisenmanage-ment, Frau Merkel? – Nichts davon.
Das war kein Krisenmanagement, sondern es war im-mer auch – lassen Sie mich das so offen sagen – ein biss-chen Schielen auf den Boulevard.
Das war das Doppelspiel, das uns in Europa enormesVertrauen und Ansehen gekostet hat.
Sie haben in den letzten Tagen viel mit Europäern ge-sprochen. Das habe ich auch getan, und ich sage Ihnen:Keine Bundesregierung hat es geschafft, in so kurzerZeit so viel Ansehen und Vertrauen zu verspielen wie Siein diesen Tagen.
Ich darf Ihnen jedenfalls versichern: Wir Sozialdemo-kraten wissen und stehen dazu: Ohne den Euro hätten
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Mai 2010 3729
Dr. Frank-Walter Steinmeier
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Europa und Deutschland in der Weltwirtschaft keine Zu-kunft. Ohne den Euro hätte uns diese Finanz- und Wirt-schaftskrise noch sehr viel härter getroffen als jetzt. Esglaube doch bitte niemand, auch nicht in diesem Hause,dass wir nur eines der Probleme, mit denen wir umzuge-hen haben, gelöst hätten, wenn die Menschen in Grie-chenland wieder in Drachmen, in Italien in Lira und inSpanien wieder in Peseten zahlten. Nicht ein einzigesProblem wäre dadurch gelöst. Aber dies den Menschenzu erklären, Frau Merkel, ist Aufgabe einer Regierung.Das ist Ihre Aufgabe. Das hätten Sie den Menschen sa-gen müssen. Jetzt steckt die Karre für alle sichtbar imDreck.
Auf Dauer gesehen – das ist meine feste Überzeu-gung; sie bleibt es auch bei den gegenwärtigen Schwie-rigkeiten – ist ein starkes Europa die richtige, mittel-und langfristig vielleicht sogar die einzige Antwort aufeine sich verändernde Weltwirtschaft. Das ist doch – sohabe ich es immer verstanden – unser Gegenentwurf zueiner regellosen Welt.Deshalb müssen wir diesen Entwurf aufrechterhaltenund Europa stärker machen, statt lästerlich darüber indieser Weise zu reden, wie das in letzter Zeit geschehenist.
Das meine ich politisch, ich meine es aber auch wirt-schaftlich. Wir in Deutschland wären doch die Haupt-leidtragenden – Sie wissen das alles doch –, wenn dieStabilität in der Euro-Zone dauerhaft in Gefahr ge-riete. Zwei Drittel unserer Exporte gehen in die Staatender Europäischen Union. Die deutsche Wirtschaft spartjedes Jahr rund 10 Milliarden Euro, weil sie im Euro-Raum keine Kurssicherungsgeschäfte mehr machenmuss. Die Kredite für Griechenland sind deshalb – las-sen Sie es mich noch einmal sagen – eben nicht nur eineFrage europäischer Solidarität. Sie sind auch ein Gebotwirtschaftlicher Vernunft. Das sieht die Sozialdemo-kratie nicht anders als der eine oder andere hier im Ho-hen Haus.
All das, was ich Ihnen vorgetragen habe, ist wichtig.Aber das trifft noch nicht den Kern; darüber möchte ichjetzt noch reden. Es geht um Griechenland, es geht umdie Währungsunion, es geht um Europa. Ja, das stimmt.Aber wir sind in der jetzigen Entscheidungssituationauch an einem Punkt, an dem es um noch mehr geht. Ichkann es nicht kleiner sagen: Es geht um das Vertrauender Menschen in die Gestaltungskraft der Politiküberhaupt. Es geht auch um das Fundament unsererDemokratie.
Warum sage ich das? Sie spüren doch genauso wie wir,dass hinter dem ganzen Unbehagen, das uns begegnet,eine tiefe, große Sorge, an der wir nicht vorbeigehenkönnen, steckt, eben die Sorge, dass die Politik die inter-nationalen Finanzmärkte nie und nimmer unter Kon-trolle bekommt, dass anonyme Hedgefonds – darüberhabe ich bereits gesprochen – nicht nur mit Banken, son-dern am Ende auch mit Staaten Monopoly spielen kön-nen, weil das Börsenkasino noch immer keine Regelnhat. Viele Menschen zweifeln daran – Sie hören und spü-ren das doch auch –, dass die Politik am Ende etwas ge-gen die Macht der Finanzwelt ausrichten kann. Der Kerndes Problems ist doch die scheinbare Hilflosigkeit derPolitik gegenüber den Finanzmärkten. Das untergräbtdas Vertrauen der Menschen. Das ist die Grundsatzfrageder Demokratie, über die wir in einem solchen Zusam-menhang auch reden müssen.
Deshalb sage ich: Wir müssen weiterdenken und mu-tiger handeln, als die Bundesregierung das gegenwärtigplant. Wir müssen an die Ursachen der Krise herange-hen. Wir müssen die Lasten der Krise gerecht verteilen.Ich frage Sie: Wann, wenn nicht jetzt in einer solchenKrise nicht nur der Währungsunion, sondern ganz Euro-pas, sollen wir handeln? Jetzt ist der Zeitpunkt, zu han-deln.
Frau Merkel, machen Sie also Ernst! Keine Lippenbe-kenntnisse mehr! Ich fordere Sie auf: Verbieten Sieungedeckte Leerverkäufe! Verbieten Sie spekulativeKreditversicherungen! Sorgen Sie für eine strengereÜberwachung der Hedgefonds! Regulieren Sie die Ra-tingagenturen! Schaffen Sie eine europäische Rating-agentur! Sorgen Sie für einen Finanz-TÜV!
– Hören Sie einen Augenblick zu! Sie kommen auchdran. – Ja, wir sind auch mit Ihnen der Meinung: Wirmüssen noch einmal an den Stabilitätspakt herangehen.Wir brauchen mehr Transparenz und mehr Effektivitätbei der Kontrolle der Haushalte der Mitgliedstaaten. Dahaben wir zu wenig getan und durchgesetzt. Wir brau-chen – auch davon bin ich überzeugt – einen neuen Kri-senmechanismus.
Aber der entscheidende Punkt, auf den ich nun zusprechen komme, ist: Die Kosten dieser Krise dürfen– das ist unabdingbar – nicht wieder einseitig auf denSteuerzahler abgeladen werden. Da brauchen wir ein an-deres Verhalten.
Die Menschen erwarten dringend, dass wir mit dem Ver-sprechen Ernst machen, dass auch die Verantwortlichenbeim Tragen der Kosten herangezogen werden. Ich sageIhnen: Mit ein paar Schautreffen mit Bankern – mehrwar das bisher nicht – wird das nicht gelingen. Wir brau-chen eine ernsthafte Beteiligung der Banken mit dauer-
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3730 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Mai 2010
Dr. Frank-Walter Steinmeier
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haften Beiträgen. Dafür kenne ich nur ein Instrument.Das ist die Finanztransaktionsteuer. Über dieses In-strument müssen wir miteinander reden.
Es gibt kein anderes Instrument. Deshalb fordern wirUnion und FDP auf: Gehen Sie diesen Weg zur interna-tionalen Finanztransaktionsteuer, zur europäischenFinanztransaktionsteuer. Lassen Sie uns bis Freitag nichtnur darüber reden. Wenn Sie an einer gemeinsamen Ent-schließung hier im Deutschen Bundestag interessiertsind, dann muss das in dieser gemeinsamen Entschlie-ßung stehen.
Ich habe Ihre diesbezügliche Argumentation ebennicht so richtig verstanden, Frau Merkel. Ich habe mirIhre Texte dazu angeschaut. Sie haben im Januar 2010erklärt:Wir setzen uns für eine internationale Finanztrans-aktionssteuer ein. Eine solche weltweit eingeführteSteuer kann überbordende Spekulationen dämpfenund einen Beitrag leisten, die finanziellen Lastender Krisenbewältigung in fairer Weise zu tragen.Recht hatten Sie damals, Frau Merkel! Aber halten Siesich auch hier im Deutschen Bundestag an diesen Be-schluss! Tun Sie als Bundeskanzlerin nicht das Gegen-teil von dem, was Sie als Parteivorsitzende fordern!
Ein bisschen Erfahrung haben auch wir in den Ge-sprächen gesammelt. Ich weiß, dass es in den Koalitions-fraktionen unterschiedliche Auffassungen gibt. Es gibtden einen oder anderen, der einem unter der Hand sagt:Eigentlich wären auch wir für die Transaktionsteuer,aber die FDP macht da nicht mit. – Dazu sage ich Ihnen,Frau Merkel: Das sind Fragen, bei denen Führung ange-sagt ist. Ich rufe Ihnen zu: Geben Sie den Lobbyinteres-sen nicht nach, auch nicht der FDP!
Glauben Sie nicht denen, die jetzt schon wieder von ei-ner Bedrohung der Finanzmärkte reden bzw. darüberschwadronieren! Diese Bedrohung gibt es nicht bei einerBelastung von 0,05 Prozent pro Transaktionsvorgang.Wir sind es, die bedroht sind, wenn wir nicht handeln. Sosieht es aus, Frau Merkel.
Man kann nicht auf der einen Seite, meine Kollegin-nen und Kollegen von der FDP, die letzten Möglichkei-ten für gestaltende Politik, die wir noch haben in derKlemme, in der wir in Deutschland sind, durch unverant-wortbare Steuersenkungen verschenken und auf der an-deren Seite auch noch auf mögliche Einnahmen verzich-ten. Was sollen denn die Leute von uns halten?
– Nein, das ist es nicht. – Was sollen denn die Leute vonuns halten? Sie geben doch im Grunde genommen denje-nigen recht, die im Augenblick öffentlich erklären: Füralles haben die Geld, aber nicht für eine ordentlicheStraße oder eine ordentliche Schule in meiner Ge-meinde. –
Sie müssen doch, wenn die Möglichkeit besteht, dafüreintreten und dafür kämpfen, dass mit dem Instrumenteiner Finanztransaktionsteuer Geld in die Kasse kommt,mit dem wir in Deutschland Politik machen können. Siebrauchen es und Ihre Nachfolgeregierungen auch.
Deshalb meine herzliche Bitte: Denken Sie nicht in denSchablonen von Parteiprogrammen, denken Sie an dieZukunft dieses Landes.
– Wir werden uns bei dem Thema wiedertreffen.Es geht um Griechenland, es geht um den Euro. Daswird das Thema bleiben. Vor allen Dingen geht es aberum Handlungsfähigkeit von Politik. Wenn wir jetzt nichtnach vorne denken, wenn wir jetzt nicht bereit sind, mu-tig zu handeln, dann haben alle diejenigen recht, die sa-gen: Das Rennen zwischen der Politik und den Märktenfindet statt, aber ihr tretet nicht wirklich an. Ihr wollt garnicht gewinnen. Ihr wartet geduldig ab, bis das nächsteUnheil über euch zusammenbricht.
Ich sage: Eine solche Haltung verträgt unsere Demokra-tie nicht.
Lasst uns gemeinsam um Spielräume für Hand-lungsfähigkeit von Politik kämpfen! Lasst uns dafürsorgen, dass wir sie da, wo sie verloren gegangen sind,wo wir sie eingebüßt haben, zurückerobern. Das sind wirden Menschen in Deutschland und der Demokratie indiesem Lande schuldig.Herzlichen Dank.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Mai 2010 3731
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Das Wort erhält nun die Kollegin Birgit Homburger
für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieLage Griechenlands stellt Europa vor die bisher größteHerausforderung. Es ist eine Bewährungsprobe für dieEuro-Zone, aber auch für die Bundesregierung und fürdieses Parlament.Es geht um die Frage, ob die ZahlungsunfähigkeitGriechenlands und damit eine Destabilisierung des Euroverhindert werden kann. Wir lassen uns bei unseren Ent-scheidungen von dem Ziel leiten, die Stabilität der Wäh-rung zu gewährleisten, und wir lassen uns von den Inte-ressen der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland undEuropa leiten. Wir spannen einen Schutzschirm für denEuro.
Wir sichern die Währungsstabilität und retten damit dieErsparnisse der Bürgerinnen und Bürger. Mit diesem Ge-setzentwurf ziehen wir eine Brandmauer, damit die Kriseeines Staates nicht auf den gesamten Euro-Raum über-springen kann.
Die FDP und die Koalition sind sich ihrer Verantwor-tung bewusst. Es ist eine große Verantwortung, und wirhandeln im Bewusstsein dieser Verantwortung. Ich sageganz deutlich: Die Bundesregierung hat überlegt undklug gehandelt. Das, Herr Steinmeier, ist auch öffentlichdeutlich geworden, wie man an den Äußerungen in denletzten Tagen und Wochen erkennen kann. Aber das, wasSie gemacht haben, indem Sie der Bundesregierung öf-fentlich immer wieder vorgeworfen haben, sie betätigesich als Brandbeschleuniger, ist unverantwortlich.
Dass Sie hier von der Finanzierung öffentlicher Straßendurch eine Finanzmarkttransaktionsteuer sprechen, istpurer Populismus, Herr Steinmeier. Das müssen Sie sichan dieser Stelle sagen lassen.
Viele von uns – auch das gehört zur Wahrheit an ei-nem solchen Tage – tun sich mit der Entscheidungschwer. Jeder von uns weiß um die Tragweite und dieBedeutung dieser Entscheidung. Deshalb ist es gut, dasswir ausführlich und intensiv im Deutschen Bundestagberaten und die Alternativen abwägen. Das haben wir inden Fraktionen getan. Unsere Koalition steht hinter demGesetzentwurf. Anders als bei Vorgängerregierungen,Herr Oppermann, müssen wir nicht durch Vertrauensfra-gen zur Verantwortung gezwungen werden.
Wir werden unserer Verantwortung gerecht werden, undwir werden Ihnen keine Hintertür öffnen, durch die Siesich von Ihrer Verantwortung verabschieden könnten.Wir handeln im Interesse der Menschen in Deutsch-land und Europa, und wir handeln im Interesse derStabilität unserer Währung. Wir Freien Demokratensind unserer Verantwortung übrigens auch in der Oppo-sitionszeit, beispielsweise beim Finanzmarktstabilisie-rungsgesetz, gerecht geworden. Wenn es in Deutschlandum Stabilität für die Bürgerinnen und Bürger geht, dannsteht die FDP dafür ein. Diesen Beweis, Herr Steinmeier,müssen andere Fraktionen hier im Deutschen Bundestagin dieser Woche erst noch erbringen.
Der Präsident der EZB und der zuständige EU-Kom-missar haben der Euro-Gruppe am Sonntag das Ergebnisihrer Prüfungen mitgeteilt. Sie haben festgestellt, dasssich die Finanzmarktentwicklungen in Griechenland,wenn jetzt nicht gehandelt wird, auf die Finanzstabilitätdes Euro-Gebietes auswirkten. Es ist die Situation derUltima Ratio eingetreten; Hilfen – das haben wir immerwieder betont – sind das letzte Mittel. Daher müssen wirjetzt konsequent handeln. Damit schützen wir das Ver-trauen der Bürger und Unternehmen in unsere gemein-same Währung und in die Euro-Zone.Der gemeinsame Währungsraum hat wirtschaftlichenErfolg und Stabilität gebracht und sich gerade in der Wirt-schafts- und Finanzkrise wieder einmal bewährt. Des-halb, meine Damen und Herren, war der Euro eine Er-folgsgeschichte. Dieser gemeinsame Währungsraummuss weiter für Stabilität sorgen. Daraus wird die Bedeu-tung gerade dieser Stabilisierungsbemühungen für denEuro klar, und genau deshalb werden wir entsprechendhandeln.Die Koalition hat auch in der richtigen Reihenfolgegehandelt. Wer dieser Bundesregierung, Herr Steinmeier,Blockadehaltung und Verzögerung von Hilfen vorwirft,disqualifiziert sich selbst. Es ist doch so, dass man voneinem Land, das in eine solche Situation kommt, zu-nächst einmal eigene Anstrengungen erwarten muss. Ichfrage Sie: Wollten Sie wirklich zu einem Zeitpunkt, alsGriechenland öffentlich erklärt hat, es brauche keine Hil-fen, Hilfen anbieten? Wozu hätte das denn geführt?
Es hätte ausschließlich dazu geführt, dass die Hilfenangenommen worden wären, dass aber keinerlei Sanie-rungsprogramm auf den Weg gebracht worden wäre.Das, Herr Steinmeier, wäre gegenüber den Bürgerinnenund Bürgern in diesem Land unverantwortlich gewesen.
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3732 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Mai 2010
Birgit Homburger
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Schwierige Situationen bewältigt man mit Besonnen-heit und eben nicht mit Aktionismus. Deshalb sind Hil-fen als Ultima Ratio jetzt auch unumgänglich. Ich sagees an dieser Stelle deutlich: Ich bin froh, dass der IWFmit im Boot ist, mit seiner Erfahrung mit solchen Situa-tionen und mit Instrumenten, mit denen er umzugehenweiß, sodass ganz klar wird: Hier wird ein hartes Sanie-rungsprogramm von Griechenland erwartet. Griechen-land ist selbst in der Verantwortung, sich wieder Ver-trauen an den Märkten zu erarbeiten.
Es ist allerdings in dieser Zeit auch klar geworden,dass man auf europäischer Ebene nicht so weitermachenkann wie bisher. Mit Ihrem Vorschlag, Herr Steinmeier,früher zu handeln, schneller Hilfen zu geben, sorgtenSie, wenn er umgesetzt würde, nur dafür, dass man vonder Währungsunion zu einer Transferunion käme. Genaudas wollen wir verhindern.
Deshalb fordern wir, dass wir von einer Krisenbewälti-gung direkt zu einer Krisenprävention kommen unddass diese Maßnahmen zur Krisenprävention, Frau Bun-deskanzlerin, auf dem Europäischen Rat auch angespro-chen und sofort auf den Weg gebracht werden. Dazu ge-hören die Revitalisierung grundsätzlicher Regeln deseuropäischen Miteinanders und das Bekenntnis zur so-zialen Marktwirtschaft, zum Prinzip des marktwirt-schaftlichen Wettbewerbs, aber auch zu einer nationalenVerantwortung für das gesamte Europa, für die gesamteeuropäische Entwicklung. Das bedeutet, dass von jedemLand der Euro-Zone eine solide Wirtschafts- und Fi-nanzpolitik erwartet werden kann.
Wir wollen den Stabilitätspakt erneuern und schär-fen. In diesen Tagen wird doch deutlich, dass wir harteRegeln brauchen. Die heutige Situation ist doch so, wiesie ist, weil damals, Herr Steinmeier, im Jahre 2005, un-ter einer rot-grünen Bundesregierung die Stabilitätskrite-rien gelockert wurden, weil man beschlossen hatte, nichtmehr so genau hinzuschauen, und weil man Sanktionenverzögert hatte. Das wirkt sich jetzt fatal aus, und deswe-gen müssen wir aus diesen Fehlern lernen.
Wir brauchen klare Kriterien, und es darf auf europäi-scher Ebene keine Unterscheidung zwischen guten undschlechten Schulden mehr geben. Es bedeutet auch, dasswir automatische Sanktionsmechanismen einbauen müs-sen. Es darf bei Sanktionen keine politischen Rabattemehr geben. Wenn wir den Stabilitätspakt wieder wetter-fest machen wollen, dann müssen wir entschieden han-deln, und dann ist Klarheit nötig. Sie haben im Deut-schen Bundestag die Chance, mit der Zustimmung zumEntschließungsantrag Ihrer Verantwortung gerecht zuwerden.
Wir wollen eine unabhängige europäische Rating-agentur und eine Kontrolle der Ratingagenturen, die imÜbrigen bereits auf den Weg gebracht worden ist. Wirwollen ein Frühwarnsystem etablieren. Wer falscheAngaben macht, untergräbt die Glaubwürdigkeit des ge-samten Euro-Raumes. Deswegen müssen Eurostat, alsodie europäische Statistikbehörde, und der EuropäischeRechnungshof weitergehende Befugnisse zur Kontrollebekommen. Europa darf nicht länger zusehen, wenn vorunserer Nase getrickst und getäuscht wird. Dem mussEinhalt geboten werden.
Wir brauchen eine Ausweitung der Sanktionsmecha-nismen, den Entzug der Stimmrechte und die Sperrungvon EU-Direktzahlungen. Das alles muss auf den Weggebracht werden, weil deutlich wird, dass die bisherigenMechanismen für die Stabilisierung nicht ausreichen.Wir brauchen in letzter Konsequenz ein geordnetes In-solvenzverfahren für Staaten. Das bedeutet eben auchUmschuldung zu einem Zeitpunkt, wo dies noch mög-lich ist.Es braucht den entschiedenen Einsatz für diesen Stabi-litätspakt. Ich sage Ihnen, sehr verehrter Herr Steinmeier:Angesichts der Geschichte des Stabilitätspaktes in Eu-ropa haben wir Aufforderungen von Ihrer Seite nicht nö-tig. Sie tun gut daran, Ihrer Verantwortung gerecht zuwerden.
Auch das gehört heute zur Diskussion: Wer Verant-wortung trägt, wird auch zur Verantwortung gezogen.Der missbräuchliche Einsatz von Anlageformen wieKreditversicherungen zulasten der Stabilität von Staatenmuss europaweit unterbunden werden. Deshalb gibt eseinen freiwilligen Beitrag der Finanzbranche. Ich sageallerdings auch: Das ist der erste und nicht der letzteSchritt, den die Finanzbranche gehen muss. Deshalbwerden wir entschieden handeln. Die Koalition hat andieser Stelle schon einiges auf den Weg gebracht. Sie,Herr Steinmeier, sagen hier, das Einzige, das helfenwürde, sei eine Finanzmarkttransaktionsteuer, sie sei daseinzige Ihnen bekannte Instrument. Es ist ein Armuts-zeugnis, wenn Sie nur diese eine Option kennen. Es gibtnämlich bessere.
Der IWF – das hat die Bundeskanzlerin schon ausge-führt – hat uns deutlich gesagt, dass dieses Instrumentnicht treffsicher ist. Deshalb werden wir sicherstellen,dass alle ihrer Verantwortung auf andere Weise gerechtwerden: über die Bankenabgabe, die wir bereits auf denWeg gebracht haben, aber eben auch über das Verfahreneiner geordneten Insolvenz; denn bei einer Umschul-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Mai 2010 3733
Birgit Homburger
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dung werden genau diejenigen zur Verantwortung heran-gezogen, die die Verantwortung zu tragen haben. Des-halb ist dies das Instrument der Wahl und in seinerWirkung durchschlagend.
Wir sind längst an einem Punkt, wo es nicht um tech-nische Abwicklung von Problemen, sondern darum geht,verlorengegangenes Vertrauen wiederzugewinnen. Wennwir wollen, dass die Wirtschafts- und Finanzkrise nichtzur Krise unseres Wirtschafts- und Gesellschaftssystemsauswächst, müssen wir Vertrauen schaffen. Deshalb ste-hen wir zur sozialen Marktwirtschaft und zum Wettbe-werb.Soziale Marktwirtschaft hat auch ein ethisches Fun-dament. Eigentum ist ein zentrales Ordnungsprinzip derfreiheitlichen Gesellschaft.
Eigentum verlangt aber auch individuelle Verantwortunghinsichtlich der Auswirkungen auf andere Menschen. Soweit diese Verantwortung reicht, schuldet der Eigentü-mer der Gesellschaft Rechenschaft. Dass Unternehmenmit privatem Vermögen für die Folgen ihrer Entschei-dungen haften, sorgt für verantwortliches Handeln. Dastun viele Familienunternehmen und der Mittelstand indiesem Land vorbildlich. Das Prinzip der persönlichenHaftung der Handelnden muss auch im Hinblick auf Ka-pitalgesellschaften und die Finanzmärkte durchgesetztwerden. Dafür stehen wir ein.
Meine Damen und Herren, wir werden den PrinzipienHaftung und Verantwortung durch neue Rahmenbedin-gungen auf den Finanzmärkten zum Durchbruch verhel-fen. Sie, Herr Steinmeier, haben in den letzten Jahren dieChance dazu versäumt. Wir werden unsere Chance nut-zen. Diese Koalition ist sich ihrer Verantwortung für dieStabilisierung des Euro, aber auch für die Sicherung desVertrauens in unsere Wirtschafts- und Gesellschaftsord-nung bewusst. Dieser Verantwortung werden wir ent-schieden und entschlossen gerecht werden.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gregor Gysi,
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau Bun-deskanzlerin, bei der Bild-Zeitung und anderen „Quali-tätsmedien“ gingen Sie als die No-Kanzlerin in Bezugauf Hilfe für Griechenland ein. Ich glaube, noch auf demParteitag der FDP wurde beschlossen, auf gar keinenFall Geld für Griechenland vorzusehen.
Nun wollen Sie Milliarden für Griechenland beschließenund vergessen, zu erwähnen, wie viele Milliarden davonwieder in die Hände der Spekulanten fallen. Das ist näm-lich das eigentliche Problem, mit dem wir es zu tun ha-ben.
Wir haben im September 2008 hier über eine Finanz-krise geredet, die niemand gesehen hat. Wir haben Ihnenrecht frühzeitig gesagt, dass daraus Staatskrisen werdenkönnen, und zwar über Schuldenkrisen bestimmter Staa-ten. Das, was wir jetzt in Griechenland erleben, drohtauch anderen Ländern, wie wir wissen, wenn wir an Ir-land, Italien, Spanien und Portugal denken. Jedes Mal le-gen Sie Ihre Hände in den Schoß und machen erst ein-mal nichts, um dann innerhalb einer Woche Milliardenzur Verfügung zu stellen, wie damals bei den Banken480 Milliarden Euro innerhalb einer Woche. So kannman mit unserer Bevölkerung meines Erachtens nichtumgehen.
Anlässlich der Finanzkrise, die logischer- und konse-quenterweise in die jetzige Krise führen musste, habenwir Ihnen viele Schritte vorgeschlagen, die man gehenmuss, um das zu verhindern. Wir waren es, die am16. März 2010 – Herr Steinmeier, das ist auch für Sie in-teressant – den Antrag „Eurozone reformieren – Staats-bankrotte verhindern“ eingebracht haben. Wir haben da-rauf hingewiesen, dass das Ganze passieren kann undhaben Maßnahmen vorgeschlagen.
Die erste Lesung war am 25. März. Was haben Sie,Frau Bundeskanzlerin – ich weiß nicht, wohin Sie ge-gangen sind; ach, in die letzte Reihe; das ist gut –,
am 25. März 2010 gesagt? Sie haben gesagt:Wir stellen fest: Es ist noch kein Euro und kein Centfür die Unterstützung Griechenlands ausgegebenworden. Bislang ist Griechenland nicht zahlungsun-fähig geworden. Auch sind düstere Vorhersagenüber die Entwicklung in anderen Mitgliedstaatennicht Realität geworden. … Deshalb sage ich– also die Bundeskanzlerin –:Ein guter Europäer ist nicht unbedingt der, derschnell hilft. Ein guter Europäer ist der, der die eu-ropäischen Verträge und das jeweilige nationaleRecht achtet und so hilft, dass die Stabilität derEuro-Zone keinen Schaden nimmt.
Am Freitag wollen Sie nun die Milliardenhilfen be-schließen; das ist die Wahrheit.
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3734 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Mai 2010
Dr. Gregor Gysi
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Wir haben Ihnen gesagt: Verbieten Sie die Hedge-fonds, die nur herumspekulieren. Sie wurden übrigensvon SPD und Grünen zugelassen; damit man auch dieseWahrheit hier einmal erwähnt.
Wir haben das abgelehnt. Herr Steinbrück hat noch beiFrau Illner erklärt: Wir standen vor der Frage, Kreis-klasse zu bleiben oder Weltklasse zu werden. Eine Welt-klasse-Krise haben wir dafür bekommen. – Vielen Dank,Herr Steinbrück.
Wir haben Ihnen gesagt: Die Zweckgesellschaften derBanken müssen unter Kontrolle gestellt werden. Sie ha-ben es nicht gemacht.Wir haben gesagt: Es gibt drei große private Rating-agenturen, die über alle Werte der Finanzwelt entschei-den, auch über die Werte der Staaten. Die Agenturenwaren nachweislich bestechlich. Deshalb haben wir ge-fordert: Schaffen Sie eine europäische, staatliche Rating-agentur, die verlässlich ist. Sie haben es nicht gemacht.Wir haben gesagt: Verbieten Sie Leerverkäufe! Tat-sächlich: Leerverkäufe waren anderthalb Jahre lang ver-boten. Vielleicht ein paar Worte dazu, was Leerverkäufesind: Man geht an die Börse und spekuliert darauf, dassKurse fallen. Das heißt, man macht aus der Börse einSpielkasino. Dafür war die Börse ursprünglich gar nichtgedacht. Wir haben gesagt: Das sind Spekulationsge-winne, die zur Krise führen; man muss das verbieten.Herr Bundesminister Schäuble, Leerverkäufe waren inDeutschland anderthalb Jahre lang verboten. Warumhaben Sie sie zu Beginn dieses Jahres wieder erlaubt?Griechenland hat sie inzwischen verboten.
Wir haben gesagt, dass wir die Tobin-Steuer, eine so-genannte Transfersteuer, brauchen. Herr Steinmeier, jetztreden Sie auch von dieser Steuer, aber als Sie mit denGrünen regiert haben, haben Sie sie nicht eingeführt. Da-nach haben Sie unsere Anträge zu der Steuer abgelehnt.Es ist schön, dass Sie jetzt in Opposition zu Ihrer Regie-rung gehen. Es ist schön, dass Sie jetzt nach dem Primatder Politik rufen, das Sie zusammen mit den Grünen inDeutschland abgebaut haben. Lassen Sie uns jetzt ge-meinsam dafür streiten, dieses Primat wiederherzustel-len!
Wir haben Ihnen eine Bankenabgabe vorgeschlagen.Morgen werden wir namentlich über diese Bankenab-gabe abstimmen. Wir haben Ihnen vorgeschlagen, nurdas zu tun, was Herr Obama vorschlägt, weil wir wissen,dass Sie keine linke Mehrheit sind und damit keine ver-nünftige Politik machen können.
Wir dachten aber, wir kämen Ihnen damit entgegen;denn wir haben nur gefordert, das zu machen, was HerrObama macht. Das ist doch nicht zu viel verlangt.Obama ist der Präsident der Vereinigten Staaten vonAmerika, kein Linker, kein Sozialist. Wir werden abererleben, dass Sie dazu Nein sagen. Ich sage Ihnen auch,warum: Durch Einführung der Obama-Abgabe bekämenwir von allen privaten Banken, die direkt oder indirektstaatliches Geld erhalten haben, jährlich 9 MilliardenEuro und könnten sie damit an den Kosten beteiligen;aber das wollen Sie nicht.Sie wollen eine klitzekleine Abgabe von allen Ban-ken, auch von den Banken, die gar kein Geld bekommenhaben, von den Sparkassen, Volksbanken und Raiff-eisenbanken. Das ist überhaupt nicht hinnehmbar. Diemüssen nichts zahlen; denn sie haben weder direkte nochindirekte Leistungen vom Staat erhalten.
– Die Deutsche Bank muss bezahlen, andere Privatban-ken auch.
Was wollen Sie machen? Sie wollen einen Zukunfts-fonds bilden. Herr Kauder, ich bitte Sie! Da soll etwaseingezahlt werden, damit wir Geld für die nächste Krisehaben. Sie wollen hier jährlich 1,2 Milliarden Euro ein-nehmen. Denken Sie an die Garantien in Höhe von480 Milliarden Euro! Man bräuchte über 400 Jahre, umauf den Betrag zu kommen.
