Protokoll:
17037

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 17

  • date_rangeSitzungsnummer: 37

  • date_rangeDatum: 22. April 2010

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  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 20:17 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 17/37 Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . 3498 A Zusatztagesordnungspunkt 3: Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin: zum Einsatz der Bundes- wehr in Afghanistan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin . . . . . . . Sigmar Gabriel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Birgit Homburger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Volker Kauder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Ottmar Schreiner (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Reiner Deutschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Beate Müller-Gemmeke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Mechthild Heil (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Josip Juratovic (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 3475 B 3475 B 3480 A 3483 B 3484 D 3487 C 3489 B 3498 C 3499 D 3502 A 3503 B 3504 C 3505 D 3507 A 3508 C 3509 C 3509 D 3511 B Deutscher B Stenografisc 37. Sit Berlin, Donnerstag, I n h a Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- neten Lothar Binding (Heidelberg) und Dr. Diether Dehm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Begrüßung des neuen Abgeordneten Hans- Werner Kammer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung der Tagesordnungspunkte 5 und 24 . Begrüßung des Botschafters der Republik Po- len, Herrn Marek Prawda . . . . . . . . . . . . . . . . Gedenken an die Opfer des Absturzes der pol- nischen Präsidentenmaschine . . . . . . . . . . . . . Gedenken an in Afghanistan ums Leben ge- kommene Angehörige der Bundeswehr . . . . . 3473 A 3473 B 3473 B 3474 B 3474 C 3474 C 3474 D Elke Hoff (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3490 D 3491 D undestag her Bericht zung den 22. April 2010 l t : Elke Hoff (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof) (CDU/CSU) . Ruprecht Polenz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst, Jutta Krellmann, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Mit guter Arbeit aus der Krise (Drucksache 17/1396) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Ernst (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . 3492 A 3492 B 3494 A 3494 C 3496 A 3496 A Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 3511 D 3512 A II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 Tagesordnungspunkt 28: a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung krankenversicherungsrecht- licher und anderer Vorschriften (Drucksache 17/1297) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Sechs- ten Gesetzes zur Änderung des Filmför- derungsgesetzes (Drucksache 17/1292) . . . . . . . . . . . . . . . . c) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes über die Feststellung des Wirt- schaftsplans des ERP-Sondervermögens für das Jahr 2010 (ERP-Wirtschafts- plangesetz 2010) (Drucksache 17/1294) . . . . . . . . . . . . . . . . d) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu den Änderungen vom 2. Oktober 2008 des Übereinkommens vom 3. Sep- tember 1976 über die Internationale Organisation für mobile Satellitenkom- munikation (International Mobile Sa- tellite Organization – IMSO) (Drucksache 17/1295) . . . . . . . . . . . . . . . . e) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Dienstleistungsrichtlinie auf dem Gebiet des Umweltrechts sowie zur Änderung umweltrechtlicher Vor- schriften (Drucksache 17/1393) . . . . . . . . . . . . . . . . f) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einführung einer Musterwiderrufsinfor- mation für Verbraucherdarlehensver- träge, zur Änderung der Vorschriften über das Widerrufsrecht bei Verbrau- cherdarlehensverträgen und zur Ände- rung des Darlehensvermittlungsrechts (Drucksache 17/1394) . . . . . . . . . . . . . . . . g) Antrag der Abgeordneten Marlene Rupprecht (Tuchenbach), Petra Crone, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Frauenhäuser ausreichend zur Verfügung stellen und deren Finanzie- rung sichern (Drucksache 17/1409) . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 4: a) Antrag der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Lisa Paus, Dr. Thomas Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion 3513 B 3513 B 3513 C 3513 C 3513 A 3513 D 3513 D BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Finanz- umsatzsteuer auf EU-Ebene einführen (Drucksache 17/1422) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Kerstin Andreae, Fritz Kuhn, Christine Scheel, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Pluralistischen Ansatz bei Auswahl der Forschungsinstitute für die Gemeinschaftsdiagnose gewährleis- ten (Drucksache 17/1424) . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Kerstin Andreae, Fritz Kuhn, Christine Scheel, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Umweltbericht- erstattung in die Gemeinschaftsdia- gnose aufnehmen (Drucksache 17/1423) . . . . . . . . . . . . . . . d) Antrag der Abgeordneten Michael Schlecht, Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Pluralistischen Ansatz bei Auswahl der Forschungsinstitute für die Gemeinschaftsdiagnose gewährleis- ten (Drucksache 17/1405) . . . . . . . . . . . . . . . e) Antrag der Abgeordneten Elvira Drobinski- Weiß, Dr. Wilhelm Priesmeier, Ulrich Kelber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Gentechnisch verän- derte Amflora-Kartoffel zuverlässig aus der Lebensmittel- und Futtermittelkette fernhalten (Drucksache 17/1410) . . . . . . . . . . . . . . . f) Antrag der Abgeordneten Hilde Mattheis, Dr. Karl Lauterbach, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Qualität und Transparenz in der Pflege konsequent weiterentwickeln – Pflege- Transparenzkriterien optimieren (Drucksache 17/1427) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 29: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften Gesetzes zur Änderung des Kraft- fahrzeugsteuergesetzes (Drucksachen 17/717, 17/1209, 17/1463) . . . Tagesordnungspunkt 3: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für die Angelegenheiten der Euro- päischen Union – zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/ CSU und der FDP: Einvernehmensher- stellung von Bundestag und Bundesre- 3514 A 3514 A 3514 A 3514 B 3514 B 3514 C 3514 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 III gierung zum Beitrittsantrag der Repu- blik Island zur Europäischen Union und zur Empfehlung der EU-Kommis- sion vom 24. Februar 2010 zur Auf- nahme von Beitrittsverhandlungen hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Artikel 23 Ab- satz 3 GG i. V. m. § 10 des Geset- zes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deut- schem Bundestag in Angelegen- heiten der Europäischen Union – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Diether Dehm, Alexander Ulrich, Andrej Hunko, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Verhandlungen über die Aufnahme Islands in die Euro- päische Union eröffnen – zu dem Entschließungsantrag der Abge- ordneten Dietmar Nietan, Michael Roth (Heringen), Iris Gleicke, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD: zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum Euro- päischen Rat am 25./26. März 2010 in Brüssel – zu dem Entschließungsantrag der Abge- ordneten Manuel Sarrazin, Viola von Cramon-Taubadel, Ulrike Höfken, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: zu der Ab- gabe einer Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat am 25./26. März 2010 in Brüssel (Drucksachen 17/1190, 17/1059, 17/1191, 17/1172,17/1464) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Link (Heilbronn) (FDP) . . . . . . . . . . Michael Roth (Heringen) (SPD) . . . . . . . . . . . Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU) . . . . . Andrej Konstantin Hunko (DIE LINKE) . . . . Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Franz Thönnes (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Veronika Bellmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 6: a) Antrag der Abgeordneten Dr. Karl Lauterbach, Dr. Marlies Volkmer, Elke 3515 B 3515 C 3516 C 3518 A 3519 C 3521 A 3522 B 3522 C 3523 B 3524 D 3526 A Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Effektivere Arznei- mittelversorgung (Drucksache 17/1201) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Kathrin Vogler, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Faire Preise für wirksame und sichere Arzneimittel – Einfluss der Pharmaindustrie begrenzen (Drucksache 17/1206) . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Birgitt Bender, Fritz Kuhn, Maria Anna Klein-Schmeink, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Qualität und Sicherheit der Arzneimittelversor- gung verbessern – Positivliste einführen – Arzneimittelpreise begrenzen (Drucksache 17/1418) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Heinz Lanfermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . Jens Spahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Daniel Bahr, Parl. Staatssekretär BMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Karl Lauterbach (SPD) . . . . . . . . . . . . Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Erwin Lotter (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Stracke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Bärbel Bas (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Hennrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 7: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die aufsichtsrechtlichen Anforderungen an die Vergütungssysteme von Instituten und Versicherungsunternehmen (Drucksachen 17/1291, 17/1457) . . . . . . . . . . Hartmut Koschyk, Parl. Staatssekretär BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manfred Zöllmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Björn Sänger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Harald Koch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . 3528 A 3528 B 3528 B 3528 C 3529 D 3530 D 3532 C 3533 D 3535 C 3536 B 3537 A 3537 D 3538 C 3539 D 3541 A 3541 A 3542 A 3543 C 3544 B 3545 A 3546 A IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 Tagesordnungspunkt 8: a) Antrag der Abgeordneten Brigitte Pothmer, Fritz Kuhn, Katrin Göring-Eckardt, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Teilhabe und Perspektiven für Langzeitarbeits- lose mit einem verlässlichen Sozialen Arbeitsmarkt schaffen (Drucksache 17/1205) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Klaus Ernst, Matthias W. Birkwald, Heidrun Dittrich, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Gute öffentlich geförderte Beschäftigung – Eine Alternative zu Langzeiterwerbslosigkeit und Ein- Euro-Jobs (Drucksache 17/1397) . . . . . . . . . . . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heike Brehmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Michael Groschek (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Karl Schiewerling (CDU/CSU) . . . . . . . . . Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Zimmermann (DIE LINKE) . . . . . . . . Dr. Matthias Zimmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 9: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwick- lung – zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/ CSU und der FDP: Gewährleistung der Sicherheit der Eisenbahnen in Deutsch- land – zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Sören Bartol, Martin Burkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Gewährleistung der Sicherheit im Schienenverkehr muss Priorität ha- ben – zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig, Dr. Gesine Lötzsch, Heidrun Bluhm, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Den Schienenver- kehr als sichere Verkehrsform erhalten und stärken – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann, Fritz Kuhn, weiterer Abgeordneter und der 3547 B 3547 B 3547 C 3548 C 3549 D 3550 C 3551 C 3552 C 3553 A 3554 A 3554 D Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Eisenbahnsicherheit verbessern (Drucksachen 17/1162, 17/655, 17/1016, 17/544,17/1459) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Enak Ferlemann, Parl. Staatssekretär BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Uwe Beckmeyer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Patrick Döring (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Leidig (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Patrick Döring (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 10: Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- nanzausschusses zu dem Antrag der Abgeord- neten Martin Gerster, Nicolette Kressl, Ingrid Arndt-Brauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Steuerfreiheit der Zu- schläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit erhalten (Drucksachen 17/244, 17/1458) . . . . . . . . . . . Olav Gutting (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Martin Gerster (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Daniel Volk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 11: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Abschaffung des Finanzpla- nungsrates (Drucksachen 17/983, 17/1465) . . . . . . . . . . . Antje Tillmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) . . . . . . . . . Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3556 B 3556 C 3557 C 3559 A 3560 A 3560 D 3561 C 3562 C 3563 D 3564 A 3565 A 3566 C 3568 A 3569 A 3570 A 3571 A 3572 D 3571 A 3571 B 3575 A 3576 A 3577 D 3578 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 V Peter Götz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Angelika Krüger-Leißner (SPD) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 12: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Arbeit und Soziales zu dem An- trag der Fraktion der SPD: Beschäftigte vor Arbeitslosigkeit schützen – Konditionen für Kurzarbeit verbessern (Drucksachen 17/523, 17/1446) . . . . . . . . . . . Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . Willi Brase (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 13: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Teleme- diengesetzes (1. Telemedienänderungsgesetz) (Drucksachen 17/718, 17/995, 17/1219) . . . . Tagesordnungspunkt 14: a) Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, Jan van Aken, Sevim Dağdelen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: VI. EU-Lateinamerika-Kari- bik-Gipfel in Madrid: Den Aufbruch zur zweiten Unabhängigkeit Latein- amerikas solidarisch unterstützen (Drucksache 17/1403) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe, Dr. Hermann Ott, Ute Koczy, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Klimaschutz und gerechten Handel mit Lateinamerika und der Karibik voranbringen (Drucksache 17/1419) . . . . . . . . . . . . . . . . Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Anette Hübinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Klaus Barthel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3579 D 3581 B 3582 C 3582 D 3584 A 3585 C 3586 C 3587 C 3588 C 3589 C 3590 D 3591 A 3591 B 3591 C 3592 B 3594 A 3595 C 3596 C Tagesordnungspunkt 15: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Vor- läufigen Tabakgesetzes (Drucksachen 17/719, 17/996, 17/1257) . . . . Tagesordnungspunkt 16: Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Markus Kurth, Birgitt Bender, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Europäische Antidiskriminie- rungspolitik unterstützen – 5. Gleichbe- handlungsrichtlinie der EU nicht länger blockieren (Drucksache 17/1202) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 17: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten Ent- wurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Deutsches Historisches Museum“ (Drucksache 17/1400) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU) . . . . Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD) . . . . . . . . Patrick Kurth (Kyffhäuser) (FDP) . . . . . . . . . Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . . Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 18: Beschlussempfehlung und Bericht des Rechts- ausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Initiative für eine Richtli- nie des Europäischen Parlaments und des Rates über die europäische Schutzanord- nung (inkl. 17513/09 ADD 1 und 17513/09 ADD 2) (ADD 1 und ADD 2 in Englisch) Ratsdok. 17513/09 (Drucksachen 17/720 Nr. A.7, 17/1461) . . . . Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU) . . . . . . . . Dr. Eva Högl (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marco Buschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Raju Sharma (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3597 D 3598 B 3598 C 3598 D 3599 D 3600 B 3601 B 3602 B 3602 D 3603 C 3603 D 3604 D 3605 C 3606 D 3607 B VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 Tagesordnungspunkt 19: Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung der Abgabenordnung (Ab- schaffung der strafbefreienden Selbstan- zeige bei Steuerhinterziehung) (Drucksache 17/1411) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 20: a) Antrag der Abgeordneten Martin Gerster, Sabine Bätzing, Gabriele Fograscher, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Den Sport in Europa voranbrin- gen (Drucksache 17/1406) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Viola von Cramon- Taubadel, Winfried Hermann, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Sport in der Europäischen Union – Den Lissabon-Vertrag mit Leben füllen (Drucksache 17/1420) . . . . . . . . . . . . . . . . Martin Gerster (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Günther (Plauen) (FDP) . . . . . . . . . Jens Petermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 21: Antrag der Abgeordneten Manuel Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt, Marieluise Beck (Bre- men), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Den Europäi- schen Auswärtigen Dienst europäisch, hand- lungsfähig und modern gestalten (Drucksache 17/1204) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . . Karl Holmeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Dietmar Nietan (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oliver Luksic (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Diether Dehm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 22: Antrag der Abgeordneten Gerold Reichenbach, Dr. Eva Högl, Gabriele Fograscher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: 3608 C 3609 A 3609 A 3609 B 3610 B 3611 A 3611 D 3613 A 3614 C 3614 D 3617 B 3618 B 3619 D 3621 C 3622 C Neues SWIFT-Abkommen nur nach euro- päischen Grundrechts- und Datenschutz- maßstäben (Drucksache 17/1407) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Clemens Binninger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Gerold Reichenbach (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Jimmy Schulz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 23: Antrag der Abgeordneten Cornelia Behm, Undine Kurth (Quedlinburg), Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Schaffung ei- nes Naturwalderbes vorbereiten und Mo- ratorium für die Privatisierung von Bun- deswäldern erlassen (Drucksache 17/796) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Alois Gerig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Petra Crone (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . Sabine Stüber (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 5: Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Tom Koenigs, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Umgang mit Guan- tánamo-Häftlingen (Drucksache 17/1421) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Erklärung des Abgeordneten Jörn Wunderlich (DIE LINKE) zur Abstimmung über den Än- derungsantrag der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN zu dem Entwurf eines Geset- zes zur Abschaffung des Finanzplanungsrates (Tagesordnungspunkt 11) . . . . . . . . . . . . . . . . 3623 C 3623 D 3625 A 3626 C 3627 B 3628 A 3629 A 3629 A 3629 D 3630 D 3631 D 3632 B 3633 B 3633 D 3633 D 3635 A 3635 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 VII Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Telemediengesetzes (1. Telemedienände- rungsgesetz) (Tagesordnungspunkt 13) Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Klaus Barthel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Claudia Bögel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE) . . . . . . Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Än- derung des Vorläufigen Tabakgesetzes (Ta- Markus Grübel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Christel Humme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Florian Bernschneider (FDP) . . . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung der Abgabenordnung (Abschaffung der straf- befreienden Selbstanzeige bei Steuerhinter- ziehung) (Tagesordnungspunkt 19) Manfred Kolbe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Martin Gerster (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3635 C 3636 D 3637 D 3638 C 3639 B 3645 D 3646 D 3647 D 3649 B 3650 B 3651 C 3653 B 3654 B gesordnungspunkt 15) Elvira Drobinski-Weiß (SPD) . . . . . . . . . . . . . Dr. Erik Schweickert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Julia Klöckner, Parl. Staatssekretärin BMELV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Europäische Antidiskriminie- rungspolitik unterstützen – 5. Gleichbehand- lungsrichtlinie der EU nicht länger blockieren (Tagesordnungspunkt 16) Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . 3640 B 3641 A 3642 A 3642 C 3643 D 3644 D Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Umgang mit Guantánamo-Häft- lingen (Zusatztagesordnungspunkt 5) Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Serkan Tören (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3655 A 3655 C 3656 C 3658 A 3658 C 3659 C 3660 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3473 (A) (C) (D)(B) 37. Sit Berlin, Donnerstag, Beginn: 9
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    1) Anlage 6 igung r zweite Redebeitrag ist zu nn muss das ja ein fal- iger sein!) Privatwaldbesitzer zu zah- er sein, die betreffenden Wäl- den Zahlen und Rahmenbe- ndnisgrüne zu der Einschät- des Naturwalderbes noch , vielleicht sogar mehrere aher wird der Bund auch Ausschuss für Menschenrech Interfraktionell wird vorg diesem Tagesordnungspunkt Auch damit sind Sie einverst die Reden folgender Kolleginn Veit, Serkan Tören, Ulla Jelp Parlamentarischen Staatssekre Interfraktionell wird die Üb Drucksache 17/1421 an die in Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3635 (A) (C) (D)(B) Winkler, Josef Philip BÜNDNIS 90/ 22.04.2010 visuellen Mediendienste ab. Neben den bisher umfassten Fernsehdiensten sind nun auch die audiovisuellen Me-DIE GRÜNEN Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Beck (Bremen), Marieluise BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 22.04.2010 Binder, Karin DIE LINKE 22.04.2010 Dörmann, Martin SPD 22.04.2010 Frankenhauser, Herbert CDU/CSU 22.04.2010 Dr. Geisen, Edmund Peter FDP 22.04.2010 Herrmann, Jürgen CDU/CSU 22.04.2010 Höhn, Bärbel BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 22.04.2010 Kolbe, Daniela SPD 22.04.2010 Krischer, Oliver BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 22.04.2010 Kumpf, Ute SPD 22.04.2010 Laurischk, Sibylle FDP 22.04.2010 Lutze, Thomas DIE LINKE 22.04.2010 Dr. de Maizière, Thomas CDU/CSU 22.04.2010 Dr. Miersch, Matthias SPD 22.04.2010 Mißfelder, Philipp CDU/CSU 22.04.2010 Dr. Mützenich, Rolf SPD 22.04.2010 Nietan, Dietmar SPD 22.04.2010 Ostendorff, Friedrich BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 22.04.2010 Dr. Raabe, Sascha SPD 22.04.2010 Riegert, Klaus CDU/CSU 22.04.2010 Steinbrück, Peer SPD 22.04.2010 Dr. Volkmer, Marlies SPD 22.04.2010 Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 2 Erklärung des Abgeordneten Jörn Wunderlich (DIE LINKE) zur Abstimmung über den Änderungs- antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Abschaffung des Finanzplanungsrates (Druck- sache 17/1473) (Tagesordnungspunkt 11) Das Votum der Fraktion Die Linke ist „Ablehnung“. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Ersten Geset- zes zur Änderung des Telemediengesetzes (1. Telemedienänderungsgesetz) (Tagesordnungs- punkt 13) Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Am 25. Februar 2010 hatten wir diesen Gesetzentwurf bereits in erster Lesung im Plenum. Nun kann das Gesetz in zweiter und dritter Lesung verabschiedet werden. Im parlamentari- schen Verfahren war dieser Gesetzentwurf nicht Gegen- stand kontroverser Diskussionen. Worum geht es genau, was regelt dieses Gesetz? Es geht erstens um die Eins-zu-eins-Umsetzung einer Richtlinie der Europäischen Union in deutsches Recht. Konkret geht es um die Richtlinie 2007/65/EG des Euro- päischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember 2007 zur Änderung der Richtlinie 89/552/EWG des Ra- tes zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwal- tungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung der Fernsehtätigkeit, Audiovisuelle-Mediendienste-Richt- linie – AVMD-RL. Innerhalb des deutschen Rechts enthält das Teleme- diengesetz, TMG, die wirtschaftsbezogenen Regelungen für die Telemedien. Speziell sind dies die Vorschriften, die der Umsetzung einer anderen Richtlinie der Europäi- schen Union, 2000/31/EG, sogenannte E-Commerce- Richtlinie, dienen. Der Rundfunkstaatsvertrag der Bun- desländer beinhaltet ebenfalls Regelungen zum Thema Telemedien. Diese gesetzlichen Regelungen werden durch die Vereinbarungen des Bundes und der Bundes- länder aus dem Jahre 2004 zur Fortentwicklung der Me- dienordnung abgerundet. Es geht zweitens um einheitliche rechtliche Rahmen- bedingungen. Die nunmehr in deutsches Recht umge- setzte Richtlinie erweitert den bestehenden Rechtsrah- men für die Branche. Gerade in einer Branche mit hohem Innovationstempo ist es notwendig, die rechtli- chen Rahmenbedingungen ständig zu aktualisieren und den Marktteilnehmern Rechtssicherheit zu gewähren. Das neue Telemediengesetz deckt nun sämtliche audio- 3636 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 (A) (C) (D)(B) diendienste auf Abruf Gegenstand des Gesetzes. Die Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaa- ten für audiovisuelle Mediendienste auf Abruf hatten bisher unterschiedliche Inhalte, die teilweise den freien Dienstleistungsverkehr innerhalb der Europäischen Union zu behindern und den Wettbewerb innerhalb des EU-Binnenmarkts zu verzerren drohten. Bedenkt man das erhebliche Potenzial für hochquali- fizierte Arbeitsplätze, welches die neuen audiovisuellen Mediendienste auf Abruf – gerade für kleinere und mitt- lere Unternehmen – bieten, dann ist die Absicht der Europäischen Union, hier gleiche Wettbewerbsbedin- gungen zu schaffen, zu begrüßen. Gerade die Prinzipien des Binnenmarktes, freier Wettbewerb und Gleichbe- handlung aller Marktteilnehmer, sind Vorraussetzungen für einen transparenten und berechenbaren Markt sowie für einen problemlosen Zugang der Verbraucher zu die- sen Diensten. Gleiche Wettbewerbsbedingungen und Rechtssicher- heit innerhalb der Europäischen Union für die audio- visuellen Mediendienste auf Abruf sind daher unbedingt positiv zu bewerten. Aus marktwirtschaftlicher Perspek- tive sind aktuelle und klare rechtliche Rahmenbedingun- gen stets zu begrüßen. Es geht drittens um klare Begriffbestimmungen. Die neue Richtlinie der Europäischen Union und deren recht- liche Umsetzung in das deutsche Recht sorgen nun dem- entsprechend auch für eine klare Begriffsbestimmung. Dazu zählen die Begriffe des Diensteanbieters und des audiovisuellen Mediendienstes auf Abruf. Das Gesetz definiert solche Dienste als audiovisuelle Mediendienste auf Abruf, die nach Form und Inhalt dem Fernsehen ähnlich sind. Dies gilt dann, wenn sie sich als Massenmedien an eine breite Öffentlichkeit wenden und die Bereitstellung fernsehähnlicher Dienste Hauptzweck des Angebots ist. Ist dieses Angebot nur Nebenzweck ei- nes Anbieters, so ist dies kein audiovisueller Medien- dienst auf Abruf. Audiovisuell erfordert in diesem Fall die Übertragung bewegter Bilder mit oder ohne Ton. Der Adressatenkreis des Gesetzes ist ebenfalls einge- grenzt. Anbieter audiovisueller Mediendienste auf Abruf sind dem Gesetz nach Anbieter, welche die wirksame Kontrolle über Auswahl und Gestaltung der oben ange- führten Inhalte haben. Es geht viertens um eine Klarstellung des Sitzes und des Herkunftslandes. Klarheit bringt das Gesetz eben- falls zum Problem des Sitzes und des Herkunftslandes. Gesetz und Richtlinie stellen einerseits auf die Nieder- lassung des Anbieters ab, den Ort also, an dem die re- daktionelle Arbeit und das damit beauftragte Personal tä- tig sind. Andererseits – falls dieses nicht feststellbar ist – gilt der Ort der Nutzung einer Satellitenbodenstation. Es gab fünftens keine Änderungsanträge in den Aus- schüssen. Im parlamentarischen Verfahren waren keine Änderungen notwendig. Sowohl im federführenden Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, als auch im mitberatenden Rechtsauschuss sowie dem Ausschuss für Kultur und Medien wurde der Gesetzentwurf mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP, SPD und Linken bei Ent- haltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Die Absicht, EU-Richtlinien eins zu eins umzusetzen, ist er- füllt. Über spätere Nachbesserungen kann selbstver- ständlich nachgedacht werden. Zunächst galt es aber, den Auftrag der Umsetzung in nationales Recht zu erfül- len, um Sanktionen zu vermeiden. Schließlich ist ebenso positiv zu bewerten, dass der Nationale Normenkontrollrat im Rahmen seines gesetz- lichen Prüfauftrags keine Bedenken gegen diesen Ge- setzentwurf vorbringt. Zusätzliche Informationspflichten für die Unternehmen in unserem Lande werden nicht eingeführt, geändert oder aufgehoben. Folglich sind mit diesem Gesetzentwurf auch keine zusätzlichen Büro- kratiekosten verbunden, ein Umstand, der mir als Wirtschaftspolitiker große Freude bereitet. Unsere Un- ternehmen, gerade die kleinen und mittelständischen Unternehmen, benötigen nicht mehr Bürokratie, sondern weniger. Der vorliegende Gesetzentwurf ist mit den Bundes- ländern abgestimmt. Diese enge Bund-Länder-Ab- stimmung wird bewirken, dass die erforderlichen Umsetzungsmaßnahmen durch die Bundesländer ohne Probleme geschehen. Die Länder werden die Anforde- rungen aus der Richtlinie mit dem 13. Rundfunkände- rungsstaatsvertrag, 13. RÄStV, umsetzen. Ich meine, es ist gut für das Ansehen des Bundestages und aller Frak- tionen, wenn Gesetzesvorhaben ohne juristische Streite- reien und rechtliche Unklarheiten umgesetzt werden. Die Bürger unseres Landes erwarten schnelles Handeln. In diesem Fall ist dies durch vorausschauendes Agieren gelungen. Klaus Barthel (SPD): Das Internet hat nicht nur alle gesellschaftlichen Lebensbereiche erfasst, es hat auch unsere Gewohnheiten verändert. Heute ist es beispiels- weise problemlos möglich, die eigene Lieblingssendung auch über das Internet oder das Mobiltelefon zu sehen. Da die Benutzung jener audiovisuellen Mediendienste grenzüberschreitend möglich ist, stehen sie auch im Fo- kus der Europäischen Union. Die neuen Möglichkeiten werden von den Menschen angenommen, und das ist gut so. Die Internetbranche ist ein Wachstumsmarkt für unser Land und hat in den ver- gangenen Jahren viele Arbeitsplätze insbesondere in kleineren und mittelständischen Unternehmen geschaf- fen. Zugleich aber entstehen praktische und rechtliche Fragen, die es zu lösen gilt. Hier will und muss die Poli- tik Schritt halten; denn es liegt auf der Hand, dass die unzählbare Nutzung des Internets und die technischen Besonderheiten Herausforderungen mit sich bringen. Das erste Telemedienänderungsgesetz greift diesen Handlungsbedarf auf. Es widmet sich der Umsetzung der europäischen Audiovisuelle-Mediendienste-Richtli- nie in nationales Recht. Damit werden Telemedien in die Vorschriften der Fernsehrichtlinie aufgenommen, die in fernsehähnlicher Form audiovisuelle Inhalte anbieten. Man spricht in diesem Fall von audiovisuellen Medien- diensten auf Abruf, Ondemand. Fernsehähnlich bedeu- tet, dass sich die Abrufdienste vergleichbar mit Fernseh- sendungen an das gleiche Publikum richten und die Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3637 (A) (C) (D)(B) Nutzer zudem einen ähnlichen Regelungsschutz erwar- ten können. Die Bundesländer haben hierzu den 13. Rundfunkänderungsstaatsvertrag beschlossen, der am 1. April in Kraft getreten ist. Damit wir in der Europäischen Union weitgehend die gleichen Standards haben, bedurfte es einer Harmonisie- rung innerhalb des Fernsehbinnenmarktes. Die Richtli- nie über audiovisuelle Mediendienste folgt der Richtlinie „Fernsehen ohne Grenzen“ aus dem Jahre 1989, die 1997 und 2007 überarbeitet worden ist. Sie führt nun weniger detailreiche, im Gegenzug aber flexiblere Vor- schriften ein. So werden in der neuen Fassung die Vor- schriften für die Fernsehwerbung modernisiert. Ziel ist es, audiovisuelle Inhalte besser zu finanzieren. Hiervon profitieren vor allem private Anbieter, die ihre Dienste mit Werbung finanzieren. Mit den neuen Regelungen entstehen verbesserte Wettbewerbsbedingungen und Rechtssicherheit für Sen- der und Dienste der Informationsgesellschaft. Sie stär- ken die Wirtschaft und nützen den Verbraucherinnen und Verbrauchern. Dabei steht außer Frage, dass die Begren- zungen beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk wie bisher bestehen bleiben. Es wird also auch künftig keine Wer- bung an Sonn- und Feiertagen und nach 20 Uhr geben. Aus den genannten Gründen wird meine Fraktion dem Gesetzentwurf zustimmen. Ich will aber nicht ver- hehlen, dass mit Blick auf das Telemediengesetz noch ein Stück Arbeit auf uns wartet. Die Regelungen müssen mit Blick auf die rasanten Veränderungen im Bereich der elektronischen Kommunikation auf der Höhe der Zeit bleiben. Es ist daher weitgehend unstrittig, dass es Änderungs- und Ergänzungsbedarf am Telemediengesetz gibt. Wir mussten seinerzeit im Januar 2007 dieses Gesetz unter Termindruck verabschieden, damit es zeitgleich am 1. März 2007 mit dem neuen Rundfunkstaatsvertrag der Länder in Kraft treten konnte. Damit wurden das frühere Teledienstegesetz und der Mediendienste-Staatsvertrag zusammengeführt. Bestimmte Fragen, wie beispiels- weise die Anbieterhaftung, konnten wir damals nicht mehr vollständig klären. Hinzu kommt, dass es sich um eine komplizierte Rechtsmaterie handelt, die nicht nur auf sich ständig ver- ändernde Neuentwicklungen reagieren, sondern auch auf neue Geschäftsmodelle und Missbrauchstatbestände an- gewendet werden muss. Es besteht insbesondere Hand- lungsbedarf im Bereich der Fragen von Verantwortung und Haftung der Diensteanbieter. Das bezieht sich auf die Klärung der Störerhaftung sowie Fragen, die von den Haftungsbestimmungen der einschlägigen E-Commerce- Richtlinie nicht erfasst werden. Diese sind daher bisher im Telemediengesetz nicht ausdrücklich geregelt wor- den, was insbesondere Folgen für Suchmaschinen und Hyperlinks hat. Die Störerhaftung ist allerdings eine entscheidende Frage. Die Rechtsprechung beurteilt die Unterlassungs- ansprüche nach allgemeinen Grundsätzen. Daher werden Unterlassungsansprüche von einem bestimmten Fall auf „kerngleiche“ Rechtsverletzungen ausgedehnt. Was kerngleich ist, ist jedoch immer noch unklar. Daher gibt es insbesondere für kleinere Diensteanbieter ein hohes Haftungsrisiko. Aus unserer Sicht muss ein gerechter und praktikabler Lösungsweg gefunden werden, der die unterschiedlichen Interessen von Rechteinhabern, Ver- brauchern und Internetunternehmen berücksichtigt und in eine vernünftige Balance bringt. Auch muss geprüft werden, ob und inwieweit es einen Handlungsbedarf für die Speicherung und Verarbeitung von personenbezoge- nen Daten in sozialen Netzwerken gibt. Dies gilt insbe- sondere für Unternehmen wie Facebook, die ihren Sitz nicht in Deutschland oder der EU haben. Hier muss möglicherweise noch klarer formuliert werden, dass die Verwendung und Weitergabe von personenbezogenen Daten nur bei ausdrücklicher Einwilligung der Nutzerin- nen und Nutzer erfolgen darf. An dieser Stelle kann ich die Bundesregierung nur nochmals dazu auffordern, schnellstmöglich einen weiteren Gesetzentwurf vorzule- gen, der den hier skizzierten Handlungsbedarf aufgreift. Wir werden auch immer ungeduldiger, wenn es da- rum geht, die Probleme des Datenschutzes und des Ver- braucherschutzes, gerade in der elektronischen Kommu- nikation, zu lösen. Es reicht einfach nicht, wenn sich die zuständige Ministerin öffentlichkeitswirksam, von der Presseerklärung zur Talkshow und zurück, als Rächerin der Abgezockten inszeniert. Immer lauter stellt sich doch die Frage, wann der Gesetzgeber gegen die miesen und unlauteren Praktiken und gegen die Gesetzeslücken, gerade im Internet, vorgeht. Deshalb geht der Entschließungsantrag der Grünen, Drucksache 17/8718, in die richtige Richtung. Aller- dings stellt er Positionen und Forderungen auf, die einer eingehenden Beratung bedürfen. Andere Punkte fehlen. So etwas kann man hier nicht einfach aus dem Ärmel schütteln. Deshalb enthalten wir uns bei der Abstim- mung über den Entschließungsantrag. Claudia Bögel (FDP): Der vorliegende Entwurf soll die Audiovisuelle-Mediendienste-Richtlinie umsetzen. Das Ziel ist ein einheitlicher Rechtsrahmen für alle au- diovisuellen Mediendienste, da ein europäischer Binnen- markt zwingend für alle Wettbewerber gleiche Spielre- geln erforderlich macht. Denn es ist ja unstrittig, dass Diensteangebote über das Internet, die alle nationalen Grenzen überschreiten, nur im europäischen oder welt- weiten Rahmen behandelt werden können, wenn man ihr wirtschaftliches Potenzial bestmöglich ausschöpfen will. Das ist das Ziel, und es bedarf keiner Aufforderung der Opposition, die Reform des TMG immer weiter vo- ranzutreiben. Es ist unser ureigenstes Anliegen, das wir auch wiederholt deutlich gemacht haben. Wenn Sie zum Beispiel einmal einen Blick in den Koalitionsvertrag werfen: Hier steht schwarz auf weiß, dass wir das TMG fortentwickeln wollen. Und wir stehen zu unserem Wort. Seien Sie versichert: Hier wird nichts auf die lange Bank geschoben, sondern sorgfältig geprüft und schließ- lich, mit dem Ziel, einen ausgewogenen Interessenaus- gleich zu bekommen und zugleich auch mehr Rechtssi- cherheit zu schaffen, umgesetzt. 3638 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 (A) (C) (D)(B) Aber genau bei diesem ausgewogenen Interessenaus- gleich hinkt Ihr Antrag, liebe Kollegen von den Grünen. Einerseits wollen Sie keine Vorabkontrolle und keine Überwachung, sondern ein freies Internet. Andererseits aber fordern Sie hohe Anforderungen an den Daten- schutz, und die Urheberrechte sollen gewahrt werden. Das sind alles hehre Ziele, deren gänzliche und prompte Erfüllung ich mir auch wünschen würde; aber es gibt eben keine eierlegende Wollmilchsau, sosehr wir uns das vielleicht alle manchmal wünschen mögen. Ich möchte kurz auf einige der Punkte Ihres Antrages im Einzelnen eingehen. Sie fordern eine Klarheit bei der Anbieterdefinition. Warum? Es gibt hier keine Unklarheiten im TMG. Allen- falls im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag lässt sich eine solche feststellen, aber das hat nichts mit dem TMG zu tun. Der Anbieterbegriff entspricht im Übrigen den Vorgaben der E-Commerce-Richtlinie. Zu Ihrem zweiten Punkt. Eine verpflichtende Vorab- kontrolle der Inhalte durch Anbieter bei Web-2.0-Ange- boten soll definitiv ausgeschlossen werden. Hierzu möchte ich § 7 Abs. 2 TMG zitieren: Diensteanbieter im Sinne der §§ 8 bis 10 sind nicht verpflichtet, die von ihnen übermittelten oder ge- speicherten Informationen zu überwachen oder nach Umständen zu forschen, die auf eine rechts- widrige Tätigkeit hinweisen. Anbieter von Web-2.0-Angeboten, die sie mit Ihrer Forderung hier geschützt sehen wollen, sind das also be- reits. Sie sind nach § 10 TMG als regelmäßige Hosting- Anbieter anzusehen und fallen damit unter diese Norm. Ihr Entschließungsantrag sieht außerdem die Schaf- fung von Klarheit für die Haftung von Zugangsanbietern wie Suchmaschinen vor. Das ist ganz im Sinne der FDP, und auch wir unterstützen eine Klärung der Verantwort- lichkeit von Suchmaschinenanbietern. Zu den verschiedenen Punkten den Verbraucher- schutz und den Verbraucherdatenschutz betreffend ist von unserer Seite zu sagen, dass die Verwendung von und der Handel mit Daten nur bei ausdrücklicher Einwil- ligung bereits geregelt sind. Nach § 12 Abs. 1 ist dies nur genehmigt, soweit es durch Gesetz erlaubt ist oder der „Nutzer eingewilligt hat“. Außerdem noch ein Wort zu der von Ihnen geforder- ten Selbstverpflichtung sozialer Netzwerke, deutsche Datenschutzstandards einzuhalten. Soweit es sich um die in Deutschland niedergelassenen Anbieter handelt, ist es gar keine Frage, dass sie das deutsche Datenschutzrecht einhalten müssen. Natürlich müssen und werden mit den anderen Anbietern Gespräche geführt werden, sodass man auch hier zu einer Einigung gelangt. Doch unter- schätzen Sie den Einfluss der Nutzer selbst hier nicht! Schon oft war zu beobachten, dass die sozialen Netz- werke die Anliegen ihrer Community sehr ernst nehmen und ihr Handeln danach ausrichten. Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass die Bun- desregierung sich aus meiner Sicht intensiv mit der von Ihnen aufgeworfenen Fragestellung beschäftigt und ei- nige Punkte auch bereits gesetzlich festgelegt hat. Doch Sie wissen genauso gut wie wir, dass das Thema erheblich komplexer ist als Ihr Antrag. Hier muss daher Qualität vor Schnelligkeit gehen. Darum, nehme ich an, haben Sie auch der Einsetzung der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesell- schaft“ zugestimmt. Ich bin sicher, dass in diesem Gre- mium das Thema Rechtssicherheit und Rechtsklarheit für Diensteanbieter bearbeitet und diskutiert werden wird, und selbstverständlich ist auch meine Fraktion da- für. Eines ist aber klar: Schnellschüsse sind in jedem Fall alles andere als förderlich und ganz und gar hinderlich. Der Entschließungsantrag von Bündnis 90/Die Grü- nen wird von meiner Fraktion daher abgelehnt werden. Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE): Worüber diskutieren wir? Die Bundesregierung muss das erst vor drei Jahren in Kraft getretene Telemediengesetz korri- gieren, da die EU-Fernsehrichtlinie das erfordert. Inhalt- lich geht es dabei um Änderungen im Geltungsbereich, in den Begriffsbestimmungen und Regelungen zum Sitz- land der audiovisuellen Mediendienste. Das ist im Grunde relativ unproblematisch und folgt der üblichen Gesetzgebungsroutine. Problematisch ist aber Folgendes: Als das Teleme- diengesetz im Februar 2007 verabschiedet wurde, gab es bereits mehrere schwierige Punkte. Schon damals war klar, dass in der Frage der Haftung für fremde Inhalte nachgebessert werden muss. Bei der Haftungsfrage müs- sen die Inhalte- und Zugangsanbieter wissen, was er- laubt und was verboten ist. Fakt ist, dass seit Inkrafttre- ten des Telemediengesetzes Gerichte in Deutschland in zahlreichen Urteilen in diesen und ähnlichen Fragen völ- lig unterschiedlich entscheiden. Wir sagen klipp und klar: Wir brauchen eine gesetzli- che Klarstellung, damit beispielsweise Webseitenbetrei- ber und Inhalteanbieter künftig nicht – im vorauseilen- den Gehorsam – Überwachungspflichten für fremde Inhalte ausüben müssen. Auch zu diesem Beispiel kann ich sagen: Das Tele- mediengesetz in der aktuellen Fassung ist niederge- schriebene Rechtsunsicherheit. Das Haus des Bundes- wirtschaftsministers ist in der Lage, quasi über Nacht ein Internetsperrgesetz vorzulegen, das ursprünglich eben- falls als eine Änderung des Telemediengesetzes angelegt war. Aber die immer wieder eingeforderte grundlegende Novellierung des Telemediengesetzes kann dieses Haus bis heute nicht vorlegen. Ich behaupte: Das ist ein Ar- mutszeugnis für das Bundeswirtschaftsministerium. Meine Fraktion hat in der letzten Legislaturperiode Änderungsvorschläge zur Novellierung des Teleme- diengesetzes vorgelegt. Es ist uns wichtig, rechtliche Klarheit über die Haftung von Anbietern von Multime- diadiensten wie Foren, Chats, Gästebücher und Blogs zu schaffen. Wir wollen den Datenschutz stärken. Daten dürfen nicht an eine nahezu beliebige Zahl von Interes- senten aus Polizei, Geheimdienst und Militär herausge- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3639 (A) (C) (D)(B) geben werden. Wir fordern für die Herausgabe von per- sonenbezogenen Daten einen Erlaubnisvorbehalt durch einen Richter oder eine Richterin. Außerdem fordern wir, dass die Erstellung von Nutzerprofilen durch Diensteanbieter nur nach vorheriger ausdrücklicher Ein- willigung möglich ist. Auch die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen und der FDP haben damals Änderungen vorgelegt. Wir dürfen gespannt sein, ob die FDP sich treu bleibt und als Regierungspartei ihre Vorschläge wieder einbringt. An dieser Stelle noch einmal zur EU-Fernsehrichtli- nie, die ja die Grundlage für das von der Bundesregie- rung vorgelegte 1. Telemedienänderungsgesetz bildet. Mit der EU-Fernsehrichtlinie wurden zwei Dinge für die Anbieter von audiovisuellen Dienstleistungen auf dem europäischen Binnenmarkt getan: Werbebeschränkun- gen wurden abgebaut und Bedingungen für Werbefor- men und Produktplatzierungen neu festgelegt. Die EU- Fernsehrichtlinie harmonisiert zuallererst Geschäftsbe- ziehungen. Es geht ums Geldverdienen und um Rendite. Verbraucherrechte, die Bereitstellung eines vielfältigen kulturellen Programmangebots und die Sicherstellung journalistisch-redaktioneller Autonomie spielen keine Rolle. Zum 1. April dieses Jahres ist nun der 13. Rundfunk- änderungsstaatsvertrag in Kraft getreten. Mit ihm setzen die Bundesländer die Deregulierungsbestimmungen der EU für den Rundfunk in nationales Recht um. Bezahlte Produktplatzierungen müssen nun zu Beginn und zum Ende einer Sendung durch einen Hinweis gekennzeich- net werden, unbezahlte nicht. Davon profitieren die pri- vaten Fernsehsender und die werbetreibende Industrie, nicht aber die Zuschauerinnen und Zuschauer. Die Län- der haben es versäumt, hier ihren Ermessensspielraum zu nutzen. Denn die Richtlinie ließ zur Umsetzung der Werbebestimmungen für den Rundfunk ausdrücklich Ausnahmen zu. Das ist der Unterschied zu den vorlie- genden Änderungen im Telemediengesetz, die nach der EU-Richtlinie tatsächlich unausweichlich sind. Aus die- sem Grund werden wir uns den heutigen Änderungen des Telemediengesetzes nicht verweigern. Diese Ände- rungen sind, wie eingangs schon gesagt, rein formaler Art. Meine Damen und Herren von der Koalition, die Auf- gabe einer grundlegenden Überarbeitung des Tele- mediengesetzes bleibt bestehen. Hier müssen Sie nach- arbeiten. Das fordert auch der heute ebenfalls zur Diskussion und zur Abstimmung anstehende Entschlie- ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Die- sem können wir ausdrücklich zustimmen. Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das Telemediengesetz soll Fragen des Internets regeln. Es ist sozusagen das Internetgesetz. Aber ganz offensichtlich ist das zur schwarz-gelben Bundesregierung noch nicht so richtig durchgedrungen. Denn sonst hätte sie vielleicht endlich die Notwendigkeit gesehen, einige wichtige Problemfelder bei der Anbie- terhaftung, dem Datenschutz und dem Verbraucher- schutz anzugehen. Leider Fehlanzeige! Lassen Sie mich einige Beispiele nennen: Bei der Anbieterhaftung muss klargestellt werden, ob Suchmaschinen etwa wie Zugangsanbieter behandelt werden sollen. Die Anbieter von Blogs und Foren müs- sen wissen, woran sie sind. Wenn sie verpflichtet werden würden, die Beiträge auf ihren Seiten stündlich, ja mi- nütlich oder sogar jede Sekunde auf mögliche rechtswid- rige Inhalte zu prüfen, würde das diese Anbieter in ihrer Existenz bedrohen. Damit würde man eine Szene kaputt- machen, die für Vielfalt in öffentlichen Debatten sorgt und eine Alternative zum Mainstream-Journalismus dar- stellt. Gegenwärtig liegen ziemlich divergierende Gerichts- entscheidungen zur Reichweite der bestehenden Haf- tungsregelungen vor. Vereinzelt wird sogar die Auffas- sung vertreten, es bestehe eine allgemeine Verpflichtung zur präventiven Ausforschung und Überwachung der auf Userplattformen eigenständig generierten Inhalte. Das schafft Rechtsunsicherheit und bestärkt diejenigen, die in Verkennung des Mediums und seiner inzwischen ge- wachsenen kommunikativen gesellschaftlichen Bedeu- tung in der Tendenz einer Vorabzensur von Inhalten das Wort reden. Diese Unklarheiten sollten gesetzlich aus dem Weg geräumt werden. Leider findet sich nichts davon im Gesetzentwurf – trotz der FDP auf der Regierungsbank! Die Bundesregierung muss sich klar positionieren, was sie wem im Internet an Haftungspflichten auferlegen will, und sich für einheitliche Regelungen einsetzen, denn das Internet macht an Länder- oder Landesgrenzen nicht halt. Sie muss das dann mit den Bundesländern verhan- deln – beim Jugendmedienschutz-Staatsvertrag wurde das leider versäumt –, und sie muss es bei der EU – Stich- wort: EU-Netzsperren – durchsetzen. Der vorliegende Gesetzentwurf ist reines Stückwerk. Er setzt lediglich die Anforderungen der Audiovisuellen Mediendienste-Richtlinie der EU um. Aber das genügt nicht. Auch in Fragen des Datenschutzes geht die Bun- desregierung mit dem Gesetzentwurf nicht die notwendi- gen Schritte. Die bestehenden Regelungen tragen dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nicht ausreichend Rechnung. So sehen sich etwa Nutzerinnen und Nutzer immer häufiger damit konfrontiert, dass ihre persönlichen Daten im Internet veröffentlicht werden. Im Telemediengesetz fehlen auch nach dieser Geset- zesänderung effektive Regelungen für die Verwendung und den Handel mit personenbezogenen Daten. Das Ge- setz schützt die Nutzerinnen und Nutzer auch nicht hin- reichend vor personalisierter Werbung. Userinnen und User erhalten in der Regel automatisch personalisierte Werbung, solange sie dem nicht gezielt widersprechen. Auch fehlt noch immer eine Verpflichtung für die Be- treiber der Plattformen, darüber aufzuklären, wofür die von Nutzerinnen und Nutzern bereitgestellten Daten ver- wendet werden sollen. Kundenprofile werden so, ohne Transparenz gegenüber den Kunden, an die Werbewirt- 3640 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 (A) (C) (D)(B) schaft verkauft. Eine Nichteinwilligung in die Weitergabe personenbezogener Daten darf auch bei nicht marktbe- herrschenden Unternehmen nicht zum Ausschluss aus dem Angebot führen. Wir Grüne wollen mehr Daten- und Verbraucher- schutz im Telemediengesetz, so wie wir es in unserem Entschließungsantrag formuliert haben. Kundinnen und Kunden müssen durch Opt-in darüber entscheiden kön- nen, ob sie eine Weitergabe ihrer Daten möchten. Künf- tig muss der Grundsatz gelten, dass Werbung nur mit ausdrücklicher Einwilligung der Betroffenen erfolgen darf. Die Forschung im Bereich von sogenannten Privacy Enhancing Technologies, also datenschutzspezifischen Produkten, muss gefördert werden. Neue Produkte und Verfahren sollten zudem umfassend auf ihre Daten- schutzfreundlichkeit und Datensicherheit geprüft werden können. Hier ist die Vorlage des längst überfälligen Au- ditierungsgesetzes dringend nötig. Außerdem wollen wir die Verfolgung und Vermeidung von Spam verbessern. Bislang sind die Schutzmöglich- keiten gegen ungewollt zugesandte Spam-Mails für Ver- braucherinnen und Verbraucher überaus schwierig. Für die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten wie Spam- Mails muss eine zuständige Verwaltungsbehörde konkret benannt werden. Aus Sicht unserer Fraktion sollte die Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommuni- kation, Post und Eisenbahnen diese Zuständigkeit erhal- ten. Die Bundesnetzagentur könnte zumindest eine bun- deslandübergreifende Verfolgung gewährleisten. Sie sehen anhand meiner Beispiele: Das Gesetz ist völlig unzureichend. Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, ich fordere Sie auf, uns so schnell wie möglich ein an die Realitäten des Internets angepasstes Telemediengesetz vorzulegen. Wir brauchen klare Definitionen von Anbie- tern, klare und einheitliche Regelungen zu Haftungsfra- gen, wir brauchen einen effektiveren Verbraucherschutz, der die Verfolgung und Unterlassung von ungewollten Spam-Mails ermöglicht, und wir brauchen ein Gesetz, das die persönlichen Daten der Nutzerinnen und Nutzer wirksam schützt. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Ge- setzes zur Änderung des Vorläufigen Tabakge- setzes (Tagesordnungspunkt 15) Elvira Drobinski-Weiß (SPD): Eine weltweite Stu- die der Weltgesundheitsorganisation aus dem Jahr 2008 berichtet, dass alle sechs Sekunden ein Raucher stirbt. Tabak steht demzufolge an erster Stelle der vermeidba- ren Todesursachen. Deutschland zählt zu den zehn Län- dern, wo es die meisten Raucher weltweit gibt, einer von zehn Todesfällen gehe auf Tabak zurück, weltweit insge- samt 5,4 Millionen pro Jahr. Der aktuellen GEDA-Studie des Robert Koch-Instituts zufolge rauchten im Jahr 2009 in Deutschland 33,9 Pro- zent der Erwachsenen. Im Drogen- und Suchtbericht aus dem Jahr 2009 lesen wir, dass etwa 140 000 Menschen jedes Jahr vorzeitig an den direkten Folgen des Rau- chens sterben, etwa 3 300 Menschen an Folgen des Pas- sivrauchens. Die volkswirtschaftlichen Kosten des Rau- chens für die Gesellschaft werden auf 18,8 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt. Besonders alarmierend: Das durchschnittliche Einstiegsalter in den Zigarettenkon- sum liegt bei etwa 13 Jahren. Das sind Zahlen, die auf- schrecken! Wir kämpften deshalb die letzten elf Jahre gemeinsam mit der Bundesregierung und der Drogenbeauftragten Frau Bätzing mit aufeinander abgestimmten präventi- ven, gesetzlichen und strukturellen Maßnahmen gegen den hohen Tabakkonsum, aber auch um Regulierung und Angebotsreduzierung. Stellvertretend seien hier die kon- tinuierliche Tabaksteuererhöhung, die Einführung von Warnhinweisen auf Zigarettenpackungen oder auch die Aufnahme eines Paragrafen zum Nichtraucherschutz in die Arbeitsstättenverordnung genannt. Jugendlichen dür- fen Tabakwaren in Automaten seit dem 1. Januar 2009 nur noch dann angeboten werden, wenn durch Aufsicht bzw. technische Vorrichtung sichergestellt ist, dass der Bezug von Zigaretten für Personen unter 18 Jahren an Zigarettenautomaten nicht möglich ist. Zusätzlich verstärkten wir die Suchtprävention und Suchtberatung und Behandlung. „Be Smart – Don‘t Start“- oder „Rauchfrei“-Wettbewerbe sprachen zum Beispiel direkt Jugendliche an, den Einstieg in das Rau- chen zu verzögern bzw. mindestens vier Wochen nicht zu rauchen. Langfristig gesehen ist in der deutschen Erwachse- nenbevölkerung nur ein geringfügiger Rückgang des Ni- kotinkonsums erkennbar. Jedoch Dank der Programme und Förderungen des Nichtrauchens in Schulen ist ein Rückgang der Raucherquote unter Kindern und Jugend- lichen offensichtlich. Und es findet – langsam – ein ge- sellschaftlicher Bewusstseinswandel statt, Nichtrauchen wird immer stärker zur sozialen Norm. Diese kleinen Er- folge dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass noch viel zu tun ist. Heute beschließen wir die Umsetzung der sogenann- ten Audiovisuelle-Mediendienste-Richtlinie. In Anbe- tracht der neuen Übertragungstechniken ist es notwen- dig, nicht nur wie bisher für das Fernsehen als das traditionelle audiovisuelle Medium Regeln zu schaffen. Für „Audiovisuelle Medien auf Abruf“ oder einfacher gesagt Videos, egal ob mit oder ohne Ton, wird heute mit der Umsetzung der Richtlinie Rechtssicherheit in Deutschland geschaffen. Danach ist jede Form der au- diovisuellen kommerziellen Kommunikation für Ziga- retten und andere Tabakerzeugnisse, die Produktplatzie- rung sowie das Sponsoring von Sendungen durch Unternehmen, deren Haupttätigkeit die Herstellung oder der Verkauf dieser Produkte ist, untersagt. Uns ist bewusst: Alle Formen der Werbung für Tabak- erzeugnisse sind noch immer nicht erfasst. Diesem Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3641 (A) (C) (D)(B) Schritt müssen weitere folgen, damit insbesondere Ju- gendliche so wenig wie möglich in Kontakt mit Tabak- werbung kommen. Ich denke da insbesondere an das Verbot von Tabakwerbung auf Plakaten und Postern. Große Teile der Industrie sind mit uns in dieser Forde- rung auf einer Linie. Sollte eine wirksame Selbstregulie- rung nicht erfolgen, fordern wir hier dringend gesetzli- che Regelungen. Das Generaldirektorat der Europäischen Kommission für Gesundheit und Verbraucherschutz berät zurzeit Über- arbeitungen der Tabakproduktrichtlinie. Fünf Schwer- punkte kristallisieren sich dabei heraus: die Anpassung des Geltungsbereiches, die Änderung der Kennzeich- nungsanforderungen – einschließlich Warnhinweise –, die Einführung von Berichterstattungs- und Registrierungs- vorhaben, die Überarbeitung der Regulierung der In- haltsstoffe sowie die Einführung einer Regulierung der Verkaufs- und Vertriebsformen. Wir wollen den Diskussionsprozess eines stärkeren Nichtraucherschutzes aktiv begleiten. Dr. Erik Schweickert (FDP): Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Änderung des vorläufigen Tabakge- setzes setzen wir eine Europäische Richtlinie aus dem Jahr 2007 um. Ja, Sie hören richtig, eine Richtlinie aus dem Jahr 2007. Denn die große Koalition hat es inner- halb von zwei Jahren nicht fertiggebracht, für eine Umsetzung zu sorgen. Aber wie in den anderen Politik- bereichen auch wird deutlich: Die FDP steht für Verläss- lichkeit. Wir bringen voran, wir setzen um. Aber, und das gestehe ich der großen Koalition ja zu, es gäbe durchaus auch gute sachliche Gründe gegen das Gesetz. Wie Sie sicherlich wissen, stehen wir Liberale einer Einschränkung von Werbeverboten sehr kritisch gegenüber. Verbote bevormunden den Verbraucher. Was frei verkäuflich ist, soll auch beworben werden dürfen. Statt auf dirigistische Eingriffe wie Werbeverbote haben wir Liberale immer auf Selbstverpflichtungen gesetzt, die häufig genauso erfolgreich wirken. Durch Verbote den Konsum steuern zu wollen, ist ein staatsdirigistischer Trugschluss – das betrifft alle Instru- mente der Kommunikationspolitik, also Werbung ge- nauso wie Sponsoring und Product Placement. Bislang hat mir auch noch keiner überzeugende Studien zeigen können, in denen ein Zusammenhang von Product Place- ment und Konsumverhalten bewiesen wird. Außerdem zementieren Sponsoringverbote nur Markenbilder und fördern dadurch die Großen der Branche. Nun also setzen wir eine Richtlinie der Europäischen Union um, weil wir die rechtliche Bindung der Entschei- dungen auf europäischer Ebene anerkennen und respek- tieren. Denn wir kommen unserer Regierungsverantwor- tung nach – anders als die Große Koalition. Der Gesetzentwurf ist Teil der EU-Richtlinie für soge- nannte audiovisuelle Mediendienste. Die Vorgaben der Europäischen Kommission setzen wir eins zu eins in na- tionales Recht um und kommen somit unseren Verpflich- tungen nach. Künftig wird das Sponsoring von Fernseh- sendungen durch Tabakunternehmen und das Product Placement von Tabakerzeugnissen und Tabakunterneh- men verboten sein. Unter Product Placement ist die gezielte Darstellung eines Kommunikationsobjektes als dramaturgischer Be- standteil einer Video- oder Filmproduktion gegen finan- zielle oder sachliche Zuwendungen zu verstehen. Man kann darüber streiten, ob es unbedingt ein Tabakunter- nehmen sein muss, das mit Geld sein Produkt in audiovi- suellen Medien platziert. Insofern kann man der Richtli- nie ja auch durchaus positive Aspekte abgewinnen. Eins-zu-eins-Umsetzung bedeutet, dass wir vom Be- griff des Product Placements im engeren Sinne ausge- hen. Dieses meint die Platzierung von Markenartikeln, nicht jedoch die Platzierung unmarkierter Produkte. Auch die Sozialdemokraten sollten im Übrigen ein gro- ßes Eigeninteresse an dieser Form der Umsetzung ha- ben. Denn ansonsten wäre die SPD ja bald gar nicht mehr positiv im Fernsehen präsent. Interviews mit der letzten SPD-Ikone Helmut Schmidt dürften dann ja gar nicht mehr ausgestrahlt werden. Jeglichen Rufen aus den linken Reihen, die über eine Eins-zu-eins-Umsetzung der Richtlinie hinausgehen, er- teilen wir eine klare Absage. Eine Ausweitung des Tabak- werbeverbots auf Plakatwerbung und andere Werbefor- men ist aus bereits genannten Gründen unangemessen. Werbung ist integraler Bestandteil der Marktwirtschaft. Sie basiert auf einem freien und fairen Wettbewerb. Die legale Herstellung und der legale Vertrieb eines Produk- tes bedürfen der Möglichkeit der legalen Bewerbung. Wir setzen nicht auf Verbote, sondern auf Informatio- nen und Aufklärung über gesundheitliche Folgewirkun- gen des Tabakkonsums. Ein Werbeverbot halten wir als Präventionsmaßnahme für nicht geeignet. Stattdessen brauchen wir eine gesellschaftliche Sensibilisierung, die in der Schule beginnt, über den Freundeskreis und die Familie. Und mit Verlaub, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen: Ihre These, dass Tabakwerbung dazu führe, dass Jugendlichen der Aus- stieg aus dem Rauchen erschwert werde, ist doch nun wirklich an den Haaren herbeigezogen. Das wäre ja so, als wenn überzeugte Liberale durch Parteiwerbung dazu gebracht würden, zukünftig die Grünen zu wählen. Auch das wird nicht passieren, das sage ich Ihnen. Auch der von Ihnen aufgemachte Zusammenhang von Tabakwerbung und Zigarettenkonsum lässt sich bei ge- nauerem Hinsehen nicht halten. Denn der Zigarettenkon- sum ist bereits vor der Einführung des Tabakwerbever- bots in Zeitungen, Zeitschriften und im Internet im Jahr 2007 deutlich rückläufig gewesen. Der Argumentation zu folgen, dass Werbung Verbrau- cher geradezu zwanghaft zu einem Fehlverhalten ver- leite, entmündigt die Bürgerinnen und Bürger, statt auf Aufklärung und Verbraucherbildung zu setzen und so die Mündigkeit zu stärken. Ein über die Eins-zu-eins-Um- setzung hi-nausgehendes Tabakwerbeverbot ist Aus- druck eines Staatsverständnisses, das die Verantwortung des Einzelnen zugunsten einer Staatsverantwortung ab- gibt. SPD, Linke und Grüne begegnen jeder verbrau- 3642 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 (A) (C) (D)(B) cherpolitischen Herausforderung mit einem Verbot. Als FDP nehmen wir die Gesundheitsgefahren des Rauchens und damit den Gesundheits- und Verbraucherschutz sehr ernst. Aber die übliche Verbots- und Symbolpolitik à la Künast oder Höhn hilft dabei nicht weiter. Das kann keine liberale Politik sein. Deshalb werden wir eins zu eins umsetzen. Karin Binder (DIE LINKE): Die Linke fordert ein generelles Werbeverbot für Tabakwaren, um Jugendliche und Heranwachsende vor den gesundheitlichen Gefah- ren des Rauchens besser zu schützen. Rauchen schadet der Gesundheit. Das ist allgemein bekannt. Jedem Er- wachsenen steht es dennoch frei, zur Zigarette zu grei- fen. Es geht hier auch nicht darum, das Rauchen zu ver- bieten. Etwas anderes ist es aber, wenn Tabakkonzerne mit Werbung gezielt Jugendliche und Heranwachsende ansprechen, um sie zum Rauchen zu verleiten. Die Aus- wirkungen des Nikotingenusses sind bei dieser Gruppe besonders gesundheitsschädlich. Die Folgen zeigen sich aber erst viele Jahre später. Aus diesem Grund ist die Tabakwerbung im Fernse- hen verboten. Mit ihren Marketingmethoden haben die Zigarettenhersteller diese Einschränkung jedoch ge- schickt umschifft. Sie werben indirekt durch Produktpla- zierung und im Internet. Die EU hat darauf reagiert und verbietet nun das Sponsering von Sendungen und die Produktplazierung in TV und Internet. Die Ausweitung auf weitere Medien war also auf jeden Fall nötig, und die vorliegende Regelung stellt eine Verbesserung dar. Natürlich hinkt Deutschland aber auch hier wieder einmal hinterher. Schon Ende letzten Jahres hätte die EU-Richtlinie hierzulande umgesetzt werden müssen. Aber der Druck der Tabaklobby bremst ein schnelles Vorgehen zugunsten des Gesundheitsschutzes bei Ju- gendlichen. Noch viel schlimmer: Das Werbeverbot wird nur halbherzig umgesetzt. Denn auch nach der neuen Regelung bleiben den Zigarettenherstellern ausreichend Lücken, um Jugendliche erfolgreich anzusprechen: Wer- bung im Kino, Direktwerbung vor Kneipen und Online- shops im Internet, um nur einige Beispiele zu nennen. Das Verbot der Produktplatzierung und des Sponso- rings bei Tabakwaren ist also ein Schritt in die richtige Richtung, greift aber deutlich zu kurz. Die Bundesregie- rung setzt nur die Minimalstandards um, statt die Chance zu nutzen, ein einheitliches Werbeverbot zum Schutz der Gesundheit zu schaffen. Die Verhinderung einer klaren Regelung hat bei der christlich-sozialen Union aber Tra- dition: Schon der Vorgänger der heutigen Verbraucher- schutzministerin, Herr Seehofer, hatte seine Probleme mit dem Nichtraucherschutz. Nach seiner Auffassung hat die Einschränkung des Nikotingenusses „die bayri- sche Volksseele verletzt“. Schon 2006 wurde die Bun- desregierung in Sachen Werbeverbot erst auf Druck der EU-Kommission mit Androhung von Strafzahlungen tä- tig. Auch jetzt musste Brüssel erst mit den Säbeln ras- seln. Fazit: Wieder einmal gehen bei Schwarz-Gelb Wirt- schaftsinteresse vor Verbraucherschutz. Das ist für die Linksfraktion nicht hinnehmbar. Wir fordern die Bun- desregierung auf: Nehmen sie die Gesundheitsvorsorge endlich ernst! Setzen sie ein umfassendes Werbeverbot für Tabakwaren durch! Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): 140 000 Menschen sterben nach Angaben der Deutschen Krebshilfe in Deutschland jährlich an den Folgen des Rauchens. Nach Schätzungen des Deutschen Krebsfor- schungsinstitutes verursacht das Rauchen Gesamtkosten von über 33 Milliarden Euro für unsere Volkswirtschaft und das Gesundheitswesen. Angesichts dieser Zahlen ist der Regierungsentwurf zur Änderung des Tabakgesetzes eine armselige Mini- mallösung, welche vor allem die Interessen der Tabak- industrie im Blick hat. Die vorgelegte Eins-zu-eins-Umsetzung der EU- Richtlinie verbietet nur den eng begrenzten Bereich der Werbung in „audiovisuellen Medien auf Abruf“. Damit bleibt Deutschland ein Tabakwerbeparadies in der EU. Bei der Plakatwerbung, die nur noch in Deutschland und Griechenland erlaubt ist, sind wir Schlusslicht in Europa. Auch in der Kinowerbung schon ab 18 Uhr darf munter weitergequalmt werden. Die Werbung in Tankstellen und Kiosken, wo neben Postern und anderen Werbemit- teln zunehmend Werbefilmchen in Endlosschleife lau- fen, soll auch mit dem neuen Gesetz bestehen bleiben. Der Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft, ZAW, jubelt bereits, weil die audiovisuelle Werbung in Verkaufsstellen und im Rahmen des Internetversandhan- dels nicht von der Gesetzesänderung betroffen sei. Solange die Tabakindustrie die bestehenden Werbe- verbote durch solche Schlupflöcher umgehen kann, wird die Tabakprävention geschwächt statt gestärkt. Bereits 1997 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass Werbeverbote ein wichtiges Instrument gegen bedenken- losen Tabakkonsum sind. Unser Fokus ist der Kinder- und Jugendschutz. Trotz der positiven Entwicklung in den letzten Jahren rauchen immer noch 15 Prozent aller minderjährigen Jugendli- chen gelegentlich bis regelmäßig. Laut Deutscher Lun- genstiftung sind Schüler und Schülerinnen im Alter von 11 bis 14 Jahren besonders gefährdet, das Rauchen anzu- fangen. Fast zwei Drittel aller rauchenden Kinder und Jugendlichen wollen mit dem Rauchen aufhören oder haben dies schon einmal vergeblich versucht. Tabakwer- bung macht es den Jugendlichen doppelt schwer, vom Glimmstängel loszukommen. Studien belegen immer wieder, dass Zigarettenwer- bung besonders stark das Rauchverhalten von Kindern und Jugendlichen beeinflusst. Die Imagestrategien der Tabakindustrie mit Bildern von Freiheit, Spaß, Erfolg und Sexappeal zielen nach wie vor besonders auf Ju- gendliche und junge Erwachsene. Nicht Figuren wie der Marlboro-Mann, sondern jugendlich wirkende Partygän- ger spielen die Hauptrollen in den Werbekampagnen. Die Selbstverpflichtungserklärung der Tabakindus- trie zum Jugendschutz läuft daher selbst dann ins Leere, wenn alle Vorschriften formal eingehalten werden. Ent- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3643 (A) (C) (D)(B) scheidend ist nicht das tatsächliche Alter der Models, sondern der dargestellte Lebensstil, der oft dem Wunsch- bild von Jugendlichen entspricht. Dieser Zusammenhang wurde erst kürzlich wieder vom Kommunikationswis- senschaftler Patrick Rössler sowie der Fachstelle für Suchtprävention bestätigt. Zudem haben Nichtraucher- schutzorganisationen in den letzten Jahren zahlreiche klare Verstöße gegen die Selbstverpflichtungsgrundsätze dokumentiert. Wir fordern die Bundesregierung aus diesen Gründen in unserem Entschließungsantrag auf, Tabakwerbung deutlich über die Umsetzung der EU-Richtlinie hinaus einzuschränken. Das heißt: Erstens. Jegliche audiovisuelle Werbung in Verkaufs- stellen und im Internetversandhandel muss gesetzlich verboten werden. Zweitens. Auch die Außenwerbung muss in Deutsch- land wie in fast der gesamten EU verboten werden. Drittens. Auch die Kinowerbung und die massive Werbung in Verkaufsstellen muss weiter eingeschränkt werden, um dem Jugendschutz gerecht zu werden. Statt wirkungsloser freiwilliger Selbstverpflichtungen brauchen wir klare gesetzliche Regelungen und wirk- same Sanktionen bei Verstößen gegen diese Regeln. Ohne diese Maßnahmen sind Fortschritte bei der Ta- bakprävention kaum zu erreichen. Julia Klöckner (Parl. Staatssekretärin bei der Bun- desministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Ver- braucherschutz): Der vorliegende Gesetzentwurf nimmt eine Eins-zu-eins-Umsetzung der Audiovisuelle-Me- diendienste-Richtlinie für den Bereich der Tabakwer- bung vor. Die weiteren Vorgaben der Richtlinie werden von den Ländern im Rahmen des 13. Änderungsvertra- ges zum Rundfunkstaatsvertrag sowie bundesrechtlich mit einem Änderungsgesetz zum Telemediengesetz um- gesetzt. Bekanntermaßen besteht in Deutschland bereits eine Reihe von medienspezifischen Verboten. Seit 1975 ist Tabakwerbung im Hörfunk und Fernsehen verboten. Aufgrund der Vorgaben der Tabakwerberichtlinie der Europäischen Union aus dem Jahr 2003 wurden 2006 die Tabakwerbung in der Presse und gedruckten Veröffentli- chungen grundsätzlich verboten. Ferner ist die Werbung in Diensten der Informationsgesellschaft wie dem Inter- net bereits seit 2006 entsprechend verboten. Wie Sie alle wissen, ist dies in § 21 a Abs. 4 des Vorläufigen Tabak- gesetzes geregelt. Genau das sollten auch die Kollegin- nen und Kollegen berücksichtigen, die hier kurzfristig noch einen Entschließungsantrag zum Gesetz einge- bracht haben. Daneben besteht ebenfalls seit 2006 ein Sponsoringverbot für den Hörfunk. Die Umsetzung der Tabakwerberichtlinie erfolgte ebenfalls eins zu eins. Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird nunmehr auch ein Sponsoringverbot für audiovisuelle Medien- dienste und Sendungen geregelt. Wir erfassen damit Bil- der mit oder ohne Ton, die vom klassischen Fernsehen ausgestrahlt werden, aber auch Mediendienste auf Ab- ruf, wie zum Beispiel Video-on-demand. Beim Sponso- ring handelt es sich vereinfacht gesprochen um einen Beitrag von privaten Unternehmen oder natürlichen Per- sonen zur Finanzierung von audiovisuellen Medien- diensten oder Sendungen mit dem Ziel, zum Beispiel ih- ren Namen oder ihre Marke zu fördern. Zudem sieht das Gesetz ein Verbot der Produktplatzierung von Tabak- erzeugnissen oder Tabakunternehmen in audiovisuellen Sendungen vor. Eine Produktplatzierung liegt vor, wenn zum Beispiel gegen Entgelt oder eine ähnliche Gegen- leistung auf eine Marke Bezug genommen wird, sodass diese innerhalb einer Sendung erscheint. Zukünftig ist damit ausdrücklich geregelt, dass ein Tabakerzeugnis etwa im Rahmen einer Fernsehsendung nicht platziert werden darf. Neben diesen Verboten ist es mir wichtig, zu betonen, dass wir selbstverständlich den Verbraucher gesetzlich vor irreführender Werbung schützen. So ist es beispiels- weise untersagt, den Tabakkonsum zu verharmlosen, seine gesundheitliche Unbedenklichkeit zu suggerieren. Auch ist es verboten, Jugendliche durch zielgerichtete Darstellungen und Aussagen zum Rauchen zu veranlas- sen. Eine weitere Ausweitung des Verbots der Tabak- werbung über den vorliegenden Entwurf hinaus steht derzeit für die Bundesregierung nicht an. Mir ist es auch ein besonderes Anliegen, dass wir das Gesetzgebungs- verfahren nun zügig abschließen. Auch gegenüber Brüs- sel wäre es ein verfehltes Signal, die Umsetzung weiter zu verzögern. Wie gesagt, nimmt der Gesetzentwurf eine Eins-zu-eins-Umsetzung der Richtlinie über audiovi- suelle Mediendienste vor – und das ist gut so. Dies ent- spricht der allgemeinen Haltung der Bundesregierung zur Umsetzung von EU-Recht. Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass die bestehenden Verbote durch die Länder effektiv durchgesetzt werden. Dies gilt insbesondere auch für den Bereich des Inter- nets. Nichtsdestotrotz ist festzuhalten, dass der Verkauf von Tabakerzeugnissen auch über das Internet grund- sätzlich legal ist. Über das Angebot der Tabakerzeug- nisse hinausgehende Werbemaßnahmen und demnächst auch die Produktplatzierung in audiovisuellen Medien- diensten sind hingegen verboten. Aus der Sicht unseres Bundesministeriums für Ernäh- rung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ist der Schutz der Verbraucher vor Schäden ein zentrales Anlie- gen. Daher besteht eine wesentliche Aufgabe im Rah- men der Tabakprävention auch darin, den Einstieg in das Rauchen zu verhindern, den Ausstieg aus dem Tabak- konsum zu fördern und den Schutz vor Passivrauchen zu stärken. So ist es Ziel, den Verbraucherinnen und Ver- brauchern die gesundheitlichen Gefahren des Rauchens nachdrücklich vor Augen zu führen und insgesamt auf eine Einschränkung des Tabakkonsums hinzuwirken. Hierbei sind die zwingend vorgeschriebenen Warnhin- weise auf den Tabakerzeugnissen ein wichtiges Element. Die Kennzeichnung von Tabakerzeugnissen ist auf EU-Ebene im Rahmen der Tabakprodukt-Richtlinie ge- regelt. Danach sind entsprechende Textwarnhinweise auf Tabakerzeugnissen europaweit verbindlich vorgeschrie- ben und wurden national mit der Tabakprodukt-Verord- nung umgesetzt. Des Weiteren eröffnet eine Entschei- 3644 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 (A) (C) (D)(B) dung der Kommission von 2003 den Mitgliedstaaten die Möglichkeit, diese Textwarnhinweise national durch kombinierte Warnhinweise zu ergänzen. Dabei sind aus- schließlich die in einer Bibliothek der Kommission hin- terlegten kombinierten Warnhinweise zu verwenden. Gegenwärtig werden von der Europäischen Kommis- sion Aktivitäten eingeleitet mit der Zielsetzung, neue kombinierte Warnhinweise zu entwickeln, die im Hin- blick auf die Bereitstellung von Informationen über die gesundheitlichen Wirkungen des Tabaks, die Motivation des Aufhörens mit dem Rauchen und die Abschreckung vor dem Rauchen geprüft sind. Das Ergebnis dieser Überprüfung sollte abgewartet werden. Ein weiterer Baustein zur Senkung des Tabakkon- sums ist die nationale Dachkampagne „rauchfrei“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). „rauchfrei“ ist längst zu einer bekannten und geschätz- ten Marke rund um das Nichtrauchen geworden. Die „rauchfrei“-Kampagne der BZgA setzt sich aus zwei gro- ßen Teilkampagnen zusammen: Ein Kampagnenteil kon- zentriert sich auf die Zielgruppe der Kinder und Jugend- lichen im Alter zwischen 12 und 17 Jahren, ein zweiter Teil richtet sich an die Zielgruppe der Erwachsenen. Die bisher durchgeführten Maßnahmen zur Förderung des Nichtrauchens bei Jugendlichen haben sich als erfolg- reich erwiesen: Nach einem Anstieg beim Rauchen in den neunziger Jahren ist – parallel zur Durchführung der „rauchfrei“-Jugendkampagne – seit 2001 ein kontinuier- licher Rückgang im Rauchverhalten Jugendlicher zu ver- zeichnen. Im Jahr 2001 rauchten noch 28 Prozent der Ju- gendlichen im Alter zwischen 12 und 17 Jahren, 2008 waren es nur noch 15 Prozent. Damit hat das Rauchver- halten in dieser Altersgruppe einen historischen Tiefstand erreicht. Um diesen Trend zu halten und vor allem auf alle Gruppen von Jugendlichen auszudehnen, bedarf es un- verminderter Anstrengungen und einer kontinuierlichen Weiterentwicklung der Kampagne. Die BZgA wird die „rauchfrei“-Jugendkampagne im Jahr 2010 weiterführen und vor allem an das „Web 2.0“ anpassen. Damit wird dem Bedürfnis der Zielgruppe nach Interaktivität und Kommunikation stärker Rechnung getragen. Wie in vielen Industrienationen ist auch in Deutsch- land eine stark ausgeprägte Polarisierung des Rauchver- haltens zu beobachten. Vor allem unter Jugendlichen aus Familien mit geringer Bildung, geringem Einkommen und niedrigem beruflichen Status ist der Anteil der Rau- cherinnen und Raucher viel höher als in anderen Bevöl- kerungsschichten. Gerade diese Jugendlichen werden außerdem schwerer mit Maßnahmen zur Förderung des Nichtrauchens erreicht. Über zielgerichtete Maßnahmen in der Schule wird dies versucht auszugleichen. Dort können Schülerinnen und Schüler aller sozialen Schich- ten erreicht werden, und es ist auch eine Kopplung von Strukturmaßnahmen mit verhaltensbezogenen Maßnah- men möglich. Deshalb haben sich die Maßnahmen und Aktivitäten in den Vorjahren bereits schwerpunktmäßig auf das Setting Schule mit einem Schwerpunkt in den Haupt-, Real- und berufsbildenden Schulen konzentriert. Leider ist in der Erwachsenenbevölkerung nur ein ge- ringfügiger Rückgang des Nikotinkonsums festzustellen. Daher sind weiterhin Maßnahmen notwendig, die den Rauchverzicht in der Erwachsenenbevölkerung zum Ziel haben. Von einem deutlichen Signal zum Verzicht auf Tabakprodukte bei Erwachsenen wird auch ein positiver Effekt für die Senkung des Rauchens bei Kindern und Jugendlichen erwartet. Mit einer zunehmenden Reduzie- rung des Rauchens in der Erwachsenenbevölkerung wird Nichtrauchen mehr und mehr die soziale Norm. Die BZgA wird deshalb auch 2010 die „rauchfrei“-Erwach- senenkampagne fortführen und weiterentwickeln. In Er- gänzung zu den bisherigen Maßnahmen liegt die Schwerpunktsetzung auf der Aktualisierung und Weiter- entwicklung der Beratungsangebote sowohl im Bereich des internetbasierten Ausstiegsprogramms als auch der Telefonberatung zum Nichtrauchen. 2010 wird die BZgA das neue Pilotprojekt „Fax to quit“ starten. Ziel ist es, aufhörwilligen Rauchenden ein niedrigschwelliges, kostenneutrales Angebot der telefonischen Unterstüt- zung beim Rauchstopp zu unterbreiten. All diese Maßnahmen belegen, dass die Bundesregie- rung den Schutz der Bevölkerung vor den Gefahren des Rauchens sehr ernst nimmt. Der von der Fraktion Bünd- nis 90/Die Grünen eingebrachte Entschließungsantrag wird von mir aus den angeführten Gründen abgelehnt. Das nunmehr zur Abstimmung vorliegende Zweite Ge- setz zur Änderung des Vorläufigen Tabakgesetzes bildet einen weiteren wichtigen Baustein in dem dargestellten Gesamtkonzept. Ich bitte Sie deshalb um Zustimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Europäische Antidis- kriminierungspolitik unterstützen – 5. Gleichbe- handlungsrichtlinie der EU nicht länger blockie- ren (Tagesordnungspunkt 16) Norbert Geis (CDU/CSU): Der neue Vorschlag für eine Richtlinie des Rates zur Anwendung des Grundsat- zes zur Gleichbehandlung ungeachtet der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung, bezogen nicht nur auf den Arbeitsmarkt, sondern auf den gesamten zivilrechtlichen Bereich, stößt nicht nur in Deutschland auf Ablehnung. Dabei lassen die Bundesregierung, der Bundesrat und die CDU/CSU-Fraktion keinen Zweifel daran, dass die Bekämpfung von Diskriminierung aller Art eine wich- tige Aufgabe darstellt. Durch das AGG wurde diese Auf- gabe für den Arbeitsmarkt erfüllt. Diese Aufgabe gilt je- doch auch außerhalb des Arbeitsmarktes. In einer freien, zivilisierten Gesellschaft ist für Diskriminierung kein Platz. Es muss Übereinstimmung herrschen, dass ein sol- ches Verhalten scharf zu verurteilen ist. Die EU hat aber bereits jetzt den weltweit fortschritt- lichsten Rechtsrahmen im Bereich der Nichtdiskriminie- rung. Das Schutzniveau geht in der Bundesrepublik Deutschland und in vielen anderen Mitgliedstaaten sogar noch über die europäischen Vorgaben hinaus. Deutsch- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3645 (A) (C) (D)(B) land liegt in der EU an der Spitze. Der Schutz vor Dis- kriminierung ist bei uns und in vielen anderen EU-Staa- ten weltweit am besten gewährleistet. Deshalb ist es nicht so sehr erforderlich, uns Gedan- ken darüber zu machen, wie wir uns von dem Standard der EU und in der Welt noch weiter absetzen können. Wichtiger ist es, den jetzigen Stand zu konsolidieren. Neue Anforderungen, wie sie die Richtlinie vorsieht, würden neue Anpassungen notwendig machen und da- mit neue Unsicherheiten und neue Unruhe bringen. Bevor die EU neue Rechtsakte gegen die Diskrimi- nierung erlässt, müssen erst einmal die Erfahrungen der Mitgliedstaaten mit der Umsetzung der bisherigen Anti- diskriminierungsgesetze abgewartet werden. Im Übrigen sind wir mit der Bundesregierung und dem Bundesrat der Auffassung, dass anstatt neuer Rege- lungen andere Maßnahmen zielführender sind. Um den Konsens in der Gesellschaft zu stärken, geht es zum Beispiel um eine entsprechende Bildungspolitik in den Schulen. Das ist aber nicht Sache der EU und kann nicht durch eine entsprechende Richtlinie erreicht werden. Die Verantwortung für die Bildungspolitik bleibt den Mitgliedstaaten vorbehalten. Es geht um eine entsprechende Initiative aus der Mitte der Gesellschaft heraus, insbesondere von den In- stitutionen innerhalb der Gesellschaft, um das Ziel, Dis- kriminierung zu ächten, und um das Ziel, einen Konsens zu erreichen, dass Diskriminierung in einer freien Ge- sellschaft nicht möglich sein darf. Es ist aber wiederum nicht Sache der EU, den einzelnen Staaten vorzuschrei- ben, wie sie dieses Ziel erreichen. Schon gar nicht kann dieser Konsens durch Umge- staltung unseres Zivilrechtes erreicht werden. Ein erheb- licher Eingriff wäre notwendig, der zu neuen Unsicher- heiten und zu neuen Rechtsstreitigkeiten führen würde. Es käme zu einer völligen Überregulierung des täglichen Lebens. Diese völlige Überforderung wird bei dem Diskrimi- nierungsverbot für Behinderte deutlich. Für sie soll ein diskriminierungsfreier Zugang zu Gütern und Dienstleis- tungen, die allen zur Verfügung stehen, gewährleistet werden. Wie aber soll das möglich sein? Muss dann je- der Wirt, um nicht gegen das Diskriminierungsverbot zu verstoßen, eine Toilette für Behinderte vorsehen? Müsste jeder Tante-Emma-Laden einen behindertenge- rechten Aufgang haben? Muss jede Mietwohnung, so- weit der Vermieter bei der Vermietung gewerblich tätig wird, einen behindertengerechten Zugang haben? Dies kann doch nicht wahr sein. So viele Behinderte gibt es doch gar nicht, die eine Wohnung suchen. Dies zeigt, wie unpraktikabel der Richtlinienvor- schlag ist und wie sehr er Rechtsunsicherheit schaffen würde. Deshalb kann man vernünftigerweise diesem Vorschlag der Kommission nicht zustimmen. Unsere Bedenken fassen wir in drei Punkten zusam- men: Erstens würde der Richtlinienvorschlag in erhebli- chem Maße in die Vertragsfreiheit eingreifen. Zweitens käme es erneut zu einer Beweislastumkehr. Drittens er- gibt sich daraus ein Verstoß gegen das Grundgesetz. Im Privatrecht herrscht der Grundsatz der Privatauto- nomie. Jede Bürgerin und jeder Bürger ist frei, Verträge ab- oder nicht abzuschließen. Nur dann, wenn diese Ver- tragsfreiheit besteht, hat unsere freiheitliche Wirtschafts- ordnung Bestand. Durch staatliche Lenkungsmaßnah- men würde diese Ordnung in einem erheblichen Maße gestört. Unsere Privatrechtsordnung setzt die Vertrags- freiheit voraus. Sie ist der innerste Kern der freien Marktwirtschaft. Sie muss unantastbar bleiben. Durch das Diskriminierungsverbot käme ein völlig fremder Aspekt in unsere Zivilrechtsordnung. Es müsste nämlich nach der Gesinnung des Vertragspartners ge- fragt werden, weil ja die Ablehnung eines Vertragsange- botes ein subjektiver Vorgang ist. Damit aber hätten wir es mit einer Art Gesinnungszivilrecht zu tun, das, um seine Ziele durchzusetzen, auch Sanktionen verhängen müsste. Der Betroffene müsste nämlich mit Schadenser- satzansprüchen rechnen. Die Kultur unseres Zivilrechtes hatte es aber in ihrer Entwicklung über Jahrhunderte hin- weg sorgsam vermieden, Sanktionen an subjektive Merkmale zu knüpfen. Das BGB kennt nur zwei selten genutzte Ausnahmen: Schikane nach § 226 BGB und sit- tenwidrige Schädigung nach § 826 BGB. Für Sanktionen aus Gesinnungsdelikten ist ausschließlich das Strafrecht zuständig. Dort gilt aber der Grundsatz, dass dem Be- troffenen das Verschulden nachgewiesen werden muss. Nach den Vorstellungen der geplanten Richtlinie aber müsste der ablehnende Vertragspartner selbst beweisen, dass die Ablehnung eines Vertrages nichts mit Diskrimi- nierung zu tun hat. Im Zivilrecht gilt der Grundsatz, dass der, der einen Anspruch geltend macht, auch die Voraus- setzung des Anspruches zu beweisen hat. Durch die Richtlinie aber würde dieser Grundsatz auf den Kopf ge- stellt: Der Ablehnende müsste beweisen, dass er nicht wegen der sexuellen Ausrichtung oder wegen des Alters oder der Behinderung den Vertragsabschluss ablehnt, sondern aus anderen, nicht diskriminierenden Gründen. Der Grundsatz „in dubio pro reo“ würde dann im Zivil- recht, wenn es um den Nachweis der Diskriminierungs- absicht geht, in sein Gegenteil verkehrt. Es gilt in diesen Fällen nicht „in dubio pro reo“, sondern „in dubio contra reum“. Diese Umkehrung der Beweislast widerspricht aber unserer Verfassung. Darin sehen wir die Verletzung des Grundgesetzes. Nun ist uns natürlich klar, dass das europäische Recht Vorrang hat vor unserer Verfassung und vor dem unter- geordneten Recht. Gerade deshalb müssen wir ja auch den Versuch unternehmen, zu verhindern, dass die euro- päische Richtlinie erlassen wird. Wir lehnen sie ab und bitten die Bundesregierung, ihr „Veto“ weiterhin geltend zu machen. Markus Grübel (CDU/CSU): Die CDU/CSU-Frak- tion setzt sich aktiv gegen alle Formen von Diskriminie- rung ein. Bereits in der vergangenen Wahlperiode hat die unionsgeführte Bundesregierung vier Richtlinien der Eu- 3646 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 (A) (C) (D)(B) ropäischen Union zum Schutz vor Diskriminierung in deutsches Recht umgesetzt. Im Allgemeinen Gleichbe- handlungsgesetz haben wir im Jahre 2006 sehr weitrei- chende Regelungen festgeschrieben, die deutlich über das bisherige europäische Recht hinausgehen. Dies be- scheinigen uns übrigens auch die Grünen in ihrem heute zur Diskussion gestellten Antrag. Die Union hält daher weitere rechtliche Regelungen zum gegenwärtigen Zeitpunkt für unnötig. Insbesondere halten wir den Entwurf der Europäischen Kommission zur 5. Antidiskriminierungsrichtlinie für ungeeignet und lehnen ihn daher ab. Bereits die Umsetzung der bisheri- gen Antidiskriminierungsrichtlinien hat zu einer großen Rechtsunsicherheit in den Mitgliedstaaten geführt. Trotz des weitreichenden Diskriminierungsschutzes im AGG hat die EU-Kommission mehrere Vertragsverletzungs- verfahren gegen Deutschland angestrengt. Insgesamt laufen seit dem zweiten Halbjahr 2008 31 Vertragsver- letzungsverfahren gegen 18 Mitgliedstaaten. Der vorlie- gende Entwurf der 5. Antidiskriminierungsrichtlinie ent- hält eine Vielzahl von unklaren Begrifflichkeiten, die bei einer Verabschiedung ähnliche Probleme für die Zukunft befürchten lassen. Auch die finanziellen Folgewirkun- gen des Richtlinienvorschlags sind nicht geklärt, obwohl doch eine plausible Kostenabschätzung und eine konti- nuierliche Folgenbewertung die Voraussetzung eines je- den gesetzgeberischen Aktes sein sollten. Ich befürchte erhebliche Belastungen für unsere mittelständischen Un- ternehmen, sollte der vorliegende Entwurf Gesetzeskraft erlangen. Auch in diesem Punkt ist uns die EU-Kommis- sion noch eine Antwort schuldig. Eine Prüfung der Aus- wirkungen hinsichtlich der Selbstverpflichtung nach dem „Small Business Act“ steht weiterhin aus. Mit die- sen Befürchtungen ist Deutschland übrigens nicht al- leine. Wir wissen, dass zahlreiche andere Mitgliedstaa- ten ähnliche Bedenken haben, auch wenn sie diese nicht so deutlich äußern wie wir. Insofern kann keine Rede da- von sein, dass lediglich Deutschland auf die Bremse trete und die Richtlinie allein aufgrund der ablehnenden Haltung Deutschlands nicht zustande komme. Lassen Sie mich noch auf einen grundsätzlichen As- pekt hinweisen. Ich bin ein Anhänger des Subsidiaritäts- prinzips: Probleme sollten möglichst dort gelöst werden, wo sie entstehen. Dieser Ansatz ist sowohl im europäi- schen als auch im deutschen Recht verankert. Der Richt- linienvorschlag geht jedoch aufgrund der Breite seines Geltungsbereichs über die Zuständigkeit der Europäi- schen Union hinaus und verstößt gegen das Subsidiari- tätsprinzip, da weitestgehend keine grenzüberschreiten- den Regelungen verfolgt werden. Der Schutz vor Diskriminierung sollte auf der Ebene der Mitgliedstaaten geregelt werden. Deutschlands An- strengungen im Bereich von Gleichstellung und Diskri- minierungsschutz können sich international sehen las- sen. Wir haben in Deutschland ein engmaschiges Netz von Gesetzen und Regelungen geknüpft, das Betroffene effektiv schützt. Neben dem Allgemeinen Gleichbehand- lungsgesetz sind beispielhaft das Behindertengleichstel- lungsgesetz, das IX. Buch Sozialgesetzbuch sowie der Nationale Aktionsplan der Bundesregierung zur Umset- zung der VN-Behindertenrechtskonvention zu nennen. Die Betroffenen benötigen nicht ständig neue Regelun- gen. Das AGG ist gerade einmal vier Jahre alt. Uns geht es darum, im Rahmen des bestehenden Rechts die konkrete Situation von diskriminierten Men- schen in Deutschland weiter zu verbessern und ihnen noch schnellere und passgenauere Hilfe anzubieten. Die unionsgeführte Bundesregierung hat zu diesem Zweck die Antidiskriminierungsstelle des Bundes, ADS, ins Le- ben gerufen. Die Antidiskriminierungsstelle entwickelt sich immer mehr zu dem starken Akteur im Dienste der Betroffenen, den wir uns von Anfang an gewünscht ha- ben. Ich würde es jedenfalls begrüßen, wenn die ADS ähnlich dem Datenschutzbeauftragten zu einer kraftvol- len Stimme in der gesellschaftlichen Debatte in Deutsch- land wird. Die neue Leiterin, Frau Christine Lüders, hat in der gestrigen Sitzung des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend unterstrichen, dass sie die ADS energisch in diesem Sinne weiterentwickeln will. Dazu möchte sie ein deutschlandweites Netzwerk gegen Diskriminierung schaffen. Die verschiedenen bereits existierenden Akteure, die sich in der Regel einzelnen Aspekten des Diskriminierungsschutzes widmen und oft nur lokal oder regional aktiv sind, sollen so miteinander ins Gespräch kommen und ihre Arbeit verzahnen. Zukünftig will die Antidiskriminierungsstelle von Dis- kriminierung betroffenen Personen umgehend einen ge- eigneten Ansprechpartner vor Ort benennen können. Diese Anstrengung verdient unser aller Unterstützung. Sie zeigt uns zugleich, dass wir keine neue EU-Antidis- kriminierungsrichtlinie benötigen. Deutschland ist beim Diskriminierungsschutz bereits auf einem sehr guten Weg. Christel Humme (SPD): Wer glaubt, mit dem Allge- meinen Gleichbehandlungsgesetz, AGG, hätten wir schon alles gegen Diskriminierung getan, der irrt. Von einer diskriminierungsfreien Gesellschaft sind wir leider noch immer weit entfernt! Jedes Jahr wird uns der Spie- gel vorgehalten. Die jährlich durchgeführten repräsen- tativen Studien „Deutsche Zustände“ von Professor Heitmeyer decken jedes Mal aufs Neue auf, welche Vor- urteile und Ressentiments gegenüber Frauen, Muslimen, Juden, Obdachlosen, Behinderten, Ausländern oder Ho- mosexuellen nach wie vor bestehen. Diskriminierung ist bedauerlicherweise immer noch alltäglich. So hat die ka- tholische Bischofskonferenz festgelegt, dass katholische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu entlassen sind, wenn sie eine eingetragene Lebenspartnerschaft einge- hen. „Homosexualität ist widernatürlich und eine menschliche Fehlentwicklung“, so Bischof Overbeck in der TV-Sendung Anne Will. Neben diesen unmittelbaren Diskriminierungen, die klar erkannt werden können, gibt es nach wie vor eine Vielzahl mittelbarer, verdeckter Diskriminierungen, die sich zum Beispiel in geringeren Löhnen für Frauen bei gleicher und gleichwertiger Ar- beit niederschlagen. Der Zugang zu Bildung und berufli- cher Ausbildung hängt in Deutschland immer noch von der Herkunft ab, und ein ausländisch klingender Name lässt die Erfolgschancen bei einer Bewerbung nicht sel- ten sinken. Wenn es um Behinderung geht, streitet Deutschland über Begriffe der Inklusion und Integration Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3647 (A) (C) (D)(B) und erschwert damit die gemeinsame Erziehung von Kindern mit und ohne Behinderung in der Kita oder Grundschule. Diese wenigen Beispiele zeigen: Nach wie vor fehlt es an einer Antidiskriminierungskultur in Deutschland. Nach wie vor fehlt es an selbstverständli- cher Toleranz gegenüber Minderheiten. Mit dem AGG aus dem Jahre 2006 und mit der Schaffung einer Antidis- kriminierungsstelle haben wir vier europäische Antidis- kriminierungsrichtlinien in nationales Recht umgesetzt. Das waren wichtige Schritte. Sie haben erst die Voraus- setzungen dafür geschaffen, dass sich Diskriminierte heute mit rechtlichen Instrumenten wehren können. Die- ser Erfolg darf uns aber nicht daran hindern, noch besser zu werden; denn es gibt Kritik am AGG, Kritik von der Europäischen Kommission, die schon vor längerer Zeit Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hat, Kritik von Organisationen wie dem Deutschen Juristinnenbund, dem DGB und dem Institut für Menschenrechte. Sie for- dern, das Gesetz im Sinne eines effektiven Diskriminie- rungsschutzes noch besser auszugestalten. Vor 13 Jahren hat die damalige schwarz-gelbe Regie- rung unter Altkanzler Kohl den Amsterdamer Vertrag ra- tifiziert. Sie hat Deutschland damit verpflichtet, Diskri- minierung aufgrund des Geschlechts, der ethnischen Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, einer Be- hinderung, des Alters oder der sexuellen Orientierung zu bekämpfen. Jeder würde sagen, das sei eine Selbstver- ständlichkeit, denn schließlich habe der Staat mit dem Grundgesetz seit 60 Jahren den Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor Diskriminierung festgeschrieben. Diskri- minierungsschutz ist ein grundlegendes Menschenrecht, darin sind wir uns doch wohl alle einig. Was macht die heutige schwarz-gelbe Regierung? Was machen Sie, Frau Schröder? Sie wollen die 5. europäische Richtlinie, die seit zwei Jahren auf europäischer Ebene diskutiert wird, verhindern. Sie wollen zusammen mit Malta und Litauen gegen die umfassende Diskriminierungsrichtli- nie stimmen. Mit Ihrem Veto stellen Sie sich gegen das berechtigte Anliegen, in allen Mitgliedsländern der Europäischen Union einen einheitlichen Standard für wirksamen Antidiskriminierungsschutz zu schaffen! Das ist ein Armutszeugnis für Deutschland! Frau von der Leyen hatte sich bereits in der letzten Legislatur gegen die Verabschiedung eingesetzt, Frau Schröder setzt diese traurige Tradition fort. Sie nimmt damit billigend in Kauf, dass in den Staaten der EU, in denen noch keine umfassende Antidiskriminierungsgesetzgebung existiert, entsprechende Regelungen auf Jahre hinaus verhindert werden. Sie suggerieren damit, für den Schutz vor Dis- kriminierung sei bereits genug getan und alle weiteren Initiativen seien überflüssig. Diese Botschaft, die Deutschland aussendet, ist verheerend und ein Schlag in das Gesicht aller diskriminierten Menschen! Das hat Amnesty International in einem offenen Brief an die Mi- nisterin Kristina Schröder sehr deutlich gemacht und sie aufgefordert, ihre Fundamentalopposition aufzugeben. Dieser Aufforderung möchte ich mich im Namen der SPD-Fraktion ausdrücklich anschließen. Geben Sie Ihre Blockadehaltung auf! Was sind die Argumente der Bundesregierung? Sie befürchtet weitere Rechtsunsicherheit und kritisiert, die EU mische sich unzulässig in nationale Zuständigkeiten ein. So ist es der Pressemitteilung von Frau Schröder am 25. Februar 2010 zu entnehmen. Der Beweis dafür seien die zahlreichen Vertragsverletzungsverfahren. Ja, es stimmt. Es laufen derzeit Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland im Zusammenhang mit der Umset- zung der vier EU-Richtlinien im AGG. Diese Verfahren sind, soweit mir bekannt, bisher auch noch nicht abge- schlossen. Welche Konsequenz zieht die Bundesregie- rung daraus? Sie schlussfolgert: Es darf keine weiteren Richtlinien geben, damit solche Vertragsverletzungsver- fahren nicht mehr stattfinden. Richtig wäre: Unsere Ge- setzgebung muss besser werden, damit solche Vertrags- verletzungsverfahren künftig gar nicht erst eingeleitet werden müssen! Woher kommt denn die Rechtsunsi- cherheit, wie Sie sie nennen? Waren es nicht die CDU und CSU, die durchgesetzt haben, dass das von Rot- Grün 2005 vorgelegte gute Antidiskriminierungsgesetz entschärft werden musste? Sonst hätten Sie von der Union in der Großen Koalition Ihre Stimme verweigert. Die FDP hat damals gar nicht erst zugestimmt. Wäre es also nach der FDP gegangen, hätte Deutschland lieber eine hohe Bußgeldzahlung billigend in Kauf nehmen sollen, anstatt seinen Bürgerinnen und Bürgern wirksa- men Schutz vor Diskriminierung zu bieten. Müssen wir nicht gerade die Chance der 5. Gleichbehandlungsricht- linie der EU nutzen, um unsere Gesetzgebung zu über- prüfen und zielgenauer zu formulieren? Das wäre die richtige Schlussfolgerung, die aus den Vertragsverlet- zungsverfahren zu ziehen wäre. Die Blockadehaltung gegen einheitliche europäische Standards beim Diskri- minierungsschutz ist eindeutig der falsche Weg. In der Vergangenheit und auch heute sind die Vertreter der Wirtschaft die heftigsten Kritiker von Antidiskriminie- rungsregelungen. Sie verkennen noch immer, dass Viel- falt auch in einem Unternehmen Gewinn bringt. Auch wenn sich Ihr Koalitionsvertrag gegen die 5. Gleichbe- handlungsrichtlinie wendet: Geben Sie Ihre Klientelpoli- tik im Interesse der Millionen betroffenen Bürgerinnen und Bürger auf! Blockieren Sie die 5. Richtlinie nicht weiter und machen Sie den Weg frei für ein soziales und gerechtes Europa! Florian Bernschneider (FDP): Die FDP versteht die Vielfalt von Menschen und Kulturen als Chance. Menschen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen und verschiedener Herkunft, mit und ohne Handicap, Jung und Alt, mit unterschiedlichen Glaubenshintergrün- den und sexueller Orientierung bereichern unsere Ge- sellschaft. Diese Unterschiedlichkeit macht unsere Ge- sellschaft bunt und lebenswert, fördert Innovationen und Kreativität. Deswegen geht es in dieser Frage um weit mehr als Antidiskriminierung. Es geht darum, diese Chance der Vielfältigkeit zu nutzen und in soziale, gesellschaftliche und wirtschaftliche Potenziale umzusetzen. Es geht auch darum, Unterschiedlichkeiten nicht nur zu akzeptieren oder zu tolerieren, sondern sie zu fördern. Vielfalt wertzuschätzen heißt allerdings nicht, alle Men- schen einfach gleich zu behandeln. Gleichmacherei wird den unterschiedlichen Talenten und Bedürfnissen von 3648 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 (A) (C) (D)(B) Individuen in keiner Weise gerecht, sondern verhindert die gezielte bedarfsgenaue Förderung. Meine Fraktion hat sich in der Vergangenheit intensiv mit diesem Thema beschäftigt. Auch in unserem Wahl- programm zur Bundestagswahl 2009 findet sich an meh- reren Stellen das klare Bekenntnis zu einer Kultur der Vielfalt. Dabei haben wir uns beispielsweise für die För- derung betrieblicher Diversity-Strategien und die Veran- kerung dieser in den Leitbildern öffentlicher Unterneh- men ausgesprochen. Es besteht hier wohl Einigkeit darüber, dass niemand aufgrund der genannten Charakteristika diskriminiert werden darf. Es geht hier also nicht darum, ob wir eine vielfältige, weltoffene Gesellschaft haben wollen, son- dern vielmehr um die Frage, wie wir dieses Ziel am bes- ten erreichen. An diesem Punkt jedoch unterscheiden wir uns deutlich. Gerade als Liberaler möchte ich hier festhalten: Wir können eine Kultur der Vielfalt und Toleranz politisch fördern, unterstützen, flankieren. Aber wir werden – und das ist entscheidend – einen gesellschaftlichen Wandel nicht mit Gesetzen und Richtlinien erzwingen können. Vielleicht würde dieser Antrag, wenn er denn eine Mehrheit in diesem Hohen Hause erhielte, dazu beitra- gen, das Gewissen einiger Kolleginnen und Kollegen zu beruhigen. Aber den Menschen, den Betroffenen, wür- den wir mit diesem Antrag relativ wenig helfen, und zwar deshalb, weil diese Richtlinie an den Lebenswirk- lichkeiten der Menschen vorbeizielt. Wir reden doch gerade über eine Vielfältigkeit im un- mittelbaren Lebensumfeld der Menschen. Die Chancen von beispielsweise kultureller Vielfältigkeit sind schon jetzt in unser aller Alltag greifbar. Deswegen ist es genau der falsche Weg, politische Entscheidungen auf diesem Gebiet nach Brüssel oder Straßburg zu verlagern. Denn nicht zuletzt diese Nähe zur Lebenswirklichkeit der Menschen entscheidet über die Akzeptanz solcher Regelungen. Genau diese Akzeptanz in der Bevölkerung ist es, die wir bei den bisherigen vier EU-Richtlinien zur Gleichstellung so häufig vermissen. Mit dieser neuen, fünften, Richtlinie, die vor inhaltlichen Fehlern nur so strotzt, riskieren wir, diese Akzeptanz noch weiter zu verspielen. Ich will Ihnen dafür gerne einige Beispiele nennen: Erstens. Die Richtlinie sieht unter anderem die Be- weislastumkehr vor. Wir warnen dringend davor, die in Deutschland schon bestehenden Regelungen des Allge- meinen Gleichbehandlungsgesetzes, AGG, auf andere Rechtsbereiche auszudehnen. Denn was bedeutet das in der Praxis? Es muss zukünftig noch mehr dokumentiert und archiviert werden, um im Streitfall abgesichert zu sein. Zweitens. Die Richtlinie enthält eine Fülle an unbe- stimmten Rechtsbegriffen. So ist im Text von „einer we- niger günstigen Behandlung“, „unverhältnismäßigen Be- lastungen“, „grundlegenden Veränderungen“ oder von „angemessenen Vorkehrungen“ die Rede. Dies fördert die Rechtsunsicherheit bei den Unternehmen, da für sie nicht absehbar ist, welche Art von Maßnahmen von ih- nen konkret verlangt werden. Die Maßnahmen müssen von den Unternehmen bereits „im Voraus vorgesehen“ werden, unabhängig davon, ob zum Beispiel eine Nach- frage von Kunden mit Behinderung überhaupt vorliegt. Von diesen Regelungen wären insbesondere kleine mit- telständische Unternehmen betroffen, für die die gefor- derten Maßnahmen einen erheblichen finanziellen und bürokratischen Aufwand darstellen. Damit vergrätzen Sie diejenigen, die wir noch stärker als bisher für Diver- sity-Strategien begeistern wollen: die Unternehmen in unserem Land. Drittens. Auch das in der Richtlinie enthaltene Diskri- minierungsmerkmal „Weltanschauung“ sehen wir sehr kritisch, gerade in Bezug auf den Missbrauch durch radi- kale Gruppierungen. Zur Erinnerung: Als das AGG ver- abschiedet wurde, hat man sich bewusst dafür entschie- den, auf das Merkmal „Weltanschauung“ zu verzichten. Den Grund für diese Entscheidung will ich Ihnen gerne noch einmal nennen: Man sah die Gefahr, dass zum Bei- spiel Anhänger rechtsradikalen Gedankenguts versuchen könnten, sich Zugang zu Geschäften zu verschaffen, der ihnen aus anerkennenswerten Gründen verweigert wird. Würde diese neue Richtlinie, wie Sie von Bündnis 90/ Die Grünen es fordern, verabschiedet, könnte genau die- ses Problem erneut auftreten. Wollen Sie das? Viertens. Der Richtlinienentwurf der Kommission greift schwerwiegend in die Abschluss- und Gestaltungs- aspekte der Vertragsfreiheit ein. Die Vertragsfreiheit gehört zu den Grundpfeilern unserer sozialen Marktwirt- schaft und damit unserer Wirtschaftsordnung. Im Zivil- recht gilt grundsätzlich Vertrags- und Wahlfreiheit und damit das Recht, keine Gründe dafür benennen zu müs- sen, einen Vertrag abzuschließen oder zu verweigern. Würde man jede Bevorzugung als Diskriminierung anse- hen, so stünde der gesamte Zivilrechtsverkehr unter ge- nerellem Diskriminierungsverdacht. Auch das kann man nicht wirklich wollen. Es ist der Vertragsfreiheit fremd, dem Einzelnen vorzuschreiben, welche Gesichtspunkte für den Abschluss oder die Gestaltung eines Vertrages maßgeblich sein dürfen. Es gäbe noch etliche weitere Punkte. Um es kurz zu machen: Für uns Liberale ist dieser Entwurf insgesamt nicht geeignet, die Freiheit des Einzelnen mit den be- rechtigten Anliegen von Gesellschaft und Wirtschaft zu einem vernünftigen Ausgleich zu bringen. Es wäre ärgerlich, wenn das Ziel, Gerechtigkeit durch Gleichbehandlung zu schaffen und Diskriminierung auch im Privatrecht zu vermeiden, wegen mangelnder Akzeptanz einer unnötig ausufernden Regelung verfehlt würde. Ich glaube nicht, dass es uns gelingen kann, den Menschen die Vorteile von Vielfalt und Toleranz quasi am Aktenschrank zu vermitteln. Deswegen ist es so wichtig, dass wir klar formulieren, wofür wir sind, und endlich damit beginnen, die Men- schen auf die Chancen der Vielfalt hinzuweisen, ohne zusätzliche Ängste und Unsicherheit durch die Umset- zung überflüssiger Richtlinien zu verursachen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3649 (A) (C) (D)(B) Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang im Üb- rigen eine Pressemitteilung des Büros gegen Altersdis- kriminierung, das, wie die Grünen, zwar die ablehnende Haltung der Bundesregierung zur Richtlinie kritisiert, aber gleichzeitig feststellt: … im April 2009 stimmten sie – die Abgeordneten des EP – mit immerhin 363 zu 226 Stimmen für die neue An- tidiskriminierungsrichtlinie. Das war möglich, weil die 5. Antidiskriminierungsrichtlinie so viele Aus- nahmen von der Regel enthält, so offen für juristi- sche Interpretationen ist, wie keine ihrer Vorgänge- rinnen. Es sind genau diese juristisch offenen Fragen und die vielen Ausnahmen von der Regel, die bei den Menschen die angesprochenen Ängste verursachen und Verwirrung stiften. Auch die letzte Bundesregierung stand dieser neuen Antidiskriminierungsinitiative der EU-Kommission ab- lehnend gegenüber. Damals wurde darauf verwiesen, dass zunächst die Erfahrungen mit dem in Kraft getrete- nen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz abgewartet werden sollen. Ich möchte Ihnen auch eine interessante Feststellung der Antragsteller in ihrer eigenen Antragsbegründung nicht vorenthalten. Dort heißt es: Das deutsche Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz … mit seinem horizontalen Ansatz geht – bei allen Mängeln bei den Instrumenten – in diesem Punkt bereits über das … europäische Recht hinaus … Wofür brauchen wir in Deutschland dann überhaupt eine weitere Richtlinie, wenn wir deren Inhalt mit dem AGG bereits umgesetzt haben? Sie entgegnen: Um ein positives Zeichen in der EU für Gleichstellung und Anti- diskriminierung zu setzen. Ich bin der Meinung, bevor wir anderen Ländern gute Ratschläge zur Antidiskrimi- nierung geben, sollten wir zunächst unsere eigene Ge- setzgebung ordentlich prüfen und gegebenenfalls auftre- tende Mängel beseitigen. Schließlich würde das den Menschen in unserem Land tatsächlich helfen. Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Eines der Hauptargu- mente der Gegner der Antidiskriminierungsrichtlinie ist, dass es – angeblich – kaum Diskriminierungstatbestände gäbe. Ein Blick ins „richtige Leben“ genügt, dies ad ab- surdum zu führen. Menschen, die anderer ethnischer Herkunft oder homosexuell sind, die mit Behinderungen leben oder ein höheres Alter haben, erleben praktisch täglich Benachteiligungen bzw. Herabwürdigungen. Oft sind diese sehr subtil. Häufig ist den Diskriminierenden nicht einmal bewusst, dass sie mit ihren – üblen – Scher- zen, Gesten oder Haltungen Menschen verletzen. Das zu ändern ist eine Herkules-Aufgabe. Der Gesetzgeber, also wir, kann dazu seinen Teil bei- tragen, indem er Diskriminierungen jeglicher Art ächtet und Zuwiderhandlungen mit spürbaren Sanktionen be- legt. Damit sind längst nicht alle Diskriminierungen be- seitigt, aber es ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Derzeit ist der Antidiskriminierungsschutz EU-weit äußerst uneinheitlich geregelt. Einen gemeinsamen Stan- dard gibt es nur beim Schutz vor Diskriminierung am Arbeitsplatz. Ausformuliert sind auch die Rechte in Be- zug auf Geschlecht und ethnische Zugehörigkeit. Ich betone – denn mir scheint das immer wieder not- wendig zu sein –: Die Rechte sind ausformuliert. Die Realität sieht noch immer anders aus; Ungleichbehand- lung und Ungerechtigkeiten sind Alltag, auch in Deutschland. Die neue Richtlinie von 2008 soll europaweit einheit- liche Standards in Bezug auf Gleichbehandlung unge- achtet der Religion oder der Weltanschauung, einer Be- hinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung schaffen. Was ist daran verwerflich? Damit die Richtli- nie gelten kann, bedarf es der Zustimmung aller im Eu- roparat vertretenen Länder. Und nun wird es spannend, bzw. hier beginnt unsere konkrete Verantwortung: Deutschland blockiert. Die Ko- alition hält den Richtlinienentwurf für ungeeignet. Allen voran „argumentiert“ die FDP mit der Gefahr der Überre- gulierung. „Die Freiheit des Einzelnen“, so die FDP in ih- rem Antrag zur Fortsetzung der Blockadehaltung Deutschlands vom Februar 2009 (Drucksache 16/11682), sei nicht „mit berechtigtem Anliegen von Wirtschaft und Gesellschaft zu einem vernünftigen Ausgleich zu brin- gen“. Die unternehmerische Freiheit werde gefährdet. Zur unternehmerischen Freiheit gehört jedoch keines- falls das Recht, irgendjemanden diskriminierend zu be- handeln. Und nun wird es noch spannender: Die Richtlinie, der die Koalition nicht zustimmen will, geht kaum über die Bestimmungen des Allgemein Gleichbehandlungsgeset- zes, AGG, von 2006 hinaus. Der Geltungsbereich des AGG bezieht sich, wie in der Richtlinie gefordert, auf den Sozialschutz, soziale Vergünstigungen, die Bildung und den Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen einschließlich Wohnraum und Verkehr. In Hinblick auf Menschen mit Behinderungen geht der Richtlinienentwurf auch nicht weit über die Bestim- mungen der UN-Konvention zu den Rechten von Men- schen mit Behinderungen – von Deutschland ratifiziert – hinaus. Die Verpflichtung zur Schaffung diskriminierungs- freier Zugänge zu Sozialschutz, sozialen Vergünstigun- gen, Gesundheitsdiensten und Bildung besteht also be- reits. Die Koalition verhindert also, dass europaweit gilt, was in Deutschland schon seit 2006 im Gesetzblatt steht. Um es ausnahmsweise einmal mit den Worten meines Kollegen und Fraktionsvorsitzenden Gregor Gysi auszu- drücken: „Ja, wo leben wir denn?!“ Können Sie mir bitte nachvollziehbar erklären, weshalb Sie in Deutschland alte Menschen vor Diskriminierung schützen wollen, aber in anderen EU-Ländern nicht? Was spricht ernsthaft gegen ein europaweites Engagement für Gleichbehand- lung? Die Regierung, agierend als Interessensvertreter der Wirtschaft, hat Angst vor Verbandsklagerechten, Be- 3650 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 (A) (C) (D)(B) weislastumkehr, vor hohen Schadensersatzforderungen, die nach dem neuen Richtlinienentwurf nicht mehr nach oben hin begrenzt werden dürfen. Aber da kann ich Sie – als Linker und Interessenver- treter der Betroffenen – dreifach beruhigen. Erstens. Wenn nicht diskriminiert wird, wird nicht massenhaft geklagt. Zweitens. Wenn nicht diskriminiert wird, ist die Höhe der Schadensersatzforderungen egal. Drittens. Die Bestimmungen der Richtlinie in Bezug auf die barrierefreie Zugänglichkeit insbesondere für Menschen mit Behinderungen zu öffentlichen Gütern, Gebäuden und Wohnraum enthalten viele weit ausleg- bare Ausnahmeregelungen. Die EU schützt mit ihrem Richtlinienentwurf vor „un- verhältnismäßige[n] Belastungen“, Art. 4 Ziff. 2 RLE. Unternehmen müssen nur dann für Umbauten oder Ähn- liches zahlen, wenn es sie nicht ruiniert. Die von Ihnen befürchtete Rechtsunsicherheit ist ei- gentlich in Ihrem Sinne. Das bedauere ich wiederum; denn die vielen Ausnahmeregelungen schwächen den Schutz vor Verstößen gegen elementare Menschen- rechte. Mit ihrem Blockadeverhalten zeigt die Bundesregie- rung: Eine Kultur der Teilhabe und Antidiskriminierung ist ihr nicht wichtig. Vielfalt gilt nur dann als schützens- wert, wenn sie der Nutzung von Arbeitskräftepotenzial dient, wenn sie den Wirtschaftsstandort Deutschland aufwertet. Die „Antidiskriminierungspolitik“ der Koali- tion soll nicht Chancengleichheit und Solidarität europa- weit fördern, sondern lediglich das reibungslose Zusam- menarbeiten von Beschäftigten, die immer heterogener werden, organisieren. Ich möchte zum Schluss darauf hinweisen, dass es die Koalition selbst war, die zu Beginn ihrer Regierungszeit, im Dezember 2009, mit einem eigenen Antrag, Drucksa- che 17/257, mit dem Titel „Menschenrechte weltweit schützen“ bekannte: Angehörige von Minderheiten bedürfen eines um- fassenden staatlich gewährleisteten Schutzes, um ihr Recht auf Selbstbestimmung ausüben zu kön- nen. Meine sehr verehrten Damen und Herren, nehmen Sie sich eigentlich selbst ernst? Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit dem Lissabon-Vertrag ist der Prozess der europäischen Integration auf eine neue Stufe gehoben worden. Die Werte, auf die sich die Union gründet, zeichnen sich in Art. 2 des Vertrags über die Europäische Union, EUV, ausdrücklich auch durch Nichtdiskriminierung aus. Demzufolge kämpft die Union gegen soziale Ausgren- zungen und Diskriminierungen, wie Art. 3 Abs. 3 EUV festhält. Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, AEUV, benennt in Art. 19 Diskriminierungen aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion und Weltanschauung, einer Be- hinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung als solche, die von der Union in allen Bereichen ihrer Zu- ständigkeit zu bekämpfen sind. Hierzu kann der Rat nach Zustimmung des Europäi- schen Parlaments einstimmig geeignete Vorkehrungen treffen. Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, solche Maßnahmen in ihren jeweiligen nationalen Rechtsord- nungen zu verankern. Im Jahre 2000 entstanden die beiden Richtlinien zur Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse und eth- nischen Herkunft sowie zur Verwirklichung der Gleich- behandlung in Beschäftigung und Beruf. 2004 und 2006 folgten die Richtlinien zur Gleichbehandlung von Män- nern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen und zur Verwirklichung des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbe- handlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Be- schäftigungsfragen. Nach dem damit erreichten Niveau des europäischen Diskriminierungsschutzes ist festzuhalten, dass für die unterschiedlichen Diskriminierungsmerkmale – leider – unterschiedliche Schutzstandards gelten. Manche Richt- linien gelten nur für bestimmte Merkmale, manche an- dere gelten für alle Merkmale, aber nur für bestimmte Lebensbereiche. Wir sind in Deutschland einen konsequenteren Weg gegangen. Mit dem allgemeinen Antidiskriminierungs- gesetz hat Rot-Grün einen Vorschlag eines vollwertigen Diskriminierungsschutzes in allen Lebensbereichen und unter Bezugnahme auf alle Diskriminierungsmerkmale gemacht. Die Große Koalition, also auch die Union, hat diesen Vorschlag übernommen und nur unwesentlich ab- geändert Gesetz werden lassen. Uns ist damit – ich sage dies bei aller fortbestehenden Kritik an den gewählten Instrumenten und einzelnen Regelungen – mit dem All- gemeinen Gleichbehandlungsgesetz ein Diskriminie- rungsschutz gelungen, der dem europäischen Geist entspricht, dabei aber über die bisher zustande gekom- menen europäischen Richtlinien hinausgeht. Nunmehr hat die EU-Kommission im Sommer 2008 einen Richtlinienvorschlag zur Anwendung des Grund- satzes der Gleichbehandlung ungeachtet der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung vorgelegt. Die Richtlinie soll auch außerhalb der Bereiche der Beschäftigung und des Berufs für die Bereiche Sozialschutz, soziale Ver- günstigungen, Bildung sowie Zugang zu Gütern und Dienstleistungen gelten. Mit ihr sollen die bestehende Hierarchie der Diskriminierungsmerkmale und ihre nur sektorale Bekämpfung überwunden werden. Das Euro- päische Parlament hat im April 2009 diese Initiative un- terstützt und eigene Vorschläge zum Diskriminierungs- schutz gemacht. Aus unserer Sicht sind dies Selbstverständlichkeiten; jedenfalls sind es Regelungen, die bereits Bestandteil des deutschen nationalen Rechts sind. Umso unverständlicher ist, dass sich die Bundesregierung darauf festgelegt hat, Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3651 (A) (C) (D)(B) das Zustandekommen dieser Richtlinie zu sabotieren. Da- mit bezieht die Bundesregierung offen Front gegen die spanische Präsidentschaft, die die Gleichstellungspolitik zu einer ihrer wichtigsten Aufgaben erklärt hat. Aber auch für Belgien und Ungarn ist das Vorgehen der Bundes- regierung wie ein Schlag ins Gesicht, haben doch diese Mitgliedstaaten in ihrem Triopräsidentschaftsprogramm erklärt, alle Formen der Diskriminierung in Europa be- kämpfen und im Bereich der Nichtdiskriminierung neue Akzente setzen zu wollen. Ausdrücklich zählt dazu die Verabschiedung der 5. Gleichstellungsrichtlinie. Mit ihrem Verhalten sabotiert die Bundesregierung Regelungen in den anderen Mitgliedstaaten, die in Deutschland längst Gesetz sind. Diese irrationale Politik ist nur mit der Aversion der FDP und von Teilen der Union gegen jede Bekämpfung von Diskriminierungen durch staatliche Regelungen zu erklären. Denn sie sehen Antidiskriminierungsanstrengungen nur als finanzielle Belastungen der Wirtschaft, und sie sind eher bereit, der deutschen Wirtschaft ökonomische Nachteile gegenüber der europäischen Konkurrenz zuzufügen, indem sie die deutsche Wirtschaft mit den Kosten der Beachtung des AGG belasten, die europäischen Konkurrenten aber von diesen Kosten freihalten wollen, als sich zu einer kohä- renten Diskriminierungsbekämpfung auf europäischer Ebene zu bekennen. Wir Grünen fordern mit unserem Antrag die Koalition auf, ihren irrationalen und für das Ansehen Deutschlands in Europa schädlichen Kurs aufzugeben und die spani- sche Präsidentschaft zu unterstützen. Ich will mit den Worten von Amnesty International schließen, die diese Menschenrechtsorganisation an die Bundesregierung gerichtet hat: Vor allem aber sendet Deutschland – mit dem Verhalten der Bundesregierung – ein verheerendes Signal aus: Dass die EU nicht tä- tig werden müsse, um eine Diskriminierung auf- grund sexueller Orientierung, Religionszugehörig- keit, Alter oder Behinderung zu bekämpfen, die zur Wirklichkeit in Europa gehört, und dies nicht nur auf dem Arbeitsmarkt. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, gestern wurden im Rechtsausschuss Sachverständige zu dem Vorschlag der SPD, der Linken und von uns Grünen gehört, das Merkmal der sexuellen Identität in den Dis- kriminierungsschutz des Grundrechts aus Art. 3 Abs. 3 unserer Verfassung aufzunehmen. Ein von der Union be- nannter Sachverständiger verstieg sich zu der Behaup- tung, die Integration von Migranten muslimischen Glau- bens erlaube einen solchen Schutz vor Diskriminierung in der Verfassung nicht, weil er von diesen Menschen abgelehnt werde. Niemand von Ihnen hat im Ausschuss widersprochen. Es war beklemmend zu sehen und zu hö- ren, dass Ihnen selbst solche unglaublichen „Argu- mente“ recht sind, um sich gegen jeden weiteren Diskri- minierungsschutz zu wehren. Heute haben Sie eine Gelegenheit, Ihre Position noch- mals zu überdenken. Dazu fordern wir Sie ganz aus- drücklich auf. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung der Abgabenordnung (Abschaf- fung der strafbefreienden Selbstanzeige bei Steuerhinterziehung) (Tagesordnungspunkt 19) Manfred Kolbe (CDU/CSU): Lassen sie mich zu- nächst vorausschicken, dass meine Fraktion, die CDU/ CSU, die Steuerhinterziehung energisch bekämpft. Wäh- rend bis 2005 unter Rot-Grün in dieser Richtung wenig passiert ist, hat die unionsgeführte Große Koalition seit 2005 zahlreiche gesetzgeberische Maßnahmen zur Be- kämpfung der Steuerhinterziehung auf den Weg ge- bracht. Der verfassungsrechtlich problematische § 370 a Ab- gabenordnung, gewerbsmäßige oder bandenmäßige Steuerhinterziehung, wurde gestrichen und die entspre- chende Qualifizierung als neuer § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 5 AO neu gefasst. Damit ist eine wirksamere Straf- verfolgung der bandenmäßigen Hinterziehung von Um- satz- oder Verbrauchsteuern möglich. Das Gesetz zur Neuregelung der Telekommunika- tionsüberwachung vom 21. Dezember 2007 nimmt erst- mals mit diesem § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 5 AO einen qualifizierten Steuerhinterziehungstatbestand in den Katalog des § 100 a StPO auf, der ohne Wissen der Be- troffenen eine Telekommunikationsüberwachung und Aufzeichnung ermöglicht. Damit wird erstmalig eine Te- lekommunikationsüberwachung für schwere Steuerhin- terziehungstatbestände ermöglicht. Das Jahressteuergesetz 2009 vom 19. Dezember 2008 verlängert in § 376 AO die Verjährungsfrist für beson- ders schwere Fälle der Steuerhinterziehung auf zehn Jahre. Auch die Steuerfahndung in Deutschland war grund- sätzlich erfolgreich. Jahr für Jahr haben wir rund 40 000 Verfahren, 17 000 Strafverfahren und Mehreinnahmen in Milliardenhöhe. Zu begrüßen ist auch, dass der Bundesgerichtshof die Strafzumessungsregeln bei Steuerhinterziehung präzi- siert hat. Der Strafrahmen von bis zu zehn Jahren Frei- heitsstrafe ist durchaus ausreichend, als problematisch empfunden wurde aber mitunter dessen mangelnde Aus- schöpfung durch einzelne Urteile. Der Bundesgerichtshof hat jetzt entschieden, dass Freiheitsstrafen künftig schon bei einem Steuerschaden von mehr als 50 000 Euro möglich und ab 100 000 Euro unerlässlich sind, allerdings bei Ersttätern noch zur Be- währung ausgesetzt werden können. Bei Hinterziehung in Millionenhöhe schließt der Bundesgerichtshof die Möglichkeit einer Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Be- 3652 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 (A) (C) (D)(B) währung grundsätzlich aus. Wer künftig Steuern in Mil- lionenhöhe hinterzieht, sitzt tatsächlich im Gefängnis. Schließlich haben wir im Mai 2009 den Koalitionsan- trag „Steuerhinterziehung bekämpfen“ beschlossen, der eine weitere Vielzahl von zu ergreifenden Maßnahmen enthält. Insbesondere fordert er im internationalen Be- reich eine Überarbeitung und umfassende Erweiterung der Europäischen Richtlinien zur Zinsbesteuerung und einen verbesserten Informationsaustausch auf internatio- naler Ebene. Besonders im internationalen Bereich sind wir durch Anstrengungen aller großen Industriestaaten deutlich weitergekommen und haben jetzt weitgehend einen In- formationsaustausch nach Art. 26 des OECD-Musterab- kommens durchgesetzt. Derzeit laufen zahlreiche Ver- handlungen mit Staaten, die dazu bisher nicht bereit waren. Der heute in erster Lesung von der Fraktion der SPD eingebrachte Entwurf eines Gesetzes zur Abschaffung der strafbefreienden Selbstanzeige bei Steuerhinterzie- hung macht gleich zu Beginn durch dreierlei erstaunli- che Umstände auf sich aufmerksam: Erstens liegt dieser seit langem angekündigte Gesetz- entwurf erst seit gestern ausformuliert dem Hause vor. Diese lange Reife ist offenbar auf heftige Geburtswehen zurückzuführen. Offenbar war man sich auch unter So- zialdemokraten nicht ganz einig, ob es tatsächlich sinn- voll ist, die seit über 100 Jahren in der deutschen Steuer- rechtsordnung verankerte Möglichkeit der strafbefreienden Selbstanzeige abzuschaffen. Jedenfalls dort, wo die Sozialdemokraten noch regieren und den Fi- nanzminister stellen, herrscht eine etwas realitätsbezoge- nere Sichtweise. So verteidigte der rheinland-pfälzische Finanzminister Carsten Kühl, SPD, die Strafbefreiung durch Selbstanzeige bei Steuerdelikten gegen Kritik aus seiner Partei mit den Worten: Ich bin dafür, dass wir die Möglichkeit der Strafbe- freiung durch Selbstanzeige beibehalten. Letztlich profitiert der Staat davon, denn wer sich selbst an- zeigt, muss alles offenlegen. Das ist viel effektiver als der Einsatz von Ermittlern. Zweitens fällt auf, dass die Sozialdemokraten ihren Gesetzentwurf nicht mit übertriebender Energie einbrin- gen, wenn sie heute auf die mündliche Erörterung im Plenum verzichten und alle Reden zu Protokoll gegeben werden. Drittens schließlich ist der Gesetzentwurf denkbar einfach gestrickt und fordert die völlige Abschaffung der strafbefreienden Selbstanzeige. Anstatt sich differen- zierte Gedanken zu machen, wie dieses Instrument fort- entwickelt werden kann und kriminalpolitische Zielset- zungen einerseits und fiskalpolitische Zielsetzungen andererseits besser vereinbart werden können, heißt es nur: Weg damit! Dies ist zu einfach gestrickt und wird der Bekämpfung der Steuerhinterziehung nicht gerecht. Meine Fraktion tritt einerseits für die Beibehaltung der strafbefreienden Selbstanzeige gemäß § 371 Abga- benordnung ein, möchte aber andererseits dort, wo die Selbstanzeige mit krimineller Energie bereits von An- fang an in die Steuerhinterziehungsplanung mit einbezo- gen wird, engere Schranken ziehen. Die „strafbefreiende Selbstanzeige“ ist der verfas- sungsrechtlich anerkannte Weg zurück in die Steuer- ehrlichkeit. Den Regelungen der strafbefreienden Selbst- anzeige nach § 371 AO liegen dabei fiskal- und kriminalpolitische Zielsetzungen zugrunde: Aus fiskal- politischer Sicht ist § 371 AO ein Instrument zur „Er- schließung bisher verheimlichter Steuerquellen“. Dem an einer Steuerhinterziehung Beteiligten soll mit der in Aussicht gestellten Straffreiheit ein attraktiver Anreiz zur Berichtigung vormals unzutreffender oder unvoll- ständiger Angaben gegeben werden, um im Interesse des Fiskus eine diesem bislang verborgene und ohne die Be- richtigung möglicherweise auch künftig unentdeckt blei- bende Steuerquelle zu erschließen. Daneben kommt in § 371 AO auch das strafrechtliche Prinzip zum Aus- druck, dass eine „tätige Reue“ – mit der die Wirkungen einer Tat rückgängig gemacht werden – dem Täter zugu- tekommen soll. Änderungen in Bezug auf § 371 AO müssten daher sowohl auf die fiskalpolitischen als auch auf die kriminalpolitischen Belange abgestimmt werden. Weiter ist die strafbefreiende Selbstanzeige auch kein deutsches Sonderrecht, sondern sie gibt es in der einen oder anderen Form auch in den meisten anderen europäi- schen Ländern und in den USA. Schließlich ist die strafbefreiende Selbstanzeige der- zeit ein besonders wirkungsvolles Instrument im Kampf gegen die Steuerhinterziehung. Seit dem Ankauf der sogenannten Steuersünder-CD in diesem Winter haben sich bisher circa 16 000 Steuer- pflichtige auf Grundlage des § 371 Abgabenordnung selbst angezeigt. Experten rechnen mit wöchentlich 1 000 neuen Anzeigen, wobei mit jeder neuen angekauf- ten Steuersünder-CD auch die Zahl der Selbstanzeiger höher werden wird. Die Finanzministerien von Bund und Ländern rechnen mit Steuernachzahlungen von mehr als 1 bis zu 3 Milliarden Euro. Genauere Schätzun- gen wird es beim Bericht der Steuerschätzung im Mai geben. Ohne das Instrument der Selbstanzeige würden diese Beträge niemals vereinnahmt werden können. Auch bei einer Verdoppelung oder Verdreifachung der Zahl der Steuerfahnder könnten die Tausenden von Fäl- len niemals ausermittelt werden. Aber: Die Flut der Selbstanzeigen zeigt aber eben auch, dass vielfach nicht ehrliche Reue der ausschlaggebende Grund für die Rückkehr zur Steuerehrlichkeit ist, sondern vielmehr die Angst vor Entdeckung oder das Nichtaufgehen einer kühl kalkulierten Hinterziehungsstrategie. Wir werden deshalb die Erkenntnisse aus dem Ankauf der Steuerhin- terzieher-CDs zum Anlass nehmen, die strafbefreiende Selbstanzeige mit dem Ziel zu überprüfen, dass dieses Instrument zwar notwendigerweise erhalten bleibt, aber nicht mehr als Gegenstand einer Hinterziehungsstrategie missbraucht werden kann. Folgende Änderungen wären zielführend: Erstens: Vorverlegung des Zeitpunktes der Tatent- deckung, damit für die Inanspruchnahme der strafbefrei- enden Selbstanzeige der Spielraum für Hinterziehungs- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3653 (A) (C) (D)(B) strategien genommen wird. Es sollte schon auf einen tatsachengestützten Anfangsverdacht abgestellt werden und nicht mehr wie bisher auf eine konkrete Tatent- deckung – Wahrscheinlichkeit der Verurteilung. Außer- dem sollte schon der Zeitpunkt des Zugangs der Betriebs- prüfungsanordnung und nicht mehr erst das Erscheinen des Amtsträgers zur steuerlichen Prüfung maßgeblich sein. Zweitens: Ausschluss der sogenannten Teilselbst- anzeige, mit der sich Steuerhinterzieher häufig nur scheibchenweise je nach aktuellem Entdeckungsrisiko erklären. Steuerhinterzieher sollen nur noch durch eine umfassende Selbstanzeige die Strafbefreiung in An- spruch nehmen können. Damit würde verhindert, dass sich Steuerhinterzieher etwa nur im Hinblick auf die Schweiz anzeigen, verstecktes Geld in anderen Ländern jedoch weiter verschweigen. Sämtliches auf der Welt verstecktes Geld muss künftig offengelegt werden, damit die Strafbefreiung gewährt wird. Drittens: Einführung eines Zinszuschlages, damit Steuerhinterzieher bei Inanspruchnahme einer strafbe- freienden Selbstanzeige am Ende wirtschaftlich auch spürbar stärker belastet sind als ehrliche Steuerzahler, die lediglich zu spät zahlen – zum Beispiel Stundungs- fälle. Derzeit gilt ein Zinssatz von 6 Prozent sowohl für ehrliche Steuerzahler als auch für Steuerhinterzieher. Eine Abschaffung des § 371 Abgabenordnung wird es mit den Koalitionsfraktionen nicht geben. Wir sind für eine sachgerechte Reform dieser Vorschrift. Ziehen Sie besser Ihren Gesetzentwurf zurück, und lassen sie uns gemeinsam überlegen, wie wir Steuerhinterziehung ef- fektiver bekämpfen können – unter fiskalischen und kri- minalpolitischen Aspekten. Martin Gerster (SPD): Steuerhinterziehung war nie ein Kavaliersdelikt. Sie ist es nicht und wird es niemals sein. So weit, so gut. Das Bekenntnis zu einem ent- schlossenen Kampf gegen alle Formen von Steuerkrimi- nalität hört man in diesem Haus gegenwärtig aus allen Richtungen. Wir dürfen nicht zulassen, dass es zum Lip- penbekenntnis verkommt. Wo andere Leerformeln da- herbeten, wollen wir Sozialdemokraten Steuerhinterzie- hung wirksam bekämpfen. Der von uns eingebrachte Gesetzentwurf führt deshalb den unter Finanzminister Peer Steinbrück mutig beschrittenen Erfolgsweg fort. Seinem Einsatz ist zu verdanken, dass sich das Ge- schäftsmodell „Steueroase“ international auf dem Rück- zug befindet. Das Steuerhinterziehungsbekämpfungsge- setz hat Wirkung gezeigt. Seit Herbst 2008 haben zahlreiche Länder den OECD-Standard zu Bankauskünf- ten akzeptiert. Damit haben sich auch die Chancen, deut- schen Steuerkriminellen auf die Schliche zu kommen, deutlich verbessert. Angesichts dieser erfreulichen Entwicklung ist es jetzt an der Zeit, den Umgang mit der strafbefreienden Wirkung von Selbstanzeigen zu überdenken. Wir wollen Steuerhinterziehern in Zukunft die Möglichkeit nehmen, sich auf diesem Wege ihrer gerechten Strafe zu entzie- hen; denn wir sind überzeugt, dass die bisherige Rege- lung ihren ursprünglichen Sinn verloren hat und zu ei- nem Instrument im strategischen Werkzeugkasten von Tätern verkommen ist, die ihre baldige Überführung fürchten müssen. Wir gehen diesen Schritt im Interesse der überwiegenden Mehrheit unserer Bürgerinnen und Bürger, die ehrlich ihre Steuern zahlen, damit unser Ge- meinwesen seine Leistungen erbringen kann. Deren Ge- rechtigkeitsempfinden wird durch die strafbefreiende Selbstanzeige in empfindlichem Maße verletzt. Umso enttäuschender ist es, dass Schwarz-Gelb – trotz vieler Sonntagsreden – bei der Bekämpfung von Steuer- hinterziehung kaum wahrnehmbares Engagement an den Tag legt. In manchen Bundesländern drängt sich sogar der Eindruck auf, dass CDU und vor allem FDP mehr am aktiven Täterschutz Interesse haben als an der Auf- klärung von Steuerstraftaten. Wie kann es sein, dass sich diese Bundesregierung noch immer nicht auf einen ein- deutigen Kurs im Umgang mit Steuerdaten, die ihr zum Kauf angeboten werden, hat einigen können? Wie kann es sein, dass ein baden-württembergischer FDP-Justizminis- ter sich dem Ankauf entsprechender Datenträger verwei- gert und dafür Bedenken vorschiebt, die sein nordrhein- westfälischer Kollege und Parteifreund offensichtlich in keinem Punkt teilt. Statt solcher taktischer Spielchen wären CDU und FDP besser beraten, ein klares Signal zu setzen: Steuerehrlichkeit ist eine Bürgerpflicht, die sich unser Staat nicht abhandeln lässt. Es darf nicht sein, dass Menschen unser Gemeinwesen über Jahre hinweg und systematisch betrügen – mit dem klaren Kalkül, sich in letzter Sekunde mit einer Selbstanzeige aus dem Sumpf der Kriminalität zu ziehen. Wir beobachten: Das Verhalten der Steuerhinterzieher wird vor allem von der Angst vor Entdeckung geleitet. Mit jeder CD mit Steuer- daten, die den Steuerbehörden einen Ankauf wert er- scheint, rollte eine neue Welle von Selbstanzeigen an. Mittlerweile sind es mehr als 16 000, davon allein 4 300 aus meinem Heimatland Baden-Württemberg. Die Selbstanzeigen kommen und gehen – das Phäno- men der Steuerflucht bleibt bestehen; denn offensicht- lich erscheint vielen Steuerkriminellen das Risiko, er- wischt zu werden, noch zu gering. Deshalb streben wir einen Strategiewechsel an, der das uralte Gezeitenspiel von Steuerflucht und Selbstanzeige neuen Regeln unter- wirft. Wir müssen klare Kante ziehen: Der § 371 der Ab- gabenordnung ist ersatzlos zu streichen. Ab dem 1. Ja- nuar 2011 muss die Tür zur Flucht in die Selbstanzeige geschlossen sein. Bis dahin bleibt jenen, die den Rück- weg in die Steuerehrlichkeit suchen, eine letzte Frist. Um wirksam zu werden, muss diese Maßnahme jedoch durch weitere Anstrengungen flankiert werden. Das heißt, wir müssen unseren Finanzbehörden bereits im Besteuerungsverfahren die notwendigen Mittel an die Hand geben, um auf nationaler, europäischer und inter- nationaler Ebene erfolgreich und effizient zusammenzu- arbeiten. Gleichzeitig muss uns daran gelegen sein, das Schwert der Steuerfahndung so scharf zu halten, dass potenziellen Steuerhinterziehern das Entdeckungsrisiko jederzeit klar vor Augen steht. Deshalb müssen wir den Finanzbehörden die notwendigen Mittel in die Hand ge- ben, um im In- und Ausland effizient zu ermitteln. Der ein oder andere mag nun argumentieren, durch eine Streichung von § 371 AO würde das Element der 3654 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 (A) (C) (D)(B) „tätigen Reue“ zu kurz kommen. Darüber können wir diskutieren. Ich gebe aber zu bedenken: Das Prinzip wird weiterhin im Steuerstrafverfahren berücksichtigt werden. Insofern bieten sich auch ohne die völlige Straf- freiheit bei Selbstanzeige hinreichende Anreize für Steu- erkriminelle, mit den Behörden zusammenzuarbeiten. Wir Sozialdemokraten im Deutschen Bundestag stre- ben mit dem vorliegenden Gesetzentwurf einen Paradig- menwechsel im Umgang mit Steuerhinterziehung an. Nicht mehr und nicht weniger. Auch aufseiten unseres früheren Koalitionspartners gab es ja noch vor kurzem Anzeichen, uns auf diesem Weg zu folgen. Ich denke da nicht nur an den Kollegen Hans Michelbach, sondern vor allem an den saarländischen Ministerpräsidenten Peter Müller, der sich in dieser Frage ganz in unserem Sinne geäußert hat. Ich darf ihn aus der Frankfurter Rundschau vom 22. Februar zitieren: Steuerhinterziehung ist soziales Schmarotzertum. Sie muss konsequent verfolgt werden. … Steuer- hinterzieher dürfen künftig nicht mehr generell straffrei davonkommen, wenn sie sich selbst anzei- gen. … Der Staat kann sich doch nicht seinen An- spruch, Unrecht zu bestrafen, abkaufen lassen. Wer Unrecht begeht, muss dafür geradestehen, egal, ob es Körperverletzung oder ein Steuerdelikt ist, und egal, ob es sich um einen armen Schlucker oder ei- nen Millionär handelt. Leider ist bis auf Ankündigungen nicht viel von Ih- rem Elan übrig geblieben, liebe Kolleginnen und Kolle- gen von der Union. Als es vor der Osterpause um das Thema Steuerkriminalität ging, haben Sie von uns kon- krete Vorschläge eingefordert. Wir legen hier einen kon- kreten Vorschlag vor. Zwischenzeitlich hatten Sie ja mit einem eigenen Gesetzentwurf geliebäugelt. Gestern im Finanzausschuss war nur noch von einem Antrag die Rede. Schlagen Sie sich nicht zu ihrem Koalitionspart- ner ins gelbe Gebüsch! Verpassen Sie nicht die Chance, hier gesetzliche Fakten zu schaffen! Ich lade Sie herzlich ein, sich aus ihrer Koalition der Unwilligen zu lösen und gemeinsam mit uns die mittler- weile überkommene Regelung zur Straffreiheit bei Selbstanzeige aus der Welt zu schaffen. Stimmen Sie un- serem Gesetzentwurf zu, und setzen Sie ein Zeichen, dass es Ihnen mit dem Kampf gegen Steuerkriminalität ernst ist! Frank Schäffler (FDP): „Die Strafe tritt nicht ein, falls der Schuldige, bevor die Sache zur Untersuchung an das Gericht abgegeben ist, seine Angaben an der zu- ständigen Stelle berichtigt oder vervollständigt.“ – Diese Regelung stand im Sächsischen Einkommensteuergesetz vom Dezember 1874. 126 Jahre Rechtsgeschichte wol- len Sie seitens der SPD-Fraktion nun einfach in den Wind schlagen. Und auch auf diesem Gebiet ist es so, wie wir es schon kennen: Die SPD hat elf Jahre den Fi- nanzminister gestellt und blieb in vielen Feldern untätig. Nun, da sie das Ministerium nicht mehr führt, bricht der Aktionismus aus. Sie hätten die strafbefreiende Selbst- anzeige ja längst abschaffen können, wenn Sie denn wirklich davon überzeugt wären. Sie können sich seitens der SPD-Fraktion auch nicht mit Hinweis auf den Koali- tionspartner herausreden. Denn Sie schreiben ja in dem Antrag mehrfach, was die SPD alles gegen die Union durchgesetzt habe. Nach Ihrer eigenen Darstellung hät- ten Sie es dann auch hier schaffen müssen. Aber wahrscheinlich wissen Sie selbst, dass es nicht sinnvoll ist, die strafbefreiende Selbstanzeige abzuschaf- fen. Seit Jahresbeginn haben sich 13 000 Steuerpflichtige selbst angezeigt. Ihre Nachzahlungen summieren sich auf 1,1 Milliarden Euro. Hätte es die strafbefreiende Wirkung der Selbstanzeige nicht gegeben, hätten es viele Steuerpflichtige sicherlich darauf ankommen lassen und sich nicht bei ihrem Finanzamt gemeldet. Der Staat ist bei der Besteuerung auf die Mitwirkung des Steuer- pflichtigen angewiesen. Wenn jedoch ein Strafverfahren läuft, wird die steuerliche Mitwirkungspflicht verdrängt. Dann gilt der Grundsatz, dass sich niemand selbst belas- ten muss. Das Ermittlungsverfahren und das Gerichts- verfahren werden entsprechend aufwendiger und am Ende besteht die Gefahr, dass doch nicht alles aufge- deckt wird. Dies macht deutlich, dass der Zweck der strafbefrei- enden Wirkung der Selbstanzeige ja gerade darin be- steht, die Gleichmäßigkeit der Besteuerung sicherzustel- len. Es ist gerade auch im Interesse der ehrlichen Steuerzahler, dass Steuerhinterzieher sich offenbaren und damit ihrer Steuerpflicht nachkommen. Dadurch können sie umfassend nachbesteuert und auch Mittäter und Gehilfen verfolgt werden. Durch eine Selbstanzeige werden dem Staat auch Steuerquellen für die Zukunft er- schlossen. Hat der Steuerpflichtige die verborgene Steu- erquelle aufgedeckt, so ist es ihm in der Zukunft nicht mehr möglich, diese Quelle nicht mehr anzugeben. Der Staat wird deshalb auch in Zukunft von dieser Steuer- quelle profitieren. Eine Möglichkeit, das Besteuerungsrecht des Staates durchzusetzen, besteht auch in der derzeit stockenden Überarbeitung der EU-Zinsrichtlinie. Dadurch kann eine Quellenbesteuerung im Ausland ermöglicht werden, die höher ist als die deutsche Abgeltungsteuer. Die Bundesregierung ist dabei, den Informationsaus- tausch mit ausländischen Staaten zu verbessern. Wir ma- chen das übrigens, anders als Herr Steinbrück, auch ohne befreundete Staaten zu beschimpfen. Dadurch steigen die Erfolgsaussichten deutlich. Wir werden als Koalition die Einzelheiten der Rege- lung der strafbefreienden Selbstanzeige genau prüfen und sie auch entsprechend ändern. Eine pauschale Strei- chung, wie sie die SPD vorschlägt, lehnen wir ab. Vor allem werden wir aber das Steuersystem einfa- cher und gerechter machen. Laut einer Umfrage der Stif- tung Marktwirtschaft halten rund 50 Prozent der Deut- schen Steuerhinterziehung für vertretbar. Wir werden mit einer Steuerreform dazu beitragen, dass diese Zahl deutlich sinkt. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3655 (A) (C) (D)(B) Richard Pitterle (DIE LINKE): In meiner Nachbar- stadt Leonberg hat die Stadtverwaltung vorgeschlagen, alle fünf Jugendhäuser zu schließen und die Sozialarbei- ter zu entlassen. In meiner Gemeinde Sindelfingen, einst eine der reichsten Städte, wurde beschlossen, eine Schule, die hervorragende Sozialarbeit betreibt, zu schließen. Eine Hortgruppe soll trotz einer langen Warte- liste aufgelöst werden. Menschen, die Kinder in Musik unterrichten, sollen aus einem sozialversicherungs- pflichtigen Arbeitsverhältnis in ein Honorarverhältnis gezwungen werden, wodurch sie ein Stück Lebenssi- cherheit verlieren. Viele Gemeinden reduzieren ihre so- zialen und kulturellen Angebote. Und das alles mit dem Argument, es sei kein Geld da. Aber das Geld ist da. Es liegt bei den Banken in der Schweiz, in Liechtenstein oder auf einer exotischen Insel, weil „ehrenwerte“ Bür- ger dieser Gesellschaft das Geld, das wir dringend zur Finanzierung von wichtigen Aufgaben benötigen, der Besteuerung entziehen wollen. Die genaue Höhe der jährlichen Steuerhinterziehung lässt sich bekanntermaßen nicht genau beziffern. Wenn jedoch durch die Arbeit von Steuerfahndern, trotz des Personalmangels bei den Finanzämtern, im Jahr 2004 1,6 Milliarden Euro zusätzlich eingenommen wurden, kann man sich vorstellen, welche Reserven hier stecken. Der jüngste Fall des Steuer-CD-Ankaufs aus der Schweiz hat die Höhe der Steuerhinterziehungen eben- falls deutlich bewiesen: Bei den bundesdeutschen Fi- nanzämtern sind nach einer Medienmeldung bis heute rund 16 000 Selbstanzeigen mit einer durchschnittlichen Rückzahlung von 60 000 Euro pro Anzeige, also insge- samt circa 1 Milliarde Euro, eingegangen. Da kann man schon eine ziemliche Wut bekommen. Und ganz neben- bei: Steuersünder-CD, das klingt so verharmlosend, ein wenig nach dem Motto: wir sind doch alle Sünder vor dem Herrn. Daher spreche ich lieber von einer Steuerkri- minellen-CD. Laut Medienberichten sollten sogar bis zu 100 000 Deutsche 23 Milliarden Euro an der Steuer vor- bei auf Schweizer Konten deponiert haben und die Schweiz ist ja auch nur eine der sogenannten Steuer- oasen. Das ist doch ein Skandal. Daher habe ich großes Verständnis für den Antrag der SPD, die Straffreiheit bei Selbstanzeigen abzuschaffen. Dieses Anliegen findet auch die Unterstützung meiner Fraktion. Nun lese ich Vorschläge von einigen Finanzpo- litikern der Regierungsparteien, wie die Möglichkeit für eine straflose Selbstanzeige eingeschränkt werden könnte, darunter einige Vorschläge, mit denen ich per- sönlich auch mitgehen könnte. Aber die Frage ist doch, Herr Dautzenberg: Warum entfalten Sie Ihre Fantasie auf diesem Gebiet, nachdem die SPD den Antrag gestellt hatte, die strafbefreiende Selbstanzeige zu streichen? Da kommt doch der Verdacht auf, dass es Ihnen darum geht, den Antrag der SPD aufzuweichen und sich schützend vor die Steuerhinterzieher zu stellen. Wir brauchen jetzt von der Regierung Taten und nicht nur Ankündigungs- politik, die davon ablenkt, dass die Koalition zugelassen hat, dass sich Vermögende legal oder auch illegal der Steuerzahlung entziehen können. Ich appelliere an die Bundesregierung: Sorgen Sie auch durch konsequente Bekämpfung der Steuerhinterziehung dafür, dass die Kommunen wieder ihren Pflichtaufgaben nachkommen können! Sorgen Sie endlich für Steuergerechtigkeit bei uns im Land! Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir diskutieren heute den Gesetzentwurf der SPD zur Ab- schaffung der strafbefreienden Selbstanzeige bei Steuer- hinterziehung. Ich sage es ganz offen: Mich überzeugt weder der Zeitpunkt der Einbringung noch der Inhalt des Vorschlags der SPD. Vor zwei Tagen kannten wir noch nicht mal den Text des Gesetzentwurfs. Auf Biegen und Brechen muss er heute, in der letzten Sitzungswoche des Bundestages vor der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, diskutiert werden. Die SPD-Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfer wollen ab morgen im Land ausschwärmen und sich mit dieser Initiative schmücken. Die Begründung des Gesetzes ist außerordentlich dürftig und kümmerlich. Eigentlich habe ich nur ein „Argument“ in Ihrem Entwurf gelesen: „Erfahrungen der vergangenen Jahrzehnte haben gezeigt, dass die Möglichkeit zur Selbstanzeige mit Straffreiheit keinen Rückgang der Steuerhinterziehung bewirkt, sondern nur den Täter vor Bestrafung bewahrt.“ Im Jahre 2001 hat die damalige Bundesregierung – zuständig waren der sozialdemokratische Finanzminis- ter Eichel und die sozialdemokratische Justizministerin Däubler-Gmelin – auf Anfrage der PDS erklärt: „Bei der Selbstanzeige handelt es sich um ein Rechtsinstrument, das sich über Jahrzehnte hervorragend bewährt hat“ – Bundestagsdrucksache 14/6723. Ein Jahr später hat der stellvertretende Vorsitzende der SPD-Bundestagsfraktion und einer ihrer Finanzex- perten, der Kollege Poß, erklärt, die Selbstanzeige sei eine „goldene Brücke“, die nicht infrage gestellt werden dürfe – siehe Handelsblatt vom 5. April 2002. Ich frage Sie deshalb angesichts ihres heutigen Geset- zesvorschlags: Was ist nun richtig: Hat sich die Selbst- anzeige im Steuerrecht jahrzehntelang hervorragend bewährt oder ist sie seit Jahrzehnten nutzlos und kontra- produktiv? Die strafbefreiende Selbstanzeige bei Steuerhinterzie- hung gibt es in Deutschland durchgehend seit 1874. So hieß es in Art. 30 des Badischen Kapitalrentensteuerge- setzes vom 29. Juni 1874: „Wird die unterbliebene oder zu niedrig abgegebene Erklärung späterhin nachgetragen oder berichtigt, bevor das Vergehen … angezeigt worden ist, so fällt jede Strafe weg.“ Eine Vorschrift, die es seit 140 Jahren ununterbrochen – wenn auch in verschiedenen Gesetzen und Formulie- rungen – gibt, kippt man nicht so mir nichts, dir nichts wegen eines laufenden Wahlkampfs in Nordrhein-West- falen über den Haufen; und das auch noch ohne jede überzeugende Begründung. Wenn die Behauptung der SPD richtig wäre, dass die Selbstanzeige über Jahrzehnte zum Rückgang der Steu- erhinterziehung nichts beigetragen habe, müsste sie we- nigstens verlässliche Zahlen zum Umfang der Steuerhin- 3656 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 (A) (C) (D)(B) terziehung und ihrer Entwicklung über Jahrzehnte vorlegen. Nichts davon können wir in der Begründung lesen, dafür aber mehr vom angeblichen „Rechtsempfin- den der Bevölkerung“. Das Bundesministerium der Fi- nanzen hat auf seiner Homepage die Ergebnisse der Steuerfahndung 2008 zusammengefasst. Dort können wir die Aussage lesen: „Das tatsächliche Ausmaß der Steuerhinterziehung ist nicht messbar.“ Auch zu Ausmaß und Entwicklung der Selbstanzei- gen sind verlässliche Zahlen schwer zu bekommen. Gestern konnten wir im Stern von rund 16 000 Selbst- anzeigen seit Kenntnis vom drohenden Ankauf der Da- ten aus der Schweiz lesen. Das erscheint ein rasanter An- stieg, der uns sowohl fiskalisch als auch rechtspolitisch freuen könnte. Im Jahre 2001 hat die Bundesregierung auf eine An- frage der FDP folgende Zahlen bekannt gegeben: Im Jahr 1998 gab es 10 400, im Jahr 1999 26 365 und im Jahr 2000 27 334 Selbstanzeigen. Es liegt auf der Hand und ist unmittelbar einleuch- tend: Nicht alle, die zur Selbstanzeige greifen, tun dies aus Gründen der moralischen Läuterung. Das wäre auch sehr verwunderlich: Wir verlangen ja nicht mal von den Bürgerinnen und Bürgern insgesamt, dass sie gerne Steuern zahlen. Es reicht in einem Rechtsstaat völlig, wenn sie es tun, weil sie dazu verpflichtet sind. Damit komme ich zum Kernpunkt des Problems, wie wir Grüne ihn sehen: Steuerhinterziehung ist eindeutig eine kriminelle Handlung und kein Kavaliersdelikt. Die wirksamste Bekämpfung – im Sinne der SPD gespro- chen: „der Rückgang der Steuerhinterziehung“ – ist nur zu erreichen durch erhöhten Verfolgungsdruck, ein ho- hes Entdeckungsrisiko, durch eine schnelle und schuld- angemessene Bestrafung, vollständige Nachzahlung der Steuern und Abschöpfung aller Vorteile aus der Straftat. Was ist also zu fordern, welche Maßnahmen sind not- wendig und überfällig? – Wir brauchen die Austrock- nung der Steueroasen, keine Duldsamkeit mehr mit Staa- ten, die steuerrechtlich unkooperativ sind – niemand will ernsthaft, wie es aber der letzte sozialdemokratische Bundesfinanzminister halb im Scherz, aber mit drohen- dem Unterton vorschlug, mit der Kavallerie einmar- schieren; es würde reichen, die Mechanismen der OECD-Standards konsequent anzuwenden –, eine kon- sequente Verfolgung der professionellen Anstifter und Helfershelfer – seien es auch honorige Banken oder Frei- berufler –, eine Aufstockung und Ausrüstung der Steuer- fahndung und nicht zuletzt eine Bundessteuerverwal- tung. Das sind die Kernaufgaben. Der Streit um die Selbstanzeige ist ein populistischer Nebenkriegsschau- platz. Die Selbstanzeige ist eine Rückkehr zu Steuerehrlich- keit und Rechtstreue – aus welchen Motiven auch im- mer. Sie völlig abzuschaffen ist kontraproduktiv und rechtspolitisch verfehlt. Wir Grünen sind überzeugt vom Grundgedanken der Zurückdrängung des Strafrechts auf einen Kernbereich unerträglichen, verwerflichen Verhal- tens und wollen einen Ausbau des Grundgedankens der Straffreiheit bei tätiger Reue und nicht seine völlige Be- seitigung im Steuerstrafrecht. Das bedeutet nicht, dass die Regeln zur Selbstanzeige nicht zu verbessern wären. Wir können Wiederholungs- tätern die rote Karte zeigen. Wir können die Bedingun- gen der Freiwilligkeitsschwelle schärfer fassen, und wir können die Rückkehr zur Steuerehrlichkeit auch teurer als bisher machen: Wenn schon – siehe die „goldene Brücke“ des Kollegen Poß –, dann wollen wir den Brü- ckenzoll erhöhen. Dazu werden wir konkrete und kon- struktive Vorschläge machen. Dem Populismus der SPD werden wir aber nicht folgen. Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Umgang mit Guantánamo-Häftlingen (Zusatztagesordnungs- punkt 5) Rüdiger Veit (SPD): Mit dem vorliegenden Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen soll die Bundesre- gierung aufgefordert werden, die Bitte der USA, Häft- linge aus Guantánamo in Deutschland aufzunehmen, so- lidarisch zu prüfen. Worum geht es hier im Kern? Am 11. Januar 2002 wurden die ersten Gefangenen auf den US-Militärstützpunkt Guantánamo Bay in Kuba ge- bracht. Seither ist das Lager zusammen mit dem Gefängnis Abu-Ghraib zum Synonym für den Exzess im Kampf ge- gen den Terror und zum Sündenfall der USA und damit der westlichen Welt und ihrer Werte, allen voran dem absolu- ten Schutz der Menschenrechte und -würde geworden: Seit sage und schreibe acht Jahren werden in Guan- tánamo nunmehr Menschen ohne Anklage, Anrufung ei- nes Gerichts und ohne anwaltliche Verteidigung ihrer Freiheit beraubt. Unbestritten wurden die Gefangenen Verhörmethoden unterzogen, die Folter und grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung gleich- kommen. Insgesamt wurden in Guantánamo rund 800 Männer interniert. Ende 2009 saßen in Guantánamo immer noch 198 Gefangene. 103 Gefangene sollen in ihre Heimat- länder oder Drittstaaten gebracht werden, weil gegen sie offenbar nichts vorliegt; eine Reihe von Gefangenen will die US-Regierung in den USA vor Zivilgerichten ankla- gen. 45 Gefangene können nicht in ihre Heimat zurückkeh- ren, weil ihnen dort Gefahren für Leib und Leben drohen; zum Teil sogar deshalb, weil sie als Guantánamo-Häft- linge stigmatisiert sind. Bei diesen 45 Personen handelt es sich um Gefangene, die bereits unter der Bush-Regierung befragt und überprüft worden sind und dann noch einmal unter der Obama-Administration und bei denen beide Un- tersuchungen zweifelsfrei ergeben haben, dass gegen sie nichts vorliegt und keine Anklage vor einem US-Gericht erhoben wird. Dieser Sachverhalt wurde mir und weite- ren Kollegen der SPD-Fraktion anlässlich eines Treffens Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3657 (A) (C) (D)(B) am 10. Februar 2010 von Vertretern von ai und von Rechtsanwälten, die Guantánamo-Häftlinge vertreten ha- ben, dargelegt. Darunter war RA Zachary Katznelson, US-amerikanischer Rechtsanwalt und Chefberater für „Reprieve“, einer in London ansässigen Organisation, der sich für unrechtmäßig Inhaftierte sowie zum Tode Verur- teilte einsetzt. RA Katznelson hat 40 Gefangene in Guantánamo vertreten und berichtete glaubwürdig, dass gegen die oben genannten 45 Personen nichts, aber auch gar nichts, vorliegen würde. Ich möchte noch einmal wiederholen: Gegen insge- samt 103 Gefangene wurden keine Verfahren eröffnet. Sie wurden acht Jahre unschuldig und willkürlich in Guantánamo festgehalten und mussten Unvorstellbares erleiden. So steht Guantánamo heute in aller Welt für einen to- talen, verabscheuungswürdigen Bruch mit den Grundla- gen aller demokratischen Rechtsstaaten der westlichen Welt, in deren Reihen sich nach eigenem Selbstverständ- nis sicherlich auch die USA sieht, so dass sie – die inter- nationale Gemeinschaft demokratischer Staaten – ihren Beitrag dazu leisten sollte, dass dieses menschenverach- tende Lager schnellstens aufgelöst wird. Man kann es vereinfacht auch so auf den Punkt brin- gen: Wer Guantánamo kritisiert und zugleich Mitglied dieser westlichen Wertegemeinschaft ist, muss letztlich selbst einen Beitrag leisten wollen, um in seiner Kritik glaubwürdig zu bleiben. Ich darf erinnern: Bereits vor eineinhalb Jahren, im November 2008, fand ein erstes Treffen von ai und An- wälten des US-amerikanischen Center for Constitutional Rights und Innnenpolitikern aller im Bundestag vertrete- nen Fraktionen statt, bei dem die Anwälte auf die schreckliche Lage der Inhaftierten hinwiesen und im Vorfeld der Wahl von Barack Obama die Situation und Bereitschaft europäischer Staaten zur Aufnahme von ehemaligen Guantánamo-Häftlingen sondierten. Im An- schluss an dieses Treffen habe ich je ein Schreiben an den Bundesminister des Auswärtigen Amts und an den Bundesinnenminister geschrieben, in dem ich um die Aufnahme überprüfter und zu unrecht inhaftierter Häft- linge gebeten habe. In den diesbezüglich gleichlauten- den Antworten aus beiden Ministerien wurde ich darauf verwiesen, dass abzuwarten sei, was die „künftige US- Regierung nach ihrem Amtsantritt am 20. Januar 2009 unternehmen wird, um dieses Vorhaben – die Schließung des Gefangenenlagers Guantánamo – umzusetzen“. Heute ist die neue US-Regierung bekanntermaßen seit über einem Jahr im Amt und Guantánamo Bay ist immer noch nicht geschlossen. Allerdings hat die US- Regierung inzwischen offiziell Deutschland um Hilfe bei der Aufnahme von ehemaligen Häftlingen gebeten, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht in ihre Heimat zurückkönnen. Die SPD unterstützt ausdrücklich die Ankündigung von Bundesinnenminister Thomas de Maizière, nunmehr nach Vorliegen entsprechender konkreter Anfragen der USA auch in Deutschland einige Gefangene aufnehmen zu wollen und somit die im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen enthaltene Forderung an die ganze Bundesregie- rung, in eben dieser Weise tätig zu werden. Solche Herangehensweise steht in Kontinuität zur Auffassung unseres Fraktionsvorsitzenden und damali- gen Bundesaußenministers Dr. Frank-Walter Steinmeier und der SPD-Fraktion. Dagegen vorgebrachte Sicherheitsbedenken einiger CDU-Bundestagskollegen und einiger der CDU angehö- renden Länderinnenminister sind abwegig: Bei den in- frage kommenden Menschen handelt es sich ja gerade um solche, die eben nicht wegen des Verdachts terroristi- scher Aktivitäten in den Vereinigten Staaten vor Gericht gestellt werden – gegen die möglicherweise niemals wirklich konkrete Verdachtsmomente vorgelegen haben, sondern von dritter Seite gegen entsprechende „Kopfprä- mien“ an die Vereinigten Staaten „verkauft“ wurden. Allenfalls verständlich ist in diesem Zusammenhang noch die Haltung, vielmehr seien es die USA selbst so- zusagen als Verursacher, die zu einer menschenwürdigen Behandlung dieser gequälten Menschen und damit zu ih- rer Aufnahme in ihren Staat aufgerufen seien. In der Tat, die USA hätte wohl alle Veranlassung zu wahrhaft groß- herziger Wiedergutmachung. Dass dies nicht geschieht, muss man auch gegenüber unserem Verbündeten politisch scharf kritisieren. Jedenfalls darf es die internationale Völkergemeinschaft nicht hinnehmen, dass Gefangene aus Guantánamo in Heimat- und/oder Herkunftsstaaten gebracht werden, in denen ihnen aus welchen Gründen auch immer Gefahren für Leib, Leben oder ihre Freiheit drohen. Daneben gibt es aber auch noch eine ganz andere Pro- blematik zu berücksichtigen, die meines Erachtens bis- her nicht ausreichend beleuchtet wurde: Selbst in Fällen, in denen die USA ihrerseits bereit sein sollten, ehemali- gen Häftlingen die Einreise zu erlauben, ist ja wohl auch die Gefühlslage der Betroffenen zu berücksichtigen. Wem will man es verdenken, dass er sich nicht in die Obhut eben desjenigen Staates begeben will, der ihn wo- möglich jahrelang gequält und mindestens seiner Frei- heit grundlos beraubt hat? Schließlich kann man vom Opfer einer schweren Straftat schlecht verlangen, dass er nach der Tat ins Haus des Täters sozusagen zur Unter- miete einzieht. Dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist zu entnehmen, dass von den europäischen Staaten der- zeit Frankreich, Italien, Ungarn, Albanien, die Schweiz und die Slowakei der Bitte der USA nachgekommen sind und bereits ehemalige Häftlinge aufgenommen bzw. zugesagt haben, dies zu tun. Die Bundesregierung hat jahrelang verlangt, Guan- tánamo zu schließen. Wenn sie nun durch die Aufnahme einiger weniger von Sicherheitsbehörden wiederholt überprüfter ehemaliger Inhaftierter – und meinetwegen auch nach einer nochmaligen eigenständig durchgeführ- ten Überprüfung – die Schließung dieses fürchterlichen Camps beschleunigen kann, dann sollte sie nicht mehr lange zögern. Auch dies ist eine Frage der Glaubwürdig- keit. 3658 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 (A) (C) (D)(B) Ich schlage vor, aus all den vorher genannten Grün- den den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zu unter- stützen. Serkan Tören (FDP): Wie nicht anders zu erwarten, lehnen wir den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü- nen ab. Der Antrag ist weder substanziiert, noch bietet er in- haltlich etwas Neues. Er greift in ein laufendes Prü- fungsverfahren ein, dessen Ausgang noch völlig offen ist. Da dieses Thema allerdings für die FDP besonders es- senziell ist, möchte ich ausführlich darauf eingehen. Auf dem US-amerikanischen Militärstützpunkt Guan- tánamo Bay werden von den USA bis heute circa 180 Ter- rorverdächtige unter rechtsstaatlich zweifelhaften Bedin- gungen gefangen gehalten. Aus Sicht der FDP ist die Schließung des Gefängnisses in Guantánamo ohne Zweifel überfällig. Dieses Lager hätte niemals gegründet werden dürfen. Die Obama-Administration hat mit der erklärten Ab- sicht zur Schließung des Gefangenenlagers Guantánamo einen wesentlichen Politikwechsel bei der Terrorismus- bekämpfung eingeleitet, der sehr im europäischen Inte- resse liegt. Die US-Regierung hat zahlreiche Schritte un- ternommen, um Lösungen für die noch verbliebenen Häftlinge zu finden, etwa eine Freilassung oder fortge- setzte Inhaftierung im Hinblick auf Gerichtsverfahren vor zivilen Straf- oder Militärgerichten. Unsere Position als FDP-Bundestagsfraktion war und ist, dass ehemalige Guantánamo-Häftlinge zunächst von ihren Heimatländern aufgenommen werden müssen. Wenn dies nicht möglich ist, zum Beispiel wegen dro- hender Folter, dann stehen die Vereinigten Staaten in der Pflicht, das von ihnen geschaffene Unrecht zu beseiti- gen. Dazu gehört neben der Frage des Aufenthaltes auch die Beantwortung der Frage der Entschädigung der un- schuldig einsitzenden Häftlinge. Falls eine Aufnahme in den USA nicht möglich oder zumutbar ist, dann sollte sich die Bundesrepublik Deutschland einer Aufnahme nicht grundsätzlich ver- schließen. Es gibt seit Monaten intensive Gespräche zwischen dem Bundesinnenministerium und den ameri- kanischen Behörden. Wir Liberalen begrüßen ausdrück- lich, dass der Bundesinnenminister über konkrete Fälle verhandelt, die für eine Ausreise nach Deutschland in- frage kommen. Es geht hierbei ausdrücklich um „einzelfallbezogene Prüfungen“. Demnach ist zunächst zu prüfen, ob von dem betreffenden Häftling eine Gefahr für die innere Si- cherheit in Deutschland ausgeht. Falls dies nicht der Fall ist, ist zu prüfen, weshalb die jeweilige Person nicht in den Vereinigten Staaten verbleiben oder in ihr Heimat- land reisen kann. Für die FDP-Bundestagsfraktion steht fest, dass wir grundsätzliche Sicherheitsrisiken schon im Vorfeld aus- schließen wollen. Falls wir aus humanitären Gründen ehemalige Häftlinge aufnehmen, müssen alle Sicher- heitsbedenken bei jedem einzelnen Exhäftling geprüft und ausgeräumt werden. Die FDP unterstützt daher un- eingeschränkt das Vorgehen von Bundesinnenminister Dr. Thomas de Maizière. Der Minister agiert aus unserer Sicht sehr vorsichtig und verantwortungsbewusst. Wir teilen in der christlich-liberalen Koalition die Auffassung, dass wir weder Straftäter noch potenzielle Gefährder nach Deutschland holen wollen. Es muss um diejenigen Häftlinge gehen, die selbst nach Einschät- zung der USA jahrelang unschuldig und unrechtmäßig in dem umstrittenen Lager festgehalten worden sind. Auf keinen Fall darf auf Deutschland ein nicht kalkulierbares Sicherheitsrisiko zukommen. Wir gehen davon aus, dass die amerikanische Seite dies genauso gewissenhaft und gründlich prüft, wie unser Bundesinnenminister. Gemeinsam mit unserem Koalitionspartner sind wir uns allerdings auch darüber einig, dass die Prüfung noch nicht abgeschlossen ist. Worum es letztlich auch geht, ist, ob und wie wir der USA als unserem wichtigsten Bündnispartner Hilfeleistung geben können. Daher dür- fen wir uns in dieser Frage nicht verbarrikadieren. Den Antrag der Grünen lehnen wir allerdings schon allein deshalb ab, da er mit der Aufforderung an die Bun- desregierung, solidarisch die Aufnahme von Guan- tánamo-Häftlingen zu prüfen, nichts wesentlich Neues bringt, sondern eine Tatsache beschreibt, welche zurzeit ein Prüfverfahren durchläuft. Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die Linke plädiert ent- schieden dafür, Häftlinge aus Guantánamo aufzuneh- men. Diese Forderung richten wir schon seit langem an die Bundesregierung. Der hauptsächliche Grund hierfür ist ein humanitärer: Die Gefangenen, über die wir hier sprechen, werden keinerlei Straftat beschuldigt. Nicht einmal die USA, die bekanntlich jahrelang Foltermetho- den angewandt haben, können diesen Häftlingen auch nur die geringste Straftat anhängen. Es sind Unschul- dige, die seit Jahren illegal, in völlig unzumutbarer und unmenschlicher Haft gehalten werden, was jedem demo- kratischen Anspruch spottet. Die Frage, die sich stellt, ist natürlich: Was hat Deutschland damit zu tun? Ist das nicht ein Problem der USA, die das Folterlager ja selbst geschaffen haben und jetzt auch selbst damit zurande kommen sollen? Nein, so einfach ist es nicht. Zunächst ist da die humanitäre Seite, die ich gerade angesprochen habe. In den USA können diese Menschen schließlich nicht bleiben, das könnte ih- nen auch keiner zumuten. Die Aufnahmebereitschaft der BRD würde ihnen dagegen endlich die Freiheit bringen, und wir würden damit dem Beispiel anderer Staaten fol- gen. Es gibt aber auch eine politische Begründung: Die Bundesrepublik steckt selbst bis zum Hals im Guantánamo-Sumpf, sie hat sich selbst mitschuldig ge- macht und muss wenigstens ansatzweise Wiedergutma- chung leisten. Das ist übrigens ein Thema, über das die Grünen in ihrem Antrag wohlweislich nicht reden. Schließlich wa- ren sie selbst in jener Regierung, die den USA im Jahr 2001 „unbedingte Solidarität“ gelobt hat und sich dem Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3659 (A) (C) (D)(B) schmutzigen Krieg gegen Afghanistan angeschlossen hat. Schließlich waren die Grünen Teil jener Regierung, die den US-Geheimdiensten beim weltweiten Entführen und Foltern geholfen hat. Ich erinnere an Murat Kurnaz aus Bremen, der vier Jahre in Guantánamo inhaftiert war, ohne dass Rot-Grün auch nur einen kleinen Finger für seine Freilassung bewegt hätte. Ich erinnere an den Ulmer Khaled el-Masri, der nach allem, was wir wissen, von den deutschen Behörden regelrecht an die CIA ver- kauft worden ist und der von den Folgen seiner Haft bis heute schwerst traumatisiert ist. Ich erinnere an den in Italien lebenden Imam Abu Omar, der von US-Diensten illegal festgenommen und über den deutschen Flughafen Ramstein verschleppt wurde. Der Sonderbeauftragte des Europarates, Dick Marty, hat in jahrelanger Kleinarbeit das globale Entführungs- netzwerk der CIA aufgedeckt und dabei auch eindeutig festgestellt, dass etliche europäische Regierungen mas- sive Beihilfe dazu geleistet haben. Auch die Bundesre- gierung hat beide Augen zugedrückt, wenn US-Flug- zeuge durch den deutschen Luftraum, über deutsche Flughäfen Menschen verschleppt haben, die ohne Haft- befehl, ohne Anklage und ohne jegliche Verteidigungs- möglichkeit nach Guantánamo und in andere Folterlager verbracht wurden. Sie hat nichts dagegen getan, stattdes- sen hat sie hinterher jeglichen Aufklärungsversuch nach Kräften vereitelt. Ich erinnere darüber hinaus daran, dass auch deutsche Geheimdienste nach Guantánamo in der Hoffnung gereist sind, aus diesen verschleppten, gefol- terten, traumatisierten Gefangenen noch Informationen herauszulocken und vom Foltersystem der USA zu pro- fitieren. An all diesen Menschenrechtsverbrechen hat sich die damalige Grünen-SPD-Regierung beteiligt, und ich finde es nahezu beschämend, dass die Grünen dazu bis heute nicht stehen wollen und sich hier als unschul- dige Lämmer darstellen. Und dann legen sie einen voll- kommen nichtssagenden Schaufensterantrag vor, in dem die Bundesregierung zu etwas aufgefordert wird, was sie ohnehin tut, nämlich Aufnahmegesuche der USA zu prü- fen. Dieser Antrag bringt uns also in der Debatte über- haupt nicht weiter! Beschämend ist auch das Gebaren vor allem der CSU, deren Vertreter sich in der bisherigen Debatte hinstellen und so tun, als ginge sie das Ganze nichts an. So etwa der bayerische Innenminister Joachim Herrmann, der vor wenigen Wochen barsch erklärte: „Nach Bayern kommt mir keiner rein.“ Hermann vertritt die Logik, die voriges Jahr auch der alte Innenminister Wolfgang Schäuble verfolgt hat: Wer in Guantánamo inhaftiert war, wird schon irgendwie Dreck am Stecken gehabt haben, sonst hätten die USA ihn ja nicht inhaftiert. – Mit dieser Logik lässt sich nun wirklich jedes Willkürregime recht- fertigen. Aus Sicht der Linksfraktion ist es also ein Akt der Wiedergutmachung, wenigstens einigen der Häft- linge eine Zukunftsperspektive in Deutschland zu bieten. Ich will allerdings ausdrücklich betonen, dass es uns hier, anders als im Grünen-Antrag formuliert, nicht um Solidarität mit den USA geht. Es geht uns einzig und al- lein um Solidarität mit den unschuldigen, widerrechtlich eingesperrten Menschen. Es geht uns darum, den Men- schenrechten wieder Geltung zu verschaffen. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Bundesrepublik Deutschland ist in der humanitären Pflicht, Gefangene aus Guantánamo aufzunehmen. Die Menschenrechte sowie die Achtung und der Respekt vor der Würde eines jeden Menschen lassen der Bundesre- publik Deutschland in dieser Frage überhaupt keine an- dere Wahl. Guantánamo ist das Kainsmal und der Schandfleck der westlichen Demokratien in ihrem Kampf um Men- schenrechte. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat dies bereits im Jahre 2006 erkannt, als sie dem Spiegel sagte: Eine Institution wie Guantánamo kann und darf auf Dauer so nicht existieren. Es müssen Mittel und Wege für einen anderen Umgang mit den Gefange- nen gefunden werden. Diese Haltung verdient aktive Unterstützung. Vollkommen zu Recht sagte deshalb Bundesinnen- minister Thomas de Maizière am 8. April 2010 im ZDF- Morgenmagazin: Wenn unser wichtigster Bündnispartner uns um Hilfe bittet, dann ist das allemal eine solidarische Prüfung wert. Und genau dies fordert nun unser Antrag. Wir unter- stützen die Bundeskanzlerin und den Bundesinnenminis- ter damit gegen ihre eigene Fraktion. Denn große Teile der Union sind in der Frage, ob die Aufnahme von Häftlingen aus Guantánamo solidarisch geprüft werden solle, ganz anderer Auffassung als die Bundeskanzlerin und der Bundesinnenminister. Der Fraktionschef der Union hier im Bundestag, Volker Kauder, machte deutlich, dass die Bundestagsabgeord- neten von CDU und CSU die Pläne geschlossen ableh- nen. Der bayerische Innenminister Herrmann, CSU, sagte: „Nach Bayern kommt mir keiner rein.“ Der Vor- sitzende des Innenausschusses des Bundestages, Bosbach, CDU, äußerte, „Es muss ja Gründe geben, wa- rum diese Menschen noch inhaftiert sind, und deshalb gibt es nur zwei Möglichkeiten: Rückkehr in die Heimat- länder oder Aufnahme in den Vereinigten Staaten.“ Erika Steinbach, CDU, meint, es könne nicht sein, dass amerikanische Gerichte den Guantánamo-Häftlingen ein Bleiberecht verweigerten „und als Konsequenz daraus andere Länder Hilfestellung geben sollen“. Der sächsi- sche Ministerpräsident Tillich, CDU, sagte: „Wir sehen uns nicht in der Pflicht. Wir haben sie schließlich auch nicht gefangen genommen.“ Der niedersächsische In- nenminister Schünemann, CDU, schloss für sein Bun- desland die Aufnahme von Häftlingen ebenfalls aus. „Es hat sich gezeigt, dass freigelassene Häftlinge Straftaten begangen haben“, sagte er. Offensichtlich weiß also in der Union die linke Hand nicht, was die rechte tut. Dies wäre nicht weiter neu und auch nicht weiter bemerkenswert, wenn die Leidtragen- den dieser Querelen nicht unschuldige Menschen wären. Doch leider trägt die Union in der Guantánamo-Debatte ihre internen Streitigkeiten auf den Rücken von Gefan- genen aus, die ohne Grund und ohne Anklage seit Jahren eingesperrt sind. Das zeigt einmal mehr, dass es der 3660 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 (A) (C) (D)(B) Union an einem Kompass in der Menschenrechtspolitik fehlt. Menschenrechtspolitik ist nicht nur das Zeigen mit dem Finger auf ferne Länder und das Schwingen von Sonntagsreden. Menschenrechtspolitik bedeutet, auch die Innenpolitik und das eigene konkrete Handeln nach menschenrechtlichen Standards auszurichten. Das haben die CDU-Landesinnenminister offensichtlich vergessen. Dabei müssten sie doch nur dem Bundesinnenminister zuhören: Solidarische Prüfung bedeutet nämlich nichts weiter, als sich für unschuldige Menschen einzusetzen und damit einen Beitrag zur Stärkung der Menschen- rechte und des Völkerrechts zu leisten. Prüfung heißt auch, zu klären, welches Bundesland wie viele Häftlinge aufnimmt. Wenn es am Ende der Prüfung keine Auf- nahme gäbe, wäre dies unsolidarisch. Doch nicht nur unter humanitären Gesichtspunkten ist die Bundesrepublik Deutschland in der Pflicht, Guan- tánamo-Häftlinge aufzunehmen. Auch die transatlanti- sche Partnerschaft mit den USA gebietet eine koopera- tive Grundhaltung der Bundesrepublik Deutschland. Die Schutzbehauptung, wir hätten keine Verantwortung für die Gefangennahme der Häftlinge, ignoriert die still- schweigende Arbeitsteilung im Bündnis. Zu Beginn des Einsatzes hat Deutschland die schwierigeren Aspekte gern seinen Bündnispartnern überlassen, jetzt will die Union nicht einmal ansatzweise dabei helfen, die schlimmen Folgen zu beseitigen. Doch nur weil Deutschland im Ge- gensatz zu den USA in Afghanistan merkwürdigerweise nie Gefangene gemacht hat, sind wir an der Situation der Guantánamo-Häftlinge nicht unschuldig. Wir können nicht einfach so tun, als seien wir nie dabei gewesen. Ge- nau jetzt ist die Zeit gekommen, den USA im Rahmen unseres Bündnisses zur Seite zu stehen. Als Bundeskanzlerin Angela Merkel in der vergange- nen Woche in die USA reisen wollte, hatte sie für Präsi- dent Obama eigentlich bereits ein Geschenk in ihren Koffer gepackt: die Zusage, die Aufnahme von Häftlin- gen aus Guantánamo solidarisch prüfen zu wollen. Die- ses Geschenk musste sie infolge des unionsinternen Wirrwarrs wieder auspacken und wurde so von ihren ei- genen Leuten ohne echte Verhandlungsmöglichkeiten nach Washington D. C. geschickt. Das war die peinliche außenpolitische Auswirkung dieses Hickhacks. Das ist einer Regierungspartei absolut unwürdig und schadet dem Ansehen der Bundesrepublik Deutschland. Unsere Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen macht sich schon seit Jahren für eine Aufnahme unschuldiger Häftlinge aus Guantánamo stark. Denn für uns ist eines ganz klar: Ein Gefangenenlager, wie Guantánamo es war und heute immer noch ist, hätte in dieser Form und unter diesen Umständen bereits gar nicht eröffnet werden dür- fen. Rasch wurde der ganzen Welt klar, dass in Guan- tánamo Menschenrechte und Grundfreiheiten auf das Schlimmste verletzt werden. Das Lager besteht jedoch unter anderem weiterhin fort, weil sich auch für diejeni- gen Inhaftierten, gegen die selbst die USA keine straf- rechtlichen Vorwürfe erheben und die aus Gründen ihrer Sicherheit nicht in ihre Heimatstaaten zurückgeschickt werden können, nicht genügend Drittstaaten für ihre Aufnahme finden. Warum die Bundesrepublik hier nicht Hilfe anbietet, ist mir unbegreiflich. Viele unserer euro- päischen Partner haben es vorgemacht: Frankreich, Ita- lien, Ungarn, Albanien, Portugal, die Schweiz oder die Slowakei. Warum nicht wir? Die Unions-Kakophonie muss jetzt endlich ein Ende haben, damit die Bundesregierung ihren humanitären Verpflichtungen endlich nachkommen kann. Dazu braucht es nicht viel: Wir bitten die Koalitionsfraktionen aus CDU/CSU und FDP nur darum, einem wörtlichen Zitat des von ihnen gewählten Bundesinnenministers zu- zustimmen. Bitte stimmen Sie daher unserem Antrag zu: „Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, die Bitte der USA, Häftlinge aus Guantánamo zu übernehmen, solidarisch zu prüfen.“ Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bun- desminister des Innern: Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Barack Obama, hat von seiner Vorgängerregierung als Erbe das Gefangenlager in Guantánamo übernehmen müssen, ein Erbe, das das An- sehen der USA bis heute belastet. Präsident Obama hat am 22. Januar 2009 angeordnet, alle Insassen des Ge- fängnisses auf Guantánamo überprüfen zu lassen, um eine zeitnahe Schließung zu erreichen. Hinsichtlich der Personen, gegen die die USA strafrechtliche Vorwürfe erheben wollen, bemüht sich die US-Administration in Zusammenarbeit mit dem US-Kongress um die Schaf- fung einer eigenen Bundeshaftanstalt in Illinois (Thom- son Correctional Center). Hinsichtlich der Personen, bei denen die Überprüfung der US-Behörden keinen straf- rechtlichen Vorwurf ergeben hat (cleared for release), bittet die US-Administration befreundete Staaten um Prüfung einer Übernahme. Unter diesen Staaten befin- den sich viele Mitgliedstaaten der Europäischen Union und auch Deutschland. Auch der Rat der Europäischen Union hat sich in sei- ner Schlussfolgerung vom 4. Juni 2009 aus rechtsstaatli- chen und humanitären Erwägungen dafür ausgespro- chen, Präsident Obama bei der Schließung des Gefangenenlagers Guantánamo zu unterstützen und sich in der Folge auf gemeinsame Regeln für die Aufnahme von ehemaligen Insassen geeinigt. Verschiedene euro- päische Staaten haben seitdem bereits Personen aus Guantánamo aufgenommen, bei denen die USA und die Aufnahmeländer keinen Anlass für eine strafrechtliche Verfolgung sahen. Der Guantánamo-Sondergesandte der USA hat im Dezember 2009 erneut an das Bundesministerium des Innern die Bitte gerichtet, bestimmte Personen für eine Übernahme nach Deutschland zu überprüfen. Der in- frage kommende Personenkreis wurde zunächst durch die Bundessicherheitsbehörden anhand eigener und von den US-Behörden übermittelter Erkenntnisse sowie an- hand von Informationen der Sicherheitsbehörden der EU-Mitgliedstaaten überprüft. Zudem reiste Ende März dieses Jahres eine deutsche Delegation, bestehend aus Mitarbeitern des Bundesministeriums des Innern, des Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3661 (A) (C) (D)(B) Bundeskriminalamtes und des Bundesamtes für Migra- tion und Flüchtlinge, nach Guantánamo. Derzeit erfolgt eine Auswertung dieser Dienstreise und weiterer Sicherheitserwägungen, auf deren Grund- lage der hierfür nach dem Aufenthaltsgesetz zuständige Bundesminister des Innern seine Entscheidung treffen wird. Diese Prüfung umfasst vor allem die Auswirkun- gen auf die Sicherheitslage in Deutschland, die Abwä- gung humanitärer Aspekte sowie möglicher ausländer- rechtlicher und sicherheitsbehördlicher Begleitmaß- nahmen. Ich bitte um Verständnis, wenn die Bundes- regierung während eines laufenden Prüfverfahrens hierzu keine weiteren Einzelheiten erläutern kann. Deutschland hat bereits in der letzten Legislaturperio- de im August 2006 den türkischen Staatsangehörigen Murat K. aus Guantánamo aufgenommen. Die vormalige rot-grüne Koalition hatte sich aus Sicherheitserwägun- gen gegen eine Aufnahme von Murat K. entschieden. Erst mit der Regierungsübernahme durch Bundeskanzle- rin Merkel erfolgte eine Neubewertung, bei der am Ende humanitäre Erwägungen den entscheidenden Ausschlag gegeben haben. Die Bundesregierung bleibt, in Kontinuität mit der Vorgängerregierung, bei ihrer Haltung, die Vereinigten Staaten von Amerika bei ihren Bemühungen zur Auflö- sung des Gefangenlagers zu unterstützen. Wir wollen unseren selbst gesetzten humanitären Verpflichtungen gerecht werden, ohne dabei die Sicherheit zu vernachläs- sigen. Dies im Einzelfall umzusetzen, erfordert schwie- rige Abwägungen, die zurzeit ergebnisoffen laufen. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat beantragt, der Deutsche Bundestag möge die Bundesregierung auf- fordern, die Bitte der USA, Häftlinge aus Guantánamo zu übernehmen, solidarisch prüfen. Dieser Antrag ist ab- zulehnen, weil dies – im Gegensatz zur rot-grünen Ko- alition – durch die jetzige Bundesregierung längst ge- schieht. 37. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 Inhalt: Redetext Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Anlage 2 Anlage 3 Anlage 4 Anlage 5 Anlage 6 Anlage 7
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1703700000

Die Sitzung ist eröffnet.