Ich kann Ihnen nur sagen: Das ist keine Lösung. Nein,die Banken und die Spekulanten sollen jetzt an den Kos-ten beteiligt werden.
Genau das verweigern Sie.Sie haben nichts gegen die Ursachen der Krise ge-tan.Die Deutsche Bank hat schon wieder einen Gewinnerzielt: 2,8 Milliarden Euro im ersten Quartal 2010.Ackermann bekommt sofort wieder einen Bonus ausge-zahlt. Ich weiß, er wird immer zum Essen eingeladen.Ich sage Ihnen, wo das Problem liegt. Wissen Sie, wes-halb die Deutsche Bank Gewinn gemacht hat? Das kannich Ihnen genau sagen: Die Deutsche Bank hatte eineForderung gegen die HRE in Höhe von 10 MilliardenEuro. Die HRE war aber pleite. Hätte die Deutsche Bankdie Forderung abschreiben müssen, hätte sie auch keinenGewinn gemacht, hätte Ackermann auch keine 10 Mil-lionen Euro bekommen. Nun haben wir, das heißt Sie,die HRE verstaatlicht, aber nur die HRE. Damit habendie Steuerzahlerinnen und Steuerzahler der Bundesre-publik Deutschland es übernommen, die 10 MilliardenEuro an die Deutsche Bank zu zahlen. Deshalb hat dieDeutsche Bank Gewinn gemacht.
Sie schüttet den Gewinn rein privat aus.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Mai 2010 3735
Dr. Gregor Gysi
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Wir haben damals gesagt: So geht das nicht.
Deshalb haben wir das schwedische Modell vorgeschla-gen: Man muss alle Banken vergesellschaften, damit dieSteuerzahlerinnen und Steuerzahler nicht nur die Schul-den übernehmen, sondern auch die Einnahmen erhalten,zumindest so lange, bis alles zurückgezahlt ist, was anSteuergeldern zur Verfügung gestellt worden ist.
Damit kommen wir zu Griechenland und Europa.Was macht die Deutsche Bank, was machen alle anderendeutschen Banken? Sie gehen zur Europäischen Zentral-bank. Da erhalten sie Kredite, für die sie einen einzigenProzent Zinsen bezahlen müssen. Dann kaufen sie grie-chische Staatsanleihen. Für die bekommen sie inzwi-schen 9 Prozent Zinsen, ein Riesengewinn ohne jedeLeistung. Dann gehen sie zu einer Kreditausfallversiche-rung und schließen eine Versicherung für den Fall ab,dass Griechenland nicht pünktlich zahlt; die Versiche-rung soll dann das Geld zahlen. Dann rennen viele zurKreditausfallversicherung und schließen Wetten ab. Siesagen: Wir glauben, dass Griechenland nicht pünktlichzurückzahlt. Sie können 1 Million Euro einzahlen, undwenn sie recht hatten, bekommen sie 2 Millionen Euroausgezahlt. Wenn sie nicht recht haben, dann haben siePech und sind 1 Million Euro los. Das sind die Spekula-tionsblasen, die uns nachher um die Ohren fliegen! Des-halb sagen wir: Kreditausfallversicherungen müssen ver-boten werden. Es ist nicht hinnehmbar, was dort läuft.
Die größten Gläubiger Griechenlands sind übrigensdie Banken Frankreichs, der Schweiz und Deutschlands.Was Sie nie erzählen, ist: Wenn wir Griechenland Geldgeben, dann fließt es an die deutschen Banken zurück.Das ist der Weg, der gegangen wird. Das müssen wirehrlich benennen.
Es gab übrigens die Forderung, dass die Banken inDeutschland, in der Schweiz und in Frankreich ihre For-derungen gegenüber Griechenland stornieren könnten.Wenn sie das machten, wäre Griechenland schon fast ausder Krise heraus. Dann müssten keine Hilfspakete inMilliardenhöhe beschlossen werden. Sie haben uns dasnicht geglaubt, sie haben das Kurt Biedenkopf nicht ge-glaubt, der Ihnen das beschrieben hat. Sie haben auchnicht auf ein Schreiben der BaFin vom 20. Februar 2010reagiert, in welchem die Krise vorhergesagt wurde. Siehaben nichts gemacht. Sie haben das alles verzögert,weil Sie keine Regulierung wollen, weil Sie sich ausideologischen und lobbyistischen Gründen so sehr dage-gen wehren, endlich ein Primat der Politik über dieFinanzwelt zu stellen und zu sagen: So darf es gemachtwerden, anders lassen wir es nicht mehr zu.
Sie haben Griechenland einen Weg aus der Kriseaufgezeigt, den Sie für Deutschland ausschließen: Ren-ten kürzen, später in Rente gehen, Löhne kürzen, Mehr-wertsteuer erhöhen. Das ist nicht nur sozial unerträglich,sondern damit organisieren Sie eine Rezession, eineschwere Wirtschaftskrise. Dann müssen weitere Milliar-denhilfen gezahlt werden. Der Weg, den Griechenlandbeschreiten soll, ist ökonomisch blödsinnig. Ihre Ansich-ten können wir nicht teilen.
Ich habe zur Kenntnis genommen, dass so getan wird,als ob es große Unterschiede zwischen CDU/CSU undFDP auf der einen Seite und SPD und Grüne auf der an-deren Seite gebe, aber letztlich sind Sie doch dabei, einegemeinsame Entschließung zu verabschieden. Sie wer-den auch das Gesetz gemeinsam verabschieden. Wiebeim Afghanistan-Krieg, Hartz IV, der Rentenkürzungenschwimmen sie wieder in der alten Konsenssoße. Sie ge-hen diesen Weg, aber ich sage Ihnen: Er wird nichtsbringen.
Übrigens ist Deutschland insofern den Weg Griechen-lands gegangen, als wir die einzige kapitalistische Indus-trienation sind, die in den letzten zehn Jahren die Real-löhne um 11,3 Prozent und die Realrenten um 8,5 Pro-zent gekürzt hat. Auch dafür werden wir noch teuer be-zahlen.
Wir fordern – lassen Sie mich das zum Abschluss sa-gen –: Erstens. Die Spekulationsinstrumente – Leerver-käufe und Kreditausfallversicherungen – müssen ver-boten werden.
Zweitens. Hedgefonds, also Heuschrecken, müssen eben-falls verboten werden. Zweckgesellschaften der Bankensind zu kontrollieren. Wechselkurse müssen festgelegtwerden.Drittens. Wir brauchen die Schaffung einer staatli-chen europäischen Ratingagentur, die die käuflichen Pri-vaten ins Abseits schiebt.Viertens. Griechenland muss auf Jahre auf jeden Waf-fenimport verzichten.
Fünftens. Griechenland und andere EU-Länder müs-sen endlich gerechte Steuern für Bestverdienende, Ver-mögende, Banken und große Unternehmen einführen.
Herr Kollege.
Ich komme zum Schluss, Herr Präsident. – Wir brau-chen für die Binnenmärkte endlich eine Börsenumsatz-steuer und für die internationalen Finanzgeschäfte end-lich eine Tobin- oder Transfersteuer.Sechstens. Zumindest in Deutschland und allen ande-ren Euro-Ländern muss eine Bankenabgabe eingeführt
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3736 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Mai 2010
Dr. Gregor Gysi
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werden, wie sie Obama für die USA vorgeschlagen hat,damit die Gewinner der Krise endlich für die von ihnenverursachten Schäden bezahlen müssen. Wir werdenmorgen im Bundestag darüber namentlich abstimmen.Auch Spekulanten und Finanzprofiteure müssen zurKasse gebeten werden.
Herr Kollege.
Siebtens und letztens. Wir brauchen in Europa eine
Wirtschaftsregierung, damit in der EU Schritt für Schritt
bestimmte Standards durchgesetzt werden. Wir brauchen
eine Abstimmung hinsichtlich der Steuern, der Löhne,
der ökologischen und der sozialen Mindeststandards.
Wenn es das alles nicht gibt, dann gibt es von uns
auch keine Zustimmung für das Gesetz.
Der Kollege Volker Kauder ist der nächste Redner für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Gerade nach der Rede von Gregor Gysi
ist es, glaube ich, notwendig, noch einmal zu sagen, wo-rüber wir heute beraten, worum es in dieser Woche geht:Es geht um die Zukunft Europas und damit um unsereeigene Zukunft. Das haben Sie nicht verstanden, HerrGysi.
Der Euro, den wir eingeführt haben, war und ist eineErfolgsgeschichte. Er hat dazu geführt, dass wir besserdurch die Finanz- und Wirtschaftskrise gekommen sind,als das bei Finanz- und Wirtschaftskrisen in früherenJahren, die gar nicht so dramatisch waren wie die letzte,der Fall war. Deshalb geht es jetzt darum, dass wir denEuro in seiner Stabilität stützen. Was wir jetzt, in dieserWoche, im Deutschen Bundestag beschließen, hat sehrviel mit unserer eigenen Zukunft zu tun, und es hat sehrviel damit zu tun, dass wir die Ersparnisse der Menschenin unserem Land sichern. Es geht darum, dass wir nichtnur im Interesse unseres Landes, sondern auch im Inte-resse der Menschen in unserem Land etwas für die Wäh-rung tun. Deswegen werden wir in dieser Woche han-deln.
Herr Kollege Steinmeier, es geht natürlich auch umdie Frage, wie so etwas in Zukunft vermieden werdenkann. Ich rate aber dringend, Ursache und Wirkungnicht zu verwechseln. Ich hatte bei den Diskussionen derletzten Tage manchmal den Eindruck, dass zu wenigüber die wirklichen Gründe für das, was jetzt entstandenist, gesprochen wird, weil das zum Teil sehr unange-nehm ist. Wir haben in der Koalition sehr frühzeitig ge-sagt – ja, ich teile diese Auffassung –, dass wir etwas ge-gen Spekulanten und insbesondere gegen diejenigen tunwollen, die gegen Währungen spekulieren. Aber zu-nächst einmal muss doch eine andere Frage gestellt wer-den: Besteht das Grundproblem bei manchen europäi-schen Staaten nicht darin, dass ständig über die eigenenVerhältnisse gelebt wird, dass Schulden gemacht wer-den, die uns nachher in diese Schwierigkeiten bringen?Ohne die hohe Verschuldung hätten Spekulanten dochgar keine Chance, etwas zu unternehmen.
Deswegen hätte ich mir schon gewünscht, dass ein biss-chen mehr über diese Frage gesprochen wird.Es ist überhaupt keine Schuldzuweisung, wenn wirfeststellen: Als die Griechen damals in die Währungs-union aufgenommen wurden, haben sie die Vorausset-zungen nicht erfüllt.
Im Deutschen Bundestag wurde darauf hingewiesen, dasses für die Griechen sehr schwer, vielleicht sogar unmög-lich wird, ihre Wettbewerbsfähigkeit innerhalb der Euro-päischen Währungsunion voranzubringen. Aus politischenGründen ist damals so entschieden worden. Ich sage dasjetzt nicht als Vorwurf an die rot-grüne Bundesregierungder damaligen Zeit, Herr Kollege Trittin.
Ich sage nur, dass eine Konsequenz dessen, was wir jetzterleben, sein muss, dass es keine politischen Geschenkegeben darf, wenn es um die Stabilität unseres Euro geht.
Bei der Frage, wer Mitglied der Europäischen Union undwer Mitglied der Europäischen Währungsunion wird,darf nur nach klaren Fakten und nicht nach politischenÜberzeugungen entschieden werden. Alles andere scha-det der Stabilität unserer Europäischen Union.
Deswegen war es zwingend notwendig, dass man Grie-chenland diesen Weg, der für Griechenland nicht einfachist, zumutet. Ich hatte, als schon im März und April überdiese Frage gesprochen wurde, den Eindruck, dass sichdiejenigen, die sehr schnell, ohne irgendeine Vorbedin-gung zu formulieren, Geld an Griechenland ausreichenwollten, genau um diese Konsequenzen drücken wollten.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Mai 2010 3737
Volker Kauder
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– Wenn jetzt jemand ruft: „Das ist nicht wahr!“, dannkann ich nur sagen: All diejenigen, auch einige Mitgliederdes Deutschen Bundestages, die auf der linken Seite desHauses sitzen, die gesagt haben: „Griechenland mussschnell geholfen werden“, haben keine einzige Forde-rung erhoben, dass in Griechenland endlich Reform-und Sparmaßnahmen durchgeführt werden.
Sie hätten den Griechen Geld gegeben, nach dem Motto:Weiter so wie bisher! Das haben wir verhindert, meinesehr verehrten Damen und Herren.
Dass dies nicht so einfach war, wie jetzt mancher be-hauptet, hat sich in den letzten Tagen gezeigt. Wenn jetztgesagt wird, man hätte schneller, man hätte sofort helfensollen, frage ich Sie: Um welchen Preis? Der IWF hatTage, fast eine ganze Woche gebraucht, um die Griechendavon zu überzeugen, dass es auch in ihrem Interesse ist,wenn sie endlich die Kurve kriegen
und einsehen, dass Sparmaßnahmen notwendig sind.
Es hat Tage und Wochen gebraucht, bis wir so weit wa-ren. Nachdem uns der IWF gesagt hat: „Jetzt sind dieVoraussetzungen erfüllt, weil Griechenland zugesagt hat;jetzt können wir mit dem Rettungspaket starten“, habenwir gesagt: Dann ist jetzt auch der Zeitpunkt, ab dem wirmitmachen. – Es kann keine konditionslose Hilfe geben.Es geht hier nicht um Solidarität, sondern es geht umStabilität.
Dafür müssen wir in diesen Tagen werben und kämpfen.
Herr Kollege Kauder, gestatten Sie eine Zwischen-
frage?
Nein. – Es geht auch darum, dass wir jetzt die richti-gen Konsequenzen aus der Krise ziehen. Herr KollegeSteinmeier, wir haben uns von Anfang an mit Ihnen da-rüber unterhalten, dass wir neben dem Gesetzentwurfgemeinsam mit Ihnen auch eine Resolution bzw. Erklä-rung verabschieden wollen. Jetzt und auch später spre-chen wir darüber, ob wir hier zu gemeinsamen Überzeu-gungen kommen können. Es geht darum, dass wir klarunterscheiden zwischen dem, was wir unternehmenmüssen, damit sich so etwas in Zukunft nicht wiederholt,und der Frage: Wer muss mitfinanzieren?Die entscheidende Frage lautet: Was müssen wir tun,damit sich so etwas nicht wiederholt?
Erstens. Wir müssen den Stabilitätspakt in Europaneu justieren; ich bin sehr froh, dass auch Sie dies so er-klärt haben. Wir dürfen nie mehr zulassen, dass über denStabilitätspakt so dahergeredet wird, wie es zu Zeiten derrot-grünen Regierung geschehen ist.
Das gehört zur Wahrheit. Ich erinnere mich noch sehrgut daran, dass von der damaligen rot-grünen Bundes-regierung gesagt worden ist: In Sachen Stabilität lassenwir uns von Europa nicht rügen. Wir rufen die Gremienzusammen. Dann wird mit Mehrheit entschieden: Daslässt sich Deutschland nicht gefallen. – Damit haben Sieden Keim für die Verirrungen beim Stabilitätspakt ge-legt, meine sehr verehrten Damen und Herren. Das darfnicht wieder passieren.
Der zweite Punkt. Es muss dafür gesorgt werden, dassschon frühzeitig von der Europäischen Kommission ein-gegriffen werden kann, und zwar wenn erkennbar ist,dass Verschuldung produziert wird, und das auch nochauf Grundlage falscher Zahlen. Die Bundeskanzlerin hatzu Recht darauf hingewiesen – das muss man deutlichmachen, damit keine Märchen entstehen –: Allein dieTatsache, dass die Griechen in Erkenntnis ihrer schwe-ren Notsituation falsche Zahlen genannt haben und danneine Korrektur durch den IWF erfolgen musste, durchdie die Verschuldung noch einmal um 1 Prozent angeho-ben wurde, hat das ganze Misstrauen an den Finanz-märkten hervorgerufen und dafür gesorgt, dass die Zins-satzentwicklung so eskaliert ist. Deswegen fordern wir,dass es der europäischen Statistikbehörde ermöglichtwird, sich sehr frühzeitig anzuschauen, was in den ein-zelnen Ländern passiert, sodass es schnell zu Korrektu-ren kommen kann. Wir dürfen es nicht bis zu einem Zeit-punkt laufen lassen, wie wir ihn jetzt haben. Das wirdsich in Zukunft ändern. Wir fordern die Bundesregierungauf – wir unterstützen sie dabei auch –, dafür zu sorgen,dass wir hier schneller zu Erkenntnissen kommen.
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Volker Kauder
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Dritter Punkt. Wir wollen, dass diejenigen, die Risi-kogeschäfte machen, wissen, dass sie zahlen müssen,wenn es schiefgeht. Deshalb fordern wir, ein Verfahrenfür eine geordnete Insolvenz in Europa einzuführen.Das nennt man auch Umschuldung. Wenn man Geld ir-gendwo hingibt, muss man damit rechnen, dass es zu ei-ner geordneten Insolvenz kommen kann. Das muss der-jenige, der dieses Risiko eingeht, wissen.
Wie bei jedem Insolvenzverfahren ist es dann so, dassGläubiger einen Teil ihrer Forderungen nicht realisierenkönnen. Es wäre gut, wenn wir dieses Verfahren schonjetzt durchführen könnten; aber diese Möglichkeit hatman damals nicht eingeräumt. Für die Zukunft wollenwir dies jedoch.Damit wir keine falschen politischen Diskussionenführen, sage ich Ihnen, Herr Steinmeier: Diese Maß-nahme wird mehr bringen als die Steuer, über die Siediskutieren. Diese führt angesichts der kleinen Summennicht dazu, dass Risiken begrenzt werden. Die Risikenwerden auf die Sparerinnen und Sparer umgelegt. DasRisiko wird auf die kleinen Leute verteilt und nicht aufdiejenigen, auf die das Risiko verteilt werden muss.
Deswegen bringt diese Steuer keinen Erfolg.
Man kann darüber reden – Herr Trittin, wir werden es janachher machen –, ob diese Steuer Geld in die Kassebringt. Aber ich bitte Sie, nicht Verirrungen nachzuge-hen und auch noch zu erklären, dass man mit dieserSteuer das Problem der Risikoverteilung lösen kann. Dasfunktioniert hinten und vorne nicht.
Vierter Punkt. Ich glaube, dass es auch darum geht,dass wir zeigen, dass Politik handelt und nicht getriebenwird.
– Ich glaube nicht, dass da Gelächter angebracht ist. Ichmöchte ohnehin sagen: Ich bin sehr für die Auseinander-setzung und Diskussion über den richtigen Weg. Aber indieser Woche geht es um die Stabilität und die Rettungdes Euro und Europas, nicht um billige Polemik und Par-teitaktik, Herr Gysi. Darum geht es in dieser Wochewirklich nicht.
Es geht darum, verantwortlich für unser Land zu han-deln und den Menschen in unserem Land zu erklären:Was wir jetzt machen, dient dazu, den Euro zu stabilisie-ren, die Rettung dessen, was wir alle uns erarbeitet ha-ben, zu ermöglichen und Zukunft für uns in Europa zurealisieren. Das ist das wahre Thema. Ich bitte darum,dass sich die Opposition ihrer Verantwortung bewusstwird.
Es geht nicht so, wie Sie, Herr Gabriel, formuliert haben:Vielleicht machen wir mit, vielleicht machen wir nichtmit.
In dieser Frage kann man nur sagen: Jawohl, es muss ge-handelt werden, damit der Euro stabil bleibt. Da kannman nicht sagen: Ein bisschen mache ich mit, ein biss-chen mache ich nicht mit. Ich hoffe, dass dies nachher inder Besprechung mit den Fraktionsvorsitzenden gelin-gen kann.Die zentrale Frage wird sein: Gelingt es uns, die gro-ßen Zusammenballungen von finanzieller Macht in denGriff zu bekommen? Ich bitte darum, dass wir uns etwaspräziser ausdrücken. Natürlich geht es um Banken; aberes geht vor allem um die Hedgefonds, die bisher nichtkontrolliert werden und auch unter rot-grünen Regierun-gen eher freigestellt als kontrolliert worden sind. Ichkann die Bundesregierung hier nur unterstützen: Jawohl,da muss etwas getan werden. Wir wissen, wie schwerdies in Europa ist. Ich kann nur jeden in diesem Hauseauffordern, auf seinen parteipolitischen Kanälen in Eu-ropa dafür zu sorgen, dass beispielsweise die Regierungin England nicht ständig blockiert, wenn es um die Re-gulierung von Hedgefonds geht. Da muss etwas getanwerden. Da darf man nicht wegsehen.
Es gibt Dinge, die sich nicht im nationalen Bereich, imnationalen Parlament lösen lassen. Dafür braucht dieBundesregierung Unterstützung.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, unser Paketbesteht aus drei Elementen:Erstens. Wir werden – das wird die Koalition in dieserWoche beschließen – zur Stabilität der Situation imEuro-Raum die Kreditanstalt für Wiederaufbau ermächti-gen, Darlehen an Griechenland zu geben, keine Barzah-lungen – und damit keine Belastung des Haushaltes –,sondern einen Kredit, den wir verbürgen.Zweitens. In einem Entschließungsantrag werden wirdie Dinge auflisten, die wir zur Vorbeugung, damit so et-was nicht wieder passiert, für notwendig halten.Drittens werden wir den Weg konsequent weiterge-hen, den wir schon beschritten haben – das ist heute üb-rigens noch gar nicht gesagt worden –, nämlich durchkonkrete Maßnahmen auch diejenigen zu beteiligen, dieam Finanzmarkt mit dazu beigetragen haben, dass wir indiese Krise gekommen sind. Wir haben eine Banken-abgabe und ein Gesetz über die Transparenz vonRatingagenturen – das ist fast noch wichtiger als neueAgenturen – in Vorbereitung. Wir werden den Weg einereuropäischen Ratingagentur beschreiten, die so selbst-
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Volker Kauder
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ständig und transparent sein muss wie die EuropäischeZentralbank. All dies werden wir voranbringen. Daszeigt: Wir sind in dieser schwierigen Stunde handlungs-fähig, und wir handeln. Die Menschen können sich da-rauf verlassen, dass alles, was getan werden kann, getanwird, um den Euro und damit ihre Ersparnisse zu si-chern.Vielen Dank.
Das Wort hat nun der Kollege Jürgen Trittin, Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir sindja heute Zeuge einer großen Gemeinsamkeit zwischenGregor Gysi und Angela Merkel geworden.
Beide haben reine Rechtfertigungsreden gehalten: Wirhaben recht gehabt. – Nun ist das bei Gregor Gysi eherein esoterisches Problem.
Aber bei Ihnen, Frau Bundeskanzlerin, hat das schwer-wiegendere Konsequenzen;
denn das, was Sie hier in den letzten sechs Wochenabgeliefert haben, der Versuch, aus Angst vor der Nord-rhein-Westfalen-Wahl, aus Angst vor dem nächstenSonntag diese Krise auszusitzen, hat die BundesrepublikDeutschland, hat übrigens auch Europa unglaublich vielgekostet.
Sie haben noch im März gemeint, hier die MaggieMerkel geben zu müssen.
Und was ist heute? – Das politische Klima in diesemLande kann man sich jeden Morgen in der Bild-Zeitungangucken.
Die Folgen: Die griechische Botschaft wird mit Hass-mails überschwemmt. Vor dem Konsulat von Griechen-land in Düsseldorf demonstriert die NPD. Aber das istnicht nur ihr Privileg. Auch die Leute in Ihren eigenenReihen sagen, es solle Naxos oder was auch immer ver-kauft werden.
Herr Pinkwart, der stellvertretende Bundesvorsit-zende der FDP, erklärt auf einem Parteitag, auf dem Sie,Herr Vizekanzler, neben ihm sitzen: Eine Hilfe für Grie-chenland ist ein Schlag ins Gesicht unserer Bürgerinnenund Bürger. – Wo waren Sie da? Wo sind Sie da aufge-standen und haben gesagt: „So geht das nicht“?
Frau Bundeskanzlerin, Sie werden jetzt sagen: Was habeich damit zu tun? Ich mache ja nur eine Koalition mitdiesem unzuverlässigen Kandidaten. – Ich sage Ihnen:Sie bedienen dieses nationale Ressentiment doch selber.
Was sonst ist denn Ihr Vorschlag, den Sie ja auch in ei-nen Entschließungsantrag schreiben wollen, von derSuspendierung der Stimmrechte von Mitgliedstaaten?
Europa ist eine Gemeinschaft von 27 gleichberechtigtenMitgliedstaaten. Da kann nicht ein Mitgliedstaat einemanderen Mitgliedstaat die Rote Karte zeigen und sagen:Du setzt dich jetzt mal eine Weile auf die Bank!
Das wird es in diesem gemeinsamen Europa nie geben.Wenn es das nie geben wird, dann sollten Sie das auchnicht fordern, meine Damen und Herren.
Ihre Politik hat nicht nur zu einem Verlust an Euro-pafähigkeit Deutschlands geführt, kostet uns nicht nurpolitisch etwas. Dass Sie sich seit Februar/März gegenHilfe für Griechenland gesperrt haben,
hat uns, hat Europa und übrigens auch die Griechen vielGeld gekostet.
Herr Kauder, Sie haben hier gesagt: Der IWF hat eineganze Woche gebraucht, um mit den Griechen zu ver-handeln.
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Jürgen Trittin
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Ich finde, das ist eine ziemliche Leistung. Die Wahrheitist doch: Sie haben den IWF sechs Wochen daran gehin-dert, in dieser Frage zu handeln.
Wir haben den Direktor des IWF, Herrn Strauss-Kahn,gefragt: Wie war das denn mit dem Faktor Zeit? Er hatgesagt: Wenn der IWF im Februar/März hätte tätig wer-den können, würden wir über geringere Summen re-den. – Dass wir heute mit 22 Milliarden Euro ins Risikogehen, haben Sie, Frau Bundeskanzlerin, mit Ihrer Zöge-rei und Zauderei zu verantworten.
Ich finde, die Menschen in diesem Lande hätten esverdient, dass man ihnen erklärt, warum man Griechen-land auf diese Weise hilft. Es ist nicht so, dass dieseHilfe für Griechenland alternativlos wäre. Selbstver-ständlich gibt es, wie im wirklichen Leben, Alternati-ven, über die man entscheiden kann. Wie ist es mit denVorschlägen, die aus Ihren Reihen gekommen sind? Waswürde es heißen, Griechenland aus der Währungsunionauszuschließen, damit die Griechen die Drachme wiedereinführen und sie entsprechend abwerten? Das Ergebniswären eine gigantische Kapitalflucht aus Griechenlandund der Zusammenbruch des griechischen Bankensek-tors – mit allen Folgen für das europäische Bankensys-tem. Das wären die Folgen der Alternative, die Sie ge-predigt haben, lieber Herr Friedrich.
Wie ist es mit der Alternative – auch das ist gefordertworden –, Griechenland den Staatsbankrott erklären zulassen? Die Folge wäre keine andere als bei dem vorigenVorschlag, nämlich eine massive Gefährdung und Zer-störung des Bankensystems. Das System, mit dem wiruns nun einmal herumzuschlagen haben, ist ein Kapita-lismus, der sehr stark von Finanzmarktmechanismen ge-prägt ist. Wenn man das weiß, wenn man weiß, dass mandem Kapitalismus das Spekulieren in dieser Form nichtabgewöhnen kann, wenn man weiß, dass es zyklisch im-mer wieder Krisen geben wird, dann darf man sich dochnicht, wie Sie es jetzt – zu spät – tun, auf Nothilfe be-schränken, dann muss man doch darangehen, künftigenKrisen vorzubeugen
und damit Schadensbegrenzung zu betreiben. Das ist dieHerausforderung, vor der wir stehen.
Sie bewegen sich an einigen Punkten: Plötzlich darfEurostat auch in die deutschen Bücher schauen. Plötz-lich sind auch Sie der Auffassung – Sie haben das langeZeit blockiert –, dass wir eine europäische Ratingagen-tur brauchen.Stellen Sie sich einmal vor, die Steuervorschläge derFDP kämen durch und im Ergebnis würden wir gegenden Stabilitätspakt verstoßen.
Ich sehe schon den Jubel in Ihren Reihen, wenn fürDeutschland keine Agrarsubventionen und keine Struk-turfondsmittel mehr fließen.
Ich habe immer den Eindruck: Das gilt immer nur für dieanderen, aber nie für Sie selber.
Wenn solchen Krisen jetzt vorgebeugt werden soll,muss man zwei Dinge in den Mittelpunkt stellen: Zumeinen kann es keine europäische Währungspolitik ohneeine gemeinsame europäische Wirtschaftspolitik ge-ben. Das geht eben nur zusammen.
Zum anderen kann man sich nicht wie der badischeNationalökonom Kauder
hier hinstellen und erklären, die Griechen hätten überihre Verhältnisse gelebt. Das stimmt zwar, aber das istnur ein Teil der Wahrheit. Herr Kauder, den anderen Teilder Wahrheit muss man als guter Europäer auch sagen.Der andere Teil der Wahrheit lautet nämlich: Davon,dass die Griechen über ihre Verhältnisse gelebt haben,haben andere gut gelebt.
Ich kann das auch anders ausdrücken: Das Rekorddefizitin Griechenland spiegelt sich im Handelsüberschuss derBundesrepublik Deutschland gegenüber Griechenlandwider. Das ist die simple ökonomische Wahrheit.
– Meine Damen und Herren, Sie können sich beruhigen.Ich muss Ihnen das vielleicht so erklären, wie man dassonst den Kollegen von der Linkspartei erklärt:
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Mai 2010 3741
Jürgen Trittin
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Wenn Sie 350 Leopard-Panzer an Griechenland verkau-fen, dann ist es unfair, sich darüber aufzuregen, dass sichdie Griechen für das Geschäft verschuldet haben. – Ichhalte das jedenfalls nicht für einen Vorwurf, den manleichtfertig erheben sollte.
Der Kern ist aber ein anderer. Der Kern ist: Wir brau-chen einen Abbau der Ungleichgewichte innerhalb derEuropäischen Union. Das, was es anderswo zu viel anBinnennachfrage gibt, gibt es hier zu wenig an Binnen-nachfrage.
Durch eine europäische Wirtschaftskoordination, eineKoordination der Wirtschaftspolitik innerhalb der Euro-päischen Union, wird Deutschlands Wohlstand nicht be-schädigt,
sondern gemehrt, weil das langfristig zu mehr Stabilitätund zu mehr Binnennachfrage der Menschen hier führt.
Wenn Sie die Banken und andere beteiligen wollen,dann müssen Sie eine Finanztransaktionsteuer einfüh-ren. Frau Merkel, ich habe es im Bericht des IWF nach-gelesen. Darin steht ausdrücklich: Durch diese Steuerwerden hochspekulative Geschäfte belastet. – Das ist derGrund, weswegen wir sagen: Sie ist zielgenau – andersals Ihre Bankenabgabe –, und durch sie wird dafür ge-sorgt, dass Spekulationen verteuert werden.
Ich sage Ihnen: Wir kommen in diesem Hohen Hausenicht überein, auch wenn Sie jetzt die Position einneh-men, man müsse Griechenland helfen, was Sie langeZeit blockiert haben, wenn Sie nicht den Schritt gehen,endlich dafür Sorge zu tragen, dass diejenigen, die mitSpekulationen Geschäfte machen, künftig auch für dieFolgen dieser Spekulationen in Haftung genommen wer-den.