Nehmen Sie bitte Platz.

Im Namen des ganzen Hauses möchte ich den Kolle-
gen Lothar Binding und Dr. Diether Dehm nachträg-
lich zu ihren 60. Geburtstagen Anfang April gratulieren
und alles Gute wünschen.


(Beifall)


Die Kollegin Dr. Martina Krogmann hat am 1. April
auf ihre Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag ver-
zichtet. Als Nachfolger begrüße ich den Kollegen Hans-
Werner Kammer. Herzlich willkommen!


(Beifall)


Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-
dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-
geführten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtent-
wicklung

zur Sicherheit im Luftverkehr

Rede
ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der
SPD:

Haltung der Bundesregierung zur Finanzier-
barkeit der FDP-Steuerpläne


(ZP 1 und 2 siehe 36. Sitzung)


ZP 3 Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin

zum Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan

ZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren

Ergänzung zu TOP 28

a)Beratung des Antrags der A
Dr. Gerhard Schick, Lisa Paus, Dr. Thomas
zung

den 22. April 2010

.00 Uhr

Gambke, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Finanzumsatzsteuer auf EU-Ebene einfüh-
ren

– Drucksache 17/1422 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Kerstin Andreae, Fritz Kuhn, Christine Scheel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Pluralistischen Ansatz bei Auswahl der For-
schungsinstitute für die Gemeinschaftsdia-
gnose gewährleisten
– Drucksache 17/1424 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Kerstin Andreae, Fritz Kuhn, Christine Scheel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion

text
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Umweltberichterstattung in die Gemein-
schaftsdiagnose aufnehmen
– Drucksache 17/1423 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Michael Schlecht, Dr. Barbara Höll, Eva
Bulling-Schröter, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion DIE LINKE
Pluralistischen Ansatz bei Auswahl der For-
schungsinstitute für die Gemeinschaftsdia-

se gewährleisten
ucksache 17/1405 –

weisungsvorschlag:
bgeordneten

gno
– Dr
Über

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Elvira
Drobinski-Weiß, Dr. Wilhelm Priesmeier,
Ulrich Kelber, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Gentechnisch veränderte Amflora-Kartof-
fel zuverlässig aus der Lebensmittel- und
Futtermittelkette fernhalten

– Drucksache 17/1410 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union

f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hilde
Mattheis, Dr. Karl Lauterbach, Elke Ferner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD

Qualität und Transparenz in der Pflege kon-
sequent weiterentwickeln – Pflege-Transpa-
renzkriterien optimieren

– Drucksache 17/1427 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

ZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck (Köln), Tom Koenigs, Marieluise Beck

(Bremen), weiterer Abgeordneter und der Frak-

tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Umgang mit Guantánamo-Häftlingen

– Drucksache 17/1421 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

ZP 6 Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister für Wirtschaft und Technologie

Eine Wirtschaftspolitik für Wachstum und
Arbeitsplätze

Von der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-
weit erforderlich, abgewichen werden.

Da heute als erster Tagesordnungspunkt eine Regie-
rungserklärung der Bundeskanzlerin aufgerufen wird,
verschiebt sich der dort ursprünglich vorgesehene Tages-
ordnungspunkt 3 an die Stelle des Tagesordnungspunk-
tes 5. Dieser wird abgesetzt. Außerdem soll der Tages-
ordnungspunkt 24 abgesetzt werden. Sind Sie mit diesen
Vereinbarungen einverstanden? – Ich höre keinen Wi-
derspruch. Dann ist das so beschlossen.

Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, bitte ich
Sie, sich von Ihren Plätzen zu erheben und zweier Ereig-
nisse in der parlamentarischen Osterpause zu gedenken.


(Die Anwesenden erheben sich)

Meine Bitte gilt auch unseren Gästen auf den Tribü-
nen, unter denen ich besonders den Botschafter der Re-
publik Polen, Herrn Marek Prawda, begrüße.

Der Deutsche Bundestag und die Bürgerinnen und
Bürger unseres Landes sind tief erschüttert über den Ab-
sturz der polnischen Präsidentenmaschine in der
Nähe von Smolensk am Morgen des 10. April 2010, bei
dem alle Mitglieder der Delegation ums Leben kamen.
Unter den 96 Opfern befanden sich der polnische Staats-
präsident Lech Kaczynski und seine Ehefrau sowie zahl-
reiche hochrangige Repräsentanten des polnischen Staa-
tes und der Kirche. Auch die Vizepräsidentin des Senats
und zwei Vizepräsidenten sowie weitere 15 unserer Kol-
leginnen und Kollegen des Sejm und des Senats zählen
zu den Opfern. Mit vielen von ihnen haben wir über un-
sere Parlamente, ihre Ausschüsse und Gremien in den
vergangenen Jahren eng zusammengearbeitet. Sie waren
uns zu Partnern und Freunden geworden.

Staatspräsident Kaczynski und seine Delegation wa-
ren auf dem Weg zu einer Gedenkfeier, um am Mahnmal
von Katyn der fast 22 000 polnischen Offiziere und In-
tellektuellen zu gedenken, die 1940 von Spezialeinheiten
des sowjetischen Geheimdienstes in einem Wald bei Ka-
tyn ermordet worden waren. Es ist besonders tragisch,
dass diese Reise, die als Geste der Versöhnung zwischen
Polen und Russland gedacht war, mit einer solchen Kata-
strophe endete.

Die große Anteilnahme der internationalen Staatenge-
meinschaft und die Beteiligung am Staatsbegräbnis in
Krakau belegen die Bedeutung und Wertschätzung, die
Polen im Kreis der Demokratien der Welt genießt. Unser
gemeinsames Ziel der Versöhnung der europäischen
Völker und Nationen werden wir auch im Gedenken und
Respekt für die Opfer des Unglücks von Smolensk mit
umso größerem Ernst weiterführen.

Der Deutsche Bundestag trauert mit dem polnischen
Volk und teilt seinen Schmerz über den furchtbaren Un-
falltod seines Staatsoberhauptes, seiner Ehefrau und der
übrigen Mitglieder seiner Delegation. Wir drücken den
Angehörigen der Toten und dem gesamten polnischen
Volk unser tief empfundenes Mitgefühl und unser Bei-
leid aus.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit Bestürzung ha-
ben wir in den letzten Tagen erfahren müssen, dass am
Karfreitag drei deutsche Soldaten in Afghanistan gefal-
len sind. Am vergangenen Donnerstag riss in der nordaf-
ghanischen Provinz Baghlan eine Sprengstofffalle der
Taliban weitere drei unserer Soldaten in den Tod. We-
nige Stunden später wurden Bundeswehrangehörige mit
Hand- und Panzerabwehrwaffen beschossen. Dabei
wurde ein deutsches Sanitätsfahrzeug getroffen und ein
Militärarzt getötet.

Wir beklagen inzwischen 43 gefallene deutsche Sol-
daten. Wir trauern um die Toten. Unsere Anteilnahme
gilt den Angehörigen, unsere besondere Fürsorge gilt
den Verletzten.

Der Auftrag unserer Soldaten ist ein Beitrag zu unse-
rer Sicherheit und unserer Freiheit, die in Zeiten des in-
ternationalen Terrorismus auch und gerade dort vertei-





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)

digt werden müssen, wo dieser seine Rückzugsräume
und Kommandozentralen hat.

Der Deutsche Bundestag ist sich seiner besonderen
Verantwortung für die Militäreinsätze bewusst, die bis-
lang jeweils mit hohen parlamentarischen Mehrheiten
beschlossen worden sind. Niemand unter den Abgeord-
neten macht sich seine Entscheidung leicht. Alle ernst-
haften Einwände und Aspekte, die unter den Soldaten
und in der Öffentlichkeit diskutiert werden, sind auch
Gegenstand der parlamentarischen Beratung und Ent-
scheidung. Aus guten Gründen entscheidet der Bundes-
tag jeweils über ein befristetes Mandat. Dies gibt uns die
Möglichkeit und verpflichtet uns zugleich, immer wie-
der neu Auftrag und Ziele im Lichte der Erfahrungen
und Lageveränderungen zu überprüfen. Zur selbstkriti-
schen Überprüfung der beschlossenen Einsätze gehört
dabei auch, die direkten und indirekten Wirkungen eines
beschleunigten Rückzugs auf Afghanistan und auch auf
die internationale Staatengemeinschaft zu berücksichti-
gen.

Über vierzig Staaten unterstützen Afghanistan auf
dem Weg, für die eigene Sicherheit selbst Verantwortung
zu übernehmen. Von diesem Ziel, ein stabiles, demokra-
tisches afghanisches Staatswesen aufbauen zu helfen,
darf sich die internationale Staatengemeinschaft nicht
verabschieden. Diesem Auftrag fühlten sich auch unsere
gefallenen Soldaten verpflichtet. Unter Einsatz ihres Le-
bens haben sie daran mitgewirkt, den Menschen in
Afghanistan eine friedfertige Zukunft zu ermöglichen.

Der Deutsche Bundestag und die Bürgerinnen und
Bürger unseres Landes verneigen sich vor den Toten.
Den Hinterbliebenen und Angehörigen bekunden wir
unser tiefes Mitgefühl. Den Verletzten wünschen wir
eine schnelle und vollständige Genesung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und
Herren, Sie haben sich zu Ehren der Opfer von Ihren
Plätzen erhoben. Ich danke Ihnen.

Ich rufe nun den Zusatzpunkt 3 unserer Tagesordnung
auf:

Abgabe einer Regierungserklärung durch die
Bundeskanzlerin

zum Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-
rung eineinhalb Stunden vorgesehen. – Auch hierzu darf
ich Einvernehmen feststellen. Dann ist das so beschlos-
sen.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
die Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.


Dr. Angela Merkel (CDU):
Rede ID: ID1703700100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Übermorgen nehmen wir
Abschied von vier deutschen Soldaten, die am letzten
Donnerstag in Afghanistan gefallen sind. Wir nehmen
Abschied von Thomas Broer, Marius Dubnicki, Josef
Kronawitter und Jörn Radloff. Schon vor zwei Wochen
mussten wir Abschied nehmen von Martin Augustyniak,
Nils Bruns und Robert Hartert. Sie waren am Karfreitag
in Afghanistan gefallen, ebenso wie sechs afghanische
Soldaten.

Sie alle sind gestorben, weil sie Afghanistan zu einem
Land ohne Terror und Angst machen wollten. Ich spre-
che den Angehörigen, den Kameraden und Freunden
mein tief empfundenes Mitgefühl aus. Ich tue dies im
Namen der ganzen Bundesregierung und der Mitglieder
dieses Hohen Hauses und für die Bürgerinnen und Bür-
ger unseres Landes. Auch an die Verwundeten denken
wir. Auch bei ihnen sind meine und unsere Gedanken
und Sorgen. Wir wünschen ihnen baldige und vollstän-
dige Genesung.

Anlässlich des Gelöbnisses von jungen Bundeswehr-
rekruten am Jahrestag des Stauffenberg-Attentats hat
Altbundeskanzler Helmut Schmidt am 20. Juli 2008 vor
dem Reichstag gesagt – ich zitiere –:

Liebe junge Soldaten! Ihr habt das große Glück …,
einer heute friedfertigen Nation und ihrem … recht-
lich geordneten Staat zu dienen. Ihr müsst wissen:
Euer Dienst kann auch Risiken und Gefahren um-
fassen. Aber ihr könnt euch darauf verlassen: Die-
ser Staat wird euch nicht missbrauchen.

Ende des Zitats.

Ja, dieser Staat, der im letzten Jahr 60 Jahre alt wurde
und der in diesem Jahr 20 Jahre Wiedervereinigung fei-
ern kann, verlangt von seinen Soldatinnen und Soldaten
viel, sehr viel, wie wir gerade in diesen Tagen schmerz-
haft erfahren müssen. Aber niemals wird er sie miss-
brauchen. Er stellt sie in den Dienst der freiheitlichen
und demokratischen Werte dieses Landes.

Die im Einsatz in Afghanistan gefallenen Soldaten
haben wie alle ihre Kameraden, die als Berufssoldaten
oder Soldaten auf Zeit tätig sind, einen Eid geleistet, die-
sen Eid:

Ich schwöre, der Bundesrepublik Deutschland treu
zu dienen und das Recht und die Freiheit des deut-
schen Volkes tapfer zu verteidigen.

Ja, die im Einsatz gefallenen Soldaten, derer wir heute
gedenken, haben der Bundesrepublik Deutschland treu
gedient, indem sie einem Mandat folgten, das der Deut-
sche Bundestag in den letzten acht Jahren mit unter-
schiedlichen Mehrheitsverhältnissen auf Antrag von
Bundesregierungen in unterschiedlicher Zusammenset-
zung immer wieder beschlossen hat. Dieses Mandat ist
über jeden vernünftigen völkerrechtlichen oder verfas-
sungsrechtlichen Zweifel erhaben.


(Widerspruch bei der LINKEN)


Es ruht auf den Resolutionen des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen. Es ist unverändert gültig.

Unsere im Einsatz gefallenen Soldaten waren tapfer,
weil sie ihren Auftrag, unser Recht und unsere Freiheit
zu verteidigen, in vollem Bewusstsein der Gefahren für
Leib und Leben ausgeführt haben. Tapferkeit – das ha-
ben zuerst sie und ihre Angehörigen, aber dann auch wir





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)

alle schmerzhaft erfahren müssen – ist ohne Verletzbar-
keit nicht denkbar.

Jeder einzelne gefallene Soldat verpflichtet deshalb
uns alle, sorgsam mit seinem Andenken umzugehen. Un-
ser Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel hat die drei
Toten des Karfreitags zurück nach Deutschland beglei-
tet. Unser Verteidigungsminister Karl-Theodor zu
Guttenberg ist unmittelbar nach dem Gefecht der ver-
gangenen Woche zurück nach Masar-i-Scharif geflogen.
Ich bin vor zwei Wochen nach Selsingen zur Trauerfeier
gefahren, und ich werde am Samstag gemeinsam mit
dem Bundesaußenminister und dem Bundesverteidi-
gungsminister in Ingolstadt sein. Wir alle haben das
nicht allein als Regierungsmitglieder getan, wir tun es
auch – wie viele andere aus diesem Hohen Hause – als
Abgeordnete des Deutschen Bundestages. Denn auch als
Abgeordnete haben wir diesen Einsatz beschlossen und
damit die Verantwortung dafür übernommen, was mit
unseren Soldatinnen und Soldaten geschieht. Das, was
unsere toten Soldaten für uns getan haben, hat im Mit-
telpunkt unseres öffentlichen Andenkens zu stehen.

Ich habe es in den letzten Tagen und Wochen häufiger
gesagt und wiederhole es heute: Dass die meisten Solda-
tinnen und Soldaten das, was sie in Afghanistan täglich
erleben, Bürgerkrieg oder einfach nur Krieg nennen, das
verstehe ich gut. Wer täglich fürchten muss, in einen
Hinterhalt zu geraten oder unter gezieltes Feuer zu kom-
men, der denkt nicht in juristischen Begrifflichkeiten.
Wer so etwas erlebt, der fürchtet vielmehr, dass derje-
nige, der völkerrechtlich korrekt vom nicht internationa-
len bewaffneten Konflikt spricht, die Situation zu ver-
harmlosen versucht. Deshalb sage ich ganz deutlich:
Niemand von uns verharmlost; niemand von uns – ob er
im Deutschen Bundestag für oder gegen diesen Einsatz
gestimmt hat – verharmlost das Leid, das dieser Einsatz
bei unseren Soldaten und ihren Familien, aber auch bei
Angehörigen unschuldiger ziviler afghanischer Opfer
hinterlässt.

Am 10. Februar dieses Jahres hat Bundesaußenminis-
ter Guido Westerwelle für die Bundesregierung vor die-
sem Hohen Haus erklärt – ich zitiere –:

Die Intensität der mit Waffengewalt ausgetragenen
Auseinandersetzung mit Aufständischen und deren
militärischer Organisation führt uns zu der Bewer-
tung, die Einsatzsituation von ISAF auch im Nor-
den Afghanistans als bewaffneten Konflikt im
Sinne des humanitären Völkerrechts zu qualifizie-
ren.

Das, meine Damen und Herren, ist das, was landläufig
als kriegerische Handlung oder Krieg bezeichnet wird.

Jedem Mitglied dieses Hauses, das sich ernsthaft mit
dieser Frage beschäftigt hat – und das unterstelle ich je-
dem von uns –, war dies vor der Abstimmung über das
aktuelle Mandat bewusst. Wir können von unseren Sol-
daten nicht Tapferkeit erwarten, wenn uns selbst der Mut
fehlt, uns zu dem zu bekennen, was wir beschlossen ha-
ben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

In einem Interview, das am letzten Sonntag in der
Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienen ist,
hat Hauptfeldwebel Daniel Seibert minutiös ein Gefecht
beschrieben, in das er am 4. Juni des letzten Jahres ge-
riet. Auf die Frage, ob er selbst in diesem Gefecht ge-
schossen und einen Menschen getötet hat, antwortet er
– ich zitiere –:

Ich habe ihn erschossen. Er oder ich, darum ging es
in diesem Fall.


(Zuruf von der LINKEN)


Daniel Seiberts Handeln während des Gefechts war es zu
verdanken, dass ein Spähtrupp aus einem Hinterhalt der
Taliban befreit werden konnte. Hauptfeldwebel Seibert
wurde für Tapferkeit ausgezeichnet. Das bedeutet ihm,
wie er in dem Interview weiter ausführt, nicht viel.
Wichtiger seien ihm Anerkennung und Respekt für die
Härte seines Einsatzes, Anerkennung und Respekt von
uns allen, von allen Bürgerinnen und Bürgern, Respekt
für ihn und alle Soldaten, die in Extremsituationen ihres
Lebens kommen, die wir uns in Deutschland kaum oder
gar nicht vorstellen können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises
am 10. Dezember des letzten Jahres hat der amerikani-
sche Präsident Barack Obama gesagt – ich zitiere –:

Ja, die Mittel des Krieges spielen eine Rolle in der
Erhaltung des Friedens. Und doch muss diese
Wahrheit neben einer anderen bestehen, nämlich
der, dass Kriege menschliche Tragödien bedeuten,
wie gerechtfertigt sie auch immer sein mögen. Der
Mut des Soldaten ist ruhmreich, ein Ausdruck der
Aufopferung für sein Land, für die Sache und für
seine Waffenbrüder. Doch der Krieg selbst ist nie-
mals ruhmreich, und wir dürfen ihn niemals so nen-
nen.

In anderen Worten: Wir müssen das Leid beim Na-
men nennen. 43 deutsche Soldaten haben seit Beginn un-
seres Einsatzes ihr Leben in Afghanistan verloren.
24 von ihnen sind durch sogenannte Feindeinwirkung
und im Kampf gefallen. Unbeteiligte Menschen haben
ihr Leben verloren – auch infolge deutschen Handelns,
wie beim Luftschlag in Kunduz am 4. September ver-
gangenen Jahres.

Jeder Tod beendet nicht nur ihr Leben, er trifft auch
immer gelebte zwischenmenschliche Nähe, Liebe, Hoff-
nungen und Träume. Deshalb ist es wieder und wieder
wichtig, dass wir uns klarmachen, warum wir junge
Frauen und Männer in ein fernes Land schicken, wo ihre
Gesundheit an Körper und Seele und ihr Leben immer
wieder in Gefahr sind.


(Zuruf von der LINKEN: Ja, warum denn?)


Es ist wieder und wieder wichtig, dass wir Politiker die
Tatsachen klar benennen. Es ist wieder und wieder wich-
tig, sich auch als Mitglieder der Bundesregierung und als
Abgeordnete zu den menschlichen Zweifeln zu beken-
nen, die jeder von uns schon hatte oder hat: die Zweifel,
ob dieser Kampfeinsatz in Afghanistan tatsächlich un-





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)

abweisbar ist. Erst wenn wir uns diesen Zweifeln stellen,
können wir den Einsatz glaubhaft verantworten. So je-
denfalls geht es mir. Dennoch – und so stehe ich wie die
große Mehrheit dieses Hauses hinter diesem Einsatz.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gegen den Willen der Bevölkerung!)


Dass afghanische Frauen heute mehr Rechte als frü-
her haben, dass Mädchen zur Schule gehen dürfen, dass
Straßen gebaut werden und dass vieles, vieles mehr ge-
schafft wurde, ist das Ergebnis unseres Einsatzes in Af-
ghanistan.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das lohnt sich, und das ist mancher Mühe wert.

Dadurch alleine könnte der Einsatz unserer Soldaten
dort aber nicht gerechtfertigt werden. In so vielen ande-
ren Ländern dieser Welt werden die Menschenrechte
missachtet, werden Ausbildungswege verhindert, sind
Lebensbedingungen katastrophal – und trotzdem entsen-
det die internationale Gemeinschaft keine Truppen, um
sich dort militärisch zu engagieren. Nein, in Afghanistan
geht es noch um etwas anderes.

Der berühmte Satz unseres früheren Verteidigungsmi-
nisters Peter Struck bringt das für mich auf den Punkt. Er
sagte vor Jahren:

Die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindu-
kusch verteidigt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD – Lachen bei der LINKEN – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das wird auch nach Jahren nicht besser! – Weiterer Zuruf von der LINKEN: Das ist ein Mythos!)


Bis heute hat niemand klarer, präziser und treffender
ausdrücken können, worum es in Afghanistan geht. Bis-
lang ist diesem Satz aber vielleicht noch nicht eine aus-
reichende Debatte darüber gefolgt, was genau es bedeu-
tet, wenn wir sagen: Deutschlands Sicherheit wird auch
am Hindukusch verteidigt.


(Dr. Barbara Hendricks [SPD]: Er hat „Freiheit“ gesagt! Freiheit!)


Unsere Sicherheit, in einem freien Rechtsstaat leben
zu können, wird heute von Entwicklungen gefährdet, die
weit außerhalb unserer Grenzen entstehen können. Das
ist an sich keine neue Entwicklung, aber in Zeiten der
Globalisierung hat es eine neue Qualität erlangt.

Der internationale Terrorismus und die von ihm ausge-
hende sogenannte asymmetrische Bedrohung durch Men-
schen, denen ihr eigenes Leben nichts bedeutet – dies ist
eine der großen Schattenseiten der Globalisierung. Doch
sowenig man die Globalisierung abschaffen kann – was
ich nicht will, was aber auch gar nicht ginge, selbst wenn
man es wollte –, so wenig dürfen wir in unseren Anstren-
gungen nachlassen, den Gefahren für das Recht, die Si-
cherheit und die Freiheit unseres Landes dort zu begeg-
nen, wo sie entstehen.

Es ist müßig und an dieser Stelle auch völlig unnötig,
darüber zu diskutieren, in welchem Zusammenhang die
historischen Ereignisse der Jahre 1989 und 1990, die
zum Ende des Kalten Krieges geführt haben, auch mit
dem ebenfalls 1989 abgeschlossenen Abzug der sowjeti-
schen Soldaten aus Afghanistan stehen könnten. Diese
Diskussion kann und will ich hier nicht führen, aber et-
was anderes steht fest, und zwar, dass Afghanistan durch
den Sieg der Taliban Jahre später zur Heimstatt interna-
tionaler Terrororganisationen wie al-Qaida gemacht
wurde.

Die Terrorangriffe des 11. September hatten ihre
Wurzeln in den Ausbildungslagern der al-Qaida im von
den Taliban beherrschten Afghanistan. Aus ihnen sind
die Attentäter von New York und Washington und später
die von London und Madrid unerkannt hervorgegangen.
Viele dieser Gruppen haben unerkannt unter uns gelebt.
Ja, sie haben inzwischen auch bei uns in Deutschland
verheerende Anschläge geplant. Wir hatten bisher ledig-
lich das Glück, sie noch rechtzeitig verhindern zu kön-
nen.

Es wäre jedoch ein Trugschluss, zu glauben, Deutsch-
land wäre nicht im Visier des internationalen Terroris-
mus. Die Anschläge des 11. September haben uns ahnen
lassen, was sich mittlerweile bestätigt hat: dass sich un-
ter den Bedingungen der Globalisierung die Herausfor-
derungen an unsere Sicherheitspolitik nach dem Ende
des Kalten Krieges drastisch gewandelt haben. Es wird
in Zukunft weit weniger als bisher um Konflikte zwi-
schen Staaten gehen. Es sind die asymmetrischen Kon-
flikte, die unsere sicherheitspolitische Zukunft dominie-
ren werden.

Es sind Taliban und ihre Verbündeten in Afghanistan,
die sich hinter Stammes- und Dorfstrukturen unerkannt
verstecken und damit selbst hinter Frauen und Kindern,
um dann mit militärischen Mitteln zuzuschlagen. Es sind
Piraten vor der Küste Somalias, die mit räuberischen At-
tacken unsere Handelswege in Gefahr bringen. Es sind
die Gefahren, die nicht dem klassischen, dem gewohnten
Muster von Konflikten und Kriegen entsprechen, die
auch aus weiter Entfernung in Windeseile direkt zu uns
gelangen können.

Dennoch: Es ist und bleibt zunächst nicht eine militä-
rische Aufgabe, dieser Bedrohung zu begegnen, ganz im
Gegenteil: Der Einsatz der Bundeswehr ist und bleibt
nur Ultima Ratio.


(Widerspruch bei der LINKEN)


Er kann stets nur das äußerste Mittel sein, streng gebun-
den an Völker- und Verfassungsrecht.

Deutschland übt sich auch aufgrund seiner Geschichte
nicht nur in Afghanistan in militärischer Zurückhal-
tung. Ich sage: Deutschland übt sich aus gutem Grund in
militärischer Zurückhaltung. Militärische Zurückhaltung
und der Einsatz militärischer Mittel als Ultima Ratio – das
ist Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland, und
zwar verbunden mit der politischen Verantwortung, die





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)

wir aufgrund unserer wirtschaftlichen Stärke, unserer
geografischen Lage im Herzen Europas wie auch als Mit-
glied unserer Bündnisse wahrnehmen.

Wir sind eingebunden in die Partnerschaft mit den
Verbündeten in der Europäischen Union und der NATO.
Alleine vermögen wir wenig bis nichts auszurichten. In
Partnerschaften dagegen schaffen wir vieles.

Seit 1990, also seit der Wiedervereinigung und dem
Ende des Kalten Krieges, ist unser Land einen beachtli-
chen Weg gegangen.


(Zuruf von der LINKEN: Ja!)


Im Rahmen der Wiedervereinigung haben wir den Auf-
bau einer Bundeswehr geschafft, die seit 1990 das ge-
samte Bundesgebiet umfasst, also auch das Gebiet der
früheren DDR. Schritt für Schritt hat Deutschland inter-
national Verantwortung gemeinsam mit unseren Verbün-
deten in der NATO, in der europäischen Sicherheitspoli-
tik und im Auftrag der Vereinten Nationen auch
außerhalb des Bündnisgebietes übernommen.

War es unter den Bedingungen des Kalten Krieges
noch völlig undenkbar, so stand die Bundeswehr wenige
Jahre nach der deutschen Einheit bereits als Teil von
Friedenstruppen in Somalia oder auf dem Balkan. 1999
erfolgte die Beteiligung Deutschlands am Einsatz im
Kosovo. Ohne Zweifel, es sind diese Einsätze im Aus-
land, die heute den Auftrag, die Struktur und den Alltag
der Bundeswehr wesentlich bestimmen.


(Widerspruch bei der LINKEN)


Zurzeit beteiligt sich Deutschland mit rund 6 600 Sol-
datinnen und Soldaten an elf Missionen. Deutsche Solda-
tinnen und Soldaten sind in Bosnien-Herzegowina, im
Kosovo, im Sudan, vor der Küste des Libanon, im Mittel-
meer und in Afghanistan im Einsatz. Die rechtliche Ab-
sicherung dieser Auslandseinsätze ist in mehreren Ent-
scheidungen des Bundesverfassungsgerichts erfolgt. Sie
finden statt auf dem Boden von Mandaten des Deutschen
Bundestages. Mit ihnen wird über die Abgeordneten ein
wichtiges Zeichen für die Verbindung der Bürgerinnen
und Bürger unseres Landes mit unseren Soldatinnen und
Soldaten gesetzt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der LINKEN: 70 Prozent sind dagegen!)


Dies ist wichtiger denn je. Denn die Bundeswehr wird
ihren Auftrag nur dann erfüllen können, wenn sie sich
auf den nötigen Rückhalt in der Gesellschaft verlassen
kann


(Zurufe von der LINKEN: Das kann sie aber nicht!)


und wenn dieser Rückhalt auch sichtbar wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Auf der Grundlage dieses rechtlichen Rahmens für
unsere Bundeswehr sage ich unmissverständlich: Zum
Einsatz der Bundeswehr im multilateralen Rahmen wie
den Vereinten Nationen, der Europäischen Union und
der Nato sind wir bereit, wenn er dem Schutz unserer
Bevölkerung oder dem unserer Verbündeten dient.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Nehmen Sie sich mal ein Beispiel an Kanada!)


Wer deshalb heute den sofortigen, womöglich sogar al-
leinigen Rückzug Deutschlands unabhängig von seinen
Bündnispartnern aus Afghanistan fordert, der handelt
unverantwortlich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Nicht nur würde Afghanistan in Chaos und Anarchie
versinken, auch die Folgen für die internationale Ge-
meinschaft und ihre Bündnisse, in denen wir Verantwor-
tung übernommen haben, und für unsere eigene Sicher-
heit wären unabsehbar. Die internationale Gemeinschaft
ist gemeinsam hineingegangen; die internationale Ge-
meinschaft wird auch gemeinsam hinausgehen. Handelte
sie anders, wären die Folgen – das ist meine Überzeu-
gung – weit verheerender als die Folgen der Anschläge
vom 11. September 2001.

Dies zeigt allein ein Blick auf die Landkarte: Afgha-
nistan hat in seiner unmittelbaren Nachbarschaft die Nuk-
learmacht Pakistan. Wir müssen davon ausgehen, dass
ein weiterer unmittelbarer Nachbar Afghanistans, der
Iran, alles unternimmt, um Nuklearmacht zu werden.
Vor einigen Tagen habe ich zusammen mit vielen
Staats- und Regierungschefs auf Einladung des ameri-
kanischen Präsidenten Barack Obama am Nukleargip-
fel in Washington teilgenommen. Wir waren uns einig:
Der Atomterrorismus gehört zu den größten Bedro-
hungen für die Sicherheit der Welt. Organisationen wie
al-Qaida versuchen, in den Besitz von Nuklearwaffen zu
kommen oder nukleares Material zu erlangen, um damit
als sogenannte schmutzige Bomben nuklear angerei-
cherte konventionelle Waffen zu bauen.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Was hat das mit Afghanistan zu tun?)


Besonders gefährlich ist die Situation in Pakistan, Af-
ghanistans östlichem Nachbarn. Die Lage dort ist heute
schon sehr fragil. Gingen wir nicht ganz konsequent die
nukleare Abrüstung an, wie wir es uns in Washington
vorgenommen haben, und verließen wir planlos Afgha-
nistan, würde die Gefahr erheblich steigen, dass Nuk-
learwaffen und Nuklearmaterial in die Hände von
extremistischen Gruppen gelangen könnten. Dies muss
verhindert werden, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir dürfen niemals vergessen, worum es für uns in
Afghanistan geht: Es geht nicht um einen Konflikt zwi-
schen sogenanntem Abendland und Morgenland, es geht
nicht um eine Auseinandersetzung zwischen Christen-
tum und Islam. Ein Im-Stich-Lassen der moderaten mus-
limischen Kräfte in Afghanistan durch einen überstürz-
ten oder gar alleinigen Abzug wäre nur eines: eine
Ermutigung für alle Extremisten, die weit über Afgha-
nistan und seine Nachbarn hinausginge. Deshalb kann
gar nicht oft genug gesagt werden: Es geht um die Si-





Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)

cherheit Deutschlands, die Sicherheit Europas, die Si-
cherheit unserer Partner in der Welt, die auch am Hindu-
kusch verteidigt wird.

Die Partner der internationalen Gemeinschaft wissen,
dass wir Afghanistan nicht zu einer Demokratie nach
westlichem Vorbild machen können. Darum hat es auch
gar nicht zu gehen. Etwas mehr als acht Jahre nach Be-
ginn des Einsatzes müssen wir feststellen – ich sage dies
durchaus auch selbstkritisch und ohne jede Schuldzu-
weisung gegen irgendjemanden –: Es gab manche Fort-
schritte, es gab zu viele Rückschritte, und unsere Ziele
waren zum Teil unrealistisch hoch oder sogar falsch.


(Zuruf von der LINKEN: Der Krieg war falsch, von Anfang an!)


Es ist deshalb in seiner Bedeutung gar nicht hoch genug
einzuschätzen, dass auf der Londoner Afghanistan-
Konferenz vor gut drei Monaten gemeinsam mit der
neuen afghanischen Regierung wichtige neue Weichen-
stellungen unseres bisherigen Vorgehens in Afghanistan
vorgenommen wurden.


(Widerspruch bei der LINKEN)


Es wurde die Strategie der vernetzten Sicherheit verab-
schiedet, in der die Sicherheitspolitik und die Entwick-
lungspolitik eng miteinander verbunden sind.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Großer Fehler! Ganz großer Fehler!)


Die Londoner Strategie schließt alle politischen Kräfte
Afghanistans ein. Ja, es ist ein Angebot auch an diejeni-
gen unter den Taliban und den Aufständischen, die bereit
sind, Gewalt und Terror abzuschwören. Es ist ein Ange-
bot an alle, die sich am Aufbau einer guten Zukunft ihres
Landes beteiligen wollen.

Die Londoner Strategie sieht vor, die afghanischen Si-
cherheitskräfte so auszubilden, dass sie schnellstmöglich
in die Lage versetzt werden, für die Sicherheit und Stabi-
lität ihres Landes selbst zu sorgen. Bereits 2011 wollen
wir mit der Übergabe in Verantwortung beginnen.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Mit mehr Soldaten!)


Die Londoner Strategie stimmt unsere Aufbau- und
Ausbildungsleistung mit den Entwicklungsmaßnahmen
unserer Partner genau ab. Die Londoner Strategie hat
ausdrücklich eine regelmäßige Überprüfung von Bench-
marks, Zielen und Maßnahmen festgelegt. Eine erste Bi-
lanz wird die nächste Konferenz am 20. Juli in Kabul
ziehen, an der der Bundesaußenminister teilnehmen
wird.


(Lachen bei Abgeordneten der LINKEN)


In einem Wort: Die Londoner Strategie schafft die Vo-
raussetzungen für eine Übergabe in Verantwortung. Da-
rum, um eine Übergabe in Verantwortung, hat es der in-
ternationalen Staatengemeinschaft zu gehen, nicht um
einen Abzug in Verantwortungslosigkeit wie auch nicht
um den Versuch, Afghanistan zu einer Demokratie nach
westlichem Vorbild zu machen. Das missachtete entwe-
der unsere eigenen Sicherheitsinteressen, oder es wäre
zum Scheitern verurteilt, weil es die kulturellen, histori-
schen und religiösen Traditionen der afghanischen Ge-
sellschaft unberücksichtigt ließe. Es ist wahr: Die Tradi-
tionen der Stammesversammlungen und der Loya Jirga
in Afghanistan sind uns nicht vertraut, sondern fremd.
Aber wahr ist auch: Sie sind eine eigene afghanische
Tradition der konsensorientierten Entscheidungsfindung,
die auf ihre Weise Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit er-
möglichen kann.

Nicht nur aufgrund meiner eigenen Erfahrung in der
DDR halte ich den Rechtsstaat für die größte zivilisatori-
sche Errungenschaft der Menschheit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Müssen Sie auch das noch bemühen?)


Rechtsstaatlichkeit – das meint nicht nur, aber zunächst
die Freiheit der Menschen von Willkür und Unterdrü-
ckung, von Anarchie und Chaos, von einer Situation, in
der jeder in der ständigen Angst leben muss, verfolgt
oder getötet zu werden. Erst wenn den Menschen diese
permanente Angst genommen wird, erst wenn der Staat
in der Lage ist, das elementare Bedürfnis seiner Bevöl-
kerung nach Sicherheit zu erfüllen, erst dann gewinnen
Menschen auch den Freiraum, ja die Freiheit, sich dem
Aufbau ihres Landes zu widmen, ihrer Bildung, ihrer
Wirtschaft, ihrem sozialen Ausgleich.

Es ist die vornehme Aufgabe der internationalen Staa-
tengemeinschaft, Afghanistan beim Aufbau einer sol-
chen Ordnung zu unterstützen, und zwar weil das unse-
rer eigenen Sicherheit dient. Das ist der Auftrag, den die
NATO und ihre Verbündeten, also auch die Soldatinnen
und Soldaten der Bundeswehr, dort erfüllen. Es ist rich-
tig: Sicherheit kann es auf Dauer nicht ohne Entwick-
lung geben; aber genauso richtig ist: Sicherheit ist die
Voraussetzung jeder Entwicklung und die Voraussetzung
dafür, dass sich in einem Land wie Afghanistan nicht
wieder Brutstätten des internationalen Terrorismus bil-
den, die uns in Europa und der Welt bedrohen können.
Das eine ist die Voraussetzung des anderen. Die interna-
tionale Gemeinschaft wird ihre militärische Präsenz so
lange aufrechterhalten, wie es nötig ist, nicht länger, aber
auch nicht kürzer. Unser Einsatz ist nicht auf Dauer an-
gelegt, aber auf Verlässlichkeit. Das ist der Kern der
Übergabe in Verantwortung, die wir in London eingelei-
tet haben und die wir erfolgreich beenden werden.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Durchhalteparole!)


Herr Präsident, meine Damen und Herren, liebe Kol-
leginnen und Kollegen, die 43 Soldaten, die in ihrem
Einsatz für Deutschland in Afghanistan ihr Leben verlo-
ren haben, haben den höchsten Preis gezahlt, den ein
Soldat zahlen kann. Sie haben uns Deutsche mit davor
beschützt, dass wir in Zeiten der globalen Dimension un-
serer Sicherheit im eigenen Land Opfer von Terroran-
schlägen werden.


(Zuruf von der LINKEN: Unglaublich!)






Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel


(A) (C)



(D)(B)

Alle Soldaten, die in Afghanistan Dienst tun, verdienen
unsere Solidarität und unser Mitgefühl. Sie leben ständig
in Angst, verletzt oder getötet zu werden. Sie leben in
dieser Angst, damit wir zu Hause in Deutschland nicht
Angst haben müssen. Dafür gebühren ihnen unser Dank,
unsere Hochachtung und unsere Unterstützung.

Herzlichen Dank.


(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1703700200

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem

Kollegen Sigmar Gabriel für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Sigmar Gabriel (SPD):
Rede ID: ID1703700300

Herr Präsident! Frau Bundeskanzlerin! Meine Damen

und Herren! Wie alle hier trauern die Sozialdemokrati-
sche Partei Deutschlands und die SPD-Bundestagsfrak-
tion um die verletzten und getöteten deutschen Soldaten,
die in den vergangenen Wochen Opfer hinterhältiger An-
schläge und Angriffe in Afghanistan wurden. Wir erin-
nern uns zugleich an die früheren Opfer, übrigens auch
unter den zivilen Aufbauhelfern, in Afghanistan. Unser
Mitgefühl gilt den Angehörigen und Familien. Und
doch – das weiß ich jedenfalls und wissen sicher viele
von uns –: Niemand von uns kann das Leid der Angehö-
rigen und Freunde wirklich nachempfinden, und nichts
kann den Verlust des Ehemanns, des Lebenspartners, des
Freundes, des Vaters, des Sohnes, des Bruders oder des
Enkels ungeschehen machen. Auch wenn wir als Abge-
ordnete des Deutschen Bundestages heute noch einmal
und sicher nicht zum letzten Mal über den Sinn des Af-
ghanistan-Einsatzes beraten und ihn begründen: Kein
Wort und keine Erklärung von uns werden die Angehöri-
gen, Familien und Freunde wirklich trösten können.

Wir debattieren heute erneut eine Regierungserklä-
rung, weil wir zu Recht immer wieder darüber beraten
müssen, ob die Gründe, die uns, jedenfalls die übergroße
Mehrheit dieses Parlaments, zu diesem Auslandseinsatz
der Bundeswehr bewogen haben, wirklich so wichtig,
so fundamental und so tragfähig sind, dass wir bereit
sind, das Leben anderer zu gefährden. Die Soldatinnen
und Soldaten der Bundeswehr sind nicht freiwillig in Af-
ghanistan.


(Zuruf von der LINKEN: Genau so ist es!)


Sie leisten dort Dienst, weil dieses Parlament es so be-
schlossen hat. Deshalb haben sie zuallererst Anspruch
auf Solidarität, Unterstützung und natürlich auch auf den
Respekt vor ihrem Mut und ihrer Tapferkeit in einem
ebenso schwierigen wie gefährlichen Einsatz.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Über jeden dieser Einsätze wurde hier im Deutschen
Bundestag mit großer Ernsthaftigkeit debattiert, was
deutlich macht: Wenn es um Leib und Leben von Men-
schen geht, die im Auftrag der Bundesregierung und auf
Beschluss des Bundestages einen militärischen Einsatz
durchführen, dann stehen wir alle als Mitglieder des Par-
laments in einer besonderen Verantwortung, die wir
nicht delegieren können, weder an dem Tag, an dem wir
entscheiden, noch in den Wochen und Monaten und Jah-
ren danach. Aber wir sind als Demokraten zugleich ver-
pflichtet, den Kolleginnen und Kollegen, die einem sol-
chen Einsatz nicht zustimmen können, unseren Respekt
nicht zu versagen. Das gilt umgekehrt übrigens genauso.

Natürlich kommen vielen von uns angesichts von
schwer verwundeten und getöteten Soldaten und Zivilis-
ten in Afghanistan, angesichts des Leids in den betroffe-
nen Familien und unserer Hilflosigkeit ihnen gegenüber
immer wieder Zweifel, ob wir eigentlich das Richtige
tun. Warum sage ich das zu Beginn? Weil wir gut daran
tun, diese Zweifel auch im Deutschen Bundestag zuzu-
lassen. Sie zwingen uns immer wieder dazu, die Frage
nach der Rechtfertigung der Gefährdung von Men-
schenleben, egal ob es Deutsche, Afghanen oder Ver-
bündete sind, zu überprüfen und zu beantworten. Sind
unsere Begründungen und die der Vereinten Nationen
zutreffend? Sind vor allem unsere gesetzten Ziele in
Afghanistan realistisch und erreichbar? Ganz offen-
sichtlich – machen wir uns nichts vor! – überzeugen wir
die Mehrheit der Deutschen derzeit nicht von unseren
Begründungen und Zielen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)


Wir müssen erkennen: Dieser Afghanistan-Einsatz löst
zunehmend Befürchtungen aus, und mit jedem verletz-
ten und getöteten Soldaten schwinden offensichtlich Ak-
zeptanz und Rückhalt in unserer Bevölkerung.

Seit ihrer Gründung hat die Bundesrepublik einen tie-
fen und wirklich umfassenden politischen, kulturellen
und sozialen Wandel durchlebt. Unser Land ist durch
und durch zivil, dem Frieden verpflichtet, ist eine wirk-
lich zivile Gesellschaft geworden. Auslandseinsätze der
Bundeswehr sind zwar seit über 15 Jahren keine Neuheit
mehr, aber immer noch keine Selbstverständlichkeit –
und ich sage: Das muss auch so bleiben.


(Beifall bei der SPD)


In Deutschland werden Berichte über getötete und gefal-
lene deutsche Soldaten und Zivilisten nie als Normalität
und mit Gleichgültigkeit aufgenommen – auch das muss
so bleiben. Wir dürfen uns an getötete Soldaten ebenso
wenig gewöhnen wie an die Toten in der Zivilbevölke-
rung.

Die Fähigkeit und die Bereitschaft kollektiver Anteil-
nahme sind auch eine Lehre aus der deutschen Ge-
schichte. Sie zeichnen unser heutiges Deutschland als
Zivilgesellschaft aus. Darauf können wir zuallererst ein-
mal stolz sein.


(Beifall bei der SPD)


Aber umso mehr ist die Unterstützung der Mehrheit in
unserer Bevölkerung das Entscheidende für den Einsatz
einer Parlamentsarmee. Denn bleibt es beim schwinden-





Sigmar Gabriel


(A) (C)



(D)(B)

den Zutrauen unserer Bevölkerung in unsere Entschei-
dungen im Parlament, dann ahnen und wissen doch auch
die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr in Afgha-
nistan, dass ihr Einsatz am Ende auf wackeligen Füßen
steht. Neben allen Solidaritätsbekundungen für die Sol-
daten der Bundeswehr muss es uns Abgeordneten, die
wir den Einsatz beschlossen haben und ihn weiterhin für
richtig halten, vor allem darum gehen, die Unterstützung
der Mehrheit unserer Bevölkerung für den Einsatz zu-
rückzugewinnen. Das ist für die Soldatinnen und Solda-
ten die eigentliche Rückendeckung, nicht nur Erklärun-
gen im Parlament.


(Beifall bei der SPD)


Die SPD – und die sozialdemokratische Bundestags-
fraktion – ist in ihrer großen Mehrheit davon überzeugt,
dass die Beteiligung Deutschlands am militärischen Ein-
satz im Auftrag der Vereinten Nationen in Afghanistan
weiterhin gerechtfertigt und notwendig ist;


(Zuruf von der LINKEN: So kennen wir Sie!)


denn unter dem Schutz der radikal-islamischen Taliban
hatte das Terrornetzwerk al-Qaida von Afghanistan aus
die monströsen Anschläge mit Tausenden Toten geplant
und durchgeführt. Nach nicht einmal drei Monaten wa-
ren das Taliban-Regime gestürzt, die Al-Quaida-Terro-
risten vertrieben und die Ausbildungslager zerstört. Jetzt
geht es darum, Afghanistan eben nicht wieder zu einem
Rückzugsgebiet für international operierende Terroristen
werden zu lassen.

Fest steht: In den ersten Jahren des Einsatzes hat es
unbestritten große Erfolge beim Wiederaufbau gegeben.


(Zuruf von der LINKEN: Welche?)


Fest steht aber auch: Spätestens seit 2006 hat sich die
Situation in Afghanistan deutlich verändert. Die Tali-
ban sind wieder erstarkt, ihr Rückhalt in der Bevölke-
rung wächst. Sie beherrschen weite Teile des Landes, sie
verwickeln die internationalen Truppen in einen asym-
metrischen Konflikt mit Selbstmordattentaten, Spreng-
fallen und Hinterhalten. Nicht nur in Deutschland – das
ist wichtig, auch bei uns zu registrieren –, auch in den
USA und anderen Staaten, die Truppen nach Afghanis-
tan entsandt haben, macht sich eine wachsende Skepsis
breit, ob denn der militärische Einsatz wirklich die ge-
wünschte Sicherheit und Stabilität in Afghanistan bewir-
ken kann.

Die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes wollen
von uns wissen, wie es in Afghanistan weitergehen soll,
welche Ziele wir dort eigentlich verfolgen, warum deut-
sche Soldaten dort immer noch eingesetzt werden, wofür
sie ihr Leben riskieren und 43 von ihnen bereits ihr Le-
ben verloren haben. Wir Sozialdemokraten haben mit
großer Mehrheit dem neuen Bundestagsmandat zuge-
stimmt, weil wir der Überzeugung sind, dass ein Ab-
bruch des UN-Einsatzes mit weit mehr Gefahren und
Menschenleben bezahlt werden würde, als das im aktu-
ellen Einsatz der Fall ist und sein kann. Nicht nur die
durchaus in vielen Bereichen erreichte Freiheit und das
Leben vieler Afghanen würden wieder gefährdet; die
Rückkehr des Terrornetzwerkes in ein weiter destabili-
siertes Afghanistan würde am Ende natürlich auch viele
andere Länder der Welt, auch die Menschen in Deutsch-
land, erneut und zusätzlich bedrohen.

Man muss nun wirklich kein allzu großer Pessimist
sein, um sich dramatische Sorgen um die Entwicklung in
Pakistan zu machen, einem Land, das bereits heute un-
ter enormen Druck steht und in dem sich Atomwaffen
befinden. Es geht also bei dem Einsatz der Vereinten Na-
tionen – wir tun in der öffentlichen Debatte manchmal
so, als sei es ein Einsatz der Bundeswehr – weiterhin um
die Verhinderung der Destabilisierung des Weltfriedens.
Das ist die Begründung für den Einsatz der Vereinten
Nationen. Wir sind gebeten worden, uns daran zu beteili-
gen.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Man kann nicht öffentlich die Forderung erheben, mi-
litärische Gewalt zum Schutz von Menschen dürfe nur
durch die Vereinten Nationen eingesetzt werden, sich
dann aber der Debatte entziehen, wenn die Vereinten Na-
tionen das tun. Deswegen stehen wir zu diesem Auftrag
der Vereinten Nationen. Aber wir haben in dem Be-
schluss auch dafür gesorgt, dass es in Afghanistan zu ei-
nem Strategiewechsel kommt. Die Bundesregierung ist
dem gefolgt. Deshalb haben wir zugestimmt. Der Ein-
stieg in eine verantwortungsvolle Perspektive für den
Abzug aus Afghanistan, der 2011 beginnen soll und im
Zeitraum 2013 bis 2015 die Sicherheitslage in Afghanis-
tan durch afghanische Kräfte, nicht durch internationale
Truppen sicherstellen soll, die Verdopplung des zivilen
Engagements in Afghanistan, mehr Ausbildung für die
afghanischen Sicherheitskräfte, die stärkere Unterstüt-
zung des innerafghanischen Versöhnungsprozesses und
noch mehr Sorgfalt beim Schutz der zivilen Bevölkerung
– das waren und sind die zentralen Gründe, warum wir
Sozialdemokraten der Mandatsverlängerung vor weni-
gen Wochen zugestimmt haben und zu dieser Zustim-
mung stehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Eine Bundesregierung, Frau Bundeskanzlerin, die sich
diesem Mandat und der damit verbundenen verantwor-
tungsvollen Abzugsperspektive verpflichtet fühlt, kann
sich auf unsere Zustimmung verlassen. Was uns eher
Sorge macht, ist, ob die Bundesregierung eine gemein-
same Vorstellung von dem hat, was die Bundeswehr dort
leisten soll. Frau Bundeskanzlerin, genauso wie Sie ver-
stehe und akzeptiere ich, dass Soldatinnen und Soldaten
der Bundeswehr in Afghanistan und auch die Menschen
in unserer Bevölkerung angesichts der dramatischen
Lage in weiten Teilen Afghanistans nichts von politischer
Semantik halten. Ich verstehe, dass die Menschen mit
dem technokratischen Begriff „nicht internationaler be-
waffneter Konflikt“ nichts anfangen können, wenn sie
den Alltag beschreiben sollen. Aber so sehr ich Emotio-
nen respektiere, gerade auch die der Soldatinnen und Sol-
daten, die dort täglich mutig ihren Dienst tun: In einer so
elementaren Frage müssen wir Politiker mehr sein als ein
Echolot öffentlicher Gefühle.





Sigmar Gabriel


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Arnold Vaatz [CDU/CSU])


Ich verlange von einer Bundesregierung, dass sie mit
einer verantwortungsvollen und klaren Stimme spricht
und nicht Außen- und Verteidigungsminister für unter-
schiedliche Interpretationen sorgen. Frau Bundeskanzle-
rin, Sie haben vorhin den Begriff „Krieg“ erläutert. Ich
lese Ihnen einmal vor, was Ihr Außenminister zu den Auf-
forderungen Ihres Verteidigungsministers, diesen Einsatz
„Krieg“ zu nennen, am letzten Wochenende wörtlich ge-
sagt hat. Auf die Frage:

Aber warum reden dann so viele in Berlin von
Krieg – bis hin zur Kanzlerin?

antwortet Herr Westerwelle:

… Krieg ist traditionell eine militärische Auseinan-
dersetzung zwischen zwei oder mehr Staaten mit
der Absicht der Eroberung oder Unterdrückung.
Das ist in Afghanistan erkennbar nicht der Fall.


(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Da hat er recht!)


Ich stimme Ihrem Außenminister zu. Er hat recht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)


Aber wenn er recht hat, dann passen Sie angesichts Ihrer
Kriegsrhetorik bei der Benutzung des Begriffes „Krieg“
auf. Ihre eigenen Leute kommen auf wirklich absurde
Gedanken, zum Beispiel wenn dazu aufgefordert wird,
wir sollten Leopard-Kampfpanzer nach Afghanistan
schicken, damit die Taliban einmal in diese furchterre-
genden Rohre schauen.


(Beifall bei der SPD – Widerspruch bei der FDP)


– Ich kann nichts dafür, dass in Ihrer Koalition solche
Debatten geführt werden. Ich stimme dem Bundes-
außenminister ausdrücklich zu.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Außerdem dürfen wir der Delegitimierung des Afgha-
nistan-Einsatzes nicht dadurch Vorschub leisten, dass wir
so tun, als hätten wir den Einsatz bislang unterschätzt und
würden nun auf einmal feststellen, dass er gefährlich und
lebensbedrohlich ist. Wer meint, er könne die Soldaten
und die Bevölkerung durch die Kriegsrhetorik vom eige-
nen Realitätssinn überzeugen, dem sei gesagt: Wir So-
zialdemokraten sind bei unseren Mandatsentscheidungen
für den Bundeswehreinsatz in Afghanistan nie davon aus-
gegangen, dass es sich eigentlich um einen Einsatz von
Bausoldaten zum Brunnen- und Häuserbau handelt. Wir
haben immer gesagt, dass dieser Einsatz gefährlich ist
und dass unsere Soldaten einem Auftrag folgen, bei dem
die Vereinten Nationen militärische Gewalt nicht nur zur
Selbstverteidigung angefordert haben, sondern auch zur
Durchsetzung ihres Auftrages. Wer also heute so tut, als
habe sich ein ursprünglich friedlicher Auftrag zum Krieg
entwickelt, der muss sich nicht wundern, wenn diejeni-
gen, die den eigentlichen Stabilisierungsauftrag der UN
nie wahrhaben und akzeptieren, sondern immer nur dele-
gitimieren wollten, auf einmal die Bundesregierung zum
Kronzeugen für ihre ursprüngliche Position erklären.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In Wahrheit löst der Kriegsbegriff keines unserer Pro-
bleme. Er hilft nicht bei der dringenden Begründung des
Einsatzes und übrigens auch nicht bei der Rechtssicher-
heit für die Soldaten. Wer meint, dass die Bundeswehr in
Afghanistan Krieg führen soll, der muss sagen, ob er da-
mit etwas konkret anderes meint, als wir das heute tun.
Wenn der Verteidigungsminister von Krieg redet und der
Außenminister nicht, dann muss die Frage erlaubt sein,
ob die Bundesregierung ein gemeinsames Verständnis
vom Einsatz hat. Heißt für den Verteidigungsminister
„Krieg“, dass das Schwergewicht nun doch auf militäri-
scher Gewalt und nicht auf Ausbildung und zivilen Auf-
bau gelegt werden soll


(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP)


– Sie können diese Frage nachher beantworten –, oder
sind Sie der Überzeugung, dass mehr zivile Opfer in
Kauf genommen werden müssen? Wenn das so wäre,
wäre es das Gegenteil dessen, was gestern der ISAF-
Kommandeur, General McChrystal, uns und der Öffent-
lichkeit hier erklärt hat. Er räumt dem Schutz der Zivil-
bevölkerung absolute Priorität ein. Er will die militäri-
sche Schwächung der Taliban, um Verhandlungen und
politische Lösungen zu erreichen. Das wäre also das Ge-
genteil unseres Mandatsbeschlusses. Wer das will, der
muss das Mandat ändern. Wir wollen das Mandat nicht
ändern, weder semantisch noch faktisch.


(Beifall bei der SPD)


Frau Bundeskanzlerin, wenn ich Sie richtig verstan-
den haben, wollen Sie das alles nicht ändern. Deswegen
habe ich die Bitte: Sorgen Sie dafür, dass Ihr Verteidi-
gungsminister und Ihr Außenminister in Zukunft eine
gemeinsame Sprache für das finden, was dort stattfindet,
am besten die des Außenministers.

Ein anderer Punkt macht mir zusehends Sorgen: Wie
gehen das Bundesverteidigungsministerium und die
Bundeswehrverwaltung eigentlich mit den im Einsatz an
Körper und Seele verwundeten und verletzten Soldatin-
nen und Soldaten um? Der Wehrbeauftragte des Parla-
ments hat dazu einige skandalöse Fälle geschildert, die
mich wirklich betroffen und in Teilen sprachlos machen.


(Elke Hoff [FDP]: Jetzt erst?)


Da wurde von einem Zeitsoldaten, der in Afghanistan
schwer verwundet wurde, der Auslandsverwendungszu-
schlag zurückgefordert, weil er im Voraus gezahlt wurde.
Nach seiner vierjährigen Dienstzeit wurde der Soldat ent-
lassen, weil er keine dauerhafte Erwerbsminderung von
50 Prozent nachweisen konnte. Die Fürsorgepflicht ge-
genüber Soldatinnen und Soldaten, die ihr Leben in ei-
nem hochgefährlichen Einsatz riskieren, müssen wir
ernster nehmen als bisher.


(Beifall bei der SPD)


Wenn eine gesetzliche Lücke existiert, müssen wir sie
schließen. Unsere Soldatinnen und Soldaten müssen sich





Sigmar Gabriel


(A) (C)



(D)(B)

darauf verlassen können, dass sie nicht nur bei ihrem le-
bensgefährlichen Einsatz geschützt werden, sondern
auch, dass die Fürsorgepflicht ihres Dienstherrn nicht
endet, wenn sie nach dem Einsatz verletzt oder traumati-
siert zurückkehren.

Die Bilanz des Afghanistan-Einsatzes ist höchst
ambivalent. Fest steht: Bislang hat sich die Hoffnung
nicht erfüllt, dass die Fortschritte bei der Bekämpfung
der Taliban, beim Aufbau der Sicherheitskräfte und beim
zivilen Aufbau so vorankommen, wie wir uns das vor-
stellen. Diese Entwicklung dürfen wir nicht ignorieren.
Wir brauchen nach einem eingeleiteten Strategiewechsel
im Zuge des aktuellen Mandates, das wir mit großer
Mehrheit beschlossen haben, zur weiteren Beurteilung
der Lage in Afghanistan zwei Elemente:

Erstens. Wir brauchen eine unabhängige, systemati-
sche und wissenschaftlich gestützte Überprüfung des
bisherigen Engagements, um wissen zu können, ob wir
unsere Ziele wirklich erreichen.

Zweitens. Wir brauchen mehr denn je eine internatio-
nale Debatte darüber, wie wir den innerafghanischen
Versöhnungsprozess vorantreiben können.

Lassen Sie mich abschließend noch einmal etwas zu
den Soldatinnen und Soldaten sagen: Wir bekennen uns
– das sage ich nochmals – zur internationalen Verant-
wortung für den Einsatz. Aber wir müssen und wollen
auch die Erreichbarkeit der Ziele überprüfen; denn sie
sind keineswegs sicher zu erreichen. Das sind wir den
Soldatinnen und Soldaten am allermeisten schuldig. Nur
so lange, wie wir selbst die Erreichbarkeit der Ziele für
möglich halten, dürfen wir Soldaten in den Einsatz schi-
cken. Nur so lange, wie eine klare und unmissverständli-
che Grundlage für unsere Entscheidungen besteht und
diese vor uns selbst zu rechtfertigen ist, können wir es
anderen zumuten, in lebensgefährliche Situationen zu
geraten. Das ist der Grund, warum die SPD eine solche
Überprüfung einfordert, bevor wir das nächste Mal, in
circa einem Jahr, über das Mandat entscheiden.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Anhaltender Beifall bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1703700400

Das Wort erhält nun die Kollegin Birgit Homburger

für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Birgit Homburger (FDP):
Rede ID: ID1703700500

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Der

Deutsche Bundestag trauert um die in Afghanistan gefal-
lenen Bundeswehrsoldaten. Unsere Gedanken sind bei
den Familien, Freunden und Kameraden der Gefallenen.
Ihnen gelten unser Mitgefühl und unsere Anteilnahme in
diesen schweren Stunden. Und den verwundeten Solda-
ten wünschen wir schnelle und vollständige Genesung.

Das Geschehene hat in Deutschland zu Recht erneut
zu einer öffentlichen Debatte über den Afghanistan-Ein-
satz geführt. Die FDP-Bundestagsfraktion steht fest an
der Seite der Soldatinnen und Soldaten. Wir stehen zu
diesem Einsatz und halten das im Februar beschlossene
Mandat unverändert weiterhin für eine gute und auch
rechtlich vollständig tragfähige Grundlage. Dieses Man-
dat hat keine Veränderung nötig.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Mit diesem Mandat sind erstmals eine Neubewertung
der Sicherheitslage in Afghanistan und ein Strategie-
wechsel hin zu mehr Ausbildung afghanischer Sicher-
heitskräfte und zu zivilem Wiederaufbau verbunden.

Endlich wird in Deutschland mit großer Offenheit
über die tatsächliche Lage in Afghanistan und die Ge-
fährlichkeit des Einsatzes gesprochen.


(Zuruf von der LINKEN: Warum eigentlich nicht früher?)


Wer die Unterstützung der Menschen für diesen Einsatz
will, muss sich der Debatte stellen. Wir tun dies hier im
Deutschen Bundestag immer wieder. Aber es ist auch
unsere Aufgabe, diesen Einsatz öffentlich noch offensi-
ver zu erklären. Wer die Unterstützung der Menschen für
diesen Einsatz will, muss die Wahrheit sagen.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ja! Fangen Sie einmal an!)


Ich kann verstehen – ich sage das ausdrücklich auch
an die Adresse von Herrn Gabriel –, dass sich unsere
Soldaten in Afghanistan wie in einem Krieg fühlen ange-
sichts dessen, dass sie immer wieder in Gefechte geraten
und es immer wieder Kampfhandlungen gibt. Diese Ge-
fühle müssen wir ernst nehmen, und man muss sie auch
zum Ausdruck bringen. Das ist in der Vergangenheit zu
lange ignoriert worden. Deshalb finde ich es gut, dass
sich die Bundesregierung dem Alltag der Soldatinnen
und Soldaten stellt und übereinstimmend deutlich macht,
dass sie die tägliche Realität der Soldatinnen und Sol-
daten in Afghanistan wahrgenommen hat und ihnen zur
Seite stehen will.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Es war deshalb überfällig, dass der Bundesaußen-
minister bei der Debatte über das Afghanistan-Mandat
für die Bundesregierung eine rechtliche Neueinschät-
zung der Sicherheitslage im Norden Afghanistans vorge-
nommen und den Einsatz als bewaffneten Konflikt im
Sinne des humanitären Völkerrechts charakterisiert
hat. Dieses Mandat hat niemanden in diesem Hohen
Hause im Unklaren gelassen. Damit sind nämlich eine
realistische Einordnung der Lage in Afghanistan und
eine höhere Rechtssicherheit für die Soldatinnen und
Soldaten verbunden. Diese neue rechtliche Qualifizie-
rung hat Folgen für die Handlungsbefugnisse der Solda-
tinnen und Soldaten und die Beurteilung ihres Verhal-
tens. Das hat sich gerade am Montag bei der Einstellung
des Ermittlungsverfahrens gegen Oberst Klein gezeigt.
Wir begrüßen ausdrücklich, dass dieses Ermittlungsver-
fahren eingestellt wurde. Wir begrüßen ausdrücklich die
höhere Rechtssicherheit für unsere Soldatinnen und
Soldaten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)






Birgit Homburger


(A) (C)



(D)(B)

Diese Debatte hat auch dazu geführt, dass wir uns
neuerlich mit der Frage der Ausrüstung und Ausstat-
tung unserer Soldatinnen und Soldaten auseinanderset-
zen. Hier zeigt sich, wie wichtig es ist, dass die Bundes-
wehr eine Parlamentsarmee ist. Das garantiert eine
öffentliche Debatte und eine ständige Überprüfung des
Handelns. Genau das sind wir denen, die wir in den Ein-
satz schicken, schuldig.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Mit dem Mandat ist ausdrücklich ein Strategiewech-
sel verbunden. Das haben wir hier beschlossen; das ist
Bestandteil der Begründung des Mandats. Das Leitmotiv
ist die Übergabe der Verantwortung an die Afghanen.
Ich wiederhole hier ausdrücklich, dass niemand länger
als nötig in Afghanistan bleiben will. Wir wollen eine
Abzugsperspektive erarbeiten. Deshalb ist es richtig,
dass die Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte so
verstärkt wird, dass die Afghanen selbst für Sicherheit
und Ordnung sorgen können. Außerdem gibt es eine völ-
lige Neuorientierung des Mandats in Richtung des zivi-
len Wiederaufbaus.

Präsident Karzai hat angekündigt, innerhalb der
nächsten fünf Jahre die Sicherheitsverantwortung für
sein Land zu übernehmen. Bis dahin ist es noch ein wei-
ter Weg; aber erstmals ist eine Abzugsperspektive er-
kennbar. Ich möchte vor diesem Hintergrund auch für
meine Fraktion deutlich sagen: Wer jetzt kopflos abzieht,
wer jetzt die Afghanen in einer Situation alleine lässt, in
der sie noch nicht selbst für Sicherheit und Ordnung sor-
gen können, der trägt Mitverantwortung dafür, wenn das,
was erreicht wurde, zunichtegemacht wird und Afgha-
nistan wieder zum Zentrum des internationalen Terroris-
mus wird. Das wollen wir ausdrücklich nicht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Eine weitere Voraussetzung für den Abzug ist ein zi-
viler Wiederaufbau. Ich habe bei Besuchen in Afgha-
nistan oder bei Gesprächen mit Afghanen hier in
Deutschland oft genug erlebt, dass wir gebeten wurden,
zu bleiben. Die Menschen dort wollen eine Perspektive
für sich und ihre Familien. Deshalb haben wir beschlos-
sen, dass das zivile Engagement nahezu verdoppelt wird.
Allein im Haushalt des Bundesministeriums für wirt-
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung stehen
250 Millionen Euro pro Jahr zur Verfügung, das heißt in
dieser Legislaturperiode 1 Milliarde Euro. Der Vergleich
mit den Ausgaben im Zeitraum von 2002 bis 2010 – es
war insgesamt 1 Milliarde Euro – zeigt, wie ich finde,
eindrucksvoll, dass ein Strategiewechsel an dieser Stelle
herbeigeführt wurde.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN)


Wir haben klare Ziele: Wir wollen den Menschen
eine verlässliche Energie- und Wasserversorgung geben.
Wir wollen, dass mehr Kinder in die Schule gehen kön-
nen und eine qualitativ gute Ausbildung erhalten. Wir
wollen auch helfen, die wirtschaftliche Entwicklung
überhaupt erst in Gang zu setzen. Das wollen wir nicht
gegen, sondern gemeinsam mit den teils gewählten, teils
traditionellen lokalen Autoritäten durchsetzen.

Deshalb muss die Diskussion über nötige Reform-
maßnahmen der afghanischen Regierung im Zentrum
der geplanten Afghanistan-Konferenz im Juli in Kabul
stehen. Das bedeutet, dass die Zusagen, die hinsichtlich
guter Regierungsführung, Korruptionsbekämpfung und
Verwaltungsreform, hinsichtlich Rechtsstaatlichkeit und
Garantie der Menschenrechte gemacht wurden, von Prä-
sident Karzai und seiner Regierung eingehalten werden
müssen. Ich glaube, es ist wichtig, dass die internatio-
nale Gemeinschaft immer wieder genau die Einlösung
dieser Zusagen einfordert.

Wir wissen um die Gefährlichkeit des Einsatzes. Ich
will deshalb zum Schluss hier auch noch mal sehr deut-
lich sagen: Jeder Abgeordnete ist sich seiner persönli-
chen Verantwortung bewusst. Wir machen uns die Ent-
scheidung nicht leicht, und wir begleiten die Umsetzung
des Mandats durch die Regierung intensiv.

Unser Dank gilt allen, die sich in Afghanistan enga-
gieren: Soldatinnen und Soldaten, Polizisten und zivilen
Aufbauhelfern. Durch sie wird erst die Umsetzung der
politischen Konzepte möglich. Für ihre Leistungen unter
schwierigsten Bedingungen gebühren ihnen Anerken-
nung, Respekt und Hochachtung. Sie sollen wissen, dass
sie sich auf die Unterstützung des Deutschen Bundesta-
ges verlassen können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1703700600

Dr. Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703700700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich ver-

trete hier die Fraktion, die von Beginn an gesagt hat:
Dieser Krieg ist falsch, er führt in ein Fiasko. Und es
wird deutlich, täglich deutlicher, dass wir leider in jeder
Hinsicht recht hatten.


(Beifall bei der LINKEN)


Neu an der Situation ist, dass jetzt neue Vorwürfe
auch gegen uns erhoben werden. Zum Beispiel sagt Herr
Wolffsohn von der Bundeswehrhochschule: Wer gegen
den Krieg ist, hilft indirekt den Taliban.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der FDP: Da hat er recht!)


– Passen Sie auf, was Sie da sagen. Die SPD, die Grü-
nen, die Linken und andere haben erklärt, dass Deutsch-
land nicht am Irakkrieg teilnimmt. Wenn Sie daraus
schlussfolgern, dass wir Hussein unterstützt hätten, ist
das eine Unverschämtheit. Ich will das ganz klar sagen.


(Beifall bei der LINKEN – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das ist nicht das Thema! – Günter Baumann [CDU/CSU]: Das ist eine Zumutung!)






Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)

Es geht auch um die Frage, ob man Respekt vor Sol-
daten hat.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Kommen Sie einmal mit zur Bundeswehr, Herr Gysi!)


Der Respekt vor Soldaten wird denen abgesprochen, die
für Frieden kämpfen. Ich halte das für absurd.


(Beifall bei der LINKEN)


Diejenigen, die gegen den Krieg waren, haben keine ein-
zige Soldatin und keinen einzigen Soldaten je gefährdet
und haben das auch nicht gewollt. Wenn unserer Forde-
rung nach dem sofortigen Abzug stattgegeben würde,
würden weitere Verletzte und Tote auf allen Seiten ver-
hindert.


(Beifall bei der LINKEN – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das glauben Sie doch selbst nicht!)


Dabei geht es uns auch um die afghanischen Zivilisten,
die hier überhaupt noch nicht erwähnt worden sind.


(Beifall bei der LINKEN – Jörg van Essen [FDP]: Die sind erwähnt worden!)


Eine Grüne hat zu mir gesagt: Wenn deutsche Solda-
ten sterben, dann sollte ich doch wenigstens schweigen
und nicht in diesem Zusammenhang die Beendigung des
Krieges fordern. Warum eigentlich nicht? Ich finde, ge-
rade wenn Soldaten sterben, muss der Aufschrei groß
werden, dieses Fiasko zu beenden.


(Beifall bei der LINKEN)


Außerdem hat die grüne Abgeordnete selbst sofort bei
dem Tod der über 100 Zivilisten gesprochen. Wieso soll
man in dem einem Fall reden dürfen und in dem anderen
Fall nicht? Nein, es geht nicht um verschiedene Rege-
lungen, sondern es geht darum, eine Lösung zu finden.
Und die Lösung sehen wir ausschließlich im sofortigen,
im unverzüglichen Abzug der Bundeswehr.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf des Abg. Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP])


Ich sage Ihnen: Die Mehrheit des Bundestages und
die Bundesregierung sollten auch vorsichtig sein, ande-
ren Respekt abzusprechen. Sie schicken die Soldatinnen
und Soldaten in den Krieg, und zwar, wie wir jetzt erfah-
ren, ohne ausreichende Ausbildung und Ausrüstung.

Sie planen jetzt mit dem US-General und ISAF-
Kommandeur McChrystal die Beteiligung der Bundes-
wehr an einer geplanten Großoffensive. Das bringt
doch wohl auch eine große Gefährdung für alle Betei-
ligten mit sich.

Sie haben für 4 500 Soldatinnen und Soldaten in Af-
ghanistan einen einzigen Facharzt für Psychiatrie zur
Verfügung gestellt. Es war der Wehrbeauftragte, nicht
wir, der darauf hingewiesen hat, dass die Versorgung der
zurückkehrenden Soldatinnen und Soldaten bei seeli-
schen Traumatisierungen unzureichend ist. Er bemän-
gelte auch, dass es zu wenig Fachärztinnen und Fach-
ärzte für Psychiatrie hier in Deutschland bei der
Bundeswehr gebe.

(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Sie brauchen auch einen! – Widerspruch und Zurufe von der LINKEN)


– Herr Lindner, Sie können mich ruhig als geistig gestört
betrachten, aber das sagt etwas über Ihr Niveau aus,
nicht über mein Niveau, um das auch einmal ganz klar
zu sagen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wer für all das die Verantwortung trägt, ist nicht im
Geringsten berechtigt, den Kriegsgegnerinnen und
Kriegsgegnern mangelnden Respekt vor den Frauen und
Männer der Bundeswehr in Afghanistan vorzuwerfen.
Im Unterschied zu Ihnen sind wir nicht bereit, uns mit
verletzten und toten afghanischen Zivilisten, mit verletz-
ten und toten deutschen Soldaten und mit verletzten und
toten Soldaten afghanischer und anderer Streitkräfte ab-
zufinden.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das unterstellen Sie!)


Wer die sofortige Beendigung des Krieges fordert, will
die Gesundheit und das Leben aller Beteiligten schützen.


(Beifall bei der LINKEN)


Herr Bundestagspräsident, ich fand es sehr richtig,
und Sie haben meine volle Zustimmung, dass Sie heute
der toten deutschen Soldaten gedacht haben. Dass wir
dafür aufstehen, ist eine Selbstverständlichkeit. Dass wir
das alle tun, ist ebenfalls eine Selbstverständlichkeit.
Aber ich füge hinzu: Einen Teil Ihrer Begründung teilen
meine Fraktion und ich nicht. Das muss ich deutlich sa-
gen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich möchte darauf hinweisen, dass es gut für den Bun-
destag gewesen wäre, wenn wir auch für die über 100 to-
ten afghanischen Zivilisten aufgestanden wären und ih-
rer gedacht hätten.


(Beifall bei der LINKEN)


Frau Bundeskanzlerin, wir haben es mit einer schwie-
rigen Situation zu tun, weil die Begründung der Bun-
desregierung für den Krieg ständig wechselt. Ich darf
Sie erinnern:

Am Anfang hieß es – das war Ihre erste Begründung –,
der Krieg müsse geführt werden, um den Terrorismus zu
bekämpfen. Aber wir alle wissen: Man kann mittels
Krieg Terrorismus nicht bekämpfen, man erzeugt nur
neuen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir wissen, dass die Taliban nicht direkt Terroristen wa-
ren, sondern dass sie den al-Qaida-Terroristen die Aus-
bildung etc. ermöglicht haben. Das Problem ist nur, dass
die al-Qaida nicht mehr in Afghanistan, sondern jetzt in
Pakistan und anderen Ländern ist. Wenn die Begründung
stimmte, dass man Terrorismus bekämpfen müsste, wo
er existiert, wo es Lager und Ausbildung gibt, dann
müssten wir inzwischen in Pakistan, im Jemen, im Su-
dan und in Somalia einmarschieren. Das fordert zu





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)

Recht niemand. Also ist die Begründung falsch; denn
al-Qaida sitzt nicht mehr in Afghanistan.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich sage Ihnen noch einmal: Wenn man Terrorismus
wirksam bekämpfen will, dann braucht man eine ge-
rechtere Weltwirtschaftsordnung, einen neuen Dialog
zwischen unterschiedlichen Kulturen und Religionen,
uneigennützige Entwicklungshilfe und zivilen Aufbau.

Ihre zweite Begründung lautet: Man braucht den mili-
tärischen Schutz für den Aufbau einer zivilen Ordnung.
Bundesinnenminister de Maizière hat aber festgestellt,
die Polizeiausbildung in Afghanistan sei keine Erfolgs-
geschichte. Wie wollen Sie erklären, dass Sie das, was
Ihnen in fast neun Jahren nicht gelungen ist, jetzt in ein
paar Monaten erledigt bekommen? Wer soll das glau-
ben? Die UNO berichtete, dass nach fast neun Jahren
Krieg neben einigen Fortschritten Folgendes festzustel-
len ist: Die Zahl der Menschen, die in Afghanistan in Ar-
mut lebt, ist von 33 auf 42 Prozent gestiegen. Unterer-
nährt sind nicht mehr 30 Prozent, sondern 39 Prozent der
Afghaninnen und Afghanen. Zugang zu sanitären Ein-
richtungen haben nicht mehr 12 Prozent der Bevölke-
rung, sondern nur noch 5,2 Prozent der Bevölkerung. In
Slums leben nicht mehr 2,4 Millionen, sondern 4,5 Mil-
lionen Menschen. All das belegen die Zahlen der UNO.
Von den Jugendlichen sind nicht mehr nur 26 Prozent,
sondern 47 Prozent arbeitslos. Mohnfelder zur Gewin-
nung von Rauschgift umfassen nicht mehr 131 000, son-
dern 193 000 Hektar. Warlords, also die Rauschgift- und
Waffenhändler, regieren wie vor neun Jahren. Wo ist
denn der zivile Fortschritt, den Sie dort angeblich seit
acht Jahren mithilfe der Bundeswehr organisieren?


(Beifall bei der LINKEN)


Zivile Helfer berichten, dass der zivile Aufbau ohne
Militär erfolgreicher verläuft als mit Militär. Frau
Merkel, Herr Gabriel und Frau Homburger, ich sage Ih-
nen: Ziviler Aufbau setzt Waffenstillstand und Verhand-
lungen zwischen den verfeindeten Parteien voraus.


(Beifall des Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Krieg dagegen schürt Hass und bereichert die Möglich-
keiten der Bin Ladens, neue Terroristinnen und Terroris-
ten zu rekrutieren. Für den zivilen Aufbau braucht man
ergo Frieden und nicht Krieg.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir geben für die Bundeswehr in Afghanistan jähr-
lich 1 Milliarde Euro aus. Wenn wir nur einen Teil dieses
Geldes für den zivilen Aufbau ausgegeben hätten, wären
wir dort deutlich weiter.


(Beifall bei der LINKEN)


Also trifft auch diese Begründung nicht zu.

Als dritte Begründung haben Sie vorgebracht, die Ta-
liban-Herrschaft müsse ausgeschlossen werden, es gehe
um die Herstellung einer Art demokratischer Verhält-
nisse, nicht gerade unserer, aber immerhin. Ich bitte Sie,
das ist doch kein Kriegsgrund. Es wird jetzt behauptet,
wenn wir abzögen, würden die Taliban wieder herrschen
wie früher. Wenn das stimmt, Frau Bundeskanzlerin,
wozu waren wir denn dann fast neun Jahre dort? Haben
wir nichts anderes erreicht als die Gewissheit, dass die
alten Zustände wiederhergestellt werden, wenn wir ge-
hen?


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Darf ich Sie erinnern? Wenn das oben Genannte der
Maßstab für Kriege ist, dann müssten wir doch wohl in
Uganda einmarschieren wegen der Kindersoldaten, in
Bangladesch wegen der Säureattentate auf junge Frauen,
in Kenia wegen der Genitalverstümmelung von Mäd-
chen, im Iran wegen der Hinrichtung von Oppositionel-
len, in Saudi-Arabien wegen der Verweigerung demo-
kratischer Rechte, insbesondere für Frauen, und in viele
andere Länder auch. Das kann doch nicht Ihr Ernst sein.
Die Begründung sticht überhaupt nicht. Niemand will
dort einmarschieren, und das ist auch keine Begründung
für Krieg in Afghanistan.


(Beifall bei der LINKEN)


Jetzt kommt die vierte Begründung. Bundesminister
Niebel erklärte bei Frau Will im Fernsehen und Sie, Frau
Bundeskanzlerin, sagten es heute auch, es gehe darum,
zu verhindern, dass Terroristen Zugriff auf Atomwaf-
fen bekommen. Ich bitte Sie, Frau Bundeskanzlerin, in
Afghanistan gibt es keine Atomwaffen. Wenn, dann gibt
es die in Pakistan. Das wäre eine Begründung, wenn Sie
in Pakistan einmarschieren würden, aber nicht für einen
Einsatz in Afghanistan.


(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ CSU)


Abgesehen davon sollen, wie jetzt festgestellt worden
ist, die Atomwaffen in Pakistan genauso sicher sein wie
die in anderen Ländern, sodass selbst das keine Begrün-
dung wäre.

Nein, ich sage Ihnen, was das Problem ist: Das Pro-
blem ist, dass Sie genau wissen, dass keine Begründung
überzeugt. Deshalb lassen Sie sich jeden Tag eine neue
einfallen. Das ist das, womit wir uns auseinandersetzen
müssen.


(Beifall bei der LINKEN)


Frau Bundeskanzlerin, dann haben Sie auch heute
wieder gesagt, ein Abzug sei unverantwortlich gegen-
über den Bündnispartnern, weil man die nicht alleine
lassen könne etc.

Erstens ist dazu zu sagen: Wir sind ein souveräner
Staat. Wir konnten doch auch beim Irakkrieg Nein sa-
gen. Warum können wir hier nicht Nein sagen?

Zweitens. Kanada und die Niederlande haben be-
schlossen, ihre Truppen abzuziehen. Was werfen Sie de-
nen denn vor? Das sind doch auch souveräne Länder. Sie
gehen nur einen anderen Weg als wir.


(Beifall bei der LINKEN)


Es kommt noch etwas hinzu: Präsident Obama hat er-
klärt, dass er die amerikanischen Truppen ab Mitte 2011
abziehen will. Herr Niebel wurde im Fernsehen von Frau





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)

Will gefragt, ob man denn damit rechnen könne, dass
dann auch die deutschen Truppen abgezogen würden. Er
war zu keiner Antwort fähig. Sie haben heute auch
nichts dazu gesagt. Ich bitte Sie, Sie wollen dort doch
nicht noch alleine bleiben. Also sagen Sie doch wenigs-
tens, dass Sie diesen Weg dann mitgehen. Das ist doch
wohl das Mindeste, was man hier erwarten kann.


(Beifall bei der LINKEN)


Herr Gabriel, ich habe Ihnen genau zugehört. Was ha-
ben Sie denn gesagt? Sie haben gesagt, der Krieg ist
richtig, aber Sie wollen ihn nicht so nennen. Das ist doch
keine sozialdemokratische Politik. Ich bitte Sie!


(Beifall bei der LINKEN – Widerspruch der Abg. Dr. Barbara Hendricks [SPD])


Vollziehen Sie doch einmal den Wechsel und kämpfen
Sie endlich für den Abzug.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1703700800

Herr Kollege Gysi!


Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703700900

Ich bin sofort fertig, Herr Präsident. – Ich sage es

ganz klar, Frau Homburger: Wir wollen nicht kopflos
raus. Sie sind kopflos reingegangen. Das ist das Pro-
blem, mit dem wir es zu tun haben.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich sage Ihnen deshalb zum Schluss: Ich bin davon
überzeugt, dass auch die Mitglieder der Bundesregie-
rung und viele Mitglieder des Bundestages – weit mehr
als die Mitglieder unserer Fraktion – wissen: Dieser
Krieg war, ist und bleibt falsch. Frau Merkel, Ihnen fehlt
nur der Mut, dies einzuräumen, die Bundeswehr so
schnell wie möglich aus Afghanistan abzuziehen und
endlich entsprechend dem Willen der großen Mehrheit
der Bevölkerung unseres Landes zu handeln.


(Anhaltender Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1703701000

Nächster Redner ist der Kollege Volker Kauder für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Kein Ordnungsruf?)


– Darf ich zu den Aufforderungen aus dem Plenum kurz
etwas sagen: Zwischenrufe, die ich nicht gehört habe,
pflege ich mir im Protokoll anzusehen, bevor ich dazu
Stellung nehme.


(Zurufe von der LINKEN: Das haben wir sogar hier hinten gehört!)


Aber ich nutze gerne die Gelegenheit, allgemein da-
rauf hinzuweisen, dass man die Ernsthaftigkeit dieses
Themas nicht durch Temperamentwettbewerbe auf allen
Seiten unterstreichen muss. Im Übrigen komme ich auf
den Vorgang zurück, sobald ich mich damit vertraut ge-
macht habe.

(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das ging manchmal schon schneller! Wir sind wohl nur die falsche Fraktion!)



Volker Kauder (CDU):
Rede ID: ID1703701100

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Wir trauern um die toten Soldaten der letzten
Tage und Wochen. Wir werden am kommenden Samstag
wieder toter Soldaten gedenken. Unsere Gedanken und
unsere Gebete sind bei den Angehörigen, bei den Fami-
lien dieser Soldaten. Wir drücken ihnen unsere Anteil-
nahme aus. Wir wissen, was wir jungen Menschen, die
im Dienste unseres Landes unterwegs sind, zumuten, ja,
auch zumuten müssen im Interesse der Verteidigung un-
serer Sicherheit und Freiheit.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, nach diesen
tragischen Vorgängen ist es völlig richtig, dass wir uns
heute noch einmal fragen: Ist der Einsatz in Afghanistan
richtig, und ist er notwendig? Ich finde, die Bundeskanz-
lerin hat in beeindruckender Weise deutlich gemacht,
warum dieser Einsatz notwendig ist, nicht nur konkret
der Einsatz in Afghanistan, sondern auch den Zusam-
menhang mit der strategischen Lage dieses Landes.
Peter Struck hat 2002 bei der Neuformierung der Bun-
deswehr gesagt, dass die Sicherheit unseres Landes am
Hindukusch verteidigt wird. Er hat in einer Regierungs-
erklärung im Jahr 2004 noch einmal präzisiert, was – das
müssen wir uns immer wieder ins Gedächtnis zurückru-
fen – der Ausgangspunkt des Einsatzes der Bundes-
wehr war: Wir verteidigen die Sicherheit unseres Lan-
des am Hindukusch, vor allem dann, wenn sich in
diesem Land eine Bedrohung wie der Terrorismus for-
miert. Das ist die erste Begründung dafür, dass wir sa-
gen: Wir dürfen nicht zulassen, dass von Afghanistan
wieder große und hohe Gefahren für unser Land, für die
Menschen in unserem Land ausgehen. Liebe Kollegin-
nen und Kollegen, das ist der entscheidende Punkt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Bundeswehr als eine Armee, die vom Deutschen
Bundestag eingesetzt wird, hat Anspruch darauf, dass
wir, wenn wir sie einsetzen, auch zu ihr stehen. Deswe-
gen haben wir allen Grund, zu sagen: Wir haben das
letzte Mandat in klarer Kenntnis dessen, was wir von der
Bundeswehr erwarten, erteilt und hier im Deutschen
Bundestag mit großer Mehrheit beschlossen. Wir haben
es so formuliert, dass wir einmal dafür sorgen wollen,
dass dieses Land nicht mehr Aufmarschgebiet von Ter-
roristen ist, zugleich aber auch dafür sorgen wollen, dass
dieses Land seine Sicherheit und damit auch unsere
Sicherheit selbst garantieren kann. Sehr verehrte Kol-
leginnen und Kollegen, das betrifft sowohl unsere Si-
cherheit als auch die Sicherheit der Menschen in Afgha-
nistan.

Sehr geehrter Herr Kollege Gysi, ich hätte mir von Ih-
nen an diesem Tag inhaltlich, aber auch von der Form
her einen anderen Auftritt gewünscht; das ist jedoch Ihre
Sache. Ich will nur eines sagen: Wir haben eine Per-
spektive für den Rückzug aus Afghanistan mit der
Aussage verbunden, dass die Sicherheitskräfte in Afgha-
nistan die Sicherheit dort selbst gewährleisten können.





Volker Kauder


(A) (C)



(D)(B)

Ich sage Ihnen: Das war zwingend notwendig. Herr
Gysi, wenn wir dies nicht machen würden, sondern
schlicht und ergreifend sagen würden: „Irgendwann,
morgen, übermorgen, heute, ziehen wir aus Afghanistan
ab“, dann würden wir die Menschen in großer Sorge und
Unsicherheit zurücklassen, Menschen, die nicht wissen,
auf wen sie sich verlassen können, und die damit rech-
nen müssen, dass die Taliban zurückkommen und sie
sich nicht wehren können. Wir wissen doch – davon ha-
ben Sie keinen Ton gesagt –, dass Taliban-Kämpfer
nachts Dörfer überfallen und Menschen hinmetzeln. Das
darf nicht mehr passieren. Deswegen muss die Sicher-
heit in Afghanistan für die Menschen dort und für uns in
unserem Land gewährleistet werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Deutschland ist an einer Aktion beteiligt – dies hat
Herr Gabriel völlig richtig gesagt –, die von der UNO
beschlossen worden ist.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind an einem Krieg beteiligt!)


Nach den bitteren Erfahrungen im vergangenen Jahrhun-
dert mit Weltkriegen war eine der zentralen Forderun-
gen, eine Einrichtung zu schaffen, die Terror, Ungerech-
tigkeit und Kriege verhindern kann. Diese haben wir in
der UNO gefunden. Die UNO selber hat aber kein einzi-
ges Instrument, um das, was sie beschließt, auch durch-
zuführen und umzusetzen. Deswegen ist die UNO darauf
angewiesen, dass ihre Mitglieder das, was dort beschlos-
sen worden ist, auch vollziehen. Die Bundeswehr macht
im Verein mit 40 anderen Armeen nichts anderes als das,
was in der UNO beschlossen worden ist – dafür zu sor-
gen, dass kein Terror mehr von Afghanistan ausgeht –,
umzusetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben in Afghanistan, wie ich finde, viel erreicht.
Es bleiben aber noch Fragen offen; darauf hat die Bundes-
kanzlerin hingewiesen. Afghanistan hat Grenzen zu Pa-
kistan und zum Iran. Es ist, wie ich glaube, unbestritten
– wahrscheinlich auch bei Ihnen, Herr Gysi; das möchte
ich Ihnen unterstellen –, dass vom Iran eine Gefahr für
die Sicherheit in Europa und in Deutschland ausgeht,
wenn dieses Land Atomwaffen hat. Wir sehen jetzt, wie
schwer es ist, mit den Mitteln der Diplomatie und der Ver-
handlung das Ziel zu erreichen, das die UNO formuliert
hat: dass der Iran auf Atomwaffen verzichtet. Wir sehen,
wie schwer das ist, obwohl alle in der Welt sagen: Wir
wollen nicht, dass der Iran Atomwaffen hat. – Wenn wir
sehen, wie schwer dies ist, haben wir allen Grund, zu ver-
hindern, dass sich in Afghanistan etwas etabliert, was
diese Gefahr, die vom Iran ausgeht, vergrößert und nicht
verkleinert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deswegen würde ich dringend raten, die Sache ein biss-
chen strategischer und auch unter dem Gesichtspunkt der
Sicherheit der eigenen Bevölkerung zu sehen.
Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir haben in
Afghanistan keine Ausbildungslager mehr. Von diesen
Ausbildungslagern ging aber die Gefahr aus. Wir haben
jetzt das eine oder andere Ausbildungslager noch im be-
nachbarten Pakistan, aber bei weitem nicht mehr in dieser
Dichte und Qualität. Trotzdem haben wir noch immer
Wanderungsbewegungen von Europa in Ausbildungsla-
ger nach Pakistan. Dies ist eine Bedrohung für unser
Land. Nicht umsonst haben wir unter Strafe gestellt,
wenn jemand bewusst in ein solches Lager geht, um sich
ausbilden zu lassen und dann terroristische Anschläge
auszuführen.

Dies alles würde sich weiter verstärken, wenn wir in
Afghanistan nicht eine Regierung hätten, die dies unter-
bindet, sondern eine Regierung, die dies zulässt und för-
dert. Die Taliban sind im Augenblick vielleicht nicht die
Gefahr, aber al-Qaida ist von der Terrorlandkarte nicht
verschwunden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dass al-Qaida nur darauf wartet, dass sie wieder bessere
Möglichkeiten bekommen, ihre „terroristischen Aufga-
ben“ zu erfüllen, ist doch völlig klar.

Deswegen muss noch einmal klar und deutlich formu-
liert werden, worum es geht und was die jungen Menschen
als Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan machen. Es
geht darum, Sicherheit herzustellen, zu verhindern, dass
der Terrorismus eine neue Aufmarschbasis und einen
neuen Nährboden bekommt. Es geht schlicht und ergrei-
fend darum, dass diese jungen Menschen einen entschei-
denden Beitrag dazu leisten, dass wir uns in unserem
Land sicher fühlen und sicher bewegen können, Herr
Gysi. Darum geht es: um die Sicherheit der Menschen in
unserem Land.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich bin sicher, dass wir mit unserer Arbeit zusammen
mit den 40 anderen Nationen erreichen können, dass
eine demokratisch gewählte Regierung in Afghanistan
Sicherheit herstellt. Junge Menschen bei der Polizei aus-
zubilden, braucht auch bei uns mehr als ein Jahr. Wir bil-
den in Afghanistan mit großer Intensität Polizeibeamte
aus. Wir bilden aber auch Soldatinnen und Soldaten aus,
damit sie ihrer Aufgabe gewachsen sind. Wenn dies ge-
lingt, wenn eine gut ausgebildete und gut ausgerüstete
afghanische Armee dem Land Sicherheit bringen und
aufrechterhalten kann, dann haben Terroristen in Afgha-
nistan keine Chance mehr. Genau das ist das Ziel. Wenn
wir das erreicht haben – wir gehen mit ganzer Kraft he-
ran –, dann können wir die Aufgabe der Sicherheit ver-
antwortungsvoll in die Hand der afghanischen Sicher-
heitskräfte legen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die afghanische Bevölkerung soll wissen: Wir lassen sie
nicht im Stich. Wenn die Sicherheit gewährleistet ist und
die Bevölkerung keine Angst davor haben muss, dass die
Taliban mit ganzer Macht und Brutalität wie vor diesem
Einsatz wieder zurückkommen, dann haben wir unser
Ziel erreicht.





Volker Kauder


(A) (C)



(D)(B)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, klar ist auch, dass
wir alles zur Verfügung stellen müssen, was unsere Sol-
datinnen und Soldaten brauchen, um ihre gefährliche
Aufgabe zu erfüllen. Deswegen sagen wir als Regie-
rungskoalition zu, dass wir das, was die militärische
Führung und der Bundesverteidigungsminister an Aus-
rüstung für die Soldaten im Einsatz und für die Ausbil-
dung für notwendig halten, auch zur Verfügung stellen
werden. Darauf dürfen sich Bundeswehr und unsere Sol-
datinnen und Soldaten verlassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir können heute feststellen, dass der tragische Tod
der Soldaten, der jungen Menschen, die in diesem Ein-
satz in Afghanistan fallen, für alle Betroffenen, auch für
uns, furchtbar ist. Keine Entscheidung im Deutschen
Bundestag fällt uns Kolleginnen und Kollegen so schwer
wie die Entscheidung, junge Menschen in den Krieg, in
den Einsatz nach Afghanistan zu schicken; denn bei die-
ser Entscheidung sehen wir alle die Gesichter aus unse-
rer Heimat, aus unseren Wahlkreisen, und wir alle hof-
fen, dass die Soldatinnen und Soldaten wieder aus dem
Einsatz zurückkommen. Zur gleichen Zeit müssen wir
aber auch sagen: Es dient einem großen Ziel: der Sicher-
heit der Menschen in unserer Heimat.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1703701200

Das Wort erhält nun der Kollege Jürgen Trittin, Frak-

tion Bündnis 90/Die Grünen.


Jürgen Trittin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703701300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube,

wir alle hätten es schön gefunden, wenn diese Regie-
rungserklärung aus diesem Anlass nicht nötig gewesen
wäre. Unsere Gedanken, unsere Trauer gehören den getö-
teten und verletzten Soldatinnen und Soldaten und ihren
Angehörigen.

Vor dem Hintergrund dieser Eskalation, der wir hier
ins Auge sehen, wäre es allerdings auch Zeit für eine
wahrhaftige Bestandsaufnahme gewesen: Was machen
wir in Afghanistan? Haben wir einen Stabilisierungsein-
satz, oder machen wir da Aufstandsbekämpfung? Was ist
eigentlich jetzt das politische Ziel? Wofür halten unsere
Soldatinnen und Soldaten den Kopf hin? Wie lange müs-
sen sie das noch tun?

Ich habe Ihnen sehr aufmerksam zugehört. Die Ant-
wort auf diese Fragen, Frau Merkel, sind Sie leider weit-
gehend schuldig geblieben. Sie haben die Tradition fort-
gesetzt, die Ihre Afghanistan-Politik der letzten Zeit
geprägt hat. Sie sind nicht für Transparenz und Wahrhaf-
tigkeit. Sie haben uns hier am 8. September 2009, ob-
wohl Sie es besser wussten, nichts über die zivilen Opfer
bei Kunduz gesagt. Ihre Fraktion ist nicht länger gewillt,
das, was dort passiert ist, aufzuarbeiten. Sie möchte den
Deckel der Akten zumachen. Von einer lückenlosen Auf-
klärung kann nicht die Rede sein.
Manchmal sagen Sie als Bundesregierung schlicht und
ergreifend auch die Unwahrheit. Sie dokumentieren das
auch. Sie haben in Ihrem Afghanistan-Konzept geschrie-
ben, die neue Afghanistan-Strategie sei eine Schwer-
punktverlagerung von einem eher offensiven Vorgehen
hin „zu einer grundsätzlich defensiven Ausrichtung“. Wir
haben gestern im Ausschuss sehr genau zugehört, was
General McChrystal gesagt hat. Auf die Frage, was dort
in den nächsten Wochen und Monaten passieren soll, hat
er trocken gesagt: It’s classical counterinsurgency. Also
klassische Aufstandsbekämpfung. Das nennen Sie
„grundsätzlich defensiv“? Es kann ja sein, dass Sie diese
Aufstandsbekämpfung machen müssen, aber dann sollten
Sie das auch so benennen. Sie praktizieren aber das Ge-
genteil.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die übergroße Mehrheit meiner Fraktion hat diesem
Mandat nicht zugestimmt, weil wir in dem Partnering,
das übrigens in dem Mandat steht, die Gefahr gesehen
haben, dass man sich auf die Rutschbahn hin zu einer of-
fensiven Aufstandsbekämpfung begibt. Wir haben davor
gewarnt, dass das mit erheblichen Risiken verbunden ist.

Was sagte Ihr Bundesverteidigungsminister Herr zu
Guttenberg – ich zitiere ihn aus der FAZ vom 25. Januar
2010 –: Dieses Konzept sei nicht automatisch mit mehr
Risiken für die Soldaten verbunden. Das ist schon keine
Beschönigung mehr, das ist schlicht und ergreifend die
Unwahrheit gewesen, die Herr zu Guttenberg da gesagt
hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Partnering – auch hier zitiere ich Stanley
McChrystal – ist gefährlich und mit extremen Risiken
verbunden. – Das kann man heute nachlesen. Er führt
weiter aus: Da nützt es nichts, um den heißen Brei he-
rumzureden. – Ja, der General hat recht, und ich hätte
mir gewünscht, eine Bundesregierung zu haben, die bei
ihrer Afghanistan-Politik endlich aufhört, um den heißen
Brei herumzureden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Stattdessen klopfen Sie sich selber auf die Schulter, weil
Sie sich jetzt trauen, das Wort „Krieg“ in den Mund zu
nehmen.

Als Konsequenz auf Ihre Hilflosigkeit, in die Sie da
reingestolpert sind – Sie tun so, als ob Sie hineingestol-
pert sind –,


(Birgit Homburger [FDP]: Wer ist da reingestolpert? Wer hat den Einsatz angefangen? Ich glaube, ich spinne!)


fordern Sie jetzt die Ausrüstung mit Haubitzen. Mir
muss erst einmal jemand erklären, wie Sie mit Haubitzen
die Gefährdung durch Sprengfallen – durch sie sind die
Soldaten gestorben – vermindern wollen. Das ist einfach
nur Rhetorik, um die Heimatfront zu beruhigen, aber
hilft den Soldatinnen und Soldaten überhaupt nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)






Jürgen Trittin


(A) (C)



(D)(B)

Wenn Sie jetzt das Wort Krieg verwenden, Frau Bun-
deskanzlerin, dann müssten Sie eigentlich auch den Mut
haben, zu sagen, was das Ziel dieses Krieges ist. Sie ha-
ben sich dabei etwas leichtfertig, wie ich finde, auf Peter
Struck berufen. In Afghanistan sind wir im Auftrag der
Vereinten Nationen mit 43 anderen Nationen. Der Auf-
trag lautet: Unterstützung der gewählten afghanischen
Regierung. Was tut diese Regierung zurzeit? Sie bereitet
sich intensiv auf die Zeit nach dem Abzug der internatio-
nalen Gemeinschaft vor. Dafür sucht sie Verbündete.
Das ist verständlich.

Ich hätte von Ihnen eine Einschätzung erwartet, was
Sie von diesen Bündnisbemühungen halten, die Herr
Karzai unternimmt. Herr Karzai hat ja Verbündete ge-
funden: Indien auf der einen Seite, der Iran auf der an-
deren Seite und die Nordallianz, die schon heute in sei-
ner Regierung ist. Und er trifft sich mit weiteren
potenziellen Unterstützern. Mitten in Kabul trifft er
sich mit Hekmatjar, einem von der UN und den USA ge-
suchten Kriegsverbrecher, um auf diese Weise einen in-
ternen Ausgleich in Afghanistan herbeizuführen.

Es kann zwar sein, Frau Merkel, dass es eine Befrie-
dung und Stabilisierung Afghanistans nur mit solchen
schmutzigen Deals gibt, aber warum haben Sie dann
nicht den Mut, zu sagen: „Das ist der Preis für die Stabi-
lisierung Afghanistans“? Warum drücken Sie sich vor
diesen unangenehmen Wahrheiten?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie setzen Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan
tödlichen Gefahren aus. Sie sollen im Zweifelsfall selber
töten. Sollen sie das tun, damit Herr Karzai eine bessere
Verhandlungsposition mit Herrn Hekmatjar hat? Das ist
doch die Frage, die Sie an dieser Stelle beantworten
müssen, und es geht nicht um Kriegsrhetorik. Ich bin
sehr vorsichtig mit diesem Wort. Es gibt Regionen in Af-
ghanistan, in denen kriegerische Zustände herrschen. Es
gibt andere Regionen, wo dies nicht der Fall ist. Aber ei-
nes weiß ich gewiss: Einen Stabilisierungseinsatz führen
Sie nicht mit Kriegsrhetorik zu einem Erfolg. Sie führen
ihn damit zwangsläufig zu einem Misserfolg.

Wenn es das Ziel des Bundeswehreinsatzes ist, eine
Verhandlungslösung zu erreichen, dann muss man auch
Verhandlungsziele und einen Zeitrahmen haben. Der
Bundesaußenminister pflegt bei solchen Gelegenheiten
immer zu sagen, man dürfe den Taliban nicht sagen,
wann man abzieht. Das haben, glaube ich, weder die
Holländer noch die Kanadier gemacht, und auch die
USA haben das nicht vor.

Die Taliban wissen sehr wohl, dass die Präsenz nicht
auf Dauer sein wird. Wir alle wissen, dass die Präsenz in
Afghanistan keine weiteren zehn Jahre andauern wird.
Aber wenn man das alles weiß und klar ist, dass es eine
Verhandlungslösung geben muss, dann muss denen, die
verhandeln sollen, auch klar sein, in welchem Rahmen
und bis wann sie die Verhandlungen zu Ende zu führen
haben und dass sie die Präsenz internationaler Truppen
nicht auf Dauer in ihren Verhandlungspoker einkalkulie-
ren können. Auch dazu haben Sie nichts gesagt.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich glaube, die Soldatinnen und Soldaten haben An-
spruch darauf, zu wissen, für welche Ziele und wie lange
sie Leib und Leben zu riskieren haben. Diese Antwort
sind Sie heute schuldig geblieben.


(Elke Hoff [FDP]: Das ist nicht wahr!)


Afghanistan ist aber kein Einzelfall. Globale Risiken
wie Aufrüstung, Armut, Klimaentwicklung und Res-
sourcenwettkampf erzeugen Staatszerfall, Bürgerkriege,
das, was Sie zu Recht asymmetrische Konflikte ge-
nannt haben. Friedenssicherung in dieser unsicher ge-
wordenen Welt setzt dann handlungsfähige Vereinte Na-
tionen voraus. Staatszerfall entgegenzuwirken, wird
auch in Zukunft Stabilisierungseinsätze erfordern.

Ich sage in dieser Situation: Deutschland wird sich
dem nicht entziehen können. Ich sage auch: Deutschland
wird sich dem nicht entziehen dürfen. Aber gerade des-
halb müssen wir aus den Erfolgen und aus den Defiziten
dieses Einsatzes in Afghanistan lernen. Das ist der
Grund, warum wir eine Evaluierung dieses Einsatzes
von unabhängiger Stelle brauchen, und zwar eine Evalu-
ierung des gesamten Einsatzes, also der jetzigen Afgha-
nistan-Politik, der Afghanistan-Politik der Großen Ko-
alition und auch der Afghanistan-Politik von Rot-Grün.
Die Bereitschaft, sich in dieser Frage überprüfen zu las-
sen, gehört zu der notwendigen Wahrhaftigkeit aus die-
sem Hause, auf die die Zivilisten und die Soldatinnen
und Soldaten, die sich in Afghanistan um Stabilisierung
bemühen, einen Anspruch haben.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1703701400

Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort erteile,

weise ich darauf hin, dass es ausweislich des Stenografi-
schen Protokolls während der Rede des Kollegen Gysi
nach seinem Hinweis auf die Notwendigkeit von mehr
Fachärzten für Psychiatrie in der Bundeswehr einen
Zwischenruf des Kollegen Martin Lindner gegeben hat,
den ich ausdrücklich als unparlamentarisch rüge. Ich
verbinde dies noch einmal mit dem ausdrücklichen Hin-
weis, dass wir auch und gerade bei einer natürlich kriti-
schen Auseinandersetzung auf persönlich herabsetzende,
polemische Bemerkungen verzichten sollten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Nun erteile ich der Kollegin Elke Hoff für die FDP-
Fraktion das Wort.


(Beifall bei der FDP)



Elke Hoff (FDP):
Rede ID: ID1703701500

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Herr Kollege Trittin, entgegen der Auffassung, die Sie
hier vertreten haben, bin ich sehr wohl der Meinung,
dass die Bundeskanzlerin heute die Ziele des Afghanis-





Elke Hoff


(A) (C)



(D)(B)

tan-Einsatzes sehr klar dargestellt hat. Wenn Sie es aber
nicht hören und dem auch nicht Folge leisten wollen,
dann kann ich mir vorstellen, dass Sie ein Problem damit
haben, dass hier heute angeblich nicht klar über die Ziele
dieses Einsatzes berichtet und diskutiert worden ist.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Herr Kollege, ich sehe auch keinen Widerspruch
zwischen einem Stabilisierungseinsatz und einer Coun-
terinsurgency, einer Aufstandsbekämpfung. Eine we-
sentliche Voraussetzung, um eine erfolgreiche Counter-
insurgency durchführen zu können, ist natürlich die Sta-
bilisierung der Region. Es gibt keinen militärischen Füh-
rer in der NATO, der bisher behauptet hätte, dies könne
allein mit militärischen Mitteln gemacht werden. Aber
es ist eine Voraussetzung zur Herstellung der Stabilisie-
rung in einem völlig zerstörten Land, in dem sämtliche
staatlichen Strukturen vernichtet worden sind. Das ist
die Aufgabe, die die Nato und auch die Bundesrepublik
Deutschland übernommen haben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, tun wir gut
daran, unseren Soldatinnen und Soldaten, die jeden Tag
für dieses Ziel und für diesen Auftrag, den wir erteilt ha-
ben, ihr Leben und ihre Gesundheit riskieren, auch an
dieser Stelle die größtmögliche Unterstützung zu gewäh-
ren.

Lieber Herr Kollege Gysi, Sie haben eben mit Recht
darauf hingewiesen, dass wir, egal welcher unterschied-
lichen politischen Auffassung wir sind, den Soldatinnen
und Soldaten den Respekt zollen. Daher bitte ich Sie, in
Ihrer Fraktion auch dafür zu sorgen – auch, wenn es sehr
junge Kolleginnen sind –, dass im Deutschen Bundestag
keine Plakate gezeigt werden, auf denen „Beim Bund ist
alles doof“ steht und ein Schwein mit einem Stahlhelm
abgebildet ist,


(Michael Brand [CDU/CSU]: Schlimm!)


hinter dessen Rücken Rauchwolken zu sehen sind, als
gebe es eine Explosion. So etwas geht einfach nicht.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Er soll sich entschuldigen!)


Wenn Sie sich hier für Respekt aussprechen, dann sorgen
Sie bitte in Ihrer Partei dafür, dass der nötige Respekt ge-
zollt wird.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich war bei der Trauerfeier für unsere gefallenen Sol-
daten anwesend. Ich gebe zu, dass auch ich mich in die-
sen schweren Stunden gefragt habe, ob der Auftrag, den
wir erteilt haben, richtig ist und ob wir diesen Auftrag
gegenüber den Angehörigen rechtfertigen können. Die
gleiche Frage habe ich mir auch bei der Debatte gestellt,
die wir eben geführt haben. Mehr denn je bin ich der
Überzeugung, dass es gerade in diesen schweren Zeiten
unsere Aufgabe ist, unserer Bevölkerung unsere Ent-
scheidung zu erklären und hier im Parlament den jungen
Männern und Frauen, die wir in den Einsatz geschickt
haben, deutlich zu machen, dass wir diesen Einsatz mit-
tragen. Ich persönlich habe mir die Frage gestellt, ob wir
es im Nachhinein den Angehörigen der Kameradinnen
und Kameraden, die bereits jetzt ums Leben gekommen
sind, erklären können, wenn wir die Sinnhaftigkeit die-
ses Einsatzes infrage stellen. Alle Fraktionen in diesem
Deutschen Bundestag bis auf eine haben diesen Einsatz
gewollt.

Selbstverständlich müssen wir die Benchmarks neu
setzen. Auch General McChrystal hat sehr deutlich zum
Ausdruck gebracht, dass es notwendig ist, flexibel in
diesem schwierigen Umfeld zu sein, militärisch flexibel,
aber auch politisch flexibel. Herr Trittin, zu erwarten,
dass man in dieser Lage schon heute ein fertiges politi-
sches Drehbuch für eine Lösung hat, wird der Komplexi-
tät dieses Konflikts nicht gerecht. Das wissen auch Sie.
Dafür sind Sie viel zu sehr mit der Region vertraut. Wir
müssen neben der Unterstützung unserer Soldatinnen
und Soldaten dafür sorgen, dass die internationale Ge-
meinschaft auch den zweiten Teil ihrer Verpflichtung er-
füllt, nämlich es dem souveränen Staat Afghanistan zu
ermöglichen, zu einer politischen Lösung zu kommen,
damit wir der afghanischen Bevölkerung, gegenüber der
wir uns verpflichtet haben, aber auch der eigenen Bevöl-
kerung am Ende sagen können: Wir haben gemeinsam
eine Mission zum Erfolg gebracht. – Dafür kämpfen wir.
Ich bitte Sie noch einmal, an dieser Stelle unseren Solda-
ten die notwendige Rückendeckung nicht zu entziehen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1703701600

Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Ströbele

das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Danke, Herr Präsident. – Mir liegt daran, klarzuma-
chen, dass ich mich nicht für eine verhängnisvolle
Kriegspolitik in Afghanistan vereinnahmen lasse. Wenn
beispielsweise vonseiten der FDP hier betont wird, der
Deutsche Bundestag steht hinter dem Einsatz der Bun-
deswehr in Afghanistan, dann sage ich: Ich stehe nicht
hinter diesem Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan,
und, was vielleicht noch wichtiger ist als die Haltung des
Abgeordneten Ströbele, die große Mehrheit der deut-
schen Bevölkerung steht nicht hinter dem Kriegseinsatz
der Bundeswehr in Afghanistan. Das müssen Sie einmal
zur Kenntnis nehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Die deutsche Bevölkerung hat recht mit ihrer Ableh-
nung dieses Einsatzes in Afghanistan. Es ist nicht ein
Vermittlungsproblem, wie das offenbar aufseiten der
Union gedacht wird. Gestern wurde der Herr General
McChrystal in der Ausschusssitzung geradezu angefleht,
doch zu sagen, wie man der deutschen Bevölkerung die
Notwendigkeit des Afghanistan-Einsatzes vermitteln
könne. Der General hat dazu gar nichts gesagt, weil es





Hans-Christian Ströbele


(A) (C)



(D)(B)

ganz offensichtlich nicht seine Aufgabe ist. Sie können
das auch nicht vermitteln, weil die Auffassung der
Mehrheit der Bevölkerung richtig ist. Ein Einsatz, der,
wie wir inzwischen von General McChrystal, aber auch
vom Bundesverteidigungsminister wissen, in diesem
Jahr aus Großoffensiven im Süden, im Osten und auch
im Norden Afghanistans besteht, aus Großeinsätzen der
Bundeswehr und Großeinsätzen der Alliierten, bei denen
unzählige Menschen getötet und bei denen unzählige
Menschen wie jetzt in Helmand in die Flucht getrieben
werden, ist nicht der richtige Weg, um in Afghanistan zu
deeskalieren und um Verhandlungen vorzubereiten. Wir
können den Soldaten in Afghanistan deshalb guten Ge-
wissens nicht sagen, dass sie im Namen des deutschen
Volkes in Afghanistan ihren Dienst tun; vielmehr müs-
sen wir ihnen sagen, dass sie das zwar im Auftrag einer
Mehrheit des Deutschen Bundestages tun, aber gegen
den erklärten Willen der Mehrheit der deutschen Bevöl-
kerung.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1703701700

Zur Erwiderung Frau Kollegin Hoff.


Elke Hoff (FDP):
Rede ID: ID1703701800

Herzlichen Dank, Herr Präsident! – Sehr geehrter

Herr Ströbele, sind Sie bereit, anzuerkennen, dass der
überwiegende Teil der zivilen Opfer in Afghanistan
nicht dem Einsatz von NATO-Soldaten zu schulden ist,
sondern den Aufständischen, den Taliban, der al-Qaida,
und dass die Zivilbevölkerung in Afghanistan einen An-
spruch darauf hat, dass wir ihr, die sich gegen Anschläge
nicht wehren kann, weil die Heimtücke dieser Anschläge
durch nichts zu überbieten ist, diesen Schutz geben? Ich
bin der festen Überzeugung, dass wir uns an der Zivilbe-
völkerung in Afghanistan genauso schuldig machen,
wenn wir ihr diesen Schutz verweigern.

Auch Sie wissen, dass General McChrystal gestern
sehr klar und deutlich zum Ausdruck gebracht hat, was
der Wunsch der afghanischen Zivilbevölkerung ist: Si-
cherheit, Gerechtigkeit. Dies kann der afghanische Staat
zurzeit noch nicht allein gewährleisten. Der überwie-
gende Teil des Deutschen Bundestages steht Gott sei
Dank hinter diesem Einsatz.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703701900

Das Wort hat nun der Kollege Dr. Hans-Peter

Friedrich für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hans-Peter Friedrich (CSU):
Rede ID: ID1703702000

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Der Tod unserer Soldaten in Afghanistan in den
letzten drei Wochen, aber auch der Tod unserer Soldaten
in den letzten Jahren ist ein Beleg dafür, wie gefährlich
dieser Einsatz ist. Unsere Gedanken in unserer Trauer
sind bei den Angehörigen der Gefallenen; aber sie sind
auch bei denen, die tagtäglich den Einsatz dort leisten
und wissen, dass die Gefahr stets real ist, auch jetzt, in
dieser Stunde, wo wir hier gemeinsam über dieses
Thema reden.

Jeder, der diesem Mandat zugestimmt hat – es war die
große, überwältigende Mehrheit dieses Hauses –, kannte
diese Gefahr, kannte dieses Risiko. Wir sehen mit großer
Bewunderung, mit Respekt und mit Hochachtung, wie
unsere Soldaten vor Ort entschlossen und gewillt sind,
ihren Auftrag auszufüllen, was sie in ganz hervorragen-
der Weise tun.

Wichtig ist ein Aspekt, auf den heute mehrfach hinge-
wiesen worden ist: Es handelt sich nicht um eine Aktion
Deutschlands und der Bundeswehr, sondern um eine
Aktion der internationalen Staatengemeinschaft. Die
internationale Staatengemeinschaft hat beschlossen,
gemeinsam ein Problem, das für alle zur Bedrohung ge-
worden ist, aus der Welt zu schaffen. Deswegen, lieber
Herr Gysi, denke ich, sollten Sie sich schon einmal fra-
gen, wer der politische Geisterfahrer ist, ob es die Mehr-
heit der Staaten rund um den Globus ist oder ob Sie es
sind.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: 70 Prozent der Bevölkerung! Alles Geisterfahrer?)


Die Mehrheit der Staaten rund um den Globus hat von
2001 bis 2009 in zehn Mandaten der Vereinten Nationen
– das letzte ist im Dezember vergangenen Jahres verab-
schiedet worden – die Grundlage dafür gelegt, dass die-
ser Einsatz in Afghanistan stattfinden kann. 16 Nationen
stehen im Norden Afghanistans zusammen mit unseren
deutschen Soldaten. Insgesamt sind 44 Nationen in
Afghanistan vertreten. Die Staatengemeinschaft hat sich
darauf verständigt, ein Problem zu lösen, das alle be-
droht. Dieses Problem heißt: Fanatiker haben sich auf
den Weg gemacht, unsere Kultur, unsere Freiheit, unsere
Lebensart zu zerstören.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Bundeswehr hat sich auf den Weg gemacht! – Unruhe bei der CDU/CSU)


Der 11. September 2001 ist das Symbol für den Kampf
dieser Terroristen und dieser Fanatiker. Sie wollen eine
Welt zerstören, die ihren Bürgern Toleranz, Lebens-
freude, Freiheit, Gleichberechtigung und Menschen-
würde gibt.


(Zuruf des Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Sie wollen eine Welt zerstören, die nicht in ihr persönli-
ches Weltbild passt. Deswegen haben vor acht Jahren die
Völker dieser Erde beschlossen, daran etwas zu ändern.
Deshalb, Herr Trittin, wundert es mich, dass Sie als ehe-
maliges Mitglied einer Regierung, die damals dieses
Mandat mitgetragen und mit auf den Weg gebracht hat,
jetzt sagen, man sei da hineingestolpert. Man ist mit dem
klaren Auftrag nach Afghanistan gegangen, dort mitzu-
helfen, ein Regime zu beseitigen, Terroristen zu entwaff-
nen und mitzuhelfen, dass dieses Land in einen stabilen
Zustand gebracht wird.





Dr. Hans-Peter Friedrich (Hof)



(A) (C)



(D)(B)

Nun ist dieser Zustand in der Kürze der Zeit nicht so
stabil geworden, wie man sich das vorgestellt hat. Man
hat sich vorgestellt, dass das schneller gehen könnte.
Meine Damen und Herren, aber ist das Ziel, auch wenn
man es nicht kurzfristig erreichen konnte, deshalb
falsch? Nein, das Ziel der Weltgemeinschaft bleibt rich-
tig, einen neuen Aufmarschraum für Terrorismus und
Gewalt zu verhindern. Nur, den Preis dafür zahlen die
Soldaten: unsere Soldaten, die Soldaten unserer Verbün-
deten. Das ist der Preis, den sie zahlen, um eine Region
zu stabilisieren. Ich bin dankbar dafür, dass die Frau
Bundeskanzlerin heute sehr ausführlich auf diesen As-
pekt hingewiesen hat.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mit Krieg hat man noch nie stabilisiert!)


Es geht darum, eine Region zu stabilisieren, in der es
Atomwaffen gibt. Es geht nicht nur um Afghanistan,
sondern es geht um die Stabilität einer gesamten Re-
gion. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn es
al-Qaida gelingen würde, Macht – sei es direkt, sei es
nur indirekt – über atomare Sprengköpfe in dieser Re-
gion zu erlangen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, es ist das Ziel, in Afgha-
nistan eine sich selbsttragende Ordnung zu schaffen,
eine Stabilität, die es auch möglich macht, dass man dort
einen Ansprechpartner hat, der für das ganze Volk, für
den ganzen Staat sprechen kann, eine Ordnung, die eine
gewisse Rechtsstaatlichkeit gewährleistet, eine Ordnung,
die es ermöglicht, dass es Schulen gibt, dass die Bevöl-
kerung versorgt wird.

Natürlich wissen wir, dass man all das auch mit zivi-
len Kräften erreichen muss. Aber, Herr Gysi, glauben
Sie allen Ernstes, dass es möglich sein könnte, dass diese
zivilen Kräfte nach einem sofortigen Abzug der interna-
tionalen Soldaten weiterarbeiten? Wir alle wissen doch,
was passieren würde, wenn die Soldaten sofort abziehen
würden. Die zivilen Aufbauhelfer hätten keine Chance.
Überall dort, wo die Lage unsicher geworden ist, wo die
militärischen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, ist bis-
her die zivile Hilfe der staatlichen und nichtstaatlichen
Hilfsorganisationen zusammengebrochen. Deswegen ist
es heuchlerisch, zu sagen: Wir sind zwar für den zivilen
Aufbau, aber wir sind gegen einen militärischen Einsatz. –
Es wird und es kann keinen zivilen Aufbau ohne eine
militärische Absicherung geben. Das ist die Lage.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Unsinn!)


Die Bundesregierung hat eine klare Strategie – nicht
sich selbst und allein ausgedacht, sondern wesentlich mit-
gestaltet – zusammen mit den Verbündeten, eine Strategie,
die seit der Londoner Konferenz unter dem Titel „Über-
gabe in Verantwortung“ zusammengefasst wird. Sie setzt
voraus, dass wir die Sicherheitskräfte der Afghanen
handlungsfähig und kampffähig machen. Auch dafür
müssen unsere Soldaten ausgebildet und ausgerüstet
sein.

Ich bin dem Bundesverteidigungsminister sehr dank-
bar dafür, dass er persönlich vor Ort das Gespräch mit
den Soldaten sucht, auf ihre Wünsche, auch was Aus-
rüstung betrifft, eingeht und sofort anordnet, dass das
eine oder andere, was aus ihrer Sicht notwendig ist, auch
sogleich erfolgt. Wir alle wissen allerdings, dass es in ei-
ner solchen Auseinandersetzung keine hundertprozen-
tige Sicherheit geben kann.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, neben der
Ausrüstung brauchen die Soldaten aber etwas anderes
ebenso dringend, nämlich die klare Rückendeckung des
Deutschen Bundestages und die klare Rückendeckung
der Menschen in unserem Lande.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber die haben sie nicht!)


Die jungen Soldatinnen und Soldaten stehen jeden Mor-
gen auf und riskieren Leib und Leben. Jeden Tag laufen
sie Gefahr, ihr Leben zu verlieren. Sie befinden sich in
einer psychischen Ausnahmesituation. Sie brauchen die
Gewissheit, dass wir an ihrer Seite stehen und zumindest
erahnen können, was täglich von früh bis spät in ihnen
vorgeht.

Wenn wir hier über Begriffe streiten, über den Begriff
„Krieg“ und wer wo was gesagt und interpretiert hat,
dann wird das dem nicht gerecht, was unsere Soldaten
fühlen. Es gibt für jeden Begriff eine juristische Dimen-
sion. Es gibt auch eine umgangssprachliche Dimension.
Aber es gibt für den Begriff „Krieg“ vor allem eine emo-
tionale Dimension. Richtig ist natürlich, dass „Krieg“ im
klassischen völkerrechtlichen Sinn traditionell für die
Auseinandersetzung zwischen zwei oder mehreren Staa-
ten steht. Aber emotional ist „Krieg“ das Synonym für
Zerstörung, für Tod und für den Kampf ums nackte
Überleben. Die Frau Bundeskanzlerin hat in einem Bei-
spiel sehr plastisch geschildert, welche Situation allzu
oft vorkommt: Er oder ich – wer wird überleben? In die-
ser Situation fühlen viele, dass es sich um Krieg handelt.

Wie oft wurde nach dem 11. September 2001 gesagt:
„Die Terroristen haben uns den Krieg erklärt“? Ja, die
Terroristen haben der klassischen Definition von Krieg
eine neue Bedeutung hinzugefügt. Sie haben unserer
freien Welt den Krieg erklärt. Deswegen haben wir Sol-
daten geschickt, die wir jetzt nicht allein lassen dürfen.
Es ist richtig, dass dieser Staat Oberst Klein in diesem
Krieg nicht allein gelassen hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Unsere Hochachtung und unser Respekt gilt dem Mut
der Soldaten, ihrem Können, ihrer Professionalität. Es ist
ein gefährlicher Einsatz, den die Soldaten an der Seite
unserer Verbündeten führen. Es ist ein Einsatz für unsere
Freiheit. Wir danken ihnen dafür.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703702100

Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege

Ruprecht Polenz für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Ruprecht Polenz (CDU):
Rede ID: ID1703702200

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Als die erste Entscheidung über einen Einsatz
deutscher Soldaten in Afghanistan fiel, waren Sie, Herr
Trittin, genauso Minister einer Bundesregierung wie Sie,
Frau Künast. Einer der wesentlichen Gründe, der damals
in der Debatte angeführt wurde, war: Wir dürfen den
Fehler, den die internationale Staatengemeinschaft nach
dem Abzug der Sowjetunion 1989 gemacht hat, nämlich
Afghanistan sich selbst zu überlassen, im Jahre 2001/02
nicht wiederholen.

Wir haben in den 90er-Jahren gesehen – rückblickend
hat es sich als ein Fehler herausgestellt –, dass es nach
dem Abzug der Sowjetunion zum Bürgerkrieg kam. Die
Taliban haben sich durchgesetzt und in weiten Teilen des
Landes eine Schreckensherrschaft errichtet. Sie haben
al-Qaida die Zufluchtsräume ermöglicht, die diese Ter-
rororganisation brauchte, um die Anschläge auf das
World Trade Center, auf das Pentagon und auch in ande-
ren Teilen der Welt vorzubereiten und durchzuführen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie waren auch in Hamburg!)


Wegen der Einschätzung, wir dürfen Afghanistan
nicht sich selbst überlassen, weil das eine Gefahr für die
internationale Sicherheit ist, beteiligen sich seitdem
über 40 Nationen an dem ISAF-Einsatz. Die Gedanken,
die wir heute zum Ausdruck gebracht haben – beginnend
mit der Würdigung durch den Bundestagspräsidenten am
Anfang unserer Sitzung –, machen sich doch auch die
Angehörigen von 1 550 Soldaten aus Australien, von
220 Soldaten aus Neuseeland sowie auch beispielsweise
Angehörige von Soldaten aus Norwegen, Dänemark und
Schweden. Natürlich wäre die Entscheidung in diesen
Ländern für einen solchen Einsatz nicht gefallen, wenn
die Politiker in Singapur, in den Arabischen Emiraten
und in Aserbaidschan – ich will jetzt nicht die über 40
Länder alle aufzählen – nicht zu der gleichen Einschät-
zung gekommen wären, die heute die Bundeskanzlerin
in ihrer Regierungserklärung wiederholt hat. Es ist die
internationale Sicherheit, die in Afghanistan auf dem
Spiel steht. In einer globalisierten Welt heißt das: Es ist
auch die deutsche Sicherheit, die dort auf dem Spiel
steht. Deshalb ist der Satz von Peter Struck, dass unsere
Sicherheit auch am Hindukusch verteidigt wird, nach
wie vor richtig.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Volker Kauder [CDU/CSU], an die SPD gewandt: Wollt ihr nicht klatschen? – Gegenruf des Abg. Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wir nicken!)


Wir sind in Afghanistan, um Schlimmeres für die
Menschen dort, insbesondere für die Frauen, zu verhü-
ten. Ich empfehle Ihnen, einmal auf Google unter den
Stichwörtern „Taliban“ und „Frauen“ nachzuschauen.
Herr Ströbele, Sie finden dann Listen afghanischer Frau-
enorganisationen, in denen aufgeführt wird, was den
Frauen alles verboten war und welche Strafen sie zu er-
leiden hatten, wenn sie gegen die Bekleidungsvorschrif-
ten oder etwa gegen die Vorschrift, sich nicht die Finger-
nägel zu lackieren, verstoßen hatten. In diesen Fällen
wurden ihnen unter Umständen die Finger abgeschnit-
ten. Auch daran müssen wir erinnern. Das ist ein wichti-
ger Aspekt in Bezug auf diesen Einsatz.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703702300

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Ströbele?


Ruprecht Polenz (CDU):
Rede ID: ID1703702400

Ja.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Muss das sein?)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Kollege Polenz, Sie haben mich angesprochen
und gefragt, ob mir das bekannt sei. Mir ist das bekannt.
Es ist schrecklich. Ich will auch viel dafür tun, dass das
nie wieder passiert.


(Lachen bei der CDU/CSU – Jörg van Essen [FDP]: Wie denn? Dann sagen Sie mal, wie Sie es machen wollen!)


Aber man darf keinen Krieg führen. Denn die Frauen
sind diejenigen, die am allermeisten unter dem Krieg lei-
den.

Herr Kollege, ich habe vorgestern mit zwei Organisa-
tionen, mit dem Afghanischen Frauenverein und mit
Medica Mondiale, gesprochen. Diese sagten mir: Die Si-
tuation der Frauen ist heute unter der Regierung Karzai
und unter dem Schutz der internationalen Gemeinschaft
in weiten Teilen des Landes noch so schlecht, dass sich
jedes Jahr 200 Frauen verbrennen. Diese Frauen können
den Zustand der Erniedrigung und der körperlichen Qua-
len – des Geschlagenwerdens usw. – nicht ertragen. Das
heißt, wir haben es leider überhaupt nicht geschafft,
diese Strukturen, in denen diese schlimme Gewalt ge-
genüber Frauen vorkommt und zur Tagesordnung ge-
hört, zu beseitigen – auch unter dieser Regierung nicht.
Es ist also nicht schwarz-weiß, wie Sie versuchen es dar-
zustellen.


Ruprecht Polenz (CDU):
Rede ID: ID1703702500

Herr Ströbele, jedem, der sich mit Afghanistan und

der Entwicklung dort beschäftigt, ist bekannt, dass es
nach wie vor erschreckende Ausmaße häuslicher Gewalt
gibt und dass die patriarchalischen Strukturen der afgha-
nischen Gesellschaft in vielen Teilen vor allen Dingen
im ländlichen Raum nach wie vor zu einer sehr schlim-
men Situation für Frauen führen. Aber jedem ist auch
bekannt, dass seit dem internationalen Einsatz Mädchen
in die Schulen gehen können, Frauen studieren können
und Berufschancen haben und dass sich, ausgehend von
den städtischen Zentren, die Lage der Frauen im Land
verbessert.





Ruprecht Polenz


(A) (C)



(D)(B)

Wenn Sie sagen, Sie wollten etwas in dieser Richtung
beitragen, dann müssen Sie von Ihrer Rhetorik bei der
Kritik des Mandats etwas Abstand nehmen. Denn die
von mir genannten Effekte hätten Sie nicht, wenn die Ta-
liban in Kabul wieder herrschen würden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich möchte noch etwas zu den Zielen der Taliban sa-
gen. In dem Strategiepapier von McChrystal ist das sehr
präzise beschrieben:

The insurgents have two primary objectives: con-
trolling the Afghan people and breaking the coali-
tion’s will. Their aim is to expel international
forces …

Den Willen der Koalition zu brechen, ist also das Ziel.

Deshalb ist es wichtig, wie wir nach solchen schreck-
lichen Anschlägen diskutieren. Wenn wir den Eindruck
erwecken, es brauche vielleicht nur noch fünf oder zehn
weitere Anschläge und dann sei unser Wille gebrochen
und dann würden wir uns aus Afghanistan zurückziehen,
gefährden wir die Sicherheitslage unserer Soldaten und
laden geradezu zu weiteren Anschlägen ein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP und der Abg. Uta Zapf [SPD])


Wir dürfen im Hinblick auf einen Taliban nicht nur
die Assoziation „Turban, langer Mantel, barfuß oder mit
Sandalen, Kalaschnikow“ haben, sondern müssen auch
an den Laptop denken. Über diesen Laptop erfährt Spie-
gel Online zehn Minuten nach einem Anschlag, welche
Ziele die Taliban zur Brechung des Willens der deut-
schen Bevölkerung und der deutschen Politiker verfol-
gen. Das müssen wir in unsere Diskussion einbeziehen.
Deshalb ist auch der eine oder andere Vorwurf an die Art
und Weise zu richten, wie die Linke in Deutschland die
Diskussion führt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, die Soldaten dürfen si-
cherlich erwarten, dass wir uns ein realistisches Bild von
der Gefährlichkeit ihres Einsatzes machen und dieses
Bild auch in unseren Reden vermitteln.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr Wort in Guttenbergs Ohr!)


Deshalb ist es richtig, wenn die Bundeskanzlerin, der
Außenminister und der Verteidigungsminister – sie alle
tun es in der gleichen Weise – von kriegsähnlichen Zu-
ständen oder von Krieg sprechen, um das Geschehen zu
charakterisieren. Damit ändert sich aber die völkerrecht-
liche Lage nicht; das ist damit auch nicht intendiert. Es
ist und bleibt, Herr Ströbele, ein Einsatz nach Kapi-
tel VII der Charta der Vereinten Nationen. Sie vermischen
diese beiden kommunikativen Ebenen absichtsvoll,


(Zuruf des Abg. Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


um gegen einen Krieg zu polemisieren, den Sie als völ-
kerrechtlichen Krieg darstellen, wobei Sie genau wissen,
dass Deutschland diese Art der Kriegsführung verboten
wäre. Auch Herr Trittin hat in seinen Beiträgen leider
Ähnliches anklingen lassen, Herr Gysi sowieso.

Wir müssen uns also gegen diese absichtsvolle Ver-
mengung der beiden Ebenen wehren. Eine realistische
Beschreibung der Zustände muss erfolgen. Aber wir
müssen klar festhalten: Es bleibt ein völkerrechtlicher
Einsatz nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Natio-
nen. Die Vereinten Nationen führen, völkerrechtlich ge-
sehen, keinen Krieg.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)


Noch eine Bemerkung zur Politik. Herr Trittin, Sie
haben kritisiert, dass zu wenig zum innerafghanischen
Aussöhnungsprozess gesagt worden sei. Ich stimme Ih-
nen zu; das ist ein ganz wichtiger Punkt. Denn wenn wir
uns im Rahmen der Strategie der Übergabe in Verant-
wortung zurückziehen wollen, dann muss nach 30 Jah-
ren Krieg und Bürgerkrieg, die in Afghanistan ge-
herrscht haben, ein Zustand erreicht werden, in dem die
afghanischen Stämme ihre Interessengegensätze mög-
lichst gewaltfrei austragen und auf das Faustrecht ver-
zichten. Sie wissen aber sehr genau – deshalb war Ihr
Vorwurf unredlich –, dass bei den Gesprächen, die
Karzai führt, und angesichts der Grenzen, die er versucht
einzuhalten, Voraussetzung für diesen Versöhnungspro-
zess und die Beteiligung daran ist, dass erstens die af-
ghanische Verfassung die Grundlage dessen sein soll,
worauf man sich zu verständigen hat, zweitens auf Ge-
walt verzichtet wird und drittens eine scharfe Abgren-
zung gegenüber al-Qaida erfolgt. Das sind die drei roten
Linien, innerhalb deren sich der Versöhnungsprozess ab-
spielen muss.

Eine letzte kurze – meine Redezeit ist gleich zu Ende –
Bemerkung zur Einbeziehung der Nachbarn. Wir spre-
chen meines Erachtens zu wenig darüber, dass wir Af-
ghanistan nicht dauerhaft stabilisieren können, wenn wir
die Nachbarn nicht in diesen Prozess einbeziehen. Über
Pakistan wird inzwischen glücklicherweise mehr gere-
det. Wir reden aber zu wenig über den Iran. Ohne den
Iran wird es nicht gehen. Wir haben ebenso wie der Iran
ein Interesse an einem stabilen Afghanistan ohne Dro-
genanbau. Nur bei Stabilität können die Iraner die
Flüchtlinge wieder nach Afghanistan zurückschicken; es
sind über 1 Million im Iran. Die Iraner sind keine
Freunde der Taliban, und sie bekämpfen auch al-Qaida.

Es gäbe also genügend Anknüpfungspunkte. Derzeit
haben wir natürlich mit dem Iran das Nuklearproblem zu
lösen. Ich glaube aber, dass sich das Nuklearproblem
möglicherweise leichter besprechen und lösen lassen
würde, wenn wir das Spielfeld im Zusammenhang mit
einer konstruktiven Zusammenarbeit mit dem Iran im
Hinblick auf Afghanistan erweitern würden und dem
Iran zeigen würden, welche Rolle wir ihm in der Region
zubilligen.


(Beifall des Abg. Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da haben Sie recht!)


Vielen Dank.





Ruprecht Polenz


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703702600

Ich schließe die Aussprache.

Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 4 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Ernst, Jutta Krellmann, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Mit guter Arbeit aus der Krise

– Drucksache 17/1396 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich
sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann werden wir so
verfahren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Klaus Ernst für die Fraktion
Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703702700

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Erneut müssen wir uns hier aufgrund der Reali-
täten in unserem Land über die Frage unterhalten, wie
es um die Arbeitsbedingungen, die Löhne, die Situation
der Menschen, die ihr Geld durch Arbeit verdienen
müssen, steht. Vor allen Dingen weil es veränderte Ge-
winnerwartungen der Unternehmen gab, die von der
Politik entsprechend unterstützt wurden, war die Situa-
tion in den letzten Jahren von einer sinkenden Lohn-
quote geprägt, verbunden mit drastischen Veränderun-
gen in der Arbeitswelt. Ich erinnere an das Zitat von
Gerhard Schröder vom Februar 1999:

Wir müssen einen Niedriglohnsektor schaffen, der
die Menschen, die jetzt Transfer-Einkommen bezie-
hen, wieder in Arbeit und Brot bringt.

Ich möchte dazu feststellen: Das mit der Arbeit hat im
Einzelfall geklappt; allerdings ist das Brot ausgeblieben.


(Beifall bei der LINKEN)


Menschen müssen zunehmend in Beschäftigungsver-
hältnissen arbeiten – Sie wissen das –, von denen man
nicht mehr leben kann. Die Politik hat die Voraussetzun-
gen dafür geschaffen: für die Erosion der regulären und
gut abgesicherten Beschäftigung in den Unternehmen
unseres Landes. Das Ergebnis sind Leiharbeit, Minijobs,
die Befristung von Arbeitsverhältnissen und der Abbau
des Kündigungsschutzes. Hartz IV und Leiharbeit haben
bei den Löhnen und bei der Zahl der regulären Arbeits-
verhältnisse zu einem Erdrutsch geführt. Der Steuerzah-
ler ist in der Situation, dass er dies jährlich mit Zuschüs-
sen in Milliardenhöhe finanzieren muss, um die
Menschen überhaupt am Leben zu halten.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Vorher hat der Steuerzahler die Arbeitslosigkeit finanziert!)


– Herr Kollege, das mag aus Ihrer Sicht so sein. Ich
weiß, dass Ihr Satz immer ist: Sozial ist, was Arbeit
schafft.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Jawohl!)


Ich sage Ihnen: Die Arbeitsplätze, die Sie geschaffen ha-
ben, sind unsozial. Deshalb ist es falsch, zu sagen: Sozial
ist, was Arbeit schafft. Herr Kollege, Sie müssen schon
ein bisschen hinschauen, um zu sehen, wie die Men-
schen wirklich arbeiten.


(Beifall bei der LINKEN – Max Straubinger [CDU/CSU]: Ein Arbeitsplatz ist nie unsozial!)


Ich sage Ihnen: Die Situation der Frauen, der jungen
Menschen und der Menschen mit Migrationshintergrund
– das mag nicht Ihre Klientel sein – ist dramatisch. Wir
müssen uns den Fakten zuwenden. Wir müssen uns der
Realität zuwenden, dass die Menschen nach einer Um-
frage des DGB zu 92 Prozent ein verlässliches und fes-
tes Einkommen wünschen. Für sie ist genau das ent-
scheidend, was von Ihnen zunehmend infrage gestellt
worden ist, auch durch Ihre Politik. Es ist Fakt: 2008
waren 7,7 Millionen Menschen entweder in Teilzeit oder
in befristeten Arbeitsverhältnissen oder als Leiharbeit-
nehmer beschäftigt. Es ist auch Fakt, dass 6,5 Millionen
Arbeitnehmer – das ist fast ein Viertel der Beschäftigten
in unserem Lande – nur noch mit Niedriglöhnen abge-
speist werden und kein vernünftiges Einkommen mehr
bekommen.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!)


– Wenn Sie glauben, dass das nicht stimmt, müssen Sie
die Statistik lesen. Ich weiß nicht, wie Sie die Statistik
fälschen; das sind jedenfalls Zahlen der Bundesagentur
für Arbeit aus dem Jahr 2009.

1,37 Millionen Menschen müssen ihr Gehalt aufsto-
cken lassen, weil es nicht mehr ausreicht, um ihr Leben
zu bedienen. In der Altersgruppe der 15- bis 20-Jährigen
haben nur noch 40,7 Prozent der Beschäftigten eine un-
befristete Stelle, in der Altersgruppe der 20- bis 25-Jäh-
rigen sind es nur noch 25 Prozent. Mit diesem Zustand
dürfen wir uns nicht abfinden.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich möchte, weil es der eine oder andere vielleicht
nicht den Linken glaubt, zur Kenntnis geben, was die
Süddeutsche Zeitung am 14. April 2010 dazu geschrie-
ben hat. Die Überschrift des Artikels lautete: „Teilzeit
und Leiharbeit fressen Demokratie auf“. In dem Artikel
über die veränderten Arbeitsbedingungen heißt es:

Es ändert sich zum Beispiel die Art, in der die sol-
chermaßen Beschäftigten ihr Leben planen können

(oder auch nicht). Es ändert sich das Maß, in dem

Arbeitnehmer ihre Rechte in Anspruch nehmen –





Klaus Ernst


(A) (C)



(D)(B)

und, um es leicht pathetisch zu formulieren: Mit
den Beschäftigungsverhältnissen erodieren auch In-
stitutionen, die einst in der Erkenntnis eingeführt
wurden, dass es Demokratie nicht nur in der Politik,
sondern auch in der Wirtschaft geben muss.

In dem Artikel heißt es weiter – das finde ich nun wirk-
lich sehr bemerkenswert –:

Wer nur für sechs oder zwölf Monate beschäftigt
ist, wird auf die Gründung einer Familie vorerst
verzichten.

Frau von der Leyen ist bei diesem Thema nicht mehr an-
wesend. Es ist zwar nett und schön, dass sich Frau von
der Leyen um die Fortpflanzungsmöglichkeiten in der
Bundesrepublik sorgt und die Familien in den Vorder-
grund stellen will; das ist richtig. Aber man muss auch in
den Vordergrund stellen, wie es denn einem 25-Jährigen
oder 22-Jährigen überhaupt noch möglich sein soll, eine
Familie zu gründen, wenn er weiß, dass er seinen Job
bloß noch einen Monat hat, oder wenn er als Leiharbei-
ter beschäftigt ist und weiß, dass er in einer Krise als
Erster seinen Job verliert. Das ist der Ansatz für Fami-
lienpolitik.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Artikel von Herrn Detlef Esslinger ist auch aus
folgendem Grund so interessant:

Wer auf einen Anschlussvertrag hofft, wird auf der
Bezahlung von Überstunden keinesfalls bestehen.
Kündigungsschutz kennt ein befristet Beschäftigter
allenfalls als Vokabel. Er wird keinen Betriebsrat
konsultieren, und schon gar nicht wird er (oder sie)

auf die Idee kommen, selber dafür zu kandidieren.

Angesichts der realen Arbeitsbedingungen in unserem
Land geht es nicht nur um einen Abbau der unmittelba-
ren Leistungen und um eine Verschlechterung der unmit-
telbaren Situation der Beschäftigten. Es geht auch um ei-
nen Abbau von Demokratie in den Betrieben. Den
müssen wir doch wohl gemeinsam verhindern.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir sind nicht damit einverstanden, wenn Sie aus-
weislich Ihres Koalitionsvertrages nichts gegen Leihar-
beit unternehmen wollen; denn wir wissen, dass Leihar-
beit eben nicht dem Abbau von Spitzen dient, sondern
letztendlich eine Methode ist, vernünftige Arbeitsplätze
abzubauen und schlecht bezahlte Jobs in den Betrieben
zu schaffen. Wir sind nicht damit einverstanden, dass Sie
in Ihrem Koalitionsvertrag schreiben:

Wir werden die Möglichkeit einer Befristung von
Arbeitsverträgen so umgestalten, dass die sach-
grundlose Befristung nach einer Wartezeit von ei-
nem Jahr auch dann möglich wird, wenn mit demsel-
ben Arbeitgeber bereits zuvor ein Arbeitsverhältnis
bestanden hat.

Sie sagen, Sie wollten den Kündigungsschutz nicht ver-
schlechtern. Faktisch machen Sie mit dem, was Sie im
Koalitionsvertrag schreiben, den Kündigungsschutz
obsolet. Den Menschen muss gar nicht mehr gekündigt
werden, weil ihr Vertrag ausläuft und sie dann aus den
Betrieben entfernt werden.

Wir fordern deshalb: Wir brauchen eine klare Rege-
lung für die Leiharbeit. Es muss gelten: gleicher Lohn
bei gleicher Arbeit.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der FDP: Das steht im Gesetz!)


– Richtig, das steht im Gesetz. Aber Sie wissen genauso
gut wie ich, dass dieses Gesetz umgangen wird, unter an-
derem durch gelbe Gewerkschaften, die niedrige Tarife
abschließen. Wir brauchen einen Ausschluss der Mög-
lichkeit, von diesem Prinzip abzuweichen. Dem muss
sich die FDP anschließen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn Sie dauernd die Einführung eines Mindestlohns
verweigern und gleichzeitig sagen, Leistung müsse sich
lohnen, dann belügen Sie die Leute. Das ist die Realität,
Herr Kolb; der sollten Sie sich zuwenden.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich fahre fort. Wir brauchen eine klare Regelung, dass
befristete Arbeitsverhältnisse nicht in der Weise verwen-
det werden, wie es gegenwärtig geschieht. Ein Arbeits-
vertrag darf nur wegen eines Sachgrundes befristet wer-
den. Es kann nicht sein, dass Regelungen, die der
Schaffung vernünftiger Arbeitsbedingungen dienen, aus-
gehebelt werden. In unserem Antrag fordern wir unter
anderem, dass der Kündigungsschutz gestärkt wird und
dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf dadurch
verbessert wird, dass zum Beispiel Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer, die im Schichtbetrieb arbeiten müs-
sen, die Möglichkeit haben, aus dem Schichtsystem he-
rauszukommen, wenn sie kleinere Kinder haben. Oft ar-
beiten beide Elternteile im Schichtbetrieb und müssen
sich abwechselnd um ihre Kinder kümmern. Da schaut
das Familienleben so aus, dass der eine auf einen Zettel
schreibt: Ich komme heute Abend später. – Wenn er wie-
derkommt, hat seine Partnerin auf dem Zettel geschrie-
ben: Ja, ich habe es gemerkt. – Das ist nicht der Zustand,
den wir wollen. Wir wollen, dass Familie und Beruf bes-
ser vereinbart werden können.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich komme zum Schluss. Ich möchte, dass die in un-
serem Antrag formulierte Forderung, die Bezugsdauer
des Arbeitslosengeldes I auf 24 Monate zu verlängern,
realisiert wird, weil wir wissen, dass Leiharbeitnehme-
rinnen und Leiharbeitnehmer besonders von Arbeitslo-
sigkeit betroffen sind. Die Verlängerung der Geltungs-
dauer der Kurzarbeitsregelungen hat nicht geholfen.
Wenn die Betroffenen keine Arbeit mehr haben, müssen
sie von Arbeitslosengeld II leben. Das müssen wir än-
dern.


(Beifall bei der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703702800

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege

Dr. Johann Wadephul.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)


Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1703702900

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Die Bundesrepublik Deutschland ist gemäß
Art. 20 ihrer Verfassung ein sozialer Rechtsstaat. Die so-
ziale Marktwirtschaft ist wahrscheinlich unser bester Ex-
portartikel. Deswegen ist es in der Tat richtig, dass wir
immer wieder – besonders in Zeiten einer Wirtschafts-
krise, wie wir sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr
erlebt haben – über die Neujustierung unserer Sozial-
politik diskutieren, dass wir Fehlentwicklungen aufgrei-
fen und überlegen, ob es in der Tat Missbrauch oder ein
Überhandnehmen der Befristung von Arbeitsverhältnis-
sen gibt. Gibt es zu viel Leiharbeit? Gibt es Missbrauch
von Leiharbeit? Über den Fall Schlecker haben wir be-
reits kritisch diskutiert. All das ist notwendig.

Herr Kollege Ernst, zu Ihrer Rede und zu dem Antrag
Ihrer Fraktion muss ich sagen: Wir brauchen kein sozia-
listisches Wünsch-dir-was. Was Ihrer Partei eingefallen
ist, lässt Maß und Mitte völlig vermissen. Es wird ver-
sucht, das sozialpolitische Miteinander, das wir in
Deutschland zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaf-
ten haben, zu diskreditieren. Das haben weder die Tarif-
vertragsparteien noch die Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer verdient. Das leistet auch keinen Beitrag
dazu, dass das soziale Klima in Deutschland besser wird.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Bemerkenswerterweise sind Sie auf viele Punkte Ih-
res Antrags nicht eingegangen. Vielleicht sind sie Ihnen
peinlich gewesen; vielleicht waren Sie auch etwas zu
schnell. Als Porschefahrer lieben Sie die Geschwindig-
keit.


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich möchte mich zunächst kurz mit den Punkten befas-
sen, die Sie angesprochen haben, insbesondere mit dem
Befristungsrecht. Wir werden das genau prüfen. Falls
wir auf der Grundlage des Koalitionsvertrages gesetzlich
nachsteuern müssen, dann werden wir das maßvoll tun.
Die Forderung, die Sie aufstellen – in Ihrer Rede war das
etwas missverständlich; im Antrag ist es eindeutig –, die
sachgrundlose Befristung von Arbeitsverträgen völlig
abzuschaffen, macht das Übermaß deutlich, das ich ein-
gangs kritisiert habe.

Betriebe brauchen in bestimmten Situationen die
Möglichkeit, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit
einem Sachgrund – damit haben Sie recht – befristet ein-
zustellen. Klassische Fälle sind eine Schwangerschafts-
vertretung, ein hoher Auftragseingang mit der Folge,
dass die Aufträge schnell abgearbeitet werden müssen,
oder der Fall, dass man eine besonders qualifizierte Ar-
beitskraft nur für ein bestimmtes Projekt braucht, danach
aber nicht mehr. Das alles sind Fälle, in denen wir den
Betrieben ermöglichen müssen, befristet einzustellen.
Man würde das Kind mit dem Bade ausschütten, wenn
man auch die sachgrundlose Befristung völlig abschaf-
fen würde. Das hilft den Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmern nicht, Herr Kollege Ernst. Deswegen lehnen
wir das schlicht und ergreifend ab.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703703000

Herr Kollege, darf ich Sie unterbrechen? – Herr Kol-

lege Ernst möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.


(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Was hat er nicht verstanden?)



Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1703703100

Bitte.


Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703703200

Danke für die Möglichkeit, nachzufragen. – Sie haben

verschiedene Gründe für eine Befristung genannt. Sie ha-
ben erklärt, warum eine Befristung für einen Betrieb
möglicherweise sinnvoll sein kann. Am Ende Ihrer Aus-
führungen kommen Sie zu dem Ergebnis, dass man eine
sachgrundlose Befristung braucht. Es tut mir leid, aber
das kann ich nicht nachvollziehen. Können Sie mir bitte
erklären, warum Sie trotz der vorgetragenen Sachgründe,
die möglicherweise richtig sind, zu dem Ergebnis kom-
men, dass der Arbeitgeber die Möglichkeit haben muss,
ohne jeden Grund befristet einzustellen? Können Sie mei-
ner Behauptung zustimmen, dass die Möglichkeit, sach-
grundlose Befristungen in den Betrieben durchzuführen,
zu dem Ergebnis geführt hat – ich habe es vorhin ange-
sprochen –, dass inzwischen fast die Hälfte der jungen
Menschen ohne festen Arbeitsvertrag in den Betrieben
eingestellt wird?


Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1703703300

Herr Kollege Ernst, Ihre Rede war an dieser Stelle

missverständlicher als der Antrag. In Ihrer Rede haben
Sie auch die Sachgrundbefristung infrage gestellt. Des-
halb habe ich dazu etwas gesagt. Das ist der erste Punkt.

Zweitens. Die Betriebe haben seit Mitte der 80er-
Jahre, eingeführt durch Norbert Blüm, die Möglichkeit,
ohne einen Sachgrund für maximal zwei Jahre befristet
einzustellen. Das ist ein Erfolgsmodell. Aus vielen be-
fristeten Verträgen sind Dauerarbeitsverhältnisse gewor-
den. Weil man den Arbeitnehmer kennengelernt hat,
weil man gemerkt hat, was er kann, hat man ihn dauer-
haft übernommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ein solches Erfolgsmodell werden wir nicht infrage stel-
len. Diese Regelung ist seit 1986 im deutschen Recht
verankert. Dabei bleiben wir. In der Sache bin ich mit Ih-
nen vielleicht sogar einer Meinung: Das darf natürlich
nicht der Regelfall sein. Der Regelfall soll natürlich ein
unbefristetes Arbeitsverhältnis sein. Deshalb habe ich
gesagt: Wenn wir hier modifizieren, schauen wir uns
ganz genau an, was wir modifizieren.

Ich möchte zu einem weiteren Punkt kommen, der
mich wirklich umtreibt, zu dem Sie aber gar nichts ge-
sagt haben, nämlich zu den massiven Eingriffen in die
Tarifautonomie. Diese ist Ihnen – das wissen wir aus der
Mindestlohndebatte – ohnehin nicht so wahnsinnig viel
wert. Jetzt wollen Sie in das Tarifvertragsgesetz eingrei-
fen. Sie wollen vorschreiben, dass Lohngleichheit zwi-
schen Frauen und Männern hergestellt wird.





Dr. Johann Wadephul


(A) (C)



(D)(B)

Mit einer gewissen Empörung stelle ich fest, dass Sie
den Gewerkschaften unterstellen, dass sie genau darauf
nicht schon seit Jahrzehnten achten. Das geschieht. Zei-
gen Sie mir einen Tarifvertrag, den Gewerkschaften, die
dem DGB angehören, unterschrieben haben, in dem von
vornherein eine Diskriminierung von Frauen stattfindet!
So etwas gibt es nicht. Das möchte ich im Namen der
Einzelgewerkschaften des DGB zurückweisen. Das ist
das Erste.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das Zweite ist: In Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes ist
die Tarifautonomie verankert. Sie ist eines der Erfolgs-
modelle der Bundesrepublik Deutschland und der Nach-
kriegszeit. Manch einer in Ihrer Fraktion kennt das aus
FDGB-Zeiten noch etwas anders. Das mag einigen als
Modell der Zukunft vorgeschwebt haben. Ich sage Ihnen
nur: Das ist ein Holzweg. Wir wollen freie Gewerkschaf-
ten und freie Arbeitgeberverbände, die im freien Spiel
der Kräfte miteinander das Beste für die Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer sowie für die Betriebe aushan-
deln. Da greift der Gesetzgeber nicht ein. Das ist nicht
Aufgabe des Staates. Das ist die Lehre, die wir aus Fehl-
entwicklungen in der Weimarer Republik und der DDR
ziehen. Dabei bleiben wir.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Mein dritter Punkt ist: Der Antrag zeigt, dass die Lin-
ken teilweise noch in einer utopischen politischen Welt
leben und noch immer nicht begriffen haben, dass die
DDR nicht nur finanz- und wirtschaftspolitisch, sondern
auch sozialpolitisch gescheitert ist.


(Zuruf des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])


– Vieles von dem, was Sie vorschlagen, stammt mögli-
cherweise nicht aus Ihrer Feder. Sie müssen das aber
vertreten, weil Sie Vorsitzender werden wollen. Das
müssen Sie miteinander aushandeln.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Er ist es noch nicht!)


Das weiß ich nicht so genau. Aber vieles von dem, was
Sie vorschlagen – auf einige Einzelregelungen werden
die nachfolgenden Redner noch zu sprechen kommen –,
lehnt sich an das Wirtschaftssystem an, das im ehemals
unfreien Teil Deutschlands gescheitert ist. Das darf kein
Zukunftsmodell für Gesamtdeutschland sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das bedeutet im Ergebnis – das möchte ich Ihnen klar
sagen –: Ich sehe hier einige Gefahren. Sie nutzen das
soziale Klima – Sie sprechen von sozialer Kälte – für
eine populistische öffentliche Propaganda, die gefährlich
ist. Der Kollege Hunko hat schon im vergangenen
Sommer in Nordrhein-Westfalen Unruhen wie in Frank-
reich heraufbeschworen und für sinnvoll gehalten. Das
ist in der Tat eine Entwicklung – das sage ich insbeson-
dere im Hinblick auf den Wahlkampf in Nordrhein-
Westfalen –, die wir mit Sorge sehen.


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Wollen Sie, dass der deutsch-französische Motor stottert?)

– Wenn Sie ernsthaft suggerieren wollen, dass die Unru-
hen der Jugendlichen in den französischen Vorstädten
ein Vorbild für Deutschland sind, dann kann ich nur sa-
gen: Das zeigt ganz klar, wohin Sie wollen. Sie wollen
nicht sozialen Frieden, sondern sozialen Unfrieden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dass das in der Debatte deutlich wird, ist vielleicht ganz
gut.

Das heißt im Ergebnis: Die Linke darf keine politi-
sche Verantwortung tragen, erst recht nicht in Nord-
rhein-Westfalen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Möglicherweise dient der Antrag der Profilierung vor
der dortigen Wahl. Wir brauchen klare Entscheidungen
der Bürgerinnen und Bürger. Sie müssen wissen, worum
es geht und vor welchen Alternativen sie stehen. Wir
brauchen keine sibyllinischen Auskünfte, insbesondere
von Frau Kraft nicht, die in einem Slogan ihren Vor- und
Nachnamen wiederholen lässt. Wir brauchen klare Aus-
sagen, nicht von einer Sibylle Kraft, sondern von einer
Frau Kraft. Sie muss klar sagen, welche politische Kon-
stellation sie anstrebt und welche sie definitiv – hoffent-
lich mit einem größeren Aussagewert und mit Glaub-
würdigkeit – ausschließt. Ich ziehe daraus den Schluss,
dass vernünftige Sozialpolitik in einer sozialen Markt-
wirtschaft dann gemacht wird, wenn die Union Verant-
wortung trägt. Jürgen Rüttgers ist dafür der beste Garant.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Zuruf von der LINKEN: Um Himmels willen!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703703400

Nächster Redner ist der Kollege Ottmar Schreiner für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1703703500

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege

Wadephul, ich weiß nicht genau, was der Antrag der
Linkspartei mit Jürgen Rüttgers zu tun hat. Sie haben da
einen sehr weiten Bogen gespannt.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Es war aber interessant!)


Sie haben zunächst – wie ich finde: zu Recht – kritisiert,
dass der Antrag der Linkspartei eine sehr breite Palette
von unterschiedlichsten Vorstellungen enthält. Man
könnte auch sagen: Er ist ein Sammelsurium, über das
man in der kurzen Debattenzeit nicht seriös diskutieren
kann. Sie haben insgesamt circa 40, 45 Vorschläge unter-
schiedlichster Art zusammengeschrieben. Das macht
eine vernünftige parlamentarische Debatte fast unmög-
lich. Deshalb werde ich versuchen, mich auf einige we-
nige Punkte zu konzentrieren, die jedenfalls ich für be-
sonders wichtig halte.





Ottmar Schreiner


(A) (C)



(D)(B)

Zunächst einmal wird im Antrag gefordert, gute Arbeit
zu fördern. Das ist auch zentrales Anliegen der Sozialde-
mokraten. Wir wollen gute Arbeit fördern. Viele Arbeit-
nehmer wurden gefragt, was für sie gute Arbeit sei. Die
Ergebnisse sind eindeutig. Alle Befragungen zeigen,
dass der überwiegende Teil der bundesdeutschen Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer unter guter Arbeit ein
auf Dauer angelegtes, stabiles sozialversicherungspflich-
tiges Beschäftigungsverhältnis versteht, von dem die
Menschen einigermaßen vernünftig leben können.


(Beifall bei der SPD)


Das ist das zentrale Anliegen bei guter Arbeit. Wenn ich
dies als Messlatte nehme, dann lässt sich überhaupt nicht
bestreiten, dass wir es in Deutschland mit mindestens
zwei zentralen Fehlentwicklungen auf dem Arbeitsmarkt
zu tun haben, die es in diesem Ausmaß möglicherweise
in keinem anderen europäischen Land gibt. Diese Fehl-
entwicklungen sind teilweise von der Politik gefördert
und befördert worden.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Von der SPD sogar!)


Also können sie von der Politik auch wieder korrigiert
werden. Ich sage in aller Deutlichkeit, dass ich es für
eine Schande halte, dass in einem der reichsten Länder
der Erde immer mehr Menschen so wenig verdienen,
dass sie von ihrem Einkommen nicht mehr leben kön-
nen. Das ist nicht christlich.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: SPD wollte Niedriglohnsektor! Die SPD!)


Das mag liberal sein; aber christlich ist es nicht.

Die schlecht bezahlten Jobs werden immer mehr zum
Armutsrisiko. Inzwischen ist die Entwicklung so, dass
auf zehn Arbeitslose im Hartz-IV-System bereits sechs
Hartz-IV-Empfänger kommen, die erwerbstätig sind,
von ihrem Lohn aber nicht leben können und über Hartz-
IV-Leistungen aufstocken müssen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aufstockung wurde auch von der SPD eingeführt!)


– Es geht jetzt im Wesentlichen nicht darum, darüber zu
diskutieren, woher es kommt, sondern darum, wie wir es
ändern wollen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Uns interessiert auch, wo es herkommt!)


– Lieber Kollege von der FDP, Sie haben all den Rege-
lungen, die Sie kritisieren, zugestimmt und zu erhebli-
chen Teilen weitere Verschärfungen hier im Deutschen
Bundestag angestrebt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Längst nicht allen!)


Wenn Sie sich jetzt hier als Rächer der Enterbten darstel-
len, ist das pure Heuchelei. Sie sollten den Mund halten,
zumindest für die nächste halbe Stunde; danach sehen
wir weiter.

(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Von Ihnen sollten bei diesen Themen nun wirklich keine
Zwischenrufe gemacht werden.


(Zuruf des Abg. Dr. Heinrich L. Kolb [FDP])


– Sind Sie immer noch nicht ruhig? Reicht es nicht?


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das Problem ist, dass die Koalition diese Entwick-
lung noch verschärfen will. Sie überlegen, die Hinzuver-
dienstgrenzen für Hartz-IV-Empfänger noch großzügiger
auszugestalten. Das heißt, dass die Armutslohnproble-
matik weiter zunehmen wird. Es ist meine feste Über-
zeugung und die feste Überzeugung der SPD-Fraktion,
dass es nicht Aufgabe der Steuerzahler ist, Unterneh-
men, die Armutslöhne zahlen, zu subventionieren,


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Sie sollten kein verzerrtes Bild von der Wirklichkeit zeichnen!)


dass es aber Aufgabe der Politik ist, die Steuerzahler da-
vor zu schützen, Armutslöhne subventionieren zu müs-
sen. Wir wollen kein staatlich subventioniertes Lohn-
dumping.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Deshalb fordern wir die Koalition auf, entsprechende
Bestrebungen unverzüglich einzustellen und sich unse-
ren Überlegungen zum Thema Mindestlohn anzuschlie-
ßen.

Herr Kollege Wadephul, ich verstehe überhaupt nicht,
warum Sie den Mindestlohn in Verbindung mit einer
möglichen Beschädigung der Tariffreiheit bringen. Der
Deutsche Gewerkschaftsbund hat auf seinem letzten
Bundeskongress vor vier Jahren mit einer Mehrheit von
96 Prozent die Forderung nach der Einführung gesetzli-
cher Mindestlöhne beschlossen. Die Gewerkschaften
sind eine zentrale Säule des Tarifsystems. Wenn die Ge-
werkschaften der Auffassung sind, dass es der politischen
Unterstützung bedarf, um zu gewährleisten, dass zumin-
dest im untersten Einkommensbereich halbwegs men-
schenwürdige Löhne gezahlt werden, dann sollte sich die
Politik diesem Ansinnen nicht verweigern. Das hat mit
Eingriffen in die Tarifautonomie überhaupt nichts zu tun.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Was die Höhe des Mindestlohns betrifft, wird man de-
battieren müssen, ob der Vorschlag der Linkspartei
– 10 Euro brutto die Stunde – angemessen ist. Ich plä-
diere sehr dafür, die Kirche im Dorf zu lassen. Dieser
Vorschlag ist meiner Meinung nach ein bisschen arg
populistisch. Es gibt vernünftige, objektive Kriterien,
anhand derer man eine Mindestlohngrenze festlegen
kann. Man könnte zum Beispiel die Pfändungs-
freigrenze, die Arbeitnehmern im Fall der Überschul-
dung einen angemessenen Lebensunterhalt sichert, he-





Ottmar Schreiner


(A) (C)



(D)(B)

ranziehen. Dann hätten wir einen Mindestlohn von etwa
1 000 Euro netto bei Vollzeitbeschäftigung. Das würde
ungefähr unseren Vorstellungen von einem Einstiegs-
mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro brutto die Stunde
entsprechen. Ich bin einigermaßen sicher, dass die Ge-
werkschaften auf ihrem anstehenden Bundeskongress
ähnliche Überlegungen anstellen werden. Ich plädiere
sehr nachdrücklich dafür, in dieser Frage einen mög-
lichst engen Schulterschluss mit den Gewerkschaften zu
suchen, weil sie in besonderem Maße betroffen sind.

Die zweite zentrale Fehlentwicklung auf dem Arbeits-
markt ist die systematische Ausbreitung ungeschützter,
prekärer oder atypischer Beschäftigungsverhältnisse. Die
Arbeitsmarktflexibilisierung zielt, was die Instrumente
betrifft, in die völlig falsche Richtung. Es geht in vielen
Bereichen nicht mehr um die Flexibilisierung des Ar-
beitsmarktes, sondern um den nackten Missbrauch der In-
strumente zum Zweck des Lohndumpings. Dem muss ein
Riegel vorgeschoben werden. Die Koalition tut auch hier
das Gegenteil.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Was?)


Sie wollen die Regelungen betreffend die zeitliche Be-
fristung noch stärker lockern. Das ist ein Schritt in die
falsche Richtung.


(Beifall bei der SPD)


2009 waren fast 50 Prozent der mit jungen Leuten neu
geschlossenen Arbeitsverträge zeitlich befristet. Die
Union behauptet von sich, eine Familienpartei zu sein.
Ich sage Ihnen: Diese Entwicklung ist extrem familien-
und kinderfeindlich. Wenn ein 28-jähriger Mann oder
eine 30-jährige Frau – das ist übrigens unabhängig von
der Ausbildung; es gibt auch sehr viele hochqualifizierte
und sehr gut ausgebildete junge Menschen, denen Sie
den Start ins Berufsleben massiv vermiesen – nicht wis-
sen, ob sie ein Kind nach zwei Jahren zeitlicher Befris-
tung noch angemessen kleiden und ernähren können,
dann entscheiden sie sich nicht für ein Kind. Wir brau-
chen eine Wiederbelebung des Normalarbeitsverhältnis-
ses. Auch junge Menschen müssen ihr Leben halbwegs
vernünftig planen können. Wir brauchen also eine Stär-
kung und Ausweitung normaler, stabiler, auf Dauer an-
gelegter Arbeitsverhältnisse und eine massive Eindäm-
mung prekärer, sozial ungeschützter Beschäftigung.
Alles andere wäre die Rückkehr in das 19. Jahrhundert
im modernen Gewand der Tagelöhnerei. Das können Sie
als christliche Partei nicht ernsthaft wollen.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Es gibt Alternativen zu dieser Flexibilisierung des Ar-
beitsmarktes. Es ist von einem Jobwunder in Deutsch-
land die Rede, und es heißt, dass Deutschland bisher die
tiefste Wirtschafts- und Finanzkrise seit über 80 Jahren
jedenfalls auf dem Arbeitsmarkt einigermaßen gut über-
standen hat. Das hat im Wesentlichen mit zwei Flexibili-
sierungsinstrumenten zu tun: zum einen mit der zeitge-
mäßen Ausgestaltung der Kurzarbeit in Verbindung mit
Qualifizierung und zum anderen mit dem sehr verant-
wortungsvollen Umgang mit Arbeitszeitkonten. Das
sind Flexibilisierungsinstrumente, die sowohl dem Ar-
beitnehmer als auch dem Unternehmen nutzen. Ange-
sichts des anstehenden demografischen Wandels – ein
Facharbeitermangel wird vorausgesagt – wäre es grot-
tenfalsch, hochqualifizierte Arbeitskräfte zu entlassen.
Es kommt jetzt darauf an – das ist die zentrale Aufgabe
der Politik in der nächsten Zeit –, dass diese bewährten
internen Flexibilisierungsinstrumente so ausgestaltet
werden, dass sie auch dann zur Anwendung kommen,
wenn die tiefe Wirtschafts- und Finanzkrise vorbei ist,
und dazu beitragen, die eben genannten arbeitnehmer-
feindlichen Flexibilisierungsinstrumente – Leiharbeit,
zeitliche Befristung, Praktikantenunwesen usw. usf. –
zurückzudrängen.

Eine weitere Bemerkung zu dem Antrag der Linken,
weil ich finde, dass auch da die Auslassungen des Kolle-
gen Wadephul von der CDU/CSU zumindest unver-
ständlich waren. Herr Kollege Wadephul, wir wissen aus
Untersuchungen, dass Frauen in Deutschland trotz glei-
cher oder gleichwertiger Arbeit im Durchschnitt 23 Pro-
zent weniger verdienen als Männer. Wenn das keine gi-
gantische Diskriminierung von Frauen ist!


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Da muss der Gesetzgeber handeln. Er muss einen recht-
lichen Rahmen schaffen, auf den sich Frauen, die beim
Lohn diskriminiert werden, berufen können.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703703600

Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.


Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1703703700

Ich will noch einen letzten Punkt kurz ansprechen.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703703800

Sie sind am Ende Ihrer Redezeit.


Ottmar Schreiner (SPD):
Rede ID: ID1703703900

Wenn ich diesen Punkt angesprochen habe, ist die Re-

dezeit zu Ende, Frau Präsidentin.


(Heiterkeit)


Es geht – diesen Punkt werden Sie nachher wahr-
scheinlich noch angreifen – um die Positionierung zu
politischen Streiks. Ich will dazu ganz kurz Klaus
Wiesehügel zitieren, der lange Jahre Mitglied dieses Ho-
hen Hauses gewesen ist und Vorsitzender der IG Bauen-
Agrar-Umwelt ist. Klaus Wiesehügel hat auf dem Bun-
deskongress seiner Gewerkschaft ausgeführt:

Es ist völlig richtig, dieses Thema innerhalb der Ge-
werkschaften zu diskutieren. Völlig richtig wäre
aber ein Antrag an den Deutschen Gewerkschafts-
bund, dafür zu kämpfen …, dass in der Bundesrepu-
blik Deutschland genau wie in den anderen europäi-
schen Ländern auch der politische Streik eine
Selbstverständlichkeit ist. Das wäre völlig richtig …
Wir haben 2004 mit Hunderttausenden in verschie-
denen Städten – Köln, Berlin und anderen – gestan-
den und gegen den Sozialabbau dieser Republik de-





Ottmar Schreiner


(A) (C)



(D)(B)

monstriert. Da ging es ja auch um eine politische
Demonstration. Das war ja nicht nur ein Streik. Der
Streik kann ja auch durch eine Demonstration an ei-
nem bestimmten Tag herbeigeführt werden. Es hat
niemand gesagt: Das dürft ihr nicht, das ist verboten.

Ich hoffe sehr, dass das auch weiterhin gilt, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703704000

Nächster Redner ist der Kollege Reiner Deutschmann

für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)



Reiner Deutschmann (FDP):
Rede ID: ID1703704100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Mit dem großen Sündenfall von
Adam und Eva begann die Vertreibung aus dem Para-
dies. Die Einzelheiten dieser Geschichte kennen Sie; ich
muss sie wohl nicht wiederholen. Ich will mir auch nicht
den Zorn der Obstproduzenten zuziehen, indem ich die
Rolle des Apfels in diesem Drama näher beschreibe.
Fakt bleibt: Das Paradies war verloren. Adam und Eva
waren fortan gezwungen, zu arbeiten, um ihren Lebens-
unterhalt zu bestreiten. So weit, so biblisch.

Paradiesische Zustände scheinen die Linken im Blick
zu haben.


(Zuruf von der LINKEN: Jeder muss einen Apfel haben!)


Diesen Eindruck muss man jedenfalls gewinnen, wenn
man ihren Antrag betrachtet. Allein der Titel „Mit guter
Arbeit aus der Krise“ bietet eine Steilvorlage für viele
philosophische Diskussionen bei toskanischem Rotwein.
Von deutschem Rotwein rede ich vorsichtshalber nicht;
das würden Sie wahrscheinlich wieder Klientelpolitik
nennen. Aber zum Thema: Wo es gute Arbeit gibt, muss
es der Logik nach zwangsläufig auch schlechte Arbeit
geben. Was ist gute Arbeit? Was ist schlechte Arbeit?
Wenn es nur mit guter Arbeit einen Weg aus der Krise
gibt: Wer macht dann die schlechte?

Der Fraktion Die Linke reichen ein bisschen mehr als
sechs Seiten, um die Formel der Arbeitswelt quasi neu
zu erfinden. Man fühlt sich wie bei einem der allseits be-
liebten Best-of-Alben der Musikbranche: Am Ende der
Rockkarriere wird noch einmal ein zünftiges Album mit
allen Hits aufgelegt. Genauso lesen sich die Evergreens
dieses Antrags, die Sie wie mit einem Füllhorn über uns
ausgießen.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Es gibt allerdings einen Unterschied: Das waren nie
Hits. Es ist also wieder einmal Bescherung bei den Lin-
ken, und das mitten im Frühling. Schade ist nur, dass sie
uns wieder verschweigen, woher das Geld für diese
Wohltaten kommen soll. Selbst die SED-Millionen dürf-
ten dafür nicht ausreichen.