Das ist eine Grundvoraussetzung dafür, dass endlichwieder wirtschaftlich geordnete Verhältnisse in diesesgemeinsame Europa einziehen.Vielen Dank.
Der Kollege Dr. Friedrich ist der nächste Redner für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Lieber Kollege Trittin, dafür, dass Sie 2002, alsGriechenland in die Währungsunion geholt wurde, Bun-desminister waren,
dass Sie 2004, als der Betrug der Griechen aufgeflogenist und die Grünen, als Sie noch Bundesminister in die-ser Regierung waren, windelweich reagiert haben – ichhabe die dpa-Meldung vom 24. September dabei –,
und dafür, dass Sie als Bundesminister in diesem rot-grünen Kabinett zugeschaut haben, als Ihr damaliger Fi-nanzminister Hans Eichel den Euro-Stabilitätspakt auf-geweicht hat, riskieren Sie hier eine dicke Lippe.
In Griechenland sind in den letzten Wochen und Mo-naten Illusionen geplatzt, und zwar erstens die Illusion,dass Wohlstand schon durch die geografische Lage inEuropa garantiert ist, und zweitens die Illusion, dassWohlstand auch dadurch gewährleistet ist, dass man demEuro-Raum angehört. Tatsache ist: Jeder Staat, jedeVolkswirtschaft ist nur so wohlhabend, wie es die Men-schen in dieser Volkswirtschaft durch Fleiß, Ehrgeiz,Disziplin und Leistungskraft ermöglichen.
Das ist die Wahrheit, und das müssen die Griechen jetztlernen, und zwar unabhängig davon, ob in Dollar, Eurooder Gold bezahlt wird. Entscheidend ist: Die Währungist die geronnene Leistungskraft einer Volkswirtschaft.Dafür, dass es Deutschland in dieser schwierigenwirtschaftlichen Situation gut geht, sind Reformen ver-antwortlich, die den Menschen in unserem Lande überviele Jahre auferlegt worden sind, begonnen in den 90er-Jahren unter Helmut Kohl und Theo Waigel mit den Re-formen zur Sicherung des Standortes Deutschland bishin zu den Hartz-Reformen, die Sie unter Rot-Gründurchgeführt haben und die unseren Bürgerinnen undBürgern schwere Belastungen auferlegt haben.Griechenland hat in all dieser Zeit keine Reformendurchgeführt, im Gegenteil.
Deswegen muss jetzt die internationale Staatengemein-schaft, vertreten durch den IWF, die Europäische Zen-
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3742 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Mai 2010
Dr. Hans-Peter Friedrich
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tralbank und die Europäische Kommission, Griechen-land zwingen, innerhalb kürzester Zeit all die Reformennachzuholen, die es wieder wettbewerbsfähig machen.
Steuererhöhungen bei der Mehrwertsteuer und bei Ver-brauchsteuern, Kürzung von Löhnen und Gehältern, Ver-kauf von Staatsvermögen, Reduzierung des öffentlichenDienstes und Erhöhung des Rentenalters – dieses Pro-gramm hat der IWF jetzt den Griechen auferlegt. Damitwird das nachgeholt, was griechische Regierungen ver-säumt haben. Das macht in etwa deutlich, lieber HerrGysi, was passiert, wenn Regierungen Freibier für alleversprechen, statt rechtzeitig Reformen durchzuführen.Darum geht es.
Griechenland hat, wie bereits gesagt wurde, überseine Verhältnisse gelebt. Es kann seine staatlichen Ver-pflichtungen nicht mehr wahrnehmen und keine Zu-kunftsinvestitionen mehr vornehmen und fragt jetzt beiseinen Partnern nach Krediten.
Nun könnte man sagen: „Das ist uns egal. Was geht unsGriechenland an?“ Griechenland liegt aber in Europaund ist mit unserer Volkswirtschaft verflochten. Im Jahr2008 hat die Exportnation Deutschland – Sie haben vor-hin darauf hingewiesen, lieber Herr Trittin – Waren undDienstleistungen im Wert von 8,3 Milliarden Euro nachGriechenland exportiert. Dafür haben deutsche Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer Leistung erbringenmüssen, und dafür haben sie ihren fairen und gerechtenLohn bekommen.
180 deutsche Unternehmen sind in Griechenland enga-giert. Die deutschen Versicherungen und Renten- undPensionsfonds haben griechische Staatsanleihen gekauft;denn diese Institutionen verfolgen sehr vorsichtige Anla-gestrategien, und die vorsichtigste Strategie besteht da-rin, in Staatsanleihen zu investieren. Deswegen besitztim Grunde jede Versicherung in Deutschland griechischeStaatsanleihen. Insofern ist eine Verflechtung über dieFinanzmärkte offensichtlich. Ein griechischer Staats-bankrott hätte deswegen enorme Auswirkungen auf dieWirtschafts- und Finanzbereiche in der gesamten Euro-päischen Union.Nun kann man einwenden, dass Griechenland sehrklein und seine Volkswirtschaft gegenüber der großeneuropäischen Volkswirtschaft und der Stärke des Eurosunbedeutend ist. Ja, der Euro ist stark, und Europa hatinsgesamt eine starke Volkswirtschaft. Dagegen ist Grie-chenland relativ klein. Aber im September 2008 habenauch viele Lehman Brothers für ein relativ unbedeuten-des Finanzunternehmen gehalten, das man ruhig pleite-gehen lassen kann. Die Folge war eine unabsehbare Ket-tenreaktion auf allen Finanzmärkten, die die ganze Welterschüttert hat. Deswegen rate ich, keine Experimente zumachen, sondern dafür zu sorgen, dass Stabilität in Grie-chenland und in ganz Europa Einzug hält.
Die europäischen Partner sind bereit – ich sage dasausdrücklich –, Griechenland Kredite, Darlehen zu ge-ben, übrigens nicht nur die Europäer, sondern die Welt-gemeinschaft. Im IWF sind viele Staaten vertreten, auchdie Amerikaner und die Chinesen sind dabei. Sie alle ha-ben ein Interesse daran, dass Griechenland, dass Europainsgesamt stabil bleibt. Darum geht es. Das Ziel des In-ternationalen Währungsfonds und der EuropäischenUnion ist es, die Wettbewerbsfähigkeit Griechenlandsschnell wiederherzustellen.Was wichtig ist: Es geht hier um Nothilfe. In den90er-Jahren, in den 80er-Jahren und in den 70er-Jahrenhat die Deutsche Bundesbank in vielen Fällen mit Hun-derten von Milliarden D-Mark fremde Währungen stüt-zen müssen, um den Aufwertungsdruck von der D-Markzu nehmen. Die Finanzexperten unter Ihnen wissen das.Damals war diese Nothilfe notwendig, um eine Währungund ein Land zu stabilisieren. Eine solche Nothilfe wirdauch jetzt geleistet, aber es muss klar sein: Diese Not-hilfe ist die Ultima Ratio. Sie darf nicht dazu führen,dass wir eine Transferunion bekommen.Ich bin der Bundeskanzlerin sehr dankbar dafür, dasssie in den letzten Wochen und Monaten hartnäckig ge-blieben ist. Es wäre das völlig falsche Signal an dieWeltgemeinschaft und an Europa gewesen, wenn wir mitden Milliarden schon bereitgestanden hätten, nur weildie Griechen schreien: Wir brauchen Geld.
Ich darf den sozialdemokratischen Außenminister vonSpanien, Herrn Moratinos, zitieren – das können Sie üb-rigens in der Süddeutschen Zeitung vom 30. April nach-lesen –, der gesagt hat, wie hilfreich es gewesen sei, dassdie Bundesregierung hartnäckig geblieben sei. Er hat ge-sagt, nur dadurch sei es möglich gewesen, Athen zumSparen zu zwingen. Ich danke Ihnen, liebe Frau Bundes-kanzlerin, dass Sie mit harter Hand gezeigt haben, dassDeutschland zwar zur Solidarität bereit ist, aber nur zurNothilfe und nicht zu einer Transferunion. Darum gehtes.
Wir wollen, dass die Maßnahmen, die der IWF Grie-chenland jetzt verordnet hat, klar kontrolliert werden.Der IWF hat das zugesagt. Es gibt regelmäßige Kontrol-len. Griechenland bekommt Hilfe nur in dem Maße, indem es Fortschritte bei der Umstrukturierung seinerVolkswirtschaft erzielt. Eines ist klar: Wir müssen jetztgemeinsam auf europäischer Ebene dafür sorgen, dassdas, was in Griechenland passiert ist, nicht wieder pas-sieren kann. Deswegen braucht der europäische Stabili-tätspakt nicht eine Aufweichung, wie sie damals unterder rot-grünen Regierung geschehen ist, sondern erbraucht jetzt scharfe Zähne. Der europäische Stabilitäts-
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Dr. Hans-Peter Friedrich
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pakt muss für all diejenigen Staaten strafbewehrt sein,die sich nicht an die Ordnung halten. Es sind schon ei-nige Dinge – Volker Kauder hat sie aufgezählt – genanntworden: Zahlungen einstellen, Stimmrecht aussetzen.All diese Möglichkeiten müssen kommen.Dann gibt es einen zweiten Aufgabenkomplex. Dieserbetrifft die Finanzmärkte. Die Finanzmärkte sind nichtursächlich für die Krise, aber sie haben in der letztenPhase die Krise beschleunigt. Das ist vergleichbar mitdem Borkenkäfer, der einem gesunden Baum nicht scha-den kann. Aber wenn ein Baum krank ist, dann kommendie Schädlinge. Im Fall Griechenlands waren es dieFinanzhaie, die spekuliert haben. Deswegen müssen wiruns gut überlegen, wie wir mit dieser Frage umgehen. Esist hier des Öfteren über Leerverkäufe gesprochen wor-den. Ich sage: Ungedeckte Leerverkäufe, also wenn je-mand Dinge verkauft, die er nicht hat, darf es nichtgeben. Es darf keine Kreditversicherungen geben fürKredite, die es gar nicht gibt.
Wir sind auf dem richtigen Weg, und es wird allesvorbereitet. Die entsprechenden Maßnahmen sind inBrüssel in der Pipeline. Wir werden auf europäischerEbene mittels einer Derivaterichtlinie den Spekulantendas Spielgeld aus der Hand schlagen. Aber machen Sie,Herr Steinmeier, den Menschen in Deutschland bittenicht weis, wir könnten das national regeln. Die Finanz-märkte – das weiß doch jedes Kind – sind international,zumindest aber europäisch. Wir sollten – das ist richtig –den Mut haben, Dinge auf europäischer Ebene auchdann zu machen, wenn unsere amerikanischen und un-sere anderen Freunde nicht mitmachen. Ja, das ist wahr.Diesen Mut sollten wir haben.
Aber erzählen wir den Leuten nicht, dass wir das natio-nal machen könnten; denn das ist nicht die Wahrheit.Meine Damen und Herren, das Haus Europa hat eingutes Fundament. Aber in einigen Stockwerken diesesHauses ist Unordnung. Jetzt geht es darum, Ordnung zuschaffen. Das kann ein starkes Land wie Deutschlandmit einer starken Regierungschefin. Die Bundesregie-rung und die Koalition sind entschlossen, diese Ordnungin Europa zu schaffen.Vielen Dank.
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich dem
Kollegen Otto Fricke von der FDP-Fraktion.
Meine Damen und Herren! Bevor man eine Äußerung
als falsch zurückweist, Herr Kollege Trittin, sollte man
die Zusammenhänge immer prüfen. Deswegen bitte ich
um Entschuldigung, dass meine Kurzintervention erst
jetzt erfolgt. Ich möchte Ihnen, Herr Trittin, auch im Na-
men meiner Fraktion die Möglichkeit geben, zu zeigen,
dass Sie ein Mann von Ehre sind, jemand, der eine fal-
sche Äußerung auch zurücknehmen kann.
Zu Ihren Aussagen bezüglich des Parteitages der
FDP, der Worte von Herrn Pinkwart und des angebli-
chen Danebensitzens von Herrn Westerwelle möchte ich
Folgendes sagen:
Erstens. Herr Westerwelle war zu dem Zeitpunkt gar
nicht auf dem Parteitag. Das wissen Sie ganz genau. Zu
diesem Zeitpunkt war er – Sie können gleich richtigstel-
len, dass das schlicht eine falsche Aussage von Ihnen
war – an einem Ort, den wir alle, glaube ich, als sehr
schwierig empfinden, nämlich bei der Trauerfeier für die
Soldaten.
Zweitens. Die FDP hat auf dem Parteitag ein Konzept
beschlossen, welches Hilfen für Griechenland gerade
nicht ausschließt, sondern im Gegenteil beinhaltet: Wir
müssen helfen; das muss aber an klare Bedingungen ge-
knüpft sein.
Drittens. Was Sie gesagt haben, Herr Trittin, geht weit
über das hinaus, was im Wahlkampf in einem gewissen
Maße möglich ist. Ich bitte Sie nochmals: Stellen Sie
klar, dass die Äußerungen, die Sie hier im Bundestag zu
dem gemacht haben, was Herr Pinkwart gesagt hat,
schlicht falsch waren. Ich habe mir eben am Telefon
noch einmal die Live-Aufzeichnung – wörtlich – ange-
hört – und kommen Sie mir nicht damit, Sie hätten das
irgendwo anders gelesen; wenn man andere Leute zitiert
und ihnen ihre Worte zum Vorwurf macht, dann sollte
man das genau geprüft haben –: Wer Griechenland Mil-
liardenhilfen in Aussicht stellt und dann vor die deut-
schen Arbeitnehmer und kleinen Betriebe sich stellt und
sagt: „Für euch ist kein Geld da“, der schlägt dem Bür-
ger ins Gesicht.
Das ist, glaube ich, immer noch ein himmelweiter Unter-
schied. Ich bitte Sie, jetzt hier klarzustellen, dass die Äu-
ßerung von Herrn Pinkwart so gefallen ist und nicht so,
wie Sie es gerade behauptet haben.
Herr Kollege Trittin, Sie haben Gelegenheit zur
Reaktion.
Lieber Herr Kollege Fricke, ich bin Ihnen dankbar,dass Sie das Verhalten Ihres stellvertretenden FDP-Bun-desvorsitzenden hier noch einmal zur Sprache bringen.So geht das auch nicht unter. Sie haben eben mein Zitat,
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Jürgen Trittin
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dass er dies als Schlag ins Gesicht der Bürger sieht, aus-drücklich bestätigt.
Ich unterstreiche an dieser Stelle: Der gleiche HerrPinkwart, der sich in dieser Form
auf dem FDP-Parteitag und in diversen Hörfunkinter-views – ich könnte Ihnen auch Zitate aus dem Deutschland-funk mitbringen – geäußert hat, wird in seiner Funktion alsstellvertretender Ministerpräsident am kommendenFreitag genau diesem – in seinen Worten – „Schlag insGesicht“ im Bundesrat zustimmen.
In einem Punkte gebe ich Ihnen aber ausdrücklichrecht: Der Herr Außenminister war mit gutem Grund– mit vollem Respekt von meiner Seite – am Samstagnicht auf dem Parteitag der FDP.
Ich vermute aber, so wie ich den Kollegen Westerwellekenne, dass er sich die wesentlichen Äußerungen der Re-den am Samstag angehört hat
und auch diese Passage von Herrn Pinkwart kannte. AlsHerr Westerwelle am Sonntag auf dem FDP-Parteitaggeredet hat, da hätte ich von ihm als Vizekanzler, als Au-ßenminister der Bundesrepublik Deutschland und alsVorsitzenden der Partei von Hans-Dietrich Genscher er-wartet, dass er diese unglaubliche Äußerung von HerrnPinkwart zurückweist.
Dieser Erwartung ist Herr Westerwelle leider nicht ge-recht geworden.
Das Wort zu einer Kurzintervention auf die Rede des
Kollegen Friedrich erteile ich der Kollegin Viola von
Cramon.
Herzlichen Dank. – Herr Kollege Friedrich, Sie stel-
len hier in den Raum, dass es der IWF gewesen sei, der
Griechenland zu diesen sehr ambitionierten Sparpake-
ten getrieben hat. Das ist nicht korrekt. Griechenland ar-
beitet – bereits im Dezember des letzten Jahres gab es
das erste und im Februar dieses Jahres das zweite Spar-
paket – ganz ohne die Unterstützung und die Hilfe des
IWF und auch ohne den Druck vonseiten des IWF an ei-
ner Lösung des Problems. Deutschland hat an dieser
Stelle nichts dazu beigetragen, dass Griechenland sich
dazu entschlossen hat, sein Defizit zurückzufahren.
Am 4. März dieses Jahres wurde das dritte Sparpaket
verabschiedet, wieder ohne die Mitwirkung des IWF.
Erst in der letzten Woche ist der IWF auf den Plan getre-
ten. Man hat dann darüber diskutiert, was die Griechen
bereits selbstständig und eigenverantwortlich ausgear-
beitet haben. Laut dem Handelsblatt von Montag dieser
Woche sagte der Direktor des IWF, dass er sehr zufrie-
den ist mit dem, was Griechenland vorgelegt hat. Erwe-
cken Sie also bitte hier nicht den Eindruck, dass es der
internationale oder sogar der Druck aus Deutschland ge-
wesen ist, der Griechenland dazu gebracht hat, Sparmaß-
nahmen vorzunehmen. Das war es ganz bestimmt nicht.
Die Griechen sind Gott sei dank im Oktober des letz-
ten Jahres, als die neue Regierung ihre Arbeit aufgenom-
men hat, selbst zu der Erkenntnis gekommen, dass sie
radikale Sparmaßnahmen vornehmen müssen. Bitte neh-
men Sie das zur Kenntnis.
Herr Kollege Friedrich, bitte.
Frau Kollegin, ganz herzlichen Dank dafür, dass Sienoch einmal das bestätigt und unterstrichen haben, wasdie Frau Bundeskanzlerin hier vorgetragen hat.Wir hatten auf europäischer Ebene gemeinsam dieHoffnung, dass das, was Griechenland an Sparmaßnah-men und Schuldenreduzierung auf den Weg bringt, aus-reichen könnte, um die Märkte wieder zu beruhigen unddas Land tatsächlich aus der Krise zu führen. DieseHoffnung konnte man haben. Deswegen war es richtig,nicht gleich zu sagen: „Ihr braucht keine Reformen zumachen, hier habt ihr Geld“, sondern die Griechen beiihren ehrlichen und ernsthaften Bemühungen im Rah-men ihrer Regierungsarbeit moralisch zu unterstützen.
Aber dann – auch das ist in der Regierungserklärungdeutlich geworden – hat sich plötzlich herausgestellt,dass all die Bemühungen, die Griechenland unternom-men hat, nicht ausgereicht haben. Eurostat hat nämlichfestgestellt, dass die Nettokreditaufnahme noch höherliegt. Diese Erkenntnis veranlasste die griechische Re-gierung dazu, zu sagen: Jetzt sind wir mit unseren Mög-lichkeiten am Ende; jetzt brauchen wir die internationaleStaatengemeinschaft.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Mai 2010 3745
Dr. Hans-Peter Friedrich
(C)
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Dann wurde der IWF eingeschaltet. Das ist die tatsächli-che Reihenfolge.Frau Kollegin, ganz herzlichen Dank dafür, dass Sienoch einmal unterstrichen haben, dass das, was die Bun-deskanzlerin hier vorgetragen hat, zutreffend ist.Danke schön.
Als letztem Redner in dieser Debatte erteile ich Kol-
legen Norbert Barthle von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Sehr verehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-nen und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir stehen heute in dieser historischen Stundean einer Weggabelung für die Zukunft Europas. Ange-sichts der Dimension der Entscheidung, die wir in dieserWoche zu treffen haben, finde ich es ein Stück weit be-merkenswert, mit welch teilweise billiger Polemik hiervonseiten der Opposition versucht wird, innenpolitischesKapital – womöglich mit Blick auf eine Landtagswahl –zu schlagen.
Es besteht Konsens unter allen Euro-Ländern. Es gehtnicht um eine einzelne nationale Maßnahme, sondernum ein Gesamtpaket, das in Abstimmung mit dem IWF,mit der EZB und mit allen Euro-Ländern geschnürt wor-den ist. Aus dieser schwierigen Situation auf diese bil-lige Weise innenpolitisches Kapital schlagen zu wollen,ist schon bezeichnend.
Letztendlich geht es uns doch darum, die Stabilität desEuro zu gewährleisten und dafür zu sorgen, dass dieseWährung, die Grundlage unseres gemeinsamen Wohl-stands ist, auch in Zukunft sicher ist. Auf diese Weiseschützen wir den gesamten Euro-Raum.Natürlich geht es primär darum, Griechenland wiederzahlungsfähig zu machen. Es geht auch darum, die Wett-bewerbsfähigkeit Griechenlands zu stärken. Ich finde esbemerkenswert, wenn Herr Gysi an dieser Stelle fest-stellt, dass die international vereinbarten Maßnahmenökonomischer Blödsinn seien. Denn diese Maßnahmenzielen gerade darauf ab, die Wettbewerbsfähigkeit Grie-chenlands zu stärken und Griechenland in die Lage zuversetzen, sich auf den Finanzmärkten zu refinanzieren.Das ist schon bemerkenswert. Man kann an dieser Stellebeobachten, was passiert, wenn ein Land leichtfertigüber Jahre hinweg – viel zu lange – von fremdem Geldlebt, sich hoch verschuldet und es dabei versäumt, seineWettbewerbsfähigkeit zu stärken.
Wir sind der Auffassung: Es gibt tatsächlich keine Al-ternative zu dieser Rettungsmaßnahme, diesem Notfall-programm, das wir in dieser Woche auflegen wollen. Esist mir wichtig, zu erklären: Damit tun wir alles, um dasRisiko von den deutschen Steuerzahlern so weit als ir-gend möglich fernzuhalten. Wir übernehmen eine Aus-fallbürgschaft für die Kredite der KfW. Diese Kreditesind letztendlich nichts anderes als Hilfe zur Selbsthilfe.Es gibt keinen Blankoscheck – teilweise wurde das for-muliert –: Die Hilfe ist an strenge Auflagen geknüpft.Griechenland hat sich zu einem wirklich drastischenSparkurs verpflichtet, der daraus resultiert, dass Ein-nahmeverbesserungen erzielt und durchgreifende Struk-turreformen vorgenommen werden müssen. Griechen-land will sein Defizit bis 2014 unter die 3-Prozent-Grenze senken. Das ist alle Anerkennung wert. Das Me-morandum of Understanding, das abgeschlossen undvon den Griechen unterzeichnet wurde, sichert uns zu,dass diese Maßnahmen umgesetzt werden.Immer wieder kommt die Frage: Welche Sicherheitenhaben wir? Natürlich kann niemand sagen, dass wir end-gültige Sicherheit haben. Dennoch möchte ich an dieserStelle betonen, dass wir für die erfolgreichen, nach-drücklichen Verhandlungen unserer Bundeskanzlerinund unseres Finanzministers dankbar sein müssen, dieerreicht haben, dass der IWF beteiligt wird.
Durch die Beteiligung des IWF erhalten die Auflagen,die mit dem Paket verknüpft sind, eine wesentlich grö-ßere Durchschlagskraft; wir erhalten bessere Kontroll-mechanismen. Dass sich der IWF mit 30 MilliardenEuro finanziell beteiligt, zeigt, dass die internationaleGemeinschaft Vertrauen in die Wirksamkeit dieses Pa-kets hat. Das ist ein ganz wichtiges Signal.Nebenbei bemerkt: Es ist Bestandteil dieses Paketes,dass regelmäßig, vierteljährlich, eine Überprüfung vor-genommen wird. Diese Überprüfung orientiert sich anquantitativen Leistungskriterien und strukturellen Richt-werten, um die erreichten Fortschritte zu bewerten undgegebenenfalls weitere Maßnahmen zu beschließen. ImKontext dieser Überprüfungen können wir als deutschesParlament jederzeit gegensteuern. Vierteljährlich findeteine Unterrichtung durch die Bundesregierung im Haus-haltsausschuss des Deutschen Bundestages statt. Wir ha-ben die Möglichkeit, regelmäßig zu kontrollieren, ob dieentsprechenden Fortschritte erzielt werden.Die Zahlungspraxis des IWF gestaltet sich folgender-maßen: Die Zahlung weiterer Tranchen ist immer darangeknüpft, dass die Maßnahmen erfolgreich sind. Das istein wichtiges Signal an die deutsche Öffentlichkeit; denn
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3746 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Mai 2010
Norbert Barthle
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damit haben wir ein Stück weit Sicherheit, dass das be-schlossene Programm wirkungsvoll umgesetzt wird.Es wurde bereits von den Vorrednern betont, dass esüber dieses Programm hinaus notwendig sein wird, wei-tere Maßnahmen zu ergreifen, um künftige Vorfälleähnlicher Dimension zu vermeiden. Ich will das unter-streichen. Wir denken da an zwei verschiedene Bereiche.Einerseits müssen wir es schaffen, auf europäischerEbene dafür zu sorgen, dass bessere Transparenz undbessere Kontrollmöglichkeiten entstehen. Da ist Eurostatgefragt. Wir müssen es Eurostat ermöglichen, schärferund besser zu kontrollieren, transparentere, klare Zahlenzu bekommen. Wir müssen entsprechende Sanktionenvorsehen. Bisher wurden auf europäischer Ebene nochnie Sanktionen ausgesprochen. Damit sind Sanktionenein stumpfes Schwert. Wir müssen die EuropäischeUnion in die Lage versetzen, tatsächlich Sanktionen aus-zusprechen.
Unser Fraktionsvorsitzender hat klipp und klar daraufhingewiesen, dass es gelingen muss, ein Insolvenzver-fahren vorzusehen. Wir brauchen die notwendigen In-strumentarien, damit es künftig, wenn noch einmal solchein Fall eintreten sollte, nicht notwendig ist, in einemmühsamen europäischen Abstimmungsverfahren einProgramm zu beschließen. Vielmehr müssen Regularienbestehen, die sofort greifen können. Andererseits wird esdarum gehen, die Finanzmärkte in den Blick zu nehmen.Auch dazu hat die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungs-erklärung das Notwendige gesagt. Es wird darum gehen,eine unabhängige europäische Ratingagentur zu instal-lieren; denn die Ratingagenturen – auch darauf hat derFinanzminister immer wieder hingewiesen – haben indiesem Kontext eine ausgesprochen verstärkende Wir-kung erzielt. Das muss künftig verhindert werden. Wirsind gerne bereit, über ein Verbot ungedeckter Leerver-käufe zu sprechen. Das ist in unserem Maßnahmenpaketvorgesehen. Wir sind auch gerne bereit, über ein Verbotder sogenannten Credit Default Swaps zu sprechen,wenn sie ohne Eigenkapitalunterlegung nur zur Spekula-tion benutzt werden.Das alles sind sinnvolle Maßnahmen, die wir ergrei-fen wollen, um die Finanzmärkte besser als bisher regu-lieren zu können. Aber – das muss man immer wiederhinzufügen – das geht nur im internationalen Kontext.Deshalb wünsche ich mir, dass der Deutsche Bundestagin dieser Woche das vorliegende Maßnahmenpaket mitgroßer Mehrheit verabschiedet und damit der Bundes-kanzlerin den Rücken stärkt, damit sie unser Vorhabenauf internationalem Parkett durchsetzen kann.Danke sehr.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfes auf Drucksache 17/1544 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist offensichtlich
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Ich unterbreche nun die Sitzung bis 13 Uhr. Der Wie-
derbeginn der Sitzung wird rechtzeitig durch Klingel-
signal bekannt gegeben.
Die Sitzung ist unterbrochen.
Die unterbrochene Sitzung ist wieder eröffnet.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:Befragung der BundesregierungDie Bundesregierung hat als Thema der Kabinettssit-zung von Montag mitgeteilt: Rücknahme der Erklärungder Bundesrepublik Deutschland vom 6. März 1992zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes.Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Berichthat die Bundesministerin der Justiz, Frau SabineLeutheusser-Schnarrenberger. Bitte schön.Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-ministerin der Justiz:Recht herzlichen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kol-leginnen und Kollegen! Am 3. Mai 2010 wurde in derKabinettssitzung der Beschluss zur Rücknahme des Vor-behalts gegen die Kinderrechtskonvention gefasst. Daswar ein wirklich guter Tag für die Kinderrechte. Mit derRücknahme der Erklärung zur Kinderrechtskonventionder Vereinten Nationen haben wir ein jahrelanges Anlie-gen des Bundestages umgesetzt. Die Koalition hat jetzt,nachdem jahrelang über dieses Thema diskutiert wordenist, den Durchbruch erreicht.1989 wurde die Kinderrechtskonvention von der Ge-neralversammlung der Vereinten Nationen angenom-men. Im Jahr 1992 wurde sie von Deutschland ratifiziert,wobei aber mit der Interpretationserklärung bei der Hin-terlegung der Ratifikationsurkunde Anlass zur Diskus-sion gegeben wurde. Diese Erklärung betraf das Fami-lienrecht, das Jugendstrafrecht sowie das Ausländerrechtund ist seinerzeit auf Wunsch der Bundesländer zustandegekommen.Viele Initiativen und Flüchtlingsorganisationen habensich seither für die Rücknahme der Erklärung stark ge-macht, nicht nur der Bundestag, sondern besonders auchdie Kinderkommission, und zwar einstimmig. Die Bun-desregierung hat sich im Koalitionsvertrag daraufverständigt, diesen Vorbehalt zurückzunehmen. Die Län-der haben sich mit der Bundesratsentschließung vom26. März 2010 für die Rücknahme ausgesprochen. Daswar ein ganz wichtiges Signal, ein wichtiger Schritt da-hin, dass sich jetzt auch die Bundesregierung zur Rück-nahme des Vorbehalts entscheiden konnte. Denn – dashat die Debatten in den letzten Jahren geprägt – es solltenicht gegen den Willen der Länder erfolgen.Warum haben sich so viele für die Rücknahme desVorbehaltes über Jahre hinweg eingesetzt, und welchekonkreten Folgen resultieren aus der Rücknahme?
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Mai 2010 3747
Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
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Deutschland hat natürlich immer die Kinderrechtskon-vention der Vereinten Nationen respektiert. Die Erklä-rung sollte nicht die Rechte der Kinder einschränkenoder außer Kraft setzen, sondern es ging darum, für diegenannten Bereiche Gefahren durch mögliche Fehl- oderÜberinterpretationen auszuschließen. Diese Sorgen hat-ten die Länder immer zum Ausdruck gebracht.Dies bezog sich besonders auf Aspekte des Auslän-derrechtes. Deshalb hob die Erklärung hervor, dass dieKonvention kein Recht auf widerrechtliche Einreise undAufenthalt gewähre. Aber natürlich brauchen minderjäh-rige Flüchtlinge einen ganz besonderen Schutz. DieFrage, was wir für minderjährige Asylbewerber undFlüchtlinge tun können, stellt sich in jedem Einzelfall.Die Rücknahme der Erklärung ist daher vor allem einganz wichtiges politisches Signal für den Vollzug, dasheißt: für die Gesetzesanwender. Es sollte den LändernAnlass geben, ihre Praxis zu überprüfen und zu überle-gen, wie das Kindeswohl stärker berücksichtigt werdenkann. Ich denke an aktuelle Fälle, in denen Kinder inAbschiebehaft sitzen. Auch wenn die Abschiebehaftnach der Kinderrechtskonvention grundsätzlich zulässigbleibt, muss sie auf die kürzeste noch angemessene Zeitbegrenzt werden. Hier sollten die Länder kritisch über-prüfen, wie viele Kinder sich wie lange in Abschiebehaftbefinden, und dann entsprechend reagieren.Auch im Bereich der medizinischen Versorgung solltedie Bewilligungspraxis der Sozialbehörden auf die be-sondere Schutzbedürftigkeit von Kindern und Jugendli-chen, für die das Asylbewerberleistungsgesetz gilt,Rücksicht nehmen.Natürlich ist es richtig, im Asylverfahren nicht nur Ju-gendlichen bis zum 16. Lebensjahr, sondern bis zum18. Lebensjahr einen angemessenen Rechtsbeistand zurSeite zu stellen und in diesen Verfahren auch besondersgeschulte Sachbearbeiter einzusetzen.Insgesamt ist mit der Entscheidung über die Rück-nahme ein ganz wichtiges Zeichen gesetzt worden, auchauf internationaler Ebene. Unsere Botschaft ist klar: Füruns steht das Kindeswohl im Mittelpunkt unserer Politik.Vielen Dank.