(Zuruf von der LINKEN: Oh!)


Schauen wir uns das einmal genauer an. Wenn man Ih-
ren Antrag liest, könnte man den Eindruck bekommen, in
Deutschland herrschten katastrophale soziale Zustände,
die ein Fall für den Europäischen Gerichtshof für Men-
schenrechte wären. Sie sprechen von Erpressung gegen-
über Erwerbslosen und Beschäftigten. Sie sprechen da-
von, dass auf Arbeitsuchende der Zwang ausgeübt wird,
Arbeitsverhältnisse auch zu schlechteren Bedingungen
als vorher anzunehmen. Sie sprechen von einem Klima
der Angst, das in Deutschland herrscht. In Wahrheit spie-
len die Linken selbst mit den durchaus vorhandenen Sor-
gen der Menschen.

Die Linken wollen keine Anreize für Erwerbslose,
sich um Arbeit zu bemühen. Sie setzen stattdessen auf
den immer weiteren Ausbau staatlicher Sozialleistun-
gen. Sie sind gegen die geringfügige Beschäftigung,
ohne zu berücksichtigen, dass Tausende Menschen in
Deutschland gerade auch diese Beschäftigungsform aus
ganz unterschiedlichen Motiven heraus und ganz be-
wusst gewählt haben, und Sie verteufeln befristete Ar-
beitsverhältnisse und Zeitarbeitsfirmen mit der Folge,
dass die Arbeitgeber dann überhaupt nicht einstellen und
viele Arbeitsuchende weiter arbeitslos bleiben würden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von
der Linken, es ist schon erstaunlich, wie Sie versuchen,
den Eindruck zu vermitteln, der Staat unternehme nicht
genug für in Not geratene Bürgerinnen und Bürger. Da-
bei hilft eigentlich schon ein kurzer Blick in den Haus-
halt 2010, um zu erkennen, dass fast die Hälfte unserer
Ausgaben für Sozialausgaben aufgewendet wird.

Wir haben eines der besten Sozialsysteme der Welt.
Gerade gestern hat das Kabinett noch einmal Verbesse-
rungen zum Schutz von Arbeitsplätzen und bei den Hin-
zuverdienstgrenzen von Hartz-IV-Empfängern beschlos-
sen.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Woher haben Sie eigentlich das Geld?)


Durch das Kurzarbeitergeld konnten wir in der Wirt-
schaftskrise den Anstieg der Arbeitslosigkeit, den andere
Länder erleben mussten, vermeiden. Jetzt verlängert die
christlich-liberale Koalition diese Maßnahme noch ein-
mal bis zum 31. März 2012. Wir werden den Schülerin-
nen und Schülern, die in einer SGB-II-Bedarfsgemein-
schaft leben, ermöglichen, durch Sommerferienjobs
1 200 Euro anrechnungsfrei hinzuzuverdienen.

Das sind nur einige unserer Maßnahmen. Wir tun et-
was für die Menschen in diesem Land, statt nur leere
Versprechungen zu machen. Anders als den Linken ist es
uns wichtig, dass sich Leistung wieder lohnen muss,
anstatt Wohltaten bedingungslos mit der Gießkanne über
diesem Land auszuschütten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wie war das mit dem Paradies?)






Reiner Deutschmann


(A) (C)



(D)(B)

Für uns ist es ganz selbstverständlich, dass jeder, der
dazu in der Lage ist, seinen Beitrag für die Gemeinschaft
leistet, auch, indem er sich aktiv um Arbeit bemüht, an-
statt darauf zu warten, dass der Staat kommt und ihm
den Arbeitsplatz vor die Tür stellt, wie die Linken es
gerne hätten.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wieder diese Hartz-IV-Hetze!)


Wir leben in einer Gesellschaft, die die Bereitschaft zur
Leistung noch stärker honorieren muss. Die Abkehr vom
Leistungsprinzip war einer der Sargnägel für die DDR-
Wirtschaft und hat zu ihrem Niedergang geführt. Diese
sollte hier heute nicht unser Maßstab sein.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ich kann es immer nur wiederholen: Solidarität ist
keine Einbahnstraße. Mit nicht finanzierbaren Plänen
mindern die Linken die Leistungsbereitschaft der Men-
schen. Sie gefährden die Solidarbereitschaft derjenigen,
die die Steuereinnahmen aufbringen, die Sie so großzü-
gig verteilen wollen. Durch die Verschärfung des Kündi-
gungsschutzes und die Einführung eines Mindestlohnes
werden keine neuen Arbeitsplätze entstehen. Das Ge-
genteil wäre vielmehr der Fall.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Den Mindestlohn zahlt der Unternehmer, nicht der Staat!)


Wir können nicht die Augen vor der globalisierten
Welt verschließen, wir dürfen bestehende Arbeitsplätze
nicht mit massiven Eingriffen in den Arbeitsmarkt ge-
fährden, und wir können nicht mit Steuergeldern Millio-
nen neuer Arbeitsplätze an der Realität vorbei schaffen.
Die paradiesische Arbeitswelt, die die Linken den Men-
schen vorgaukeln, ist ein einziges „Wünsch dir was“.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Mindestlohn!)


Dagegen sind die Märchen der Gebrüder Grimm ein rei-
nes Sachbuch.

Deshalb sagen wir ein klares Nein zur Umvertei-
lungspolitik der Linken, die auch in diesem vorliegenden
Antrag wieder zum Ausdruck kommt. Das ist kein Kon-
zept, mit dem man unser Land zukunftstauglich aus der
Krise führen kann.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Bitte setzen! Das war das Niveau einer 4. Klasse!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703704200

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol-

legin Beate Müller-Gemmeke das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Der Wandel in der Erwerbsarbeit ist
unübersehbar, und der Trend ist eindeutig. Die Vollzeit-
beschäftigung nimmt ab, und sowohl die atypische als
auch die prekäre Beschäftigung nimmt zu. In der Folge
reichen die Angst und die Unsicherheit vor sozialem Ab-
stieg bis weit in die Mitte unserer Gesellschaft.

Die FDP und Teile der CDU/CSU wollen den Nied-
riglohnsektor dennoch noch weiter ausbauen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Den Sie erst geschaffen haben, Frau Müller-Gemmeke!)


Argumentiert wird ja wieder mit den Arbeitsplätzen. Ob
die Beschäftigten von ihrem Lohn leben können oder
nicht, spielt dabei keine Rolle. Parallel gibt es auch noch
die unsägliche Sozialstaatsdebatte der FDP. Die Ärmsten
werden gegen die Armen ausgespielt. Dieser Weg kann
nicht funktionieren, ohne den sozialen Frieden in unserer
Gesellschaft aufs Spiel zu setzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das Thema heute ist also richtig und wichtig. Was
macht die Linke? Sie legen ein als Antrag getarntes Posi-
tionspapier mit einem wilden Sammelsurium an radika-
len Forderungen aus Ihrem Programm vor.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das sagen Sie nur, weil Sie es nicht verstehen!)


Dazu kann ich nur sagen: Die NRW-Wahl lässt grüßen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die wollen mit Ihnen über Rot-Rot-Grün verhandeln, Frau Müller-Gemmeke!)


Mit diesem Antrag versprechen Sie ein Märchenland,
das es so nicht geben wird und das auch linksorientierte
Bürgerinnen und Bürger so nicht wollen. Wir brauchen
eine verlässliche sozialökologische Marktwirtschaft.

Ich finde, Sie gaukeln den Menschen etwas vor. Das
macht mich wütend; denn ich nehme das Thema wirk-
lich ernst.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das merkt man aber gar nicht!)


So werden Sie ihm nicht gerecht.

Wir Grünen wollen Fairness in der Arbeitswelt und
treten im Interesse der Beschäftigten für gerechte Löhne
und gute Arbeitsbedingungen ein. In diesem Sinne gibt
es in Ihrem Antrag viele Forderungen, die berechtigt
sind und die wir auch unterstützen. Wir fordern eine stär-
kere Regulierung der Leiharbeit, damit die „Schleckeri-
sierung“ in unserer Arbeitswelt ein Ende hat. Wir wollen
Mindestlöhne und eine Entfristung der Beschäftigung.
Wir halten am Kündigungsschutz fest und wollen eine
echte Mitbestimmung. Wir fordern die Entgeltgleichheit
zwischen Männern und Frauen.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Was für ein Sammelsurium!)


Genau bei diesen Themen sehe ich sehr starken Hand-
lungsbedarf.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)






Beate Müller-Gemmeke


(A) (C)



(D)(B)

Ich finde, die Linke überzieht aber viele wichtige For-
derungen. Damit werden Sie die Regierung nicht in Be-
drängnis bringen. Sie differenzieren auch nicht. Bei-
spielsweise reden Sie immer von „der Wirtschaft“.
Damit werden Sie vielen Betrieben und vor allem dem
Handwerk nicht gerecht.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das Handwerk profitiert doch davon!)


Dort gibt es durchaus gute Arbeit. Die Probleme liegen
häufig woanders.

Teilweise fehlt ein Konzept. Beispielsweise sollen die
Minijobs nicht mehr subventioniert werden. Das fordern
wir auch. Wir haben aber ein Konzept dafür, nämlich un-
ser Progressivmodell.

In Ihrem Antrag werden einfach alle möglichen For-
derungen aneinandergereiht. Ich finde das schwach. Ich
habe einen höheren Anspruch an unsere parlamentari-
sche Arbeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das merkt man Ihrer Rede aber gar nicht an!)


An einer anderen Stelle sind Sie übrigens ziemlich
unehrlich, und zwar bei den Zumutbarkeitskriterien.
Leider schaffen Sie es nicht, Tacheles zu reden. Statt
eine Arbeitsvermittlung auf freiwilliger Basis zu for-
dern, schrauben Sie die Hürden derart hoch, dass eine
auf Zwang beruhende Arbeitsvermittlung quasi unmög-
lich wird.

Fordern Sie doch einfach das Sanktionsmorato-
rium! Das fordern etliche Abgeordnete, darunter auch
ich, ebenso wie die Initiative für ein Sanktionsmorato-
rium.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wir auch!)


Das wäre ein klares und eindeutiges Zeichen an die Re-
gierung, wenn die Opposition gemeinsam Verschärfun-
gen bei den Sanktionen kritisiert und Veränderungen an-
mahnt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Nun komme ich zu den Punkten in Ihrem Antrag, die
ich durchaus als populistisch bezeichnen kann. Sie wol-
len die paritätische Unternehmensmitbestimmung auf
alle Unternehmen ab 100 Beschäftigte ausdehnen und
fordern, dass bei erheblichen Entscheidungen auch zwei
Drittel des Aufsichtsrates zustimmen müssen. Mit dieser
Forderung schießen Sie über das Ziel hinaus. Würden
Ihre Forderungen umgesetzt, befände sich die Bundes-
republik im Stillstand. Unternehmerische Entscheidun-
gen wären dann nicht mehr möglich.

Sie können mir glauben, dass ich hinter der Mitbe-
stimmung stehe und noch mehr echte Mitbestimmung
fordere. Sie sollte aber konstruktiv sein. Mir geht es um
gleiche Augenhöhe und um den Interessenausgleich zwi-
schen den Beschäftigten und den Unternehmen.

Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703704300

Frau Kollegin, darf ich Sie unterbrechen? Frau Kolle-

gin Kipping möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.
Erlauben Sie sie?


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ja.


Katja Kipping (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703704400

Liebe Kollegin, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie

Ihre Redezeit genutzt haben, um auf das Bündnis für ein
Sanktionsmoratorium hinzuweisen und darüber zu in-
formieren. Vor dem Hintergrund, dass mit dem Verweis
auf das Bündnis ein bisschen der Eindruck erweckt wird,
als ob ein Gegensatz zwischen dem Bündnis und unse-
rem Antrag bestünde, frage ich Sie, ob Ihnen bekannt
ist, dass sich die Linke bereits in einem früheren An-
trag konkret für die Streichung des Sanktionsparagra-
fen ausgesprochen hat und dass wir alle unsere Vor-
schläge zu guter Arbeit nicht als Gegenmaßnahme zu
dem Sanktionsmoratorium verstehen, sondern dass es
im Gegenteil Hand in Hand geht? Denn alle unsere Vor-
schläge für gute Arbeit erfordern, dass die Erpressbar-
keit von Erwerbslosen ein Ende hat. Darauf wollte ich an
dieser Stelle gerne hinweisen.


(Beifall bei der LINKEN)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Kollegin Kipping, als ich Ihren Antrag und den
Absatz über die Zumutbarkeitskriterien gelesen habe,
habe ich mich gewundert. Es ist wirklich ein Herum-
eiern.


(Katja Kipping [DIE LINKE]: Bei den Zumutbarkeitskriterien geht es auch um das Arbeitslosengeld I!)


– Ja, aber ich finde es trotzdem unehrlich, wenn man he-
rumeiert und über Zumutbarkeitskriterien redet, wenn
man die Abschaffung der Sanktionen oder zusammen
mit der bereits erwähnten Initiative ein Sanktionsmora-
torium fordern kann. Dann braucht man Ihre ganzen an-
deren Forderungen einfach nicht. Eine Arbeitsvermitt-
lung, die auf Freiwilligkeit beruht, reicht aus, und man
muss keine anderen Forderungen stellen.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703704500

Die Kollegin möchte erneut nachfragen. – Sie erlau-

ben es? – Frau Kipping.


Katja Kipping (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703704600

Ich habe mit Interesse zur Kenntnis genommen, dass

Sie sich jetzt auch für die komplette Abschaffung der
Sanktionen aussprechen. Wie Sie wissen, ist dies noch
nicht einmal bei den Grünen eine mehrheitlich vertretene
Position. Die Linke ist bisher die einzige Fraktion, die
sich eindeutig für die Abschaffung der Sanktionen aus-
gesprochen hat. Insofern halte ich es schon für sehr an-
gemessen, dass man sich über weitere Zumutbarkeits-





Katja Kipping


(A) (C)



(D)(B)

kriterien vor dem Hintergrund verständigt, dass man
auch Teilschritte auf dem Weg dahin braucht, bis der
Sanktionsparagraf abgeschafft sein wird. Daher frage
ich Sie, ob Ihnen bewusst ist, dass es Sanktionen nicht
nur im SGB II gibt, sondern auch im SGB III – das heißt
dann Sperrzeiten –, und dass es auch für diesen Bereich
sehr sinnvoll ist, dass es geregelte Zumutbarkeitskrite-
rien gibt.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich muss noch einmal sagen, dass in dem Wahlpro-
gramm der Grünen durchaus steht, dass wir ein Sanktions-
moratorium wollen und dass die Vermittlung in Arbeit
bzw. in Maßnahmen natürlich den Wünschen, Fähigkei-
ten und Interessen der Menschen entsprechen soll. Von
daher sind Sie nicht die einzige Partei, sondern es steht
auch in unserem Wahlprogramm.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Sie verstehen die Frage nicht!)


– Wie bitte?


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mach einfach weiter, Beate! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Wir geben Ihnen das noch einmal schriftlich!)


– Okay, machen Sie das.

Ich komme nun zu Ihrer Forderung nach politischem
Streik. Dazu hat Kollege Schreiner schon etliches ge-
sagt. Für das Land Berlin, in dem Sie ja an der Regie-
rung beteiligt sind, wäre ein solches Streikrecht natürlich
schon eine Katastrophe. Auch Sie haben etliche unpopu-
läre Dinge durchgedrückt, sodass politische Streiks ge-
rechtfertigt gewesen wären. Ich kann hier nur Kollegen
Schreiner unterstützen: Wir können jederzeit streiken
und politische Demonstrationen machen. Daher braucht
man so etwas in einem solchen Antrag nicht zu fordern.

Positiv in Ihrem Antrag ist aber, dass Sie wieder ein-
mal gesetzliche bzw. branchenspezifische Mindestlöhne
fordern. Wir wollen sie ja auch. Als sich Ihre Partei noch
in den Kinderschuhen befand, haben wir schon einen ge-
setzlichen Mindestlohn gefordert. Ich kritisiere aber,
dass Sie alle, auch die Gewerkschaften, mit der Forde-
rung nach einem gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von
10 Euro überbieten. Nehmen Sie doch endlich zur
Kenntnis, dass wir uns nicht in einem Wettrennen um
den höchsten Mindestlohn befinden. Viel wichtiger wäre
es, dass wir alle gemeinsam an einem Strang ziehen,
weil dieses Thema momentan das wichtigste ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In Richtung Regierungsfraktionen sage ich: Stellen
Sie sich endlich dem Thema Mindestlohn. Alle Men-
schen haben das Recht, dass sie für ihre Arbeit gerecht
und fair entlohnt werden.

Ein letzter Punkt in Richtung der Linken ist mir jetzt
noch wichtig: Sie gaukeln den Menschen vor, dass Sie in
der Lage seien, schnell mal 2 Millionen Arbeitsplätze
zu installieren. Wie Sie das schaffen und finanzieren
wollen, sagen Sie aber nicht. Ich halte dies für unredlich,
zumal Sie mit den Emotionen der Menschen spielen, die
sich natürlich so schnell wie möglich einen sicheren und
gut bezahlten Arbeitsplatz wünschen. Vor allem zeigt es
einmal mehr, dass Sie das mit den Arbeitsplätzen nicht
richtig verstanden haben, wie im Übrigen die Regie-
rungsfraktionen auch. Sie versprechen die 2 Millionen
Arbeitsplätze, aber Sie verbinden dies nicht mit Ihrem
Spiegelstrich i). Hier fordern Sie zwar einen ökologi-
schen Umbau der Wirtschaft, aber Sie führen nicht aus,
dass überall im Land neue Arbeitsplätze geschaffen kön-
nen, wenn man den Energiebedarf ausschließlich aus er-
neuerbaren Energien deckt und auf Atomkraft und Kohle
verzichtet. Vielleicht sollten Sie endlich einmal inner-
halb Ihrer Partei die Kohlediskussion führen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich komme zum Schluss und appelliere an die Regie-
rungsfraktionen: Denken Sie endlich an die Beschäftig-
ten, denken Sie endlich an die soziale Balance in unserer
Gesellschaft, und beschäftigen Sie sich endlich ernsthaft
mit dem Thema „gute Arbeit“.

In Richtung der Linken kann ich nur noch einmal sa-
gen: Mich ärgert dieser Antrag; das haben Sie sehr wahr-
scheinlich auch gemerkt.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Gemerkt haben wir gar nichts!)


Mir ist dieses Thema wirklich wichtig. Ihr Antrag ist für
mich zu überzogen; damit macht er dieses Thema kaputt.
Es darf nicht nur um Profilierung gehen, und es macht
auch keinen Sinn, einen Wettbewerb in allen Bereichen
zu veranstalten. Vielmehr sollten wir gemeinsam diese
wichtigen Themen aufgreifen und uns hier in diesem
Hause ernsthaft mit dem Thema „gute Arbeit“ auseinan-
dersetzen, und zwar im Interesse der Menschen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703704700

Das Wort hat nun die Kollegin Mechthild Heil für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Mechthild Heil (CDU):
Rede ID: ID1703704800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Bei dem Antrag der Linken „Mit guter Arbeit
aus der Krise“ trügt schon die Überschrift. Sie müsste ei-
gentlich heißen: Mit primitivem Opportunismus immer
weiter in die Krise.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Glauben Sie, dass das Volk das nicht merkt? Wenn sich
der Sozialismus nicht offen zeigt, dann zieht er im Kleid
des Neides durch die Gesellschaft.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Pascal Kober [FDP] – Zuruf von der LINKEN: Plumper geht es nicht mehr!)






Mechthild Heil


(A) (C)



(D)(B)

Unter dem Punkt „Zumutbarkeit verbessern, Qualität
von Arbeit in den Mittelpunkt rücken“ fordern Sie zum
Beispiel, politische und religiöse Gewissensfreiheit
müsste gewährleistet werden. Ein Blick in das Grundge-
setz würde Ihnen diesbezüglich sicherlich Auskunft ge-
ben. Daran sehen Sie, dass Ihr Antrag rein populistisch
ist. Es gibt keine Forderung von Ihnen, ohne dass Sie
vorher in den dunkelsten Farben ausmalen, in welch
schlechtem Zustand sich unser Land und der Arbeits-
markt vermeintlich befinden. Ihr Blick auf die Welt ist
grau in grau vernebelt. Das mag in Berlin so sein, wo Sie
mitregieren.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wissen Sie, wie viele Millionen mittlerweile in prekärer Beschäftigung sind?)


Aber die Realität ist anders. Unser Konzept der Kurzar-
beit ist zwischenzeitlich ein Exportschlager. Die Men-
schen im Betrieb können sofort durchstarten, wenn die
Konjunktur anspringt. Das führt zu wirklich guter Ar-
beit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Die werden von der IG Metall gezwungen, das zu tun!)


Sie von der Linken beziehen sich heute auf Angaben
des Statistischen Bundesamts, wonach die Reallöhne
um 0,4 Prozent gesunken sind. Keine Frage, die Zahl
stimmt. Sie ist korrekt. Die Verdienstentwicklung in
2009 hat unter dem Einfluss der Weltwirtschafts- und Fi-
nanzkrise gelitten. Ja, das ist in Ordnung. Nicht in Ord-
nung sind aber die Schlüsse, die Sie daraus ziehen. Sie
verschweigen, dass die Statistiker festgestellt haben, der
Rückgang um 0,4 Prozent bei den Reallöhnen hänge vor
allem von den starken Einbrüchen bei den Sonderzah-
lungen ab. Besonders hohe Verluste bei Sonderzahlun-
gen mussten zum Beispiel Beschäftigte des Bankensek-
tors, der Versicherungen oder der Automobilindustrie
hinnehmen. Die ganze Wahrheit ist also: Die Grundver-
gütungen, also die Bruttoverdienste ohne die Sonderzu-
lagen, sind letztes Jahr sogar um 1,2 Prozentpunkte ge-
stiegen. Es ist traurig, dass Sie nicht die Kraft haben, das
positiv zu kommentieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Einen weiteren Zusammenhang verschweigen Sie. Der
Rückgang der Reallöhne um 0,4 Prozent liegt neben dem
Einbruch bei den Sonderzahlungen für Banker vor allem
an der Kurzarbeit. Sie drückt den statistischen Schnitt,
weil nur der reduzierte Lohn in dieser Statistik erfasst
wird, nicht aber das gesamte tatsächliche Einkommen
der von Kurzarbeit Betroffenen. Also: Die Reallöhne
sanken geringfügig um 0,4 Prozent, weil hier das allseits
für gut befundene Mittel des Kurzarbeitergeldes statis-
tisch durchschlägt, aber die Grundvergütung stieg um
1,2 Prozent. Ihre Methoden der Verdrehungen haben Vä-
ter, von denen Deutschland mit dem Abriss der Mauer
befreit wurde.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich finde es unerträglich, dass Sie keine Verantwor-
tung für die unterschiedlichen Gruppen in unserer Ge-
sellschaft übernehmen. Sie säen Misstrauen und Hass
unter den verschiedenen sozialen Gruppen. Sie ziehen
falsche Schlüsse und blenden einen Teil der Wahrheit
aus.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der LINKEN)


Arbeitgeber und Arbeitnehmer stehen für Sie unversöhn-
lich gegeneinander. Meine Wirklichkeit ist da wirklich
eine andere.


(Zurufe von der LINKEN)


– Herr Ernst hat schon genug für Sie geschrien. – Viel-
leicht empfinde ich dies nicht so sehr als Gegensätze,
weil ich in meinem Leben schon sowohl auf der Arbeit-
geber- als auch auf der Arbeitnehmerseite gestanden
habe.

Sie schreiben weiter in Ihrem Antrag, dass nur
12 Prozent der Beschäftigten ihre Arbeit als eine gute
Arbeit bezeichnen. 55 Prozent bezeichneten ihre Arbeit
als mittelmäßig und 33 Prozent sogar als schlecht. Ich
kenne diese Zahlen; sie stammen aus dem ersten Quartal
2009. Ich kenne aber auch den aktuellen Arbeitsmarkt-
index des Emnid-Instituts. Die Daten wurden ganz aktu-
ell, im Januar und Februar dieses Jahres, erhoben, und
sie sprechen eine ganz andere Sprache: Die Befragten
fühlen sich an ihrem Arbeitsplatz wohl. Der ermittelte
Zufriedenheitsindex von 7,5 ist ein guter Wert. Er ist zu-
letzt sogar gestiegen, zum ersten Mal seit 2008 – trotz
der von Ihnen als „katastrophal“ bezeichneten Entwick-
lung auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Mein Fazit: Sie
haben das Ohr nicht bei unseren Arbeitnehmern, sondern
frönen ideologischer Fiktion.


(Ottmar Schreiner [SPD]: Was ist denn eine ideologische Fiktion? Ich habe das nicht verstanden, Frau Kollegin!)


Bemerkenswert finde ich insbesondere, dass diejeni-
gen, die am wenigsten in der von Ihnen geforderten
Weise vom Staat abgesichert werden, also die Selbst-
ständigen, die Freiberufler oder die Landwirte, mit ei-
nem Wert von 8,6 ganz besonders zufrieden sind. Auch
das passt nicht in Ihr Weltbild; ich weiß.

Sie sollten einmal über Folgendes nachdenken: Auf
dem Höhepunkt der Krise gingen einige Experten sogar
von einem Anstieg der Arbeitslosenzahl auf 4,5 Millio-
nen aus. Dies hat sich nicht bewahrheitet, zum Glück.
Die Forschungsinstitute gehen für dieses Jahr von 3,4 bis
3,5 Millionen Erwerbslosen aus. Das wäre ungefähr das
Niveau des vergangenen Jahres. Das sind immer noch
viel zu viele Arbeitslose. Um jeden einzelnen wollen
und müssen wir uns kümmern. Das ist Teil unseres
christlich-liberalen Selbstverständnisses.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir sind durch die Krise noch nicht durch. Wir als
Regierungskoalition verschließen nicht die Augen vor
der Realität. Wir sind uns der demografischen Heraus-





Mechthild Heil


(A) (C)



(D)(B)

forderung bewusst. Wir wissen, dass ein Schlüssel zur
positiven Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt darin liegt,
wie es uns gelingen wird, Ältere länger in das Arbeitsle-
ben zu integrieren, Alleinerziehenden einen besseren
Zugang zur Arbeit zu ermöglichen und Menschen mit
Migrationshintergrund in den Arbeitsmarkt zu integrie-
ren. Wir führen so die Menschen zum Einstieg in gute
Arbeit. Schreiben Sie weiter Anträge voller Textbau-
steine. Wir packen die Probleme an.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703704900

Nächster Redner ist der Kollege Josip Juratovic für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Josip Juratovic (SPD):
Rede ID: ID1703705000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Kolleginnen und Kollegen! Unsere Gesellschaft befindet
sich in einer Krise, und das ist eine viel tiefere Krise als
nur eine Wirtschafts- und Finanzkrise. Wir befinden uns
in einer tiefgreifenden Gesellschaftskrise. Die Men-
schen haben den Wunsch nach Zielen und Orientierung.
Das spiegelt sich wider in Familien, in der Freizeit und
in der Arbeitswelt. Das Fundament der fortschrittlichen
Entwicklung unserer Gesellschaft und unserer Wirt-
schaft waren lange Jahre unsere Werte und Tugenden.
Wir fuhren auf der Hauptstraße der Werte und Tugenden.
Von dieser Hauptstraße des Erfolgs sind wir irgendwann
rechts in eine Sackgasse abgebogen.


(Pascal Kober [FDP]: Rechts ist nicht wahr!)


Diese Sackgasse heißt: reine Wachstumslogik.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Und Agenda 2010!)


Wenn wir uns einmal anschauen, wie unsere heutige
Wirtschaft funktioniert, wird diese Sackgasse deutlich:
Unsere Wirtschaft ist gekennzeichnet vom Kampf um
die Eroberung der Märkte und von einem knallharten
Wettbewerb, der nicht auf Innovation, sondern auf Pro-
duktionskostensenkung beruht. Es gibt vor allem zwei
betriebswirtschaftliche Herangehensweisen, wie die
Kosten zu senken sind:

Erstens. Es bestehen komplizierte Zusammenhänge
zwischen dem Stammunternehmen, den Zulieferern,
Subunternehmen und Auslandsverlagerungen der Fir-
men. Das ist die sogenannte Mischkalkulation. Es wird
großer Druck aufgebaut, und von jedem Teil dieses Sys-
tems werden Kostensenkungen erwartet.

Zweitens. Die Arbeit in diesen Unternehmen ist ge-
prägt durch eine Leistungsverdichtung an jedem Arbeits-
platz sowie durch Leiharbeit, Befristungen und Mini-
jobs.

Der übertriebene Wettbewerb wird auf die Arbeitneh-
mer übertragen. Alle leiden unter der Leistungsverdich-
tung, auch ältere Arbeitnehmer müssen oft olympiareife
Leistungen vollbringen. Daher haben wir bei den Arbeit-
nehmern, aber auch bei den Arbeitgebern eine steigende
Unzufriedenheit, eine Entsolidarisierung und eine stei-
gende Zahl psychischer Erkrankungen. In den Betrieben
ist nur noch Platz für die Menschen, die bei der Leis-
tungsoptimierung mithalten können. Menschen, die
diese Normen nicht erfüllen können, fallen hinten runter
oder erhalten einen Armutslohn.

Zum Schluss werden die von den Arbeitnehmern
mühsam erwirtschafteten Gewinne, die durch die Leis-
tungsverdichtung eingefahren werden, auf dem Finanz-
markt Spekulationen ausgesetzt und vernichtet.

Unsere heutige Wirtschaft ist durch dieses System
rein wachstums- und gewinnorientiert. Das geht völlig
an den Bedürfnissen der Menschen vorbei.


(Beifall bei der SPD)


Wenn ich mich mit den Menschen in meinem Wahl-
kreis unterhalte, dann spüre ich eine tiefe Ratlosigkeit.
Zahlreiche Menschen, die Probleme mit ihrer Arbeit ha-
ben, kommen in meine Sprechstunden. Zu mir kommen
Familienväter, die es entwürdigend finden, dass sie, ob-
wohl sie Vollzeit arbeiten, Probleme haben, ihren Kin-
dern die Teilnahme an einer Klassenreise zu ermögli-
chen. Zu mir kommen alleinerziehende Mütter, die so
viel es geht arbeiten und nebenher ihre Kinder betreuen.
Sie erzählen mir, wie schwierig es ist, als junge Mutter
überhaupt einen Arbeitsplatz zu bekommen. Ich unter-
halte mich mit den Hauptschülern, die zahlreiche Bewer-
bungen um einen Ausbildungsplatz abschicken. Sie zei-
gen ein hohes Maß an Engagement und kümmern sich
um ihre Zukunft. Trotzdem flattern immer nur Absagen
ins Haus, wenn sie überhaupt eine Antwort bekommen.

Die Menschen haben die Orientierung verloren. Nie-
mand weiß, wohin sich unsere Gesellschaft entwickelt.
Niemand weiß, wie unser Wirtschafts- und Gesell-
schaftssystem in zwei, in fünf oder in zehn Jahren aus-
sieht. Die Menschen interessieren sich nicht nur für das
Hier und Jetzt, sondern vor allem für die entscheidende
Frage: Wie geht es weiter? Wie kommen wir aus dieser
Sackgasse wieder heraus?

Meine Kolleginnen und Kollegen, es wird zwar frak-
tionsübergreifend gesagt, dass es nach der Krise kein
„Weiter so“ geben darf. In den Sonntagsreden sprechen
alle von Ethik in der Wirtschaft. Leider finden unsere
Sitzungen nicht sonntags, sondern donnerstags oder frei-
tags statt, und unter der Woche zählen die schönen Re-
den vom Sonntag, die man allerorten hört, leider nicht
viel.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wir müssen eine Antwort auf die Frage finden, wie
wir aus dieser Sackgasse herauskommen. Wir müssen
dafür sorgen, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer in unserem Land wieder wissen, wohin die Reise
geht. Derzeit suchen wir den Ausweg am Ende der Sack-
gasse. Aus der Sackgasse kommen wir aber nicht vor-
wärts heraus. Wir müssen umdrehen, um zurück auf die
Hauptstraße der Werte und Tugenden zu kommen. Wir
müssen Einsicht üben: Ein Schritt zurück von der
Wachstumslogik ist kein Rückschritt! Er bietet vielmehr





Josip Juratovic


(A) (C)



(D)(B)

die Grundlage dafür, danach wieder volle Fahrt aufzu-
nehmen und dabei alle in unserer Gesellschaft mitzuneh-
men.


(Beifall bei der SPD)


Eine neue Kultur des Anstands in der Arbeitswelt,
eine Ethik in der Wirtschaft, hilft allen. Sie hilft nicht
nur den Arbeitnehmern, sondern auch vielen, vor allem
kleinen und mittleren Unternehmen in unserem Land,
die sich dem System der Kostensenkung und der Leis-
tungsoptimierung nicht beugen wollen. Diese anständi-
gen Unternehmer haben recht. Wir müssen sie darin un-
terstützen, wir müssen zu ihrem Schutz in diesem
knallharten Wettbewerb die für sie richtigen Rahmenbe-
dingungen schaffen.

In der gesamten Diskussion müssen wir weiter den-
ken als in unseren bisherigen Debatten. Wir müssen über
den Gegensatz zwischen Gewinnmaximierung und Um-
verteilung hinausdenken. Wir brauchen ein neues Kon-
zept, in dem die Lebensqualität an erster Stelle steht und
bei dem diejenigen, die Arbeit verrichten, an der Wert-
schöpfung beteiligt werden. Faire Arbeitsbedingungen
müssen Grundlage unseres Wirtschaftserfolges sein und
nicht Lohndrückerei und Spekulationen.

Eine neue Ethik und Qualität in der Wirtschaft
schaffen wir Politiker nicht alleine. Dazu brauchen wir
unsere ganze Gesellschaft. Wir müssen gemeinsam mit
Gewerkschaften und Unternehmen, Kirchen und vielen
weiteren Menschen aus der Gesellschaft zusammenkom-
men. Wir müssen unseren Anspruch und unser Verhalten
grundlegend auf den Prüfstand stellen mit dem Ziel, wie-
der eine gemeinsame Orientierung und gesellschaftli-
chen Zusammenhalt zu schaffen. Deswegen brauchen
wir Einrichtungen wie die Fortschritts-Enquete-Kom-
mission, die SPD und Grüne diese Woche vorgestellt ha-
ben. Eine solche Kommission dient uns als Stadtplan,
den wir in die Hand nehmen, um den Weg aus der Sack-
gasse zu finden.

Wir beraten hier den Antrag der Linken: „Mit guter
Arbeit aus der Krise“. Meine Kolleginnen und Kollegen
von der Linken, das, was Sie mit diesem Antrag vorle-
gen, zeugt nicht davon, dass Sie tatsächlich verstanden
haben, wo die gegenwärtigen Probleme liegen.


(Beifall der Abg. Anette Kramme [SPD])


Sie verharren beim Gegensatz von Umverteilung und
Gewinnmaximierung. Mit Ihren geballten Forderungen
zeigen Sie keinen Ausweg aus der Sackgasse auf. Ich
frage mich bei Ihrem Antrag: Wollen Sie dabei helfen,
ein Zukunftskonzept mit gesellschaftlicher Tragfähigkeit
zu schaffen, oder wollen Sie diesen Antrag kurz vor dem
1. Mai nur einbringen, um dafür billigen Applaus zu be-
kommen?

Wir müssen den Menschen in unserem Land nicht nur
am 1. Mai zeigen: Wir nehmen ihre Sorgen und Pro-
bleme ernst. Wir müssen ihnen zeigen, welchen Weg wir
in unsere gemeinsame Zukunft gehen wollen: einen
Weg, der uns aus der Krise herausführt und ein lebens-
wertes Leben für alle ermöglicht.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703705100

Das Wort hat nun der Kollege Pascal Kober für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1703705200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Fast auf den Tag genau vor einem Jahr, am 23. April
2009, haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der Linkspartei, einen Antrag in den Deutschen Bundes-
tag mit dem vielversprechenden Titel eingebracht: „Gute
Arbeit – Gutes Leben“. Auch wenn Sie in Ihrem heuti-
gen Antrag mit der Formulierung Ihres Titels nicht mehr
ganz so anmaßend auftreten, als könne die Politik ein
gutes Leben garantieren, haben Sie sich inhaltlich über-
haupt nicht fortentwickelt. Nüchternen und sachlich ge-
botenen Realismus sucht man in Ihrem Antrag vergeb-
lich. Der Titel mag sich geändert haben, der Geist ist
bedauerlicherweise noch immer derselbe.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Der Duktus Ihrer Analyse der Wirtschafts- und Ar-
beitsmarktsituation in Ihrem Antrag – darauf haben so-
gar Kolleginnen und Kollegen der Oppositionsparteien
hingewiesen – zielt allein darauf ab, ein Zerrbild der
Wirklichkeit zu formulieren und die Menschen zu verun-
sichern. Wenn Sie, lieber Herr Ernst, von einem erd-
rutschartigen Einbruch bei der Lohnhöhe durch Hartz IV
sprechen, konstruieren Sie ein Zerrbild der Wirklichkeit,
das allein darauf abzielt, die Menschen zu verunsichern.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meiner Auffassung nach aber steht Politik in der Ver-
antwortung, Probleme nüchtern zu benennen, die Ursa-
chen zu klären, den Menschen Probleme zu erklären und
Lösungen für Probleme zu suchen, die Menschen auf
Herausforderungen vorzubereiten und ihnen Mut für die
Zukunft zu machen. Verunsicherung und Angstpädago-
gik sind nicht der Stil einer verantwortungsvollen Poli-
tik.


(Beifall bei der FDP)


Inhaltlich, liebe Kolleginnen und Kollegen der Links-
partei, versprechen Sie den Menschen wieder einmal das
Blaue vom Himmel. Darauf im Einzelnen einzugehen,
dafür fehlt an dieser Stelle leider die Zeit. Aber auf einer
grundsätzlichen und allgemeinen Ebene möchte ich doch
einige Anmerkungen machen, damit die unterschiedli-
che Geisteshaltung zwischen Ihnen und dieser christlich-
liberalen Koalition deutlich wird.

Im Kern beruhen all Ihre Forderungen auf der Idee ei-
nes Idealarbeitsverhältnisses: angestellt, gewerkschaft-
lich organisiert, sozialversicherungspflichtig, hoch ent-
lohnt. Dass das erstrebenswert ist, ist auch für uns keine
Frage, wobei wir die selbstständige und unternehmeri-
sche Tätigkeit in keiner Weise geringschätzen. Der Unter-





Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)

schied zwischen uns und Ihnen ist: Wir wissen, dass diese
Arbeitsverhältnisse am effektivsten und stabilsten im
System der sozialen Marktwirtschaft entstehen und
glücklicherweise für die überwiegende Zahl der Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmer gegenwärtig Wirklich-
keit sind, ganz egal, was Sie dagegen sagen. Sie versu-
chen – das ist ein weiterer Unterschied –, diese
Arbeitsverhältnisse per Gesetz festzulegen. Dabei über-
sehen Sie, dass Sie zugleich um diese Arbeitsverhältnisse
herum eine Mauer errichten, die gerade für diejenigen,
die draußen sind, die keine Arbeit haben, also die Arbeits-
losen, unüberwindbar ist.


(Beifall bei der FDP)


Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, was
wir aber brauchen, um auch denjenigen Menschen ge-
recht zu werden, die einen Arbeitsplatz suchen, sind sta-
bile und gangbare Brücken in den Arbeitsmarkt. Wir
als christlich-liberale Regierungskoalition wollen diese
gangbaren und stabilen Brücken für diese Menschen
bauen. Wir werden verhindern, dass Langzeitarbeitslose
dauerhaft aus dem Arbeitsmarkt herausgehalten werden.
Das wäre nämlich die Konsequenz aus den Forderungen
Ihres Antrages.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ich möchte aus Zeitgründen nur ein Beispiel für das
herausgreifen, was Sie in Ihrem Antrag formulieren. Sie
fordern,

dass Eltern von Kindern unter zwölf Jahren auf Ver-
langen von Schichtarbeit befreit werden können,
ohne dass der Arbeitgeber dagegen betriebliche
Gründe geltend machen kann.

Auch hier ist deutlich zu erkennen, dass Sie die Folgen
Ihrer Politik nicht im Blick haben. Wäre es denn dann
nicht so, dass Unternehmen, in denen in Schichten gear-
beitet wird, weniger oder keine Arbeitnehmer mit Kin-
dern mehr einstellen würden? Ist das Ihr Ziel?


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Genau so ist es!)


Ihren Lösungsvorschlag auf dieses Problem kann ich
mir leicht vorstellen: Er wäre bestimmt, eine Quote von
Beschäftigten mit Kindern festzulegen, die die Unter-
nehmen dann erfüllen müssten.


(Beifall bei der FDP)


Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, es
ist doch bemerkenswert – das sollte zum Nachdenken
anregen –, dass gerade in denjenigen Bundesländern die
Anzahl an Arbeitsplätzen und an Ausbildungsplätzen am
höchsten ist, wo man sich am hartnäckigsten einer sol-
chen Politik, wie Sie sie hier vorschlagen, enthalten hat.


(Beifall bei der FDP – Ottmar Schreiner [SPD]: Dass Sie als Pfarrer so gegen die Kinder argumentieren, ist wirklich erschütternd!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703705300

Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Ernst? – Das Wort hat der Kollege Ernst.

Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703705400

Herr Kollege Kober, vielleicht freuen Sie sich über

die Verlängerung Ihrer Redezeit. – Menschen mit klei-
nen Kindern fällt es schwerer, ihre Kinder vernünftig zu
betreuen, wenn beide Elternteile in Schichtarbeit einge-
setzt werden. Sie haben aber Folgendes gesagt: Wenn
diese Menschen das Recht hätten, vorübergehend aus
der Schichtarbeit auszusteigen, dann würde das dazu
führen, dass sie von Betrieben im Schichtbetrieb nicht
mehr eingestellt würden. Glauben Sie tatsächlich, dass
Menschen auf Kinder gänzlich verzichten würden, nur
um eingestellt zu werden? Oder glauben Sie nicht, dass
die Arbeitgeber, wenn wir eine solche Regelung hätten,
gezwungen wären, Eltern mit Kindern einzustellen, weil
es sonst keine anderen Bewerber mehr gibt?


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Gut gemeint ist nicht immer gut, Herr Ernst!)


Ich muss Ihnen auch noch diese Frage stellen: Was ist
denn das für eine Herangehensweise, wenn man nicht
akzeptiert, dass es gerade Eltern, die sich in Schichtar-
beit befinden, massiv erschwert wird, ihre Kindererzie-
hung vernünftig zu organisieren und Familie und Beruf
zu verbinden? Sind Sie tatsächlich der Auffassung, dass
man dies dem freien Spiel der Kräfte überlassen sollte,
was dazu führen würde, dass viele Menschen auf Kinder
verzichten? Es gibt doch schon jetzt einen Geburten-
rückgang, weil es sich Menschen unter diesen Vorausset-
zungen organisatorisch und finanziell nicht mehr leisten
können, Kinder zu haben.


Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1703705500

Lieber Herr Ernst, ich glaube vor allen Dingen, dass

wir die Vereinbarkeit von Kindern und Beruf verbessern
müssen. Wir können als Gesetzgeber und als Politiker
auf allen Ebenen etwas dafür tun, die Betreuung von
Kindern zu verbessern.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Wenn die Forderung aus Ihrem Antrag per Gesetz um-
gesetzt würde, dann würde es dazu führen, dass sich Un-
ternehmen bei der Einstellung von Menschen mit Kin-
dern zurückhalten würden. Damit würde auf die
Menschen ein zusätzlicher Druck ausgeübt werden, keine
Kinder mehr zu bekommen. Deshalb glaube ich, dass
diese Forderung in der Tat nicht richtig ist. Deshalb wehre
ich mich dagegen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703705600

Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege

Ulrich Lange.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1703705700

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Lieber Kollege Schreiner, ich muss Ihnen zum ers-
ten Mal recht geben – aber nur in folgendem Punkt –:





Ulrich Lange


(A) (C)



(D)(B)

Worüber wir heute diskutieren, ist ein unseriöses Sam-
melsurium.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Dies ist eine Tatsache. Wir haben es gehört: Dies ist po-
pulistisch der NRW-Wahl geschuldet. Der vorliegende
Antrag ist eine Verkürzung des sogenannten Parteipro-
gramms der Linken, besser ausgedrückt und zusammen-
gefasst unter dem Stichwort: Lafontaine’sches Mani-
fest.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Nur nicht neidisch sein!)


Er ist zum Glück bloße Theorie. Würde Ernst daraus,
würden wir ihn umsetzen, wir hätten eine beispiellose
Rezession in Deutschland. Es gäbe sehr viele Arbeits-
lose mehr, und Sie hätten Probleme, sie zu zählen. Das
muss man ganz deutlich sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wenn diese Bundesregierung – ich nehme die Vor-
gängerregierung hinzu – etwas bewiesen hat, dann ist es
das, dass wir seit Beginn der Krise erfolgreiche Arbeits-
marktstrategien gefunden haben. Wir hatten in der Spitze
fast 5 Millionen Arbeitslose und liegen jetzt trotz Krise
aufgrund der eingeführten Mechanismen bei circa
3,5 Millionen.


(Zuruf des Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE])


– Herr Ernst, jetzt bin ich an der Reihe. Sie haben heute
genug gebrüllt. Jetzt darf ich das.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Sie können es aber nicht so gut!)


– Das werden wir schon sehen.

Ihr Antrag ist letztlich nichts anderes als eine Jobver-
nichtung. Die Konjunkturlokomotive Deutschland in
Europa würde zum Bremser. Nachdem Sie mit Ihrer letz-
ten Wahlkampfparole „Reichtum für alle“ bei der Bun-
destagswahl gescheitert sind, versuchen Sie es jetzt mit
einem neuen Antrag. Herr Ernst, Kollegen von der Lin-
ken, die Bevölkerung ist viel zu intelligent, um auf diese
Thesen hereinzufallen und zu glauben, dass man in
Deutschland damit wirklich weiterkommt.


(Beifall bei der CDU/CSU – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Im Gegensatz zu Ihnen haben wir zugelegt! – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Sie haben verloren, wir haben gewonnen!)


– Wir werden sehen, worauf es am 9. Mai hinausläuft.
Ich bin mir sicher, dass die christlich-liberale Koalition
in Nordrhein-Westfalen ein gutes Ergebnis erhalten und
weiterregieren wird, damit wir die Krise erfolgreich
meistern können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Anette Kramme [SPD]: Die Hoffnung stirbt zuletzt!)


Lassen Sie mich noch zu einigen Punkten in Ihrem
Antrag etwas sagen. Im vorliegenden Antrag sehen Sie
letztlich vor, die Zeitarbeit zu beenden.

(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Ja!)


– Dann geben Sie es endlich zu und schreiben Sie nicht
irgendetwas von Equal Pay usw. Sagen Sie einfach, dass
Sie sie beenden wollen. – Sie ignorieren den 11. AÜG-
Bericht. Sie ignorieren den Bericht der Bundesagentur,
in dem dargelegt wurde, dass Zeitarbeit inzwischen ein
erheblicher Faktor ist. Über deren Brückenfunktion und
die damit verbundene Flexibilisierung haben wir in die-
sem Hause schon mehrfach gesprochen.

Zu Ihrer Forderung eines Kündigungsschutzes für
alle. Populistischer geht es nicht mehr. Ihnen sollte klar
sein, dass Sie damit gerade kleinen Familienbetrieben
bzw. Handwerksbetrieben jeglichen Handlungsspiel-
raum nehmen. Das ist das Ende solcher Betriebe. Ich
kann nur sagen: Sie wollen das wohl so. Diese Forde-
rung ist schlicht und ergreifend nicht realistisch.

Zu Ihrer Forderung eines Mindestlohns. Über die
Höhe rede ich gar nicht. Nehmen wir uns ein Beispiel
am Pflegedienst. Dies ist eine Sache der Tarifparteien.

Sie wollen die Höchstarbeitszeit auf 40 Stunden be-
grenzen. Wir haben ein sehr gutes Arbeitszeitgesetz. We-
niger Flexibilität bei der Arbeitszeit können wir uns mit
Sicherheit nicht leisten.

Sie schreiben in Ihrem Parteiprogramm, dass Sie am
Ende eine Wochenarbeitszeit von 30 Stunden bei vollem
Lohnausgleich wollen. Wie soll das funktionieren? Ich
sage ganz offen: Das ist unseriös.

Zur sachgrundlosen Befristung. Ich habe heute ei-
nes gelernt: Die sachgrundlose Befristung hängt mit
Fortpflanzung zusammen. Über dieses Wort, Herr Ernst,
bin ich ein bisschen erschrocken. Ich freue mich jeden
Tag an meinen Kindern. Ich empfinde sie nicht als Fort-
pflanzung, sondern als ein ganz großes Glück; das muss
ich Ihnen in dieser Deutlichkeit sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wenn man Kinder nur in einen finanziellen Kontext
stellt, dann zeigt das – –


(Abg. Klaus Ernst [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


– Ich lasse keine Zwischenfrage zu, auch wenn Sie sich
fünfmal melden. Sie bekommen von mir keine Redezeit
mehr. Da können Sie machen, was Sie wollen.

Wir halten an der sachgrundlosen Befristung fest. Sie
hat eine positive Wirkung und ist Türöffner für dauer-
hafte Arbeitsplätze in den Betrieben. Sie ist – darum
geht es in diesem Zusammenhang – im Teilzeit- und Be-
fristungsgesetz geregelt. Das Gesetz beinhaltet den
Rechtsanspruch auf Teilzeitbeschäftigung, der die Ver-
einbarkeit von Familie und Beruf verbessert.

Zum politischen Streikrecht kann ich nur sagen: Wir
haben eine hervorragend funktionierende Sozialpartner-
schaft, die wir nicht riskieren sollten. Belegschaftsab-
stimmungen über wesentliche Betriebsentscheidungen
bedeuten letztendlich Enteignung. Ich möchte an dieser





Ulrich Lange


(A) (C)



(D)(B)

Stelle klar festhalten: Das ist mit wahren Demokraten
nicht zu machen.


(Zurufe von der LINKEN)


Sie wollen mithilfe von Förderprogrammen insge-
samt 2,5 Millionen neue Arbeitsplätze schaffen. Sagen
Sie doch einmal, wo Sie das Geld hernehmen wollen!

Frau Kollegin, Sie haben mir wirklich aus der Seele
gesprochen – das kommt nicht allzu oft vor –: Es ist
wirklich ärgerlich, dass wir uns heute mit Ihren unrealis-
tischen Forderungen beschäftigen müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Herr Ernst, Sie haben vorhin die Süddeutsche Zeitung
zitiert; auch ich möchte das tun. Dort heißt es über den
Entwurf Ihres neuen Parteiprogramms, er sei „Sozialis-
mus in Neuauflage“. Letztendlich geht es in Ihrem Pro-
gramm um nichts anderes. Sie polarisieren: hier der aus-
gebeutete Arbeitnehmer, dort der böse Arbeitgeber. So
ist jedoch die Realität nicht. Wir haben Unternehmer-
geist, Ideen, Mut, das Eigentum der Unternehmer, das
sie zusammen mit engagierten Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern in fairer Partnerschaft einbringen. Genau
das wollen wir: soziale Marktwirtschaft. Sie ist ein Er-
folg für gute Arbeit, nichts anderes. Daran wollen wir
festhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Zuruf von der LINKEN)


Nehmen Sie sich ein Beispiel: Nehmen Sie Nachhilfeun-
terricht bei unserer Bundesarbeitsministerin! Ich nenne
nur den Titel des Gesetzentwurfes, der gestern vom Ka-
binett verabschiedet wurde: Gesetz für bessere Beschäf-
tigungschancen am Arbeitsmarkt – Beschäftigungschan-
cengesetz.

Es geht hier letztlich um die Grundsatzfrage: soziale
Marktwirtschaft oder Sozialismus? Sie wollen den So-
zialismus. Damit haben Sie einen Teil Deutschlands
schon einmal vor die Mauer gefahren. Wir werden uns
dagegenstellen. Wir glauben an das Miteinander von Ar-
beitnehmern und Arbeitgebern. Wir stehen zur sozialen
Marktwirtschaft, die ein Erfolgskonzept für gute Arbeit
ist.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703705800

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem

Kollegen Ernst.


Klaus Ernst (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703705900

Herr Kollege Lange, Sie sagen, es sei ärgerlich, dass

wir uns mit diesem Thema beschäftigen. Ich kann mir
vorstellen, dass das für Sie ärgerlich ist; denn dabei wer-
den die Defizite dieser Regierung deutlich vor Augen
geführt.

Ich möchte auf das Beispiel der Menschen mit Kin-
dern eingehen. Können Sie sich vorstellen, dass sich ein
junger Mensch, der nach der Ausbildung nur befristet
übernommen wird, tatsächlich überlegt, ob er zusammen
mit seiner Partnerin Kinder in die Welt setzt oder ob er
es angesichts der Tatsache, dass er bei einem befristeten
Arbeitsplatz möglicherweise nur ein halbes Jahr oder ein
Jahr beschäftigt ist, vielleicht gar nicht verantworten
kann, weil er gegebenenfalls Probleme hat, seine Familie
zu ernähren? Herr Lange, können Sie sich vorstellen,
dass sich jemand, der sich in einem Leiharbeitsverhältnis
befindet, angesichts der Tatsache, dass Leiharbeitnehmer
die ersten sind, die aus den Betrieben entfernt werden
– das war auch in dieser Krise so –, überlegt, ob er Kin-
der in die Welt setzt, weil er sie kaum noch ernähren
kann, wenn er den Job verliert und auf Sozialleistungen
dieses Staates angewiesen ist? Können Sie sich vorstel-
len, dass die Familienpolitik auch Ihrer früheren Familien-
ministerin unter diesen Umständen konterkariert wird?
Sie sollte dazu führen, dass man lustvoll dazu beiträgt,
dass dieses Land nicht ausstirbt.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Lustvoll! Darum geht es! Da spielen ganz andere Fragen eine Rolle!)


Können Sie sich vorstellen, dass wir unter diesen Bedin-
gungen tatsächlich darüber nachdenken müssen, ob wir
Regelungen wieder einführen, die wir in diesem Land
schon gehabt haben? Die Regelungen galten im Westteil,
nicht im Ostteil des Landes; es handelte sich also nicht
um irgendeine Form des Sozialismus. Herr Lange, wenn
Sie all das verneinen, dann kann ich Ihnen sagen: Sie ha-
ben sich von der Realität der Menschen, insbesondere
der jungen Menschen und der Menschen, die in schlech-
ten Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind, vollkommen
verabschiedet. Das werden wir den Menschen auch sa-
gen.


(Beifall bei der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703706000

Zur Erwiderung Herr Kollege Lange.


(Ottmar Schreiner [SPD]: Aber lustvoll!)



Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1703706100

– Gut, also ich antworte lustvoll.

Herr Kollege Ernst, ja, ich kann mir das vorstellen,
weil ich nicht davon ausgehe, dass ein Kinderwunsch
einzig und allein an der materiellen Situation einer Fami-
lie, einer Partnerschaft, der Mütter und Väter hängt. Das
ist mir zu wenig. Ich kenne viele damalige Kommilito-
ninnen und Kommilitonen, die mitten im Studium Kin-
der bekommen haben.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wahnsinnig viele!)


– Das gab es, und das gibt es natürlich heute noch.

Ich kenne viele Familien, die Hartz IV empfangen
und interessanterweise auch viele Kinder haben. Ich
kenne viele Familien von Leiharbeitnehmerinnen und
Leiharbeitnehmern, die sehr wohl Kinder haben. Herr
Ernst, Kinder sind etwas anderes, Kinder sind ein Glück





Ulrich Lange


(A) (C)



(D)(B)

und nicht nur eine Frage des Geldbeutels. So sollten wir
wieder denken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Dass Kinder ein Armutsrisiko sind, wissen Sie nicht!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703706200

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Dr. Matthias Zimmer für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Matthias Zimmer (CDU):
Rede ID: ID1703706300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach

diesem beinahe lustvollen und – zumindest von einer
Seite des Hauses – an die Grenze des Kabarettistischen
gehenden Austausches über die Familienpolitik fällt es
schwer, sich wieder in die Niederungen dessen zu bege-
ben, was wir in dem Antrag der Linken vor uns liegen
haben.

Der Antrag versammelt alles, was es an Monstrositä-
ten und Skurrilitäten aus dem linken Lager so gibt, Herr
Ernst, eine beachtenswerte Gesamtschau sozialistischer
Irrungen und Wirrungen, ein Kompendium wirtschaftli-
chen und sozialpolitischen Kompetenzdefizits.


(Pascal Kober [FDP]: So ist es!)


Ich will es mir ersparen, auf die einzelnen Vorschläge
einzugehen. Da ist viel Richtiges gesagt worden. Aber
ich will einige Punkte hervorheben, an denen sich die
Differenz zwischen unseren politischen Ordnungsvor-
stellungen sehr deutlich konkretisiert.

Da ist zunächst einmal der Begriff der Solidarität.
Der wird ja in der Geschichte – auch der Arbeiterbewe-
gung – groß geschrieben, auch wenn diese Solidarität
zunächst einmal transnational organisiert werden sollte.
Solidarität bedeutet gegenseitiges Einstehen in einer
Rechtsgemeinschaft, also ein gegenseitiges Hilfever-
sprechen. Dieser Anspruch auf gegenseitige Hilfe ent-
steht auf der Grundlage von Leistung und Gegenleis-
tung. Davon ist bei Ihnen aber nichts zu spüren, denn der
solidarischen Leistung der Unterstützung bei Arbeitslo-
sigkeit entspricht bei Ihnen keine Gegenleistung.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das machen Sie dadurch deutlich, dass Sie sagen: Wir
wollen eine sanktionsfreie Mindestsicherung. Das
heißt nichts anderes als ein Abschied vom Prinzip der
Solidarität. Die sanktionsfreie Mindestsicherung ist die
dauerhafte Subventionierung der Arbeitsunwilligen
durch die Arbeitswilligen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Es ist der Abschied vom Prinzip der Solidarität zu-
gunsten einer Alimentierung der Privatisierung Einzel-
ner auf Kosten der Allgemeinheit.


(Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)


Logisch zu Ende gedacht führt aber dieser Abschied von
der Solidarität nicht zum allgemeinen gesellschaftlichen
Reichtum, sondern zu einer Entsolidarisierung in der
Gesellschaft und zu einer materiellen und geistigen Ver-
armung.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Und Demotivation!)


Aber mit der materiellen und geistigen Verarmung
haben Sie ja historisch schon Ihre eigenen Erfahrungen
gemacht.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Herbert Wehner hat vor 40 Jahren gesagt: Das sozialisti-
sche Experiment in der DDR kann nur in einem großen
Katzenjammer enden. Und das ist noch das Höflichste,
was sich darüber sagen ließ.


(Beifall bei der CDU/CSU – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Über was reden Sie eigentlich hier?)


Der zweite Punkt: Ich habe den Eindruck, dass Sie
den Arbeitsmarkt mit Ansprüchen auf gesellschaftliche
Änderungen überlasten. Sie begehen damit etwas, was
André Comte-Sponville in einem sehr lesenswerten
Buch über die Frage, ob der Kapitalismus moralisch sein
kann, als Verwechslung der Ordnungen bezeichnet –
also etwa das Koalitionsrecht in einem Generalstreik zur
Durchsetzung politischer Forderungen zu missbrauchen
oder die Auftragsvergabe der öffentlichen Hand an ge-
sellschaftliche Reformziele zu koppeln, die an sich für
den Zweck der Auftragsvergabe systemfremd sind. Mit
diesen teilweise massiven Eingriffen in das Wirtschafts-
leben wird die Wirtschaft zur Erreichung gesellschaftli-
cher Ziele feingesteuert. André Comte-Sponville nennt
das die Tyrannei der höheren Ordnung. Wir meinen al-
lerdings: Der Staat soll einen Ordnungsrahmen für die
Wirtschaft setzen, aber nicht versuchen, gesellschaftli-
che Utopien durch wirtschaftliche Prozesse zu verwirkli-
chen.

Mit dieser Zurückhaltung sind wir in den 60 Jahren
der sozialen Marktwirtschaft gut gefahren, mehr noch:
Wir haben das konkurrierende Modell einer sozialisti-
schen Planwirtschaft abgehängt. Wir brauchten es weder
einzuholen noch zu überholen, wir haben es einfach ab-
gehängt. Es ist zu Recht in der Asservatenkammer der
Geschichte gelandet. Dass Sie als Verlierer der Ge-
schichte die Stirn haben, uns zu sagen, dass wir ein ande-
res Wirtschafts- und Gesellschaftssystem brauchen,


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Ungeheuerlich!)


zeigt nur eines: Aus der Geschichte haben Sie nichts ge-
lernt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ein dritter Punkt. Für Sie kommt alles Heil vom Staat.
Für uns ist es zunächst der Einzelne, der in Freiheit und
Selbstverantwortung handelt. Für uns gilt der Grundsatz
der Subsidiarität, der gesellschaftlichen Selbstorganisa-
tion. Deshalb ist auch der Staat subsidiär, also nachran-
gig gegenüber der Selbstverantwortung des Einzelnen
und der Selbstorganisation der Gesellschaft. Dass Sie
mit diesem Konzept Probleme haben, erstaunt mich
nicht. Ihre Tradition ist die Tradition staatlicher Gänge-
lung, staatlicher Bevormundung und staatlicher Planung.





Dr. Matthias Zimmer


(A) (C)



(D)(B)

Damit haben Ihre geistigen und politischen Ahnen die
Biografien von Millionen Menschen zerstört.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Klaus Ernst [DIE LINKE]: Bayern war wirklich ein schlimmes Land!)


In einem seltenen Anfall von partieller Selbsterkennt-
nis schreiben Sie in Ihrem Programm über die DDR:

Die Demokratie blieb auf der Strecke, und eine
ökologische Orientierung hatte keine Chance. Die
Zentralisation der ökonomischen Entscheidungen
und die bürokratisierte Form der Planung und Lei-
tung der Volkswirtschaft sowie die weitgehende
Einschränkung betrieblicher Selbstständigkeit führ-
ten langfristig zu einem Zurückbleiben der Innova-
tions- und Leistungsfähigkeit.

Das ist alles richtig. Ich frage mich, wie Sie mit dem al-
ten Wein der Denkungsart, den Sie lediglich in einen
neuen Schlauch einer Partei gegossen haben, eine Wie-
derholung dieses nationalen Unglücks verhindern wol-
len. Die Probe aufs Exempel will ich nicht machen, weil
ich der Meinung bin: Es gilt, den Anfängen zu wehren.
Mit ihrem Konzept der guten Arbeit wird kein Weg aus
der Krise gewiesen. Im Gegenteil: Das Konzept zeigt
nur auf, wie die Krise politisch verstärkt werden kann.


(Klaus Ernst [DIE LINKE]: Über den Antrag haben Sie gar nicht geredet! Ihre Begründung war äußerst dünn!)


Wir werden Ihr Konzept ablehnen, was Sie sicherlich
nicht überraschen wird.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703706400

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1396 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 g sowie
Zusatzpunkte 4 a bis 4 f auf:

28 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung krankenversicherungsrechtlicher und
anderer Vorschriften

– Drucksache 17/1297 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Rechtsausschuss

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzes
zur Änderung des Filmförderungsgesetzes

– Drucksache 17/1292 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)

Rechtsausschuss

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Feststellung des Wirtschaftsplans des ERP-

(ERPWirtschaftsplangesetz 2010)


– Drucksache 17/1294 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und
Technologie (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Än-
derungen vom 2. Oktober 2008 des Überein-
kommens vom 3. September 1976 über die
Internationale Organisation für mobile Satelli-

(International Mobile Satellite Organization – IMSO)


– Drucksache 17/1295 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
zung der Dienstleistungsrichtlinie auf dem Ge-
biet des Umweltrechts sowie zur Änderung
umweltrechtlicher Vorschriften

– Drucksache 17/1393 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

f) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einfüh-
rung einer Musterwiderrufsinformation für
Verbraucherdarlehensverträge, zur Ände-
rung der Vorschriften über das Widerrufs-
recht bei Verbraucherdarlehensverträgen und
zur Änderung des Darlehensvermittlungs-
rechts

– Drucksache 17/1394 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz

g) Beratung des Antrags der Abgeordneten Marlene
Rupprecht (Tuchenbach), Petra Crone, Petra
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD

Frauenhäuser ausreichend zur Verfügung stel-
len und deren Finanzierung sichern

– Drucksache 17/1409 –





Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

ZP 4 a)Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Gerhard Schick, Lisa Paus, Dr. Thomas
Gambke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Finanzumsatzsteuer auf EU-Ebene einführen

– Drucksache 17/1422 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Andreae, Fritz Kuhn, Christine Scheel, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Pluralistischen Ansatz bei Auswahl der For-
schungsinstitute für die Gemeinschaftsdia-
gnose gewährleisten

– Drucksache 17/1424 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kerstin
Andreae, Fritz Kuhn, Christine Scheel, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Umweltberichterstattung in die Gemein-
schaftsdiagnose aufnehmen

– Drucksache 17/1423 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Schlecht, Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Pluralistischen Ansatz bei Auswahl der For-
schungsinstitute für die Gemeinschaftsdia-
gnose gewährleisten

– Drucksache 17/1405 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Elvira
Drobinski-Weiß, Dr. Wilhelm Priesmeier, Ulrich
Kelber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD

Gentechnisch veränderte Amflora-Kartoffel
zuverlässig aus der Lebensmittel- und Futter-
mittelkette fernhalten

– Drucksache 17/1410 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Hilde
Mattheis, Dr. Karl Lauterbach, Elke Ferner, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Qualität und Transparenz in der Pflege konse-
quent weiterentwickeln – Pflege-Transparenz-
kriterien optimieren

– Drucksache 17/1427 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Es handelt sich dabei um Überweisungen im verein-
fachten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Die Vorlage auf Drucksache 17/1409, das
betrifft den Tagesordnungspunkt 28 g, soll dem Haus-
haltsausschuss ausschließlich zur Mitberatung überwie-
sen werden. Sind Sie damit einverstanden? – Auch das
ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlos-
sen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Fünften
Gesetzes zur Änderung des Kraftfahrzeug-
steuergesetzes

– Drucksachen 17/717, 17/1209 –

Beratung der Beschlussempfehlung und des
Berichts des Finanzausschusses (7. Ausschuss)


– Drucksache 17/1463 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Patricia Lips
Ingrid Arndt-Brauer
Dr. Birgit Reinemund
Richard Pitterle
Lisa Paus

Dabei handelt es sich um eine Beschlussfassung zu
einer Vorlage, zu der keine Aussprache vorgesehen ist.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-
rung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes. Der Finanzaus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/1463, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf den Drucksachen 17/717 und 17/1209 in der
Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Wer ist dagegen? – Ent-
haltungen? – Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Be-
ratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei
Enthaltung der Oppositionsfraktionen angenommen.





Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in der
zweiten Beratung angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts
des Ausschusses für die Angelegenheiten der Euro-
päischen Union (21. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und
der FDP

Einvernehmensherstellung von Bundestag und
Bundesregierung zum Beitrittsantrag der Re-
publik Island zur Europäischen Union und zur
Empfehlung der EU-Kommission vom 24. Fe-
bruar 2010 zur Aufnahme von Beitrittsver-
handlungen

hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-
ges nach Artikel 23 Absatz 3 GG i. V. m. § 10
des Gesetzes über die Zusammenarbeit von
Bundesregierung und Deutschem Bundestag
in Angelegenheiten der Europäischen Union

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Diether
Dehm, Alexander Ulrich, Andrej Hunko, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Verhandlungen über die Aufnahme Islands in
die Europäische Union eröffnen

– zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten
Dietmar Nietan, Michael Roth (Heringen), Iris
Gleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD

zu der Abgabe einer Regierungserklärung
durch die Bundeskanzlerin zum Europäi-
schen Rat am 25./26. März 2010 in Brüssel

– zu dem Entschließungsantrag der Abgeordneten
Manuel Sarrazin, Viola von Cramon-Taubadel,
Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

zu der Abgabe einer Regierungserklärung
durch die Bundeskanzlerin zum Europäi-
schen Rat am 25./26. März 2010 in Brüssel

– Drucksachen 17/1190, 17/1059, 17/1191, 17/1172,
17/1464 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Stübgen
Michael Roth (Heringen)

Dr. Stefan Ruppert
Andrej Konstantin Hunko
Manuel Sarrazin

Der Ausschuss hat in diese Beschlussempfehlung den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/260 mit einbezogen. Über diese Vorlage
soll jetzt ebenfalls abschließend beraten werden. Sind
Sie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall.
Dann können wir so verfahren.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Auch dazu sehe
ich keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache und
erteile als erstem Redner das Wort dem Kollegen
Michael Link für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Michael Link (FDP):
Rede ID: ID1703706500

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Mit

dem heutigen Antrag wollen wir Einvernehmen mit der
Bundesregierung über die Aufnahme von Beitrittsver-
handlungen mit Island herstellen. Die FDP unterstützt
ebenso wie die Bundesregierung das Ziel einer Vollmit-
gliedschaft Islands in der Europäischen Union. Deutsch-
land und die EU haben allergrößtes Interesse an der Un-
terstützung dieses Beitrittsantrags und an dem Gelingen
des Beitrittsprozesses mit Island. Mit Island würde eine
stabile parlamentarische Demokratie der EU beitreten,
die Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte
garantiert.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Island kann als funktionierende Marktwirtschaft an-
gesehen werden, auch wenn mit der Bankenkrise deut-
lich geworden ist, wohin es führt, wenn wir in einem
Markt keine klaren Aufsichtsregeln haben. Island war
eine funktionierende Marktwirtschaft. Wir sind auch si-
cher, dass es wieder eine funktionierende Marktwirt-
schaft sein wird. Am Beispiel Island kann man aber, wie
gesagt, sehr gut sehen, wohin es führt, wenn keine starke
Finanzmarktaufsicht vorhanden ist.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


In der Öffentlichkeit wird teilweise der Eindruck ver-
mittelt – er ist falsch –, dass es Island nur um den Beitritt
zur Euro-Zone geht, quasi als Rettungsmechanismus.
Natürlich geht es Island auch um den Beitritt zur Euro-
Zone. Aber der Beitritt zur Euro-Zone und der Beitritt
zur Europäischen Union sind und bleiben für uns zweier-
lei Paar Stiefel. Wir reden jetzt über den Beitritt zur Eu-
ropäischen Union. Der Weg zum Beitritt zur Euro-Zone
wird für Island ein sehr viel längerer sein; denn er hängt
– ich glaube, da sind wir uns alle einig – mit der strikten
Einhaltung der Maastricht-Kriterien zusammen. Hier
können wir keine Abstriche machen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber auch die EU kann vom Wissen und den Erfah-
rungen Islands profitieren. Island verfügt im Bereich der
erneuerbaren Energiequellen, auch im Bereich der Fi-
schereiwirtschaft über sehr wichtige Erkenntnisse. Is-
land hat es geschafft, eine nachhaltige Fischereiwirt-
schaft aufzubauen, übrigens ohne öffentliche Beihilfen,
ohne Subventionen aus öffentlichen Kassen. Wir sollten
darauf achten, dass wir Island im Beitrittsprozess nicht
ohne Not ein überarbeitungsbedürftiges Regime der Eu-





Michael Link (Heilbronn)



(A) (C)



(D)(B)

ropäischen Union an diesem Punkt überstülpen, da
Island mit nachhaltiger Fischerei selbst bereits weiter ist.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Klar muss allerdings auch sein, dass beim kommerziel-
len Walfangverbot keine Abstriche, keine Kompromisse
gemacht werden können.

Dankbar sind wir auch für das, was Island uns Neues
bringen kann, insbesondere in der Gemeinsamen Sicher-
heits- und Verteidigungspolitik. Island wird an der Nord-
westflanke der Europäischen Union eine ganz wichtige
Bereicherung sein. Wir alle wissen, dass der arktische
Raum in Zukunft an strategischer Bedeutung hinzuge-
winnen wird. Mit Blick auf das, was Island für die
NATO, das atlantische Bündnis, bereits geleistet hat, ist
es selbstverständlich, dass wir diesen Beitrag sehr schät-
zen und uns deshalb freuen würden, wenn wir Island
bald als Mitglied willkommen heißen könnten.

Island ist im Übrigen bereits lange in der EFTA und
im Europäischen Wirtschaftsraum vertreten. Es ist seit
2001 Mitglied des Schengener Abkommens. Insofern
glaube ich – da können wir über die Fraktionsgrenzen
hinweg vermutlich eine Gemeinsamkeit feststellen –:
Island wird mit Sicherheit nicht 10 oder 20 Jahre über
seinen Beitritt verhandeln müssen. Wenn es aber so ist,
dass die Verhandlungen in einem relativ überschaubaren
Zeitraum abgeschlossen werden können, dann muss
auch klar sein, dass die heutige Stellungnahme des Bun-
destages bereits sehr substanziiert sein muss.

Der relativ kurze Zeitraum von wenigen Jahren für
Beitrittsverhandlungen mit Island, den wir vor uns ha-
ben, erfordert eine umso genauere Begleitung des Pro-
zesses durch den Bundestag von Anfang an. Deshalb ha-
ben wir von den Koalitionsfraktionen uns sehr viel Mühe
gemacht, um in diesem Antrag sehr viele inhaltlich an-
gereicherte Punkte des EU-Ausschusses genauso wie der
mitberatenden Ausschüsse unterzubringen. Ich habe ge-
rade das Thema Walfangverbot erwähnt. Den Prozess,
die Verhandlungen, die die Bundesregierung durchführt,
werden wir sehr genau begleiten.

Wichtig ist uns als FDP auch, deutlich zu machen,
dass man das isländische Beitrittsgesuch keinesfalls in
den Ruch stellen sollte, es sei lediglich erfolgt, weil Is-
land jetzt in einer Krise ist und deshalb unter den Schirm
der EU möchte. So einfach ist das nicht. Wir wissen,
dass viele Parteien in Island, insbesondere die Sozialde-
mokraten, schon lange für den isländischen Beitritt
kämpfen.


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Sehr wahr!)


Die Idee des isländischen Beitritts ist also weit mehr als
eine Flucht unter den EU-Rettungsschirm. Sie ist auch
ein Bekenntnis zu gemeinsamen europäischen Werten.
Das respektiert die FDP. Auch deshalb setzen wir uns für
den Beitrittsantrag Islands ein.

Zu guter Letzt: Wir sollten uns darüber im Klaren
sein, dass, anders als in der Vergangenheit – ich betone
das bewusst für meine Fraktion –, nur und ausschließlich
die strikte Erfüllung der Kopenhagener Kriterien die Vo-
raussetzung für den Beitritt sein kann, also die Beitritts-
fähigkeit des Kandidaten und die Aufnahmefähigkeit der
Europäischen Union. Wir sollten uns davor hüten, zur
Unzeit Zeitpunkte zu nennen oder gar Pakete zu schnü-
ren. Ich glaube, das muss die Lehre aus den großen Er-
weiterungswellen der Vergangenheit sein. Die Beitritte
waren in jedem Einzelfall richtig. Vielleicht hätte man
aber darauf verzichten sollen, früh und zur Unzeit ein
Beitrittsdatum zu nennen, und vielleicht hätte man auch
nicht jedes Paket so schnüren sollen, wie es geschnürt
worden ist. Denn dadurch wird verkannt, welche indivi-
duellen Chancen, aber teilweise auch Risiken und Pro-
bleme jedes neue Mitglied uns in der Union bringt. Wir
sind mehr als ein politischer Klub; wir sind ein Staaten-
verbund. Dementsprechend sollten wir Aufnahmen im
Einzelfall sehr genau prüfen und uns immer die notwen-
dige Zeit dazu nehmen.

Die FDP unterstützt die Aufnahme von Beitrittsver-
handlungen mit Island zur Europäischen Union.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703706600

Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Roth von der

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Michael Roth (SPD):
Rede ID: ID1703706700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

gehöre – wie viele andere auch – zu den Leidtragenden
dieses isländischen Vulkans, dessen Namen ich immer
noch nicht auszusprechen vermag. Dennoch sollten wir
vor dem Hintergrund des Ascheregens nicht die falschen
Schlussfolgerungen ziehen und deutlich machen: Wir
freuen uns darauf, Beitrittsverhandlungen mit Island
führen zu können. Wir hoffen, Island baldmöglichst in
der Europäischen Union willkommen heißen zu dürfen.
Wir fänden es gut, wenn der Deutsche Bundestag sich in
diese Beitrittsverhandlungen aktiv einbringen würde.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Bundesregierung!)


Ich kann mich der Kritik meines geschätzten Vorred-
ners an Bundeskanzler Helmut Kohl hinsichtlich der
Nennung eines konkreten Datums nur anschließen; da
haben Sie völlig recht, Herr Kollege Link.


(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Das war 2004, Herr Kollege!)


– Meines Wissens hatte der Bundeskanzler Dr. Helmut
Kohl das Datum 2000 in die Diskussion eingebracht.


(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: 2007 war es, und es wurde 2004!)


Herr Schockenhoff, wir sollten hier keine Geschichts-
klitterung beitreiben.


(Veronika Bellmann [CDU/CSU]: Nachlesen hilft!)






Michael Roth (Heringen)



(A) (C)



(D)(B)

Ich stimme Ihnen auch zu, Herr Kollege Link, wenn
Sie sagen, dass wir die richtigen Schlussfolgerungen aus
den bisherigen Beitrittsverhandlungen ziehen müssen.
Beitrittsverhandlungen sind nicht nur eine Chance für
Island, sondern auch für die Europäische Union und
Deutschland. In den vergangenen Jahren ist es uns nicht
ausreichend gelungen, deutlich zu machen, dass es bei
einem Beitritt zur Europäischen Union nicht vordergrün-
dig um den Binnenmarkt, um den Euro und um ökono-
mische Kriterien geht. Wir sind in erster Linie eine Wer-
tegemeinschaft.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir sind eine politische Union. Insofern lautet meine
Bitte an die isländischen Partner, von Anfang an die is-
ländische Zivilgesellschaft einzubeziehen und deutlich
zu machen, dass es sich um eine Win-win-Situation han-
delt: nicht nur für die Europäische Union, die ein weite-
res Mitgliedsland bekommt, sondern auch für die Bürge-
rinnen und Bürger, für die Zivilgesellschaft. Es geht
nicht allein um Vorteile für die isländische Wirtschaft.

Denn eine Devise gilt nach wie vor: Kleine Länder
ganz groß. Die Größe eines Landes bemisst sich nicht
vorrangig an der Einwohnerzahl. Länder wie
Luxemburg, die sich immer als Speerspitze der europäi-
schen Integration gesehen haben, haben sich so unend-
lich viele Verdienste um das Projekt der europäischen In-
tegration erworben. Man sollte daher den Isländern Mut
machen und ihnen deutlich sagen: Euer Land ist zwar
klein, was die Einwohnerzahl anbelangt, aber ihr habt,
was euren Beitrag zur Demokratie und zum Parlamenta-
rismus in Europa betrifft, große Verdienste. Bringt die-
sen demokratischen Geist und diesen Mut zur Autono-
mie offensiv ein!

Das sind Werte, auf die die Europäische Union zwin-
gend angewiesen ist. Insofern kann dieses Angebot
durchaus ein Beitrag dazu sein, die vielen, die den Bei-
tritt Islands immer noch ablehnen, zu überzeugen. Wenn
man sich die politische Landschaft in Island ansieht,
muss man feststellen: Die Sozialdemokraten in Island
sind in dieser Hinsicht eine der wenigen rühmlichen
Ausnahmen. Sie konsequent und frühzeitig für den Bei-
tritt eingetreten. Das Fundament derer, die den Beitritt
Islands positiv sehen, muss nach Möglichkeit verbreitert
werden.


(Beifall bei der SPD)


Das ist auch ein Auftrag an uns. Wir dürfen nicht
beim Vertrag von Lissabon stehen bleiben. Ich weiß,
dass das in den vergangenen Jahren für uns alle sehr
schwierig, sehr mühselig und manchmal auch nervig
war. Aber jetzt muss eine Debatte über die Fragen ge-
führt werden: Was für eine Europäische Union wollen
wir eigentlich? Welche sind die richtigen Konsequenzen
aus der Wirtschafts- und Finanzkrise? Wo müssen wir
vor allem in finanz- und wirtschaftspolitischen und in
umweltpolitischen Angelegenheiten noch enger zusam-
menarbeiten? Wo ist ehrliche und wahrhaftige Solidari-
tät gefragt?
Ich bin von der Bundesregierung, insbesondere von
der Bundeskanzlerin und vom Bundesaußenminister,
enttäuscht, weil diese wichtigen europäischen Impulse
„Wo wollen wir hin?“ und „Was ist unser europapoliti-
sches Konzept?“ bislang sträflich vernachlässigt worden
sind. Ich fordere alle dazu auf, diese Diskussion zu füh-
ren. Möglicherweise können die Beitrittsverhandlungen
auch für uns ein Impuls sein, etwas nachzuholen, was
wir sträflich vernachlässigt haben.


(Beifall bei der SPD)


Die Beitrittsverhandlungen sind eine Zweibahn-, keine
Einbahnstraße.

Island wäre eine Bereicherung. Ich möchte das an die-
ser Stelle nur auf einen einzigen Punkt fokussieren: die
Fischereipolitik. Auch dieser Politikbereich ist mühselig
und ärgerlich. Denken wir nur an die Quotendiskussion
innerhalb der Europäischen Union. Aber wenn Island
der Europäischen Union beiträte, wäre Island die größte
Fischereination in der Europäischen Union. Auf diesem
Gebiet können wir von Island eine Menge lernen. Der
Aspekt der Nachhaltigkeit ist ein ganz wesentlicher Be-
standteil der isländischen Fischereipolitik. Insofern soll-
ten wir die isländischen Erfahrungen in die Diskussion
über eine Reform der gemeinsamen Fischereipolitik in
der Europäischen Union einbeziehen. Möglicherweise
kann auch dies dazu beitragen, die Ängste, die gerade
die Fischer in Island vor einem Beitritt zur Europäischen
Union haben, abzubauen.


(Beifall bei der SPD)


Ich möchte noch einen bundestagsinternen Punkt an-
sprechen, über den wir gestritten haben, bei dem wir also
nicht einer Meinung waren. Die SPD-Bundestagsfrak-
tion hat schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt den An-
trag eingebracht, der Bundesregierung eine Stellung-
nahme mit auf den Weg zu geben. Wir hätten uns
gewünscht, dass schon mit Blick auf den Europäischen
Rat am 25. März dieses Jahres eine parlamentarische Ini-
tiative eingeleitet worden wäre. Ich will mich mit Vor-
würfen zurückhalten. Aber ich meine, dass wir den Nie-
derländern und den Briten, die in Bezug auf die
Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Island ihre ei-
genen Spielchen getrieben haben, hier in die Hände ge-
spielt haben.

Wir hätten deutlich machen müssen: Der Deutsche
Bundestag ist in der Lage und bereit, trotz sehr enger
Fristen eine Stellungnahme abzugeben. Wir sind selbst-
bewusst, bereit und in der Lage, die Aufgaben und
Pflichten, die uns das Bundesverfassungsgericht im Hin-
blick auf die Umsetzung des Vertrages von Lissabon auf-
getragen hat – hier geht es ja um eine stärkere Beteili-
gung des Deutschen Bundestages –, vollumfänglich zu
erfüllen. Da hätte ich mir von der CDU/CSU, aber auch
von der FDP ein bisschen mehr Engagement und ein bis-
schen mehr Kooperationsbereitschaft gewünscht. Das
sollte kein schlechtes Beispiel sein dafür, welche Rolle
Stellungnahmen spielen. Für mich sind Stellungnahmen
eine zwingende Voraussetzung dafür, Einvernehmen
zwischen Bundesregierung und Bundestag herzustellen.





Michael Roth (Heringen)



(A) (C)



(D)(B)

Wir dürfen nicht nur abstrakt darüber reden, wir müs-
sen konkret handeln. Insofern finde ich den Antrag, den
die Koalitionsfraktionen eingebracht haben, in einem
Punkt kleinkariert: Ausgerechnet im Hinblick auf einen
Beitritt Islands eine Diskussion über die Aufnahmefä-
higkeit der Europäischen Union führen zu wollen, das
hätten Sie sich, ehrlich gesagt, sparen können.


(Dr. Andreas Schockenhoff [CDU/CSU]: Nein, nein, nein!)


Wir begrüßen Beitrittsverhandlungen mit Island, wir
freuen uns darauf, und wir bitten die Bundesregierung,
diese Verhandlungen mit aller Sorgfalt und mit aller
Ernsthaftigkeit, aber auch mit konstruktivem Wohlwol-
len zu begleiten. Die SPD wird aufpassen, ob dieser Weg
so, wie wir es erwarten, beschritten wird.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703706800

Das Wort hat der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff

von der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Andreas Schockenhoff (CDU):
Rede ID: ID1703706900

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Die heutige Aussprache ist ein besonderes Ereignis;
denn zum ersten Mal in seiner Geschichte entscheidet
der Deutsche Bundestag darüber, ob mit einem Kandida-
tenland Verhandlungen über einen Beitritt zur Europäi-
schen Union aufgenommen werden.

Es ist eine Folge des Lissabonner Vertrages, dass Ein-
vernehmen mit dem Deutschen Bundestag erforderlich
ist, ehe die Bundesregierung im Rat der Aufnahme von
Beitrittsverhandlungen zustimmen kann. Der Deutsche
Bundestag hat damit ein starkes Recht erhalten; er über-
nimmt damit aber auch eine große Verantwortung.

Es geht in der Frage einer Aufnahme von Beitragsver-
handlungen nicht nur um ein Ja oder ein Noch-nicht, es
geht vor allem darum, dass wir gegenüber dem Kandida-
tenland schon vor Beginn der Verhandlungen unsere Er-
wartungen an den Verhandlungsprozess deutlich zum
Ausdruck bringen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Die schlechten Erfahrungen, die wir noch heute mit
den verfrühten Beitritten Bulgariens und Rumäniens ma-
chen müssen, sind eine deutliche Ermahnung an uns,
diese Aufgabe anspruchsvoll anzugehen. Wir dürfen
nicht noch einmal in die Situation kommen, dass wir am
Ende nur noch das Verhandlungsergebnis abnicken kön-
nen.

Wir müssen am Ende der Verhandlungen über den
Beitritt des Kandidaten begründet „Ja“ oder „Jetzt noch
nicht“ sagen können. Um dies begründet sagen zu kön-
nen, müssen wir vor Beginn der Verhandlungen klar for-
mulieren, welches unsere Erwartungen an den Verhand-
lungsprozess sind, vor allem, in welchen Bereichen des
Acquis communautaire der Kandidat noch Anstrengun-
gen unternehmen muss, um beitrittsfähig zu werden. Das
betrifft bei vielen Ländern, die eine EU-Perspektive ha-
ben – Island nehme ich dabei ausdrücklich aus –, Pro-
blemthemen wie Rechtsstaatlichkeit und Bekämpfung
von Korruption und Kriminalität. Wenn wir vor allem in
diesen, aber auch in anderen Fragen vor Beginn von Ver-
handlungen unsere Erwartungen deutlich formulieren,
haben wir eine wichtige Grundlage, um gegenüber dem
Kandidatenland, vor allem aber gegenüber unseren Bür-
gern zu begründen, warum wir am Ende der Verhandlun-
gen für ein Ja oder für ein Jetzt-noch-nicht votieren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es wird immer wichtiger, dass wir besser als bisher be-
gründen, warum wir es für richtig, notwendig und ver-
antwortbar halten, ein neues Mitglied aufzunehmen –
oder eben nicht aufzunehmen.

Das alles erfordert, dass wir uns schon vor dem Be-
ginn von Verhandlungen ein eigenes genaues Bild über
den Stand der Vorbereitungen des Kandidatenlandes ma-
chen. Mit Blick auf den Beitrittsantrag Islands denke ich,
für uns alle sagen zu können: Wir haben dies so sorgfäl-
tig wie möglich getan. Es wurden Anhörungen durchge-
führt, viele Gespräche fanden statt. Einige von uns haben
sich vor Ort, in Island, ein genaues Bild gemacht. Vor
wenigen Tagen – ganz kurz bevor der Vulkan problema-
tisch wurde –


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Kaum waren Sie da, und schon ist ein Vulkanausbruch!)


haben der Vorsitzende des EU-Ausschusses der französi-
schen Nationalversammlung, Pierre Lequiller, und ich in
Reykjavík gemeinsame Gespräche mit der Regierung Is-
lands und mit Vertretern der isländischen Zivilgesell-
schaft geführt.

Dies wurde dort im Übrigen als ein Zeichen einer en-
gen Abstimmung und Zusammenarbeit zwischen den na-
tionalen Parlamenten in europapolitischen Fragen ver-
standen. Ich denke, es gehört auch zur Wahrnehmung
der neuen Rechte, die die nationalen Parlamente durch
den Lissabonner Vertrag erhalten haben, dass wir uns ge-
meinsam mit Parlamentskollegen anderer EU-Länder ein
Bild verschaffen, um darauf aufbauend zu einer gemein-
samen Bewertung zu kommen.

Mein französischer Kollege und ich haben am Ende
der Gespräche in Reykjavík fünf Punkte zum Ausdruck
gebracht:

Erstens. Wir unterstützen das Ziel einer Vollmitglied-
schaft Islands. Wir haben ein Interesse am Gelingen des
Beitrittsprozesses, und wir sagen dies auch und gerade
angesichts von Umfragezahlen, die derzeit nur eine Zu-
stimmung von rund 30 Prozent der isländischen Bevöl-
kerung für einen EU-Beitritt widerspiegeln. Deshalb
hoffe ich, dass die Zustimmung zur EU nach Beantwor-
tung der Fragen im Zusammenhang mit Icesave wieder
deutlich zunimmt.





Dr. Andreas Schockenhoff


(A) (C)



(D)(B)

Denn – das ist unser zweiter Punkt –: Ein Beitritt Is-
lands wäre für die EU ein Gewinn. Mit Island würde nicht
nur eine stabile parlamentarische Demokratie beitreten,
die Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechte
garantiert, sondern die EU könnte auch – das haben die
Vorredner schon gesagt – von Islands Wissen auf dem
Gebiet der erneuerbaren Energien profitieren. Nicht zu-
letzt ist Island für die EU von strategischem Interesse als
Tor zur Arktis mit Blick auf Rohstoffe und Energiever-
sorgung. Die Bedeutung des Nordatlantiks wird in den
kommenden Jahren weiter wachsen. Deshalb sollte die
EU in diesem Gebiet direkt präsent sein. Island ist also
für uns strategisch wichtig.

Drittens. Allerdings erwarten wir, dass Island bei ei-
nem Beitritt die politischen und wirtschaftlichen Krite-
rien umfassend erfüllt. Das betrifft insbesondere – auch
das ist schon gesagt worden – die Überwindung der Fi-
nanzkrise. Wir wissen, dass die weitere Haushaltskonso-
lidierung und die Gewährleistung tragfähiger öffentli-
cher Finanzen besondere Herausforderungen darstellen.
Diese Anstrengungen müssen aber konsequent fortge-
setzt werden, um Vertrauen wiederherzustellen und eine
strikte Einhaltung der Kopenhagener Kriterien sicherzu-
stellen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Übrigens haben uns unsere isländischen Gesprächs-
partner gesagt, dass sie für die angestrebte Einführung
des Euro selbst eine Zeitperspektive von rund zehn und
mehr Jahren sehen. Ich erwähne das, um deutlich zu ma-
chen, dass es hierzu in Island keinerlei unrealistische
Perspektiven und Erwartungen gibt.

Sichergestellt werden müssen auch das kommerzielle
Wahlfangverbot und eine Einigung bei den Fischereifra-
gen. Diese Fischereifragen seien so schwierig, wurde
uns von isländischer Seite gesagt, dass sie kaum inner-
halb von 12 bis 18 Monaten beantwortet werden könn-
ten. Ein Beitritt wird eher im Jahre 2014 als früher er-
folgen, wenn er die Zustimmung der isländischen
Bevölkerung findet.

Viertens. Wir erwarten, dass Island nicht nur aus fi-
nanziellen Gründen unter das Dach der EU kommen
möchte. Neben der Erfüllung der vertraglich vereinbar-
ten Beitrittskriterien ist es für uns wichtig, dass Island
die Grundidee einer immer tieferen Integration mitträgt.

Wie weit Island dazu bereit ist, kann nicht anhand der
Wirtschaftskriterien oder durch Gesetzestexte geklärt
werden. Das müssen wir durch den Kontakt zu den
Partnern in Regierung, Parlament und Zivilgesellschaft
herausspüren. Deshalb wird die Beurteilung der Inte-
grationsbereitschaft Islands eine unserer wichtigsten und
schwierigsten Aufgaben bei der Begleitung des Verhand-
lungsprozesses sein. Wir haben auch schon die Erfah-
rung gemacht, dass ein Land Mitglied der Europäischen
Union werden wollte, um anschließend die weitere Inte-
gration eher zu behindern als zu befördern. Auch das
müssen wir bei der Beurteilung künftiger Beitrittsgesu-
che berücksichtigen.

Fünftens haben mein französischer Kollege und ich in
Island in einer gemeinsamen Presseerklärung zum Aus-
druck gebracht, dass wir vom Europäischen Rat die
schnellstmögliche Entscheidung über die Eröffnung von
Beitrittsverhandlungen erwarten. Durch die offenen Fra-
gen hinsichtlich des Icesave-Abkommens darf eine sol-
che Entscheidung nicht noch länger verzögert werden.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die CDU/CSU-
Bundestagsfraktion spricht sich aus den genannten
Gründen für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen
mit Island aus.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703707000

Das Wort hat jetzt der Kollege Andrej Hunko von der

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Andrej Hunko (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703707100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir nei-

gen dazu, die Vorgänge in Island zu unterschätzen. Ich
rede nicht nur von dem Vulkan Eyjafjalla, dessen Asche-
wolke wir gerade in ganz Europa zu spüren bekamen.


(Heiterkeit und Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Franz Thönnes [SPD]: Jökull!)


– Jökull ist der Gletscher. Eyjafjalla ist der Vulkan.


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Experten unter sich! – Iris Gleicke [SPD]: Reisen bildet!)


Auch die Wellen der gesellschaftlichen Ereignisse in-
folge der Finanzkrise sind hier zu spüren. Die Tatsache,
dass wir heute über die Aufnahme von Verhandlungen
über einen Beitritt Islands zur Europäischen Union dis-
kutieren, ist auch eine Folge der sozialen Unruhen des
Winters 2008/2009, der sogenannten Kochtopfrevolu-
tion. Sie fegte die konservativ geführte Regierung unter
Geir Haarde weg und brachte zum ersten Mal in Island
eine sozialdemokratisch-linksgrüne Koalition an die Re-
gierung. Diese Regierung stellte im Juli vergangenen
Jahres ein Beitrittsgesuch zur Europäischen Union.
Selbstverständlich unterstützen wir als Linke die Auf-
nahme der Beitrittsverhandlungen.


(Beifall bei der LINKEN)


Das Interesse an Island ist aber auch deshalb so groß,
weil sich hier die Entwicklungen der letzten beiden Jahr-
zehnte besonders konzentrierten. Nach Jahren der Priva-
tisierung, der Deregulierung und des Aufbaus eines gi-
gantischen Spekulationssystems brach der isländische
Bankensektor im Herbst 2008 komplett zusammen. Ge-
nau wie hier und in anderen europäischen Ländern soll
die Bevölkerung die Zeche für die Party der Reichen be-
zahlen. Der Unterschied ist allerdings, dass Island als äl-
teste Demokratie Europas über eine höhere demokrati-
sche Kultur verfügt: Am 6. März lehnten 94 Prozent der
Isländerinnen und Isländer die Übernahme der Icesave-
Schulden, der Schulden einer privaten Internetbank, ab.


(Beifall bei der LINKEN)






Andrej Konstantin Hunko


(A) (C)



(D)(B)

Ich kann dem isländischen Präsidenten Olafur
Grimsson nur zustimmen, der dazu sagte:

Wenn Demokratie und Finanzmärkte in Wider-
spruch zueinander geraten, muss man sich für die
Demokratie entscheiden.


(Beifall bei der LINKEN – Michael Stübgen [CDU/CSU]: Das Gesetz haben doch die Linken vorgelegt!)


Vor wenigen Tagen ist in Island ein umfangreicher
Untersuchungsbericht über den Finanzkollaps erschie-
nen, der im Land für sehr viel Aufsehen gesorgt hat. Auf
2 383 Seiten werden die Verantwortlichen des neolibera-
len Umbaus, der schließlich zum Zusammenbruch
führte, und die unheilvolle Verquickung von Finanzkon-
zernen und Politik detailliert benannt.

Wer hier meint, das alles gehe ihn nichts an, dem sage
ich: „De te fabula narratur“ – von dir ist hier die Rede;
denn diese Verquickung gibt es genauso auch in
Deutschland.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich wünsche mir, dass das auch hier einmal so transpa-
rent aufgearbeitet würde wie in Island.


(Beifall bei der LINKEN)


Island hat im Juli 2009 den Antrag zur Aufnahme in
die EU gestellt. Die isländische Regierung hatte die
Hoffnung, dass der Europäische Rat noch im Dezember
unter schwedischer Ratspräsidentschaft über die Auf-
nahme von Gesprächen entscheidet. Im Februar 2010 hat
die Europäische Kommission schließlich die Aufnahme
von Beitrittsverhandlungen empfohlen. Leider wurden
die Beitrittsgespräche von der niederländischen und bri-
tischen Regierung verzögert, um Island in der Icesave-
Frage unter Druck zu setzen.

Es ist gut, dass die Mitwirkungsrechte des Bundesta-
ges unter anderem durch unsere Klage beim Bundesver-
fassungsgericht in dieser Frage gestärkt wurden.


(Beifall bei der LINKEN – Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das ist jetzt Geschichtsklitterung!)


Aber es wäre möglich gewesen, das Einvernehmen mit
dem Bundestag schon vor dem Ratsgipfel Ende März
herzustellen. Das war offensichtlich von der Bundesre-
gierung nicht gewollt. Jetzt geht es darum, dass sich die
Bundesregierung wenigstens für die Zustimmung zur Er-
öffnung der Beitrittsgespräche auf dem Gipfel des Euro-
päischen Rates am 17./18. Juni einsetzt.

Eine Forderung der Europäischen Kommission an Is-
land in dem Bericht vom Februar ist, den freien Kapital-
verkehr wiederherzustellen. Wörtlich heißt es im Kom-
missionsbericht:

Derzeit unterliegen Finanzgeschäfte zwischen Is-
land und dem Ausland umfassenden Devisenkon-
trollen. … Hier muss Island durch Liberalisierungs-
maßnahmen die Vereinbarkeit mit dem Grundsatz
des freien Kapitalverkehrs gewährleisten.
Die Kapitalsverkehrskontrollen der isländischen Re-
gierung waren die richtige Reaktion auf den Zusammen-
bruch der Finanzmärkte,


(Beifall bei der LINKEN)


wie auch der Internationale Währungsfonds, IWF, er-
kannte. Sie waren mit dem IWF abgesprochen, der Is-
land Kredite gewährte. Der IWF ist zu Recht umstritten,
weil er häufig Staaten neoliberale Strukturanpassungs-
programme aufgezwungen hat. Aber immerhin ermögli-
chen die Statuten des IWF Kapitalverkehrskontrollen,
während der Lissabonner Vertrag diese verbietet. Die
EU ist hier neoliberaler und marktradikaler als der IWF.
Es kann doch nicht sein, dass Island im Zuge der Bei-
trittsverhandlungen gezwungen wird, den Zustand von
vor der Krise wiederherzustellen. Hier sind dringend
entsprechende Änderungen am Lissabonner Vertrag ein-
zuleiten.


(Beifall bei der LINKEN)


Ein weiterer Punkt im Zusammenhang mit dem Bei-
tritt Islands ist der Zugang zur Arktis; dies ist eben auch
von Herrn Schockenhoff angesprochen worden. In der
Arktis liegen die größten bisher nicht erschlossenen
Rohstoffvorkommen. Bislang war die EU hier weitge-
hend abwesend vom sogenannten großen Spiel. Islands
Mitgliedschaft im Arktischen Rat und seine geostrategi-
sche Lage würden der EU ermöglichen, am Run auf
diese letzten Rohstoffvorkommen teilzunehmen. Im De-
zember 2009 wurden im Rat der Europäischen Union für
Auswärtige Angelegenheiten die Schlussfolgerungen zur
Arktis beschlossen. Dort ist die Rede von „den neuen
Möglichkeiten, die sich im Zusammenhang mit dem
Schmelzen des Meereises und den sonstigen Auswirkun-
gen des Klimawandels für den Verkehr, die Gewinnung
natürlicher Ressourcen und sonstige unternehmerische
Tätigkeiten ergeben“.

Das ist doch an Zynismus nicht mehr zu überbieten.


(Beifall bei der LINKEN)


Anstatt alles Menschenmögliche in Bewegung zu setzen,
um den Klimawandel zu stoppen, ist hier von den unter-
nehmerischen Möglichkeiten, die sich hieraus ergeben,
die Rede. Statt solcher Spekulationen sollten endlich der
Ausstieg aus der fossilen Energieversorgung eingeleitet
und die vollständige Energiewende durchgesetzt werden.


(Beifall bei der LINKEN – Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fangen Sie in Brandenburg damit an!)


Im Hinblick auf die Arktis wollen wir keinen imperialen
Wettlauf um die Region. Hier wäre analog zur Antarktis
ein Moratorium zur Ressourcenausbeutung die beste Re-
gelung.


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.
Die Linke spricht sich für die Aufnahme von Beitritts-
verhandlungen mit Island aus. Wir fordern die Trennung
der Beitrittsgespräche von der Frage der Icesave-Schul-
den. In mancher Hinsicht, etwa beim Walfang, muss sich
Island ändern. Vor allem muss sich aber die EU ändern,





Andrej Konstantin Hunko


(A) (C)



(D)(B)

etwa in der Frage der Kapitalverkehrskontrollen. Eine
imperiale Verwendung Islands für einen Wettlauf um die
Arktis lehnen wir ab. Wir begrüßen es, dass am Ende in
Island der Souverän über den Beitritt entscheidet, die is-
ländische Bevölkerung.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703707200

Das Wort hat jetzt der Kollege Manuel Sarrazin von

der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703707300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kann

leider den Namen des Vulkans nicht aussprechen. Ich
kann Ihnen aber unsere Anteilnahme dadurch versi-
chern, dass die Grünen ihren Länderrat am Sonntag in
Köln in der Vulkanhalle durchführen. Vielleicht ist das
immerhin ein Zeichen der Anteilnahme an diesem Ereig-
nis.

Herr Hunko und auch die anderen Vorredner haben
schon die besondere Bedeutung dieser Debatte darge-
stellt. Zum ersten Mal wird das Einvernehmen nach § 10
des EUZBBG zur Anwendung kommen. Sie haben
recht, wenn Sie davon sprechen, dass wir als Bundestag
eine besondere Verantwortung tragen, wenn wir die Vor-
beitrittsverhandlungsprozesse und auch die Verhand-
lungsprozesse begleiten. Dadurch, dass wir uns jetzt ein
Bild machen, uns einmischen und am Ende des Prozes-
ses den Wählerinnen und Wählern in Deutschland sagen
können, dass wir uns von Anfang an damit auseinander-
gesetzt haben, entstehen Chancen, die für beide Seiten
gut sind: Einerseits erreichen wir ein größeres Verständ-
nis für Erweiterungen. Andererseits wissen vielleicht die
beitretenden Partner, was uns wichtig ist. – Ich begrüße
deswegen, dass alle Fraktionen hier Anträge eingebracht
haben, und ich begrüße es auch, dass diese Debatte statt-
findet. Ich glaube, das ist ein wichtiges Signal in dieses
Haus und in die Öffentlichkeit.

Wir Grünen glauben weiterhin an die positive Kraft,
die sowohl politisch als auch im konstruktiv-strategi-
schen Sinne von Erweiterungen ausgeht. Wir sind wei-
terhin davon überzeugt, dass der Erweiterungsprozess
fortgehen muss. Das heißt nicht, dass wir nicht auch
Dinge in der Vergangenheit anders bewerten. Wir halten
die Kopenhagener Kriterien für wichtiger denn je. Wir
denken auch, dass das verfrühte politische Setzen von
Beitrittsdaten kein kluger Schachzug ist, ganz egal, wel-
che konkreten Interessen jeweils einzelne Partner dazu
bewegen könnten, zu sagen, ein bestimmter Partner solle
schneller oder besonders berücksichtigt werden. Wir
denken auch, dass bilaterale Konflikte, die plötzlich zu
Vetogründen erhoben werden, nicht europäisiert werden
dürfen. Ein solcher Konflikt hat auch bei Island eine
Rolle gespielt, was von Herrn Hunko, von Herrn Roth
und auch von Herrn Schockenhoff – Stichwort Icesave –
erwähnt wurde. Es darf auch keine Erweiterung erster
und zweiter Klasse geben. Jedes Land ist an den Kopen-
hagener Kriterien zu messen und nicht daran, ob man
ihm näher oder ferner steht.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der FDP)


Dabei sind natürlich besondere Fortschritte, die schon
vorhanden sind, zu bewerten.

Wir freuen uns, dass sich Island auf den Weg gemacht
hat. Island ist gut für die EU. Island ist in vielen Berei-
chen vorbildlich und kann uns ein Beispiel geben. Der
Beitritt Islands wäre im deutschen Interesse, weil der
Beitritt eine Stärkung der Zusammenarbeit der Ostseean-
rainerländer und der nördlichen Länder in der EU bedeu-
ten würde. Das sind Bereiche, die für Deutschland von
strategischem Interesse sind. Darüber hinaus hat Island
in kultureller Hinsicht eine lange Verbindung gerade
auch zu Deutschland. Wenn Island beitreten will, dann
sind die Türen offen. Dieses Signal geht von allen Frak-
tionen dieses Hauses aus. Der Beitritt ist aber auch im is-
ländischen Interesse; denn in der Europäischen Union
können auch relativ kleine Mitgliedsländer eine ver-
gleichsweise große Bedeutung erreichen, wenn sie aktiv
und besonders integrationsfreundlich agieren. Das Bei-
spiel Luxemburgs ist oft genannt worden, und das ist si-
cherlich richtig.

Es ist daher richtig, dass wir in unserem Antrag die
Aufnahme von Beitrittsverhandlungen ohne Vorbedin-
gungen unterstützen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])


Wir formulieren Maßgaben für den Weg; aber diese
Maßgaben sind keine Vorbedingungen für die Aufnahme
von Verhandlungen.

Das Thema Walfang ist wichtig. Zugeständnisse oder
Übergangsfristen zum Stand des Acquis halten wir für
nicht akzeptabel. In der Europäischen Union ist vor allem
durch die Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie ein hohes
Schutzniveau für Wale eingeführt worden. Daran darf
nicht gerüttelt werden. Die Wiederaufnahme des Wal-
fangs im Jahr 2003 ist aus meiner Sicht weder ökono-
misch noch aus anderen Gründen gerechtfertigt. Deswe-
gen sollte es der isländischen Seite nicht so schwerfallen,
sich auf den Acquis zuzubewegen.

Zur Fischerei wurde viel Richtiges gesagt. Die oberste
Priorität muss auf der Nachhaltigkeit der isländischen Fi-
schereiwirtschaft und der Erhaltung des Fischbestandes
liegen. Diese Priorität muss aber auch für die gemein-
same Fischereipolitik der Europäischen Union gelten.
Alle isländischen Rechtsnormen, die jetzt schon diesem
Ziel dienen, sollten in die Verhandlungen über die Re-
form der gemeinsamen Fischereipolitik einbezogen wer-
den.

Zum Finanzmarkt. Sie haben recht, Herr Hunko: Is-
land braucht eine stabilitätsorientierte Neuausrichtung
des Finanzmarkts. Das ist eine Maßgabe, die wir für beide
Seiten formulieren wollen, für die isländische Seite und
für die Europäische Union. Ich denke, der Grundsatz der
Kapitalverkehrsfreiheit, der in den Verträgen im Primär-
recht festgelegt ist, ist wichtig und richtig, aber er darf





Manuel Sarrazin


(A) (C)



(D)(B)

nicht dazu führen, dass die Fehler, die Island einmal ge-
macht hat, wiederholt werden.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Nicht nur Island!)


– Nicht nur Island, auch das ist richtig.

Was mir wichtig ist – das sage ich an die Adresse des
Auswärtigen Amts, dessen Vertreter nicht mehr da sein
kann; er musste rechtzeitig den Flieger nach Brüssel er-
wischen, was auch in Ordnung ist –: Das politische Si-
gnal auf dem Juni-Gipfel ist noch nicht gesichert. Wir
haben gestern im Ausschuss die Information bekommen,
dass es keinen neuen Sachstand bezüglich der Frage
gibt, ob die Verhandlungseröffnung auf dem Rat ein
Thema sein wird. Wir sollten gemeinsam unsere Bun-
desregierung dazu auffordern, ihren Teil dazu beizutra-
gen, dass die Verhandlungen eröffnet werden, damit wir
im Juni einen Beschluss fassen können.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Verzögerungen, die stattgefunden haben, sind Ge-
schichte. Man kann das so oder so bewerten. Jetzt geht
es darum, ein positives Signal zu senden.

Wir Grüne wollen Verhandlungen mit dem Ziel des er-
folgreichen Beitritts. Die Aufnahme von Verhandlungen
ist für uns ganz klar mit dem Ziel des Beitritts verbunden.
Auch die isländische Politik muss das Signal aussenden,
dass sie am Ende den Beitritt möchte. Das Voranschreiten
in den Verhandlungen ist jetzt besonders wichtig, damit
wir, um in einem Bild der letzten Tage zu sprechen, weg-
kommen vom Sichtflug – Ratsgipfel – und hinkommen
zum Instrumentenflug – Eröffnung von Kapiteln, Bench-
marks, Closure Benchmarks und Schließung von Kapi-
teln –, damit Island rechtzeitig Mitglied der Europäischen
Union wird und nicht noch länger – wie wir letzte Woche
am Flughafen – warten muss, obwohl es schon mehr ma-
chen möchte.

Danke sehr.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Michael Link [Heilbronn] [FDP])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703707400

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Stefan Ruppert von

der FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Stefan Ruppert (FDP):
Rede ID: ID1703707500

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Ein Wort vorweg zum Verfahren, das hier zumindest
von dem Vertreter der Linken und dem der SPD ange-
sprochen worden ist: Man stelle sich einmal vor, was
passiert wäre, wenn in einem beschleunigten Verfahren
die neuen Mitwirkungsrechte des Bundestags nicht so
ernst genommen worden wären, wie wir es in diesem
Fall getan haben. Wir wären kritisiert worden, etwas
durchpeitschen zu wollen und die neu erworbenen
Rechte nicht ausreichend ernst zu nehmen. Insofern bin
ich froh, dass der Kollege Sarrazin gesagt hat, dieser
Punkt gehöre eher der Vergangenheit als der aktuellen
politischen Debatte an.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703707600

Herr Kollege Ruppert, erlauben Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Sarrazin von Bündnis 90/Die Grü-
nen?


Dr. Stefan Ruppert (FDP):
Rede ID: ID1703707700

Gerne, ja. – Gerade habe ich ihn noch gelobt.


Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703707800

Herr Kollege, wir hätten Ihnen nicht vorgeworfen, es

durchzupeitschen, weil wir ebenso wie die Koalitions-
fraktionen der Erstansetzung der Voten der mitberaten-
den Ausschüsse am Tag vor der Zusammenkunft des
Rats zugestimmt haben; insofern hätten wir dieses Ver-
fahren ganz in Ordnung gefunden. Als Frage formuliert:
Sehen Sie das auch so?


Dr. Stefan Ruppert (FDP):
Rede ID: ID1703707900

Herr Kollege Sarrazin, Sie wissen, dass es durchaus

Wünsche der einzelnen Ausschüsse gab, ausführlich zu
beraten. Wenn der Ausschuss für die Angelegenheiten
der Europäischen Union gesagt hätte: „Beeilt euch bitte
ein bisschen; es muss schneller gehen“, dann hätte es si-
cherlich den von mir hier beschriebenen Reflex gegeben,
man lasse sich nicht drängen, sondern müsse die Sachen
sorgfältig und in aller Ruhe beraten. Wie man es auch
macht, im Ergebnis kann man es Ihnen doch nicht recht
machen. Ich will diese Unterschiede aber gar nicht zu
sehr betonen; schließlich sind wir uns im Ergebnis einig,
und das finde ich sehr erfreulich.

Island ist eine uralte und stabile parlamentarische De-
mokratie. Rechtsstaatlichkeit und die Achtung von Men-
schenrechten sind dort seit langer Zeit fest verankert.
Man sieht, wie sehr es den Zusammenhalt, die Architek-
tur einer Gesellschaft erschüttert, wenn ein so kleines
Land eine solche Finanzkrise erlebt. Mir ist wichtig, dass
wir als deutsches Parlament hier klar sagen: Wir stehen
diesem Prozess positiv gegenüber. Wir sehen die Sorgen
und Nöte des isländischen Volkes. – Wir können nämlich
viel von ihm lernen; das wurde hier schon mehrfach ge-
sagt. Ich hätte gern eine Fischereiwirtschaft in der Euro-
päischen Union, die so auf ökonomischen Sachverstand
und ökologische Nachhaltigkeit setzt, die ohne Subven-
tionen auskommt und insofern Vorbild für uns ist. Ich
hoffe nicht, dass wir die Isländer mit den Segnungen un-
serer Fischereipolitik überziehen.


(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das hört sich doch schon mal gut an!)


Die Banken- und Finanzkrise hat dieses Land, wie ge-
sagt, nachhaltig erschüttert; aber Island wird diese Krise
bewältigen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Es ist klar, dass dieses Land mit seinem gegenwärtigen
hohen Haushaltsdefizit die Konvergenzkriterien der
Euro-Zone im Moment nicht erfüllt. Doch die Regierung





Dr. Stefan Ruppert


(A) (C)



(D)(B)

in Reykjavik hat wichtige finanzpolitische Maßnahmen
ergriffen, um die immense Staatsverschuldung zu senken
und die Konjunktur wieder anzukurbeln. Ich bin deshalb
vorsichtig optimistisch. Dies ist eine Einschätzung, die
auch der Chef des Internationalen Währungsfonds teilt.
Wir dürfen dieses Beitrittsgesuch nicht auf wirtschafts-
politische Fragen reduzieren. Die Kopenhagener Krite-
rien müssen vollständig erfüllt werden. Das haben wir in
unserem Antrag deutlich gemacht. Fischerei, Landwirt-
schaft, Walfang und Finanzkontrolle in Island waren be-
reits in der Vergangenheit Bereiche, über die ernsthaft
verhandelt werden musste. Gerade was die Finanzkon-
trolle angeht, kann es nicht sein, dass eine zu laxe Fi-
nanzmarktaufsicht dazu führt, dass sich Krisen gegebe-
nenfalls wiederholen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Auch der Beitritt zur EU kann kein Selbstläufer sein; viel-
mehr müssen die Konvergenzkriterien nachhaltig erfüllt
werden. Eine langfristige Einhaltung des EU-Stabilitäts-
paktes muss gewährleistet werden. Das sind die Lehren,
die wir aus aktuellen Krisen zu ziehen haben.

Wir ermutigen die isländische Regierung, den Dialog
mit Großbritannien und den Niederlanden fortzuführen,
um einen fairen Interessenausgleich auch in der Icesave-
Problematik zu finden. Island ist sehr wohl bereit – das
kommt in der deutschen Öffentlichkeit nicht immer an –,
die angelaufenen Schulden zurückzuzahlen. Es geht da-
bei nur um die Konditionen. Wir wünschen uns, dass die
niederländischen und britischen Partner dies auch würdi-
gen und man sich bald auf einen fairen Interessenaus-
gleich einigen kann.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Am Ende sei gesagt: Wir begrüßen das Beitrittsge-
such der Isländer. Wer dort war, spürt, dass dieses Land
zur Wertegemeinschaft der Europäischen Union gehört.
Es ist eine Bereicherung. Es ist ein Land in einer Krise;
aber es wird aus dieser Krise herauskommen. Ich glaube,
am Ende steht ein positives Ergebnis. Als Liberale wäre
uns das eine große Freude.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703708000

Das Wort hat der Kollege Franz Thönnes von der

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Franz Thönnes (SPD):
Rede ID: ID1703708100

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach dieser Erup-
tion, die wir in der letzten Woche am Eyjafjallajökull


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


in Island erlebt haben, weiß jeder – auch der, der diesen
Namen nicht aussprechen kann –, wo dieses Land liegt.
Wir alle haben gemerkt, wie stark wir doch von der Na-
tur abhängig sind, wie sie unsere Zivilisation beeinflus-
sen und welche Folgen das haben kann.
Rechtzeitig vor der heutigen Debatte hat der Vulkan
seine Aktivitäten etwas eingestellt, damit wir wohlge-
sonnener werden. Aber eine Eruption ist geblieben – die
ist immer noch da –, nämlich die Eruption, die ein unge-
zügelter Finanzkapitalismus in Island in der westlichen
Welt, ja nahezu in allen Ländern dieser Erde hervorgeru-
fen hat. Diese Betroffenheit macht deutlich, was durch
ungezügelte Finanzmärkte passieren kann. Deshalb ist es
notwendig, aus der Geschichte, in die Island hineingera-
ten ist, den Schluss zu ziehen: Eine Finanzpolitik, die
nur auf Zaster und Zinsen, Rendite und Reibach ausge-
richtet ist, kann ganze Länder in den Abgrund führen
und zerstört Gesellschaften. Das darf nie wieder passie-
ren.


(Beifall bei der SPD und des Abg. Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir brauchen daher eine klare Politik, die hier zügelt,
die hier regelt, die auch diesen Teil der freien Wirtschaft
ein Stück weit an die Leine legt. Das ist eine Herausfor-
derung für diese Bundesregierung, aber auch für die Ent-
scheidungen auf europäischer Ebene, die zu treffen sind.

Der europäische Gedanke in Island ist nicht erst in der
oder durch die Krise entstanden. Island ist uns schon viel
länger verbunden. Halldor Laxness, der isländische Lite-
raturnobelpreisträger, der morgen 108 Jahre alt gewor-
den wäre, sagte einmal:

Was die Menschen trennt, ist gering, gemessen an
dem, was sie einen könnte.

2 344 Kilometer trennen den Deutschen Bundestag vom
isländischen Parlament, vom Althing. Dazwischen lie-
gen ein breites Meer und unterschiedliche Auffassungen.
Es gibt unterschiedliche Auffassungen, wie man mit den
schützenswerten Walen umgeht. Es gibt in Island aber
auch eine andere Fischereipolitik, von der die Europäi-
sche Union meines Erachtens nach etwas lernen könnte;
sie ist dort nämlich schon seit langem ökologisch und
nachhaltig orientiert. Es gibt dort eine Nutzung regene-
rativer Energien für die Energieversorgung von nahezu
100 Prozent. Es gibt dort auch eine Tradition der Demo-
kratie, die im Jahr 930 in Thingvellir begonnen hat und
die auf ihrer Wegstrecke – ich sage das auch für die jun-
gen Frauen, die heute im Rahmen des Girls’ Day zu Gast
bei der SPD-Fraktion sind – seit 1915 das Frauenwahl-
recht hat.


(Beifall bei der SPD)


Was uns in Europa eint, das ist, dass Island zur euro-
päischen Familie gehört. Die langjährige Mitgliedschaft
in vielen Gremien ist von meinen Vorrednern schon ge-
nannt worden. Die nahezu vollständige Übernahme vie-
ler europäischer Regelungen in Island ist allgemein be-
kannt. Island ist Gründungsmitglied der NATO, aktiver
Mitstreiter bei der OSZE, arbeitet mit uns im Polizei-
und Justizbereich zusammen und ist, gerade was Demo-
kratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit angeht,
ein Vorbild. Island ist aber auch bei der Sozialstaatlich-
keit ein Vorbild. Island kann Motor für ein soziales
Europa werden. Die Gewerkschaften in Island haben
2008 auf ihrem Kongress mit einer Mehrheit von 290 zu
6 Stimmen beschlossen, Mitglied in der EU werden zu





Franz Thönnes


(A) (C)



(D)(B)

wollen und auch den Euro einzuführen; denn sie wissen,
dass nur in einem gemeinsamen Markt soziale Sicherheit
gestaltet werden kann.

Ich sage Ihnen eines: Europa wird wirklich nur sein,
wenn es auch ein soziales Europa ist.


(Beifall bei der SPD)


Es ist ebenso wichtig, auch auf die tausendjährigen kul-
turellen Beziehungen hinzuweisen. Die ersten Bischöfe
Islands haben ihre Ausbildung vor gut 1 000 Jahren im
Bistum Bremen erhalten. Das, was uns bis heute kultu-
rell miteinander verbindet, ist das große Interesse der Is-
länder an der germanischen Sprache und ist das große
Interesse der Deutschen an der Edda und den Sagas. Im
nächsten Jahr wird Island das Gastland auf der Frankfur-
ter Buchmesse sein. Dort werden die engen kulturellen
Bindungen nochmals deutlich.

Die Perspektiven sind gut – sie sind bereits genannt
worden –: Wir müssen die arktische Region nachhaltig
und erhaltend gestalten und dürfen nicht nur allein öko-
nomische Prinzipien herrschen lassen. Auch über außen-
und sicherheitspolitische Fragen muss gemeinsam disku-
tiert werden. Das soziale Europa – ich habe es gesagt –
bekäme durch einen Beitritt Islands einen Schub.

Deutschland ist aus isländischer Sicht ein guter und
verlässlicher Partner. Man fand es sehr sensibel – das
habe ich in Island erfahren können –, wie Deutschland in
der internationalen Finanzkrise gehandelt hat. Island ist
von uns nicht, wie in Großbritannien unter Bezugnahme
auf ein Anti-Terror-Gesetz, zu Zahlungen verpflichtet
worden. Nein, wir sind hier anders vorgegangen. Was
man bei Island beachten und verstehen muss, ist, dass Is-
land erst seit 1944 eine freie Republik ist. Man muss also
auch das Selbstbewusstsein respektieren und die Men-
schen so annehmen, wie sie sind. Ich glaube, für uns in
Deutschland ist es gut, wenn Island in die Familie der
europäischen Mitgliedstaaten aufgenommen wird und
wir dann gemeinsam eine werteorientierte Außenpolitik
betreiben, auf die so oft hingewiesen wird.

Man muss einmal die Frage stellen: Was ist hierbei
die Schlussfolgerung? Die Schlussfolgerung ist: Märkte
brauchen Regeln. Sozialstaatlichkeit hält die Gesell-
schaft zusammen. Freiheit kann nur dann entstehen,
wenn aus guter Arbeit auch gutes Einkommen erwächst.
Bildung muss frei und für alle zugänglich sein, egal aus
welchem Elternhaus man kommt. Der Zugang zu Bil-
dung darf nicht vom Einkommen der Eltern, von der
Ethnie oder von der Rasse abhängen. Hier kann man
sehr viel von Island lernen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])


Wie die anderen Kolleginnen und Kollegen will auch
ich mit einem Appell an Sie schließen. Da die Zustim-
mung zu einem Beitritt Islands auf der Wegstrecke der
offenen Entscheidungsphase in der Europäischen Union
abgenommen hat, müssen wir Mut machen und über die
Europa-Union helfen, damit wir bald zu einer mehrheit-
lichen positiven Einschätzung des EU-Beitritts in der is-
ländischen Gesellschaft kommen; denn so darf es nicht
weitergehen. Dabei müssen auch die Kontakte der Par-
teien und Fraktionen hier in diesem Haus mit denen aus
dem isländischen Parlament verbessert werden. Man
wundert sich, warum die eine oder andere Partei in Is-
land gegen einen Beitritt ist. Ich will daher mit einem Zi-
tat aus der Edda von Snorri Sturluson aus dem 13. Jahr-
hundert – ein alter Skalde – schließen: „Hast du einen
Freund, dem du fest vertraust, geh oft, ihn aufzusuchen,
denn Gesträuch wächst und starkes Gras auf dem Weg,
den kein Wanderer geht.“ – Deswegen ist es wichtig, als
Parlamentarier gerade in diesen Fragen in Kontakt zu
treten und die Kontakte auszubauen.

Abschließend will ich die Bundesregierung auffor-
dern, im Europäischen Rat Motor dafür zu sein, dass die
Verhandlungen schnell aufgenommen werden können
und dass Island nicht mehr nur zur europäischen Familie
gehört, sondern baldmöglichst Vollmitglied in der Euro-
päischen Union ist.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703708200

Das Wort hat jetzt der Kollege Thomas Silberhorn

von der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Thomas Silberhorn (CSU):
Rede ID: ID1703708300

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Auch wenn wir heute darüber reden, so ent-
scheiden wir doch nicht über die Aufnahme Islands in
die Europäische Union. Wir entscheiden aber sehr wohl
über die Aufnahme von Verhandlungen über einen Bei-
tritt. Das ist eine echte Premiere. Bisher waren wir erst
nach Abschluss der Verhandlungen beteiligt und durften
Beitrittsakten zustimmen, an deren Verhandlungen wir
nicht beteiligt waren und deren Ergebnis wir nicht än-
dern konnten. Jetzt sind wir erstmals vor Beginn der Ver-
handlungen beteiligt. Noch bevor die Bundesregierung
im Europäischen Rat der Aufnahme von Verhandlungen
zustimmt, muss der Bundestag um Einvernehmen gebe-
ten werden. Das wollen wir heute im Sinne einer Auf-
nahme der Verhandlungen erreichen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es zeigt sich, dass unsere Begleitgesetzgebung zum
Vertrag von Lissabon, die wir im letzten Jahr beschlos-
sen haben, wirkt. Ich will der historischen Wahrheit Ge-
nüge tun und betonen, dass diese Initiative einst von der
CDU/CSU ausgegangen ist. Wir haben bereits zwei Le-
gislaturperioden zuvor, nämlich im Januar 2005, einen
entsprechenden Antrag vorgelegt. Ich freue mich, dass
unsere Position im Zuge des Lissabon-Vertrages eine
Mehrheit in diesem Hause gefunden hat.

Nicht ganz zustimmen kann ich der Kritik, die hier
vor allem vonseiten der SPD geäußert worden ist, dass





Thomas Silberhorn


(A) (C)



(D)(B)

man schneller hätte beraten müssen. Die Kommission
hat ihre Stellungnahme, mit der sie die Aufnahme von
Verhandlungen empfiehlt, am 24. Februar vorgelegt. Ge-
rade einmal zwei Monate später verabschieden wir im
Bundestag eine substanziierte Stellungnahme, mit der
wir der Aufnahme von Verhandlungen zustimmen. Was
wollen Sie eigentlich mehr? Entweder will man schnelle
Entscheidungen, dann darf man im Zweifel die Abge-
ordneten nicht fragen; oder man will parlamentarische
Mitwirkung, dann muss man dafür auch Zeit einräumen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir sind der Meinung: Parlamentarische Beratung
braucht Zeit; Demokratie insgesamt braucht Zeit. Auch
ein Europa der Bürger braucht Zeit. Wir nehmen uns
diese Zeit. Das ist richtig so.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habe
den Eindruck, dass auch die isländische Bevölkerung
durchaus Zeit braucht für diesen Verhandlungsprozess.
Es gibt dort zwar eine Mehrheit für die Einführung des
Euro. Aber 70 Prozent der Bevölkerung lehnen derzeit
einen Beitritt zur Europäischen Union ab. Es hat sich in
den letzten Monaten in Island erst noch herumsprechen
müssen, dass man nicht Ja zum Euro, aber Nein zur
Europäischen Union sagen kann. Es zeigt sich, dass in
Island unter dem Eindruck der Finanzkrise und eines
wachsenden Haushaltsdefizits sowie angesichts von
Bankeninsolvenzen kurzfristig die Überzeugung entstan-
den ist, man könne sich mit dem Euro stabiler aufstellen.
Dies zeigt auch der Blick nach Irland, das als Mitglied
der Euro-Zone deutlich besser aus der Wirtschafts- und
Finanzkrise herausgekommen ist. Der Beitritt selbst er-
fordert natürlich eine langfristige Bindung an die Euro-
päische Union. Da sind einige Fragen neu zu beantwor-
ten.

Gleichwohl gilt: Island ist seit Jahrzehnten auf das
Engste mit der Europäischen Union verbunden. Wir un-
terstützen das Ziel einer EU-Mitgliedschaft Islands. Die
politischen Kriterien sind zweifellos erfüllt. Island ist
eine der ältesten Demokratien der Welt. Fragen nach
Rechtsstaatlichkeit oder Menschenrechten stellen sich
nicht. Auch der gemeinschaftliche Besitzstand ist in wei-
ten Teilen bereits übernommen. Island gehört nach dem
Beitritt im Jahr 1970 der Europäischen Freihandelszone
seit nunmehr 40 Jahren an. Island ist Gründungsmitglied
des Europäischen Wirtschaftsraumes, der 1994 geschaf-
fen wurde. Auch die Zusammenarbeit von Polizei und
Justiz funktioniert seit vielen Jahren völlig reibungslos.
Viele Fragen, die Gegenstand der Verhandlungen sein
werden, werden sich also sehr schnell beantworten las-
sen.

Island ist ohne Zweifel eine funktionierende Markt-
wirtschaft. Aber wie wir in unserem Koalitionsantrag
ganz bewusst formulieren: Vor der Bankenkrise hatte Is-
land die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den
Marktkräften im Europäischen Wirtschaftsraum standzu-
halten. Nach der Bankenkrise ist es erforderlich, dass die
Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften
standzuhalten, auch in Bezug auf die Europäische Union
als Ganzes möglich wird. Hier gibt es Defizite. Die
Staatsverschuldung ist im letzten Jahr auf 125 Prozent
gewaltig gestiegen. Das Haushaltsdefizit liegt derzeit bei
14,4 Prozent. Das bedeutet, dass Island gewaltige wirt-
schaftliche Anstrengungen vor sich hat.

Es ist aber wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Kri-
terien für die Konvergenz in der Euro-Zone nur dann re-
levant werden, wenn es um den Beitritt zur Euro-Zone
geht. Es sind keine expliziten Kriterien für die Auf-
nahme in die Europäische Union. Natürlich muss die of-
fene Frage, wie der Schaden der niederländischen und
der britischen Sparer reguliert wird, beantwortet werden.
Sehen Sie es mir nach, dass ich mir folgenden Kalauer
heute nicht verkneifen kann: Bislang haben die Geschä-
digten nur Asche bekommen; aber sie wollen natürlich
Kohle sehen. Wichtig ist allerdings, dass die wirtschaft-
lichen Kriterien erst zum Zeitpunkt des Beitritts erfüllt
sein müssen. Deswegen sind die noch offenen Fragen
kein Hindernis für die Aufnahme von Verhandlungen.
Im Gegenteil: Der Prozess der Beitrittsverhandlungen
kann zur wirtschaftlichen Stabilisierung Islands selbst
beitragen.

Die wichtigsten Fragen in diesem Beitrittsprozess
umfassen sicherlich die Fischereipolitik bis hin zum
Walfangverbot. Ich kann die Position Islands gut nach-
vollziehen, da es hier um erhebliche Kompetenzübertra-
gungen auf die Europäische Union in Bereichen geht,
die für Island von existenzieller Bedeutung sind.

Umso wichtiger ist es, deutlich zu machen, dass Be-
hörden der Europäischen Union in der Alltagspolitik
keine anonymen und autokratischen Entscheidungen
treffen. Hierfür muss aber im Alltagsgeschäft der Euro-
päischen Union Transparenz herrschen, Bürgernähe
praktiziert und das Prinzip der Subsidiarität ernst ge-
nommen werden. Ich meine, das würde es den Isländern
erleichtern, bei den schwierigen Themen „Fischerei“
und „Walfangverbot“ Zugeständnisse zu machen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich halte es
für richtig, dass wir diese Debatte über die Aufnahme
von Verhandlungen mit Island über einen Beitritt zur Eu-
ropäischen Union zum Anlass nehmen, die Erweite-
rungsstrategie der Europäischen Union insgesamt auf
den Prüfstand zu stellen. Es ist hier schon angesprochen
worden: Es gab immer wieder politische Rabatte. Des-
wegen war es notwendig, in unserem Antrag darauf hin-
zuweisen, dass erst die Beitrittskriterien strikt erfüllt sein
müssen, bevor man über einen Beitrittstermin sprechen
kann. Es gibt insoweit keinen Automatismus.

Island selbst wird das Tempo der Verhandlungen be-
stimmen. Die Europäische Union wird die Fortschritte
bewerten. Ich stimme zu, Herr Kollege Link, dass wir
keine Koppelungsgeschäfte mit der Aufnahme Islands
verbinden dürfen. Wir müssen jeden Staat gesondert be-
handeln. Es ist eine Frage der Glaubwürdigkeit der Eu-
ropäischen Union, dass wir ein Kandidatenland nicht in
Haftung für die Erfüllung sonstiger Zwecke der Europäi-
schen Union, für die Vornahme bestimmter Vertragsän-
derungen oder für andere Kandidatenländer nehmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir unterstützen die Aufnahme von Verhandlungen.
Ich setze darauf, dass die Bundesregierung bereit ist,





Thomas Silberhorn


(A) (C)



(D)(B)

eine enge Abstimmung mit dem Deutschen Bundestag
über die Fortschritte und über den weiteren Zeitplan der
Verhandlungen zu pflegen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703708400

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt

hat jetzt das Wort die Kollegin Veronika Bellmann von
der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Veronika Bellmann (CDU):
Rede ID: ID1703708500

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Aus Überlieferungen ist bekannt, dass die islän-
dische Hauptstadt Reykjavik übersetzt so viel wie „rau-
chende Bucht“ heißt und die Isländer ihre Vulkane als
„Eingänge zur Hölle“ bezeichnen. So weit muss man
nicht gehen; aber es sind in den letzten Tagen nun wirk-
lich viele mehr oder weniger gut gelungene Sprachbilder
in Bezug auf Island gebraucht worden.


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Damit meinten Sie den Kollegen Silberhorn!)


Es ist uns jedoch allen klar geworden, dass die Bezeich-
nung „Naturgewalten“ wohl ihre Berechtigung hat. Denn
die Natur hat europäisch, ja sogar global Gewalt ausge-
übt.

Eine ganz andere Form der Gewalt, nämlich die ge-
setzgeberische, ist das, was uns hier in unserem Hause be-
schäftigt und was auch Mittelpunkt der heutigen Debatte
ist. Der vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionen
wurde von den Fraktionen und den Facharbeitsgruppen
sehr intensiv beraten und ist eine gute Arbeitsgrundlage.
Insofern brauchen wir uns gerade von Herrn Roth kein zu
geringes Engagement vorwerfen zu lassen.


(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das ehrt mich aber jetzt!)


Ganz im Gegenteil: Wir haben uns sehr zeitig und sehr
intensiv damit befasst.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Michael Roth [Heringen] [SPD]: Danke, Frau Kollegin, für diese Bemerkung!)


– Ich lobe Sie gleich noch, Herr Roth. Also nehmen Sie
sich mal wieder zurück.

Aber auch die Anträge der anderen Fraktionen sind
von der gleichen Grundintention geprägt, nämlich sich
positiv in Richtung Island zu artikulieren. Deshalb habe
ich auch keine Zweifel, dass wir heute ein Einvernehmen
zur Aufnahme von Verhandlungen mit Island über den
Beitritt zur EU herstellen können. Damit hat die Bundes-
regierung rechtzeitig – ich betone: rechtzeitig – den not-
wendigen parlamentarischen Rückhalt, um im Europäi-
schen Rat ihre Zustimmung zu den Verhandlungen über
die Aufnahme Islands in die EU zu geben.
Insofern verstehe ich nicht, warum die Opposition in
den letzten Tagen und Wochen sozusagen im Galopp
durch diese Vorberatungen hindurch wollte. Für meine
Begriffe ist es besser, einen kleinen Schritt zu gehen und
voranzukommen, als durch zu große Schritte ins Stol-
pern zu geraten. Wir haben nun wirklich lange genug um
die Mitspracherechte in den Angelegenheiten der Euro-
päischen Union gerungen; meine Vorredner haben es
sehr oft betont. Jetzt haben wir sie, und wir wollen ver-
antwortlich damit umgehen, weil genau das für die Ak-
zeptanz europapolitischer Entscheidungen bei den Bür-
gern wichtig ist. Keiner, aber auch wirklich keiner hätte
etwas davon gehabt, wenn wir nur durch die Thematik
gehastet wären und irgendetwas erzwungen hätten.


(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Nach Hast sehen Sie ja nun gerade nicht aus!)


Ich bin davon überzeugt, dass es der Würde eines Bei-
trittslandes – sei es auch noch so klein – nicht gerecht
würde, wenn wir uns nicht ausreichend mit ihm befassen
würden. Zudem entspricht es nicht der Würde unseres
Hauses, die Ausschüsse, die noch Beratungsbedarf ha-
ben,


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Welche Ausschüsse waren das denn? Keiner hat was mitgeteilt!)


unter Druck zu setzen und ihnen zu sagen: Geht nicht!
Wir haben bis zum Fristablauf und zur Befassung des
Europäischen Rates zwar noch ausreichend Zeit, aber
wir wollen – vor wem auch immer – glänzen und müs-
sen dafür eure parlamentarischen Rechte leider ein we-
nig einschränken.

Diese Hast und auch diese in der Vergangenheit so oft
vorgetragene blinde Europa-Euphorie war gestern.


(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Ich sehe noch sehr gut!)


Heute sind gerade bei geplanten Beitritten Realitätssinn
und ein ganzes Stück Entschleunigung gefragt. Übereilte
Zusagen entziehen den Verhandlungspartnern nur Si-
cherheit. Für ein kleines beitrittswilliges Land bedeutet
es Sicherheit, wenn es auf Grundlage eines einstimmi-
gen Ratsbeschlusses, der auf stabilen Fundamenten ent-
sprechender Beschlüsse in den Nationalstaaten steht, auf
gleicher Augenhöhe mit der großen EU über den Beitritt
verhandelt. Zu dieser sehr ehrlichen und offenen Aus-
sage habe ich bei unseren Gesprächen in Island absolut
keinen Widerspruch gehört.

Island kann Europa bereichern, Europa kann Island
bereichern. Das Land gilt als sehr umweltfreundlich. Wir
können gerade im Hinblick auf erneuerbare Energien,
eine moderne Fischereipolitik und nachhaltiges Wirt-
schaften unheimlich viel von ihm lernen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das ist richtig! Da können wir viel lernen!)


Island ist bereits heute weitgehend in den Wirtschafts-
und Rechtsraum der EU integriert. Das Land gehört zum





Veronika Bellmann


(A) (C)



(D)(B)

Anwendungsbereich des Schengener Abkommens und
nimmt am EU-Binnenmarkt teil. Rechtsstaatlichkeit und
Marktwirtschaft sind gesetzt, ebenso die Achtung der
Menschenrechte. Herr Thönnes hat es schon angespro-
chen: Wenn man sich ein wenig mit der Geschichte Is-
lands beschäftigt, dann erfährt man, dass dort bereits seit
dem Jahr 930 Parlamente gewählt wurden. Damit hat das
Land eine sehr tief verwurzelte demokratische Tradition.

Wir trauen diesem Land auch zu – das verlangen wir
auch, wenn es zum Beitritt kommt –, dass es die Ziele und
Verpflichtungen der politischen Union, also den gemein-
schaftlichen Besitzstand, übernimmt. Deshalb sind An-
passungen in den Bereichen Fischerei, kommerzieller
Walfang – darüber wurde schon viel gesprochen –, Land-
wirtschaft, Regionalpolitik, Kapitalverkehr und Finanz-
dienstleistungen notwendig. Damit werden die Kopenha-
gener Kriterien erfüllt; so sieht es zumindest die
Kommission. Auf die Konvergenzkriterien trifft das al-
lerdings nicht zu – Herr Silberhorn hat es schon angespro-
chen –: Mit einer Schuldenstandsquote von 125 Prozent
und einem Haushaltsdefizit von 14,4 Prozent ist das Land
weit vom Euro-Raum entfernt.

Deutschland hat den Ausbau der Beziehungen zwi-
schen Island und der EU bis hin zu einer Vollmitglied-
schaft immer begrüßt, nur waren die Isländer bisher sehr
zurückhaltend. Diese Zurückhaltung löste sich erst mit
Beginn der Finanz- und Wirtschaftskrise, die Island in
ziemliche Turbulenzen gestürzt hat. Lieber gestern als
heute wäre man dem Euro-Raum beigetreten und erst
dann der EU. Als klar wurde, dass der Mechanismus ge-
nau andersherum verläuft – erst der Beitritt zur EU, dann
zur Währungsunion –, dass für Island im Beitrittsprozess
trotz Krise dieselben Kriterien, Bedingungen und Ver-
fahren wie für jeden anderen beitrittswilligen Staat gel-
ten, dass es keinen Beitrittsautomatismus geben würde,
ebbte die Euphorie erheblich ab. Hinzu kamen schwie-
rige Verhandlungen über Rückzahlungsforderungen Groß-
britanniens und der Niederlande; dabei ging es um
Schulden der isländischen Direktbank Icesave bei diesen
Ländern in Höhe von immerhin 3,9 Milliarden Euro.

Die Isländer sind beim Thema EU-Beitritt zwischen
Pro und Kontra hin und her gerissen. Deshalb kommt es
nicht nur auf die Verhandlungsweise der EU an, sondern
auch darauf, ob und wie gut der isländischen Regierung
die Argumentation für einen EU-Beitritt in der Öffent-
lichkeit gelingt. Ich denke, dass die isländische Minister-
präsidentin nicht unbedingt schlagende Argumente an-
wendet, wenn sie auf solche Darstellungen wie auf
einem Wandteppich im Kabinettssaal der isländischen
Regierung zurückgreift: Hier hat sie einen Knüppel in
der Hand und drischt dem Finanzminister – ich glaube,
er ist von den Grünen – so lange auf den Kopf ein, bis
sich bei ihm zwölf Europasterne um den Kopf drehen.


(Franz Thönnes [SPD]: So ähnlich wie hier in der Koalition!)


Die Isländer werden in ein paar Jahren nach Ablauf
der Verhandlungen in einem Referendum beweisen kön-
nen, wie sie den EU-Beitritt sehen. Dann werden wir se-
hen, ob wir mit der heutigen Einvernehmenserklärung
hinsichtlich der Aufnahme von Beitrittsverhandlungen
die Grundlage für einen gemeinsamen europäischen
Weg gelegt haben oder ob das alles – jetzt nutze ich doch
ein Sprachbild mit dem Vulkan – ein Tanz auf dem Vul-
kan gewesen ist. Ich hoffe es nicht. Ich hoffe vielmehr,
dass die Isländer auch hier neue Wege gehen und an ihre
wichtigste Industrie denken, an die Fischereiindustrie.
Denn die Fischer – so sagt ein altes Sprichwort – suchen
ihre Fische dort, wo sie sind, und nehmen jeden Tag ei-
nen neuen Weg, um sie ausfindig zu machen. So kann es
sein, dass der Weg von gestern nicht der Weg zu den Fi-
schen von heute ist.

Jeden Tag einen neuen Weg gehen und Mut zum Bei-
tritt – das wünsche ich den Isländern und auch uns.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das waren aber mehr als sieben Minuten!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703708600

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union auf Drucksache 17/1464.

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung die Annahme des Antrags der Frak-
tionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/1190
mit dem Titel „Einvernehmensherstellung von Bundestag
und Bundesregierung zum Beitrittsantrag der Republik
Island zur Europäischen Union und zur Empfehlung der
EU-Kommission vom 24. Februar 2010 zur Aufnahme
von Beitrittsverhandlungen“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion Die
Linke und Enthaltung der SPD-Fraktion und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Entschließungs-
antrages der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1191
zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bun-
deskanzlerin zum Europäischen Rat am 25./26. März
2010 in Brüssel. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen
der SPD-Fraktion und Enthaltung von Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.

Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der
Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1059 mit dem Ti-
tel „Verhandlungen über die Aufnahme Islands in die
Europäische Union eröffnen“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Ko-
alitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke bei Enthaltung von SPD und Bündnis 90/Die Grü-
nen angenommen.





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)

Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe d
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Ent-
schließungsantrages der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/1172 zu der bereits genannten
Regierungserklärung. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegen-
stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Ent-
haltung der SPD-Fraktion angenommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchsta-
be e seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/260 mit
dem Titel „Rechte des Bundestags nach den Begleitge-
setzen zum Vertrag von Lissabon wahren – hier: Einver-
nehmen mit dem Bundestag vor der Aufnahme von Bei-
trittsverhandlungen mit Island herstellen“ für erledigt zu
erklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist einstimmig angenommen worden.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Karl
Lauterbach, Dr. Marlies Volkmer, Elke Ferner,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Effektivere Arzneimittelversorgung

– Drucksache 17/1201 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin
Vogler, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Faire Preise für wirksame und sichere Arznei-
mittel – Einfluss der Pharmaindustrie be-
grenzen

– Drucksache 17/1206 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Birgitt
Bender, Fritz Kuhn, Maria Anna Klein-Schmeink,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Qualität und Sicherheit der Arzneimittelver-
sorgung verbessern – Positivliste einführen –
Arzneimittelpreise begrenzen

– Drucksache 17/1418 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.

Ich bitte diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die
dieser Aussprache nicht bewohnen wollen, den Saal zu
verlassen, damit die anderen ungestört folgen können.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Dr. Karl Lauterbach von der
SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Rede ID: ID1703708700

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir tragen
heute unsere Vorschläge zur Verbesserung der Wirt-
schaftlichkeit der Arzneimittelversorgung vor. Was ist
der Hintergrund unserer Vorschläge? Der Hintergrund ist
der, dass es in der Gesundheitspolitik in den letzten Wo-
chen zu einem völligen Stillstand gekommen ist. In den
letzten Wochen ist viel geredet worden, zum Teil auch
sehr aufgeregt. Aber de facto ist seitdem nichts passiert.


(Ulrike Flach [FDP]: Wo waren Sie denn, Herr Lauterbach?)


Sie haben von einer großen Kopfpauschale gespro-
chen, aber es gab kein Konzept. Frau Merkel hat Minis-
ter Rösler gebeten, dieses Thema nicht immer wieder zu
erwähnen. Herr Schäuble hat darauf hingewiesen, dass
kein Geld da ist. Herr Söder hat ebenso wie Herr
Seehofer darauf hingewiesen, dass kein politisches Man-
dat vorhanden ist. Was ist übrig geblieben? Es gibt kein
Geld, kein Konzept und keinen politischen Willen. Es ist
schlicht nichts übrig geblieben.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Nicht einmal eine Opposition ist übrig geblieben! – Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD)


– Keine Sorge, zu Ihnen komme ich gleich.

Sie haben dann über eine kleine Kopfpauschale philo-
sophiert. Es war von einem Betrag in Höhe von 29 Euro
die Rede. Herr Rösler hat das halbherzig dementiert.
Auch hierfür gilt: Es gab nie ein Konzept, es gab kein
Geld und keine Einigkeit, gar nichts.


(Ulrike Flach [FDP]: Wo waren Sie denn?)


Das Einzige, was in der Diskussion übrig geblieben ist:
Man hört aus Kreisen der Regierungskommission bzw.
von Herrn de Maizière, dass der Beitragssatz nach der
Wahl in Nordrhein-Westfalen angehoben werden soll.


(Widerspruch des Abg. Jens Spahn [CDU/CSU])


Eine Beitragssatzerhöhung ist alles, was nach diesem
Buhei übrig geblieben ist. Das ist zu wenig.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Heinz Lanfermann [FDP]: Blühende Fantasie! Das wird jede Woche doller!)


Ich fasse dies, wie ich glaube, fair zusammen – auch
wenn das eine Enttäuschung für jedermann und jede
Frau ist –, wenn ich sage: Es ist nichts passiert.





Dr. Karl Lauterbach


(A) (C)



(D)(B)

Welche Strategie könnte dahinterstecken? Die Strate-
gie – sofern man überhaupt eine erkennt – könnte allen-
falls die sein, dass man versucht, sich über die Wahl in
Nordrhein-Westfalen zu retten, um dann unbeliebte Vor-
schläge zur kleinen, mittelgroßen oder großen Kopfpau-
schale zu bringen. Sollte dies die Strategie sein, dann ist
sie nicht aufgegangen. Denn zu dem Zeitpunkt, zu dem
man eine solche Pauschale hätte beschließen können, hat
man es nicht gewagt. Demnächst ist die schwarz-gelbe
Regierung in Nordrhein-Westfalen weg, dann kann man
sie nicht mehr beschließen.


(Beifall bei der SPD)


In der Summe: Als man sie hätte beschließen können,
hat man es nicht gewagt. Jetzt, da man möglicherweise
den Mut aufbringt, ist die Zeit abgelaufen. Hat es eine
Strategie gegeben, so ist sie nicht aufgegangen.


(Ulrike Flach [FDP]: Noch nicht einmal Ihre eigenen Leute wollen sich das anhören! – Heinz Lanfermann [FDP]: Jetzt lächelt er schon selber!)


Ich komme zum Handwerk: Es ist ja viel über das ge-
sundheitspolitische Handwerkszeug der schwarz-gelben
Koalition geschrieben worden. Ich gehe einmal kurz auf
den Vorschlag der kleinen Kopfpauschale ein, der halb-
herzig dementiert wurde. Frau Flach, was käme dabei
heraus?


(Ulrike Flach [FDP]: Sie sollten Ihre eigenen Vorschläge durchrechnen!)


– Frau Flach, das ist auch für Sie lehrreich. Konzentrie-
ren Sie sich.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)


Was hätten wir dann? Wir hätten einen Arbeitgeberbei-
trag, wir hätten einen Arbeitnehmerbeitrag, wir hätten
eine kleine Prämie, wir hätten einen Finanzausgleich
zum Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeitrag, wir hätten
einen allgemeinen Steuerzuschuss, und wir hätten einen
Finanzausgleich für die Prämie.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Wer will denn so etwas?)


Wir hätten im Prinzip sieben Elemente auf der Einnah-
meseite. Das wäre dann das komplizierteste Gesund-
heitssystem in Europa. Das gesamte Buhei hätte nur den
Hintergrund, dass man den Arbeitgeberbeitrag festfrie-
ren will. Es wäre ein reines Umlagesystem.


(Ulrike Flach [FDP]: Ist Ihnen eigentlich klar, wozu Sie reden sollen?)


Ich bringe in Erinnerung: Die FDP hat uns über Jahre
hinweg mit dem Hinweis genervt, dass die Gesundheits-
politik nur überleben könnte, wenn ein kapitalgedecktes
System eingeführt würde. Davon ist jetzt keine Rede
mehr.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Kamelle!)

Ich habe das immer für falsch gehalten. Alles, was wir
jetzt hören, ist: Beitragssatzerhöhung. Außerdem kommt
es vielleicht zu einem Umstieg von einem relativ einfa-
chen und gerechten Umlagesystem zu einem komplizier-
ten und ungerechten Umlagesystem. Das ist alles, was
Sie uns bisher hier anbieten können.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Das ist die falsche Rede! Heute geht es um Arzneimittel!)


– Herr Lanfermann, überlassen Sie es bitte uns, die Dinge
vorzubringen, die wir für relevant halten. Ich komme
gleich zu den Arzneimitteln.


(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Ah! – Jens Spahn [CDU/CSU]: Sie haben keine Zeit mehr! Die Zeit ist abgelaufen!)


Wenn wir hier Handwerk und Stillstand beklagen, dann
tut Ihnen das weh. Sonst würden Sie sich nicht beschwe-
ren, Herr Lanfermann.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Wir klagen nicht über das Handwerk! Niemals!)


Nun zur Pharmaindustrie: Der einzige brauchbare
Vorschlag ist die Einführung eines Zwangsrabattes von
16 Prozent. Der kommt aber zu spät.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Wieso? Viel schneller geht es nicht!)


So werden die Preiserhöhungen, die wir derzeit be-
obachten, einen Teil dieses Rabattes wegfressen. Das gilt
übrigens auch, wenn er rückwirkend eingeführt wird.


(Ulrike Flach [FDP]: Sie hätten es ja schon letztes Jahr machen können! Dann wäre er da! – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Was wäre denn rechtzeitig?)


Wir erwarten, dass es zu Preisverhandlungen für neue
Arzneimittel kommt. Der Weg über IQWiG wäre ein
kompliziertes, bürokratisches Verfahren ohne Einspar-
potenzial.

Was hören wir also auch in diesem Bereich? Bürokra-
tie pur ohne eine relevante Einsparung. Ihnen laufen die
Beiträge quasi davon. Im nächsten Jahr werden 15 Mil-
liarden Euro fehlen. Wir hören nicht einen einzigen Vor-
schlag, wie diese Deckungslücke geschlossen werden
soll.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Freilich! Mit den Arzneimitteln!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703708800

Herr Kollege Lauterbach, darf ich Sie kurz unterbre-

chen? Der Kollege Lanfermann würde Ihnen gern eine
Zwischenfrage stellen.


Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Rede ID: ID1703708900

Sehr gerne, Herr Lanfermann.


Heinz Lanfermann (FDP):
Rede ID: ID1703709000

Vielen Dank. – Herr Kollege Lauterbach, ich gehe ein

wenig zurück: Sie haben gesagt, die Erhöhung des Ra-





Heinz Lanfermann


(A) (C)



(D)(B)

batts auf 16 Prozent käme zu spät, weil wir gerade Preis-
erhöhungen erlebt hätten. Man hätte das stattdessen ir-
gendwie rückwirkend festsetzen müssen.

Ist Ihnen bekannt, dass in unserem Eckpunktepapier,
das mittlerweile sehr weit verbreitet ist, mit der Einfüh-
rung einer Rabatterhöhung zum 1. August 2010, wie an-
gekündigt, auch ein Preismoratorium festgelegt wird,
das auf die Preissituation am 1. August 2009 zurückgeht,
weil es insbesondere in den Monaten August und Sep-
tember 2009 eine Reihe von Preiserhöhungen gegeben
hat?


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Das kann man mit Ja beantworten!)



Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Rede ID: ID1703709100

Das ist durchaus bekannt. Meine Belehrung bestand

lediglich darin,


(Jens Spahn [CDU/CSU]: „Belehrung“ ist das richtige Wort!)


dass zu Jahresbeginn infolge Ihrer Ankündigung Preiser-
höhungen stattgefunden haben und derzeit von den
Krankenkassen die erhöhten Preise bezahlt werden, die-
ses Geld also weg ist und gemäß Ihrem Vorschlag nicht
zurückgefordert werden soll. Bevor ich Ihnen Ihren eige-
nen Vorschlag erkläre, Herr Lanfermann, frage ich Sie:
Ist Ihnen klar, dass das Geld, das die Kassen in dieser
Periode aufgrund der Erhöhung in den Monaten Januar
und Februar mehr haben zahlen müssen, für die Kassen
verloren ist? Ist Ihnen klar, dass dieses Geld durch Ihren
Vorschlag nicht zurückgefordert werden kann? Dieses
Geld ist schlicht weg. Das läuft Ihnen durch die Hand.
Dieses Geld können Sie auch durch eine rückwirkende
Festlegung und ein Preismoratorium nicht festhalten.
Das sage ich dazu.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Das nennt sich Rechtsstaat!)


– Ich habe den Vorschlag ja verstanden, wie auch Sie,
Herr Spahn. Die Rückfrage kam ja von Herrn
Lanfermann, der Probleme hat.


(Ulrike Flach [FDP]: Die Probleme haben wir, weil Sie die Kostendämpfung nicht letztes Jahr gemacht haben!)


Herr Lanfermann hat ja Probleme.


(Lachen bei der LINKEN)


Es ist richtig, wir machen den gleichen Vorschlag. Ich
sage nur, dass selbst dieser Vorschlag – das ist der ein-
zige Vorschlag, den Sie bisher gemacht haben; daher
können wir nicht viel diskutieren – Ihnen nicht viel Geld
bringt. Sie stehen nachher mit leeren Händen da.

Ich komme zum Abschluss. Ich bringe noch ein letz-
tes Beispiel zum Handwerk. Da wird der Vorschlag ge-
macht, die Mangelversorgung bei Hausärzten dadurch zu
verbessern – das müssen Sie sich einmal vorstellen! –,
dass der Numerus clausus für Medizinstudenten abge-
schafft wird. Was zeigt das? Das zeigt die Vorurteile des
Ministers. Der Minister scheint zu denken, dass man für
die Hausarzttätigkeit nicht so schlau sein muss.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Jetzt müsste ich nach Ihrem Numerus clausus fragen!)


Darüber hinaus scheint er zu denken, dass diejenigen, die
einen guten Numerus clausus haben, keine guten Haus-
ärzte sein können.


(Ulrike Flach [FDP]: Das trifft vielleicht auf Sie zu, Herr Lauterbach!)


Das sind die Vorurteile, die sich hier zeigen. Kein einzi-
ger zusätzlicher Hausarzt wird aufs Land kommen. Die
Zahl der Medizinstudenten bleibt gleich.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703709200

Jetzt kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege

Lauterbach.


Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Rede ID: ID1703709300

Ich komme zum Schluss. – Die Vorschläge, die wir

bisher gehört haben, bringen allesamt nichts. Bisher
herrscht Stillstand auf hohem Niveau. Man kann nur ab-
warten, bis sich die FDP wieder aus dieser wichtigen so-
zialpolitischen Disziplin zurückzieht.


(Beifall bei der SPD – Ulrike Flach [FDP]: Hauptsächlich ist es Ihr Stillstand!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703709400

Das Wort hat der Kollege Jens Spahn von der CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Jens Spahn (CDU):
Rede ID: ID1703709500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Kollege Lauterbach, bei aller Wertschätzung, Sie
haben es jetzt geschafft, Ihre ganze Redezeit zu dem
Thema „Effektivere Arzneimittelversorgung“, das Sie
hier beantragt haben, mit Belehrungen, zugegebenerma-
ßen professoraler Art, zu füllen und dabei das Wort
„Arzneimittel“ nur zweimal zu benutzen; ansonsten ha-
ben Sie nichts, aber auch gar nichts zum Inhalt des An-
trags, den Sie gestellt haben und den wir hier beraten,
gesagt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich glaube, Sie wissen auch, warum Sie Ihren eigenen
Antrag nicht erwähnen: Er ist nämlich längst überholt


(Ulrike Flach [FDP]: So ist es!)


durch Regierungshandeln.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Harald Weinberg [DIE LINKE]: Handeln? – Zurufe von der SPD: Wo?)


– Ja, Handeln.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Das ist, wenn man etwas tut! – Ulrike Flach [FDP]: Im Gegensatz zu Ihnen!)






Jens Spahn


(A) (C)



(B)

– Vor allem ist das mehr, als elf Jahre lang nur irgendet-
was zu erzählen.

Sie von Rot-Grün haben elf Jahre lang nacheinander
die Gesundheitsministerin gestellt


(Zuruf der Abg. Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


und immer davon geredet, dass Sie jenseits von kurzfris-
tigen Strukturveränderungen die Preisbildung von Arz-
neimitteln in Deutschland langfristig verändern wollen,
aber das haben Sie in elf Jahren nicht geschafft. Jetzt
sind Sie in der Opposition insgesamt, insbesondere SPD
und Grüne, erschrocken, dass es nun gerade eine bürger-
liche Koalition ist, die das, was Sie elf Jahre lang ange-
kündigt, aber nicht geschafft haben, nun wenige Monate
nach Regierungsantritt schafft.


(Ulrike Flach [FDP]: So ist es!)


Das ist Ihr eigentliches Problem.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch der Abg. Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Was werden wir tun? Erstens. Wir werden – darüber
haben Sie gesprochen; auch das wird in Ihren Anträgen
erwähnt – kurzfristig Sparmaßnahmen ergreifen; das ist
nichts Neues, das hat es auch bei früheren Regierungen
gegeben. Sie haben das Defizit der gesetzlichen Kran-
kenversicherung erwähnt: Im nächsten Jahr werden zwi-
schen 10 und 15 Milliarden Euro erwartet. Das ist das
größte Defizit in der Geschichte der Krankenversiche-
rung. Natürlich muss die Pharmaindustrie da einen Soli-
daritätsbeitrag leisten. Das werden wir in Form eines ge-
setzlich vorgeschriebenen Herstellerrabattes bewirken,
der mit allen anderen Maßnahmen zusammen mindes-
tens 1,5 bis 2 Milliarden Euro Sparwirkung allein für das
nächste Jahr bringen wird; diese Sparwirkung wird es
auch in den Jahren darauf geben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das ist ein erster wichtiger Beitrag zu Einsparungen bei
den Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung.

Zweitens – jetzt kommt das Entscheidende, was bei
vergangenen Reformen auf dem Arzneimittelmarkt nicht
gelungen ist – werden wir langfristig die Strukturen so
verändern, dass nicht der Arzneimittelhersteller nach
Zulassung einseitig die Preise festlegt, die dann auch ge-
zahlt werden müssen – so ist es bisher in Deutschland
üblich –, sondern die Preise in Zukunft an den tatsäch-
lich wissenschaftlich nachgewiesenen Zusatznutzen von
Arzneimitteln gekoppelt sein werden. Es wird nur für
tatsächlich bewiesenen Zusatznutzen in Zukunft mehr
Geld geben.


(Mechthild Rawert [SPD]: Warum wurde Herr Sawicki dann abgesetzt?)


Das ist das eigentlich Neue. Davon haben Sie elf Jahre
geredet. Das werden wir jetzt tun. Sie stört, dass wir es
tun und nicht Sie, nachdem Sie dazu nicht die Kraft hat-
ten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zurufe der Abg. Mechthild Rawert [SPD])


Wir haben zudem eine Verhandlungslösung vorgese-
hen. Das heißt, die Hersteller verhandeln mit den Kran-
kenkassen, und zwar in genau vorgegebenen Zeitabläufen
von maximal 15 Monaten mit einer Schiedsamtslösung.
Sie werfen uns vor, dass wir solche Instrumente ergreifen.
Ich halte das unter den gegebenen Umständen für die
beste Lösung. Wir wollen nämlich keine staatliche Preis-
festsetzung. Das ist nicht unsere Vorstellung vom Ge-
sundheitswesen. Wir wollen Verhandlungslösungen, bei
denen die Partner jeweils begründen müssen, welche Vor-
stellung sie haben. Wir wollen aber auch nicht, dass sich
die Verhandlungen unendlich in die Länge ziehen. Des-
wegen haben wir klare zeitliche Rahmen vorgegeben. Es
ist doch ein großer Unterschied, ob nach spätestens
15 Monaten tatsächlich ein Verhandlungsergebnis vor-
liegt oder ob es – so ist es heute – nach oben offene Preis-
festsetzungen für die ganze Zeit des Patentes gibt.

Eins ist uns dabei ganz wichtig, nachdem hier immer
wieder von der sogenannten vierten Hürde bei der Zulas-
sung die Rede ist: Wir in der christlich-liberalen Koali-
tion legen großen Wert darauf, dass es dabei bleibt, dass
Patientinnen und Patienten – auch in der gesetzlichen
Krankenversicherung und nicht nur in der privaten Kran-
kenversicherung – einen direkten Zugang zu neuen Me-
dikamenten bekommen;


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


denn mit neuen Medikamenten ist auch die Hoffnung
etwa von Krebspatienten, von MS- oder Parkinson-Pa-
tienten – stellen Sie sich vor, es gäbe endlich ein Medi-
kament gegen die Geißel Demenz – auf Leidminderung
verbunden. Deswegen wollen wir weiterhin ab Zulas-
sung, zum frühestmöglichen Zeitpunkt, einen Zugang
der Patientinnen und Patienten zu dieser Versorgung.
Auch das ist für uns ein wichtiger Punkt bei dieser anste-
henden Reform.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Im Übrigen – ich bin gespannt auf die weiteren Re-
den, auch auf die der Opposition –


(Heinz Lanfermann [FDP]: Wir nicht!)


fand ich es bemerkenswert, Herr Kollege Lauterbach,
wie sprachlos Sie im Grunde in Bezug auf Ihren eigenen
Antrag gerade sechs Minuten lang gewesen sind. Sie ha-
ben über alles Mögliche geredet, über alles, was Ihnen
eingefallen ist, bis hin zur ärztlichen Versorgung im
ländlichen Raum. Das ist ein wichtiges Thema. Aber ich
weiß nicht, was das in einer Debatte zur effektiven Arz-
neimittelversorgung, die Sie selbst beantragt haben, ei-
gentlich soll.

Sie wissen ganz genau – das gilt im Übrigen auch für
die Anträge der übrigen Oppositionsfraktionen; ich bin
schon gespannt auf Ihre Reden –,


(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Danke schön!)


(D)






Jens Spahn


(A) (C)



(D)(B)

dass wir vieles von dem, was Sie fordern – zum Teil
richtigerweise –, nicht nur in Worten vor uns hertragen,
sondern auch in Taten umsetzen werden.


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Da ist doch nichts passiert!)


Die ersten Dinge werden zum 1. August in Kraft treten;
wir bringen sie jetzt in den Gesetzgebungsprozess ein.
Der zweite Teil des Gesetzes, in dem es um die Eck-
punkte geht, wird zur Sommerpause hin beraten und
zum 1. Januar nächsten Jahres in Kraft treten.

Genauso wie wir im Bereich der Arzneimittelpreisfin-
dung langfristige Lösungen angestrebt haben und jetzt
auch finden werden – nicht nur kurzfristige, wie in der
Vergangenheit, sondern langfristige, nachhaltige Lösun-
gen –, werden wir Lösungen bei der ärztlichen Versor-
gung suchen und finden – es ist gut, dass die Debatte da-
rüber begonnen hat –, und genauso nachhaltig werden
wir eine Lösung für die dauerhafte, breitere, gerechtere
Finanzierung des Gesundheitswesens finden.


(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das darf man bei eurem „Kopfgeld“ aber bezweifeln!)


Wir machen das Schritt für Schritt. Wir machen es
fundiert. Wir werden vieles von dem, was Sie über Jahre
erzählt haben, jetzt mit christlich-liberalem Geist, auf
christlich-liberaler Basis umsetzen,


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Sie haben doch alles blockiert! Ich bitte Sie! Sie waren doch der Bremsklotz!)


und zwar schneller, als es Ihnen lieb ist, weil damit die
ganzen Überschriften, die Sie gerne in der Gegend he-
rumposaunen, und damit wahrscheinlich auch manche
der vielen Debatten, die Sie hier Woche für Woche bean-
tragen, ohne substanziell wirklich Neues vorzutragen,
überflüssig werden.


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Sie haben doch alles blockiert!)


Das ist das eigentliche Problem, Herr Kollege
Lauterbach: Sie reden, wir handeln.


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Sie handeln nicht! Sie waren bisher der Bremsklotz!)


Aber Sie wollen jede Woche aufs Neue reden und das
Gleiche erzählen. Unsere Taten werden Ihren Worten – –


(Bärbel Bas [SPD]: Folgen! – Heiterkeit)


– Immerhin haben alle aufgepasst.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Da verschlägt es ihm die Sprache! Das war entlarvend!)


Jetzt habe ich es: Unsere Taten werden Ihre Worte Lügen
strafen. So wollte ich es sagen.


(Heiterkeit)


Alles Gute.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703709600

Das Wort hat die Kollegin Kathrin Vogler von der

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703709700

Herr Präsident, vielen Dank. – Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Nach so viel Humor will ich versuchen,
wieder ein bisschen Ernst in diese Debatte zu bringen.
Vor Ostern ist es ja laut durch den Blätterwald gerauscht:
Der FDP-Gesundheitsminister will die Pharmakonzerne
entmachten, hieß es. Die Branche jaulte natürlich zu-
nächst auf. Aber der Bundesverband der Pharmazeuti-
schen Industrie hat nur trocken kommentiert, da wolle
der Minister die Unternehmen wohl zu etwas zwingen,
was sie sich selbst ausgedacht haben,


(Ulrike Flach [FDP]: Na, na!)


weil das Verhandlungskonzept in weiten Teilen von den
Verbänden vorgelegt worden war.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Ja, ja! Deswegen sind die ja auch so begeistert! – Heiterkeit bei der FDP)


Uns als Parlament liegt das Konzept der Bundesregie-
rung noch nicht vor. Aber nach dem, was bisher so
durchgesickert ist, lieber Kollege Spahn, scheint es für
uns in einigen Punkten tatsächlich zustimmungsfähig zu
sein.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Oh! – Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Dann müssen wir allerdings aufpassen!)


Das gilt insbesondere für die Kosten-Nutzen-Bewertung
und die Orientierung an internationalen Vergleichsprei-
sen; das steht auch in unserem Antrag. Diese Schritte
sind alleine aber keineswegs ausreichend, um den
Selbstbedienungsladen für die Pharmaindustrie zu
schließen.


(Beifall bei der LINKEN)


Solange die Pharmaunternehmen selbst die Preise festle-
gen und über die Studien entscheiden, mit denen Nutzen
und Risiken belegt werden, so lange werden wir die Arz-
neimittelausgaben nicht in den Griff bekommen. Ihr
Preisstopp in Kombination mit einem zusätzlichen
Zwangsrabatt von 10 Prozent schafft zwar kurzfristig et-
was Luft, aber dann setzen die Hersteller zukünftig die
Preise für neue Produkte entsprechend höher an, zumal
Sie ihnen ja weiterhin für das erste Jahr oder für
15 Monate gestatten wollen, diese Mondpreise zu kas-
sieren. Außerdem – das haben wir gelernt – werden die
Unternehmen dafür zu sorgen wissen, dass dann entspre-
chend mehr Medikamente verordnet werden. Dem müs-
sen wir im Interesse der Versicherten einen Riegel vor-
schieben.


(Beifall bei der LINKEN)


Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im
Gesundheitswesen, IQWiG, hat vor zwei Jahren in einer
Studie festgestellt, dass nirgends in Europa so viel für





Kathrin Vogler


(A) (C)



(D)(B)

Medikamente ausgegeben wird wie bei uns, gleichzeitig
deutsche Ärzte weniger Zeit für die Patienten aufwenden
als ihre Kollegen im Ausland. Zwischen diesen beiden
Fakten gibt es einen Zusammenhang: Viele Patienten er-
leben, dass sie im Wartezimmer sitzen müssen, während
die freundliche Dame oder der freundliche Herr von der
Pharmaindustrie dem Doktor gerade die neuesten Medi-
kamente vorstellt. Ärzte berichten, dass dies keine Infor-
mationsgespräche sind, sondern dass es um knallhartes
Marketing geht. Die Erfolge dieses Marketings zahlen
die Kassen mit jährlich steigenden Arzneimittelausga-
ben. In Polen zum Beispiel dürfen Pharmareferenten
nicht mehr während der Sprechstunden in die Arztpra-
xen. Warum regeln wir das nicht ähnlich?


(Beifall bei der LINKEN)


Das Deutsche Ärzteblatt stellt fest, dass die Pharmain-
dustrie in großem Stil Studien vortäuscht, manipuliert
oder unterdrückt, um Medikamente von zweifelhafter
Wirksamkeit und unzureichender Sicherheit an den
Mann oder die Frau zu bringen. Die großartige Innova-
tionskraft der forschenden Pharmaindustrie, der Sie,
Kollege Spahn, gerade wieder das Wort geredet haben,


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Er hat doch recht!)


ist in Wahrheit allzu oft eine Schimäre, die benutzt wird,
um hohe zweistellige Umsatzrenditen zu rechtfertigen.


(Ulrike Flach [FDP]: Na, na!)


Wirkliche Neuerungen zum Nutzen der Patienten sind
viel seltener, als die Lobbyisten uns glauben machen
wollen.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Aber es gibt welche, oder?)


– Es gibt welche; aber sie sind deutlich seltener, als im-
mer behauptet wird.

Wenn sich, wie die FDP sagt, Leistung wieder lohnen
soll, dann müssen die Medikamentenpreise konsequent
am Nutzen für die Kranken festgemacht werden.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Machen wir doch! – Ulrike Flach [FDP]: Machen wir doch!)


Dafür sollten wir uns gemeinsam einsetzen.


(Ulrike Flach [FDP]: Lesen Sie, was wir vorschlagen!)


Die Linke fordert außerdem ein verbindliches öffentli-
ches Register für Arzneimittelstudien.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Gibt es doch schon!)


Damit hätten wir ein Instrument, um Manipulationen in
der Bewertung neuer Therapien entgegenzuwirken.

Vor weniger als einem Jahr hat ein gewisser
Dr. Philipp Rösler, damals niedersächsischer Wirt-
schaftsminister, einen Beschluss unterzeichnet, in dem
die Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneimitteln sehr
kritisch gesehen und gefordert wird, die Interessen der
pharmazeutischen Industrie nicht zu beschädigen. Erle-
ben wir gerade einen echten Perspektivenwechsel, oder
ist das eher Wahlkampfhilfe für Ihren Parteifreund
Andreas Pinkwart in NRW, auch um die Mehrheit im
Bundesrat für die schwarz-gelbe Kopfpauschale nicht zu
verlieren?

Eine kurze Bemerkung zu dem Antrag der SPD. Wir
haben bei dem Beitrag des Kollegen Lauterbach eben
gemerkt, dass er dazu wenig zu sagen hatte.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der LINKEN, der CDU/CSU und der FDP)


Der Vorwurf, die jetzige Bundesregierung sei schuld an
den Zusatzbeiträgen etlicher Krankenkassen, wird auch
durch Wiederholung nicht wahr.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Richtig!)


Erinnern wir uns: Zusatzbeiträge, Praxisgebühr, Sonder-
beitrag von 0,9 Prozent, Zuzahlungen, das alles wurde in
Ihrer Regierungszeit auf den Weg gebracht. Da können
Sie sich nicht aus der Verantwortung stehlen.


(Beifall bei der LINKEN)


Was Ihnen jetzt zu den Arzneimittelpreisen einfällt,
unterscheidet sich leider nur wenig von den Ideen aus
dem Ministerium. Ihnen fehlt da wohl der Mut, die un-
tauglichen Konzepte aus der eigenen Regierungszeit
über Bord zu werfen und noch einmal ganz neu nachzu-
denken.

Deswegen lade ich Sie dazu ein, den Antrag der Lin-
ken zu unterstützen und mitzuhelfen, dass die Bedürf-
nisse der Patientinnen und Patienten endlich über die In-
teressen der Aktionäre gestellt werden.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703709800

Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär

Daniel Bahr.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


D
Daniel Bahr (FDP):
Rede ID: ID1703709900


Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeord-
neten! Der Kollege Lauterbach hat den Eindruck er-
weckt, als ob die steigenden Arzneimittelausgaben allein
nach dem Herbst 2009 entstanden seien. Jetzt wollen wir
uns einmal kurz daran erinnern, welche Situation die
neue Bundesregierung, die neue Koalition im Herbst
2009 vorgefunden hat: Die Ausgaben für Arzneimittel
liegen mittlerweile deutlich über den Ausgaben für die
ambulante Versorgung. Das ist in den letzten Jahren der
Verantwortung der SPD für das Gesundheitsministerium
entstanden.


(Beifall bei der FDP)


Im Herbst 2009 betrug das Defizit in der gesetzlichen
Krankenversicherung 8 Milliarden Euro, und auch für
2011 wird ein Milliardendefizit erwartet, das allerdings





Parl. Staatssekretär Daniel Bahr


(A) (C)



(D)(B)

noch nicht beziffert werden kann. Auch dieses Defizit ist
in der Verantwortung der SPD für die Gesundheitspolitik
entstanden.

Wenn hier der Eindruck erweckt wird, die neue Bun-
desregierung sei angesichts dieser Milliardenlasten untä-
tig geblieben, sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass
der Steuerzahler eine Kraftanstrengung unternehmen
musste, damit das Defizit von 8 Milliarden Euro auf un-
ter 4 Milliarden Euro gedrückt werden konnte, auch um
einen besonderen Beitrag für den Arbeitsmarkt, für die
Sicherung von Arbeitsplätzen in Deutschland zu leisten.
Das gerät bei der SPD immer ein bisschen in Vergessen-
heit. Dabei ist das ein großer Beitrag, der hier zur Stabi-
lität auch der Finanzierung im Gesundheitswesen geleis-
tet wird.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Es kommt etwas Zweites hinzu. Die Koalition hat von
Anfang an keinen Hehl daraus gemacht, dass wir im Ge-
sundheitswesen natürlich auch zu Einsparungen kom-
men und alle Beteiligten im Gesundheitswesen einen
Beitrag dazu leisten müssen. Lieber Herr Kollege
Lauterbach und Frau Kollegin Bender, die gleich noch
das Wort ergreifen darf, was uns von vergangenen Re-
gierungen aber unterscheidet, ist, dass wir nach der Bun-
destagswahl zu Beginn der Legislaturperiode eben nicht
als Erstes ein kurzfristiges Kostendämpfungsgesetz ma-
chen,


(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, ihr braucht dafür noch länger!)


durch das kurzfristig irgendwo Geld eingespart wird und
kurzfristig zusätzliche Instrumente eingeführt werden.

Stattdessen sorgen wir für einen Dreiklang bei diesem
Arzneimittelpaket: Ja, wir brauchen kurzfristig wirk-
same Maßnahmen, aber wir brauchen sie nicht alleine,
sondern wir brauchen auch strukturelle Maßnahmen, die
uns helfen, die Arzneimittelausgaben zu begrenzen, und
wir brauchen auch deregulierende Maßnahmen.

Wir haben mittlerweile einen Instrumentenkasten von
über 20 Instrumenten, mit denen der Arzneimittelmarkt
reguliert werden soll, und wir stellen doch gemeinsam
fest, dass es uns nicht gelingt, die Arzneimittelausgaben
so zu begrenzen, dass wir auf ein vergleichbares Niveau
wie in anderen Ländern in Europa kommen. Mittlerweile
haben wir im Arzneimittelbereich Instrumente, die sich
widersprechen und bei denen auch keiner mehr durch-
blickt. Dadurch wird die Versorgung vor Ort ganz klar
belastet. Der Arzt weiß gar nicht mehr, was er verordnen
soll, weil er Angst hat, in Regress genommen zu werden.
Der Patient blickt bei diesen vielen Instrumenten gar
nicht mehr durch und hat die Sorge, dass er das Medika-
ment, das ihm hilft, gar nicht mehr bekommt.

Deswegen wollen wir mit diesem Paket dazu beitra-
gen, dass wir erstens kurzfristig zu Einsparungen für die
Beitragszahler kommen, dass wir zweitens Strukturelles
auf den Weg bringen, um zu einer fairen Preisbildung zu
kommen, und dass wir drittens am Ende mit weniger In-
strumenten auskommen, die aber natürlich wirksamer
als die bisherigen Instrumente sein müssen. Das ist das
Ziel, das wir mit dem Arzneimittelpaket verfolgen, das
wir vorgelegt haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Es sind natürlich einige Vorschläge dabei, die zum
Teil auch in Ihren Anträgen stehen, auch wenn Sie, Herr
Kollege Lauterbach, dazu anscheinend nicht reden, son-
dern lieber mit anderen Debatten ablenken wollen. Ge-
meinhin denkt man ja, dass man, wenn man als Regie-
rung Vorschläge der Opposition aufgreift, Applaus dafür
bekommt, aber wahrscheinlich haben Sie lieber ver-
schwiegen, dass der eine oder andere Vorschlag von Ih-
nen durchaus auch aufgegriffen wurde.


(Kathrin Vogler [DIE LINKE]: Ich habe es doch gesagt!)


Schauen Sie sich einmal den kurzfristigen Bereich an.
Mit dem erhöhten Herstellerrabatt auf 16 Prozent tragen
wir dazu bei, dass das Niveau der Arzneimittelpreise
dem Niveau in der Schweiz entspricht und damit kurz-
fristig auch Einsparungen für die Beitragszahler entste-
hen.

Aber in einem wesentlichen Punkt unterscheiden wir
uns: Die christlich-liberale Koalition will erreichen, dass
es für Innovationen und neue Medikamente weiterhin ei-
nen offenen Zugang zur Versorgung gibt. Wir wollen
keine vierte Hürde, das heißt, wir wollen verhindern,
dass Arzneimittel, die neu zugelassen und wirksam sind,
erst einen aufwendigen Prozess durchlaufen müssen, bis
sie in die Anwendung beim Patienten kommen. Wir wol-
len, dass der offene Zugang für Innovationen erhalten
bleibt. Das sehen wir in unseren Vorschlägen auch wei-
terhin vor.

Dieser offene Zugang für neue Medikamente und für
Innovationen darf aber kein Freifahrtsschein für die ein-
seitige Preisbildung der Pharmaunternehmen sein, son-
dern wir wollen, dass die Pharmaunternehmen quasi in
einer Bewährungszeit nachweisen sollen und müssen,
dass dieses neue Medikament einen wirklichen Fort-
schritt darstellt und dass deswegen auch ein höherer
Preis gerechtfertigt ist. Deswegen schaffen wir mit unse-
rem Weg der fairen Verhandlungen zwischen den Kran-
kenkassen und den Arzneimittelherstellern eine faire
Preisbildung, bei der berücksichtigt wird, dass wirkliche
Innovationen auch einen entsprechenden Preis verdie-
nen, und gleichzeitig bringen wir die Interessen der Bei-
tragszahler und die Interessen der pharmazeutischen In-
dustrie in Einklang.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Deswegen ist es unser Ziel, mit den Eckpunkten im
Arzneimittelpaket dafür zu sorgen, dass den Menschen
im Krankheitsfall die besten und wirksamsten Arznei-
mittel zur Verfügung stehen, dass die Preise und die Ver-
ordnung von Arzneimitteln wirtschaftlich und kostenef-
fizient sind und dass verlässliche Rahmenbedingungen
für Innovationen, für die Versorgung der Versicherten
und für die Sicherung von Arbeitsplätzen entstehen.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Jawohl!)






Parl. Staatssekretär Daniel Bahr


(A) (C)



(D)(B)

Darüber hinaus wollen wir dafür sorgen, dass die Wahl-
freiheit des Patienten gewährleistet ist.