Danke schön. – Als erste Fragestellerin zu diesem
Themenbereich hat Ekin Deligöz, Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen, das Wort.
Sehr geehrte Frau Ministerin, vielen Dank für Ihre
Ausführungen. In der Tat ist es ein großer Schritt, diese
Vorbehalte zurückzunehmen. Es steht Deutschland auch
international sehr gut zu Gesicht, das zu tun. Sie haben
hinsichtlich der Konsequenzen oft an die Länder appel-
liert. Mich interessiert, welche Konsequenzen Sie als
Bundesministerin daraus ziehen. Das heißt: Was werden
Sie konkret tun, sei es gesetzlich oder untergesetzlich,
um diese Rechte der Kinder bundesweit durchzusetzen?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-
ministerin der Justiz:
Vielen Dank, Frau Deligöz, für die Frage. Ich möchte
noch einmal betonen, dass es gerade dieser Regierung
gelungen ist, und zwar mit Zustimmung aller Bundeslän-
der, hier weiterzukommen. Das haben andere Regierun-
gen, die sich natürlich auch immer um das Kindeswohl
bemüht haben, nicht erreicht.
Auf Bundesebene haben wir keinen Gesetzgebungs-
bedarf. Bei der Erklärung spielte zum einen das Fami-
lienrecht eine Rolle. Hier sind nach 1992 mit der Kind-
schaftsrechtsreform bereits Änderungen erfolgt und
Unterschiede zwischen ehelichen und nicht ehelichen
Kindern so weit wie möglich beseitigt worden. Nach der
Kinderrechtskonvention wird nicht ein ganz bestimmtes
Modell vorgegeben. Aber vor dem Hintergrund der Ent-
scheidung des Europäischen Menschenrechtsgerichts-
hofs werden wir die Frage des Sorgerechts von nicht ver-
heirateten Eltern, gerade auch von Vätern, zu beraten
haben. Hier arbeiten wir bereits an einem Gesetzentwurf.
Im Bereich des Jugendstrafrechts geht es um einen
rechtskundigen oder anderen geeigneten Beistand zur
Vorbereitung und Wahrnehmung der Verteidigung. Nach
dem geltenden Recht besteht die Pflicht zur Bestellung
eines Pflichtverteidigers, wenn es keinen Wahlverteidi-
ger gibt und das Kind nicht in der Lage ist, sich selbst zu
verteidigen. Diese Regelung greift unmittelbar. Insofern
müssen wir auch hier auf Bundesebene nicht gesetzgebe-
risch tätig werden.
Auch im Bereich des Asyl- und Ausländerrechts se-
hen wir keinen legislativen Handlungsbedarf auf Bun-
desebene. Es wird verlangt, gerade Flüchtlingskindern,
ob begleitet oder unbegleitet, angemessenen Schutz und
humanitäre Hilfe zu gewähren. Insbesondere in diesem
Bereich – ich habe einige Bereiche angesprochen –
kommt es auf die Länder an. Die Länder waren im Vor-
feld der Befassung des Kabinetts sehr konstruktiv. Sie
haben sich in mehreren Bundesratssitzungen damit be-
fasst, ob sie einer Rücknahme der Erklärung zustimmen
können bzw. damit einverstanden sind. Die ursprüngli-
chen Vorbehalte der Länder – egal wer in den Ländern in
Regierungsverantwortung steht – sind in dieser Form
nicht mehr belegt. Aber wir werden natürlich – die
nächste Justizministerkonferenz im Juni bietet dazu si-
cherlich eine gute Gelegenheit – mit den Ländern da-
rüber reden, was passiert und wie sich die Situation nach
der Rücknahme des Vorbehaltes und der Zuleitung des
Kabinettsbeschlusses an den Generalsekretär der Verein-
ten Nationen konkret darstellt. Wir werden dann letzt-
endlich zu gewichten haben, ob es hier, an welche Stelle
auch immer adressiert, gesetzgeberischen Handlungsbe-
darf geben sollte.
Die nächste Frage stellt Diana Golze.
Vielen Dank. – Frau Ministerin, ich möchte an dieFragen meiner Kollegin Deligöz anschließen. Natürlichbegrüße auch ich die bevorstehende Rücknahme des
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3748 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Mai 2010
Diana Golze
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Vorbehalts. Aber ich denke schon, dass sich hier für unsals Bund Handlungsbedarf für Gesetzesänderungenabzeichnet. Ich nenne als Beispiel die ausdrückliche Ver-ankerung des Vorrangs des Kindeswohls im Asylverfah-rens- und Asylbewerberleistungsrecht sowie im Aufent-haltsgesetz.Sie haben vorhin gesagt, dass die Abschiebehaft lautUN-Kinderrechtskonvention grundsätzlich zulässig bleibt.Wir könnten es uns doch durchaus erlauben, darüber hi-nauszugehen und zu sagen: Während des Verfahrens ver-bieten wir die Aufnahme von minderjährigen Flüchtlin-gen in Abschiebehaft. Wir verbieten die Abschiebungminderjähriger unbegleiteter Flüchtlinge.Hier sehe ich den Bund in der Pflicht. Gerade jetzt, dawir auf die Zustimmung der Länder hoffen können,sollte der Bund auf die Länder in den Fragen zugehen, indenen die Landesgesetzgebungen betroffen sind. Ichdenke hier zum Beispiel an den Schulbesuch von Kin-dern unabhängig vom Aufenthaltsstatus.Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-ministerin der Justiz:Herzlichen Dank, Frau Kollegin, dass Sie noch ein-mal meine Auffassung bestätigt haben, dass es nach derKonvention jetzt nicht geboten und rechtlich vorgegebenist, die Abschiebehaft für Jugendliche abzuschaffen. Dasist die richtige juristische Bewertung. Etwas anderes istdie politische Diskussion, die hierüber geführt werdenmuss.Die Konvention verbietet die rechtswidrige oder will-kürliche Inhaftierung und hält die Abschiebehaft als letz-tes Mittel in der kürzesten angemessenen Zeit für an-wendbar. Das ist der rechtliche Rahmen, in dem wir unsbewegen. Die Debatte darüber, ob man über diese Rege-lungen hinausgeht, ohne dazu durch die Konvention ver-pflichtet zu sein, ist natürlich den Ländern, aber auchdem Bundestag und den Fraktionen unbenommen.Ich darf auf einen weiteren Punkt hinweisen: Sie ha-ben den Schulbesuch von Kindern ohne Aufenthaltsbe-rechtigung angesprochen, die sich also illegal hier auf-halten. Ich bin sehr froh, dass es uns gelungen ist – ichglaube nicht, dass das bei den Vorgängerregierungen inden Jahren nach 1998 der Fall war –, im Koalitionsver-trag festzuschreiben, dass gerade die Vorschriftenhinsichtlich der aufenthaltsgesetzlichen Übermittlungs-pflichten öffentlicher Stellen geändert werden, sodassder Schulbesuch von Kindern ermöglicht wird. Ansons-ten können Kinder, die sich illegal in Deutschland auf-halten, nicht zur Schule gehen, weil in einem solchenFall Meldepflicht besteht und dann entsprechende Kon-sequenzen gezogen werden.
Genau diesen Punkt haben wir in Verantwortung ge-genüber den Kindern und dem Kindeswohl als CDU/CSU/FDP-Koalition in den Koalitionsvertrag aufgenom-men. Ich glaube, daran sieht man, wie ernst wir geradediese Frage nehmen und wie konkret wir uns im Gegen-satz zu anderen Regierungen auf Verbesserungen ver-ständigt haben.
Das Wort hat nun Kollege Peter Tauber.
Frau Ministerin, zunächst herzlichen Dank für diesen
Erfolg. Ich glaube, dass er zu gleichen Teilen der Ein-
sicht der Länder als auch Ihrem Charme geschuldet ist.
Mich interessiert nun: Erfüllt die Bundesregierung
bereits jetzt, das heißt unabhängig von der Rücknahme
der Vorbehaltserklärung, alle sich aus der Kinderrechts-
konvention ergebenden völkerrechtlichen Verpflichtun-
gen? Oft hat man ein bisschen die Sorge, dass in der öf-
fentlichen Debatte aufgrund dieser Rücknahme der
Eindruck entstehen könnte, das sei bisher nicht der Fall
gewesen.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-
ministerin der Justiz:
Deutschland hat sich allen völkerrechtlichen Ver-
pflichtungen nicht nur theoretisch verpflichtet gefühlt,
sondern ist diesen Verpflichtungen natürlich auch immer
nachgekommen. Hier gab es gerade nach 1992 in man-
chen Bereichen gesetzliche Änderungen. Ich denke
besonders an die 1998 vorgenommene Kindschafts-
rechtsreform im Familienrecht, die, wenn sie vorher vor-
genommen worden wäre, damals bei Zeichnung der
Konvention ohne Abgabe des Erklärungsvorbehaltes
eher zu Problemen hätte führen können. Aber wir erfül-
len die Verpflichtungen aus der Konvention.
Für mich geht es jetzt vorrangig darum, zu klären,
was das für die Gesetzesanwendung bedeutet. Internatio-
nal stehen wir damit gut da. Zu Recht sind die Organisa-
tionen – UNICEF, Pro Asyl und viele andere –, die sich
der Situation von Kindern annehmen, mit der Entschei-
dung des Kabinetts einverstanden. Ich denke, das ehrt
diese Koalition.
Das Wort hat nun Kollegin Katja Dörner.
Sehr geehrte Frau Ministerin, vielen herzlichen Dankfür Ihre Ausführungen. Ich möchte Sie ganz konkretfragen, ob die Bundesregierung jetzt als Folge der Rück-nahme der Vorbehaltserklärung plant, Kinder und Ju-gendliche aus dem Asylbewerberleistungsgesetz heraus-zunehmen. Sie wissen, dass das erhebliche Folgen hätte,beispielsweise hinsichtlich der Versorgung im Gesund-heitswesen und mit Blick auf das Existenzminimum.Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-ministerin der Justiz:Die Regierung hat nicht die Absicht, jetzt das Asylbe-werberleistungsgesetz zu ändern. Natürlich können die
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Mai 2010 3749
Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
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Länder durchaus gerade für minderjährige Jugendlichebis zum 18. Lebensjahr Regelungen schaffen, zum Bei-spiel – in Bayern wird aktuell darüber verhandelt – dasskeine Verpflichtung zur Unterbringung in Gemein-schaftsunterkünften besteht. Da ist die Situation in denBundesländern sehr unterschiedlich. Aber kaum ir-gendwo ist vereinbart worden, dass man das – ohne ge-setzliche Änderung – im Rahmen von § 53 Asylverfah-rensgesetz regelt. Auch hier besteht ganz klar dieMöglichkeit, in sehr viel größerem Umfang das Kindes-wohl zu berücksichtigen und entsprechend tätig zu wer-den. Aber wir haben uns auf Bundesebene – das liegtnicht in der Kompetenz des Justizministeriums – nichtdarauf verständigt, das Asylbewerberleistungsgesetz zuändern.
Kollegin Marlene Rupprecht ist die Nächste.
Frau Ministerin, ich kann es nur begrüßen, wenn die
Vorbehalte zurückgenommen werden. Mit diesem
Schritt signalisieren wir nach außen, dass wir nicht mehr
zwischen 0- bis 15- und 16- bis 18-Jährigen unterschei-
den. Das hat uns international immer Rüffel eingebracht.
Deshalb begrüße ich diese Rücknahme und bin dankbar,
dass wir das geschafft haben.
Mit der Rüge war aber immer auch verbunden, dass
es Folgen hatte, dass wir 16- bis 18-Jährige nicht als
Kinder angesehen haben, wie es die UN-Kinderrechts-
konvention eindeutig vorschreibt. Die Vorbehalte, die
Sie eben schon erwähnt haben, haben wir mit gesetzli-
chen Regelungen außer Kraft gesetzt, zum Beispiel beim
Kindschaftsrecht und in Bezug auf die Kindersoldaten.
Durch diese gesetzlichen Regelungen wurde die Wir-
kung erzielt, die durch die Vorbehalte verhindert wurde.
Wenn wir nun nicht nur eine Wirkung nach außen er-
zielen wollen, sondern auch nach innen, wenn die Rück-
nahme der Vorbehalte also nicht nur ein Placebo oder ein
Feigenblatt sein soll, müssen wir entsprechende Konse-
quenzen ziehen, vor allem im Jugendhilferecht. Kinder
bis 18 haben nach den internationalen Standards – egal
woher sie kommen und wer sie sind – das Recht auf Ju-
gendhilfe, das Recht auf Bildung, das Recht auf Gesund-
heit, auch das Recht darauf, nicht eingesperrt zu werden.
Wenn nun die Vorbehalte nur formal und mit Wirkung
nach außen zurückgenommen werden, ändert sich an
den Fakten des Rechts nichts. Deshalb ist meine Frage:
Wann und wie – da ist der Bund nicht allein zuständig,
weil das Jugendhilferecht zum Beispiel auch auf die
Schulgesetze durchschlägt und eine entsprechende Um-
setzung erfolgen muss – beabsichtigen die Länder, das
tatsächlich umzusetzen? Denn sonst ist die Rücknahme
ein Placebo, und wir hätten darauf verzichten können.
Die bisherige Kritik war eben, dass die Folgen aus den
Vorbehalten mit Blick auf die Kinder nicht hinnehmbar
sind. Deshalb die Frage an Sie: Wie sind die Länder-
minister Ihrer Partei aufgestellt? Denn die haben bisher
immer gebremst, wenn es ans Eingemachte, nämlich an
die tatsächliche Gesetzesänderung, ging.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-
ministerin der Justiz:
Ich kann berichten, dass die Länder gerade in den ver-
gangenen Jahren, was zum Beispiel die Schulpflicht an-
betraf, das Recht dahingehend geändert haben, den
Schulbesuch auch ausreisepflichtigen Flüchtlingen zu
gewähren. Das ist im Saarland, in Baden-Württemberg
und in anderen Ländern geschehen. Zu meinen, es sei in
den vergangenen Jahren nichts passiert, ist nicht richtig.
Vielmehr ist mit Druck des Bundestages, der in ständiger
Wiederholung deutlich gemacht hat, dass etwas passie-
ren muss, die Gesetzgebung in den Ländern angepasst
und die Situation für jugendliche Flüchtlinge verbessert
worden.
Was das Asylbewerberleistungsgesetz angeht, wird
eine Rolle spielen, wie sich nach Rücknahme des Vorbe-
halts die Bewilligungspraxis in den Ländern gerade im
Hinblick auf Kinder, besonders auf traumatisierte Kin-
der, entwickeln wird. Ich bin froh, dass es gelungen ist,
die Länder von diesem Schritt zu überzeugen. Sie haben
sich im Bundesrat in eigener Verantwortung in mehreren
Sitzungen dazu eingelassen, zu sagen: Jawohl, wir sind
damit einverstanden, dass der Vorbehalt zurückgenom-
men wird. – Jetzt wird auch in den Ländern debattiert
– das wird von den jeweiligen Fraktionen und politi-
schen Kräften mit betrieben –, wie man konkret und
vielleicht auch durch eine Gesetzesänderung gewisse
Dinge auf Landesebene verbessern kann. Dieser Prozess
wird jetzt in Gang kommen. Man merkt dies an den Re-
aktionen der jeweils betroffenen Verbände, Organisatio-
nen und Initiativen.
Von daher wären wir ohne das Handeln der Bundes-
regierung, ohne die Unterstützung der Länder und natür-
lich der Koalitionsfraktionen im Vorfeld und ohne die
Koalitionsvereinbarung überhaupt nicht in die Situation
gekommen, über die Gesetzesänderungen, die in den
letzten Jahren vorgenommen worden sind, hinaus einen
möglichen Handlungsauftrag zu sehen.
Jetzt Kollegin Michaela Noll.
Sehr geehrte Frau Ministerin, auch von meiner Stelleein herzliches Dankeschön. Sie haben mit Ihrem Han-deln ein deutliches politisches Signal für mehr Kinder-freundlichkeit in Deutschland gesetzt. Ich glaube, es warnicht schädlich, dass dies zwei Mitglieder der Kinder-kommission – deswegen auch ein herzliches Danke-schön an meine Kollegin Gruß – mitbegleitet haben. Wirsind seit 2002 Mitglieder der Kinderkommission. DieZurücknahme des Vorbehalts war einheitlich unserWunsch. Jetzt haben wir es vollbracht. Es ist tatsächlichdie erste Bundesregierung, die dies jetzt auf den Weg ge-bracht hat. Wir haben zwar vorher viel diskutiert; aberjetzt wird es Tatsache. Ich glaube, dies ist ein wirklichgutes Zeichen für uns hier und meiner Meinung nachauch auf internationaler Ebene, das zeigt: Wir nehmenunsere Vorbildfunktion wahr. Wir wissen, dass es nochein, zwei Länder gibt, die dies nicht auf den Weg ge-bracht haben. Vielleicht könnten wir diese mit diploma-
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Michaela Noll
(C)
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tischem Geschick anstoßen, unserem guten Weg zu fol-gen.Es wird oft in den Raum gestellt, dass wir, gerade wasdas Aufenthalts- und Asylverfahrensrecht von Kindernangeht, den Vorgaben der Kinderrechtskonvention nichtentsprechen. Ich bin vielmehr der Ansicht, dass schondas jetzige Verfahren, die Art und Weise, wie wir mitKindern umgehen, den Vorgaben der Kinderrechtskon-vention entspricht. Ich würde das gerne von Ihnen darge-legt bekommen. – Danke schön.Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-ministerin der Justiz:Recht herzlichen Dank, Frau Noll. – Ich habe es deut-lich gemacht: Ohne die fraktionsübergreifende Unter-stützung der Kinderkommission, die sich diesen Fragenaus tiefer Überzeugung und mit großem Nachdruck an-nimmt, wären nicht dieser ständige Druck und diese Er-wartungshaltung aufgebaut worden, die dazu geführt ha-ben, dass wir diesen Vorbehalt als erste Regierung nach1992, nachdem der Vorbehalt eingelegt worden ist, zu-rücknehmen.Ich möchte Ihnen bestätigen, dass ich unmittelbar ausder Konvention keine legislative Handlungsnotwendig-keit und keine Verpflichtung, Gesetze zu ändern, konsta-tieren kann. Unsere Situation entspricht vielmehr denForderungen der Konvention. Was man in der Praxis, inder Gesetzesanwendung verbessern kann, ist vorrangigAufgabe der Länder. Weitere Diskussionen müssen danndort geführt werden, wo man meint, Forderungen erhe-ben zu wollen.
Es gibt noch eine ganze Reihe von Fragestellern. Des-
wegen bitte ich um Kürze bei den Fragen und vielleicht
auch um Kürze bei den Antworten, damit wir noch viele
Fragesteller befriedigen können.
Jetzt Miriam Gruß.
Sehr geehrte Frau Ministerin, auch bei der FDP-Frak-
tion herrscht große Freude. Der Vorbehalt wäre in die-
sem Jahr 18 Jahre alt, also erwachsen geworden. Nun ist
er vom Tisch. Ich freue mich außerordentlich, dass es
dieser Bundesregierung und den Koalitionsfraktionen
gelungen ist, den Vorbehalt aufzuheben.
Ich darf daran erinnern: Wir hatten es geschafft, die
Rücknahme der Vorbehaltserklärung im Koalitionsver-
trag zu verankern. Wir haben später hier im Bundestag
eine Debatte dazu geführt, in der zum Ausdruck kam,
dass die Opposition es uns nicht zutraut, das zu schaffen.
Ein paar Monate später haben wir es schon geschafft.
Deswegen wundern mich ein paar Fragen vonseiten der
Kolleginnen und Kollegen.
Ich will an das große Ziel erinnern, für das wir von
der FDP – ich habe in den letzten vier Jahren für meine
Fraktion in der Kinderkommission Verantwortung getra-
gen – und viele Kolleginnen und Kollegen aus den ande-
ren Fraktionen gekämpft haben: die Aufhebung der Vor-
behaltserklärung. Das wäre nicht gelungen, wenn nicht
auch von Ihnen, Frau Justizministerin, ein permanenter
Druck auf die Länder ausgeübt worden wäre, sich zu be-
wegen. Dass sich die Länder bewegt haben, merkt man
daran, dass der Bundesrat im März die aktuelle Kabi-
nettsentscheidung ermöglicht hat.
Mit dieser Entscheidung setzen wir Signale in zwei
Richtungen: nach innen, aber auch nach außen.
Es wurden schon viele Fragen dazu gestellt, wie sich die
Entscheidung nach innen auswirkt. Mich würde interes-
sieren, wie sie nach außen – –
Frau Kollegin, wollten Sie nicht ursprünglich eine
Frage stellen?
Herr Präsident, ich akzeptiere das; aber just in dem
Moment wäre meine Frage gekommen: Wie waren die
Reaktionen im Ausland? Wurden schon Reaktionen an
Sie herangetragen? Wir haben von UNICEF Deutsch-
land gehört; vielleicht können Sie davon berichten. Ich
glaube, dass wir international ein großes Zeichen gesetzt
haben.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-
ministerin der Justiz:
Vor der heutigen Information des Parlamentes über
unseren Beschluss, der am Montag gefasst worden ist,
haben wir uns natürlich noch nicht an viele Stellen ge-
wandt. Wir haben die Rücknahme des Vorbehalts noch
nicht übermittelt. Das wird jetzt, nach dieser Regie-
rungsbefragung, passieren: Durch Übermittlung an den
Generalsekretär der Vereinten Nationen wird die Rück-
nahme verfahrensmäßig vollzogen.
Die E-Mails, die ich als Reaktion auf die Entschei-
dung erhalten habe, bringen große Freude und Begeis-
terung darüber zum Ausdruck, dass sich gerade Deutsch-
land, ein wichtiges Land, in den Kreis derjenigen
einreiht, die die Achtung der Kinderrechte und des Kin-
deswohls auf ihre Fahnen schreiben. Wenn ich Gelegen-
heit dazu erhalte, werde ich gern über weitere Reaktio-
nen berichten. Wir werden hier im Bundestag sicherlich
in vielen Bereichen über das Kindeswohl diskutieren.
Dann werden Sie erfahren, welche Reaktionen es aus an-
deren Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen gab.
Nächste Fragestellerin ist Dagmar Enkelmann.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Mai 2010 3751
(C)
(B)
Frau Ministerin, man könnte in diesem Zusammen-
hang sagen: Was lange währt … Nach 18 Jahren wurde
der Vorbehalt aufgehoben; die Konvention ist älter.
Sie haben auf die Länder abgehoben: Sie schieben die
Verantwortung ein Stück weit auf die Länder. Ich
möchte dennoch nachfragen – das hat bei anderen Fra-
gen schon eine Rolle gespielt –: Was gedenkt die Bun-
desregierung, die Justizministerin zu tun, um die Kon-
vention tatsächlich in nationales Recht umzusetzen? Vor
allen Dingen: An welchen Punkten will die Bundesregie-
rung im nationalen Recht über die Konvention hinausge-
hen? Ich nenne das Stichwort Abschiebehaft.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-
ministerin der Justiz:
Zunächst einmal möchte ich sagen, dass das nationale
Recht den geschriebenen Vorgaben in den Artikeln der
Konvention entspricht. Bei der Überlegung, was weiter
passieren kann, ist die Bundesregierung zuallererst an
das Grundgesetz gebunden. Wir sind ein föderaler Bun-
desstaat. Deshalb verweise ich zu Recht auf die Länder
und ihre Befindlichkeiten. Ich werde hier überhaupt
nicht sagen, welche Überlegungen die Länder vielleicht
anstellen sollten, welche Gesetzgebung sie in Angriff
nehmen könnten. Das ist wirklich zuallererst den Län-
dern überlassen.
Ich habe schon mehrmals betont: Es geht gerade und
vor allem um die Gesetzesanwendung in den Ländern.
Es ist den jeweiligen Fachleuten und den Länderminis-
tern unbenommen, auf den jeweiligen Treffen der Justiz-
minister, der Innenminister, der Familien- und Sozial-
minister den Austausch zu pflegen und sich dabei mit
konkreten Fragen zu befassen. Aus diesen Reihen kön-
nen Initiativen der Länder hervorgehen.
Nun stellt Ute Granold eine Frage.
Frau Ministerin, die Diskussion über die Rücknahme
der Vorbehaltserklärung gehört bald der Vergangenheit
an. Ich habe eine konkrete Frage zu Art. 18 der UN-Kin-
derrechtskonvention. Bislang gab es eine Interpretation
der Bundesregierung zur gemeinsamen elterlichen Sorge
bei Eltern, die nicht miteinander verheiratet sind. Hat die
Rücknahme der Vorbehaltserklärung Auswirkungen auf
die aktuelle Arbeit, was die Neuregelung der elterlichen
Sorge nicht miteinander verheirateter Eltern angeht?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-
ministerin der Justiz:
Nein, daraus ergibt sich keine unmittelbare Auswir-
kung auf die Überlegungen der Bundesregierung, die ge-
meinsame Sorge Nichtverheirateter unter bestimmten Vo-
raussetzungen zu ermöglichen. Die Konvention schreibt
kein bestimmtes Modell vor. Vielmehr muss nach dem
EGMR die Möglichkeit bestehen, rechtlich durchzuset-
zen, dass es gemeinsame Sorge gibt. Wie wir das machen
wollen, da haben wir nach wie vor Handlungs- und Ent-
scheidungsspielraum.
Danke.
Die nächste Frage stellt Andrea Voßhoff.
Frau Ministerin, auch ich möchte mich dem Dank für
die gute Entscheidung der christlich-liberalen Bundesre-
gierung anschließen. Mich würde in diesem Zusammen-
hang interessieren, wie sich das weitere Verfahren der
Rücknahme im Einzelnen gestaltet, insbesondere im
Lichte der Beteiligung der Länder nach dem Lindauer
Abkommen.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-
ministerin der Justiz:
Vielen Dank, Frau Voßhoff. – Zunächst zum formalen
Verfahren gegenüber den Vereinten Nationen. Der Kabi-
nettsbeschluss wird dem Generalsekretär der Vereinten
Nationen mitgeteilt, und zwar durch das Auswärtige
Amt auf dem Wege einer Verbalnote.
Zum Lindauer Abkommen. Das Lindauer Abkommen
sieht bestimmte Regelungen zur Beteiligung der Länder
vor. Es ist aber nicht unmittelbar einschlägig, da es sich
bei der Rücknahme des Vorbehalts nicht um einen Akt
der Gesetzgebung handelt. Wir müssen kein Gesetz ver-
abschieden – dann hätten wir eine unmittelbare Anwen-
dung des Lindauer Übereinkommens –, sondern wir neh-
men den Vorbehalt durch Kabinettsbeschluss und eine
Mitteilung an den Generalsekretär der Vereinten Natio-
nen zurück. Wir reagieren so, damit die Konvention in
Deutschland in allen Punkten, ohne Einschränkung gilt.
Es könnte sich mittelbar aus dem Lindauer Abkom-
men eine Anwendung ergeben, wenn es um ausschließli-
che Ländergesetzgebungskompetenz ginge. Das ist aber
nicht der Fall. Es hat nichts damit zu tun, ob sich aus der
Konvention eine Verpflichtung zur Gesetzgebung ergibt
oder nicht. Ich habe klar die Auffassung der Bundesre-
gierung wiedergegeben. Ausländerrecht, Asylbewerber-
leistungsgesetz, Familienrecht, Jugendstrafrecht oder
Kinder- und Jugendhilferecht unterliegen nicht der aus-
schließlichen Gesetzgebung der Länder, sondern auch
der Bundesgesetzgebung. Deshalb haben wir nach sorg-
fältiger Prüfung zu dem Ergebnis kommen müssen, dass
kein weiteres Verfahren gemäß dem Lindauer Überein-
kommen einzuleiten ist.
Als Nächster stellt Frank Heinrich eine Frage.
Sehr geehrte Frau Ministerin, ich habe eine Fragezum Verfahren, das Sie angesprochen haben. Wann kön-nen wir damit rechnen, dass es gültig wird? Ich habeauch noch eine konkrete Frage zum Umgang mit min-
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3752 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Mai 2010
Frank Heinrich
(C)
(B)
derjährigen Flüchtlingen, die möglicherweise als Kin-dersoldaten eingesetzt waren. Wie ist es um derenRechtssicherheit bestellt? Sind sie rechtlich geschützt?Denn sie haben Furcht davor, dass sie wegen der Strafta-ten, zu denen sie gezwungen wurden, belangt werden.Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-ministerin der Justiz:Zu Ihrem ersten Punkt. Ich kann Ihnen kein genauesDatum nennen, weil das Auswärtige Amt die Verbalnotedem Generalsekretär der Vereinten Nationen zuzuleitenhat, aber aufgrund der Tatsache, dass wir nach Einlegungdes Vorbehaltes 18 Jahre gebraucht haben, um die Ent-scheidung zu fällen, werden wir natürlich dafür sorgen,dass es so zügig wie möglich vonstatten geht. Wir wer-den Sie entsprechend unterrichten.Zum Thema Kindersoldaten. Es hat sich hinsichtlichder Konvention nichts ergeben. Bei Kindersoldaten, diegezwungen werden, andere Menschen, Angehörige oderFreunde zu bedrohen oder zu schädigen, und die sichwegen entsprechender Altersgrenzen möglicherweisestrafbar gemacht haben, kam es in Deutschland meinesWissens noch nie zu Strafverfahren. Ich denke, in einersolchen Notsituation sind andere Aspekte zu berücksich-tigen. Deswegen wird keiner daran denken, entspre-chende Schritte einzuleiten. Man muss froh über jedesKind sein – der Ausdruck „Kindersoldat“ verharmlostdas, was mit diesen Kindern passiert –, das aus dieser Si-tuation herauskommen kann.
Die beiden letzten Fragestellerinnen sind Katja Dör-
ner und Ekin Deligöz.