Sie sagen: Wenn es jetzt zu Rabattverhandlungen zwi-
schen Arzneimittelherstellern und Krankenkassen käme,
dann würden die Arzneimittelhersteller Mondpreise
bzw. überhöhte Preise verlangen und sich das dann ab-
handeln lassen. – Herr Lauterbach ist immer wieder mit
dem Beispiel des Teppichhändlers durch die Medien ge-
laufen. Ich hatte eigentlich erwartet, dass Sie dieses aus-
wendig gelernte Beispiel heute wieder vortragen, aber
wahrscheinlich reichte die Zeit nicht mehr. Ich wundere
mich nun, weil die SPD diese Verhandlungen im Rah-
men der Rabattverträge bei Generika einmal selbst mit
eingeführt hat. Dabei haben wir festgestellt, dass Ver-
handlungen zwischen Krankenkassen und Arzneimittel-
herstellern zu Einsparungen für die Beitragszahler füh-
ren. Weil es aber nicht nur einseitig um Preisdrücken
geht, wollen wir auch dafür sorgen, dass es einen fairen
Rahmen für Arzneimittelhersteller und Krankenkassen
gibt. Der beste Rahmen, der faire Bedingungen für Ver-
handlungen gewährleistet, ist das Wettbewerbs- und
Kartellrecht. Das wollen wir auch im Arzneimittelbe-
reich bei den Verhandlungen zwischen Krankenkassen
und Arzneimittelherstellern vorrangig anwenden, weil
wir faire Bedingungen für Krankenkassen und Arznei-
mittelhersteller wollen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber wir wollen auch Wahlfreiheit für die Versicher-
ten gewährleisten. Sie haben die Rabattverträge ange-
sprochen. Ich habe in der Praxis, zum Beispiel in der
Apotheke oder in vielen Gesprächen, erlebt, dass das
Verständnis und die Akzeptanz der Bürgerinnen und
Bürger groß sind. Sie finden es gut, wenn die Preisver-
antwortung nicht länger beim verordnenden Arzt, son-
dern bei den Krankenkassen und Arzneimittelherstellern
liegt und wenn Krankenkassen in Verhandlungen mit
Arzneimittelherstellern günstigere Preise heraushandeln,
wovon sie als Beitragszahler profitieren. Wenn ein Pa-
tient bereit ist, die Differenz für ein teureres Arzneimit-
tel zu zahlen, weil ihm dieses Mittel lieber ist – aus wel-
chen Gründen auch immer; es können ganz individuelle
Gründe sein, etwa weil man es angenehmer findet oder
besser verträgt –, dann wollen wir ihm die Möglichkeit
bieten, mit einer Aufzahlung dieses Medikament zu be-
kommen statt jenes, das die Krankenkasse mit dem Her-
steller in einem Rabattvertrag ausgehandelt hat. Das
trägt dazu bei, dass die Akzeptanz bei Einsparungen im
Arzneimittelbereich auch bei den Patienten und Bei-
tragszahlern erhöht wird. Deswegen wollen wir eine
Mehrkostenregelung einführen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703710000

Herr Kollege Bahr, erlauben Sie noch eine Zwischen-

frage des Kollegen Lauterbach?
D
Daniel Bahr (FDP):
Rede ID: ID1703710100


Meine Redezeit ist abgelaufen, aber wenn der Präsi-
dent mir das gestattet, gerne.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703710200

Der Kollege Lauterbach hatte auch anderthalb Minu-

ten mehr.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Wir dachten, es seien fünf!)


D
Daniel Bahr (FDP):
Rede ID: ID1703710300


Anderthalb Minuten? Ich bin gerade bei 20 Sekunden.


Dr. Karl Lauterbach (SPD):
Rede ID: ID1703710400

Herr Bahr, sehen Sie nicht die Gefahr, wenn diese Re-

gelung eingeführt wird und der Patient oder der Kunde,
wie Sie ihn sehen, das Medikament wechseln kann,
wenn er die Differenz zu dem im Rabattvertrag vorgese-
henen Mittel zahlt, dass dann der Apotheker und der
Arzt plötzlich einen Anreiz haben, das teuere Medi-
kament anzubieten? Der Patient oder Kunde kann
überhaupt nicht bewerten – machen wir uns doch nichts
vor –, welcher Hersteller beispielsweise den Wirkstoff
Diazepam am besten herstellt.

Plötzlich ist der Patient, der ältere Mensch, der auf
diese Mittel angewiesen ist, der Kunde. Wir haben mit
der Union gemeinsam die Naturalrabatte dichtgemacht,
weil wir diese Gefahr einer halblegalen Rückfinanzie-
rung, um es einmal so zu sagen, von Mitteln bei Apothe-
kern und Ärzten vermeiden wollten. Wir wollten als eine
Art Verbraucherschutz vermeiden, dass der gleiche
Wirkstoff teurer verkauft wird, nur weil der Patient nicht
in der Lage ist, zu erkennen, dass es der gleiche Wirk-
stoff ist und in der Regel keinen Unterschied macht. Da-
mit öffnen wir die Tür für eine Art der Abzocke, die
auch ein unethisches Geschäft ist.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703710500

Bitte.

D
Daniel Bahr (FDP):
Rede ID: ID1703710600


Herr Kollege Lauterbach, das ist der Unterschied in
dem Gesellschaftsbild, das wir beide haben, der uns
trennt. Wir gehen vom mündigen Patienten aus,


(Beifall bei der FDP)


der auch im Gesundheitswesen für sich entscheiden
kann, was er haben möchte.

Der Anreiz besteht übrigens auch für den Patienten
wie für den Apotheker und den Arzt. Wenn eine Kran-
kenkasse mit einem Arzneimittelhersteller einen Vertrag
geschlossen hat, dann ist es für den Patienten möglich,
dieses Medikament ohne Zuzahlung zu bekommen. Er
profitiert davon, dass die Krankenkasse mit dem Arznei-
mittelhersteller günstigere Preise ausgehandelt hat.





Parl. Staatssekretär Daniel Bahr


(A) (C)



(D)(B)

Nur dann, wenn der Patient ein anderes Medikament
haben möchte – aus welchen individuellen Gründen
auch immer er es für sich besser findet; wir können nicht
immer beurteilen, was besser ist; vielleicht empfindet
der Patient es für sich als besser und ist bereit, diese Dif-
ferenz zu tragen –, soll er nach der Mehrkostenregelung
auch die Freiheit haben, das Medikament zu wählen, das
er will.

Das ist der Unterschied zwischen Ihrer und unserer
Herangehensweise: Wir wollen den Patienten nicht in
eine Standardversorgung pressen, die ihm vorgegeben
wird, sondern wir wollen dem Patienten die Möglichkeit
geben, selbst zu entscheiden, welche Versorgung er wäh-
len möchte.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Der mündige Patient!)


Das ist ein unterschiedliches Gesellschaftsbild. Wir
lassen uns davon prägen, dass der Patient und Bürger
mündig genug ist und selbst die Entscheidung treffen
kann, weil er sich informieren und beraten lassen und
das, was er für seine Gesundheit braucht, selbst viel bes-
ser beurteilen kann.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703710700

Das Wort hat jetzt die Kollegin Birgitt Bender von

Bündnis 90/Die Grünen.


Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703710800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man

die Worte des Staatssekretärs hört und an die Überschrif-
ten denkt, die der Minister produziert hat, dann könnte
man meinen, der Gesundheitsminister der FDP habe sich
vom Beschützer der Pharmaindustrie zum Rambo ge-
wandelt, der das Preismonopol der Pharmaindustrie
bricht. Wenn man die Aufschreie der Frau Yzer vom
Verband der Forschenden Arzneimittelhersteller hört,
die sogleich den Untergang des pharmaunternehmeri-
schen Abendlandes beschwört, dann könnte man fast ge-
neigt sein, dem Minister auf die Schulter zu klopfen und
ihm zu sagen: Das machst du schon richtig.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Ja, mach doch mal! – Heiterkeit bei der CDU/CSU)


Aber wir halten einmal Folgendes fest: Um die Phar-
maindustrie muss man sich keine Sorgen machen. Die
Renditen in diesem Bereich sind hoch genug. Wenn der
Chef von Boehringer Ingelheim via Interview in der FAZ
sagt, die Pläne des Ministers seien absolut unterstützens-
wert, dann kann dies zweierlei bedeuten: Entweder hat
ein Pharmachef begriffen, dass es darauf ankommt, lang-
fristig zu denken und die Forschung tatsächlich auf echte
Innovationen auszurichten.


(Ulrike Flach [FDP]: Ja, soll es doch geben!)


– Das wäre die gute Nachricht, Frau Flach.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Es kann aber auch bedeuten – so etwas muss die Opposi-
tion immer im Auge haben –, dass er glaubt, dass den
starken Worten des Ministers im Gesetz vor allem heiße
Luft folgen wird. Genau dies befürchten wir.

Was ist denn die Aufgabe, meine Damen und Herren?
Gesundheitspolitik muss Rahmenbedingungen setzen,
die tatsächlich dazu führen, dass es Innovationen im Ge-
sundheitswesen und insbesondere auf dem Arzneimittel-
markt gibt, nicht aber Mondpreise, die nur dem Solidar-
system schaden und den Menschen nichts nützen. Hier
gibt es bei Ihren Eckpunkten einfach weiße Stellen.

Ich nenne Ihnen einige Beispiele. Erstens. Bei Ihnen
setzen die Arzneimittelhersteller im ersten Jahr weiter-
hin völlig frei die Preise fest. Danach soll verhandelt
werden. Nur, was wird denn ein Hersteller tun, der sei-
nen Aktionären verpflichtet ist? Er wird doch nach wie
vor versuchen, im ersten Jahr möglichst viel Gewinn in
dem Vertrauen darauf hereinzuscheffeln, dass ihm dies
schon bleiben wird.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Aber keine zehn und zwanzig Jahre mehr!)


Dagegen, meine Damen und Herren, braucht man ein
Mittel, und zwar eines, das die Grünen gar nicht erfun-
den haben, weil es dieses Mittel in den Nachbarländern
schon gibt: einen Regress. Wenn sich also bei der voll-
ständigen Kosten-Nutzen-Bewertung herausstellt, dass
der Preis im Verhältnis zum Mehrnutzen überteuert ist,
dann muss der Hersteller regresspflichtig sein. Nur so
verhindert man, dass im ersten Jahr nach wie vor Mond-
preise genommen werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Außerdem muss die Bewertung des Nutzens bereits
parallel zum Zulassungsverfahren durchgeführt werden.
Es nützt nichts, wenn man erst danach damit anfängt;
denn nur so wird sich auch das Studiendesign in dem
Sinne ändern, dass man in der Phase III nicht nur gegen
Placebos, sondern auch gegen die Standardtherapie
prüft.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Das passiert doch, machen wir doch!)


Nur damit wird man herausbekommen, was tatsächlich
der Mehrnutzen ist.

Zweitens. Nach Ihren Eckpunkten sollen die Herstel-
ler jetzt ein Dossier vorlegen. Das ist zwar schön, aber
da besteht die Gefahr, dass dies mehr oder weniger Ver-
kaufsbroschüren werden. Ich brauche doch Qualität und
echten Nutzen nicht nur für Medikamente, sondern auch
für die Unterlagen, die die Unternehmer vorlegen müs-
sen. Dafür brauche ich ein verpflichtendes Studienregis-
ter.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir müssen wissen, welche Studien sie überhaupt ma-
chen. Außerdem brauchen wir zum Design der vorzu-
legenden Studie verpflichtende Absprachen mit dem
Gemeinsamen Bundesausschuss bzw. dem IQWiG. Das
kann nicht ins Belieben der Hersteller gestellt sein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)






Birgitt Bender


(A) (C)



(D)(B)

Drittens. Sie wollen auch in Zukunft nicht verhindern,
dass es noch nutzlose oder im Vergleich zur Standardthe-
rapie sogar schädlichere Arzneimittel geben kann, die
verordnungsfähig sind. Dagegen hilft nur eine Positiv-
liste. Wir brauchen ein solches Instrument für Qualität
und Transparenz. Dies nützt den Patientinnen und Pa-
tienten; davor dürfen Sie sich nicht drücken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703710900

Frau Kollegin Bender, erlauben Sie eine Zwischen-

frage des Kollegen Dr. Lotter von der FDP-Fraktion?


Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703711000

Bitte.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703711100

Herr Lotter.


Dr. Erwin Lotter (FDP):
Rede ID: ID1703711200

Verehrte Frau Kollegin Bender, sind Sie bereit, zur

Kenntnis zu nehmen, dass es für die Erstellung eines
Dossiers durchaus sehr bewährte Verfahren gibt – etwa
das sogenannte schottische Verfahren –, die eigentlich
sehr treffsicher sind – sie haben eine Treffsicherheit von
über 70 Prozent, was die Innovation angeht –, und dass
dies eigentlich ein Werkzeug ist, das sehr verlässlich und
sehr gut anzuwenden ist?


Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703711300

Darauf, dass Sie, Herr Kollege, das schottische Ver-

fahren anwenden wollen, werden wir zurückkommen;
denn bei der schottischen Entsprechung zum NICE ist es
so, dass das Arzneimittel erst dann zulasten des Gesund-
heitsdienstes verordnungsfähig ist, wenn tatsächlich die
Kosten-Nutzen-Bewertung abgeschlossen ist. Wenn Sie
das britische System wollen, dann werden Sie unsere
Unterstützung finden, allerdings nur dann, wenn Innova-
tionen tatsächlich für alle gleich zugänglich bleiben. Ich
glaube, da haben wir in Deutschland einen Vorteil, den
wir nicht abschaffen wollen.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Eben!)


Wir wollen eine vorläufige Nutzenbewertung, die zur
Verordnungsfähigkeit führt, aber eben auch eine endgül-
tige Kosten-Nutzen-Bewertung mit der Möglichkeit des
Regresses, wenn der bis dahin vom Hersteller festge-
legte Preis überteuert war.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Jetzt sage ich noch etwas zu den Rabattverträgen.
Was wir eben vom Staatssekretär gehört haben, hört sich
so wunderschön patientenverträglich an.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Ist es auch!)


Man kann Geld mitbringen, und dann bekommt man ein
Arzneimittel, das nicht rabattiert ist. Sagen Sie doch
gleich, dass Sie die Rabattverträge abschaffen wollen.

(Ulrike Flach [FDP]: So ein Quatsch! Das darf doch nicht wahr sein!)


Dann gibt es Arzneimittel erster und zweiter Klasse, und
die Patienten können Geld mitbringen. Dann aber nutzt
dem Hersteller sein Rabattangebot nichts mehr, weil er
die Grundlage dessen, nämlich den breiten Marktzu-
gang, nicht mehr realisieren kann. Weiterhin müssen Pa-
tienten, die ein bestimmtes Arzneimittel wollen, Geld
mitbringen. Das ist Zweiklassenmedizin. Das setzt die
Rabattverträge de facto außer Kraft. Dazu müssen Sie
stehen, und dann werden wir darüber streiten.

Aber wenn Sie in Sachen Rabattverträgen etwas tun
wollen, dann können Sie das tun. Da gibt es durchaus
Handlungsbedarf. Ich meine diejenigen Rabattverträge,
die von Originalherstellern über die Dauer der Patent-
laufzeit hinaus geschlossen werden, um den Wettbewerb
durch Generikahersteller zu verhindern. Da ist Hand-
lungsbedarf, und dafür würden Sie unsere Unterstützung
haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich sage: Zu Risiken und Nebenwirkungen Ihrer Vor-
schläge schauen Sie in die Nachbarländer oder fragen
Sie uns, die Opposition. Wir haben gute Vorschläge.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Heinz Lanfermann [FDP]: Es gibt Leute, die wollen keine grünen Pillen schlucken!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703711400

Das Wort hat jetzt der Kollege Stephan Stracke von

der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Stephan Stracke (CSU):
Rede ID: ID1703711500

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich die
Diskussionsbeiträge der Opposition zu den Fragestellun-
gen höre, dann ist Gesundheitspolitik bei der christlich-
liberalen Koalition am besten aufgehoben. Dafür brau-
chen wir Sie und Ihre Ratschläge nur bedingt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Gesundheitspolitik ist eine der wichtigsten gesell-
schafts- und sozialpolitischen Herausforderungen der
Zukunft. Ist gerade in der ersten Hälfte des Lebens die
Bildungspolitik von herausragender Bedeutung, so ist es
sicherlich die Gesundheitspolitik für die zweite Lebens-
hälfte. Gerade in einer Situation, in der ein Versicherter
zum Patienten wird, also in einer Lebenskrise – das sind
häufig extreme Krankheitsfälle –, will jeder von uns die
Gewissheit haben, dass ihm geholfen wird, dass alles ge-
tan wird, damit er eine Perspektive auf Heilung hat oder
zumindest seine Lebenssituation verbessert wird. Dabei
spielt die Arzneimittelversorgung eine nicht unerhebli-
che Rolle. Ich möchte, dass auch in Zukunft jeder von
uns Zugang zu den besten und wirksamsten Arzneimit-
teln hat. Notwendige Voraussetzung hierfür sind leis-





Stephan Stracke


(A) (C)



(D)(B)

tungsstarke Unternehmen, die in Forschung und Ent-
wicklung investieren; denn exzellente Arzneien setzen
exzellente Forschung voraus, und da ist Deutschland
Weltspitze.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich will, dass wir hier Weltspitze bleiben. Ich will, dass
Forschung und Entwicklung hier stattfinden, und ich
will, dass es sich hier in Deutschland auch für Phar-
maunternehmen lohnt, zu investieren.

Wer neue, gute Ideen und Produkte auf den Markt
bringt, soll auch einen größeren Gewinn als derjenige
machen können, der althergebrachte Produkte anbietet.
Das Bessere soll sich durchsetzen. Das ist der Kernpunkt
unserer Arzneimittelpolitik, der Politik der christlich-
liberalen Koalition. Wir wollen gute Leistung belohnen
und nicht schlechte. Gutes Geld für gute Leistung. So
einfach ist das. Wir wollen bei neuen Medikamenten in
Zukunft nur noch dann mehr bezahlen, wenn ein echter,
tatsächlich bewiesener Zusatznutzen vorliegt, nicht al-
lerdings für einen bloß scheinbaren, behaupteten.

Genau diesen Weg beschreiten wir mit der Umset-
zung der Eckpunkte, die die christlich-liberale Koalition
vorgelegt hat. Entscheidend hierbei ist für mich, dass wir
die Balance zwischen Innovation auf der einen Seite,
Frau Bender, und Bezahlbarkeit auf der anderen wahren.
Dazu sind die Dinge, die Sie ansprechen, etwa die Posi-
tivliste, sicherlich nicht geeignet; sie gehören in die Mot-
tenkiste der Staatsmedizin. Sie haben keine sinnvollen
Ansätze und schaden insbesondere dem Vertrauensver-
hältnis zwischen Arzt und Patient. Entscheiden sollte
nicht der Staat, sondern allein der Arzt im Zusammen-
wirken mit den Patienten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir müssen die Kostendynamik im Blick behalten.
Nur dadurch schaffen wir es, dass sämtliche Patientin-
nen und Patienten einen schnellen Zugang zu unseren
fortschrittlichen Medikamenten haben.

Ich will nicht verschweigen: Natürlich brauchen wir
auch kurzfristige Entlastungsmaßnahmen. Dazu dient
beispielsweise, den Abschlag für Arzneimittel ohne
Festbetrag von derzeit 6 Prozent auf 16 Prozent zu erhö-
hen. Das kann allerdings gerade bei generikafähigen
Arzneimitteln ohne Festbetrag dazu führen, dass es hier
zu einer Kumulation von Abschlägen auf 26 Prozent
kommt. Das ist sicherlich eine unangemessen hohe Be-
lastung. Da werden wir mit den entsprechenden Rege-
lungen abhelfen. Damit tragen wir auch dem Umstand
Rechnung, dass die Preise im generikafähigen Markt im
Gegensatz zu den Preisen im patentgeschützten gesun-
ken sind.

Dies zeigt: Mit unseren Eckpunkten haben wir eine
ausgewogene Lösung gefunden, die den Interessen der
Patienten genauso gerecht wird wie denen der Industrie.
Diese Eckpunkte werden wir zügig umsetzen. Ich lade
alle konstruktiven Kräfte ein, uns in diesem Prozess zu
begleiten.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1703711600

Das Wort hat die Kollegin Bärbel Bas von der SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD – Jens Spahn [CDU/CSU]: Vielleicht sagt sie ja was zum Antrag!)



Bärbel Bas (SPD):
Rede ID: ID1703711700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Herr Bahr hat vorhin so
schön geschildert, in welcher Lage er die Kassen vorge-
funden hat. Man kann durchaus sagen, dass die gesetzli-
che Krankenversicherung in diesem Jahr in eine schwie-
rige Lage kommt. Maßgeblich verantwortlich dafür sind
die seit Jahren steigenden Arzneimittelausgaben. Diese
Erkenntnis ist wahrlich nicht neu. Das war auch der
Stand der Dinge im letzten Jahr. Nicht umsonst haben
der Schätzerkreis und die Krankenkassen davor gewarnt
und Alarm geschlagen.

Schauen wir uns das Ganze einmal an: Allein im Fe-
bruar sind die Arzneimittelausgaben im Vergleich zum
Vorjahr um 5,5 Prozent gestiegen. Sie haben vorhin von
Ihren Taten gesprochen. Was hat die Bundesregierung
denn getan, seit sie diesen Zustand im letzten Jahr vorge-
funden hat?


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Was haben Sie denn elf Jahre lang getan?)


– Ich komme jetzt auf Ihre Taten zu sprechen. – Sie wa-
ren erst einmal vollauf damit beschäftigt, Steuerge-
schenke an Hoteliers zu verteilen; das war die erste Auf-
gabe, die Sie erledigt haben.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: So ist es! – Stephan Stracke [CDU/CSU]: So ein Blödsinn!)


Außerdem haben Sie monatelang über die Kopfpau-
schale gestritten, anstatt diejenigen Defizite zu beseiti-
gen, die Sie angeblich vorgefunden haben.

Was hat das Bundesministerium für Gesundheit im
letzten Jahr getan? Man hat mit dem Institutsleiter des
IQWiG erst einmal eine pharmakritische Stimme aus
dem Weg geräumt.


(Beifall bei der SPD)


Das war eine der Taten, die Sie im letzten Jahr begangen
haben; daran sollte man einmal erinnern. Anschließend
sind Sie zu den Arzneimittelherstellern gegangen und
haben sich Tipps geholt, wie man die Ausgaben für Arz-
neimittel senkt. Das finde ich auch sehr interessant.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Können wir mal was zu Ihrem Antrag hören?)


Da machen Sie den Bock zum Gärtner.

Dabei ist der Minister tatsächlich als – das muss man
ihm zugestehen – bissiger Tiger abgesprungen. Ich will
an folgenden Satz von ihm erinnern – er hat mich schwer
beeindruckt –: „Wir wollen das Preismonopol der Phar-
maindustrie brechen.“ Das Einzige, was Sie brechen,
sind Ihre Wahlversprechen; das muss man einmal deut-
lich sagen. Landen werden Sie mit Ihren derzeitigen





Bärbel Bas


(A) (C)



(D)(B)

Vorschlägen allenfalls als zahnloser Bettvorleger der
Pharmaindustrie. Von Ihren Vorschlägen wird nichts üb-
rig bleiben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ulrike Flach [FDP]: Wir haben gedacht, Sie würden uns einmal erzählen, was die SPD will!)


Sie präsentieren uns immer wieder das gleiche Schau-
spiel: Sie kündigen große Reformen an, und anschlie-
ßend werden sie von Ihrem Koalitionspartner infrage ge-
stellt. Grundsätzlich könnte man sich an diesem
Schauspiel ergötzen, wenn man nicht wertvolle Zeit da-
mit verschwenden würde.


(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Wir haben elf Jahre verschwendet mit Ihnen!)


Schlimmer noch: Sie haben der gesetzlichen Kranken-
versicherung für das erste Halbjahr 2010 finanziellen
Schaden zugefügt. Sie hätten Ihre Vorschläge schon zum
Ende des Jahres 2009 umsetzen können.


(Ulrike Flach [FDP]: Warum haben Sie denn nichts gemacht?)


Sechs Monate später kommen Sie dann mit der Erhö-
hung des Herstellerrabatts – zugegebenermaßen ein gu-
ter kurzfristiger Vorschlag – und einem Preismorato-
rium. Das hätten Sie schon früher haben können. Sie
brauchten aber sechs Monate, um sich das auszudenken.


(Lars Lindemann [FDP]: Nein, weil wir da nicht stehenbleiben wollen! Wir machen ja noch mehr! – Zuruf von der CDU/CSU: Die Einarbeitungsphase!)


Sie haben damit der gesetzlichen Krankenversicherung
einen finanziellen Schaden zugefügt, und der geht auf
Ihre Rechnung, den können Sie uns nicht anlasten.


(Zuruf von der CDU/CSU: Tun wir auch nicht!)


Jetzt sage ich eins: Das passt Ihrer Koalition auch gut
in den Kram; denn hinter diesem Zaudern und Zögern
steckt eiskaltes Kalkül – wenn Sie mich fragen. Sie wol-
len das Problem der gesetzlichen Krankenversicherung
eskalieren. Sie wollen, dass das umlagefinanzierte Sys-
tem an die Wand fährt,


(Zuruf von der CDU/CSU: Was? Ach nee! Das ist unmöglich!)


um Ihre fixe Idee einer Kopfpauschale umsetzen zu kön-
nen.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Kamelle, Kamelle!)


Diese wollen Sie dann als Wundermittel für die gesetzli-
che Krankenversicherung aus dem Hut zaubern.

So blind werden die Menschen nicht sein; sie werden
auf diese Kopfpauschale nicht hereinfallen. Sie werden
spätestens am 9. Mai 2010 in Nordrhein-Westfalen von
den Wählerinnen und Wählern die Quittung dafür be-
kommen.


(Ulrike Flach [FDP]: Ich glaube, erst einmal sind Sie dran mit der Quittung! – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Zur Sache! – Jens Spahn [CDU/CSU]: Da wird über Landespolitik abgestimmt!)


Die SPD steht und kämpft auch in der Zukunft für die
gesetzliche Krankenversicherung, weil sie uns nicht egal
ist. Uns ist auch nicht egal, dass die Ausgaben aus dem
Ruder laufen


(Ulrike Flach [FDP]: Das ist doch mal was Neues!)


oder dass weitere Krankenkassen Zusatzbeiträge erhe-
ben müssen. Wir wollen, dass die gesetzliche Kranken-
versicherung auch in Zukunft ihren Versicherten wirk-
same und innovative Medikamente bezahlen kann.
Deshalb müssen die Qualität und die Wirtschaftlichkeit
der Arzneimittelversorgung verbessert werden.

Greifen Sie deshalb unsere Vorschläge für eine effek-
tive Arzneimittelversorgung auf.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Welche denn? – Ulrike Flach [FDP]: Welche sind das denn?)


Das ist zum einen die Positivliste, das sind zum anderen
europäische Durchschnittspreise, und das ist die Teilung
des finanziellen Risikos zwischen Krankenkassen und
Pharmaindustrie bei innovativen Krebstherapien. Und
zur Zulassung von neuen Arzneimitteln gehört eine Kos-
ten-Nutzen-Bewertung. Das ist wichtig, und nur damit
werden Sie das Preismonopol tatsächlich brechen.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD – Jens Spahn [CDU/ CSU]: Stückwerk, alles Stückwerk! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703711800

Das Wort hat der Kollege Michael Hennrich für die

Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Michael Hennrich (CDU):
Rede ID: ID1703711900

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Weshalb haben wir heute eine Debatte über das
Thema Arzneimittelversorgung? Hintergrund: Die
Union hat gemeinsam mit der FDP im März 2010 ein
Eckpunktepapier zur Arzneimittelversorgung vorgelegt,
das bei den Versicherten, bei der Presse und bei den
Krankenversicherungen begeisterten Widerhall gefun-
den hat.


(Lachen des Abg. Dr. Karl Lauterbach [SPD])


Frau Nahles kritisiert das Papier als Mogelpackung,
taucht in die Versenkung ab und lässt ihre Arbeitsgruppe
Gesundheitspolitik damit allein. Hier stellt sich jetzt die
Frage: Was machen wir mit dem Eckpunktepapier? Sie
schauen sich das scheinbar etwas genauer an, sehen, dass
da gar nicht so viel enthalten ist, was Sie kritisieren
könnten, übernehmen das in vielen Punkten, garnieren es
mit einer Positivliste und denken, irgendwie kämen Sie
damit durch. In der Debatte heute haben Sie mehr oder





Michael Hennrich


(A) (C)



(D)(B)

weniger überhaupt nichts Konkretes zu Ihrem Papier ge-
bracht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Heinz Lanfermann [FDP]: Genau so war es!)


Es ist schon bezeichnend, dass die Partei der Linken
sagt, dass einiges aus unserem Papier zustimmungsfähig
sei.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Das müsste eher nachdenklich machen!)


Sie konnten sich dazu nicht durchringen.

Auch die Grünen haben mit unserem Papier Schwie-
rigkeiten gehabt. Sie hatten vier, fünf Wochen Zeit, sich
das Papier anzuschauen. Sie haben auch wenig gefun-
den, was Sie kritisieren können


(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber Wichtiges!)


– das sage ich auch ganz offen –, haben aber zumindest
inhaltlich einige Punkte in Ihrem Papier, über die wir
hier in der Debatte und bei den Anhörungen sicher spre-
chen können.

Was ist der Hintergrund unseres Eckpunktepapieres?
Wichtig ist uns als Union, dass wir eine qualitativ hoch-
wertige Arzneimittelversorgung sicherstellen können,
aber zu vernünftigen Preisen, und vor allem, dass wir
auch verlässliche Rahmenbedingungen für Innovationen
und Arbeitsplätze schaffen. Deshalb haben wir zu einem
relativ frühen Zeitpunkt unser Papier vorgelegt. Das
werden wir auch konsequent umsetzen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir stecken
in einer großen Wirtschafts- und Finanzkrise. Die Auf-
träge sind im Maschinenbau teilweise um 50 Prozent zu-
rückgegangen. Wir haben eine hohe Zahl an Kurzarbei-
tern. Wir sind beim Abbau der Arbeitslosigkeit nicht so
weit vorangekommen, wie wir uns das erhofft haben. All
das hat unmittelbare Auswirkungen auf das System der
gesetzlichen Krankenversicherung. Deswegen dürfen
wir die Frage, wie wir die Finanzprobleme lösen, nicht
nur im Zusammenhang mit der Einnahmeseite debattie-
ren, sondern wir müssen auch schauen: Was können wir
auf der Ausgabenseite tun?

Es war und ist vollkommen richtig, zunächst einmal
beim Thema Arzneimittel anzusetzen; denn die Arznei-
mittelindustrie ist im Gegensatz zu vielen anderen relativ
gut durch die Krise gekommen. Schließlich liegen die
Umsatzrenditen einiger Pharmaunternehmen bei weit
über 20 Prozent. Daher ist es richtig, dass die Arzneimit-
telindustrie ihren Solidarbeitrag leistet.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich will auch ganz klar sagen: Es geht hier nicht um
Pharma-Bashing. Es geht nicht darum, dass wir die Arz-
neimittelindustrie an den Pranger stellen und sagen wol-
len: Ihr seid an der schwierigen Situation im System der
gesetzlichen Krankenversicherung hinsichtlich der Fi-
nanzierung schuld. Arzneimittel leisten einen wesentli-
chen Beitrag bei der Therapie und beim Behandlungser-
folg. Ich verstehe nicht, wenn immer wieder kritisiert
wird, dass der Arzneimittelblock der zweitgrößte Block
bei den Ausgaben im GKV-System ist. Vom Handaufle-
gen alleine ist noch keiner gesund geworden. Wenn wir
so weit sind, können wir sicherlich auch die Preise sen-
ken. Das sage ich auch ganz klar in Richtung der Ärzte.
Die Pakete und Maßnahmen, die wir auf den Weg brin-
gen, sind im Einzelnen schon vorgestellt. Ich möchte da-
rauf gar nicht weiter eingehen.

Ich möchte zum Schluss meiner Rede zwei Aspekte
ganz gezielt aufgreifen.

Bei dem ersten Aspekt geht es um Rabattverträge. Es
hat immer geheißen, die Union sei für eine Abschaffung
der Rabattverträge. Das war überhaupt nicht der Fall.
Wir haben gesagt: Wir wollen, dass die Substitutions-
pflicht aufgehoben wird.


(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann sind sie doch kaputt!)


– Das stimmt doch überhaupt nicht. Sie haben doch die
Möglichkeit, die Rabattverträge in Selektivverträge, in
Versorgungsverträge und Ähnliches zu integrieren. Das
wäre durchaus möglich gewesen. Wir aber haben uns mit
der FDP geeinigt,


(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach so!)


dass wir die Rabattverträge weiterentwickeln. Was wir
wollen, ist, die Souveränität und Eigenverantwortung
der Patienten zu stärken. Das ist ein ganz wesentliches
Ziel.


(Dr. Karl Lauterbach [SPD]: Ausnehmen! – Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihr macht die Verträge kaputt!)


– Darum brauchen Sie sich überhaupt keine Sorgen zu
machen.

Ich möchte einen zweiten Aspekt anbringen. Wir soll-
ten das Thema Arzneimittelpreise und Arzneimittelkos-
ten nicht nur im Zusammenhang mit der gesetzlichen
Krankenversicherung prüfen. Es ist wichtig – das gebe
ich an das Ministerium weiter –, zu prüfen, ob es mög-
lich ist, im Bereich der privaten Krankenversicherung
Einsparungen zu erreichen. Wir werden uns in den
nächsten Tagen und Wochen damit beschäftigen, wie wir
das erreichen können.

Als Fazit bleibt am Ende übrig: Es gibt Kritik vonsei-
ten der Pharmahersteller, und es gibt Kritik von Herrn
Lauterbach. Beides zeigt mir sehr deutlich, dass wir auf
dem richtigen Weg sind.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703712000

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/1201, 17/1206 und 17/1418 an die





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)

in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
aufsichtsrechtlichen Anforderungen an die
Vergütungssysteme von Instituten und Versi-
cherungsunternehmen

– Drucksachen 17/1291, 17/1457 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla-
mentarische Staatssekretär Hartmut Koschyk.


(Beifall bei der CDU/CSU)


H
Hartmut Koschyk (CSU):
Rede ID: ID1703712100


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Von Anfang an hat die Bundesregierung im Zuge der in-
ternationalen Finanzmarktkrise darauf gedrungen, auf
internationaler Ebene zu Vereinbarungen zu kommen,
mit denen auch die Vergütungssysteme für den Banken-
und Versicherungsbereich in Angriff genommen werden.
Die Bundesregierung hat auf solche Vereinbarungen ge-
drungen. Der Finanzstabilitätsrat hat auf internationaler
Ebene Ergebnisse vorgelegt, die von den G 20, also den
20 führenden Wirtschaftsnationen dieser Welt, gebilligt
worden sind. Mit dem Gesetzentwurf, den wir dem Par-
lament heute vorlegen, setzt die Bundesregierung diese
internationalen Vereinbarungen, auf die sie gedrängt hat,
in Rekordzeit in innerdeutsches Recht um.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Darüber sind wir uns im Klaren: Mit der Regulierung
der Vergütungspraktiken im Finanzbereich muss eine we-
sentliche Ursache der Finanzmarktkrise angegangen wer-
den, nämlich die übermäßige Übernahme von Risiken
durch die Finanzmarktakteure selbst. Die gängigen Ver-
gütungsstrukturen im Finanzsektor – darüber besteht Ein-
vernehmen – haben zur Verschärfung der Situation auf
den internationalen Finanzmärkten beigetragen. Denn
eine Vergütungspolitik, die auf kurzfristigen Erfolg aus-
gerichtet ist und die einseitigen Erfolg belohnt, ohne
Misserfolg hinreichend zu sanktionieren, verleitet dazu,
den langfristigen und nachhaltigen Unternehmenserfolg
aus dem Blick zu verlieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Finanzmarktkrise hat deutlich gezeigt, dass die
durch eine verfehlte Vergütungspolitik gesetzten Fehlan-
reize zu Risiken nicht nur für die Stabilität einzelner Un-
ternehmen, sondern auch für die gesamte internationale
Finanzmarktarchitektur führen können. Deshalb setzen
wir diesen internationalen Ansatz schnellstmöglich in
deutsches Recht um. Bei dem Gesetzentwurf handelt es
sich um den letzten Schritt eines dreistufigen Maßnah-
menpaketes der Bundesregierung.

In einem ersten Schritt haben sich bereits im Dezem-
ber 2009 acht große deutsche Banken und die drei größ-
ten deutschen Versicherungsunternehmen freiwillig zur
Umsetzung dieses internationalen Standards verpflichtet.
In einem zweiten Schritt hat ebenfalls im Dezember
2009 die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsauf-
sicht durch zwei aufsichtsrechtliche Rundschreiben
nachgesteuert und den Instituten diese internationalen
Regelungen zur Auflage gemacht. Jetzt geben wir dem
Ganzen eine rechtssichere, gesetzgeberische Unterlage.
Wir ändern durch das vorliegende Gesetz das Kreditwe-
sengesetz und das Versicherungsaufsichtsgesetz. Banken
und Versicherungen werden nun angemessene, transpa-
rente und auf eine nachhaltige Entwicklung ausgerich-
tete Vergütungssysteme vorweisen müssen. Die näheren
Einzelheiten werden wir durch zwei Rechtsverordnun-
gen zeitnah regeln.

Durch dieses Gesetz schaffen wir jetzt die Möglich-
keit, dass aufgrund der wirtschaftlichen Situation eines
Finanzinstituts – sei es eine Bank, sei es ein Versiche-
rungsunternehmen – unangemessen hohe Bonuszahlun-
gen unterbunden werden können. Hierzu wird die Bun-
desanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht befähigt, im
Falle der Unterschreitung von aufsichtsrechtlichen An-
forderungen die Auszahlung variabler Vergütungsbe-
standteile zu untersagen oder auf einen bestimmten An-
teil des Jahresergebnisses zu beschränken.

Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, Deutsch-
land gehört mit der heute vorgelegten Umsetzung inter-
nationaler Anforderungen zur führenden Ländergruppe.
Dies hat eine Überprüfung durch den Finanzstabilitätsrat
ergeben, deren Ergebnisse kürzlich veröffentlicht wur-
den. Aber ich sage sehr deutlich: Was wir heute als Ge-
setzentwurf vorlegen, ist nur ein Stein eines Mosaiks, zu
dem sehr viele Elemente gehören, die bereits in parla-
mentarischer Arbeit sind. Auch die Bundesregierung ar-
beitet daran und wird dem Parlament in Kürze dazu wei-
tere Gesetzentwürfe vorlegen. Ich möchte an dieser
Stelle erwähnen, dass im Parlament zurzeit über die
Neuregelung der Aufsicht über die Ratingagenturen be-
raten wird. Die Bundesregierung arbeitet an einem Insol-
venz- und Restrukturierungsrecht für Banken, das wir
mit einer Fondslösung koppeln wollen. Dabei ist eine
Bankenabgabe vorgesehen, mit der risikoadjustiert Vor-
sorge für die Zukunft getroffen werden soll. Mit den
Eckpunkten, die wir in diesem Bereich vorgelegt haben,
befinden wir uns im Vorfeld der IWF-Tagung in einem
bemerkenswerten internationalen Einklang, wie wir fest-
stellen konnten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der IWF wird jetzt erste Vorschläge in Washington vor-
legen, die in Richtung Abgabenlösung zielen. Die Bun-
desregierung hat dazu schon ein Eckpunktepapier vorge-
legt.





Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk


(A) (C)



(D)(B)

Heute wird ein wichtiger Stein in ein Mosaik einge-
fügt, zu dem viele weitere Mosaiksteine kommen werden.
Ich bitte um zügige Beratung dieses wichtigen Gesetzent-
wurfs der Bundesregierung, mit dem internationale Stan-
dards in Rekordzeit umgesetzt werden sollen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703712200

Das Wort hat der Kollege Manfred Zöllmer für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Manfred Zöllmer (SPD):
Rede ID: ID1703712300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die „chronische Bonitis“ der Banker ist noch lange nicht
verheilt. Britische Medien haben jetzt berichtet, dass
Goldman Sachs für das erste Quartal Boni in Höhe von
3,5 Milliarden Pfund auszahlen will. Zu Risiken und Ne-
benwirkungen schauen Sie sich einfach einmal an, was
die US-Börsenaufsicht SEC ermittelt hat. Die Börsen-
aufsicht wirft Goldman Sachs vor, Anleger mit einem Fi-
nanzprodukt getäuscht und um mehr als 1 Milliarde Dol-
lar gebracht zu haben.


(Björn Sänger [FDP]: Was nicht in Ordnung ist!)


Wenn das richtig ist, dann war das ein kriminelles Ver-
halten.


(Björn Sänger [FDP]: Richtig!)


Investmentbanker werden mit extremen Gehältern
eingekauft, um mit extrem riskanten Produkten extreme
Gewinne zu erwirtschaften. Das erinnert letztendlich an
Drogendealer. Der Unterschied liegt einzig und allein
darin, dass deren Geschäft durch Gesetz verboten ist und
ihre Gewinnspannen nicht so hoch sind wie die auf dem
Finanzsektor.


(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Ein kleiner Unterschied ist da schon noch!)


Wir müssen feststellen: Die Superboni, die Gehaltsex-
zesse gehen weiter. Im Jahre 2006 schütteten allein die
großen Wall-Street-Banken Boni von umgerechnet rund
25 Milliarden US-Dollar aus. Mit solchen Summen
könnte man ein Land wie Griechenland – immerhin ein
10-Millionen-Volk – nachhaltig sanieren. Dies zeigt die
Dimension und den Wahnsinn solcher Vergütungssys-
teme.

Die weltweite Finanzkrise, die inzwischen zu einer
Wirtschafts- und Staatenkrise wurde, hat nicht nur eine
Ursache, sondern ist das Ergebnis verschiedener Fakto-
ren. Ein ganz wichtiger Faktor in diesem Zusammenhang
ist ein vollkommen verfehltes Vergütungs- und Anreiz-
system in der Finanzbranche, wie es in den vergangenen
Jahren praktiziert wurde. Dies sind Exzesse, die sich in
keiner Weise an individueller Leistung, beruflicher Er-
fahrung, Ausbildung oder Können orientieren.
Häufig argumentieren die Banker, geringere Gehälter
seien im Kampf um die besseren Köpfe ein Nachteil. Sie
würden die Dynamik der Branche bremsen und damit
der ganzen Wirtschaft schaden. Eine solche Argumenta-
tion ist falsch. Wissenschaftliche Untersuchungen zei-
gen, dass ein Großteil der besten Universitätsabsolven-
ten in diesen Bereich gehen und nicht dorthin, wo sie
gesellschaftlich Nützliches leisten könnten. Dies ist,
volkswirtschaftlich gesehen, eine Verschwendung von
Humankapital. Es gibt überhaupt keinen ökonomischen
Grund, diese Gehaltsexzesse zu akzeptieren.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Gier lässt sich ökonomisch nicht legitimieren.

Die besonders aggressiven Vergütungssysteme der
letzten Jahre haben Banker dazu angespornt, unvertretbar
hohe Risiken zum Schaden der Gesamtökonomie einzu-
gehen. Die schnelle Rendite und Superprofite konnten
nur durch ganz hohe Risiken im Eigenhandel, bei Ver-
briefungen und durch exotische Produkte erreicht wer-
den. Die Vergütung setzte an ganz vielen Punkten falsche
Anreize, etwa bei den Finanzmarktgurus, die riskante
Produkte entwickelten, bei den Ratingagenturen, die
umso mehr verdienten, je mehr Papiere sie mit einer mög-
lichst hohen Benotung ausstatteten, bei Anlageberatern,
die ihren Kunden die vermeintlich sicheren und guten
Produkte untergeschoben haben, letztlich auch deswegen,
weil sie hierfür Provisionen bekamen.

Bei der G 20 und dem Financial Stability Board hatte
man sich auf multilaterale Standards für verantwortungs-
volle und transparente Vergütungssysteme geeinigt.

Es ist richtig, dies nun verbindlich in Gesetzesform zu
gießen und nicht nur auf die vorliegende Selbstverpflich-
tung der großen deutschen Banken und der größten Ver-
sicherungsunternehmen zu vertrauen. Dieses Gesetz ist
die Fortführung der neuen Vergütungsregeln für Vor-
stände, die wir noch in der Großen Koalition mit dem
Gesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung in
Kraft gesetzt haben.

Es ist grundsätzlich richtig, wenn die Vergütungssys-
teme angemessen und transparent gestaltet werden sollen
und sich an einer nachhaltigen Unternehmensentwick-
lung ausrichten, also nicht mehr nur den kurzfristigen
Gewinn zum Maßstab der Vergütung machen. Feste Ver-
gütungsbestandteile müssen gestärkt, variable zurückge-
drängt werden.

Der Gesetzentwurf stärkt die Eingriffsrechte der
BaFin. Sie soll die Möglichkeit erhalten, im Falle der
Unterschreitung oder der drohenden Unterschreitung be-
stimmter aufsichtsrechtlicher Kapitalanforderungen die
Auszahlung variabler Vergütungsbestandteile zu unter-
sagen, auch bei Rechtsansprüchen aus bestehenden Ar-
beitsverträgen. Dies ist richtig; denn es kann nicht sein,
dass sich im Extremfall einzelne Personen üppige Boni
genehmigen, während die Allgemeinheit ein Institut mit
Steuermitteln stützen muss.





Manfred Zöllmer


(A) (C)



(D)(B)

Mit diesem Gesetz wird die wichtige Aufsichtsfunk-
tion der BaFin gestärkt; dies ist richtig so. Wir halten es
auch für richtig, Aufsichtsratsmitglieder einzubeziehen.
Variable Vergütungsbestandteile für Aufsichtsratsmit-
glieder vermag ich sowieso nicht nachzuvollziehen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich
jetzt ein paar Worte zu den Schwachstellen des Gesetz-
entwurfes sagen. Unserer Meinung nach müssen ange-
messene Sanktionsmöglichkeiten bestehen, wenn ein
Unternehmen gegen das Gebot verstößt, solide Vergü-
tungspraktiken zu implementieren. Sie fehlen aber.

Darüber hinaus ist es notwendig, zu überlegen, wel-
cher Personenkreis erfasst werden soll. Problematisch ist
es, wenn hier nicht differenziert wird. Das Problem ist
nicht der einfache Sachbearbeiter oder der Pförtner. Das
Problem sind die Häuptlinge, nicht die Indianer. Hier
wird nicht entsprechend differenziert. Außerdem möchte
ich daran erinnern, dass wir in Deutschland Tarifautono-
mie haben. Wir müssen sie entsprechend stärken.

Ich bin ferner davon überzeugt, dass sich mancher
Anreiz eines abenteuerlichen Bonisystems erübrigen
würde, wenn wir deren steuerliche Absetzbarkeit be-
grenzen und einschränken würden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir Sozialdemokraten haben dies schon in der letzten
Legislaturperiode gefordert, sind aber am Veto der
Union gescheitert.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das stimmt allerdings! Wohl wahr! Ich erinnere mich genau!)


Wenn wir die Absetzbarkeit einschränken würden, wür-
den wir verhindern, dass der normale Steuerzahler die-
sen Boni-Irrsinn mitfinanziert. Dies ist nicht vorgesehen;
das bedauern wir sehr.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Insgesamt ist der vorliegende Gesetzentwurf ein
Schritt in die richtige Richtung. Wir sind es der ökono-
mischen Stabilität unseres Landes schuldig, hinrei-
chende Regeln zu schaffen, die die Finanzbranche ernst-
haft an den Kosten der Krise beteiligt, neue wahnwitzige
Spekulationen und Krisen verhindert. Wir brauchen des-
halb Vergütungssysteme, die nicht einen Irrwitz beför-
dern, bei dem sich wenige auf Kosten von Millionen
maßlos bereichern. Wir sollten die Krankheit der „chro-
nischen Bonitis“ im Finanzsystem dauerhaft ausrotten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703712400

Das Wort hat der Kollege Björn Sänger für die FDP-

Fraktion.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Björn Sänger (FDP):
Rede ID: ID1703712500

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Der italienische Dichter Dante Alighieri hat ein-
mal gesagt:

Der Weg zum Ziel beginnt an dem Tag, an dem du
die hundertprozentige Verantwortung für dein Tun
übernimmst.

Im Hinblick auf die Bewältigung der Finanzkrise befin-
den wir uns am Beginn eines solchen Weges, der zu ei-
ner neuen Verantwortungskultur führt; sie ist das Ziel
dieser christlich-liberalen Koalition.

Ich möchte einen Blick auf die tragende Säule der
Realwirtschaft werfen. Die tragende Säule der Realwirt-
schaft ist der Mittelstand. Der Mittelstand arbeitet er-
folgreich. Der Mittelstand muss nicht staatlich gestützt
werden. Er trägt vielmehr durch seine erfolgreiche Ar-
beit dazu bei, die Basis für die Stützungsmaßnahmen,
die in der Finanzwirtschaft notwendig geworden sind, zu
schaffen.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Die Boni aber auch!)


Der Mittelstand haftet persönlich, Herr Kollege Binding,
und das ist der Unterschied. Ich kenne viele Unterneh-
men, die in der Rechtsform eines Einzelunternehmens
arbeiten, obwohl ihre Mitarbeiterzahl im dreistelligen
Bereich liegt. Die Verantwortungskultur, die im Mittel-
stand, im Kern unserer Wirtschaft, vorhanden ist, gilt es,
auf die Finanzbranche zu übertragen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Das ist das Ziel dieser Bundesregierung. Sie hat sich
auf den Weg dazu gemacht. Das Kabinett hat die Ver-
dopplung der Verjährungsfristen von fünf auf zehn Jahre
bei Haftungsfällen in diesem Umfeld beschlossen. Bun-
desministerin Leutheusser-Schnarrenberger bereitet hier
entsprechende Maßnahmen vor. Aber es geht eben nicht
nur darum, den Haftungsfall zu regeln, sondern auch da-
rum, dafür zu sorgen, dass der Haftungsfall nach Mög-
lichkeit erst gar nicht eintritt. Dazu haben wir diesen Ge-
setzentwurf vorgelegt. Es geht noch um etwas anderes.
Ich möchte Otto Fürst von Bismarck zitieren, der einmal
gesagt hat: „Die Politik hat nicht zu rächen, was gesche-
hen ist, sondern zu sorgen, dass es nicht wieder ge-
schehe.“ Manchmal habe ich in diesem Haus ein biss-
chen das Gefühl, dass es ein klein wenig um Rache geht,
was natürlich aus der Emotionalität heraus verständlich
ist, uns aber nicht weiterbringt.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Wiedergutmachung!)


Der vorliegende Gesetzentwurf ist – Herr Staatssekre-
tär Koschyk hat es schon gesagt – ein Teil eines gesam-
ten Maßnahmenkataloges, den wir hier einbringen. Ein
Gesetzentwurf betreffend das Rating befindet sich in der
Beratung. Zur Bankenabgabe liegen Eckpunkte vor. Am
Insolvenzrecht wird gearbeitet. Schlussendlich wird der





Björn Sänger


(A) (C)



(D)(B)

gesamte Finanzmarkt neu reguliert. Der vorliegende Ge-
setzentwurf zielt auf den nachhaltigen Unternehmens-
erfolg ab. Da möchte ich wieder an den Mittelstand
erinnern. Das sind Familienunternehmen, die in Genera-
tionen und nicht in Quartalen denken. Das macht sie so
stabil und so erfolgreich.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Mit der vorgesehenen Transparenz bei den Vergü-
tungssystemen sorgen wir dafür, dass die Eigentümer,
die Aktionäre der Unternehmen – häufig sind es Aktien-
gesellschaften –, ihrer Verantwortung nachkommen und
genauer schauen können, welches Vergütungssystem es
in dem Unternehmen gibt, an dem sie beteiligt sind. Wir
wollen positive und negative Vergütungsparameter, weil
dort, wo ein Bonus ist, logischerweise auch immer ein
Malus sein muss. Es gibt zudem die Eingriffsmöglich-
keiten der BaFin, die die Rückzahlung von Boni veran-
lassen kann, wenn ein Unternehmen in eine Schieflage
gerät. Nicht, dass es so läuft wie auf der „Titanic“, wo
die Musik bis zum Letzten gespielt wurde.

Wir schließen mit diesem Gesetzentwurf an die gute
Praxis des SoFFin an, durch den bei den Unternehmen,
an denen der Staat beteiligt ist bzw. die gestützt wurden,
Gehaltsgrenzen eingeführt wurden. Diese Grenzen wer-
den – wir haben das an den Fällen gesehen, die jetzt auf-
getreten sind – nachhaltig eingehalten. Wer sich als Ma-
nager an diese Grenzen nicht halten möchte, hat auf dem
Arbeitsmarkt sicherlich die Möglichkeit, sich einen an-
deren Arbeitgeber zu suchen. Der Steuerzahler ist jeden-
falls nicht dafür verantwortlich, dass hier exzessiv Boni
gezahlt werden.

Die einzelnen Regelungen dieses Gesetzentwurfs
werden wir uns sicherlich im Zuge der Beratungen ge-
nau anschauen müssen. Da teile ich das, was der Kollege
Zöllmer gesagt hat. Das Problem sind nicht die Indianer,
sondern die Häuptlinge. Es geht nicht um den Bankbera-
ter, der beispielsweise für den Abschluss einer Lebens-
versicherung eine Provision erhält. Das Problem ist wei-
ter oben, oberhalb der Schalterhalle, angesiedelt. Wir
müssen schauen, dass wir mit dem Gesetz nicht über das
Ziel hinausschießen. Unser Ziel ist, die Verantwortungs-
kultur in der Finanzbranche insgesamt zu stärken.

Ich möchte mit einem Zitat von Antoine de Saint-
Exupéry – Kollegin Kressl mag ihn sehr gerne – schlie-
ßen: „Mensch sein heißt verantwortlich sein“. Wenn alle
in der Finanzbranche öfter daran gedacht hätten, gäbe es
die bestehenden Probleme wahrscheinlich nicht.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703712600

Das Wort hat der Kollege Harald Koch für die Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Harald Koch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703712700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die Entfesselung der Finanzmärkte und die
absurd überhöhten Renditeansprüche waren und sind
eine zentrale Ursache der momentanen Finanz- und
Wirtschaftskrise. Die frei vor sich hin flottierenden Fi-
nanzmärkte haben Vermögenden Renditen im zweistelli-
gen Bereich ermöglicht, wodurch die Umverteilung von
unten nach oben maßgeblich beschleunigt wurde. Ban-
ker wurden durch Bonuszahlungen üppig belohnt, wenn
sie die vorgegebenen Renditeziele erreichten, was frei-
lich nur durch hochriskante Geschäfte möglich war. Da
wundert es nicht wirklich, dass viele Finanzmarkt-
akteure nur noch von der Tapete bis zur Wand dachten,
sprich: sich allein am kurzfristigen Profit orientierten
und jegliches Risikomanagement wegdrückten.

Das Kasino war eröffnet, der unregulierte Zock an der
Tagesordnung. Eine Orientierung am gesamtwirtschaftli-
chen Interesse war schlichtweg out. Für Manager, Vor-
stände, Geschäftsleiter und Aufsichtsräte im Finanz- und
Versicherungssektor gab es eine reine Win-win-Situa-
tion. Gingen ihre Spekulationen auf, wurden sie mit ho-
hen Boni beglückt. Bei Misserfolg wurden sie dadurch
belohnt, dass es kaum Sanktionsmöglichkeiten, keine
Malusregelungen gab.

Die Zeche müssen wieder einmal die Bürgerinnen
und Bürger zahlen. Dies war und ist von dieser Regie-
rung und der Vorgängerregierung genauso gewollt. Die-
ser Zustand ist aber schon seit langem unhaltbar.


(Beifall bei der LINKEN)


Denn so, wie es bislang läuft, ist es doch kein Wunder,
dass langfristiges, soziales und nachhaltiges Wirtschaf-
ten aus dem Blick gerät. Auch im Gesetzentwurf do-
miniert trotz gegenteiliger Behauptungen die einzel-
wirtschaftliche Betrachtung und nicht nachhaltiges
volkswirtschaftliches Handeln. Was wird sich durch die-
ses Gesetz konkret ändern? Eine Bank, zu deren Ge-
schäftsmodell es zum Beispiel gehört, auf den Nieder-
gang anderer Unternehmen Wetten abzuschließen, wird
wohl nicht daran gehindert, so zu agieren wie bisher. Die
Bank ist nun höchstens ein bisschen mehr vor ihren eige-
nen Managern geschützt. In der Öffentlichkeit glänzt sie
im schönsten Lichte. Immerhin darf sie sich jetzt als
„nachhaltig ausgerichtet“ bezeichnen. Das zieht Kunden
und damit frisches Geld an.

Wir werden uns bei der Abstimmung über diesen Ge-
setzentwurf enthalten. Wir warten gespannt auf die kon-
krete Ausgestaltung mittels zweier Rechtsverordnungen.
Ich zweifle aber daran, dass die kommenden Einzelrege-
lungen für klare Einschnitte sorgen und so die Verursa-
cher der Krise nachhaltig zur Verantwortung gezogen
werden. Für mich gilt: Das Festgehalt muss die Grund-
lage jeder Entlohnung sein. Boni müssen strikt begrenzt
werden, zum Beispiel auf 10 Prozent vom Festgehalt.
Die Linke betont: Die Vergütung höherer Lohngruppen
darf nie zum Nachteil anderer Lohngruppen erfolgen
und nie durch Personalabbau gegenfinanziert werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren von der Regierungskoali-
tion, meine Fraktion und ich vermissen bei Ihnen alles in
allem ein schlüssiges Gesamtkonzept zur Bekämpfung
der Finanz- und Wirtschaftskrise.





Harald Koch


(A) (C)



(D)(B)


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das müssen Sie gerade sagen! – Björn Sänger [FDP]: Das ist an den Haaren herbeigezogen!)


Was Sie anbieten, sind kleine Mosaiksteinchen, mehr
nicht. Die strukturellen Probleme, die vor allem durch
die Verselbstständigung der Finanzsphäre ausgelöst wur-
den, lösen Sie damit allein jedenfalls nicht. Vielmehr
brauchen wir ein Gesamtpaket, das von der strikten Re-
gulierung des Finanzsektors und seiner Unterwerfung
unter gesellschaftliche Kontrolle über ein dauerhaftes
Zukunftsprogramm für Bildung, Verkehr und die Ener-
giewende sowie zwei Millionen neuer Jobs bis hin zu ei-
ner viel gerechteren Verteilung von Einkommen und
Vermögen reicht.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703712800

Das Wort hat der Kollege Dr. Gerhard Schick für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Frage nach den Boni und den Finanzmärkten ist ei-
gentlich ein Aufregerthema. Leute, die vor kurzem ihr
Institut in den Sand gesetzt haben und dazu beigetragen
haben, dass die Finanzmärkte wackeln, verdienen daran
teilweise Millionen. Es sieht so aus, als wäre nichts ge-
wesen.

Wenn man diese Debatte verfolgt, hat man aber nicht
den Eindruck, dass wir es mit einem Aufregerthema zu
tun haben. Woran liegt das? Das liegt daran, dass dieser
Gesetzentwurf im Endeffekt aus einem Satz besteht bzw.
in einem Satz zusammengefasst werden könnte, der rela-
tiv nüchtern ist: Die Finanzdienstleistungsaufsichtsbe-
hörde darf die Vergütungsmodelle von Banken und Ver-
sicherungen überprüfen. Das ist der Kern. Wesentlich
mehr beschließen wir nicht, wenn wir dieses Gesetz ver-
abschieden.


(Björn Sänger [FDP]: Wenn es so bleibt, dann ist es so!)


Es stellen sich verschiedene Fragen: Erstens. Ist es
ausreichend, nur dies zu tun? Der Staatssekretär hat ge-
sagt, dass es auch noch anderes gibt, dass das nur ein
Baustein ist. Wichtig aber ist, dass zentrale Bausteine an
dieser Stelle von Ihnen nicht vorgesehen sind; Herr
Zöllmer sagte das schon. Wir sind der Meinung, dass wir
auch steuerrechtlich etwas tun müssen, um Gehalts-
exzessen vorzubeugen und zu verhindern, dass die All-
gemeinheit daran beteiligt wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zweitens kann man sich fragen: Warum verlagert der
Gesetzgeber praktisch alle konkreten Fragen in eine Ver-
ordnung und überlässt sie dem Bundesministerium bzw.
der Finanzdienstleistungsaufsichtsbehörde? Ich meine,
dass wir konkrete Rahmenbedingungen, wie sie auf eu-
ropäischer Ebene schon vereinbart worden sind, in das
Gesetz hineinschreiben sollten und nicht alles auf den
Verordnungsgeber übertragen, also dahin auslagern soll-
ten, wo wir als Parlament nichts mehr zu sagen haben.
Nachher, wenn es auf den Finanzmärkten wieder kracht,
wird es heißen: Wer ist denn verantwortlich? Natürlich
haben wir in diesem Parlament eine Verantwortung.
Deswegen sollten zentrale Regelungen auch im Gesetz
stehen und nicht ausgelagert werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Vom Bundesrat wurden interessante Vorschläge in die
Diskussion eingebracht. Ich meine, es lohnt sich, diese
aufzugreifen. Der erste Vorschlag ist, dass wir uns nicht
nur der Frage der Stabilität widmen – sorgen die Boni
dafür, dass viel zu riskant gewirtschaftet wird? –, son-
dern auch mit der Frage befassen, ob die Vergütungssys-
teme – es geht also um das, was Einzelne in den Banken
verdienen – dazu beitragen, dass den Kunden die fal-
schen Produkte verkauft werden und die Beratung falsch
läuft. Ich finde diesen Vorschlag sehr gut. Wir sollten ihn
dringend aufgreifen; denn wir wissen, dass nicht nur
Verkaufslisten, sondern manchmal auch Anreizsysteme
dazu führen, dass ein Bank- oder Versicherungsberater
falsch berät und die Kunden auf die falschen Produkte
zurückgreifen. Deswegen sollten wir diesen Vorschlag
des Bundesrates unbedingt aufgreifen.

Der Bundesrat führt interessanterweise noch zwei an-
dere Punkte an, die ich wichtig finde. Ich möchte anre-
gen, auch diese aufzugreifen. Der eine Punkt ist, dass
wir nicht-finanzielle Aspekte bei der Vergütung in den
Vordergrund stellen sollten, zum Beispiel die Kundenzu-
friedenheit und die Mitarbeiterzufriedenheit. Der andere
Punkt, den der Bundesrat anführt, ist die Frage: Bekom-
men Männer und Frauen eigentlich gleich viel Geld für
gleiche Arbeit? Dass das nicht so ist, ärgert uns Grüne
schon seit langem, und zwar bei uns nicht nur die
Frauen, sondern auch die Männer; das ist der Unter-
schied.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Zu wem ist das der Unterschied?)


Ich finde den Vorschlag, dieses Thema aufzugreifen, gut.
Ich finde es sehr interessant, dass der Bundesrat vor-
schlägt, das im Rahmen dieses Gesetzentwurfs zu be-
handeln. Da sind offensichtlich auch ein paar unionsge-
führte Länder dabei gewesen. Vielleicht gab es an der
Regierung beteiligte Grüne, die sie dazu ermutigt haben.
Das werden wir uns noch einmal anschauen.

Auf jeden Fall sollten wir die Aspekte, die der Bun-
desrat angeführt hat, aufgreifen und uns die Fragen stel-
len: Reicht das Geplante aus? Wollen wir als Gesetzge-
ber wirklich die gesamte Verantwortung für die wichtige
Frage der Vergütungssysteme auf den Verordnungsge-
ber, das heißt auf die Administration, auslagern? Ich
meine: Nein. Das ist etwas, das wir als Parlament selbst
zu leisten haben.

Danke schön.





Dr. Gerhard Schick


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703712900

Das Wort hat der Kollege Ralph Brinkhaus für die

Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Ralph Brinkhaus (CDU):
Rede ID: ID1703713000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Ge-

setz, dessen Entwurf der Staatssekretär gerade vorgelegt
hat, verpflichtet die Finanzdienstleister und die Versiche-
rungen dazu, angemessene Vergütungsstrukturen vorzu-
halten. Es ermächtigt die Aufsichtsbehörden, in Schiefla-
gen die Auszahlung von variablen Vergütungen zu
verbieten oder zumindest zu begrenzen. Wie Sie schon er-
wähnt haben, werden damit Regeln zügig umgesetzt, die
vom Financial Stability Board erlassen worden sind. Das
ist zu begrüßen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es ist – auch das hat der Staatssekretär gesagt – ein Teil
eines größeren Projektes zur Sicherung der Regulierung
des Finanzmarktes, mit dem wir alle uns hier befassen.
Wir können das jetzt beliebig ausführen. Wir können
über die Regulierung des Derivatemarkts, die Regulie-
rung von Hedgefonds, die Neuordnung der Aufsichts-
strukturen oder verschiedene Eigenkapitalregelungen
debattieren. Aber Ihr Vorwurf greift ins Leere; denn es
wird eine Menge getan. Das alles ist nicht immer in nur
einem Satz zu erklären. Ich denke, dass es uns gut tun
würde, ein bisschen Seriosität in dieser Debatte zu ha-
ben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben wir doch!)


Dieser Gesetzentwurf ist notwendig, weil die Erfah-
rungen in den letzten Jahren gezeigt haben, dass Unter-
nehmenspolitik teilweise zu sehr auf kurzfristige An-
reize gesetzt hat und dass Bonusstrukturen – im Übrigen
für Manager und Mitarbeiter – dazu geführt haben, dass
eine erhöhte Risikobereitschaft in der Finanzdienstleis-
tungsbranche bestand. Diese Risikobereitschaft war
letztlich ein Grund für die Krise. Deswegen ist es richtig,
dass wir trotz der Selbstverpflichtung der Finanzdienst-
leister, zumindest der großen Finanzdienstleister, gesetz-
liche Regelungen schaffen und für die Ermächtigung
sorgen, die Einhaltung dieser Regelungen zu beaufsichti-
gen.

Wir nehmen mit Freude zur Kenntnis, dass dieser Ge-
setzentwurf einhellig auf Zustimmung stößt. Wir neh-
men aber auch die Kritik zur Kenntnis. Dies ist die erste
Lesung; wir werden die Kritik ernst nehmen und aufgrei-
fen. Natürlich müssen wir uns fragen, inwieweit das ei-
nen Eingriff in die Tarifautonomie oder die Vertragsfrei-
heit darstellt. Aber wir sind der Meinung, dass dieser
Eingriff aufgrund des volkswirtschaftlichen Schaden-
potenzials durch falsche Vergütungssysteme gerechtfer-
tigt ist.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Natürlich müssen wir fragen, ob es richtig ist, dass die
Versicherungen einbezogen werden. Wir sagen Ja, weil
die Versicherungen auf ähnlichen Feldern wie die Fi-
nanzdienstleister im Bankenbereich operieren. Wir sa-
gen Ja, weil auch große Versicherungen wie AIG, die
systemisch sind, in den USA in Schieflage geraten sind.
Wir sagen Ja, weil wir an der Diskussion über die Ein-
malbeträge bei den Lebensversicherungen sehen, dass
die Grenze zwischen Banken- und Versicherungsaktivi-
täten durchaus fließend ist. Wir nehmen auch die Kritik
der Menschen ernst, die sagen, dass es zu viel oder zu
wenig Regulierung gibt. Ich glaube, im vorliegenden
Gesetzentwurf ist ein guter Maßstab gesetzt worden, in-
dem man die Begriffe „Nachhaltigkeit“ und „Angemes-
senheit“ definiert hat. Diese werden in Form von Rechts-
verordnungen noch umgesetzt werden müssen. Sie
werden durch das Handeln der Aufsichtsbehörden gelebt
werden müssen. Wir als Union werden das eng beglei-
ten. Insofern ist alles erst einmal gut.

Die eigentliche Frage wird durch diesen Gesetzent-
wurf aber nicht beantwortet. Sie lautet: Warum verdienen
einige Banken so viel Geld, dass sie solche enormen Ver-
gütungen zahlen können? Warum hat die Deutsche Bank
letztes Jahr einen Gewinn von rund 5 Milliarden Euro ge-
macht hat, während Daimler einen Verlust von über
2 Milliarden Euro gemacht hat? Warum beträgt das Durch-
schnittsgehalt bei der Deutschen Bank 150 000 Euro und
bei Daimler 54 000 Euro? Welches ist der Grund dafür,
dass Spitzenleistungen im Technologiebereich anschei-
nend geringer bewertet werden als im Finanzdienstleis-
tungsbereich? Diese Frage sollten wir uns stellen. Ich
weiß, dass diese Vergleiche nicht ganz fair und nicht ganz
richtig sind.


(Zurufe von der SPD: Doch!)


Aber wir müssen uns diese Frage stellen. Ich möchte ver-
suchen – wohlgemerkt versuchen –, diese Frage zu beant-
worten. Der erste Versuch einer Antwort lautet – das ist
uns allen bekannt –: Es gibt eine Entkopplung von Risiko
und Haftung. Es ist so, dass bestimmte Risiken letztend-
lich vom Staat zu tragen sind, aber die Chancen bei den
Instituten, insbesondere bei Fonds und Hedgefonds, blei-
ben.

Ich möchte auf einen weiteren Punkt eingehen und
eine weitere Frage stellen, über die wir bisher nicht ge-
nügend diskutiert haben. Das ist die Frage nach dem
Wettbewerb. Wettbewerb kann nur funktionieren, wenn
es mehrere bzw. viele Marktteilnehmer gibt. Ist das im
Investmentbankingbereich der Fall, oder ist es nicht viel-
mehr so, dass es nur wenige Marktteilnehmer gibt, die
den Markt unter sich aufteilen? Ganz ehrlich: Wer ist
denn überhaupt noch in der Lage, hier in Deutschland
bzw. in Europa eine internationale Finanzierung, einen
Börsengang oder eine Anleihe zu organisieren? Ganz
ehrlich: Wie viele Akteure gibt es noch, die auf dem De-
rivatemarkt tätig sind und dort tatsächlich Marktmacht
ausüben? Ich sage: Wettbewerb ist wichtig. Wettbewerb
braucht vernünftige Strukturen. Wettbewerb führt zu fai-
ren Preisen. Wettbewerb führt zu fairen Gewinnen, und
Wettbewerb führt auch zu fairen Vergütungsstrukturen.





Ralph Brinkhaus


(A) (C)



(D)(B)

Das ist ein Punkt, den wir bedenken müssen. Das ist
auch deswegen ein wichtiger Punkt, weil dann, wenn es
nur weinige Marktteilnehmer gibt, dies immer dazu
führt, dass wir in die Too-big-to-fail-Problematik hinein-
kommen. Ich kann uns nur aufrufen, diesen Gesetzent-
wurf zum Anlass zu nehmen, ergebnisoffen – ich habe
noch keine Lösung und bin noch nicht zu einem Ergeb-
nis gekommen – darüber zu diskutieren, ob die Wettbe-
werbsstrukturen im Bereich des Investmentbankings
vernünftig sind. Den Bereich der Privatkunden und der
kleinen Geschäftskunden nehme ich davon ausdrücklich
aus. In Deutschland gibt es im Gegensatz zu anderen
Staaten nämlich zwei zusätzliche Säulen: die Volksban-
ken und die Sparkassen. Ich glaube, hier ist der Wettbe-
werb einigermaßen vernünftig organisiert.

Zusammenfassend kann man sagen: Das Gesetz, des-
sen Entwurf vorliegt, ist kein Allheilmittel. Es wird nicht
verhindern, dass eine Finanzkrise 2.0 ausbricht. Wir wis-
sen genau, dass wir viele Bausteine brauchen. Ich denke,
dieses Gesetz ist ein solcher Baustein, ein vernünftiger
Baustein. Die Regulierung in diesem Bereich wird dazu
beitragen, dass der Finanzmarkt ein wenig sicherer wird,
nicht nur für die Anleger, sondern auch für den Steuer-
zahler. Deswegen wird die Union dieses Gesetzesvorha-
ben konstruktiv und zügig vorantreiben.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703713100

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf den Drucksachen 17/1291 und 17/1457 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das
ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Fritz Kuhn, Katrin Göring-Eckardt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Teilhabe und Perspektiven für Langzeitar-
beitslose mit einem verlässlichen Sozialen Ar-
beitsmarkt schaffen

– Drucksache 17/1205 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Ernst, Matthias W. Birkwald, Heidrun Dittrich,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Gute öffentlich geförderte Beschäftigung –
Eine Alternative zu Langzeiterwerbslosigkeit
und Ein-Euro-Jobs

– Drucksache 17/1397 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Brigitte Pothmer für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703713200

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie alle

werden sich daran erinnern, dass sich die Arbeitsuchen-
den in den letzten Monaten eine Menge haben bieten las-
sen müssen. Sie mussten sich als faule und dekadente So-
zialschmarotzer beschimpfen lassen. Ich finde es wirklich
unerträglich, dass sowohl Ministerpräsident Koch als
auch Vizekanzler Westerwelle ihre gesammelten Vorur-
teile ausgebreitet haben, um Arbeitslosengeld-II-Bezie-
her zu diffamieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Aber um das gleich zu sagen: Auch die Eingebung einer
Berliner Grünen-Abgeordneten finde ich hundsmisera-
bel.

Grundsätzlich muss klar sein, dass eines gilt: Der so-
ziale Arbeitsmarkt ist ausdrücklich nicht dafür da, ver-
meintlich faule Arbeitsuchende auf Trab zu bringen. Wer
hier diesen Zungenschlag hineinbringt, dem geht es um
alles Mögliche, aber nicht um die Betroffenen. Wenn es
darum geht, Zwangsdienste zu etablieren, damit Men-
schen davon abgehalten werden, in einer Notsituation
ihre Rechte und Ansprüche geltend zu machen, dann
kann ich nur sagen: Das ist eine infame Strategie. Diese
Strategie werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Fakt ist erstens: Derzeit fehlen in Deutschland unge-
fähr 5 Millionen Vollzeitarbeitsplätze. Fakt ist zweitens:
Fast alle Arbeitslosen sind absolut erpicht darauf, einen
Job zu finden und so schnell wie möglich aus dem Ar-
beitslosengeld-II-Bezug herauszukommen. Fakt ist drit-
tens – das sage ich denjenigen, die immer von Zwangs-
maßnahmen sprechen –: Es gibt derzeit bei weitem nicht
genügend Arbeitsplätze im sogenannten gemeinnützigen
Sektor. Die Nachfrage ist um ein Mehrfaches höher als
das Angebot.

In genau dem Moment, als der Vizekanzler lautstark
dafür plädiert hat, jeden Arbeitslosen zu irgendeinem ge-
meinnützigen Job zu zwingen, hat die Bundesarbeits-
ministerin die wenigen Programme, die es für Langzeit-
arbeitslose im gemeinnützigen Sektor überhaupt gibt,
abgeschafft oder ausgetrocknet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)






Brigitte Pothmer


(A) (C)



(D)(B)

Das Programm „Kommunal-Kombi“ ist vollständig ab-
geschafft worden, und das Programm „JobPerspektive“
wird genau bei den Jobcentern beschnitten, bei denen es
besonders gut funktioniert hat. Das alles geht bei dieser
Bundesregierung zusammen: Der Vizekanzler brüllt laut
und fordert einen sozialen Arbeitsmarkt, und die Bun-
desarbeitsministerin stellt diesen parallel dazu ein. Das
lassen wir Ihnen nicht durchgehen.

Wir wissen, dass ungefähr 400 000 Langzeitarbeits-
lose unter den derzeitigen Bedingungen kaum eine
Chance haben, auf dem ersten Arbeitsmarkt Arbeit zu fin-
den. Ich frage Sie: Welchen Sinn soll es machen, diese
Menschen immer wieder in das Auf und Ab von Maßnah-
mekarrieren zu zwingen? Sechs Monate einen 1-Euro-
Job, dann wieder arbeitslos, dann vielleicht eine Trai-
ningsmaßnahme, dann wieder arbeitslos, das demotiviert
die Betroffenen. Das ist teuer. Das ist schlecht und bringt
der Gesellschaft gar nichts. Was wir brauchen, ist ein ver-
lässlicher zweiter Arbeitsmarkt, der den Langzeitarbeits-
losen tatsächlich eine Perspektive gibt. Die Grünen haben
einen entsprechenden Vorschlag vorgelegt. Es geht um
sinnstiftende Beschäftigung. Es geht um zusätzliche Be-
schäftigung und um Beschäftigung, von der die Gesell-
schaft profitiert. Das Ganze muss nach dem Prinzip der
Freiwilligkeit organisiert sein. Es muss dezentral, kom-
munal organisiert sein, und es muss sich um sozialversi-
cherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse handeln.
Wir müssen weg von diesem Programm-Hopping. Wir
brauchen in diesem Bereich eine verlässliche Basis.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703713300

Kollegin Pothmer, achten Sie bitte auf die Zeit.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703713400

Ununterbrochen, Frau Präsidentin.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703713500

Dann sollten Sie Schlussfolgerungen ziehen.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703713600

Ich komme sofort zum Schluss. – Wir haben Ihnen

mit dem Aktiv-Passiv-Transfer einen Vorschlag ge-
macht, wie man diese Beschäftigungsverhältnisse finan-
zieren kann. Damit wird die Parole, Arbeit statt Arbeits-
losigkeit zu finanzieren, endlich mit Inhalt gefüllt. Ich
finde, die Betroffenen haben einen Anspruch darauf, ihre
Motivation, ihre Talente und ihr Engagement einzubrin-
gen. Ich hoffe auf Ihre Unterstützung.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703713700

Das Wort hat die Kollegin Heike Brehmer für die

Unionsfraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Heike Brehmer (CDU):
Rede ID: ID1703713800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Grünen möchten, wie aus ihrem Antrag hervorgeht,
dass für gute öffentlich geförderte Beschäftigung gesorgt
wird. Meine Damen und Herren von den Grünen, als
Erstes müssen wir feststellen, dass Sie während Ihrer
Regierungszeit die Weichen offenbar nicht richtig ge-
stellt haben. Sonst hätte nicht eine ganze Generation mit
Langzeitarbeitslosigkeit so viel Erfahrung machen müs-
sen. Sie hätten bei der Gesetzgebung doch die Vorgabe
machen können, dass jungen Menschen nach einer be-
stimmten Frist eine Tätigkeit zugewiesen werden muss.
Sie haben das unbestimmt gelassen, mit der Folge, dass
viele junge Menschen in der Langzeitarbeitslosigkeit ge-
landet sind.

Wir werden uns verstärkt um die Alleinerziehenden
kümmern. Es ist unsere Arbeitsministerin, die die Al-
leinerziehenden aus der Langzeitarbeitslosigkeit heraus-
holen wird.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Macht mal! Wir sind gespannt!)


– Einzelheiten werden morgen hier im Haus erörtert.

Für die christlich-liberale Koalition ist klar: Nach un-
serem christlichen Menschenbild hat Arbeit einen hohen
Stellenwert. Wir wissen, wie wichtig Arbeit für den
Menschen ist. Was uns von den Grünen und den Roten
jeder Couleur unterscheidet, ist von zentraler Natur: Wir
wollen die Menschen an Arbeit heranführen und – wann
immer möglich – in den ersten Arbeitsmarkt integrieren.
Dabei sind wir uns im Klaren, dass es Menschen gibt,
die den gesamten Weg nicht schaffen. Für diesen Perso-
nenkreis werden wir Wege finden, dass sie es zumindest
in eine öffentliche geförderte Beschäftigung schaffen.
Wir wollen die Menschen aber nicht in den Kreislauf
zwischen Arbeitslosigkeit und öffentlich geförderter Be-
schäftigung schicken, nach dem Motto: per Drehtüref-
fekt von der Arbeitslosigkeit in die nächste öffentliche
Beschäftigung und zurück.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Nur einmal hinein und dann gleich in Hartz IV!)


Diesen Kreislauf wollen wir durchbrechen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Nein! – Gegenruf des Abg. Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Doch! Das machen wir mit oder ohne euch!)


Ihnen von den Grünen ist das leider nicht gelungen.
Wir wollen nicht so viel Lehrgeld zahlen, wie Sie es mit
der Ich-AG getan haben. Sie haben viel Geld, das wir
heute bräuchten, ohne gute Ergebnisse verbraten.

Seit 2005 sind durch die unionsgeführte Bundesregie-
rung viele Programme zur Förderung der Langzeit-
arbeitslosen auf den Weg gebracht worden, wie zum
Beispiel der Beschäftigungszuschuss für Langzeitar-
beitslose, der Jobbonus, die JobPerspektive und der Qua-
lifizierungskombi zur Verbesserung der Qualifizierung
von jüngeren Menschen unter 25 Jahren mit Vermitt-
lungshemmnissen.





Heike Brehmer


(A) (C)



(D)(B)

Für den Monat März 2010 hat die Bundesagentur für
Arbeit mitgeteilt, dass die Zahl der Arbeitslosen, welche
länger als zwei Jahre ohne Job sind, auf circa 405 000
gesunken ist.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Sie haben kurzfristig einen 1-Euro-Job bekommen und werden nicht mehr gezählt! Statistische Manipulation!)


Das sind im Vergleich zum Vorjahresmonat 12,6 Prozent
weniger. Die Wirtschaftsweisen hatten uns angesichts
der größten Wirtschafts- und Finanzkrise weitaus
schlechtere Prognosen erstellt.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das weiß man doch!)


– Das können auch Sie ruhig einmal zur Kenntnis neh-
men.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das zeigt uns, dass die bisherigen Maßnahmenpakete
zur Bekämpfung der Krise durch die unionsgeführten
Bundesregierungen richtig eingesetzt wurden und Wir-
kung zeigen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Mit dem Beschäftigungschancengesetz werden wir
jetzt den nächsten Schritt gehen, und wir werden den
Mut haben, das Konzept der Bürgerarbeit, das Sie immer
in die Ecke gelegt haben und das für Sie immer ein
Randthema war, umzusetzen. Wir werden die Bürgerar-
beit aktivieren. Ich sage Ihnen voraus: Wenn die Jobcen-
ter nach jahrelangen Unsicherheiten endlich funktionie-
ren, dann werden wir uns mit der Bürgerarbeit hier im
Bundestag befassen.

Das Instrument der Bürgerarbeit wurde vom sachsen-
anhaltinischen Wirtschaftsminister Dr. Reiner Haseloff
und der Regionaldirektion der Bundesagentur für Arbeit
Sachsen-Anhalt-Thüringen entwickelt. Die Bürgerarbeit
hat sich in Sachsen-Anhalt als ein erfolgreiches Modell
zur nachhaltigen Reduzierung der Langzeitarbeitslosig-
keit bewährt. Durch das Konzept der Bürgerarbeit sollen
vorrangig Langzeitarbeitslose in eine sozialversiche-
rungspflichtige Beschäftigung vermittelt werden, die auf
dem ersten Arbeitsmarkt kaum eine Chance haben. Das
alles geht allerdings nicht zum Nulltarif. Daher wird
nicht alles sofort gehen, dafür aber seriös.


(Katja Mast [SPD]: Wie die Regierung bisher!)


Es gibt durchaus auch Erfolgsmodelle, wie zum Bei-
spiel ein kommunales Modell im Landkreis Marburg-
Biedenkopf. Im Rahmen des dortigen Modellprojekts
mit einem ganzheitlichen Beratungsansatz wurden Lang-
zeitarbeitslose gestärkt und aus der sozialen Isolation he-
raus und zurück in die Gesellschaft geführt. Zusätzlich
wurden arbeitsplatz- und existenzsichernde Beratungs-
angebote geschaffen, die mittelfristig die Überwindung
der Hilfebedürftigkeit zum Ziel haben. Besonders inte-
ressant im Hinblick auf Ihre Anträge ist die Erfolgsquote
bei den über 50-Jährigen. Viele ältere Arbeitslose konn-
ten in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Pascal Kober [FDP])


Schauen Sie sich an, was es in den letzten Jahren mit
den Ferienjobs für Kinder von Arbeitslosengeld-II-Emp-
fängern auf sich hatte.


(Katja Mast [SPD]: Dahin mussten wir Sie auch tragen!)


Was war das für ein Theater! Nichts ging; in diesem
Sommer geht es. So verhindert man eine Hartz-IV-Kul-
tur.


(Katja Mast [SPD]: Sie können in der nächsten Sitzung zustimmen!)


So stellen wir nun die Weichen im Interesse der Men-
schen in unserem Land. Dass Ihnen das nicht gefällt,
kann ich sehr gut verstehen.


(Zuruf von der LINKEN: Uns gefällt das sehr gut!)


Mit der Umsetzung des Beschäftigungschancengesetzes
werden sich die Arbeitsmarktchancen für Langzeitar-
beitslose, für Alleinerziehende und für Ältere über 50 in
der nächsten Zeit weitgehend verbessern.

Meine lieben Kollegen von den Linken und von den
Grünen, es wäre deshalb schön, wenn Sie allein schon
aus diesem Grund das Beschäftigungschancengesetz,
welches unsere Ministerin morgen hier vorstellen wird,
unterstützen würden.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703713900

Das Wort hat der Kollege Michael Groschek für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Michael Groschek (SPD):
Rede ID: ID1703714000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn hier angekündigt wird, dass morgen ein Entwurf
eines Beschäftigungschancengesetzes eingebracht wird,
dann wird uns und den Betroffenen angst und bange.
Denn wir erinnern uns an das Wachstumsbeschleuni-
gungsgesetz. Es droht Ungemach, heißt das auf Deutsch
gesagt.


(Beifall bei der SPD – Paul Lehrieder [CDU/ CSU]: Ja! Mit der Kindergelderhöhung!)


Wir sollten uns an den Ausgangspunkt der heutigen
Diskussion erinnern. Das war das Rezept „Mit Demago-
gie gegen Demoskopie“. Das war der Versuch des FDP-
Vorsitzenden, der im Nebenamt Außenminister ist, den
freien Fall in Umfragen umzukehren.

In dieser Stunde hätten wir uns im Sinne der Betroffe-
nen sehr gewünscht, liebe Kollegin, wenn ein Sturm der
Entrüstung, gesteuert durch Ihr christliches Menschen-
bild, auch durch die CDU/CSU gegangen wäre. Was
aber war? Schweigen im Walde. Das macht uns betrof-
fen.





Michael Groschek


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Was war unsere Antwort? Unsere Antwort war der so-
ziale Arbeitsmarkt als freiwillige Inanspruchnahme ei-
nes sozialen Rechts auf Integration statt als angedrohte
Zwangsmaßnahme. Das unterscheidet uns. Ich will Ih-
nen eines zugutehalten: Viele von Ihnen werden sicher-
lich Schwielen an den Fingern haben vom vielen bußfer-
tigen Beten mit dem Kruzifix in der Hand, weil Sie so
etwas mitmachen, was Ihnen von Ihrem Koalitionspart-
ner serviert wird.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Wie können Sie das beurteilen?)


Lassen Sie uns auf den Punkt kommen. Wir glauben,
dass das Recht auf Arbeit für alle gelten muss, und zwar
auf gute und fair bezahlte Arbeit. Arbeit ist Ausdruck ei-
ner Würde im Menschenbild, wie wir es haben. Gute und
fair bezahlte Arbeit ist Voraussetzung dafür, dass jemand
ein würdevolles und selbstbestimmtes Leben gestalten
kann.

Deshalb sagen wir, dass gerade diejenigen, die mehr-
fach benachteiligt sind, nicht als abgeschrieben und ab-
geschoben gelten dürfen. Sie dürfen nicht deklassiert
und demagogisch verfolgt werden. Gerade sie brauchen
eine reale Chance. Dazu passt das Aushungern der
JobPerspektive und das Abschaffen von Kommunal-
Kombi nicht. Das ist der Weg in die Sackgasse und nicht
in die soziale Integration.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Der soziale Arbeitsmarkt ist das eine. Mehr soziale
Sicherheit am Arbeitsmarkt ist das andere. In der Reali-
tät erfolgt jede zweite Neueinstellung befristet. Über
1 Million Menschen sind moderne Tagelöhner mit einem
Stundenlohn von weniger als 5 Euro. Wir haben in die-
sem Land 1,4 Millionen Aufstocker und mehr als
2,5 Millionen Menschen, die auf Zeit- und Leiharbeit
angewiesen sind.

Wenn man diese Realität sieht, dann müssen Sie das
doch als Einladung zur Schaffung von Fairness am Ar-
beitsmarkt und als Einladung dazu, am Arbeitsmarkt
Recht und Ordnung zu schaffen, verstehen. Deshalb hal-
ten wir neben der Diskussion um den sozialen Arbeits-
markt die Überprüfung der vorhandenen arbeitsmarkt-
politischen Instrumente für notwendig.

Wir haben uns darangemacht, die Überprüfung durch-
zuführen und Weiterentwicklungen und Korrekturen auf
den Weg zu bringen. Das ist ein sehr intensiver Diskus-
sionsprozess in unserer Partei.

Wir laden Sie ein, sich vor einer Entscheidungsfin-
dung diesem Diskussionsprozess anzuschließen.


(Beifall bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703714100

Kollege Groschek, gestatten Sie eine Zwischenfrage

des Kollegen Schiewerling?

Michael Groschek (SPD):
Rede ID: ID1703714200

Ja, wenn die Zeit angemessen gestoppt wird.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703714300

Das ist doch selbstverständlich.


Karl Schiewerling (CDU):
Rede ID: ID1703714400

Herr Kollege Groschek, Sie haben gerade behauptet,

das arbeitsmarktpolitische Instrument JobPerspektive sei
abgeschafft worden.


(Anette Kramme [SPD]: Rein tatsächlich ist es so!)


Können Sie mir bestätigen, dass dieses arbeitsmarktpoli-
tische Instrument nach wie vor besteht, dass auch in die-
sem Jahr die Mittel dafür geflossen sind und dass die
Absicht besteht, es beizubehalten?

Lassen Sie mich die Frage mit einer Feststellung er-
gänzen: Wenn Sie sozusagen unterschwellig behaupten,
man bekomme Schwielen an den Händen, wenn man
Kruzifixe festhält und betet, sollten Sie sich bewusst
sein, dass Sie damit viele Menschen in Deutschland
missachten, die aus ihrer religiösen Grundeinstellung he-
raus viel konkrete Hilfe für arbeitslose Jugendliche und
Erwachsene leisten.


Michael Groschek (SPD):
Rede ID: ID1703714500

Lieber Kollege, lenken Sie nicht ab. Ich denke, Sie

wissen, dass ich das zitierte christliche Menschenbild
fast jedem von Ihnen und in extenso denen zugestehe,
die als christliche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
eine Gruppe in Ihrer Fraktion sind. Deshalb kann ich das
Leid dieser Menschen angesichts der arbeitsmarktfeind-
lichen und arbeitslosenfeindlichen Demagogie von
Westerwelle verstehen, und deshalb glaube ich, dass
viele bußfertig sein werden, weil sie trotz ihres christli-
chen Menschenbildes eine solche Regierung mittragen
müssen; denn die Demagogie gegen die Langzeitarbeits-
losen war und bleibt nach meiner festen Überzeugung
unchristlich, lieber Kollege.

Eine zweite Erwiderung auf Ihr Anliegen: Ja, ich
weiß, die JobPerspektive gibt es noch. Aber ich weiß
auch, dass diese Bundesarbeitsministerin, die ansonsten
immer als symbolträchtige Madonna des Arbeitsmarktes
durch die politische Landschaft geführt wird,


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Das haben Sie schön gesagt!)