Ich möchte konkret nach der Schulpflicht fragen. Ich
entnehme dem aktuellen Staatenbericht, dass beispiels-
weise in Hessen Kinder und Jugendliche, die keinen
Aufenthaltsstatus haben, weiterhin nicht schulpflichtig
sind. Meine Frage lautet: Stimmen Sie mit mir darin
überein, dass das nach der Rücknahme der Vorbehaltser-
klärung nicht mit der UN-Kinderrechtskonvention über-
einstimmt?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-
ministerin der Justiz:
Die Länder haben unterschiedliche Regelungen ge-
wählt. Baden-Württemberg knüpft die Schulpflicht an
den Wohnsitz oder den gewöhnlichen Aufenthaltsort,
aber nicht an den rechtlichen Aufenthaltsstatus. Ich habe
schon in mehreren Antworten zum Ausdruck gebracht,
dass nun die jeweiligen Länderregierungen genau prüfen
müssen, inwieweit sie ihre Landesgesetze anpassen und
in welcher Form sie das tun wollen. Aber eines ist klar:
Der Aufenthaltsstatus selbst, also die rechtliche Zuord-
nung, soll nicht dafür ausschlaggebend sein, dass min-
derjährige Jugendliche von der Schule wegbleiben bzw.
dass ihnen der Schulbesuch verwehrt wird.
Nun hat Ekin Deligöz das Wort.
Frau Ministerin, ich habe Ihnen sehr genau zugehört
und habe Ihren Ausführungen entnommen: Sie nehmen
zwar symbolisch die Vorbehalte zurück, sehen aber auf
der Bundesebene keinerlei Handlungsbedarf. Sie appel-
lieren an die Länder, ihren Prüfauftrag wahrzunehmen
und darüber nachzudenken, ob sie die Möglichkeit se-
hen, etwas zu verändern. Wenn Sie auf Bundesebene
nichts unternehmen wollen und an die Länder appellie-
ren, dann interessiert mich: Haben Sie im Zusammen-
hang mit der Rücknahme konkrete Vereinbarungen mit
den Ländern geschlossen, die darauf abzielen, dass sich
etwas verändern soll und muss, oder hat das, was Sie sa-
gen, lediglich Appellcharakter, und wollen Sie das, was
Sie vorhaben, auf einer der nächsten Justizministerkon-
ferenzen – womöglich unter „Verschiedenes“ – anspre-
chen?
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-
ministerin der Justiz:
Frau Deligöz, die Grünen selbst haben Regierungs-
verantwortung in den Ländern. Ich kann mich überhaupt
nicht erinnern, dass sich die Grünen, als sie selber noch
Verantwortung im Bund getragen haben, jemals im Ka-
binett mit der Rücknahme des Vorbehalts befasst hätten.
Mir ist nichts erinnerlich. Es tut mir leid: Aber wir ma-
chen es! Das als einen reinen Appell niederzumachen,
halte ich in der Sache für überhaupt nicht angemessen
und angebracht. Ich kann nicht verstehen, wie nun einige
anfangen, das kleinzureden. So viel zum ersten Punkt.
Der zweite Punkt ist: Mich freut sehr, wenn ich Vor-
schläge aus Hamburg bekomme, aus denen hervorgeht,
dass man nun dringenden Bedarf an Gesetzesänderungen
sieht. Ich warte auf solche Vorschläge und werde gerne
mit Herrn Steffen darüber sprechen. Ich mische mich
aber angesichts unserer föderalen Struktur nicht in Über-
legungen der Länder ein. Diese verbitten sich das zu
Recht.
Deshalb wird das die Bundesregierung auch nicht tun.
Danke schön, Frau Ministerin. – Mir liegen bereitsseit längerem noch zwei Anmeldungen von Fragen zuanderen Themen der Kabinettsitzung vor.Zuerst Volker Beck und dann Kollege MatthiasMiersch.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Mai 2010 3753
(C)
(B)
Ich habe eine Frage an das Bundesinnenministerium.
In der Liste 1 zur Kabinettsitzung hat die Bundesregie-
rung den Entwurf eines Bundesbesoldungs- und -versor-
gungsanpassungsgesetzes 2010/2011 verabschiedet, das
eine entsprechende Anpassung der Amts- und Versor-
gungsbezüge der Mitglieder der Bundesregierung und
der Parlamentarischen Staatssekretäre beinhaltet. Kön-
nen Sie uns bitte sagen, wie hoch diese Erhöhungen für
die Bundesminister und die Parlamentarischen Staatsse-
kretäre jeweils ausfallen und warum Sie vonseiten der
Bundesregierung, obwohl weder ein Gesetz zur Anpas-
sung der Hartz-IV-Bezüge verabschiedet wurde noch das
Hohe Haus bisher über eine Anpassung seiner Bezüge
diskutiert hat, einseitig vorpreschen und es anders halten
als in der 16. Wahlperiode, als die Bundesregierung fest-
gestellt hat – Drucksache 16/9341 –, dass sie auf die ent-
sprechenden Anpassungen verzichtet?
D
Für uns ist wichtig, dass die Tariferhöhung bei den
Beamten wirkungsgleich umgesetzt wird. Dazu, welche
genauen Auswirkungen das hat, kann ich Ihnen zahlen-
mäßig nichts sagen. Ich würde Ihnen das gerne schrift-
lich übermitteln.
Wenn das heute noch möglich wäre. Aber wie recht-
fertigen Sie diese Maßnahme angesichts dessen, dass in
der 16. Wahlperiode anders verfahren wurde?
Herr Staatssekretär, können Sie darauf noch antwor-
ten? Wenn nicht, wäre das erledigt.
D
Wir würden Ihnen gerne schriftlich mitteilen, welche
konkreten Auswirkungen das hat.
Nun Kollege Matthias Miersch.
Ich habe eine Frage an das Bundesumweltministerium.
Wir konnten der öffentlichen Berichterstattung entneh-
men, dass es einen Streit zwischen Bundesminister
Röttgen und Bundesminister Schäuble über die Frage der
Finanzierung vieler Programme, der kommunalen Klima-
schutzprogramme, der Marktanreizprogramme, und der
damit verbundenen Sperrung der Haushaltsmittel gab.
Augenblicklich warten ganz viele in den Kommunen,
aber vor allen Dingen auch im Mittelstand darauf, dass
die Entsperrung stattfindet. Das Bundesumweltministe-
rium möchte ich fragen, inwieweit dieser Streit noch aus-
gefochten wird, wann mit der Lösung zu rechnen ist und
ob das in den nächsten Wochen der Fall sein kann.
Frau Staatssekretärin.
Ka
Herr Kollege Miersch, das Bundesumweltministe-
rium streitet immer an vorderster Stelle, wenn es darum
geht, sinnvolle Klimaschutzmaßnahmen umzusetzen.
Darum bemühen wir uns nach wie vor.
In der Tat ist es richtig, dass 115 Millionen Euro, die
wir für das Marktanreizprogramm dringend brauchten,
gesperrt sind. Wir wissen, wie erfolgreich dieses Pro-
gramm ist. Die 115 Millionen Euro Förderung hätten
dazu geführt, dass über 900 Millionen Euro Investitio-
nen ausgelöst würden. Wir sind davon überzeugt, dass
diese Argumente und der Erfolg des Programms, der un-
mittelbar Auswirkungen auf die einheimische Wirtschaft
hat, auch das Finanzministerium überzeugen wird, das
Programm fortzusetzen. Wir sind noch in Verhandlun-
gen. Ich weiß aber, dass die Haushälter und Fachpoliti-
ker der Koalitionsfraktionen dies mit uns bestreiten. Wir
hoffen, dass wir auf einem guten Weg sind.
Ein Zusatz sei mir erlaubt: Die Mittel kommen aus
dem Verkauf der Emissionszertifikate. Zur Wahrheit ge-
hört es, zu sagen, dass die Wirtschaftskrise auch dazu
geführt hat, dass wir nicht mehr in dem Maße über Ein-
nahmen aus dem Verkauf von Emissionszertifikaten ver-
fügen, wie das in wirtschaftlich guten Zeiten der Fall
war, als die Große Koalition sich entschlossen hat, Mit-
tel aus dem Verkauf von Zertifikaten für Klimaschutz-
maßnahmen auszugeben. Insofern müssen wir uns der
Tatsache gegenübersehen, dass wir nicht die Einnahmen
aus dem Verkauf von Zertifikaten zur Verfügung haben,
mit denen wir in wirtschaftlich guten Zeiten gerechnet
haben.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:Fragestunde– Drucksache 17/1534 –Wir kommen zunächst zum Geschäftsbereich des Bun-desministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung. Zur Beantwortung der Fragen steht die Par-lamentarische Staatssekretärin Gudrun Kopp zur Verfü-gung.Ich rufe die Frage 1 der Kollegin Dr. BarbaraHendricks auf:Welche Bemühungen wendet die Bundesregierung dafürauf, die Vergabe von Landtiteln an die ländliche Bevölkerungin Kambodscha gerade in den Regionen zu unterstützen, indenen großflächige Zuteilungen von Land an private Investo-ren durch die kambodschanische Regierung vorgenommenwerden – sogenanntes Land-Grabbing – und somit zu be-fürchten ist, dass dortige ländliche Bevölkerungsteile kaumnoch Aussicht auf Landtitel haben?Bitte sehr, Frau Staatssekretärin.
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3754 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Mai 2010
(C)
(B)
Gu
Vielen Dank, Herr Präsident. – Frau Kollegin
Dr. Hendricks, ich antworte Ihnen wie folgt: Die groß-
flächige Zuteilung von Land- und Minenkonzessionen
ist neben der Flächenfragmentierung durch Bevölke-
rungswachstum sowie Landverkauf in Notlagen eine we-
sentliche Ursache für die Zunahme landloser und landar-
mer Haushalte in Kambodscha.
Mit dem Landgesetz von 2001 wurden vier Kategorien
von Land festgelegt: privates Land, öffentliches Staats-
land, privates Staatsland und Land der Pagoden. De facto
hat erst mit der Verabschiedung des Landgesetzes die
Ausgabe von Rechtstiteln auf privates Landeigentum be-
gonnen. Die mehrheitlich arme ländliche Bevölkerung
nutzt privates Staatsland, das durch die Landtitelvergabe
mittelfristig vollständig privatisiert wird. Die Sicherung
der Eigentums- und Verfügungsrechte über die Ressource
Boden benötigt also leider Zeit und ist heute praktisch
noch nicht hinreichend gesichert. Die Landzuteilung an
einflussreiche Kreise erfolgt vor allem auf Flächen, die
rechtlich als öffentliches Staatsland gelten und zur priva-
ten Nutzung in Form langjähriger Konzessionen an pri-
vate Nutzer vergeben werden.
In diesem Bereich hat die Bundesregierung im Rah-
men ihrer Entwicklungszusammenarbeit keine Möglich-
keit der Einflussnahme. Demgegenüber besteht die Bun-
desregierung aber darauf, dass verstärkt privates
Staatsland für die Verteilung an die arme Bevölkerung im
Rahmen sozialer Landkonzessionen zur Verfügung ge-
stellt wird. Die deutsche Unterstützung richtet sich des-
halb auf die Verbesserung der politischen und rechtlichen
Rahmenbedingungen durch Beratung bei der Ausgestal-
tung der Landreformpolitik und bei der Entwicklung von
Durchführungsverordnungen.
Darüber hinaus werden die institutionellen Vorausset-
zungen für die systematische Landregistrierung sowie
Institutionen für die außergerichtliche Schlichtung bei
Landkonflikten gestärkt. Schließlich wird die gezielte
Landvergabe an Landarme und Landlose im Rahmen der
sozialen Landkonzessionen pilothaft gefördert.
Ich füge noch etwas hinzu – es ist zwar sehr lang; aber
ich denke, das ist wichtig, um in dieses Thema hereinzu-
kommen –: Im Rahmen des kambodschanischen Land-
sektorreformprogramms unterstützt die Bundesregierung
gemeinsam mit Finnland und Kanada die zuständigen
kambodschanischen Behörden dabei, einer signifikanten
Anzahl von Haushalten mit Rechtsansprüchen auf Land
rechtlich abgesicherte Landtitel zu verschaffen.
Langfristig soll ein nationales System der Landadmi-
nistration eingerichtet werden, um die Landrechte armer
Bevölkerungsgruppen insbesondere in den ländlichen
Regionen zu sichern. Dazu sollen möglichst schnell an
möglichst viele arme ländliche Haushalte private Land-
titel vergeben werden. Die Registrierungsaktivitäten
fokussieren sich daher auf Regionen mit einer hohen
Konzentration von ländlicher armer Bevölkerung auf
privatem Staatsland.
Nachfragen dazu? – Kollegin Hendricks.
Danke schön, Herr Präsident. – Frau Kollegin, ich
will insbesondere auf das eingehen, was Sie zuletzt ge-
nannt haben. Sie haben den Rechtsrahmen sehr gut ge-
schildert. Es ist ja die bundeseigene Gesellschaft für
Technische Zusammenarbeit, die als Ausführungsorga-
nisation tätig ist, um bei der Vergabe von Landtiteln an
die Landbevölkerung voranzukommen. Wie kann sicher-
gestellt werden, dass dies auch nachhaltig ist?
Nach meinem Kenntnisstand gibt es Anzeichen dafür,
dass auch Landtitel, die schon vergeben worden sind,
von größeren Investoren, ich sage einmal, begehrlich be-
trachtet werden. Es ist nicht sichergestellt, dass diese
Landtitelvergabe auf Dauer wirklich so nachhaltig ist,
wie wir es uns alle wünschen, sondern einmal vergebene
Titel sind allem Anschein nach nicht immer ganz sicher
bei der Landbevölkerung verblieben.
Gu
Frau Dr. Hendricks, Sie sprechen sehr wichtige Berei-
che an. Es ist sehr schwierig, im Hinblick auf das Land-
Grabbing, also den Landentzug, voranzukommen und
die Bevölkerung zur eigenen Versorgung zu ertüchtigen.
Ich will Ihnen nur sagen: Die TZ hat für diesen Be-
reich 4 Millionen Euro eingestellt. Mitte dieses Jahres
wird ein Überprüfungsprozess stattfinden. Wenn die
Überprüfung dessen, was bisher geschehen ist, wenn die
Evaluierung der vier Meilensteine negativ sein sollte,
wenn also keine Nachhaltigkeit gegeben ist, dann wer-
den wir über Mittelkürzungen bzw. sogar über den Aus-
stieg aus solchen Programmen entscheiden. Wenn wir
feststellen, dass sie nicht zu mehr Landeigentum für die
notleidende Bevölkerung dort führen, dann werden wir
sie auch nicht weiter finanzieren. Hier befinden wir uns,
wie gesagt, in einem Überprüfungsprozess.
Eine weitere Frage?
Ja, ich habe noch eine kurze Nachfrage. – Werden Sie
im Rahmen dieses Evaluierungsprozesses auch überprü-
fen, ob die Durchführungsorganisationen – sowohl die
deutsche, aber natürlich auch diejenigen, mit denen wir,
wie Sie eben sagten, zusammenarbeiten, nämlich die aus
Finnland und Kanada – eng genug mit der Zivilbevölke-
rung in Kambodscha zusammenarbeiten?
Gu
Ja, auch das prüfen wir. Wenn Sie nach der Wirksam-keit unserer Instrumente fragen – diese Frage steht ja im-mer dahinter –: Es wird nach unserer Überzeugung ganzwichtig sein, dass die Geberländer mit einer Stimme
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Mai 2010 3755
Parl. Staatssekretärin Gudrun Kopp
(C)
(B)
sprechen. Das heißt, wir müssen auch den Druck auf diejeweilige Regierung aufrechterhalten; das gilt insbeson-dere für Kambodscha. Wir haben die größten Erfolgs-chancen, wenn wir an dieser Stelle zusammenstehen, un-sere Forderungen gemeinsam vortragen und im Rahmendieser Überprüfung einerseits gegenüber der Regierung,andererseits aber auch mit Blick auf die Durchführungs-organisationen sicherstellen, dass in unserem Sinne er-folgsorientiert und im Interesse der armen Menschen ge-handelt wird.
Danke schön. – Die nächste Frage, die Frage 2,
stammt auch von der Kollegin Hendricks:
Hält es die Bundesregierung für sinnvoll, nach Abschluss
der sich derzeit in Planung befindlichen Strukturreform der
Ausführungsorganisationen der deutschen technischen Ent-
wicklungszusammenarbeit mittel- oder langfristig zusätzlich
eine institutionelle Zusammenlegung der deutschen techni-
schen und der deutschen finanziellen Entwicklungszusam-
menarbeit anzustreben, und, wenn nein, warum nicht?
Bitte schön, Frau Staatssekretärin.
Gu
Dazu kann ich Ihnen sagen: Die Bundesregierung
sieht die laufende Umstrukturierung der Durchführungs-
organisationen der technischen Zusammenarbeit be-
wusst als offenen Reformprozess. Die Bundesregierung
zielt darauf ab, Schritt für Schritt konkrete Reformergeb-
nisse zu erzielen. Somit ist auch die Frage einer Ver-
schmelzung von finanzieller und technischer Zusam-
menarbeit derzeit offen.
Frau Kollegin, bitte.
Das wundert mich etwas, weil es bisher hieß, dass die
Organisationen der technischen Zusammenarbeit – die
Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit,
der Deutsche Entwicklungsdienst und InWEnt, um die
drei zu nennen – zusammengeführt werden sollen. Bis-
her ist keinerlei Ankündigung gemacht worden, dass
etwa auch die KfW Entwicklungsbank oder die entspre-
chenden Abteilungen der KfW mit den genannten Orga-
nisationen der technischen Zusammenarbeit zusammen-
geführt werden sollen.
Aber ich will eine andere Ergänzungsfrage stellen und
mich damit wieder auf die technische Zusammenarbeit
beziehen: Plant die Bundesregierung im Rahmen der Zu-
sammenlegung der drei von mir genannten Organisatio-
nen der technischen Zusammenarbeit einen Personalab-
bau und, wenn ja, in welchem Umfang?
Gu
Sie haben die drei Vorfeldorganisationen, die wir zu-
sammenführen wollen, genannt. Es geht uns darum – in
diesem Prozess befinden wir uns –, mit den Organisatio-
nen zusammen die Umstrukturierung vorzunehmen. Wir
wollen dadurch erreichen, dass die einzelnen Instru-
mente wirksamer werden. Wir wollen auch erreichen,
dass Doppelstrukturen – manchmal sogar Dreifachstruk-
turen – abgebaut werden. Wir wollen, dass bei der
Durchführung von Projekten diejenigen Durchführungs-
organisationen, die für das Projekt eine besondere Ex-
pertise haben, zum Zuge kommen und hier nicht meh-
rere Organisationen parallel arbeiten. Das ist die
Zielrichtung bei der Umstrukturierung, die wir vorneh-
men wollen. Diese Restrukturierung ist keine Kleinig-
keit: Diese Vorfeldorganisationen sind mit ungefähr
16 000 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen in 130 Län-
dern tätig; ihr Umsatzvolumen liegt bei 1,5 Milliarden
Euro.
Frau Kollegin Hendricks, ich will darauf hinweisen,
dass wir bis zur Sommerpause so etwas wie einen Sach-
standsbericht haben wollen. Wenn wir zum Jahresende
zu einem Ergebnis gekommen sind, wird es darum ge-
hen, ganz konkret in die Umsetzung zu gehen, beispiels-
weise zu sehen, wie wir die Schnittstellen zwischen
finanzieller Zusammenarbeit und technischer Zusam-
menarbeit abgleichen können.
Ich betone noch einmal: Eine Zusammenführung von
finanzieller und technischer Zusammenarbeit ist für
diese Legislaturperiode nicht geplant; so etwas ist auch
nicht Bestandteil unseres Koalitionsvertrages.
Ich sage noch einmal: Wir gehen bei der Zusammen-
führung der drei genannten Organisationen Schritt für
Schritt vor. Was die personelle Ausstattung betrifft, sind
in dem Prozess, der jetzt begonnen hat, viele Fragen
– Fragen der rechtlichen Voraussetzungen, der Verträge,
der personellen Ressourcen, der Zusammenführung der
Personalverträge der drei genannten Organisationen –
überhaupt noch nicht beantwortet. Wir haben aber bei
dieser Zusammenführung ein klares Ziel: Wir haben das
klare Ziel, die Entwicklungszusammenarbeit im techni-
schen Bereich effektiver und effizienter umzusetzen. Wir
haben nicht das Ziel eines Personalabbaus.
Noch eine weitere Nachfrage.
Ich habe noch eine Frage zum Thema Personal undweitere Verwendung. Wenn die Zusammenführung derdrei Institutionen der technischen Zusammenarbeit gutläuft, dann können damit durchaus auch Synergieeffektegehoben werden. Ob es gut läuft, wissen wir noch nicht,aber die Zusammenführung müsste mit dem Ziel verbun-den sein, Synergieeffekte zu heben.Plant die Bundesregierung, etwa Personal, welchesdann nicht mehr unmittelbar in den drei Institutionen ge-braucht wird, zum Beispiel im Wege der Abordnung imBundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeiteinzusetzen und auf diese Weise die Position des Minis-teriums auszubauen und zulasten der Vorfeldorganisatio-nen zu stärken?
Metadaten/Kopzeile:
3756 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Mai 2010
(C)
(B)
Gu
Ich denke, dass ich diese Bedenken zerstreuen kann.
Man muss berücksichtigen, was diese Strukturreform be-
wirken soll. Sie wissen, Frau Kollegin Hendricks, dass
diese Strukturreform längst eingefordert wurde, auch
vom Bundesrechnungshof, der festgestellt hat, dass wir
an dieser Stelle sehr viel effizienter arbeiten müssen.
Wir sehen das Bundesministerium für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung nach einer solchen
Strukturreform in der Aufgabe, die politischen und in-
haltlichen Vorgaben zu machen, aber wir haben die Vor-
stellung, dass die neue Durchführungsorganisation, zu
der die drei Organisationen zusammengeführt werden,
selbstständig arbeiten kann. Wir rechnen auch mit einem
Effizienzgewinn bei der Arbeit. Wie sich das später ge-
nau verteilt und wer welche Aufgaben übernimmt, kann
ich Ihnen derzeit nicht seriös sagen. Das wäre reine Spe-
kulation.
Wir gehen davon aus, dass dieser schwierige Prozess
der Zusammenführung gut läuft. Wir haben jedenfalls
eine Vertrauensbasis aufgebaut. Nach unserer Vorstel-
lung soll nicht irgendeine Institution zu kurz kommen
oder sozusagen unter die Wasseroberfläche gedrückt
werden. Wir diskutieren auf gleicher Augenhöhe. Wir
haben Vorschläge der drei Organisationen dazu erbeten,
wie sie sich eine Zusammenführung vorstellen. Das ist
ein sehr transparenter und guter Prozess. Ich gehe davon
aus, dass er letzten Endes positiv ausgehen wird.
Es gibt noch zwei weitere Nachfragen. Zunächst Kol-
legin Ute Koczy und dann Kollege Sascha Raabe.
Frau Staatssekretärin, zur Zusammenlegung von TZ
und FZ haben Sie einiges ausgeführt. Wie wir wissen,
macht sowohl die KfW oftmals Finanzierungsangebote
verbunden mit einem Beratungsangebot als auch die
GTZ, die ihre Beratungsangebote mit einer finanziellen
Zusammenarbeit verbindet. Beides ist oftmals in einer
Art von Wechselwirkung zu finden.
Können Sie bestätigen, dass es tatsächlich keinerlei
Gespräche mit der KfW darüber gibt, ob im Falle einer
Zusammenführung der drei Vorfeldorganisationen Aus-
wirkungen auf die KfW stattfinden? Ich kann mir das
schlechterdings nicht vorstellen, weil es in der prakti-
schen Arbeit im Felde durchaus Resonanzen auf die un-
terschiedlichen Entwicklungen gibt. Ist es tatsächlich so,
dass Sie keinerlei Gespräche mit der KfW führen, um
die Veränderungen, die Sie bei der technischen Zusam-
menarbeit vornehmen, zu eruieren und die Auswirkun-
gen auf die KfW zu überprüfen?
Gu
Frau Kollegin Koczy, wir sind derzeit dabei, die Vor-
schläge der drei Vorfeldorganisationen aufzunehmen
und sie dann in einen Konsens umzusetzen, den wir zu
erreichen hoffen. Wir sind derzeit noch nicht dabei, ir-
gendwelche Schnittstellen abzugleichen.
Es wird sich im Laufe der Zeit ergeben, wie ich schon
sagte. Wenn uns bis zur Sommerpause ein Sachstandsbe-
richt vorliegt, wie wir uns aufstellen, was mit den drei
Vorfeldorganisationen geschieht und ob der Konsens
auch weiterhin besteht, können wir zum nächsten Schritt
übergehen. Wenn sich Projekte in der Zuständigkeit
überschneiden, werden wir beraten müssen, wie wir da-
mit umgehen. Aber das ist derzeit nicht Gegenstand der
Beratungen. Wir müssen im Vorfeld der bevorstehenden
Zusammenlegung erst einmal Basisarbeit leisten. Ich
denke, dass wir bei dieser Frage sehr schnell weiterkom-
men werden. Wir gehen Schritt für Schritt vor. Das Ziel
sind die Effizienzsteigerung, die Steigerung der Wirk-
samkeit und der rechtliche Abgleich. Sie können sich
vorstellen, dass das noch schwierig genug wird. Wir
werden nach der Sommerpause quasi ans Eingemachte
gehen und die Rechtsfragen behandeln. Ich hoffe, dass
es gelingt, auch an der Stelle möglichst bald ein Einver-
nehmen herzustellen. Mehr kann ich dazu im Moment
nicht sagen.
Kollege Sascha Raabe, bitte.
Frau Staatssekretärin, können Sie mir zustimmen,
dass die Experten des Entwicklungsausschusses der
OECD und auch die der Wissenschaft immer gesagt ha-
ben, wichtig sei es, die finanzielle und technische Zu-
sammenarbeit zusammenzuführen, und dass das zuerst
geschehen solle? Wenn dem so ist, würden Sie mir auch
zustimmen, dass die Vorgängerin des Ministers, Frau
Wieczorek-Zeul, es richtigerweise probiert hat, diesen
ersten Schritt zu machen?
Frau Staatssekretärin, würden Sie mir auch zustim-
men, dass es falsch ist, wenn Minister Niebel es so dar-
stellt, als würde er jetzt eine Reform durchführen, die die
Vorgängerin nicht geschafft hat? Ist es nicht eher so, dass
ihm der Mut fehlt, diese große Reform anzugehen, und
er jetzt eine kleine Reform als großen Erfolg verkaufen
möchte?
Gu
Herr Kollege Raabe, ich finde Ihre Äußerung sehrmutig, und zwar insofern, als die Vorgängerregierungen– das muss man sagen –
eine institutionelle Reform dieser Vorfeldorganisationennicht geschafft haben, nicht teilweise und schon garnicht in vollem Umfang. Ich habe wahrgenommen, dasswir in allen Berichten, seien es die des Bundesrech-
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nungshofs, seien es die der OECD, gelobt und ermuntertwurden, an diese Reform heranzugehen.Ich sage noch einmal: Das ist keine Kleinigkeit. Wirmachen uns daran, im Sinne einer besseren Entwick-lungszusammenarbeit den ersten konkreten Schritt hinzu mehr Wirksamkeit und höherer Effizienz zu gehen.Ich finde, das ist mindestens die Hälfte dieses Weges.Die vorherige Regierung ist hingegen nicht einen Meterweit gekommen. Ich bitte Sie doch um etwas mehr Mä-ßigung. Ich bitte auch um Wertschätzung dessen, waswir jetzt auf den Weg bringen werden. Ich lade Sie ein,dabei mitzumachen.
Wir kommen zur Frage 3 der Kollegin Karin Roth:
Wie lässt sich nach Ansicht des Bundesministeriums für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung der zuletzt
in der Antwort der Bundesregierung auf meine schriftliche
Frage auf Bundestagsdrucksache 17/1535 von der Bundesre-
gierung immer wieder betonte und gesetzte Schwerpunkt
„Gesundheit in den Entwicklungsländern“ mit der drastischen
Kürzung der Mittel für den Bevölkerungsfonds der Vereinten
Nationen, UNFPA, und die Internationale Föderation geplan-
ter Elternschaft, IPPF, verbinden, und wie gedenkt die Bun-
desregierung zur Erreichung des Millenniumentwicklungs-
ziels 5 beizutragen?
Bitte schön, Frau Staatssekretärin.
Gu
Frau Kollegin Roth, ich kann Ihnen bezüglich der
Kürzungen antworten, dass UNFPA und IPPF, diese In-
stitutionen der Vereinten Nationen, wichtige Partner für
Deutschland bleiben. Trotz der Kürzungen der Beiträge
zu den Vereinten Nationen und anderen internationalen
Organisationen wurde, anders als vom BMZ vorgeschla-
gen, vom Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestags
beschlossen, das bilaterale Engagement Deutschlands in
einigen Bereichen zu stärken.
Sie können sich wahrscheinlich daran erinnern, dass
Bundesminister Niebel die Exekutivdirektorin der
UNFPA, Frau Obaid, erst vor zwei Wochen in New York
getroffen hat. Er hat ihr gegenüber ausdrücklich die
Wertschätzung der Arbeit der UNFPA zum Ausdruck
gebracht. Er hat betont, dass uns insbesondere im Be-
reich der reproduktiven Gesundheit die Erreichung der
Millenniumentwicklungsziele sehr wichtig ist. Auch die
enge Zusammenarbeit mit dem IPPF wird fortgesetzt,
zum Beispiel im Rahmen einer gemeinsamen Veranstal-
tung im kommenden Oktober in Berlin. Dort geht es um
einen internationalen Dialog der Bevölkerung im Zu-
sammenhang mit der Umsetzung des Menschenrechts
auf reproduktive und sexuelle Gesundheit.
Seien Sie versichert: Gesundheit ist und bleibt ein
Schlüsselsektor der Entwicklungspolitik der Bundes-
regierung. Das BMZ trägt auf vielfache Art und Weise
zur Erreichung des Millenniumentwicklungsziels 5, der
Verbesserung der Müttergesundheit, bei. So unterstützen
wir die diesjährige G-8-Initiative zur Verbesserung der
Kinder- und Müttergesundheit, und wir setzen uns aus-
drücklich für ein umfassendes Verständnis von Mütter-
gesundheit ein, was den Zugang zu sexuellen und repro-
duktiven Gesundheitsdienstleistungen einschließlich
Familienplanung umfasst.
Darüber hinaus wirken wir in einer Vielzahl interna-
tionaler Gremien und Initiativen mit, die die Erreichung
dieses Millenniumentwicklungsziels, also die Verbesse-
rung der Kinder- und Müttergesundheit, zum Ziel haben.
Ich verweise darauf, dass wir im Haushalt beispielsweise
für den Global Fund 204 Millionen Euro zur Aids- und
Malariabekämpfung bereitgestellt haben, dass wir den
GAVI-Fonds mit 4 Millionen Euro pro Jahr fördern und
dass wir weitere Förderung in Aussicht stellen können.
Nachfrage? – Bitte.
Sehr verehrte Frau Kollegin Kopp, ich verstehe, dassSie am Ende Ihrer Antwort den Global Fund erwähnen,um zu zeigen, dass die Bundesregierung im Gesund-heitsbereich international Unterstützung leistet. Aber Siehaben keine Zahlen genannt. Deshalb möchte ich sienennen: Für den Bevölkerungsfonds der Vereinten Na-tionen sind die Mittel um über 20 Prozent, und für ent-sprechende Vorhaben im Bereich der Internationalen Fö-deration geplanter Elternschaft sind die Mittel um fast20 Prozent gekürzt worden.Es ist sehr freundlich, wenn Minister Niebel beim Zu-sammentreffen mit der Exekutivdirektorin in New Yorkseine Unterstützung für ihre Arbeit zusagt. Aber gleich-zeitig werden einige Programmschwerpunkte – zum Bei-spiel die Familienplanung, die für die Bevölkerungsent-wicklung sehr wichtig ist, der Schutz vor Gewalt gegenFrauen und Kinder, die Gleichberechtigung der Ge-schlechter, die Förderung der sexuellen und reproduk-tiven Gesundheit – von uns nicht mehr in dem Umfangfinanziert, in dem es notwendig wäre.Das Millenniumentwicklungsziel 5, also die Verringe-rung der Müttersterblichkeit, haben wir nur zu 9 Prozenterreicht. Das Ziel der Verringerung der Kindersterblich-keit haben wir nur zu 32 Prozent erreicht. Dies ist einArmutszeugnis für die Bundesregierung. Es wird auchnicht besser, wenn Sie in diesem Zusammenhang auf denHaushaltsausschuss und auf das Parlament verweisen.Diese Zahlen hat die Koalition zu verantworten.Angesichts dieser aussagekräftigen Zahlen und dergroßen Bedeutung der Zuverlässigkeit gegenüber denVereinten Nationen möchte ich fragen: Ist damit zu rech-nen, dass Sie im nächsten Haushalt wenigstens das fort-setzen, was die Große Koalition in der letzten Legisla-turperiode gemacht hat, und dass Sie die entsprechendenMittel wieder bereitstellen? Wenn wir unsere Verspre-chungen einhalten, können wir unser Gesicht wahren.
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Gu
Frau Kollegin Roth, die äußerst geringe Quote von
9 Prozent bei der Erreichung des Millenniumentwick-
lungsziels Müttergesundheit wurde zum Ende des Jahres
2009 bilanziert. Haben Sie Verständnis dafür, wenn ich
sage: Die neue Regierung ist erst Ende letzten Jahres ins
Amt gekommen. In den noch verbliebenen zwei Mona-
ten des Jahres 2009 konnten wir die schlechte Quote von
9 Prozent beim besten Willen nicht erhöhen. Das will ich
vorweg anmerken.
Seien Sie versichert, dass das Thema Gesundheit für
unser Ministerium und auch für die Bundesregierung
eine exorbitant wichtige Rolle spielt. Es ist überhaupt
keine Frage, dass wir in diesem Bereich sehr viel arbei-
ten müssen.
Zur internationalen Zuverlässigkeit will ich Ihnen
Folgendes sagen: Es hat in der vergangenen Woche ein
Treffen der G-8-Entwicklungsminister in Halifax gege-
ben, bei dem der diesjährige G-8-Gipfel in Kanada vor-
bereitet wurde. Minister Niebel hat mir gesagt, dass die
Ergebnisse dieser Vorbesprechung zur Vorbereitung des
Gipfels in Kanada Bestandteil des Gipfeldokumentes
sein werden. Es ist also nicht so, dass über dieses Thema
nicht inhaltlich substanziell beraten wird. Die maßgebli-
chen Punkte werden aufgenommen.
Noch einmal: Wir wollen und werden viele bilaterale
Projekte im Gesundheitsbereich finanzieren. Die neue
Leitung des BMZ hat erstmals im Hinblick auf Südafrika
bilateral einen Schwerpunkt HIV-/Aidsbekämpfung
– der Umfang der zur Verfügung gestellten Mittel liegt
bei insgesamt 10 bis 15 Millionen Euro – geschaffen.
Auch dies ist nicht etwa nichts, sondern wirklich bemer-
kenswert. Ich will das betonen; denn das hat es vorher
nicht gegeben.
Jetzt noch etwas zu den künftigen Haushaltsplanun-
gen. Auch Sie kennen das Geschäft: Wir als Bundesre-
gierung können Mittel beantragen – das tun wir auch –;
aber letzten Endes steht jede Mittelanforderung unter
dem Haushaltsvorbehalt und unter dem Vorbehalt der
Zustimmung des Parlaments. Das müssen wir für jede
Initiative akzeptieren, die wir auf diesem Gebiet starten.
Darüber können wir uns nicht hinwegsetzen. Genauso
wenig kann ich Ihnen heute mit Vorgriff auf den Haus-
halt 2011 oder 2012 sagen, welche Mittelanforderungen
von unserem Haus in diesem Bereich kommen werden
und ob diese Mittel dann auch eingestellt werden. Das
müssen wir sehen.
Ich versichere Ihnen noch einmal: Wir sind hier nicht
unterschiedlicher Meinung; vielmehr sind wir der An-
sicht, dass die Erreichung des Millenniumentwicklungs-
ziels Müttergesundheit ganz obenan steht. Ich schließe
dabei immer die Ziele Kindergesundheit und Reduzie-
rung der Kindersterblichkeit ein.
Sie wissen, mit welch einfachen Mitteln wir verhin-
dern könnten, dass Kleinstkinder, also Kinder im Alter
von null bis einem Jahr, sterben. Allein schon durch
mehr Hygienemaßnahmen – durch eine bessere Infra-
struktur vor Ort, das heißt durch den Zugang zu saube-
rem Wasser, durch die Bereitstellung von Toiletten und
dergleichen – könnten wir ganz normale, gut behandel-
bare Krankheiten wie Durchfall oder Atemwegsinfektio-
nen sehr viel besser bekämpfen. In diesem Bereich sind
wir ebenfalls aktiv. Wir haben Mittel für diese Zwecke
eingestellt. Dies steht bei uns also im Fokus. Wir müssen
auf diesem Gebiet noch sehr viel mehr tun. Wir sind
dazu auch bereit. Ich bitte Sie und das gesamte Parla-
ment um die entsprechende Unterstützung.
Haben Sie eine weitere Nachfrage, Frau Roth? – Bitte
schön!
Ja, gern, Herr Präsident. – Frau Kollegin Kopp, für
meine Fraktion, die SPD, möchte ich klarstellen, dass
wir für die Unterstützung der Vereinten Nationen bei der
Bekämpfung der Mütter- und Kindersterblichkeit keine
Reduzierung der Mittel im Etat vorgesehen hatten.
Darüber hinaus ist es gar keine Frage, dass das Thema
Müttersterblichkeit nicht in den letzten sechs Monaten
auf die Schnelle hätte bewältigt werden können. Mütter-
sterblichkeit war ein Problem der letzten Jahre und wird
auch eines der nächsten fünf Jahre sein; da gebe ich Ih-
nen recht. Die Frage ist nur: In welcher Weise kommen
wir voran? Ohne mehr Mittel für diesen Bereich – ent-
weder aus dem Global Fund oder von den Vereinten Na-
tionen oder durch bilaterale Projekte – wird dies nicht
möglich sein. Deshalb äußere ich noch einmal meine
dringliche Bitte, dass wir unsere Aufmerksamkeit gerade
auf die Millenniumentwicklungsziele 4 und 5 richten,
nämlich auf die Verringerung der Müttersterblichkeit
– jedes Jahr sterben über 500 000 Mütter – und auf die
Verringerung der Kindersterblichkeit; jährlich sterben
über 9 Millionen Kinder. Beabsichtigt die Bundesregie-
rung, Aktionspläne aufzulegen, damit wir auf diesen bei-
den Feldern vorankommen?
Gu
Ich bestätige Ihnen, Frau Roth, dass das Thema Ge-sundheit im Zentrum unserer Entwicklungspolitik steht;das ist doch gar keine Frage. Zur Armutsbekämpfunggehört, Folgendes zu sehen: Zunächst ist es wichtig, dieErnährungssituation zu verbessern. Dann geht es darum,die Gesundheit zu fördern. Erst wenn das gewährleistetist, sind Menschen meines Erachtens in der Lage, Bil-dung zu erwerben. Diese drei Schritte sind von zentralerBedeutung. Zur Gesundheitsförderung muss der von Ih-nen eben genannte Mix von Maßnahmen umgesetzt wer-den. Es geht sowohl um multilaterale Förderung als auchum bilaterale Projekte.Der Schlüssel zu mehr Gesundheit der Mütter, zur er-folgreichen Bekämpfung der Kindersterblichkeit und zurVerbesserung der Gesundheitsversorgung insgesamt ist,dafür zu sorgen, dass die Menschen in den ärmsten Län-
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dern weltweit Zugang zu Gesundheitsversorgung bekom-men, dass es Schwangerschaftsversorgung und Präventions-maßnahmen gibt, um Komplikationen oder zumindestunüberwindbare Komplikationen bei der Geburt zu ver-meiden. Wir müssen Strukturen schaffen, die es Men-schen ermöglichen, Gesundheitsversorgung abzufragen.Wir diskutieren beispielsweise darüber, wie wir Entwick-lungsländern helfen können, ein System aufzubauen, dasärmste Menschen berechtigt, solcherlei Gesundheitsan-gebote abzufragen. Hinsichtlich der Schaffung von Ge-sundheitssystemen sind wir sehr aktiv; das gehört mit indas Portfolio.Ich kann Ihnen nur sagen: Unter dem Strich ist unserEngagement im Bereich Gesundheit sehr groß. Ich versi-chere Ihnen: Auch auf internationaler Ebene werden wirdafür sorgen, dass Deutschland, dass die deutsche Bun-desregierung die Vorreiterrolle im Entwicklungsbereichbehält und weiter ausbaut. Lassen Sie uns alles Weitereevaluieren und auf dessen Umsetzbarkeit in der Realitäthin prüfen. Ich bin sicher, dass wir einer Prüfung sehrgut standhalten können.
Wir kommen damit zur Frage 4, ebenfalls von der
Abgeordneten Karin Roth:
Wie beurteilt das Bundesministerium für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung, BMZ, anlässlich des Jah-
restages des Inkrafttretens der UN-Behindertenrechtskonven-
tion vom 3. Mai 2008 die Bedeutung der besonderen Pro-
blemlagen behinderter Menschen in Entwicklungsländern,
und welche konkreten Maßnahmen zur stärkeren Berücksich-
tigung dieser Personengruppe in der Entwicklungszusammen-
arbeit führt das BMZ zusätzlich zur Einrichtung eines runden
Tisches durch, um die Partnerländer bei der Integration der
Menschen mit Behinderungen – zum Beispiel im medizini-
schen, sozialen und rechtlichen Bereich – zu unterstützen?
Bitte schön, Frau Staatssekretärin.
Gu
Vielen Dank, Herr Präsident. – Weltweit leben
690 Millionen Menschen mit Behinderungen. Das sind
immerhin 10 Prozent der Weltbevölkerung; das ist eine
enorm große Zahl. 80 Prozent der behinderten Menschen
leben in Entwicklungsländern; das ist eine riesige He-
rausforderung für uns. Das bedeutet: Jeder fünfte in ab-
soluter Armut lebende Mensch hat eine Behinderung.
Die Millenniumsentwicklungsziele können nur erreicht
werden, wenn Menschen mit Behinderungen bei der
Umsetzung von Maßnahmen entsprechend berücksich-
tigt werden. Die VN-Behindertenrechtskonvention sieht
in Art. 32 vor, „dass die internationale Zusammenarbeit,
einschließlich internationaler Entwicklungsprogramme,
Menschen mit Behinderungen einbezieht und für sie zu-
gänglich ist …“. Das Bundesministerium für wirtschaft-
liche Zusammenarbeit und Entwicklung misst daher der
Inklusion von Menschen mit Behinderungen in der Ent-
wicklungszusammenarbeit einen sehr hohen Stellenwert
bei und engagiert sich auf vielfache Weise.
Ich will Ihnen ein Event nennen, das kürzlich stattge-
funden hat: Am 27. April dieses Jahres, also vor weni-
gen Tagen, haben sich in Bonn auf Einladung des BMZ
Vertreterinnen und Vertreter von 25 Organisationen zu
einem runden Tisch zu diesem Thema zusammengefun-
den. Diese Veranstaltung führte erstmals staatliche wie
nichtstaatliche Akteure im Bereich Behinderung und
Entwicklung zusammen und machte deutlich, dass die
Bundesregierung auch die entwicklungspolitische Di-
mension der UN-Behindertenrechtskonvention als es-
senziell betrachtet. Dieser Dialog mit der Zivilgesell-
schaft soll fortgeführt werden.
Darüber hinaus fördert das BMZ über den Titel für
private Träger spezifische Vorhaben für Menschen mit
Behinderungen. Die Förderung betrug in 2008 – ich
nenne Ihnen eine alte Zahl – 1,9 Millionen Euro. Wir als
BMZ setzen uns ferner dafür ein, dass sich die Umset-
zung der entwicklungspolitischen Dimension der UN-
Behindertenrechtskonvention auch im Aktionsplan der
Bundesregierung widerspiegelt.
Nachfragen?
Ja.
Bitte schön.
Herzlichen Dank, Herr Präsident. – Liebe Frau Kolle-
gin Kopp, Sie haben nur eine einzige Zahl genannt – das
ist interessant –, nämlich die im Zusammenhang mit lau-
fenden Projekten für soziale Sicherung. Dort gibt es be-
zogen auf den gesamten Bereich Ausgaben in Höhe von
103,4 Millionen Euro. Die Bundesregierung sieht für
den Bereich der Menschen mit Behinderungen 1,2 Mil-
lionen Euro vor. Sie können selbst ausrechnen, wie hoch
der Anteil ist und was das bedeutet. Das ist angesichts
der von Ihnen richtig geschilderten Dramatik bzw. des
großen Personenkreises eine sehr geringe Unterstützung.
Deutschland hat die UN-Behindertenrechtskonven-
tion unterschrieben und erkennt damit an, dass die UN
eine wichtige Koordinierungsfunktion, auch im Rahmen
von Projekten, hat. Welche Möglichkeiten sehen Sie
– außer dass Sie im Jahre 2010 1,2 Millionen Euro für
die soziale Sicherung von Menschen mit Behinderungen
vorsehen –, in den nächsten Jahren Menschen mit Behin-
derungen in Entwicklungsländern verstärkt zu unterstüt-
zen, und welche Aktionen planen Sie außer denen, die
Sie bereits genannt haben?
Gu
Bezüglich Aktionen kann ich Ihnen sagen, dass derrunde Tisch, der dieser Tage erstmals auf internationalerEbene getagt hat, zum Jahresende ein zweites Mal tagenwird. Dort wollen wir uns mit konkreten Maßnahmenund mit der Umsetzung weiterer Projekte beschäftigen.
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3760 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Mai 2010
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Lassen Sie mich eine Zahl nachtragen, die ich sehr in-teressant finde: In den letzten 20 Jahren wurden in40 Ländern weit mehr als 180 Vorhaben, deren direkteund indirekte Zielgruppe Menschen mit Behinderungenwaren, mit insgesamt 70 Millionen Euro gefördert.Die Probleme der Menschen mit Behinderungen ge-rade in armen Ländern nehmen eher zu. Als Beispielnenne ich nur Haiti: Viele Menschen, die unter Trüm-mern lagen, mussten aus der Not heraus Notamputatio-nen über sich ergehen lassen, um ihr Leben zu retten. Andiesem Staat – was Haiti angeht, ist es eigentlich nichtseriös, von Wiederaufbau zu sprechen, sondern manmuss eher von Aufbau sprechen – sieht man, wieschwierig es ist, zu ermessen, was diese Katastrophe fürMenschen mit Behinderungen bedeutet, die so gut wieüberhaupt keine Mittel haben, mit denen sie sich helfenkönnen, also Prothesen, Alltagshilfen, Rollstühle, Geh-hilfen. Dort Abhilfe zu schaffen, das ist eine Riesenhe-rausforderung.Frau Roth, ich war vor wenigen Wochen bei der Früh-jahrstagung der Interamerikanischen Entwicklungs-bank. Auf dieser Tagung war die Lage in Haiti ein zen-trales Thema: Wie gehen wir mit der Entschuldung um?Wie wollen wir beim Aufbau helfen? – Ich habe dort ge-nau die Frage gestellt, die Sie, Frau Roth, gestellt haben,weil sie zuvor bei der Diskussion und in der Experten-runde keine Rolle gespielt hatte. Ich habe gefragt, obbekannt ist, wie viele Menschen mit Behinderungen inHaiti nach dem Erdbeben auf Hilfe und konkrete Hilfs-mittel warten. Ich war erschrocken, dass mir niemandeine Zahl nennen konnte. Ich habe also wahrgenommen,dass dieses Thema auch auf internationaler Ebene in vie-len Köpfen nicht genügend angekommen ist.Natürlich ist die Not riesengroß. Zahlreiche Men-schen sind ohne Obdach. Es gibt viele Kranke und einunglaubliches Ausmaß an Zerstörung. Es gibt sehr vieleHilfsprogramme, die jetzt aber erst umgesetzt werdenmüssen. Dazu gehört auch, dass wir alles tun, um auchbei uns Geberländern und darüber hinaus auf internatio-naler Ebene das Bewusstsein für die Problematik derMenschen mit Behinderungen zu schaffen. Wir als BMZsehen es als zentralen Punkt unserer Politik an, Mittel zugeben, um an dieser Stelle mehr zu tun.Aber es geht nicht nur darum, Gelder fließen zu las-sen, sondern es geht auch darum, nachzuschauen, wofürdiese Gelder ausgegeben werden, wie wirksam sie sind,welche Programme aufgelegt werden und an welchenProgrammen wir uns beteiligen. Bei den anstehendenKonferenzen ist es wichtig – ich sagte bereits, dass dienächste im Herbst stattfindet –, zu prüfen, wo wir stehenund wo wir nachlegen müssen.Seien Sie versichert, dass die Themen „Menschen mitBehinderungen“ und „Was müssen wir tun, um derenSituation weltweit zu verbessern?“ oben auf der Tages-ordnung stehen, übrigens nicht nur im BMZ, sondern inder gesamten Bundesregierung, denn dies ist ein über-greifendes Thema.
Weitere Nachfragen?
Ja, noch eine, Herr Präsident. – Frau Kopp, ich höre
mit Freude, dass Sie dieses Thema auf die Tagesordnung
setzen; das ist wunderbar. Die Frage ist: Ist damit zu
rechnen, dass es im Rahmen dieser internationalen Ver-
abredungen ein Aktionsprogramm gibt? Man braucht na-
türlich unterschiedliche Maßnahmen – nicht nur im Be-
reich der sozialen Sicherung, sondern auch auf anderen
Politikfeldern –, um eine Politikkohärenz der Bundes-
regierung zu gewährleisten.
Gu
Ich kann Ihnen versichern, dass wir größten Wert auf
eine kohärente Politik legen. Diese verfolgen wir; alles
andere ergibt keinen Sinn. Sie haben gefragt, ob diese
kohärente Politik im Rahmen von Aktionsplänen erfolgt.
Ich bin beim Thema Aktionsplan immer ein wenig vor-
sichtig, weil viele Aktionspläne oder Aktionen auch in
ihrer Wirkung kurzfristig sind. Ich möchte gerne, dass
wir nachhaltig handeln.
Man kann mit einer Aktion, welcher Art auch immer,
einen Auftakt machen; aber es muss immer Substanz da-
hinter sein. Es ist nicht so, dass wir uns kurzfristig einem
Thema widmen und dann meinen, wir müssten hierzu ei-
nen Aktionsplan ins Leben rufen, sondern uns ist wich-
tig, nachhaltig vorzugehen, kohärente Politik zu machen
und diese auch zu verfolgen. Ob in diesem Zusammen-
hang ein Aktionsplan kommen wird, kann ich Ihnen
derzeit noch nicht sagen. Wichtig ist mir, dass wir eine
effiziente und effektive Politik im Sinne der Menschen
machen, die Hilfe brauchen.
Danke schön. – Wir kommen zur Frage 5 des Kolle-
gen Burkhard Lischka:
Was heißt es für den finanziellen Beitrag Deutschlands,
dass 5,1 Milliarden US-Dollar der Weltbank durch eine Kapi-
talerhöhung zufließen sollen, und werden die Einflussmög-
lichkeiten Deutschlands infolge der Stimmrechtsreform aus
Sicht der Bundesregierung beschnitten?
Bitte schön, Frau Staatssekretärin.
Gu
Danke schön, Herr Präsident. – Ich muss Sie jetzt zu-nächst einmal mit ein paar Zahlen quälen und hoffe, eswerden nicht zu viele. Bei der zurückliegenden Welt-banktagung, an der ich für den Bundesminister teilge-nommen habe, wurde eine Erhöhung des Kapitals der In-ternationalen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung,IBRD, um insgesamt 86,2 Milliarden US-Dollar vorge-nommen. Davon sind 5,1 Milliarden US-Dollar ein-zuzahlendes Kapital, und der Rest ist Haftungskapital.Von dem einzuzahlenden Kapital entfallen 1,6 Milliar-den US-Dollar auf eine selektive Kapitalerhöhung, die
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Parl. Staatssekretärin Gudrun Kopp
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durchgeführt wurde, um die Stimmrechte der Weltbankanzupassen. Der Hauptteil wird von den Entwicklungs-ländern getragen. 3,5 Milliarden US-Dollar entfallen aufeine generelle Kapitalerhöhung.Über die Größenordnung der Beteiligung Deutsch-lands ist im Rahmen der Aufstellung des Bundeshaus-haltes 2011 und des Finanzplanes 2014 zu entscheiden.Der Stimmrechtsanteil Deutschlands sinkt von 4,35 auf4 Prozent – darauf kommen wir gleich noch –, wodurchauch seine Einflussmöglichkeiten geringfügig reduziertwerden.Wir haben diese, wie ich finde, maßvolle Kapitalerhö-hung durchgeführt, um wieder ein Gesamtausleihvolu-men von 15 Milliarden US-Dollar zu erreichen. Ich willhinzufügen, dass die Weltbank im Rahmen der Wirt-schafts- und Finanzkrise vorübergehend nicht in derLage war, das Volumen, das vor der Krise Bestand hatte,zu erreichen. Wir wollen die Weltbank in die Lage ver-setzen, wieder über ein solches Volumen zu verfügen.Das Ganze geschieht nicht nur im Rahmen eines Be-schlusses über eine Kapitalerhöhung – sie hat Auswir-kungen auf unseren Haushalt im Umfang von rund110 Millionen Euro, verteilt über fünf Jahre –; vielmehrhaben wir das mit einem Maßnahmenpaket verknüpft,das die Weltbank zu internen Reformen – sie hat in ihremEntwurf selber bestätigt, dass sie sie umsetzen wird – undauch zu inhaltlichen Fokussierungen zwingt. Das heißt,die Weltbank wird ihre Projekte auf die Armutsbekämp-fung fokussieren. Die Weltbank wird eine Initiative fürmehr Transparenz starten. Sie wird ihre Projekte in kür-zeren Zeitabläufen als zuvor evaluieren: Wirksamkeitund Sichtbarkeit der gezahlten Gelder sind dabei dasZiel. Wir wollen mehr Transparenz und mehr Effektivi-tät bei der Verwendung der Mittel.Die Weltbank selbst ist auf dem Weg einer weiterenDezentralisierung, weil sie festgestellt hat – das kann ichgut nachvollziehen; die Weltbank ist derzeit in 120 Län-dern weltweit präsent –, dass sie durch Büros bzw. Au-ßenstellen in Ländern, die Hilfe und Projektförderungenbrauchen, näher dran ist und es so viel eher möglich ist,einzuschätzen, welcher Art die Projekte sein müssen, obsie sinnvoll sind und ob mehr Beratung nötig ist. Es istalso der richtige Weg, näher an den Ländern dran zusein, die Hilfsprojekte benötigen. Ich habe diesen Wegzusammen mit den Partnern aus den Geberländern, diesonst noch mit am Tisch saßen, unterstützt und auch dieReformen, die ich eben genannt habe, explizit eingefor-dert, also Erneuerungsbedarf bei der Weltbank und einestärkere Fokussierung auf mehr Transparenz und Evalu-ierung. Das ist damit auch verbunden.Ihre nächste Frage haben Sie zur Stimmrechtsreformgestellt. Dazu komme ich dann gleich noch.
Eine Nachfrage zu dieser Frage? – Bitte.
Herr Präsident, vielen Dank. – Frau Kopp, ich komme
auf die künftigen Reformen zu sprechen. Ich habe nach
der Frühjahrstagung der Weltbank der Presse entnom-
men, dass Sie gesagt haben, ein Hauptziel müsse in den
nächsten Jahren sein, dass wir ein „nachvollziehbares und
transparentes“ System der Gewichtsverteilung in der Welt-
bank bekommen. Verstehe ich das im Umkehrschluss rich-
tig, dass wir dort derzeit ein intransparentes und nicht
nachvollziehbares System haben?
Gu
Schauen Sie sich einmal an, wie die Stimmrechte bis-lang verteilt werden – jetzt muss ich auf diesen Punkt zusprechen kommen, weil man das nicht diskutieren kann,ohne darauf einzugehen –; dies geschah in einer Art undWeise, die, wie ich jedenfalls finde, nicht nachvollziehbarund wenig transparent war. Nehmen Sie nur einmal dieÜbertragung von gut 3 Prozent der Stimmrechte: Wiekommt man darauf? Wie wurden sie errechnet? Wie er-folgt die Übertragung? Wer wird damit gestärkt? Sie wis-sen, dass es darum ging, zur Stärkung der Entwicklungs-und Schwellenländer über deren Basisstimmrechte hi-naus gut 3 Prozent der Stimmrechte neu zu verteilen. Esist zwar richtig, diese Stärkung vorzunehmen – deswegenhaben wir das auch mitgetragen –, aber wie diese Stimm-rechtsverteilung jetzt und auch die in der Vergangenheiterfolgte, war nicht nachvollziehbar und nicht transparent.Wir als Geberländer haben nun gesagt – auch darinwaren wir uns, jedenfalls die meisten, einig –: DieseUmverteilung von 3 Prozent machen wir einmalig mit,weil es anders schwierig wäre, einen Kompromiss zu er-reichen. Es war nämlich – Herr Lischka, Sie wissen daswahrscheinlich aus der Vergangenheit – ein unglaublichschwieriger Prozess, diese 3 Prozent auf die schwäche-ren Länder überhaupt zu verlagern. Das wurde ja seitvielen Jahren versucht; aber das scheiterte immer auf in-ternationaler Ebene. Das jetzt Erreichte ist also schoneinmal ein Fortschritt. Weil das so ist, habe ich, auch beider Konferenz, gesagt: Das machen wir diesmal, abermit der Auflage, dass es ein einmaliger Vorgang ist undsofort nach der jetzigen Weltbanktagung eine Systemre-form auf den Weg gebracht wird.Ich glaube, der Webfehler war, dass bislang die Stimm-rechte nach der jeweiligen Wirtschaftskraft verteilt wur-den, also nach der ökonomischen Potenz. Ich finde, es istnicht weitreichend genug, das alleine zur Grundlage derStimmrechtsverteilung zu machen, sondern es muss aucheinbezogen werden, welche Beiträge die Geberländerzum IDA-Fonds, dem Fonds für die ärmsten Länder, leis-ten. Um nur ein Beispiel zu nennen: Ich finde, dass nichtnur die ökonomische Kraft eines Landes, sondern ebenauch der Beitrag eines Landes zur Finanzierung diesesFonds für die Ärmsten mitzählen müsste. Das müsste ei-gentlich bei der Stimmrechtsverteilung mitberücksichtigtwerden.Insofern hat die deutsche Bundesregierung bzw. dasBMZ ein Pooling-Modell eingebracht und dargestellt,welche Kriterien nach unserer Auffassung in Zukunftzur Anwendung kommen sollten. Als wir den ersten Ent-wurf vorgestellt haben, ist dieser auf recht positive Reso-
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nanz gestoßen. Momentan ist noch nichts entschieden.Wie gesagt, wir sind im Prozess der Reformierung. Aberunbestritten ist, dass das System dringend verändert wer-den muss.Sie haben ja lesen können, dass von den 3 Prozent derStimmrechtsanteile, die an die Schwellen- und Entwick-lungsländer verteilt wurden, 2 Prozent China zugefallensind. China ist in dem Pool der Entwicklungs- undSchwellenländer nun wirklich führend, was die Stimm-rechte betrifft. Es verfügt nun über 4,4 Prozent derStimmrechtsanteile. Deutschland ist auf 4 Prozent zu-rückgefallen. Wir haben knapp 0,4 Prozent eingebüßt.Die Franzosen und die Briten haben 0,55 Prozent einge-büßt, also mehr als wir. Die Japaner haben sogar mehrals 1 Prozent abgegeben; ansonsten wäre der Kompro-miss gar nicht zustande gekommen.Nach der derzeit geltenden Austarierung der Stimm-rechte rein nach den Kriterien der Wirtschaftskraft ist esnur logisch, dass China diesen Zuwachs an Stimmenrech-ten bekommen hat. Damit müssen wir uns auseinander-setzen. Nach Überzeugung meines Hauses ist allerdingsmit dem Zuwachs an Stimmrechten auch zwingend mehrVerantwortung verbunden – und mehr Verantwortungheißt auch, mehr Gelder bereitzustellen.Eigentlich hätten wir an China im Rahmen des derzeitgeltenden nicht gut nachvollziehbaren, intransparentenSystems noch mehr Stimmrechte übertragen können.Darüber wurde auch diskutiert. Die Chinesen haben aberabgelehnt und gesagt, dass sie das nicht wollen. Denndas hätte natürlich in jedem Fall bedeutet, dass Chinaauch mehr Geld hätte bereitstellen müssen.Es bleibt dabei, dass für mehr Transparenz gesorgtwerden muss und wirkliche Reformen durchgeführt wer-den müssen. Wir wollen das System bis spätestens 2013neu aufstellen. Ab 2015 – dann steht nämlich die nächstePrüfung der Verteilung der Stimmrechte an – soll bereitsnach dem neuen System gehandelt werden. Ziel derBundesregierung ist es, die Entwicklungs- und Schwel-lenländer zu stärken. Das ist an dieser Stelle auch ge-schehen.Ich füge eine persönliche Anmerkung hinzu: Wir wer-den auch darüber diskutieren müssen, wer in dem Poolder Entwicklungs- und Schwellenländer im Endeffektauf Dauer bleiben kann; ich hoffe, Sie verstehen, was ichmeine. Denn wenn ein Schwellenland irgendwann defacto kein Schwellenland mehr ist, sondern in eine hö-here Kategorie aufgestiegen ist – das wünschen wir ja al-len –, dann muss zur Stärkung der schwächeren Länderauch eine andere Verteilung der Stimmrechte erfolgen.Aber das ist Zukunftsmusik. Wir müssen erst einmaleine Stimmrechtsreform auf den Weg bringen, und daswird schwierig genug.
Können wir zur Frage 6 kommen?
Das können wir machen.
Dann rufe ich die Frage 6 des Abgeordneten
Burkhard Lischka auf:
Ist es bei der Frühjahrstagung der Weltbank aus Sicht der
Bundesregierung ausreichend gelungen, die Einflussvertei-
lung zwischen Industrie- und Schwellenländern neu auszuta-
rieren, und wie bewertet die Bundesregierung den durch die
neue Stimmverteilung festgeschriebenen hohen Machtzu-
wachs Chinas in der Weltbank?
Bitte schön.
Gu
Herr Präsident, Herr Lischka, ich hatte die Antwort
auf die Frage 6 eigentlich schon gegeben. Denn es geht
in dieser Frage um die Stimmrechtsreform. Ich kann
gerne noch etwas ergänzen. Aber ich habe Sie jetzt mit
so vielen Sätzen bedacht, dass ich erst einmal nachfra-
gen möchte: Haben Sie aus Ihrer Sicht zur Frage 6 noch
eine offene Frage?
Bitte schön.
Sehr geehrter Herr Präsident, vielen Dank. Ich habe
tatsächlich zwei Zusatzfragen, die die Stimmrechtsver-
teilung betreffen. – Einige Ökonomen haben in der
Presse die Befürchtung geäußert, dass es aufgrund der
neuen Stimmrechtsverteilung in Zukunft möglicher-
weise verstärkt zur Bewilligung von wirtschaftlich un-
sinnigen Projekten kommt. Ist das eine Befürchtung, die
Sie teilen, Frau Staatssekretärin?
Gu
Diese Befürchtung hege ich nicht aufgrund der neuenStimmrechtsverteilung. Ich glaube, es ist generell nötig,sehr viel mehr darauf zu achten, wohin die Gelder flie-ßen. Das betrifft das gesamte Engagement und die ge-samte Projektarbeit der Weltbank, aber nicht nur derWeltbank. Was unsinnige Projekte sind, das muss manerst einmal definieren. Es kommt natürlich darauf an,aus welchem Blickwinkel Sie das sehen.Ich möchte Ihnen dazu sagen: Ich finde es wichtig,bei jeder Finanzierung dieser Art nachvollziehen zu kön-nen, wohin und wofür die Gelder geflossen sind und wieam Ende das Ergebnis aussieht. Das hat bei der Tagungder Weltbank eine Rolle gespielt: Wir, die Geberländer,wollen verstärkt darauf achten, dass beim Einsatz derMittel mehr Effizienz und Effektivität zu erkennen sind.Ich glaube, die Weltbank hat als Erkenntnis mitgenom-men, dass wir kürzere Evaluierungszeiträume fordern.Wir kommen nur weiter, wenn die Evaluierungszeit-räume verkürzt werden; denn nur so können wir schnellgenug erkennen, ob Mittel sinnvoll eingesetzt werdenoder nicht.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Mai 2010 3763
Parl. Staatssekretärin Gudrun Kopp
(C)
(B)
Die Führung der Weltbank steht jetzt enorm unterDruck, für mehr Wirksamkeit und Effizienz zu sorgen.Ich verspreche Ihnen: Wir werden sehr genau daraufachten.
Weitere Nachfrage?
Ja, eine kurze Zusatzfrage. – Frau Kopp, dankenswer-
terweise haben Sie gerade viel zu künftigen Reformen
gesagt und uns Ihre Überlegungen zur Stimmrechtsver-
teilung und zur Stärkung der Mitsprachemöglichkeiten
der Entwicklungs- und Schwellenländer bei der Welt-
bank mitgeteilt. Es gibt ja den Vorschlag Brasiliens, bei
der Weltbank eine Stimmparität zwischen Nehmer- und
Geberländern herzustellen. Ist das auch aus Ihrer Sicht
ein taugliches Zukunftsszenario?
Gu
Das ist im Augenblick realistischerweise überhaupt
nicht diskutierbar. Es spielte bei der Tagung der Welt-
bank keine Rolle. Ich habe bei der Vorbereitung auf die
Tagung – es war für mich die erste Weltbanktagung –
von diesem Ansinnen gelesen und mir die Stellungnah-
men dazu angeschaut. Ich kann Ihnen nur sagen, dass
eine Umsetzung auf die Schnelle im Moment nicht rea-
listisch ist.
Die Schwellen- und Entwicklungsländer verfügen
jetzt bei der Weltbank über einen Stimmrechtsanteil von
gut 47 Prozent. Sie wissen selber, welch ein riesiger
Kraftakt über Jahre hinweg nötig war, um überhaupt den
Transfer eines Teils der Stimmrechte zustande zu brin-
gen, also die Steigerung des Stimmrechtsanteils der
Schwellen- und Entwicklungsländer um 3 Prozentpunk-
te, von 44 auf 47 Prozent. Ich kann im Moment nicht be-
urteilen, ob es möglich sein wird, hier einen weiteren
Schritt, also eine Steigerung von gut 47 auf 50 Prozent,
in Angriff zu nehmen. Ich finde, wir müssen erst einmal
das umsetzen, was realistisch ist. Das haben wir mit dem
jetzt gefassten Beschluss getan; ich finde das gut.
Als Nächstes haben wir eine andere Reform vor uns:
Wir müssen nachvollziehbare Kriterien für die Stimm-
rechtsverteilung einführen. Im Zuge der Umsetzung die-
ser Reform werden wir uns natürlich mit der Frage be-
schäftigen, ob es bei der Stimmgewichtung bleibt oder
wir sie verändern. Das Thema wird dann auf der Tages-
ordnung stehen. Wann es dazu kommt, ist im Moment
noch nicht zu überschauen; denn auf internationaler
Ebene ist es, wie Sie wissen, immer schwierig, eine Eini-
gung zu erreichen. Wir werden aber mit Sicherheit in
Zukunft auch über diese Stimmverteilung beraten.
Danke schön. – Wir kommen jetzt zu den Fragen 7
und 8 des Kollegen Sascha Raabe:
Wie bewerten der Bundesminister für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung und die Parlamentarische
Staatssekretärin beim Bundesminister für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung aufgrund konkreter Beobach-
tungen und Gespräche bei ihren Auslandsreisen die Wirkung
von gebundenen und ungebundenen Budgethilfen in Entwick-
lungsländern, und sind sie bereit, auf Grundlage dieser Erfah-
rungen in diesen Ländern Budgethilfen weiterzuführen?
Wie und wann erfolgt in der EU die konkrete Abstimmung
über Budgetfinanzierungen Deutschlands und der EU-Partner
sowie des Europäischen Entwicklungsfonds entsprechend der
Pariser Erklärung über Kohärenz und Effizienz der Entwick-
lungszusammenarbeit und der Bestätigung dieser Erklärung in
Accra?
Bitte schön, Frau Staatssekretärin.
Gu
Herr Kollege Raabe, Sie sprechen ein Thema an, das
immer heiß diskutiert wird. Im Einklang mit dem Koali-
tionsvertrag vergibt die Bundesregierung Budgethilfen
nur nach strengen, transparenten Kriterien und überprüft
die entsprechenden Programme fortlaufend.
Sie haben nach meinen Beobachtungen und denen des
Ministers auf Auslandsreisen gefragt. Die Reisen dien-
ten auch dazu, uns über bestehende Budgethilfepro-
gramme zu informieren. Die Besuche haben gezeigt,
dass allgemeine Budgethilfen in den Ländern, in denen
es eine funktionierende parlamentarische Kontrolle, effi-
ziente Rechnungshöfe und eine starke Zivilgesellschaft
gibt, durchaus einen Beitrag zu mehr Eigenverantwor-
tung und verbesserter Rechenschaftslegung gegenüber
der eigenen Bevölkerung leisten können. Auch müssen
die Partner sichtbare Anstrengungen zur Verbesserung
der Situation bei den Eigeneinnahmen – Stichwort Steu-
erquote – vorweisen können.
Bundesminister Niebel hat bei seinen Gesprächen
deutlich auf die Notwendigkeit hingewiesen, Ergebnisse
der Reformen im Rahmen der Zusammenarbeit besser zu
dokumentieren. Herr Kollege Raabe, das war heute ja
auch im Ausschuss Thema. Ich will betonen, dass wir
allgemeine Budgethilfen – davon sprechen wir ja – ohne
eine Verknüpfung mit den Zielen von Good Governance,
also guter Regierungsführung, und mit der Beachtung
von Menschenrechten als sehr problematisch ansehen.
Dort, wo es gute Strukturen gibt, kann man durchaus mit
Budgethilfen agieren.
Wir haben aber, wie Sie wissen, im Koalitionsvertrag
festgelegt, dass wir eine neue Gewichtung vornehmen
und mehr in bilaterale Projekte investieren möchten,
weil sie transparenter sind und ihre Wirksamkeit besser
festgestellt werden kann. Wir möchten nicht, dass allge-
meine Finanzmittel irgendwo in Haushaltsbudgets von
Regierungen landen, die mit dem Geld nicht das finan-
zieren, was wir uns vorstellen, sondern den eigenen
Machterhalt, Korruption und viele Dinge mehr.
Nachfragen? – Bitte schön.
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3764 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Mai 2010
(C)
(B)
Frau Staatssekretärin, zunächst kann man feststellen,
wie auch Sie auf Ihren gemeinsamen Auslandsreisen mit
dem Minister beobachtet haben, dass die Budgethilfe,
die Deutschland leistet bzw. geleistet hat – wir haben ja
auch zuvor nur Budgethilfe geleistet, wenn die Rahmen-
bedingungen gestimmt haben –, in der Tat zu einer Ver-
besserung der Situation in den Ländern geführt hat. Es
ist auch legitim, von anderen Gebern zu fordern, ihre
Programme in Ländern, wo die Rahmenbedingungen
nicht gegeben sind, anzupassen – wohlgemerkt nicht
Deutschland; denn wir haben in der Vergangenheit nicht
mit solchen Ländern zusammengearbeitet. Aber es gibt
doch einen Unterschied zwischen einer derartigen diffe-
renzierten Kritik und – ich befürchte, dass Sie mir, wahr-
scheinlich berechtigterweise, wieder mangelnde Wert-
schätzung dem Minister gegenüber vorwerfen – einer
pauschalen Kritik, wie sie unser Minister leider häufig
übt nach dem Motto: Steuergeld wird in irgendwelchen
Haushalten von Despoten verschwendet, indem diese
sich goldene Paläste bauen. Sind Sie mit mir der Mei-
nung, dass solche pauschalen Verurteilungen unserem
gemeinsamen Anliegen, das wir verfolgen sollten, scha-
det?
Weiter frage ich Sie: Warum haben Sie im Koalitions-
vertrag eine Reduzierung der entsprechenden Mittel vor-
gesehen? Gehen Sie etwa davon aus, dass alle Entwick-
lungsländer immer schlechter und korrupter werden? Sie
haben anscheinend nicht die Hoffnung, dass es besser
wird. Wenn Sie davon ausgingen, dass die Rahmenbe-
dingungen besser würden, dann müssten Sie es doch of-
fenlassen, ob Sie das Instrument ausweiten oder reduzie-
ren, statt die Stammtischmentalität zu bedienen und zu
sagen: Das wird jetzt einfach einmal gekürzt. Vor Ort
stellen Sie dann aber fest, dass die Mittel eigentlich wei-
terhin gezahlt werden sollten.
Gu
Herr Kollege Raabe, es ist doch unumstritten und
auch belegt, dass wir es in der Vergangenheit gerade auf
dem afrikanischen Kontinent vielfach erlebt haben, dass
allgemeine Budgethilfen nicht transparent und werte-
orientiert verwendet wurden, sondern in irgendwelchen
Kanälen verschwunden sind. In Afrika haben über viele
Jahre und Jahrzehnte hinweg Hilfen in Milliardenhöhe
häufig nicht den Nutzen gebracht, den wir uns eigentlich
erhofft hatten. Das heißt: Es gibt viele Beispiele dafür,
dass allgemeine Budgethilfen ohne Verknüpfung mit
Qualitätskriterien und Prüfungen im Vorfeld häufig zum
Fenster hinausgeworfenes Geld war, das nicht zur Ver-
besserung der Lebensverhältnisse der Ärmsten, für die
es eigentlich gedacht war, beigetragen hat. Genau das
hat auch der Minister gesagt, indem er als Ziel formuliert
hat, bessere Verhältnisse zu schaffen. Ich habe doch eben
sehr differenziert argumentiert – das meine ich jeden-
falls –, als ich ausgeführt habe, dass die Budgethilfen,
sofern sie mit der Einhaltung bestimmter Werte ver-
knüpft sind, an der einen oder anderen Stelle auch sinn-
voll sein mögen.
Im Koalitionsvertrag sagen wir nun bei der Frage der
Austarierung von multilateralen und bilateralen Struktu-
ren nicht, dass wir gar keine multilateralen Förderungen
mehr wollen, vielmehr haben wir uns dafür ausgespro-
chen, einen größeren Schwerpunkt im bilateralen Be-
reich zu setzen. Wir haben nicht gesagt, dass wir ohne
multilaterale Strukturen auskommen wollen, vielmehr
geht es – das will ich deutlich sagen – um die Gewich-
tung und um die Verantwortung, die die gesamte Bun-
desregierung, aber mein Haus ganz besonders, dafür hat,
dass die Steuermittel, die wir ausgeben, so verantwortbar
wie irgend möglich eingesetzt werden und Wirkung ent-
falten können, hier also Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten.
Das muss mit Qualitätskriterien verbunden sein. Einfach
nur auf Cashflow zu setzen und dann zuzuschauen, was
daraus wird, das können wir uns nicht leisten.
Eine weitere Nachfrage? – Bitte schön.
Frau Staatssekretärin, das ist genau das, was ich
meine. Sie reden von Cashflow und darüber, dass man
nicht darauf schaut, was passiert. Sie reden reichlich ne-
bulös über Milliarden, die angeblich versickert sind, und
über Länder, in denen alles ganz schlimm gelaufen ist.
Ich frage Sie konkret – denn es geht um deutsche Steuer-
gelder –: Welches Land hat die Bundesrepublik Deutsch-
land in den letzten Jahren mit Budgethilfe unterstützt,
bei dem es Ihrer Meinung nach keine Verknüpfung mit
Kriterien gab? Wo haben wir nicht reagiert, als die Part-
nerländer die Bedingungen nicht erfüllten? Wo ist der
Cashflow in Ländern, bei denen überhaupt nicht ge-
schaut wurde, was mit dem Geld passiert ist?
Ich finde, wenn man so etwas behauptet, ist das auch
eine Beleidigung unserer Durchführungsorganisation
und der Menschen, die vor Ort arbeiten. Ich frage Sie
ganz konkret: In welchen Ländern haben Sie vor Ort die
von Ihnen beschriebenen Erfahrungen gemacht? Nennen
Sie doch die Namen der Länder, in denen in den letzten
Jahren die deutsche Budgethilfe in Form von Cashflow
herübergeschoben wurde und dann versickerte bzw. ver-
schwendet wurde, weil man sich nicht darum geküm-
mert hat. Wir reden nicht über andere Geber, sondern
über Deutschland.
Gu
Ich möchte Ihre Frage positiv beantworten, HerrRaabe, und Ihnen sagen, welchen reformdynamischenNiedrigeinkommensländern Deutschland Budgethilfe leis-tet. Als Beispiele nenne ich Länder in Subsahara-Afrika:Burkina Faso, Ghana, Mali, Malawi, Mosambik,Ruanda, Sambia, Tansania und Uganda. Die Budgethilfefür Benin ist derzeit ausgesetzt. Wie Sie wissen, be-obachten wir auch genau, was in Uganda passiert. Be-kanntermaßen gibt es dort eine parlamentarische Initia-tive, Homosexualität mit der Todesstrafe zu belegen.Bundesminister Niebel hat, wie Sie der Presse sicherlichentnommen haben, den Botschafter Ugandas zu sich be-
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Parl. Staatssekretärin Gudrun Kopp
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stellt und gesagt, die Bundesregierung erwarte, dass sichdie Regierung Ugandas davon distanziere, und über ent-sprechende Schritte nachdenken werde, wenn dies nichtgeschehe. Die Umsetzung dieser Art von Werteorientie-rung hat schon Wirkung gezeigt. Wie Sie wissen, hatsich die Regierung Ugandas von dieser Initiative distan-ziert. Wie es dort in dieser Frage weitergeht, müssen wirbeobachten.Wir haben jedenfalls die Aufgabe, bei der Finanzie-rung von Budgets genau darauf zu achten, wohin dieGelder fließen. Es gibt verschiedene Gutachten – ichkann aus ihnen jetzt nicht zitieren, weil ich sie nicht da-beihabe; täte das aber gerne –, die belegen, dass in derVergangenheit sehr viele Gelder in Kanäle geflossensind, die zu fördern nicht in unserem Sinne sein kann.Neben der allgemeinen Budgethilfe gibt es ja nochdie sektorale Budgethilfe. Aus unserem Programm fürdie Sektorbudgethilfe erhalten Peru, Ruanda und Äthio-pien eine zweckgebundene Unterstützung für die Siche-rung sozialer Grunddienste. Für den Senegal und Mada-gaskar bestehen Budgethilfezusagen. Allerdings ist eshier noch nicht zu einer Auszahlung gekommen. EineAusweitung des Länderkreises ist zurzeit nicht geplant.Ich kann Ihnen sagen, dass in Kürze eine erneute Prü-fung und Evaluierung betreffend die Fortführung vonBudgethilfen und Budgethilfeprogrammen stattfindenwerden, um zu sehen, wo wir stehen, ob wir auf demrichtigen Weg sind, wo wir nachjustieren müssen undwelche weiteren politischen Schritte wir gehen müssen.Seien Sie versichert: Wir sind darauf aus, die uns anver-trauten Gelder so verantwortlich wie irgend möglich zurVerbesserung der Lebensverhältnisse in den ärmstenLändern einzusetzen.
Danke schön. – Wir kommen damit zu den Fragen 9
und 10.
– Ich dachte, Frage 8 sei schon mitbeantwortet.
Bitte schön, Frau Kopp, zur Abstimmung über die
Budgetfinanzierungen.
Gu
Herr Präsident, auch ich meine, dass diese Frage
schon teilweise mitbehandelt wurde, wenn auch nur am
Rande.
Die Mitgliedstaaten stimmen ihre Budgethilfeent-
scheidungen mit der EU-Kommission und mit anderen
Mitgliedstaaten auf Ebene des zentralen, kontinuierli-
chen Austausches zwischen Länderabteilungen, Exper-
tengruppen und Budgethilfe auf EU-Ebene sowie vor
Ort unter Beachtung der jeweiligen nationalen Entschei-
dungskompetenz ab. Die Koordinierung von Budgethil-
feprogrammen ist insbesondere in den Ländern, in denen
sich auch die deutsche Entwicklungszusammenarbeit an
der Budgethilfe beteiligt, intensiv. Hier bestehen Mög-
lichkeiten zur konkreten gemeinsamen Positionierung
als EU in den Budgethilfegruppen vor Ort sowie im Rah-
men des Politikdialogs mit den Partnerländern.
Beim Europäischen Entwicklungsfonds sind die Mit-
gliedstaaten ebenso wie bei den anderen Außenhilfe-
instrumenten an allen Budgethilfeentscheidungen der
EU-Kommission beteiligt. Die Beteiligung der Mitglied-
staaten erfolgt sowohl im Rahmen der jeweiligen Län-
derprogrammierung in Brüssel als auch im Rahmen der
Vorbereitung und Durchführung vor Ort.
Im Zuge der Umsetzung der Schlussfolgerungen des
Rates zu Aid Effectiveness vom November 2009 haben
Kommission und Mitgliedstaaten insbesondere auf deut-
sche Initiative hin einen Dialog zur Ausarbeitung eines
koordinierten Ansatzes bezüglich Budgethilfen begon-
nen. Entsprechend der Pariser Erklärung und des Accra-
Aktionsplans geht es darum, den gemeinsamen Politik-
dialog, das konkrete Design von Budgethilfeprogram-
men sowie die Evaluierung der erzielten Ergebnisse stär-
ker untereinander abzustimmen mit dem Ziel, ein
möglichst einheitliches Auftreten der EU vor Ort zu si-
chern.
Bitte schön, Kollege Raabe. Wollen Sie nachfragen?
Gerne, Herr Präsident. – Frau Staatssekretärin, die
Frage zielte darauf ab, dass wir in der Pariser Erklärung
und der Erklärung von Accra auf internationaler Ebene
mit ganz vielen anderen Gebern vereinbart haben, dass
sich die Geber zur Effizienzsteigerung auf gemeinsame
Programme in Entwicklungsländern einigen sollen, und
zwar auch im Rahmen allgemeiner und sektoraler Budget-
finanzierung, damit sich nicht 100 oder 150 Geber bei
den Ministerien die Klinke in die Hand geben und damit
Kräfte gebunden werden, die besser zur Armutsbekämp-
fung verwendet werden könnten. Ich frage Sie, ob sich
diese Bundesregierung noch daran hält. In Ihren Koali-
tionsvertrag, auf den Sie ja auch eingegangen sind, ha-
ben Sie nämlich genau das Gegenteil von dem, was in-
ternational vereinbart wurde, hineingeschrieben. Sehen
Sie nicht die Gefahr, dass sich Deutschland international
immer stärker isoliert, wenn weitere Evaluierungen, die
wir meiner Meinung nach gar nicht brauchen, gefordert
werden? Oder geht es der Bundesregierung vielleicht
eher darum, wieder ganz viele deutsche Fahnen aufzu-
stellen, anstatt das Geld gemeinsam mit anderen wirk-
lich für die Ärmsten der Armen effizient einzusetzen,
wie es international vereinbart wurde? Halten Sie sich
also noch an diese Vereinbarungen?
Gu
Nichts gegen deutsche Fahnen!
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3766 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Mai 2010
Parl. Staatssekretärin Gudrun Kopp
(C)
Herr Kollege Raabe, Ihre Sichtweise kann ich nichtteilen; das sage ich ausdrücklich. Ich habe mehrere Ent-wicklungsministertreffen auf EU-Ebene mitgemacht,auch zu dem Thema Budgethilfen. Unsere Skepsis, wasdie transparente und werteorientierte Verwendung vonBudgethilfen betrifft, teilt eine große Zahl anderer EU-Partner. Ich war erstaunt, weil auch ich bisher dachte,dass neben uns Deutschen nur einige wenige Partner einwenig kritischer draufschauen. Nein, das ist nicht so. Esgibt viele Länder in unserer EU, die diese Bedenken tei-len. Auch diese Länder sagen: Wir wollen eine größereEffizienz bei der Verwendung der Mittel; wir müssendringend genauer hinschauen. Genau das Gegenteil vondem, was Sie gesagt haben, ist der Fall. Wir isolieren unsnicht. Es ist vielmehr so, dass die Bedenken, die Minis-ter Niebel und ich formuliert haben, auf EU-Ebene zumgroßen Teil geteilt wurden.Was nicht sein darf, ist Folgendes – auch darüberwurde gesprochen –: Wenn die Mitgliedstaaten mit Pro-jekten begonnen haben, dann aber zu der Erkenntniskommen, dass für den verantwortbaren Mitteltransferdie Voraussetzungen fehlen, zum Beispiel, weil die Prin-zipien von Good Governance nicht eingehalten werdenoder keine einigermaßen verlässlichen Strukturen vorOrt vorhanden sind, dann kann es nicht sein, dass dieEU-Kommission die Finanzierung fortsetzt. Ich finde, eskann nicht angehen, dass sie dann zwar die Mittel bei-spielsweise für zwei Jahre aussetzt, aber den Gesamtbe-trag nach drei Jahren plötzlich doch ausbezahlt.Wir sagen, dass uns gute Regierungsführung, Beach-tung von Menschenrechten, Transparenz der Mittel,staatliche Strukturen, die einen verantwortlichen Um-gang mit dem Geld überhaupt vermuten lassen, und vieleDinge mehr wichtig sind. Wenn all das aber nicht gege-ben ist, kann man in solche Projekte eigentlich nicht ein-steigen. Dann muss man sich sehr genau überlegen, wasman tut. Wir sind auch mit der EU-Kommission sehr kri-tisch umgegangen. Wir haben gesagt: Wenn wir zu demErgebnis kommen, dass ein bestimmtes Projekt nichtförderfähig ist, weil es nicht werteorientiert ist, möchtenwir nicht, dass die EU-Kommission dann anders handelt.Kohärentes Handeln auf EU-Ebene ist uns wichtig. Da-für treten wir auch ein.
Ihre zweite Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, die Abgeordneten und das Pu-
blikum haben das Anrecht auf eine wahrheitsgemäße
Beantwortung der Fragen. Sie haben es eben so darge-
stellt, als habe in der Paris-Deklaration und in der Erklä-
rung von Accra – ich selbst war bei der Konferenz in
Accra dabei – die Meinung vorgeherrscht, dass das In-
strument der Budgethilfe nicht ausgeweitet werden soll.
Natürlich muss dieses Instrument kontrolliert werden.
Aber ich frage Sie – ich kann übrigens gut lesen –: Wol-
len Sie allen Ernstes behaupten, dass in der Erklärung
der EU von Paris und in der Accra-Erklärung steht, wir
sollen das Instrument der Budgethilfe zurückfahren und
beschneiden, wie Sie es in Ihrem Koalitionsvertrag for-
muliert haben? Das, was Sie jetzt angeblich in Gesprä-
chen auf EU-Ebene erfahren haben, ist jedenfalls nicht
der Stand dieser Erklärungen. Ich würde Sie bitten, mir
diese Passagen zu nennen. Dabei muss es sich um ein
Geheimpapier handeln, aber nicht um den offiziellen
Text der Erklärungen von Accra und Paris.
Gu
Herr Kollege Raabe, weil auch ich bei der Wahrheit
bleiben möchte, will ich darauf hinweisen, dass die Er-
klärungen, die Sie gerade zitiert haben, auch und insbe-
sondere auf bestimmten qualitativen Werten beruhen.
Das heißt, es steht nirgendwo, dass Geld gezahlt werden
soll, ohne dass die notwendigen Voraussetzungen dafür
erfüllt sind.
Ganz im Gegenteil, es gibt genügend korrupte Regie-
rungen, die mit Geldern, die eigentlich entwicklungs-
orientiert eingesetzt werden sollen, Armeen finanzieren.
Das wollen wir nicht. Da kann man doch nicht sagen:
Das ist vielleicht eine Petitesse. Wir wollen so weiterma-
chen. – Nein, es muss so sein, dass die Gelder, die wir
geben, wirklich bei denen ankommen, die sie nötig ha-
ben. Wir dürfen durch unsere Finanzierung nicht die
Beibehaltung von Strukturen, die eigentlich längst nicht
mehr gefördert werden dürften, mitverantworten. Wir
brauchen Regierungen, die sich gegenüber ihrer eigenen
Bevölkerung verantwortlich verhalten, um deren Exis-
tenz zu sichern und nicht die eigene Macht. Ich kann Ih-
nen nur sagen: Hier wird und wurde in der Vergangen-
heit häufig genug falsch gehandelt. Wir wollen dieser
Fehlentwicklung, ob Sie es richtig finden oder nicht, mit
aller Macht entgegenwirken.
Wir kommen nun zur Frage 9 der Kollegin Dr. Bärbel
Kofler:
Welche zusätzlichen Anstrengungen bzw. inhaltlichen Än-
derungen hat das Bundesministerium für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung im Vergleich zu den Vor-
jahren im Themenschwerpunkt „Klima-, Umwelt- und Res-
sourcenschutz“ unternommen, und mit welchen Partnerlän-
dern der deutschen Entwicklungszusammenarbeit kooperiert
es derzeit in diesem Themenschwerpunkt?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Gu
Frau Kollegin Kofler, das Thema „Erneuerbare Ener-gien in der Entwicklungszusammenarbeit“ ist ein sehrwichtiges. Die Bundesregierung und das Bundesministe-rium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-lung planen in 2010 bedeutende zusätzliche finanzielleAnstrengungen zur Förderung von Klima- und Umwelt-schutz einschließlich der Unterstützung von Entwick-lungsländern bei der Anpassung an die unvermeidlichenFolgen des Klimawandels.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Mai 2010 3767
Parl. Staatssekretärin Gudrun Kopp
(C)
(B)
Als Teil der von der Bundesregierung auf dem Ko-penhagener Klimagipfel zugesagten Fast-Start-Finanzie-rung von insgesamt 1,26 Milliarden Euro im Zeitraumvon 2010 bis 2012 werden für diese Zwecke im Einzel-plan 23 – Sie kennen das sicher – Mittel vorgesehen,welche in 2010 im Vergleich zum Basisjahr 2009 um205 Millionen Euro steigen.Inhaltliche Änderungen für die deutsche Entwick-lungszusammenarbeit werden sich vor allem durch dieim Juli 2009 beschlossene Einführung der obligatori-schen Klimaprüfung für Maßnahmen der bilateralenfinanziellen und technischen Zusammenarbeit ergeben.Die Leitlinien orientieren sich an den internationalenVorgaben der OECD. Umweltpolitik, Schutz und nach-haltige Nutzung natürlicher Ressourcen sind derzeit– Stand: Januar 2010 – Schwerpunkt der bilateralen Ent-wicklungszusammenarbeit mit 19 Partnerländern, mitweiteren neun Ländern im Rahmen regionaler themati-scher Kooperationsprogramme. Ich will Ihnen ein paarBeispiele nennen: im Bereich Mittelmeer, Naher Ostenund Mittlerer Osten Ägypten und Marokko; im Rahmenregionaler thematischer Kooperationsprogramme Alge-rien und Tunesien; in Afrika südlich der Sahara Benin,Kongo, Kamerun, Madagaskar und Mauretanien; inAsien und Ozeanien Indien, Indonesien, die Mongoleiund Vietnam; in Lateinamerika Brasilien, Ecuador undHonduras. Hinzu kommen viele weitere Länder.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Danke. – Frau Staatssekretärin, ich möchte noch ein-
mal auf die zusätzlichen Mittel, die im Einzelplan 23
sein sollen, zu sprechen kommen. Sie haben den Kopen-
hagen-Akkord zitiert, nach dem – zu Recht – in den
Haushalten für die nächsten drei Jahre und damit auch
im Haushalt 2010 jeweils ungefähr 400 Millionen Euro
vorzusehen sind.
Jetzt sprechen Sie von 205 Millionen Euro, die im
Einzelplan 23 zusätzlich vorhanden sein sollen. Deshalb
meine Nachfrage: Wo finden sich diese 205 Millionen
Euro? Können Sie mir im Bereich der finanziellen und
technischen Zusammenarbeit Vergleichszahlen aus dem
Jahre 2009 nennen, damit wir sehen können, wie sich die
Zahlen entwickelt haben? Der eine Titel, den es im Ein-
zelplan 23 gibt – Klimaschutz in den Entwicklungslän-
dern –, umfasst 35 Millionen Euro, aber nicht 205 Mil-
lionen Euro. Also müssten die übrigen 170 Millionen
Euro in anderen Titeln versteckt sein. Daher hätte ich
zum Vergleich gerne die Zahlen aus dem Jahre 2009.
Gu
Frau Kollegin Kofler, ich kann Ihnen Zahlen aus dem
Haushalt für 2010 nennen. Ich sprach eben davon, dass
Mittel im Umfang von 205 Millionen Euro eingestellt
sind. Diese Mittel verteilen sich wie folgt: jeweils rund
85 Millionen Euro für die bilaterale finanzielle und tech-
nische Zusammenarbeit sowie für die multilaterale Ent-
wicklungszusammenarbeit, hier vor allem für die Kli-
mainvestitionsfonds bei der Weltbank.
Mit der Entscheidung des Haushaltsausschusses vom
März dieses Jahres – neugeschaffene Titel für Klima-
schutzmaßnahmen in Entwicklungsländern – finden Sie
im Kap. 2302 Tit. 687 05 Mittel in Höhe von 35 Millio-
nen Euro, die sich noch in der Programmierung befin-
den. Diese Mittel sollen vor allem für bilaterale finan-
zielle und technische Zusammenarbeit verwendet
werden.
Zielgröße für das bilaterale Engagement 2010 im Kli-
mabereich Minderung und Anpassung sind laut BMZ-
Planung 930 Millionen Euro. Hinzu kommen die multi-
lateralen Mittel. Bereits im letzten Jahr hat das BMZ im
Anschluss an die Zusage von Bundeskanzlerin Merkel
auf der UN-Konferenz zur biologischen Vielfalt im Juni
2008 in Bonn 223 Millionen Euro für Biodiversität und
Walderhalt zugesagt. Damit wurde das deutsche Engage-
ment gegenüber 2008 um rund 30 Prozent gesteigert.
Ihre zweite Nachfrage, bitte.
Ich finde die Frage der Zusätzlichkeit so nicht beant-
wortet. Es erstaunt mich schon, dass Sie, wenn ich nach
dem Vergleich der Zahlen von 2009 und 2010 frage, nur
Zahlen des Jahres 2010 nennen. Die spannende Frage
wäre doch, in welchem Bereich die Mittel erhöht wur-
den.
Es gab Anfang des Jahres Aussagen des Ministers, in
denen er sich von dem Kopenhagen-Akkord nicht über-
mäßig begeistert gezeigt hat, und auch in der Presse war
nicht von einem großen Engagement in diesem Bereich,
von Mittelaufwüchsen im Einzelplan 23, zu lesen. Wie
wollen sich das BMZ und der Minister, aber auch Ihre
Person engagieren? Werden Sie die Mittel für den Kli-
maschutz im Haushalt 2011 erhöhen, und wie soll das
ausgestaltet werden? Wie werden die Mittel explizit für
den Klimaschutz in Entwicklungsländern steigen? Bei
400 Millionen Euro im letzten Jahr – Vergleichszahlen
wurden gerade nicht genannt – liegt für mich ehrlich ge-
sagt der Schluss nahe, dass wir in diesem Bereich mehr
als diese Summe einbringen müssten.
Ich würde auch gerne wissen, wie die Abstimmung
mit dem Umweltressort in diesem Bereich erfolgt. Denn
in beiden Ausschüssen wird immer wieder auf den je-
weils anderen Ausschuss verwiesen und darauf hinge-
wiesen, dass neue Mittel nicht allein im eigenen Ressort
eingestellt werden. Mich interessiert deshalb die Ge-
samtsumme und die Zusammenschau.
Gu
Frau Kollegin Kofler, die Vergleichszahlen 2009würde ich Ihnen gerne nachliefern, wenn Sie einverstan-
Metadaten/Kopzeile:
3768 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Mai 2010
Parl. Staatssekretärin Gudrun Kopp
(C)
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den sind. Denn ich habe sie jetzt nicht parat. Aber ichliefere sie Ihnen gerne nach.Selbstverständlich gleichen wir unsere Initiativenauch ressortübergreifend ab. Das heißt, Klimaschutz-maßnahmen sind sowohl im BMU als auch bei uns imBMZ entsprechend verankert. Dabei gibt es auch ein ko-härentes Verfahren. Unabgestimmte Maßnahmen gibt esnicht.Was den Klimagipfel in Kopenhagen und die, wie Siees ausgedrückt haben, sehr zögerlichen oder eher negati-ven Äußerungen von Minister Niebel betrifft, sind wiruns, glaube ich, einig, dass dieser Klimagipfel enttäu-schend verlaufen ist. Wir sind doch davon ausgegangen,dass es ein substanzielles Ergebnis im Sinne eines Ver-trages geben könnte, an dem alle mitwirken können.Dies war aber nicht möglich. Das haben wir zur Kennt-nis genommen.Ich finde, wir sollten nicht weiter zurückblicken. Die-ser Tage hat in Bonn die Petersberger Konferenz stattge-funden, bei der Vertreter von rund 50 Ländern mit amTisch saßen, um den Klimagipfel im November in Can-cún vorzubereiten. Das Ergebnis liegt mir noch nichtvor, aber ich glaube, dass alle teilnehmenden Länderdurch internationalen Druck auf uns alle zu einem wieauch immer gearteten Ergebnis mit Substanz beitragenwollen.Ich denke, dass wir im November erneut die Möglich-keit haben, das, was in Kopenhagen nicht optimal gelau-fen ist, entsprechend zu korrigieren, ohne die Erwartun-gen zu hoch zu schrauben. Wie gesagt, es kommt aufinternationaler Ebene darauf an, dass sich alle einig sind.Das ist immer die Schwierigkeit. Man muss am Endemeist Kompromisse schließen und kann nie 100 Prozenterreichen.Lassen Sie uns nach vorne blicken und uns bemühen,gemeinsam zu einem substanziellen Ergebnis zu kom-men. Ich bin zuversichtlich, dass das gelingen kann.
Bevor ich die nächste Nachfrage aufrufe, gestatten
Sie mir einen Hinweis. In Anbetracht der Tatsache, dass
wir noch ganze 25 Minuten für die Fragestunde haben,
bitte ich die Kolleginnen und Kollegen um kurze, prä-
zise Fragestellungen,
sodass es dann wiederum der Bundesregierung ermög-
licht wird, kurz und präzise zu antworten, damit wir auch
den anderen Kolleginnen und Kollegen noch die Mög-
lichkeit zu einer Nachfrage geben können.
Zu einer Nachfrage hat der Kollege Raabe das Wort.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Ich will eine kurze
Frage stellen, die auch einfach mit Ja beantwortet wer-
den kann, Frau Staatssekretärin. Es hielt mich nicht mehr
auf dem Stuhl, als Sie sagten, der Klimaschutzgipfel in
Kopenhagen sei ein Erfolg gewesen, und falls nicht,
dann habe es daran gelegen, dass international keine Ei-
nigkeit erzielt wurde. Stimmen Sie mir zu, dass die Bun-
deskanzlerin auf diesem Gipfel 420 Millionen Euro für
Klimaschutzmaßnahmen versprochen und dieses Ver-
sprechen in diesem Haushalt eiskalt gebrochen hat, in-
dem nur 70 Millionen Euro eingestellt wurden? Sie hat
also die Weltgemeinschaft um 350 Millionen Euro belo-
gen. Stimmen Sie mir auch zu, dass dies genauso ein
Wortbruch ist, der internationale Glaubwürdigkeit kos-
tet, wie die Tatsache, dass sie das Versprechen gebro-
chen hat, die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit in
diesem Jahr auf 0,51 Prozent des Bruttoinlandsprodukts
zu steigern? Sie können einfach mit Ja antworten. Dann
können wir weitermachen.
Gu
Ich wähle die Freiheit, schlicht und ergreifend Nein
zu sagen. Nein, Sie haben nicht recht.
Ich rufe die Frage 10 der Kollegin Kofler auf:
Welche bilateralen und multilateralen Programme/Pro-
jekte der deutschen Entwicklungszusammenarbeit werden im
Bereich der erneuerbaren Energien gefördert, und wie verhält
sich das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenar-
beit und Entwicklung zu Anfragen von Partnerländern zur
Förderung von Vorhaben im Bereich der Atomenergie?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Gu
Vielen Dank. – Ich will es etwas abkürzen. Das BMZ
unterstützt derzeit im Bereich der erneuerbaren Energien
83 Programme in 40 Ländern.
Das Volumen der in Durchführung befindlichen Er-
neuerbare-Energien-Programme beträgt 773 Millionen
Euro. Mit 16 Ländern hat das BMZ einen Energie-
schwerpunkt vereinbart. Diese Länder sind Afghanistan,
Albanien, Bangladesch, Bosnien-Herzegowina, Geor-
gien, Indien, Kosovo usw. Bei den Regierungsverhand-
lungen mit Südafrika am 9. April 2010 in Pretoria hat
das BMZ beispielsweise 60 Millionen Euro für Maßnah-
men im Bereich der erneuerbaren Energien zugesagt.
Diese Liste könnte ich erweitern, erspare mir es jetzt
aber aufgrund der knappen Zeit.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Ich möchte meine Nachfrage gern zu dem Bereichstellen, den Sie in Ihrer Antwort jetzt elegant umgangenhaben. Es geht um die Haltung des BMZ zur Atomener-gie und zur Förderung von Projekten im Bereich derAtomenergie. Der Hintergrund ist: In der letzten Legisla-turperiode hatten wir bereits die Diskussion über dieHermesbürgschaften zum Beispiel für brasilianischeAtomkraftwerke. Das BMZ hat sich damals vehementgegen solche Hermesbürgschaften gestemmt. Mich
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Mai 2010 3769
Dr. Bärbel Kofler
(C)
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würde interessieren, wie sich das BMZ in solchen Fra-gen in Zukunft verhält oder auch in den letzten Wochenschon verhalten hat und wo es einen Konflikt mit dereben beschriebenen Förderung der erneuerbaren Ener-gien sieht.Gu
Das kann ich mit dem einfachen Satz beantworten,
dass dem BMZ keine formellen Anforderungen vorlie-
gen.
Ihre zweite Nachfrage, bitte.
Dann frage ich nach: Hat das BMZ zu den beschlos-
senen Ausfallbürgschaften für das brasilianische Atom-
kraftwerk eine Meinung, und äußert es diese Meinung
auch im Kabinett?
Gu
Natürlich haben wir Meinungen, und die äußern wir
auch. Das ist völlig klar.
Noch einmal: Das Projekt, das Sie eben erwähnt haben,
ist kein neues. Wir haben im Augenblick keinerlei Dis-
kussions- oder gar Entscheidungsbedarf, weil uns kei-
nerlei Anfragen vorliegen.
Danke, Frau Staatssekretärin. – Wir sind damit am
Ende dieses Geschäftsbereichs.
Wir kommen zum Geschäftsbereich der Bundeskanz-
lerin und des Bundeskanzleramts. Zur Beantwortung
steht der Staatsminister Eckart von Klaeden zur Verfü-
gung. Die Frage 11 der Kollegin Tabea Rößner und die
Fragen 12 und 13 der Kollegin Angelika Krüger-Leißner
werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Auswärtigen
Amtes. Zur Beantwortung steht die Staatsministerin
Cornelia Pieper zur Verfügung. Die Frage 14 des Kolle-
gen Dr. Ilja Seifert wird schriftlich beantwortet.
Wir kommen zur Frage 15 der Kollegin Heike
Hänsel:
Wie verhält sich die Bundesregierung zu der Empfehlung
von Menschenrechtsorganisationen und EU-Abgeordneten, die
anlässlich der jüngsten Enthüllungen über das Vorgehen des
kolumbianischen Geheimdienstes DAS gegen Menschenrecht-
ler, Nichtregierungsorganisationen und EU-Politiker, welche
bien auf keinen Fall unterzeichnet werden darf, bevor diese Af-
färe vollständig aufgeklärt ist?
Bitte.
C
Frau Abgeordnete, die Bundesregierung hat sich un-
abhängig von den jetzt vorgebrachten Vorwürfen seit
längerem dafür eingesetzt, dass das Freihandelsabkom-
men zwischen der EU und Kolumbien sowie Peru und
gegebenenfalls später auch Ecuador und Bolivien klare
Menschenrechtsverpflichtungen enthält, deren Verlet-
zungen sanktionierbar sind. Das Abkommen erklärt be-
reits in seinem ersten Artikel die Einhaltung der Allge-
meinen Menschenrechtserklärung und der allgemeinen
Rechtsstaatsprinzipien zu einem essenziellen Element.
Es ist eigentlich ungewöhnlich, so etwas in ein Freihan-
delsabkommen aufzunehmen, aber das macht deutlich,
dass es der Bundesregierung in diesem Fall sehr wichtig
war. Die Bundesregierung hat daher keine Bedenken ge-
gen die Paraphierung des Abkommens durch die Euro-
päische Kommission. Zu den im genannten Artikel der
taz beschriebenen Aktivitäten des DAS liegen der Bun-
desregierung keine Erkenntnisse vor.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Danke schön, Frau Staatsministerin. – Soll das hei-
ßen, dass Sie keinerlei Information haben, während eine
Zeitung ausführlich berichtet, dass der kolumbianische
Geheimdienst ein Büro in Europa unterhält und systema-
tisch die Arbeit von Europaparlamentariern überwacht,
gleichzeitig gezielt mit Propaganda versucht, die Men-
schenrechtsarbeit im Europäischen Parlament zu beein-
flussen, und dies nach Kolumbien rückmeldet? Diesen
Informationen müssen Sie doch in irgendeiner Weise
nachgehen. Meine konkrete Frage lautet: Wie reagiert
die Bundesregierung auf diese Meldungen?
C
In der Tat nehmen wir solche Meldungen ernst. Wirsind ihnen nachgegangen. Ich kann Ihnen sagen: DieBundesregierung hat keinerlei Hinweise darauf, ob undgegebenenfalls in welchem Umfang der DAS in Ländernder Europäischen Union nachrichtendienstliche Opera-tionen gegen Zivilpersonen, Nichtregierungsorganisatio-nen oder Einrichtungen der Europäischen Union durch-geführt hat.Im Übrigen ist uns das Thema Menschenrechte sehrwichtig. Das habe ich hier schon zum Ausdruck ge-bracht. Die Bundesregierung weiß natürlich, dass der zi-vile kolumbianische Nachrichtendienst DAS nach einerEntscheidung der Regierung Uribe unter anderem auchaufgrund eines seit Monaten anhaltenden Abhörskandalsaufgelöst und unter Beschränkung auf die Kernkompe-tenzen Aufklärung, Spionageabwehr und Migrations-kontrolle neu aufgebaut werden soll. Wir unterstützennatürlich diese Reformbestrebungen der kolumbiani-schen Regierung, die wir positiv beurteilen.Die Regierung selbst hat das Büro der VN-Hochkom-missarin für Menschenrechte in Bogota gebeten, diese
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3770 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Mai 2010
Staatsministerin Cornelia Pieper
(C)
(B)
Reform zu begleiten. Für die Fortsetzung dieser Refor-men durch die neue Regierung sorgen neben der Beteili-gung regierungsunabhängiger Stellen wie der oberstenDisziplinarbehörde auch das große Interesse der Medienvor Ort und nicht zuletzt die erfolgreiche Einbeziehunginternationaler Akteure wie die bereits erwähnte Hoch-kommissarin für Menschenrechte.Frau Abgeordnete, die Zeitungsmeldungen beunruhi-gen Sie zu Recht. Aber ich bitte Sie darum, zur Kenntniszu nehmen, dass wir ihnen nachgegangen sind, und sichauch auf die Ergebnisse der Recherche der Bundesregie-rung zu stützen. Wir alle im Parlament handeln verant-wortungsvoll und sollten uns daher nicht einseitig nur aufZeitungsberichte, gerade was die deutsche Außenpolitikanbelangt, stützen, sondern eine genaue Recherche vor-nehmen. Uns allen sind die Menschenrechtsfragen welt-weit wichtig. Deswegen wird die Bundesregierung dieEntwicklung weiter beobachten.
Ihre zweite Nachfrage, bitte.
Mich würde noch interessieren, in welchem Umfang
Sie recherchiert haben. Haben Sie zum Beispiel auch re-
cherchiert, ob der kolumbianische Geheimdienst in
Deutschland in ähnlicher Weise agiert und auch hier die
Arbeit von Parlamentarierinnen und Parlamentariern do-
kumentiert? Gibt es von Ihrer Seite diesbezüglich ir-
gendwelche Erkenntnisse? Sind Sie in irgendeiner Weise
aktiv geworden? Wenn nein, würde mich interessieren,
weshalb nicht.
C
Ich kann nur sagen, dass die Bundesregierung allum-
fassend keine Hinweise hat, ob und gegebenenfalls in
welchem Umfang der DAS in Ländern der Europäischen
Union – dazu gehört auch Deutschland – nachrichten-
dienstliche Operationen gegen Zivilpersonen, Nichtre-
gierungsorganisationen usw. durchgeführt hat. Ich bitte
Sie einfach, dies zur Kenntnis zu nehmen. Die Ergeb-
nisse im Detail vorzutragen, ginge aus meiner Sicht zu
weit.
Ich bitte Sie daher noch einmal, Frau Abgeordnete,
sich nicht nur auf Zeitungsmeldungen zu berufen, son-
dern im Detail dem zu vertrauen, was wir Ihnen hier vor-
legen. Wir sind sehr daran interessiert, dass die Refor-
men in Kolumbien vorangehen. Dazu gehört auch die
Reform des Geheimdienstes DAS.
Wir sind zuversichtlich, was die Entwicklung in die-
sem Land anbelangt. Sie wissen, dass in Kolumbien
demnächst, am 30. Mai 2010, Präsidentschaftswahlen
anstehen und dass Präsident Uribe unter anderem die
Entscheidung des Verfassungsgerichts vom 26. Februar
2010 gegen ein Referendum respektiert hat, das ihm ein
drittes Mandat ermöglicht hätte. Das Verhalten der Re-
gierung zeigt, dass es dort inzwischen relativ stabile Ver-
hältnisse gibt und dass man Vertrauen in die demokrati-
schen Institutionen des Landes gewinnen kann.
Zu einer Nachfrage hat der Kollege Ströbele das
Wort.
Frau Kollegin, ich will Sie und schon gar nicht die
Bundesregierung auf Zeitungsrecherchen reduzieren.
Deshalb rate ich der Bundesregierung, über ihre Bot-
schaft in Bogota mit der Staatsanwaltschaft in Kolum-
bien Kontakt aufzunehmen. Die Staatsanwaltschaft in
Kolumbien, die das Büro des Geheimdienstes DAS
durchsucht hat, beschlagnahmte dort eine ganze Reihe
von Unterlagen. Auf einer dieser Unterlagen findet sich
ein handschriftlicher Vermerk, der auf deutsche Nach-
richtendienste Bezug nimmt.
Ich frage Sie: Ist die Bundesregierung bereit, sich auf
diesem Wege richtig zu informieren und dem Deutschen
Bundestag dazu Auskunft zu erteilen, in welcher Weise
es Verbindungen des DAS, der in Kolumbien wegen
schwerer Menschenrechtsverletzungen unter die Räder
gekommen und sogar einer Durchsuchung durch die
Staatsanwaltschaft ausgesetzt gewesen ist, zu bundes-
deutschen Nachrichtendiensten gibt, was Inhalt dieser
Verbindungen war und welchen Inhalts diese Zusam-
menarbeit gewesen ist?
C
Nach derzeitigem Kenntnisstand, Herr Abgeordneter,
so kann ich nur wiederholen, liegen uns dazu keine Er-
kenntnisse vor. Wir haben großes Vertrauen in die Aus-
landsvertretungen und natürlich auch in die Botschaft in
Kolumbien. Ich werde gern Ihren Hinweis aufgreifen,
dem noch einmal nachgehen und Ihnen die entsprechen-
den Informationen persönlich zukommen lassen.
Die nächste Nachfrage stellt die Kollegin Dağdelen.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Staatsministe-rin Pieper, ich will daran anknüpfen, dass Sie im Vorfelddie Frage meiner Kollegin Hänsel so beantworteten, dieRegierung habe sich allumfassend informiert und umfas-send recherchiert. In diesem Zusammenhang frage ichnoch einmal nach: Was heißt „umfassend“ konkret?Heißt dies: aus öffentlich zugänglich Quellen, aus nach-richtendienstlichen Quellen, aus bilateralen Gesprächen?Wie informiert sich die Bundesregierung ihrer Meinungnach umfassend? Der Kollege Ströbele hat gesagt, dasses eine Untersuchung der Staatsanwaltschaft gegebenhat und ein Vermerk mit Bezug auf den BND dort gefun-den worden ist. Oder wird die Bundesregierung vomBND nicht allumfassend informiert?
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Mai 2010 3771
(C)
(B)
C
Frau Dağdelen, ich sagte schon auf die Frage des Ab-
geordneten Ströbele: Allumfassend heißt, dass wir natür-
lich alle Quellen nutzen, die uns zur Verfügung stehen,
und die Recherche dementsprechend vornehmen. Ich
werde das jetzt nicht im Einzelnen darlegen; das ginge
zu weit. Aber ich betone noch einmal ausdrücklich, dass
ich den Hinweis des Abgeordneten Ströbele durchaus
sehr ernst nehme, auch im Namen der Bundesregierung,
und dass ich dies selbstverständlich noch einmal aufgrei-
fen und nicht nur Herrn Ströbele, sondern den Bundestag
darüber informieren werde.
Die Fragen 16 und 17 des Kollegen Nouripour, die
Frage 18 der Kollegin Keul und die Frage 19 des Kolle-
gen Dr. Frithjof Schmidt werden schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 20 der Kollegin Ute Koczy auf:
Welche konkreten Kriterien müssen im Bereich des zivilen
Aufbaus in den Provinzen Badakhshan, Kunduz, Baghlan er-
füllt sein, um mit der Einleitung eines schrittweisen Abzugs
der Bundeswehr zu beginnen?
Bitte, Frau Staatsministerin.
C
Sehr geehrte Frau Abgeordnete Koczy, der Bundes-
wehreinsatz in Afghanistan bettet sich in die internatio-
nale Sicherheitsunterstützungstruppe für Afghanistan ein
und orientiert sich daher an den im NATO-Rahmen ge-
billigten Grundsätzen und Zielen. Dies gilt für die soge-
nannte Transitionsphase, deren Kern die Übergabe der
Sicherheitsverantwortung an die afghanischen Sicher-
heitskräfte ist. Entscheidendes Kriterium für die Einlei-
tung eines schrittweisen Abzugs ist neben der Sicher-
heitslage vor allem die Fähigkeit der afghanischen
Sicherheitskräfte, die Sicherheitsverantwortung zu über-
nehmen. Hinzu kommen die Fähigkeit der afghanischen
Regierung zu guter Regierungsführung sowie das Vor-
handensein grundlegender Voraussetzungen für eine
tragfähige sozioökonomische Entwicklung.
Daher soll auf der für den 20. Juli 2010 geplanten
Konferenz in Kabul ein zwischen der afghanischen Re-
gierung, der internationalen Gemeinschaft, der Unter-
stützungskommission der Vereinten Nationen in Afgha-
nistan, UNAMA, und ISAF abgestimmter Plan zur
Durchführung der Verantwortungsübergabe beschlossen
werden, der auch Kriterien im zivilen Bereich umfasst.
Diese Kriterien werden dann mit Blick auf die Lage in
den einzelnen Provinzen durch die afghanische Regie-
rung, UNAMA, ISAF und die Führungsnationen des je-
weiligen regionalen Wiederaufbauteams weiter konkreti-
siert.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Danke. – Frau Staatsministerin, Ihrer Antwort ist zu
entnehmen, dass es dringend notwendig ist, diese Krite-
rien zu konkretisieren. Ich habe erwartet, dass sich die
Bundesregierung aufgrund des Wissens, dass der Abzug
der Truppen wahrscheinlich im Juli 2011 anfangen soll,
zügig darauf vorbereitet und Kriterien für diese Maßnah-
men entwickelt. Dabei geht es vor allem darum, die
Bevölkerung im zivilen Bereich darin zu unterstützen,
Verantwortung zu übernehmen. Es ist schlichtweg uner-
träglich, dass hier überhaupt noch keine konkreten Krite-
rien vorliegen.
Ich möchte deshalb nachfragen. In den Provinzen
Badakhshan und Kunduz gibt es zu wenig Polizei, die
Polizisten werden schlecht bezahlt, und wir wissen, dass
Arbeitsplätze fehlen. Machen wir es einmal an diesen
drei konkreten Kriterien fest. Was gedenkt die Bundes-
regierung in dieser Hinsicht zu tun? Werden die Gelder,
die im Auswärtigen Amt, aber auch im BMZ zur Verfü-
gung stehen, dafür ausgegeben und die Maßnahmen auf-
gestockt, die dringend erforderlich sind?
C
Frau Abgeordnete, Sie fragen, was die Bundesregie-rung im zivilen Bereich konkret tut, um die von ISAFentwickelten Kriterien im Norden des Landes zu erfül-len. Ein zentraler Bestandteil der Strategie der Bundes-regierung bleiben der Aufbau und die Ausbildung derafghanischen Sicherheitskräfte in Nordafghanistan. Da-neben fokussiert die Bundesregierung ihre zivile Unter-stützung im Rahmen ihrer Entwicklungsoffensive nochstärker auf Nordafghanistan und richtet neue flexibleProgramme ein, zum Beispiel einen Stabilisierungs-fonds, einen Regionalentwicklungsfonds und Infrastruk-turfazilität. Dadurch soll die lokale Verwaltung bei dereigenständigen Planung und Umsetzung von Wiederauf-bau- und Entwicklungsmaßnahmen unterstützt werden.So wird zum einen die Wahrnehmung der afghanischenVerwaltung als Dienstleister gegenüber der eigenen Be-völkerung gestärkt; zum anderen vermitteln solche Maß-nahmen der Bevölkerung vor Ort eine spürbare Entwick-lungsdividende.Erlauben Sie mir, eines noch kurz zu ergänzen, weiles zu meinem Aufgabenbereich gehört. Die verstärkteAusbildung der Polizei- und Sicherheitskräfte in Afgha-nistan liegt uns zu Recht am Herzen, weil dadurch er-möglicht wird, dass das Land seine Geschicke zukünftigselbst in die Hand nehmen kann. Uns allen ist bewusst,dass die Analphabetenrate gerade unter den Polizei- undSicherheitskräften sehr hoch ist; sie liegt bei 70 Prozent.Die Bundesregierung hat seit 2009 ein Alphabetisie-rungsprogramm auf den Weg gebracht. Ich persönlichglaube, dass wir für die Polizei- und Sicherheitskräfte– aber nicht nur für diese – mehr tun müssen; wir müs-sen mehr in Bildung investieren. Deswegen haben wirim Auswärtigen Amt dafür gesorgt, dass die Mittel fürdie Bildungsinitiative Afghanistan, die natürlich dieAusbildung der Polizei- und Sicherheitskräfte ein-schließt, verdoppelt werden und in diesem Jahr bei rund11 Millionen Euro liegen.
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(C)
(B)
Ihre zweite Nachfrage, bitte.
Daran kann ich anschließen. Es geht mir um die drei
Provinzen, die ich explizit genannt habe, weil sich daran
konkret zeigt, wie die Übergabe in Verantwortung aus-
sehen kann. Welche der von Ihnen vorgeschlagenen
Punkte werden in Badakhshan, in der Provinz Kunduz
und in Baghlan umgesetzt werden?
C
Alle Punkte.
Damit kommen wir zur Frage 21 der Kollegin Koczy:
In welcher Hinsicht bedingen sich die Abzugskriterien im
zivilen Bereich und beim Aufbau der afghanischen Sicher-
heitskräfte?
Bitte, Frau Staatsministerin.
C
Frau Abgeordnete Koczy, meine Antwort für die Bun-
desregierung lautet: Die von der Internationalen Sicher-
heits- und Unterstützungstruppe, ISAF, entwickelten
Kriterien für die Übergabe der Sicherheitsverantwortung
beruhen auf einer umfassenden Bewertung der Lage in
der jeweiligen Provinz. Dies trägt der Erkenntnis Rech-
nung, dass auch gut funktionierende afghanische Sicher-
heitskräfte alleine nicht dauerhaft für Stabilität sorgen
können. Funktionale Verwaltungsstrukturen, gute Regie-
rungsführung und die Aussicht der jeweiligen Provinz
auf eine tragfähige sozioökonomische Entwicklung wer-
den daher als Kriterien in die Lagebewertung einbezo-
gen. Ich habe das schon erwähnt, als ich Ihre vorherige
Frage beantwortet habe. Ich glaube, dass die beiden Fra-
gen zusammengehören und Sie damit auf die Kriterien
insistieren wollen. Sie hatten dazu ja schon Nachfragen
gestellt.
Ihre Nachfrage, bitte.
Gehen wir noch einmal konkret auf die Provinz
Kunduz ein. Ich habe Informationen, dass es dort ein
großes Misstrauen gegenüber dem Gouverneur und der
dortigen Provinzverwaltung gibt. Zwei der Kriterien
müssen natürlich die Korruptionsbekämpfung und eine
gute Regierungsführung durch die Gouverneursverwal-
tung sein. Wenn wir nun Unterstützung leisten und es
eine Provinzregierung gibt, die nicht das Vertrauen der
Bevölkerung und meines Wissens auch nicht das der
deutschen Bundesregierung hat, dann stellt sich natür-
lich die Frage, wie die Kriterien, die Sie vorhin in Bezug
auf den Abzug genannt haben, umgesetzt werden kön-
nen.
C
Sie werden wahrscheinlich verfolgt haben, dass die
NATO-Außenministerkonferenz bei ihrem Treffen in
Tallinn das Verfahren zur Identifizierung übergabefähi-
ger Provinzen beschlossen hat. Die Übergabe soll in
zwei Stufen erfolgen. Die erste Stufe ist die Identifizie-
rung von übergabefähigen Provinzen in einem monatlich
stattfindenden Assessment Process. Dabei wird die Lage
in der jeweiligen Provinz hinsichtlich der Sicherheit, der
Fähigkeit der afghanischen Regierung zu guter Regie-
rungsführung sowie der Nachhaltigkeit der sozioökono-
mischen Entwicklung analysiert. In der zweiten Stufe
entwickelt ein Transition Board Empfehlungen für die
mögliche Übergabe der Sicherheitsverantwortung in be-
stimmten Provinzen, über die die afghanische Regierung
und natürlich der NATO-Rat beschließen werden.
Die Kabuler Konferenz wird die in London beschlos-
sene Strategie der internationalen Gemeinschaft zur
Übergabe in Verantwortung präzisieren und mit konkre-
ten Zielen und Vereinbarungen unterfüttern. ISAF beab-
sichtigt, die Grundlage für die Übergabe der Sicherheits-
verantwortung bis zum NATO-Gipfel in Lissabon im
November 2010 vorzulegen und dort die erste Tranche
der zu übergebenen Provinzen zu verkünden.
Dass besonderes Vertrauen der Bevölkerung in die
Verwaltung und zu den politisch dort agierenden Perso-
nen erst noch gewonnen werden muss, ist uns allen
bekannt. Diese Kriterien werden natürlich bei der zu-
künftigen Auswahl, die ja auch durch die afghanische
Regierung erfolgen soll, berücksichtigt.
Ihre zweite Nachfrage, bitte.
Danke, Frau Staatsministerin. – Ihre Antwort lässt
mich sehr nervös werden, und zwar hinsichtlich der Zeit-
schiene, die Sie gerade beschrieben haben. Ist denn,
wenn man analog der Obama-Strategie mit dem Abzug
im Juli 2011 beginnen will, diese Zeitschiene nicht fahr-
lässig lang in Bezug darauf, dass wir der Bevölkerung in
Deutschland klarmachen, dass wir einen Abzug begin-
nen wollen? Alle diese Maßnahmen können ja erst be-
ginnen, wenn der Juli und, wenn ich Sie richtig verstan-
den habe, auch der November 2010 vorüber sind. Das
bedeutet, dass wir ein halbes Jahr Zeit haben, die Krite-
rien umzusetzen, um dann mit dem Abzug im Juli 2011
zu beginnen. Das finde ich für die Menschen vor Ort
schlichtweg gefährlich.
C
Frau Abgeordnete, es gibt keinen Grund für Ihre Ner-vosität. Wichtig ist, dass die Übergabe der Sicherheits-verantwortung nicht gleichzusetzen ist mit dem Abzugvon ISAF-Kräften aus der jeweiligen Provinz, aber einwichtiger Schritt dazu ist.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 39. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 5. Mai 2010 3773
Staatsministerin Cornelia Pieper
(C)
(B)
Was die Obama-Strategie anbelangt: Obama hat sicheindeutig zur ISAF-Strategie bekannt, und die Amerika-ner haben diese auch zu ihrer Grundlage gemacht.
Frau Staatsministerin, herzlichen Dank! Die übrigen
Fragen zu Ihrem Geschäftsbereich werden schriftlich be-
antwortet, ebenso wie alle anderen nicht aufgerufenen
Fragen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Donnerstag, den 6. Mai 2010,
10 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.