900 Millionen Euro bei Arbeitsförderungsmaßnahmen
gesperrt hat und die JobPerspektive eben nicht als ad-
äquates Instrument ansieht, sondern sie über den Tag hi-
naus aushungern will, weil Sie ein anderes Instrumenta-
rium und eine andere Perspektive sehen. Dass wir Sie
hier so kritisch beäugen, hängt auch mit Ihrem Chef-
haushälter zusammen, der auf die Frage, wo denn die
Konsolidierungspakete seien, die er stemmen müsse,
antwortete, dass Frau von der Leyen wohl ein Drittel bis
50 Prozent dieser Konsolidierungsmaßnahmen werde
stemmen müssen. Angesichts dessen wissen wir doch,
wohin die Reise möglicherweise gehen wird. Diese





Michael Groschek


(A) (C)



(D)(B)

Reise werden wir nicht mitmachen, weil sie sich gegen
die Interessen der arbeitslosen Menschen in diesem
Lande richtet.


(Beifall bei der SPD – Ingrid Fischbach [CDU/ CSU]: Sie sagen wissentlich die Unwahrheit! Das ist nicht gut! Das ist nicht christlich!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703714600

Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Kolle-

gen Schiewerling?


Michael Groschek (SPD):
Rede ID: ID1703714700

Ja.


Karl Schiewerling (CDU):
Rede ID: ID1703714800

Sind Sie bereit, mir zuzugestehen, dass die Mittel für

die JobPerspektive – jetzt komme ich auf den sachlichen
Gehalt zurück und versuche, Sie dahin zu bringen, dass
Sie auch sachlich antworten – insgesamt nicht gekürzt,
sondern in Deutschland anders verteilt worden sind, und
können Sie mir zustimmen, dass 900 Millionen Euro
entsperrt worden sind, sodass diese Mittel der Arbeits-
marktpolitik zur Verfügung stehen?


(Anette Kramme [SPD]: Auf unser Drängen!)



Michael Groschek (SPD):
Rede ID: ID1703714900

Lieber Herr Kollege, dass die 900 Millionen Euro

entsperrt worden sind, ist doch nicht das Ergebnis Ihrer
mutigen christdemokratischen Intervention, sondern Er-
gebnis einer sozialdemokratischen Ansage. Das ist Fakt
eins.


(Beifall bei der SPD)


Zweiter Punkt: Wir haben ganz aktuell ein Schreiben
einer Trägerorganisation aus Aachen bekommen, in dem
darauf hingewiesen wird, wie in Nordrhein-Westfalen
durch die Umverteilung, die in vielen Regionen
Deutschlands einer Kürzung gleichkommt, Benachteili-
gungen entstehen. Da helfen kein Laumann und auch
kein Rüttgers im Blaumann. Nordrhein-Westfalen wird
von dieser Bundesregierung sozial- und strukturpolitisch
über den Leisten gezogen, lieber Kollege.


(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Völliger Quatsch! – Zurufe der Abg. Ingrid Fischbach [CDU/CSU])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703715000

Das Wort hat eigentlich der Kollege Groschek. Ich

sehe allerdings eine weitere Zwischenfrage des Kollegen
Hubertus Heil. Wenn Sie diese zulassen, Kollege
Groschek, füge ich gleich vorsorglich hinzu, dass dies
die letzte Frage ist, die ich innerhalb dieses Redebeitra-
ges zulasse,


(Anette Kramme [SPD]: Schade!)


weil wir eine Verabredung haben, die besagt, dass wir
Redebeiträge nicht auf diese Weise verdoppeln oder ver-
dreifachen wollen.

Lassen Sie die Frage des Kollegen Heil zu?

Michael Groschek (SPD):
Rede ID: ID1703715100

Gerne.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703715200

Bitte.


Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1703715300

Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Es ist nicht üb-

lich, Zwischenfragen bei Abgeordneten der eigenen
Fraktion zu stellen. Dies weiß ich sehr wohl, und wir
wollen dies auch nicht dauernd machen. Aber die Frage
des Kollegen Schiewerling hat mich ein bisschen dazu
provoziert, noch einen Aspekt hinzuzufügen.

Herr Kollege Groschek, die Entsperrung hat gestern
im Haushaltsausschuss stattgefunden, weil wir dies im
Rahmen der Jobcenterreform durchgedrückt haben.
Aber noch nicht durch ist, wie eigentlich auch verabre-
det, Herr Schiewerling, die Entfristung von 3 200 Job-
vermittlern. Dies muss bis zum 5. Mai im Haushaltsaus-
schuss passieren.


(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Also hat er doch die Unwahrheit gesagt! Wissentlich die Unwahrheit!)


Aber ich frage Sie, Herr Groschek, in Bezug auf den
9. Mai und die Situation danach bei all dem, was wir im
Bereich der Arbeitsmarktpolitik diskutieren, wie es denn
zu werten ist, wenn der Kollege Barthle, haushaltspoliti-
scher Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, jetzt
schon einmal ankündigt, dass für die Konsolidierung im
Jahre 2011 im Rahmen von 10 Milliarden Euro Frau von
der Leyen die Hälfte bis ein Drittel, also 3 bis
5 Milliarden Euro, aufbringen soll. Diese Frage treibt
uns um. Der Eingliederungstitel umfasst fast 6 Milliar-
den Euro. Dies wäre in vielen Bereichen das Ende einer
aktiven Arbeitsmarktpolitik, und alles, was über eine
Jobvermittlungsoffensive gesagt wird, wäre hohles Ge-
schwätz, wenn es keine Unterlegung gibt. Diesen Aspekt
wollte ich Ihnen noch in Frageform mit auf den Weg ge-
ben.


(Heiterkeit bei der SPD, der CDU/CSU, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Michael Groschek (SPD):
Rede ID: ID1703715400

Danke, Herr Kollege Heil. Ich hatte schon das denk-

würdige Vergnügen, im Rahmen meiner Antwort auf
eine Frage seitens der CDU darauf hinzuweisen, dass of-
fensichtlich der arbeitsmarktpolitische Heiligenschein
von Frau von der Leyen getrübt werden wird. Sie haben
sich bislang nicht dazu geäußert. Das wäre interessant
gewesen. Aber es gibt sicherlich noch Gelegenheit, da-
rüber zu reden, ob denn gerade die Arbeitsmarkt- und
Sozialpolitik der große Steinbruch wird, um die Haus-
haltskonsolidierung à la Bundesregierung zu schultern.

Aber kommen wir auf das eigentliche Thema zurück.
Wir wollen mehr soziale Sicherheit auf dem Arbeits-
markt. Dazu zählen für uns nach wie vor anständige
Löhne – auf Deutsch gesagt: gesetzliche Mindestlöhne –,
von denen jeder leben kann, der Vollzeit arbeitet. Wir





Michael Groschek


(A) (C)



(D)(B)

wollen soziale Leitplanken bei der Zeit- und Leiharbeit,
weil da ein riesiger Sozialmissbrauch stattfindet. Wir
wollen den Anspruch auf Berufsausbildung, statt einer
ganzen Generation nur die Perspektive eines Praktikums
zu bieten. Wir betonen, dass die Qualifizierung auch in
der Arbeitsmarktpolitik eine Schlüsselfunktion hat. Das
betrifft auch die Beschäftigten der Bundesagentur für Ar-
beit. Sie hinkt hinter den Abmachungen, die getroffen
wurden, hinterher. Wir brauchen ein besseres Betreu-
ungsverhältnis, sonst wird es keine gescheite Perspektive
am Arbeitsmarkt geben, und wir brauchen letztendlich
eine Weiterentwicklung der Bundesagentur für Arbeit hin
zu einer Arbeitsversicherung mit einem Recht auf best-
mögliche individuelle berufliche Qualifizierung und Be-
ratung für jeden. Das wäre unsere Perspektive.


(Beifall bei der SPD – Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Dann hätten Sie es doch machen können! Sie haben es nicht hingekriegt, hier nicht und nicht in Nordrhein-Westfalen!)


– Es gibt nicht nur Koalitionen mit Ihnen als Hemm-
schuh. Vielleicht gibt es auch einmal eine Fortschritts-
koalition mit einem Partner, der nicht so schwerfällig ist,
wie Sie es an unserer Seite gewesen sind.


(Karl Schiewerling [CDU/CSU]: Wenn man keine Ahnung hat, sollte man den Mund halten!)


Zu den beiden vorliegenden Anträgen haben wir Fol-
gendes anzumerken: Wir glauben, dass der Grünen-An-
trag eine gute Diskussionsgrundlage für die weiteren
Ausschussberatungen ist. Der Antrag der Linkspartei ist
sehr stark von der Vorstellung geprägt, man könne Glück
und Erfolg mit Methoden von gestern erreichen. Er ist
von dem Duktus geprägt: Früher war alles besser. Wir
aber haben die Einsicht, dass im Heute und Morgen kein
Platz für das Gestern ist. Das ist das große Problem.

Wir werden Arbeitsmarktinstrumente weiterentwi-
ckeln müssen. Eine pauschale Schuldzuweisung für alle
Nöte des Arbeitsmarktes an die Bundesregierung können
selbst wir nicht mittragen. Die Zuständigkeit dieser Bun-
desregierung geht nicht so weit, dass man sie für alles
und jedes verantwortlich machen kann. Es reicht, die
politische Verantwortung für die Maßnahmen zu beto-
nen, für die die Bundesregierung verantwortlich ist. Frau
von der Leyen vertritt nach außen eine fortschrittliche
Arbeitsmarktpolitik, trägt aber nach innen dazu bei, dass
die Arbeitsmarktförderung zum Steinbruch für die Haus-
haltskonsolidierung wird. Wir werden die Situation auch
nach dem 9. Mai sehr kritisch verfolgen. Wir lassen Sie
nicht entkommen. Die Rhetorik vom christlichen Men-
schenbild korrespondiert eben nicht mit der Demagogie,
die der Demoskopie geschuldet ist, und sie nützt nicht
den Arbeitslosen in diesem Land.


(Beifall bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703715500

Das Wort hat der Kollege Pascal Kober für die FDP-

Fraktion.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1703715600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Diese Koalition hat sich zum Ziel gesetzt, möglichst
viele Menschen wieder in den ersten Arbeitsmarkt zu in-
tegrieren. Wir möchten dabei niemanden aufgeben, und
wir möchten niemanden zurücklassen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Mit den beiden Anträgen, die heute zur Beratung vor-
liegen, soll ein anderer Weg gegangen werden. Ihre Be-
fürworter geben faktisch einen Teil der Menschen auf.
Deshalb werden wir diesen beiden Anträgen nicht zu-
stimmen.


(Beifall bei der FDP)


Hannelore Kraft hat dies Anfang März dieses Jahres im
Spiegel deutlich zum Ausdruck gebracht – Zitat –:

Wir müssen endlich ehrlich sein: Rund ein Viertel
unserer Langzeitarbeitslosen wird nie mehr einen
regulären Job finden.

Diese Aussage ist ein Schlag ins Gesicht der betroffenen
Menschen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: So ist das!)


Sie klassifiziert sie ab, und sie schreibt sie ab.

Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen
Ihnen und uns. Die empirische Wirklichkeit mag einen
zwar zu einer solch bedauernswerten Schlussfolgerung
verleiten; das bedeutet aber noch längst nicht, dass man
diese empirische Wirklichkeit normativ festschreiben
darf.


(Beifall bei der FDP)


Wir wollen niemanden aufgeben. Wir sind der Überzeu-
gung, dass wir durch kluge Politik im Sinne der Men-
schen jedem eine Chance auf dem ersten Arbeitsmarkt
bieten können. Bei der Integration von Langzeitarbeits-
losen müssen alle Kräfte auf eine umfassende Vermitt-
lungs-, Qualifizierungs- und Betreuungsoffensive kon-
zentriert werden. Dazu hat das Kabinett gestern wichtige
Maßnahmen beschlossen. Diese Bundesregierung nimmt
sich jetzt vor allem der Alleinerziehenden sowie der jun-
gen und älteren Arbeitnehmer an. Das – nicht die Aus-
weitung der öffentlichen Beschäftigung – ist der richtige
Schritt in die richtige Richtung.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ohne neues Instrument!)


Öffentliche Beschäftigung darf es nur als Ausnahme un-
ter eng definierten Bedingungen geben; denn sie ist nicht
nur teuer, sondern sie gefährdet auch reguläre Beschäfti-
gung.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So wie Westerwelle es sagt: zum Schneeschippen!)






Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)

So kommt ein im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung er-
stelltes Gutachten zu dem Ergebnis, dass – ich zitiere –
„öffentlich bereitgestellte Beschäftigung zwangsläufig
teurer ist als die Subventionierung eines Beschäftigungs-
verhältnisses am ersten Arbeitsmarkt, denn zusätzlich
zum Ausgleich der geringen individuellen Produktivität
muss noch die Anpassung der Arbeitsabläufe finanziert
werden“.

Dass ein sogenannter sozialer Arbeitsmarkt, ein Schat-
tenarbeitsmarkt, sozialversicherungspflichtige Beschäfti-
gung verdrängt, zeigt uns die Erfahrung mit den soge-
nannten 1-Euro-Jobs. Dies belegt auch der einschlägige
Bericht des Bundesrechnungshofes aus dem Jahr 2008.
Bei 80 Prozent der 1-Euro-Jobs wurde beanstandet, dass
sie nicht zusätzlich, sondern anstelle von Tätigkeiten aus-
geübt wurden, die eigentlich durch reguläre Beschäfti-
gung abgedeckt werden müssten, wodurch reguläre
Beschäftigungsverhältnisse im ersten Arbeitsmarkt ge-
fährdet wurden bzw. verhindert worden ist, dass dort neue
Arbeitsplätze entstanden sind.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703715700

Kollege Kober, gestatten Sie eine Frage der Kollegin

Pothmer?


Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1703715800

Gerne, Frau Pothmer.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703715900

Herr Kober, Sie haben sich hier sehr kritisch über die

Wirkung von öffentlich geförderter Beschäftigung geäu-
ßert und gesagt, jede öffentlich geförderte Beschäftigung
verdränge Arbeitsplätze im ersten Arbeitsmarkt. Wie
stehen Sie zu dem Vorschlag Ihres Parteivorsitzenden
Westerwelle, Arbeitslose zum Schneeschippen heranzu-
ziehen? Wie wahrscheinlich auch Sie wissen, finanziert
unser Staat normale Arbeitsplätze in der Straßenreini-
gung. Würde das Konzept, das Herr Westerwelle vor-
schlägt, Ihren hier vorgeschlagenen Vorstellungen nicht
zuwiderlaufen?


Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1703716000

Liebe Kollegin Pothmer, ich habe mich nicht generell

für einen solchen Beschäftigungsmarkt ausgesprochen.
Ich habe gesagt: „unter eng definierten Bedingungen“.
Wir von der FDP sind der Auffassung, dass diese eng de-
finierten Bedingungen vor allen Dingen so gestaltet wer-
den müssen, dass diese Beschäftigungsverhältnisse der
Qualifizierung der Menschen dienen.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie qualifiziert denn Schneeschippen?)


– In der Tat bin ich der Auffassung, Frau Pothmer, dass
es einen eingeschränkten, kleinen Personenkreis gibt, für
den Tätigkeiten wie Schneeschippen oder Straßenreini-
gung als Qualifizierungsmaßnahme dienen können.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darf ich noch eine Zwischenfrage stellen?)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703716100

Das entscheidet der Kollege Kober. Das wäre dann

aber die letzte Frage, die ich zulasse. Wie Sie wissen, ha-
ben Sie in dieser Debatte schon gesprochen.

Kollege Kober, lassen Sie noch eine Frage zu?


Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1703716200

Ja. – Frau Pothmer, bitte.


Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703716300

Sie erinnern sich aber durchaus auch daran, dass Ihr

Parteivorsitzender Westerwelle vorgeschlagen hat, alle
Langzeitarbeitslosen unmittelbar zu einer Tätigkeit auf
dem sozialen Arbeitsmarkt heranzuziehen?


(Widerspruch bei der FDP)



Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1703716400

Frau Pothmer, daran erinnere ich mich nicht. Ich

glaube, selbst in Berlin lag nicht so viel Schnee, dass es
notwendig gewesen wäre, alle Langzeitarbeitslosen mit
Schneeschippen zu beschäftigen. – Vielen Dank.

Ihre Vorschläge, liebe Kolleginnen und Kollegen der
Opposition, sind volkswirtschaftlich schädlich und ver-
decken, dass Sie Menschen Chancen auf reguläre Arbeit
im ersten Arbeitsmarkt vorenthalten. Fachleute stellen
fest, dass es fast keine Jobs für einen sozialen Arbeits-
markt gibt, die nicht reguläre Beschäftigung verdrängen.
Straßenreinigung durch öffentlich geförderte Arbeits-
kräfte verdrängt andere Reinigungsunternehmen vom
Markt. Die Übernahme der Pflege von Grünflächen, die
einmal Frau Künast vorgeschlagen hat, verdrängt Gärt-
nereien. Diese Liste ließe sich noch länger fortführen. So
wird durch öffentlich geförderte Beschäftigungsmaßnah-
men letzten Endes sogar die Arbeitslosigkeit ausgewei-
tet.

Arbeitsgelegenheiten wie 1-Euro-Jobs sollten nach
Auffassung der FDP nur dort angeboten werden, wo sie
der Qualifizierung und Integration von Langzeitarbeits-
losen in den ersten Arbeitsmarkt dienen. Sie müssen der
Qualifizierung der Betroffenen dienen. Wir müssen da-
rauf achten, dass Menschen nicht in einen zweiten Ar-
beitsmarkt abgeschoben werden, sondern dass sie für
den ersten Arbeitsmarkt aktiviert und qualifiziert wer-
den.


(Beifall bei der FDP)


In unserem Konzept des liberalen Bürgergeldes, also
eines gesetzlichen Mindesteinkommens, stellen wir si-
cher, dass auch die Menschen im ersten Arbeitsmarkt aus-
reichend Einkommen zum Leben haben, deren Fähigkei-
ten und Begabungen vorübergehend oder auf Dauer nicht
auszureichen scheinen, um ein solches durch eigene Kraft
vollständig selbst zu erwirtschaften. Hier sind staatliche
Mittel viel sinnvoller eingesetzt als in einem sogenannten
sozialen Arbeitsmarkt oder in öffentlich geförderter Be-
schäftigung.

Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen, für
Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703716500

Das Wort hat die Kollegin Sabine Zimmermann für

die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Sabine Zimmermann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703716600

Frau Präsidentin! Herr Groschek, ich muss Ihnen

schon empfehlen, einmal über unseren Antrag nachzu-
denken. Vielleicht kommen Sie dann doch zu dem
Schluss, dass die Hartz-Gesetzgebung menschenunwür-
dig ist und dass Sie da einen Fehler gemacht haben. Ich
empfehle Ihnen das auf jeden Fall.


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, 1990 haben wir mit ABM
mit einer Bezahlung in Anlehnung an den damaligen
ÖTV-Tarifvertrag angefangen. Dann gab es einige Novel-
len, und mit Einführung des SGB II gab es dann noch eine
Pauschale von 900 Euro. Außerdem wurden diese unsäg-
lichen 1-Euro-Jobs erfunden. Mit diesen 1-Euro-Jobs
sind die anderen sinnvollen Maßnahmen mehr und mehr
zurückgefahren worden. Die Rutschbahn der Löhne
wurde in Gang gesetzt. Das alles wird von der Politik be-
wusst nicht gestoppt, und das ist unerträglich.


(Beifall bei der LINKEN)


Ob Menschen Arbeit haben oder nicht, ist eine zu-
tiefst demokratische Frage. Denn es geht hier vor allem
um die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Die Poli-
tik hat dieses Problem bisher sträflich vernachlässigt und
damit Hunderttausende Menschen ins soziale Abseits
gestellt.

Die Antwort der Bundesregierung auf das immer wei-
ter wachsende Problem der Langzeiterwerbslosigkeit sind
bisher nur Beleidigungen von Herrn Westerwelle und
verschärfte Sanktionen für erwerbslose Menschen. Aber
wo – das frage ich Sie, meine Damen und Herren – sind
denn die Arbeitsplätze, die Sie seit 15 Jahren – egal in
welcher Koalition – den Menschen versprochen haben?
Das Gegenteil ist der Fall. Die Zahl der Langzeitarbeits-
losen stagniert seit Jahren auf hohem Niveau. Fast 1 Mil-
lion Menschen waren im März 2010 seit über einem Jahr
ohne reguläre Arbeit. Insbesondere viele Ältere haben
wenig Chancen auf eine Rückkehr in den regulären Ar-
beitsmarkt. Daneben haben wir viele Erwerbslose, die be-
reits seit mehreren Jahren ohne Arbeit sind. Diese Aus-
grenzung hat bei den arbeitslosen Menschen viele
körperliche und seelische Spuren hinterlassen. Hier ist
der Staat in der Pflicht, zu handeln.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke legt dafür das Konzept einer guten öffent-
lich geförderten Beschäftigung vor. Dieses ist Bestand-
teil eines Zukunftsprogramms, mit dem wir 2 Millionen
reguläre Arbeitsplätze in der Wirtschaft und im öffentli-
chen Bereich schaffen wollen.

Gute öffentlich geförderte Beschäftigung heißt für uns:
Wir wollen mit Mitteln der Arbeitsmarktpolitik sozialver-
sicherungspflichtige Arbeitsplätze zu Mindestlohnbedin-
gungen oder mit tariflicher Entlohnung schaffen – und
das basierend auf dem Prinzip der Freiwilligkeit.

Die Hartz-Gesetze, die Sie hier in diesem Saal mit
Ausnahme der Linken eingeführt haben, sind zuallererst
darauf ausgerichtet, Erwerbslose zu disziplinieren. Die
Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt sind fatal. Es gibt
einen Erdrutsch bei der Zahl der regulären sozialversi-
cherungspflichtigen Arbeitsplätze und einen Vormarsch
von Billigjobs. Das muss gestoppt werden!


(Beifall bei der LINKEN)


Nun hat Frau von der Leyen unter dem schönen Titel
der „Bürgerarbeit“ eine Reform der Arbeitsmarktpolitik
und eine Vermittlungsoffensive angekündigt. Meine Da-
men und Herren, das ist nichts Neues. Begreifen Sie
doch endlich, dass es zu wenig Arbeitsplätze gibt, von
denen die Menschen in Würde leben können!


(Beifall bei der LINKEN)


Aber natürlich wird die Bundesregierung ihre Pläne
erst nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen öffentlich
machen. Wir werden ganz genau hinschauen, ob damit
durch die Hintertür ein Arbeitszwang eingeführt werden
soll, wie das eigentlich schon verschiedene Unionspoliti-
ker in der Vergangenheit gefordert haben. Das stößt auf
unseren entschiedenen Protest, und das werden wir nicht
hinnehmen.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703716700

Für die Unionsfraktion hat der Kollege Dr. Matthias

Zimmer das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Matthias Zimmer (CDU):
Rede ID: ID1703716800

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es

scheint ja nun doch so zu sein, dass der Wahlkampf in
Nordrhein-Westfalen seine langen Schatten auch auf die-
ses Haus wirft. Was der Kollege Groschek als Generalse-
kretär der SPD in Nordrhein-Westfalen hier abgeliefert
hat – er ist in Rambo-Manier argumentativ durchgesaust –,


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Warten Sie, bis der richtig loslegt!)


zeugt von einer gewissen Nervosität, und das, lieber Karl
Schiewerling, ist unter dem Strich doch eine ganz posi-
tive Botschaft.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Kritisiert wurde von Ihnen ein gewisser Mangel an
Wahrhaftigkeit. Einen solchen – das will ich der Rede
voranstellen – habe ich auch dem Antrag der Linken ein
wenig entnommen. Ich will an dieser Stelle nur zwei
Beispiele bringen:

Sie behaupten in Ihrem Antrag, die falsche Wirt-
schafts- und Beschäftigungspolitik dieser und der ver-
gangenen Regierung habe zu der Arbeitslosigkeit beige-
tragen. Wahr ist: Von 2005 bis 2008 ist die





Dr. Matthias Zimmer


(A) (C)



(D)(B)

Arbeitslosigkeit von 4,8 Millionen auf 2,9 Millionen ge-
sunken.


(Sabine Zimmermann [DIE LINKE]: Langzeitarbeitslosigkeit!)


Hätten Sie das in Ihrem Leben irgendwann einmal fertig-
gebracht, hätte der Kölner Dom dauergeläutet.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Die würden heute noch tanzen!)


Sie beklagen darüber hinaus, dass Stellen im öffentli-
chen Dienst abgebaut werden, und erwecken damit so
ein bisschen den Eindruck, als ob Sie, wenn Sie es denn
könnten, Stellen im öffentlichen Dienst schaffen würden.
Ich habe mir das einmal angeschaut. Von 2005 bis 2008
verzeichnet Berlin den höchsten Abbau von Stellen im
öffentlichen Dienst, nämlich einen Abbau um
3,8 Prozent.


(Zuruf von der CDU/CSU: Da regiert RotRot! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die hatten einfach zu viel aufgebläht!)


In Brandenburg, Herr Kollege, wird geplant,
11 000 Stellen im öffentlichen Dienst abzubauen.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Die öffentlichen Haushalte sind pleite, durch Ihre Politik!)


Ich habe so ein bisschen den Eindruck, dass bei Ihnen
ein Realitätsschock eintritt. Das hat mit den Blütenträu-
men, die Sie hier sonst verkünden, nichts zu tun.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Eine Sache war für mich sehr überraschend, als ich
mir die Zahlen angeschaut habe. Es gab ein Bundesland,
das einen leichten Anstieg der Stellenzahl in der öffentli-
chen Verwaltung hatte, nämlich Bayern. Das finde ich
ganz positiv; denn die Bayern haben gesagt: Wir stellen
mehr Lehrer ein.


(Michael Groschek [SPD]: Weil die FDP dabei ist!)


Das ist angesichts der Tatsache, dass wir die Bildungsre-
publik ausbauen wollen, das richtige Signal.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Meine Damen und Herren von den Linken, in Ihrem
Antrag ist die Rede davon, dass 500 000 öffentlich ge-
förderte Beschäftigungsstellen zu schaffen sind. Wie Sie
auf die Zahl gekommen sind, erschließt sich mir nicht.
Vielleicht haben Sie einfach die Zahl von den Grünen
genommen und noch 100 000 draufgelegt. Man kann ja
eine gewisse Reserve einbauen; das ist wohl nie falsch.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Wir hatten das schon 2006 in einem Antrag!)


Es ist in Ihrem Antrag in keiner Weise begründet, wie
Sie auf die Zahl von 500 000 kommen. Diese Zahl und
das, was Sie heute Morgen hier mit Ihrem Antrag zur gu-
ten Arbeit vorgelegt haben, scheint mir auf Folgendes
hinzudeuten: Sie betrachten den Staat lediglich als eine
Art Kuh, die man sowohl melken als auch schlachten
kann.

Liebe Frau Pothmer, ich will ganz deutlich sagen: Ich
teile die Intention in Ihrem Antrag, für Langzeitarbeits-
lose etwas zu tun, und ich teile auch ausdrücklich Ihre
Auffassung, dass die meisten Arbeitsuchenden lieber
heute als morgen wieder eine Arbeitsstelle wollen.


(Zuruf von der LINKEN: Das war der erste richtige Satz! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sagen Sie das dem Ministerpräsidenten Koch!)


Das wollen wir ermöglichen, weil auch wir der Meinung
sind, dass Missbrauch kein Volkssport ist – es geht um
eine ganz begrenzte Ausnahmesituation – und dass die
meisten Menschen arbeiten wollen, weil Arbeit eine
Form von Anerkennung mit sich bringt. Auch das wol-
len wir ermöglichen. Deswegen bin ich der Idee eines
öffentlich geförderten Sektors persönlich nicht abge-
neigt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich bin aber sehr dafür, diese Förderung an sehr enge
Kriterien zu knüpfen. Das erste Kriterium ist die Integra-
tion in den ersten Arbeitsmarkt. Wir wollen keine Zwei-
klassengesellschaft und keine Stigmatisierung von Ar-
beitsuchenden, sondern wir wollen, dass die Integration
in den ersten Arbeitsmarkt gelingt. Das ist ein Punkt,
den ich im Antrag der Linken vermisst habe. Wir wollen
keine Dauersubventionierung und Verstetigung dieser
Subventionen, sondern eine zeitliche Begrenzung. Wir
wollen außerdem eine genaue Eingrenzung der Ziel-
gruppe. Das heißt, wir wollen mit einem öffentlich ge-
förderten Sektor vor allen Dingen diejenigen, die meh-
rere Vermittlungshemmnisse aufweisen, fördern und
nicht, wie es die Linken vorsehen, den Übergang in die
Rente unterstützen.

Auch das ist sehr wichtig: Wir brauchen eine sehr
enge Betreuung. Ich will es einmal mit dem Begriff „für-
sorgliche Belagerung“ umschreiben. Denn nur das führt
dazu, die Qualifikation zu verbessern und die Defizite
auszugleichen. Wir wollen eine aktivierende Arbeits-
marktpolitik, die unter dem Motto „Fordern und För-
dern“ steht. Am Ende soll nicht der betreute, sondern der
selbstständige Mensch stehen. Wir wollen keine Ver-
drängungseffekte für reguläre Arbeit. Kriterium muss
die Zusätzlichkeit sein.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sehr gut!)


Wir wollen weiterhin eine sorgfältige und regional diffe-
renzierte Auswahl der Beschäftigungsfelder. Das heißt,
zusätzliche Beschäftigung müsste beispielsweise in
Frankfurt am Main anders aussehen als in Mecklenburg-
Vorpommern.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sehr gut! Schade, dass Sie in der falschen Partei sind! – Michael Groschek [SPD]: Bravo!)






Dr. Matthias Zimmer


(A) (C)



(D)(B)

Gleichwohl muss ich sagen, dass wir an dieser Stelle
eine ganze Reihe von Instrumenten haben. Die Laufzeit
des Programms „Perspektive 50plus“ wurde gestern vom
Bundeskabinett verlängert. Alleinerziehende, die Hartz-
IV-Leistungen bekommen, würden einen Anspruch auf
einen gesonderten Ansprechpartner erhalten. Wir wollen
– auch das ist im Koalitionsvertrag festgelegt – das In-
strument der Bürgerarbeit in die Arbeitsmarktpolitik zu-
sätzlich einführen. Mit den Modellprojekten haben wir
gute Erfahrungen gemacht. Diese Maßnahmen führen
nicht zu Mehrkosten, und Verdrängungseffekte sind ver-
meidbar. Wenn Mittel aus dem Europäischen Sozial-
fonds an der Stelle zur Verfügung stehen, dann ist es
umso besser.

Meine Bitte an das Ministerium ist daher: Neben den
Maßnahmen, die bereits beschlossen sind, sollte die Idee
der Bürgerarbeit zügig angegangen werden. Noch in die-
sem Jahr sollte, wenn möglich, ein erster Entwurf vorge-
legt werden, damit wir für die Integration der Langzeit-
arbeitslosen etwas tun können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Michael Groschek [SPD]: Streckenweise gut!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703716900

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/1205 und 17/1397 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:

9 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und der FDP

Gewährleistung der Sicherheit der Eisen-
bahnen in Deutschland

– zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Sören Bartol, Martin Burkert, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Gewährleistung der Sicherheit im Schienen-
verkehr muss Priorität haben

– zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine
Leidig, Dr. Gesine Lötzsch, Heidrun Bluhm,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Den Schienenverkehr als sichere Verkehrs-
form erhalten und stärken

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Anton
Hofreiter, Winfried Hermann, Fritz Kuhn, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Eisenbahnsicherheit verbessern

– Drucksachen 17/1162, 17/655, 17/1016, 17/544,
17/1459 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Uwe Beckmeyer

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla-
mentarische Staatssekretär Enak Ferlemann.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


E
Enak Ferlemann (CDU):
Rede ID: ID1703717000


Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen
und Kollegen! Als Erstes möchte ich mich herzlich dafür
bedanken, dass sich die Fraktionen des Hauses so inten-
siv mit der Sicherheit des Eisenbahnverkehrs in
Deutschland und darüber hinaus beschäftigen. Ich
möchte direkt an den Anfang stellen, dass für die Bun-
desregierung die Sicherheit der Eisenbahnen in Deutsch-
land absolute Priorität hat. Daran gibt es keine Abstri-
che, auch wenn die Oppositionsfraktionen in ihren
Anträgen versuchen, hier und da vielleicht ein anderes
Bild aufzuzeigen. Wegen der Probleme, die zugegebe-
nermaßen im letzten Jahr stärker als sonst bei der Fahr-
zeugtechnik auftraten – allerdings europaweit, nicht nur
in Deutschland –, jetzt das gesamte System Eisenbahn
schlechtzureden, geht am Sachverhalt sicherlich völlig
vorbei.

Dadurch wird das Verkehrsmittel, das mit weitem Ab-
stand das sicherste Landverkehrsmittel ist, zu Unrecht
schlechtgemacht. Unser Land ist auf die Leistungen der
Eisenbahnunternehmen, die diese jeden Tag für Millio-
nen Reisende und im Zusammenhang mit dem Transport
von Millionen Tonnen Güter erbringen, angewiesen. Wir
können mit Recht stolz sein auf die Qualität, mit der
diese Leistungen erbracht werden, und auf das hohe
technische Niveau, das unsere Eisenbahnunternehmen
erreicht haben und gewährleisten.

Ein technisches System wie das der Eisenbahn ist
aber nichts Statisches. Es lebt von Weiterentwicklung,
neuen Erkenntnissen und Innovationen. Deshalb sind
das technische Regelwerk und die technischen und be-
trieblichen Vorschriften so angelegt, dass Weiterent-
wicklungen berücksichtigt werden. Zurzeit sind wir in
einer Phase, in der neue Erkenntnisse zum Verhalten des
Materials – ich nenne als Beispiel das Stichwort „Rad-
satzwellen“ – vorliegen und entsprechende Prüfungen
erfolgen. Da dies nicht allein ein nationales Thema ist,
hat die Europäische Eisenbahnagentur von der Kommis-
sion den Auftrag erhalten, gemeinsam mit dem Sektor,
das heißt den Eisenbahnunternehmen, der Bahnindustrie
und den nationalen Sicherheitsbehörden, diese Aspekte





Parl. Staatssekretär Enak Ferlemann


(A) (C)



(D)(B)

aufzuarbeiten und eine gemeinsame europäische Strate-
gie für die Fahrzeuginstandhaltung zu entwickeln.

Ich habe damit aufgezeigt, dass wir uns bei den Eisen-
bahnen mit der Liberalisierung des europäischen Eisen-
bahnverkehrsmarktes, die wir sehr begrüßen, und der
Harmonisierung der technischen Bedingungen nicht
mehr allein im nationalen Bereich, sondern vor allem eu-
ropaweit bewegen. Dies gilt natürlich für die Leistungen
im Verkehrsmarkt, aber zunächst auch für die rechtli-
chen Grundlagen. Die Europäische Kommission hatte
im Zuge der Errichtung eines Binnenmarktes für Eisen-
bahnverkehrsdienste erkannt, dass ein gemeinsamer
Rahmen für die Regelung der Eisbahnsicherheit geschaf-
fen werden muss. Dazu hat sie mit der Richtlinie 2004/
49/EG vom 29. April 2004 über die Eisenbahnsicherheit
in der Gemeinschaft europäisches Recht geschaffen. Von
besonderer Bedeutung ist dabei die Harmonisierung des
Inhalts von Sicherheitsvorschriften, der Sicherheitsbe-
scheinigungen für Eisenbahnunternehmen, der Aufga-
ben und Funktionen der Sicherheitsbehörden sowie der
Untersuchung von Unfällen. Diese Richtlinie wurde in
Deutschland am 16. April 2007 mit der Novellierung des
Allgemeinen Eisenbahngesetzes sowie des Gesetzes
über die Eisenbahnverkehrsverwaltung in nationales
Recht umgesetzt. Diese Novelle bildet nunmehr, aufbau-
end auf dem im deutschen Eisenbahnrecht bewährten
System der Aufgabenabgrenzung zwischen den Eisen-
bahnunternehmen, den Herstellern, den Haltern und ins-
besondere den Aufsichtsbehörden, die Grundlage für die
Gewährleistung der Sicherheit des Eisenbahnverkehrs in
Deutschland.

Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
lung hat sich in den letzten Monaten intensiv mit der
Frage auseinandergesetzt: Ist die Sicherheit im Schie-
nenverkehr gewährleistet, und was muss gegebenenfalls
verbessert werden? In einer intensiven Aussprache mit
der Deutschen Bahn und dem Eisenbahn-Bundesamt im
Dezember letzten Jahres sowie in einer Anhörung mit
Vertretern der DB AG und des Verbandes Deutscher
Verkehrsunternehmen, der Bahnindustrie, der Eisen-
bahnaufsicht und des Konzernbetriebsrats der DB AG
am 3. März dieses Jahres sind alle Aspekte ausführlich
erörtert worden.

Ich kann die Ergebnisse für mich so zusammenfassen:
Für die Sicherheit der Eisenbahnen in Deutschland be-
stehen umfassende Regelungen in den nationalen gesetz-
lichen Vorschriften auf der Basis des europäischen
Rechts zur Sicherheit der Eisenbahnen in der Gemein-
schaft. Die Serie von gefährlichen Ereignissen mit Rad-
satzwellen bei ICE-Zügen und bei Güterwagen sowie die
Probleme bei der S-Bahn in Berlin haben gezeigt, dass
die Übertragung der Aufgaben der Sicherheitsbehörde
auf das Eisenbahn-Bundesamt und auch die Einrichtung
einer Eisenbahn-Unfalluntersuchungsstelle des Bundes
der richtige und sachgerechte Weg für schnelle und ef-
fektive Reaktionen der staatlichen Aufsicht sowohl im
nationalen Bereich als auch bei der notwendigen Umset-
zung auf europäischer Ebene waren. Ich darf mich an
dieser Stelle ganz herzlich bei den Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern der Behörden für die exzellente Arbeit in
den vergangenen Monaten bedanken.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Aber diese Ereignisse sowie die hierzu im Ausschuss
durchgeführte öffentliche Expertenanhörung haben ei-
nen deutlichen Handlungsbedarf im Bereich der Rechte
und Pflichten der Betriebsleiter, im Bereich der Fahr-
gastrechte, im Bereich der Verantwortung von Eisen-
bahnunternehmen und Herstellern sowie bei der Harmo-
nisierung der Vorschriften auf europäischer Ebene
aufgezeigt. Diese Folgerungen sind im Antrag der Koali-
tionsfraktionen sehr zutreffend dargestellt. Ich darf mich
dafür ausdrücklich bei den Koalitionsfraktionen bedan-
ken. Die Bundesregierung wird den ihr erteilten Auftrag
für ein Konzept zur Weiterentwicklung der Sicherheit
der Eisenbahnen in Deutschland, wenn er heute so be-
schlossen wird, zügig erfüllen. Ich denke, dass wir im
zweiten Halbjahr dieses Jahres das Gesetzgebungsver-
fahren dazu durchführen können.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703717100

Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Uwe

Beckmeyer.


(Beifall bei der SPD)



Uwe Beckmeyer (SPD):
Rede ID: ID1703717200

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Wir beraten hier heute vier Anträge, die sich mit
dem Thema Bahnsicherheit beschäftigen. Sie spiegeln
ein bisschen wider, welche Diskussionen in den letzten
vier Monaten insbesondere in der Fachöffentlichkeit ge-
führt wurden. Es gibt seit langem eine ernst zu neh-
mende Diskussion über die Achsproblematik bei den
verschiedenen Modellreihen des ICE und die im Winter
so anfällige Konstruktion der ICE-Fahrzeuge der zwei-
ten und dritten Generation. Wir führen in Deutschland
eine generelle Debatte über die häufigen Zugausfälle,
die wir in den Wintermonaten erlebt haben und die so-
wohl die Mobilität als auch das Netz betreffen. Darüber
hinaus führen wir eine heftige Diskussion über die chao-
tischen Verhältnisse bei der Berliner S-Bahn. All das ist
die Grundlage, auf der wir aktuell diskutieren.

Bahnchef Grube war mehrfach im Verkehrsausschuss
zu Gast. Wir haben im Verkehrsausschuss extra ein Ex-
pertengespräch zum Thema Bahnsicherheit durchge-
führt. Ich denke, allein das zeigt, dass sich alle Fraktio-
nen sehr intensiv darum gekümmert haben.

Nachdem alle Oppositionsfraktionen einen Antrag
vorgelegt hatten, haben schließlich auch Sie, meine sehr
geehrten Damen und Herren von der Koalition, sich be-
reit gefunden, einen Antrag vorzulegen. Respekt! In
Kenntnis der öffentlichen Debatte, der Anträge der Op-
positionsfraktionen und der Forderungen in der Öffent-
lichkeit meldeten Sie sich Ende März zeitlich als letzte
mit Ihrem Antrag zu Wort. Ich habe den Worten des
Staatssekretärs entnommen, dass sein Haus möglicher-
weise Formulierungshilfen gegeben hat; allerdings halte
ich das für sehr bedenklich.





Uwe Beckmeyer


(A) (C)



(D)(B)

Wir hatten die Hoffnung, dass der zeitliche Verzug
nicht nur mit dem Prozess der Abstimmung in der Koali-
tion zu tun hat, sondern auch mit der Qualität des An-
trags. Doch weit gefehlt – ich will es vorsichtig formu-
lieren –: Der Antrag der Koalitionsfraktionen ist leider
der mit Abstand nicht beste. Man könnte es auch anders
sagen.

Weshalb wende ich mich besonders Ihrem Antrag zu?
Der gestrige Mehrheitsbeschluss im Ausschuss, der mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen zustande gekom-
men ist, hat offenbart, dass Ihr Antrag wohl auch heute
eine Mehrheit finden wird. Sie wollen ein Konzept zur
Weiterentwicklung der Gewährleistung der Sicherheit
der Eisenbahn in Deutschland. So weit, so gut. Das wol-
len wir hier alle. Doch was ist Ihre Top-eins-Forderung
zur Lösung der Probleme? Die Forderung nach einer
Stärkung der Verantwortung und der Rechte des Be-
triebsleiters von Eisenbahnverkehrsunternehmen. Alle
Achtung! Jetzt ist also die schwache Position des Be-
triebsleiters in den Eisenbahnverkehrsunternehmen
möglicherweise an der Sicherheitsproblematik im ge-
samten Schienenverkehr schuld. Dazu gibt es in der
Fachöffentlichkeit nur ungläubiges Kopfschütteln. Die
Betriebsleiter sind Angestellte der Eisenbahnverkehrs-
unternehmen. Sie haben auch die Wettbewerbsfähigkeit
und die wirtschaftlichen Interessen ihrer Unternehmen
im Auge zu behalten. Bei den Betriebsleitern anzuset-
zen, hieße, das Pferd von hinten aufzuzäumen.

Ich vermisse Antworten und Positionen der Koali-
tionsfraktionen: Was sagen Sie zur Einhaltung der War-
tungsintervalle und der Sicherheitsbestimmungen der
Hersteller durch die jeweiligen Nutzer? Was sagen Sie
zur Stärkung des Eisenbahn-Bundesamtes? Was sagen
Sie zu einer raschen Auswertung der Unfallprüfberichte
durch das EBA? Was sagen Sie zu einer ausführlichen
Unfallstatistik zur Art der Unfälle und deren Folgen?
Was sagen Sie zu einer Verpflichtung zur Schadensmel-
dung an den Hersteller? Was sagen Sie zur Notwendig-
keit eines Datentransfers zwischen Hersteller und Nutzer
während der Betriebsphase, zum Beispiel bei Wartungs-
arbeiten? Was sagen Sie zu längeren Garantiezeiten ohne
Ausschlussklauseln für Teilprodukte? Was sagen Sie zu
alldem? – Nichts. Was wollen Sie politisch durchsetzen?


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Nichts!)


Beim Bundesverkehrsminister gewinnt man den Ein-
druck, es habe immer derjenige recht, der zuletzt bei ihm
war: Laut Welt vom 8. Februar 2010 waren noch die
Hersteller schuld an den ICE-Schäden: Sie hätten nicht
die nötige Qualität geliefert und die DB AG habe nichts
für die Probleme gekonnt. Laut Frankfurter Rundschau
vom 12. März 2010 – ein Monat später – lag der
Schwarze Peter auf einmal doch bei der DB AG, weil sie
die falschen Fahrzeuge bestellt habe.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich glaube,
es ist entscheidend, dass man in dieser Frage nicht nur
Meinungen hinterherläuft, sondern sich selbst eine Mei-
nung bildet. Der Minister erläuterte einem erstaunten
Publikum, dass er beim Besuch der Bahnindustrie etwas
dazugelernt habe, nämlich den Unterschied zwischen
„dauerfest“ und „zeitfest“. Das wiederum, meine sehr
geehrte Damen und Herren, bringt den Begriff „sattel-
fest“ in die Debatte.

Trotzdem gelang es nicht, die Bahnindustrie zu be-
sänftigen. Es gebe keinen Grund für eine Änderung des
Eisenbahngesetzes, sagten Sie der Financial Times
Deutschland im April.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich glaube,
diese Strategie des BMVBS ist schlicht falsch. Man
kann es nicht jedem recht machen. Allen Beteiligten das
Blaue vom Himmel zu versprechen, hilft nicht. Mal sind
Sie auf der Seite der Bahnindustrie, dann wieder auf der
Seite der DB AG. Es muss ein schlüssiges Konzept her.
Ich glaube, das ist das Entscheidende. Ich bitte, einfach
einmal unseren Antrag zu lesen.

Fest steht doch eines: Seit 1994 ist der Personalbe-
stand in den DB-Instandhaltungswerken halbiert wor-
den. Das Durchschnittsalter der Beschäftigten dort
beträgt 45 Jahre. Bei der Wartung im Personenverkehrs-
bereich besteht eine Auslastung von 100 Prozent. Zu-
sätzlich müssen Zeitarbeitskräfte den jeweiligen Mehr-
bedarf an Arbeitskräften ausgleichen.

Im Expertengespräch des Ausschusses benannte der
Vertreter des Konzernbetriebsrates einen weiteren wich-
tigen Punkt: die Ausdünnung der Fahrzeugflotte bei der
DB AG. Die Sicherheitsreserven im Fahrzeugbestand
sind in den vergangenen Jahren reduziert worden. Ich
glaube, darüber müssen wir gemeinsam reden. Bei Zug-
ausfällen infolge von Wartungsarbeiten wie bei den ICE-
Zügen fehlt ein ausreichender Ersatzbestand zur rei-
bungslosen Fortführung des Schienenverkehrs. Das ist
auch ein wesentliches Problem. Hinzu kommt: Quali-
tätsstandards werden im DB-Konzern – das haben wir
gelernt – unterschiedlich gehandhabt.

Während in einzelnen Sparten – Personenfernverkehr,
Regionalverkehr – nach ISO-Standards zertifiziert und
auf einem hohen Qualitätsniveau geprüft wird, besteht in
anderen Sparten eine unzureichende Auditierung. Im
Güterverkehr besteht nach wie vor ein geringes Qualifi-
zierungsregime. Bei der S-Bahn hat es jahrelang über-
haupt nicht stattgefunden.

Meine Damen und Herren, für uns steht fest: Die Si-
cherheit im Schienenverkehr muss oberste Priorität ha-
ben und ist ein nicht verhandelbares Gut. Wir haben in
unserem Antrag konkrete Vorschläge unterbreitet, und
wir hoffen und erwarten, dass diese auch von den Koali-
tionsfraktionen und der Bundesregierung aufgenommen
und bei ihrer zukünftigen Politik berücksichtigt werden.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703717300

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Patrick

Döring das Wort.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)


Patrick Döring (FDP):
Rede ID: ID1703717400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

In der Tat: Die Sicherheit im Schienenverkehr ist nicht
verhandelbar, darüber besteht Konsens bei den Beratun-
gen im Ausschuss und auch zwischen den Fraktionen;
zumindest habe ich es so empfunden. Aber neben der
vorgetragenen Einigkeit gibt es natürlich Unterschiede
zwischen den Anträgen der Koalition und den Anträgen
der Oppositionsfraktionen. Der entscheidende Unter-
schied ist, dass wir zwischen dem unterscheiden können,
was Unternehmen, die Verkehrsdienstleistungen anbie-
ten und dazu Schienenfahrzeuge verwenden, leisten
müssen, was die Unternehmen, die diese Fahrzeuge
bauen und warten, leisten müssen und was am Ende über
die Aufsicht durch das Eisenbahn-Bundesamt und das
Allgemeine Eisenbahngesetz in diesem Hause politisch
und gesetzgeberisch gemacht werden muss. Ich habe der
Rede von Uwe Beckmeyer aufmerksam zugehört; er
sprach als eine Mischung aus Verkehrspolitiker und Vor-
stand eines Eisenbahnunternehmens. Wir haben hier
aber nur die eine Rolle, nämlich die des Gesetzgebers,
deshalb wird die Koalition das regeln, was sie regeln
kann und muss. Wir werden aber keineswegs versuchen,
die Dinge zu regeln, die andere zu regeln haben, liebe
Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


In der heutigen Debatte geht es darum, dass niemand
die Augen davor verschließt, dass in einigen Teilberei-
chen von Verkehrsunternehmen, auch bundeseigener
Verkehrsunternehmen in der Bundesrepublik Deutsch-
land, beispielsweise bei der S-Bahn Berlin, ganz offen-
sichtlich Führungs- und Verantwortungsversagen vorge-
legen hat, dass Menschen, die die Verantwortung hatten,
die Wartung der S-Bahn in Berlin regelkonform und
nach dem Pflichtenheft des Herstellers und des Eisen-
bahn-Bundesamtes zu organisieren, dieser Aufgabe nicht
nachgekommen sind.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Das haben die vergessen!)


Dafür wurden sie zur Verantwortung gezogen. Natürlich
haften die Mitarbeiter und die Leitung des Unterneh-
mens. Zu glauben, dass der Deutsche Bundestag oder gar
der Bundesverkehrsminister in der Lage sein könnte
– egal, unter welcher Regierung, zumal der Vorfall bei
der S-Bahn Berlin unter einer anderen Koalition stattge-
funden hat; insofern müssten andere zur Verantwortung
gezogen werden –, jede Entscheidung eines Unterneh-
mens per Gesetz zu regeln, ist weltfremd. Wir wissen in-
zwischen, dass es bei der S-Bahn Berlin ein solches Füh-
rungs- und Verantwortungsversagen gegeben hat. Das
Unternehmen trägt dafür die Verantwortung, es hat die
Konsequenzen gezogen, was bis in die Führung des Un-
ternehmens zu spüren war. Es gab dort keine gesetzgebe-
rischen Probleme, sondern es ist ein rein operatives Han-
deln in den Unternehmen gewesen. Wir sollten in diesem
Fall klar trennen, wer für was verantwortlich ist.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Zum Kern der Sache. In Teilen des Hauses wird be-
hauptet, Versagen bei den Sicherheitsstrukturen eines Ei-
senbahnunternehmens sei damit zu begründen, dass die-
ses Unternehmen privatwirtschaftlich geführt wird.
Wenn das so ist, dann dürften Sie in kein Flugzeug einer
in Deutschland operierenden Fluggesellschaft einsteigen
– denn sie sind alle privatwirtschaftlich organisiert –,
noch dürften sie sich an vielen anderen Lebensbereichen
des öffentlichen Lebens beteiligen. Es gibt in der Sicher-
heitsphilosophie keinen Unterschied zwischen privaten
und staatlichen Unternehmen. Wer das behauptet, han-
delt fahrlässig gegenüber denjenigen, die sich täglich mit
Verkehrsmitteln privater Unternehmen fortbewegen. Es
gibt keinen Unterschied. Ganz im Gegenteil: Die Sicher-
heit im Luftverkehr ist nicht den Bürokraten und Politi-
kern zu verdanken, sondern dem außerordentlich hohen
Engagement der Unternehmen, und das, obwohl sie ge-
winnorientiert arbeiten. Das ist nämlich kein Wider-
spruch. Es lohnt sich, Ihnen das in jeder Debatte erneut
beizubringen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie versuchen es!)


Kollege Uwe Beckmeyer hat gefragt, was die Koali-
tion eigentlich will. Wir bleiben dabei: Wir wollen, dass
diejenigen, die dicht dran sind, beispielsweise die Be-
triebsleiter, mehr Rechte bekommen, damit sie sich im
Bereich der Sicherheitsanforderungen durchsetzen kön-
nen. Wir wollen, dass das Eisenbahn-Bundesamt so stark
und selbstbewusst ist, dass es noch schneller handeln
kann. Deshalb hat es dort einen Stellenaufwuchs gege-
ben. Gleichzeitig wollen wir, dass im Allgemeinen Ei-
senbahngesetz das geregelt wird, was zu regeln ist. Im
Gesetz ist nicht zu regeln, ob die Eisenbahnunternehmen
die Hersteller in ihre Wartungsanlagen lassen. Das alles
kann man aber privatrechtlich regeln.

Wir sollten überprüfen, warum all das, was in allen
anderen Verkehrsbereichen – im Automobilbereich, im
Luftfahrtbereich und in der Seeschifffahrt – zwischen
den Herstellern, den Wartungsbetrieben und den Betrei-
bern der Verkehrsmittel privatwirtschaftlich organisiert
wird, durch bürgerlich-rechtliche Verträge, ausgerech-
net bei der Bahn nicht so stark ausgeprägt ist? Muss man
das Allgemeine Eisenbahngesetz oder andere Regelun-
gen ändern? Diese Fragen werden wir in den nächsten
Wochen erörtern. Ich appelliere an die Verantwortung
der Bahnindustrie und der Bahnunternehmen, dass sie
ihre Regelungslücken schließen, was durch entspre-
chende Verträge gewährleistet werden kann. Der Staat
muss das tun, was ihm auferlegt ist. Das gilt ebenso für
die Unternehmen. Darauf legt diese Koalition großen
Wert.

Es gibt keinen Unterschied zwischen den Sicherheits-
wünschen der Opposition und der Koalition. Es gibt
vielleicht einen etwas anderen Weg der Umsetzung.
Aber ich bin mir sicher, dass wir am Ende die ge-
wünschte Rechtssicherheit schaffen, dass wir starke Ak-
teure haben und dass wir beweisen können, dass es nicht
auf die Rechtsform des Verkehrsunternehmens an-
kommt, ob Sicherheit herrscht, sondern dass es zu den
Grundpfeilern unserer Verkehrspolitik gehört, dass sich
jeder, der sich in der Verkehrswirtschaft engagiert, nach





Patrick Döring


(A) (C)



(D)(B)

den Sicherheitsvorschriften zu verhalten hat, unabhängig
davon, ob es sich um ein privates oder ein öffentliches
Unternehmen handelt.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703717500

Das Wort hat die Kollegin Sabine Leidig für die Frak-

tion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Sabine Leidig (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703717600

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich

möchte noch einmal betonen, dass mit der Pannenserie
bei der Berliner S-Bahn, die Ende 2008 begonnen hat,
vor unseren Augen ein beispielloser Niedergang eines
funktionierenden öffentlichen Nahverkehrssystems statt-
gefunden hat. Dieser Niedergang hatte zwei zentrale
Gründe: Erstens gab es eine Menge Probleme mit Rä-
dern und Radachsen, die zu schwach und nicht ausrei-
chend dimensioniert waren. Zweitens – das ist das Ent-
scheidende gewesen – sind die Wartungskapazitäten, die
der Bahn zur Verfügung stehen, systematisch herunter-
gefahren worden. Warum? Weil die S-Bahn Berlin jähr-
lich Zigmillionen Euro Gewinn an die Muttergesell-
schaft Deutsche Bahn AG abzuführen hatte.


(Patrick Döring [FDP]: Schlichter Quatsch!)


Ich glaube, dass man an diesem Beispiel wie in einem
Brennglas sehen kann, worin zentrale Probleme der
Bahnsicherheit bestehen,


(Patrick Döring [FDP]: Unverantwortlich!)


auch im Fernverkehr, bei den ICE, und im Güterverkehr.
Eines der größten und schwersten Unglücke der Eisen-
bahngeschichte, die Entgleisung des ICE bei Eschede
1998, hatte genau diesen Grund: Die Radachsen, die Rä-
der waren den Belastungen nicht gewachsen.


(Patrick Döring [FDP]: Da ist ein Radreifen gesprungen! Das ist etwas völlig anderes!)


24 Radsatzwellenbrüche und 31 Radreifen- und Rad-
scheibenbrüche im In- und Ausland sind seit 2000 be-
kannt geworden. Die Konsequenz, die man aus diesen
Feststellungen bereits 2004 in einer Studie gezogen hat,
ist, dass das Material anders ausgelegt sein muss, dass
man stärkere, dauerfeste Teile braucht. Im japanischen
Fernverkehrssystem und auch beim TGV in Frankreich
wird genau diese Schlussfolgerung gezogen. Dort wird
ein stärkeres Material eingesetzt. Die Deutsche Bahn AG
wählt diesen Weg nicht.


(Patrick Döring [FDP]: Das stimmt nicht!)


Die Deutsche Bahn AG hat sich entschieden, die Rad-
achsen einer engmaschigen Kontrolle zu unterziehen, sie
mit Ultraschallgeräten zu prüfen und auf feine Haarrisse
und Kerben zu untersuchen.


(Patrick Döring [FDP]: Und, wenn nötig, auszutauschen!)

– Und, wenn nötig, auszutauschen. Völlig richtig.


(Patrick Döring [FDP]: Das gehört ja wohl dazu!)


Sie setzt aber nicht auf ein System, das garantiert, dass
diese Räder und Radachsen bis zum Lebensende eines
Zuges halten.


(Thomas Jarzombek [CDU/CSU]: Es gibt keine Garantie dafür!)


Sie müssen einfach stärker sein. Aber damit sind sie na-
türlich auch teurer, und das ist genau der Grund, warum
die Deutsche Bahn AG dieses stärkere Material nicht be-
stellt hat. Das hat übrigens auch Verkehrsminister
Ramsauer genau so veröffentlicht.


(Patrick Döring [FDP]: Es gibt keine stärkeren Radachsen, die zugelassen sind!)


Er hat darüber hinaus festgestellt, dass die Börsenorien-
tierung des Unternehmens dafür verantwortlich ist, dass
an dieser Stelle gespart wird.


(Patrick Döring [FDP]: Das hat er nicht festgestellt! Das ist falsch! Unverantwortlich!)


Nun stellen wir fest, dass offensichtlich auch die
Werkstattkapazitäten nicht nur bei der S-Bahn, sondern
insgesamt so stark heruntergefahren wurden, dass sie
nicht mehr ausreichen, um das Herausfliegen einer ICE-
Tür zu verhindern. Wann hat es das in der Zuggeschichte
jemals gegeben? Das muss man sich einmal vorstellen:
Eine Schraubenmutter löst sich. Die löst sich doch nicht
einfach so, sondern sie löst sich, weil der Wagen nicht
richtig gewartet worden ist.


(Patrick Döring [FDP]: Auch das ist Quatsch!)


Da darf auf keinen Fall gespart werden. Aus unserer
Sicht ist die zentrale Forderung, dass sich die Deutsche
Bahn AG ganz klar auf einen sicheren Verkehr, auf einen
ausreichend gewarteten Fahrzeugpark orientiert und
nicht darauf, mehr Gewinn zu machen.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703717700

Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Döring zulassen?


Sabine Leidig (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703717800

Ja.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703717900

Bitte schön.


Patrick Döring (FDP):
Rede ID: ID1703718000

Frau Kollegin Leidig, sind Sie bereit, zuzugestehen,

dass bezüglich der Untersuchung des tragischen Un-
glücks mit der herausgerissenen ICE-Tür erstens die Er-
mittlungen des Eisenbahn-Bundesamtes andauern, zwei-
tens in alle Richtungen ermittelt wird, auch in Richtung
Fremdeinwirkung/Sabotage? Und sind Sie bereit, zuzu-
gestehen, dass wir zu diesem Zeitpunkt keinerlei Er-
kenntnisse aus dem Eisenbahn-Bundesamt haben, wie es





Patrick Döring


(A) (C)



(D)(B)

zu diesem tragischen Unglück gekommen ist, bevor Sie
hier weiter verbreiten, es handele sich bei diesem Unfall
um einen Wartungsfehler?


(Zuruf von der LINKEN: Das war al-Qaida!)



Sabine Leidig (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703718100

Zumindest hat man gelesen, dass es eine lockere

Schraubenmutter war.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Da ist die Frage, bei wem die Schraube locker ist!)


Ich denke, so etwas muss in einer Werkstatt festgestellt
und geklärt werden.


(Patrick Döring [FDP]: Unglaublich! Quatsch!)


Ich möchte dazu, dass Sie in Ihrem Antrag fordern,
die Verantwortung und Rechte der Betriebsleiter zu stär-
ken, feststellen, dass wir der Meinung sind, dass die Ver-
antwortung da nicht an der richtigen Stelle abgeladen
wird. Ein Betriebsleiter, der permanent dem Rendite-
druck des Unternehmens ausgesetzt ist, wird in ständi-
gem Widerstreit stehen zwischen den notwendigen um-
fangreichen Sicherheits- und Wartungsarbeiten und der
Vorgabe, dass die Züge schnell wieder in Betrieb kom-
men. Das wird übrigens auch von denjenigen, die sich da
fachlich auskennen, genauso geschildert.

Es geht darum, der Deutschen Bahn AG eine andere
Richtung zu geben. Genau darin besteht die Verantwor-
tung der Politik. Wir wollen nicht das operative Geschäft
betreiben, sondern wir wollen eine Bürgerbahn und
keine Börsenbahn. Wir wollen, dass die Sicherheit im
Mittelpunkt steht und nicht die Gewinne. Wir wollen
nicht Arriva in Großbritannien aufkaufen, sondern wir
wollen sicher reisen und das Gefühl haben, dass wir
auch in Zukunft gern in die Bahn steigen.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703718200

Frau Kollegin, Sie müssten dringend zum Ende kom-

men.


Sabine Leidig (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703718300

Ich komme zum Ende. – Ein erster Schritt, um diesen

Kurs der Bahn zu ändern, wäre, den Aufsichtsrat anders
zu besetzen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703718400

Frau Kollegin, Sie müssten schon zum Ende gekom-

men sein.


Sabine Leidig (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703718500

Warum kann man nicht vonseiten der Bundesregie-

rung, die das alleinige Berufungsrecht hat, eine Bahnsi-
cherheitsfachkraft in den Aufsichtsrat berufen? Das ist
unser Vorschlag.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703718600

Frau Kollegin.

Sabine Leidig (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703718700

Die Lieferanten von Rädern und Radachsen sollten

nicht in diesem Aufsichtsrat sitzen.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703718800

Der Kollege Dr. Anton Hofreiter hat das Wort für

Bündnis 90/Die Grünen.


Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703718900

Geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir haben in diesem Winter und schon davor
eine ganze Reihe von verblüffenden Ereignissen bei der
Bahn erleben dürfen: Achsen sind gebrochen, Radschei-
ben sind gebrochen, und Güterzüge sind entgleist. Wenn
man nach den Ursachen für all diese Ereignisse geschaut
hat, musste man feststellen: Bei der S-Bahn gab es mas-
sive Schlamperei und einen Abbau der Wartungskapazi-
täten, beim ICE weiß man eigentlich immer noch nicht
ganz genau, warum die Achse gebrochen ist.

Wir hatten einen wunderschönen parlamentarischen
Abend mit vielen Experten, die alle nicht wirklich darle-
gen konnten, warum der sogenannte dauerfeste Stahl
doch nicht dauerfest ist und ob das einfach falsch kon-
struiert worden ist. Wir erlebten einen wunderbaren
Streit zwischen der DB AG und der Bahnindustrie, wer
denn jetzt eigentlich schuld sei. Dies ist für Nichtfach-
leute kaum nachvollziehbar. Wir haben, wie gesagt, er-
lebt, dass Züge entgleist sind. Ich denke zum Beispiel an
das Güterzugunglück bei Fürth. Als man genauer hinge-
schaut hat, hat man festgestellt, dass die Schrauben, die
die Gleise befestigen sollten, lose waren, weil sie offen-
sichtlich seit vielen Jahren nicht mehr genauer überprüft
worden sind.

Das heißt, wir können zwei Dinge beobachten: Auf
der einen Seite ist die Wartung zurückgefahren worden,
auf der anderen Seite ist der Unterhalt der Infrastruktur
zurückgefahren worden. Jetzt können wir uns lange und
ausführlich über gesetzliche Regelungen streiten. Sicher
gibt es im Detail gesetzgeberischen Nachholbedarf, aber
es ist auch schon dargelegt worden, dass selbstverständ-
lich nicht hinter jedem einzelnen Mitarbeiter der Gesetz-
geber stehen kann. Es handelt sich hier jedoch nicht um
ein x-beliebiges Unternehmen. In welchem Unterneh-
men treten denn all diese Probleme auf? In einem Unter-
nehmen, das sich zu 100 Prozent in öffentlichem Eigen-
tum befindet,


(Patrick Döring [FDP]: Und trotzdem die Sicherheitsprobleme!)


in einem Unternehmen, das im Schnitt über Regionali-
sierungsmittel, über Zuschüsse zur Infrastruktur rund
10 Milliarden Euro Steuergelder bekommt. Jetzt ist hier
schon zu Recht gesagt worden, dass die Gewährleistung
von Sicherheit nicht unbedingt davon abhängt, ob es sich
um ein öffentliches oder privates Unternehmen handelt.
Als gutes Beispiel dafür sind die Fluggesellschaften ge-
nannt worden.





Dr. Anton Hofreiter


(A) (C)



(D)(B)

Aber bei der Bahn gab es eine ganz spezielle Fehlent-
wicklung. Was ist in diesem Unternehmen passiert? In
diesem Unternehmen wurde und wird noch immer ein
Kurs verfolgt, der mehr oder weniger auf einen Börsen-
gang hinausläuft. Im Zuge des Anstrebens eines Börsen-
gangs hat man beim extrem langlebigen System Eisenbahn
etwas ganz Einfaches gemacht, um die Gewinnerwartun-
gen zu erhöhen: Man hat schlichtweg weniger in die In-
frastruktur und in die Wartung investiert. Was ist der Ef-
fekt? Man spart natürlich kurzfristig Geld, und das
Ganze schaut finanziell besser aus. Warum hat man das
derart rücksichtslos gemacht, auch ohne auf den lang-
fristigen Wert des Unternehmens zu achten? Weil es ein
bestimmtes Datum gab, auf das man hingearbeitet hat.


(Patrick Döring [FDP]: Das gibt es ja nicht mehr!)


Man hat darauf hingearbeitet, das Unternehmen spätes-
tens 2008 an die Börse zu bringen. Das ist auch der Un-
terschied zu einem privaten, zu einem schon privatisier-
ten Unternehmen. Diesem Ziel hat man alles andere
untergeordnet.


(Patrick Döring [FDP]: Das ist ja vorbei!)


Man hat zum Beispiel der S-Bahn Berlin die Vorgabe
gemacht, einen bestimmten Gewinn abzuliefern: zuerst
50 Millionen Euro, dann 80 Millionen Euro und im nächs-
ten Jahr 130 Millionen Euro. Das waren harte Vorgaben.
Wenn von unten Einspruch geäußert und gesagt wurde,
dass diese Gewinnvorgaben nicht realisierbar sind, dann
hieß es: Ihr setzt diese Gewinnvorgaben um, komme, was
da wolle. – Das ist auch an den Aussagen verschiedener
Mitarbeiter deutlich geworden. Das heißt, die Börsen-
orientierung hatte mit den Problemen bei der Sicherheit
durchaus zu tun. Letztendlich hat der Eigentümer versagt,
weil er nicht klargemacht hat, was er erwartet.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Was passiert im Moment? Wir sehen, dass die Ent-
wicklung weiterhin in diese Richtung geht. 2,7 Milliar-
den Euro werden für den Kauf von Arriva ausgegeben.
Dieses öffentliche Unternehmen ist an 130 Standorten in
den Bereichen Luftfrachtlogistik, Straßenlogistik und
Seefrachtlogistik tätig. Dorthin verschwindet das Geld.
Dieses Geld sollte bei der Schiene reinvestiert werden.
Dann gäbe es auch nicht mehr in diesem Umfang Sicher-
heitsprobleme. Als Regierung, als Vertreter des Eigentü-
mers ist es Ihre Aufgabe, dies umzusetzen.

Danke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703719000

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege

Ulrich Lange.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1703719100

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Kollegin Leidig, Kollege Hofreiter, ich habe Angst.
Ich habe ganz große Angst, wenn ich morgen in einen
Zug steige, um in meinen Wahlkreis zu fahren. Wenn ich
mir die Probleme vor Augen halte, die Sie gerade aufge-
zählt haben, bleibe ich besser in Berlin oder suche mir
ein anderes Verkehrsmittel.

Ich glaube, es ist gut, dass wir uns über das wichtige
Thema Bahnsicherheit unterhalten. Aber die Debatte
zeigt auch, wie differenziert und unterschiedlich unsere
Ansätze in vielen Punkten sind. Die Bahn ist und bleibt
trotz alledem, was gerade beschrieben wurde, das si-
cherste Verkehrsmittel; das bitte ich festzuhalten. Wer
gehört hat, was Sie gesagt haben, müsste sonst nämlich
glauben, dass man in Deutschland in keinen Zug mehr
steigen kann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach! Das stand hier doch nicht zur Debatte! – Weiterer Zuruf vom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Das hat doch niemand bestritten!)


– Ja, Herr Kollege Hofreiter, ich habe wirklich Angst.

Über eines müssen wir uns im Klaren sein: Absolute
Sicherheit wird es in einem Unternehmen mit über
200 000 Beschäftigten und bei über 5 Millionen Passa-
gieren pro Tag – ich brauche die ganze Liste wohl nicht
aufzuzählen – nicht geben. Dass wir uns alle um die
größtmögliche Sicherheit im Eisenbahnverkehr bemü-
hen, dürfte unstreitig sein. Ich glaube, auf die vielen Pro-
bleme, die es in den vergangenen Jahren gegeben hat, ob
bei der S-Bahn Berlin oder mit ICE-Radsatzwellen,
brauche ich nicht einzugehen. Aber eines funktioniert
natürlich nicht – das haben wir auch in der Anhörung im
Ausschuss deutlich gemacht –: das Schwarzer-Peter-
Spiel zwischen DB AG und Bahnindustrie. Das können
wir nicht hinnehmen.


(Florian Pronold [SPD]: Den Ramsauer will keiner haben!)


Im Übrigen ist es so, dass die Übertragung dieser An-
gelegenheit auf das EBA und die Einrichtung einer
Eisenbahn-Unfalluntersuchungsstelle des Bundes der
richtige Ansatz war. Das EBA hat einen guten Job ge-
macht. Die neue Koalition setzt auf eine komplette Neu-
orientierung, nicht auf Panikmache.

Kollege Beckmeyer, wenn ich Ihnen richtig zugehört
habe, haben Sie in Ihrer Rede neben der üblichen Pres-
seschau die Ausdünnung der Flotte, der Werkstätten
usw. angesprochen. Mit dieser Bilanz des Gespanns
Mehdorn/Tiefensee haben Sie 4 000 Tage SPD-Ver-
kehrspolitik aufgezählt. Überlegen Sie also vorher, was
Sie uns erzählen wollen! Ansonsten wird das Ganze zum
Bumerang.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Mit Peter Ramsauer, lieber Kollege Pronold, haben
wir einen ausgezeichneten neuen Verkehrsminister. Das





Ulrich Lange


(A) (C)



(D)(B)

hat er nicht nur bei der Aschewolke bewiesen, das zeigt
er auch, wenn er die Fehlleistungen des Ministeriums
Tiefensee, insbesondere in der Bahnpolitik, korrigieren
muss.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Florian Pronold [SPD]: Das glauben Sie doch selber nicht einmal!)


– Natürlich.

Sie haben den Antrag der Koalitionsfraktionen sicher-
lich gelesen. Er ist in vielen Punkten konkreter als der
Antrag der SPD. Sie wollen eine dynamische Sicher-
heitsüberprüfung usw. Dazu steht aber nicht viel in Ih-
rem Antrag.

Frau Kollegin Leidig, Sie haben von der guten alten
Bahn geschwärmt. Natürlich; denn Sie wollen die Bahn
nicht in private Hände geben, meinen, der Staat könne
das Unternehmen besser führen. Sie haben auch von der
alten DDR-Reichsbahn geschwärmt. Ich glaube nicht,
dass ein Modell für die Zukunft ist, dass wir wieder in
solchen Zügen sitzen wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Für uns steht der Neuanfang mit Dr. Grube und
Dr. Peter Ramsauer fest. Bahnpolitik wird im Verkehrs-
ministerium gemacht und nicht wie bei Mehdorn am
Potsdamer Platz. Das ist für uns als Politiker das Ent-
scheidende.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Der Kunde muss im Mittelpunkt stehen. Pünktlichkeit,
Sicherheit, Schnelligkeit und Zuverlässigkeit, das ist
das, was die Fahrgäste von der Deutschen Bahn und von
den anderen Bahnunternehmen erwarten. Ich bin mir si-
cher, dass wir hier auf einem guten Weg sind.

Lassen Sie mich zum Schluss festhalten: Die Bahn
setzt ihre Ankündigungen um, ob es um den Vorstands-
posten für die Technik geht oder um die 6 Milliarden
Euro für die Nachfolger der IC- und ICE-Züge und vie-
les mehr. Der Dienstleistungsanspruch steht im Mittel-
punkt. Die Sicherheit ist das höchste Gut. Wir alle sind
der Sicherheit verpflichtet, wissen aber: Absolute Si-
cherheit im Verkehr kann und wird es nie geben.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703719200

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf
Drucksache 17/1459.

Unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Annahme des Antrags der Frak-
tionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/1162
mit dem Titel „Gewährleistung der Sicherheit der Eisen-
bahnen in Deutschland“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Die Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Damit ist die Beschlussempfehlung angenommen
bei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Dage-
gen gestimmt haben SPD und Bündnis 90/Die Grünen.
Enthalten hat sich die Fraktion Die Linke.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Druck-
sache 17/655 mit dem Titel „Gewährleistung der Sicher-
heit im Schienenverkehr muss Priorität haben“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Die Gegen-
stimmen! – Enthaltungen? – Damit ist die Beschluss-
empfehlung angenommen. Zugestimmt haben CDU/
CSU und FDP. Dagegen gestimmt hat die Fraktion der
SPD. Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben sich ent-
halten.

Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1016 mit dem
Titel „Den Schienenverkehr als sichere Verkehrsform er-
halten und stärken“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Die Gegenstimmen! – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist ebenfalls angenommen bei
Zustimmung durch CDU/CSU, FDP und SPD. Die Frak-
tion Die Linke hat dagegen gestimmt. Bündnis 90/Die
Grünen haben sich enthalten.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchsta-
be d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/544 mit dem Titel „Eisenbahnsicherheit ver-
bessern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Die Gegenstimmen! – Enthaltungen? – Damit ist die Be-
schlussempfehlung bei Zustimmung durch die Koali-
tionsfraktionen angenommen, dagegen haben Bündnis 90/
Die Grünen gestimmt, und enthalten haben sich SPD
und Linke.

Damit rufe ich den Tagesordnungspunkt 10 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Martin Gerster,
Nicolette Kressl, Ingrid Arndt-Brauer, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags-,
Feiertags- und Nachtarbeit erhalten

– Drucksachen 17/244, 17/1458 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Olav Gutting
Martin Gerster
Dr. Daniel Volk

Über die Beschlussempfehlung stimmen wir im An-
schluss namentlich ab.

Es ist zwischen den Fraktionen verabredet, dazu eine
halbe Stunde zu debattieren. – Dazu höre ich keinen Wi-
derspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Olav Gutting für die CDU/CSU-Fraktion.





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Daniel Volk [FDP])



Olav Gutting (CDU):
Rede ID: ID1703719300

Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Die SPD stellt hier heute einen Antrag, dass die Steuer-
freiheit der Zuschläge für Sonn-, Feiertags- und Schicht-
arbeit für alle Zeiten unangetastet bleiben soll. Man
wundert sich geradezu, dass Sie nicht beantragen, dass
wir das ins Grundgesetz hineinschreiben.


(Martin Gerster [SPD]: Gute Idee!)


Es ist ein reines Wahlkampfmanöver der SPD. Sie
versuchen hier wider besseres Wissen, die Union als Par-
tei hinzustellen, die die Abschaffung der Steuerfreiheit
der Zuschläge will. Nur: Die Union plant gar keine Ab-
schaffung der Steuerfreiheit dieser Zuschläge.


(Florian Pronold [SPD]: Dann können Sie ja zustimmen! – Weiterer Zuruf von der SPD: Sind Sie sich sicher?)


Das würde im Übrigen auch unserem Ansatz widerspre-
chen, der besagt: Wir wollen für die Menschen in
Deutschland mehr Netto vom Brutto.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Diese Debatte heute hat schlicht und ergreifend zwei
Ursachen. Die eine ist: Wir stehen kurz vor den Wahlen
in Nordrhein-Westfalen. Die andere ist: Es liegt ein Gut-
achten vor, in dem die Ergebnisse der Beurteilung der
Steuerfreiheit der Zuschläge schwarz auf weiß niederge-
legt wurden.

Es war Ihr Finanzminister Peer Steinbrück, der im
Juli 2007 ebenjenes Gutachten in Auftrag gegeben hat.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Daran war der Poß beteiligt!)


Das Ergebnis dieses Gutachtens hinsichtlich der Steuer-
befreiung von Sonn-, Feiertags- und Nachtzuschlägen
können Sie jetzt nachlesen. In diesem Gutachten, das
von Ihrem Finanzminister in Auftrag gegeben wurde,
steht: Durch die Steuerfreiheit wird das Gerechtigkeits-
prinzip verletzt. Verteilungspolitisch werden Besserver-
dienende mit dieser Steuerbefreiung sogar stärker be-
günstigt. – Dort steht auch schwarz auf weiß: Die durch
die Steuerbefreiung der Zuschläge induzierte Anreizwir-
kung widerspricht dem Ziel des Schutzes der Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer in diesem Land. – So lautet
das eindeutige Ergebnis dieser Studie, die von Ihrem Fi-
nanzminister in Auftrag gegeben wurde.

Ich will nochmals klarstellen, damit das auch jeder
hier kapiert: Die Union und auch die christlich-liberale
Koalition insgesamt planen trotz dieses Ergebnisses
keine Streichung dieser Steuerfreiheit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ihrem Antrag, der hinsichtlich des Gestaltungswillens in
der Steuerpolitik ja eine Bankrotterklärung ist, werden
wir trotzdem nicht zustimmen.

(Florian Pronold [SPD]: Ach nee! – Weitere Zurufe von der SPD: Ah!)


Der Wegfall von Ausnahmeregelungen ist grundsätz-
lich nur vertretbar, wenn er mit einer Steuerreform kom-
biniert wird, und in diesem besonderen Fall müssen zu-
sätzlich Tarifvereinbarungen hinzukommen, durch die
die Schlechterstellung zum Beispiel gerade der Kranken-
schwestern vermieden wird.


(Florian Pronold [SPD]: Das ist das Hintertürchen, das aufgemacht wird!)


Wir wollen ein Einkommensteuerrecht, das Leistung
belohnt, statt sie zu bestrafen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ihr Antrag, den wir heute beraten, will aber eine Ausnah-
mevorschrift zementieren und damit eine die Arbeitneh-
mer begünstigende Rechtsfortbildung grundsätzlich ver-
hindern.

Wer wirklich arbeitnehmerfreundliche Politik machen
und die breite Mitte der Gesellschaft entlasten will, die
in diesem Land seit Jahren die Lasten tragen muss, der
muss wie wir das Ziel haben, ein leistungsgerechtes, ein-
facheres und transparenteres Einkommensteuerrecht zu
gestalten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das bedeutet nicht zwangsläufig die Abschaffung der
Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags-, Feiertags-
und Nachtarbeit. Es ist auch in keiner Weise Bestandteil
unseres Regierungsprogramms. Das bitte ich Sie zur
Kenntnis zu nehmen.

Ich finde Ihren Antrag nicht nur unnötig, sondern
auch regelrecht anmaßend. Nicht nur, dass Sie wie im-
mer in typischer SPD-Manier den Menschen in diesem
Land vorschreiben wollen, was sie zu tun und zu lassen
haben,


(Joachim Poß [SPD]: Reden Sie doch nicht so einen Stuss! – Gegenruf von der FDP: Das stimmt doch!)


nein, jetzt versuchen Sie auch noch, zukünftigen Politi-
kergenerationen Vorschriften zu machen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Was ist denn, meine Damen und Herren von der SPD,
wenn in fünf, zehn oder vielleicht fünfzehn Jahren eine
andere Politikergeneration der SPD eventuell auf die
Idee kommt, dass das Ergebnis der von Ihrem Finanzmi-
nister in Auftrag gegebenen Studie vielleicht doch Be-
standteil einer großen Steuerstrukturreform werden soll?
Was ist, wenn eine SPD-Politikergeneration genauso wie
das Gutachten eines Tages feststellt, dass die Abschaf-
fung der Steuerfreiheit der Zuschläge eine verbesserte
Steuertransparenz und eine gleichmäßigere Einkommen-
steuerverteilung mit sich bringen würde? Was ist, wenn
eine zukünftige SPD-Politikergeneration wirklich eine
arbeitnehmerfreundliche Politik machen will?





Olav Gutting


(A) (C)



(D)(B)


(Lachen bei Abgeordneten der SPD – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Das setzt voraus, dass die dann an der Regierung sind!)


Die meisten von Ihnen werden dann wahrscheinlich
nicht mehr in diesem Parlament sein. Aber Ihren Nach-
folgern wird man vorwerfen müssen, dass sie umgefal-
len sind. Ich weiß, dass Sie das nicht stört. Aber für uns
in der Union hat das mit seriöser Politik nichts zu tun.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb werden wir Ihrem populistischen und kurzsich-
tigen Antrag heute nicht zustimmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Florian Pronold [SPD]: Helau! Die beste Büttenrede, die hier je gehalten wurde!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703719400

Martin Gerster spricht für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Martin Gerster (SPD):
Rede ID: ID1703719500

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Um eines klarzustellen: Die SPD steht zur Steuer-
freiheit der Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und
Nachtarbeit. Das war, ist und bleibt auch so, um das ganz
klar zu sagen.


(Beifall bei der SPD)


Das galt auch für die Zeit, als Hans Eichel Bundes-
finanzminister war, und es galt für die Zeit, als Peer
Steinbrück Bundesfinanzminister war. Denn als die Wis-
senschaftler dieses Gutachten vorgelegt haben, hat Peer
Steinbrück über den Sprecher des Ministeriums gleich
klipp und klar erklären lassen, dass er der Letzte wäre,
der an dieser Regelung etwas ändern würde.


(Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: Der war ja auch der letzte!)


Auch das müssen Sie erwähnen, wenn Sie darauf ver-
weisen, wer die Studie in Auftrag gegeben hat.


(Beifall bei der SPD)


Das gehört zur Redlichkeit dazu, wenn man hier eine
Rede hält.

Was uns umtreibt und alarmiert, sind die Aussagen,
die von der FDP zu hören sind. Noch im Dezember hat
der haushaltspolitische Sprecher und Parlamentarische
Geschäftsführer der FDP, Fricke, gesagt: An dieses
Thema müssen wir ran.


(Joachim Poß [SPD]: Wo ist er denn jetzt?)


Erst vor ein paar Tagen hat Herr Pinkwart in Nordrhein-
Westfalen gesagt, dass diese Regelung auf den Prüfstand
muss.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das können wir nicht zulassen. Deswegen wollen wir
heute Klarheit von Ihnen, wo Sie bei diesem Thema ste-
hen. Deswegen haben wir auch eine namentliche Ab-
stimmung beantragt.


(Beifall bei der SPD)


Zur FDP muss man an dieser Stelle ganz klar sagen:
Sie kommen langsam Stück für Stück herunter, in den
Umfragewerten, aber auch in dem Größenwahn, was
Steuersenkungen anbelangt. Am Wochenende war ich
unterwegs und habe festgestellt, dass Sie langsam ver-
höhnt und verspottet werden. Am Nachbartisch in der
Gaststätte wurde gesagt: Kennst du eigentlich das drei-
stufige Steuermodell, das die FDP angestrebt hat? – Na
klar: 35 Milliarden Euro Steuersenkungen wurden vor
der Bundestagswahl versprochen. Im Koalitionsvertrag
waren es noch 24 Milliarden Euro. Jetzt sind es noch
16 Milliarden Euro.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Davon sind 5 Milliarden Euro schon umgesetzt!)


Das ist das dreistufige Steuermodell der FDP.


(Beifall bei der SPD)


Weil Ihnen langsam dämmert, dass dies alles nicht zu-
sammenpasst, sagen Sie jetzt, wir bräuchten ein fünfstu-
figes Modell. Na klar, die nächste Stufe wird nach der
Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen zünden, und die
fünfte Stufe wird dann kommen, wenn Sie sagen, Sie
hätten leider kein Geld für Steuersenkungen. So sieht
Ihre Steuerpolitik aus.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


So langsam dämmert Ihnen auch, dass Sie nicht immer
noch mehr Schulden machen können. Der Kollege
Wissing hat gestern im Finanzausschuss gesagt: Die
Schuldenbremse ist ja viel härter, als wir ursprünglich
gedacht haben.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Nein, als ursprünglich gesagt wurde!)


Sie merken langsam, dass das alles nicht zusammen-
passt. Deshalb kommen Sie jetzt auf die Idee, das Thema
Subventionen wieder aus der Schublade zu ziehen. Die-
ses Thema ist schon richtig. Mir fällt auch ein Subven-
tionstatbestand ein, bei dessen Abschaffung wir sofort
mitmachen würden, nämlich der Subventionstatbestand,
den Sie hier im Dezember eingeführt haben: die Steuer-
vergünstigung für Hoteliers.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ihre Steuerpolitik und Ihre Vorschläge, die Sie jetzt vor
der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen präsentieren,
zielen doch auf eines ab: Dem Hotelier wird gegeben,
dem Nachtportier wird genommen. So sieht es doch de
facto aus.


(Beifall bei der SPD)


Das ist die Rechnung, die Sie aufmachen, wenn Sie sa-
gen, die Steuervergünstigungen für diejenigen, die
nachts, am Sonntag und am Feiertag arbeiten, gehörten
auf den Prüfstand.





Martin Gerster


(A) (C)



(D)(B)


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Wie sind die denn für den Chefarzt und die Krankenschwester?)


Jetzt müssen wir noch einmal über diejenigen reden,
um die es eigentlich geht. Es geht um 20 Millionen Er-
werbstätige. Fast jeder Zweite hat heutzutage in
Deutschland nachts, am Sonntag oder am Feiertag zu ar-
beiten. Oft sind es Leute, die einen harten Job machen,
die dafür sorgen, dass die Maschinen, die Bänder nicht
stillstehen, die in der Pflege oder im Gesundheitswesen
tätig sind, Menschen, auf die wir letztendlich nicht ver-
zichten können. Wir sind der Meinung, dass diese außer-
gewöhnlichen Belastungen, die die Menschen eingehen,
auch honoriert gehören. Das muss man auch ganz klar
sagen. Deswegen finde ich es schade, dass Sie davon re-
den, dies alles gehöre auf den Prüfstand. Sind Sie es
nicht, die immer „mehr Netto vom Brutto“ sagen?


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Das bin ich!)


Das passt doch überhaupt nicht zusammen.

Ich will einmal erwähnen, was dies de facto aus-
macht. Wir haben es einmal ausrechnen lassen. Ein Che-
mikant mit zwei Kindern verliert etwa 4 800 Euro im
Jahr, wenn diese Zuschläge besteuert werden. Ein
Schichtarbeiter bei Infraserv – das haben wir von der
Gewerkschaft erfahren – verliert bis zu 4 300 Euro im
Jahr. Das darf doch wohl nicht wahr sein; das ist doch
nicht mehr Netto vom Brutto, sondern das Gegenteil.

Sie schaden nicht nur den Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmern, sondern auch den Unternehmen; denn es
heißt ja immer wieder, wenn diese Steuerfreiheit falle,
müsse dies von den Tarifpartnern ausgeglichen werden.
Das will ich einmal sehen, wenn Einbußen von
20 Prozent und mehr von den Tarifpartnern ausgeglichen
werden sollen. Das geht überhaupt nicht. Die Gewerk-
schaften sind nicht so stark, und die Unternehmen kön-
nen es gar nicht finanzieren. Was heißt in diesem Zu-
sammenhang eigentlich Arbeitgeber? Es sind ja vielfach
Arbeitgeber, die sich als öffentliche Hand zusammenfas-
sen lassen: die Städte und Gemeinden, die Kreise, die
Sie mit Ihrer Gesetzgebung in den Ruin treiben.


(Beifall bei der SPD)


Wenn Sie das jetzt auf den Prüfstand stellen wollen,
ist das in meinen Augen nichts anderes als ein Anschlag
auf die soziale Balance unserer Arbeitsgesellschaft. Des-
wegen verlangen wir an dieser Stelle ein klares Bekennt-
nis, dass Sie an der Schraube „Steuerfreiheit für Zu-
schläge“ nicht drehen wollen. Nicht mehr und nicht
weniger verlangen wir von Ihnen. Wir wollen hier wis-
sen, wo Sie stehen, und deswegen wird es nachher eine
namentliche Abstimmung geben.


(Beifall bei der SPD)


Wenn Sie sagen, Sie bräuchten mehr Einnahmen, um
Ihre geplanten Steuersenkungen durchführen zu können,
dann habe ich noch eine gute Idee, wie Sie zu mehr Ein-
nahmen kommen.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Dann mal los!)

Schauen Sie einmal nach Baden-Württemberg. Wenn die
dortige Landesregierung gesagt hätte: „Jawohl, wir er-
werben diese Steuer-CD“, dann hätten wir entsprechend
mehr Einnahmen generieren können, und zwar durch
diejenigen, die die Steuerehrlichkeit leider mit Füßen
treten, weil sie ihre Gelder ins Ausland schieben, zum
Beispiel in die Schweiz, nach Liechtenstein oder in an-
dere Länder. Das wäre ein guter Ansatzpunkt gewesen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE] – Volker Kauder [CDU/ CSU]: Mannomann!)


Ich möchte ganz deutlich sagen: Die SPD steht zur
Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags-, Nacht- und
Feiertagsarbeit, weil die Menschen es verdient haben.
Wir wollen wissen, wo Sie stehen. Deswegen sind wir
auf das Ergebnis der namentlichen Abstimmung, die
nachher stattfindet, gespannt.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703719600

Der Kollege Dr. Daniel Volk spricht für die FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Daniel Volk (FDP):
Rede ID: ID1703719700

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Lieber Herr Gerster, dass die SPD sich wieder
einmal zum Beschützer der Schichtarbeiter aufschwingt,


(Zuruf von der SPD: Das tun wir gern!)


die in der elfjährigen Regierungsverantwortung der SPD
eher zu den Verlierern der Steuerpolitik gehörten,


(Joachim Poß [SPD]: Was?)


ist schon sehr verwunderlich.


(Beifall bei der FDP – Lachen bei der SPD)


Im Jahr 2005 sind Sie mit dem Versprechen zur Bun-
destagswahl angetreten, die Mehrwertsteuer nicht zu er-
höhen. Das war ein ganz schön gigantischer Wahlbetrug.
Sie haben es bei der Steuerfreiheit der Schichtzulagen
belassen, weil Ihr Finanzminister Steinbrück durch die
Mehrwertsteuererhöhung auf 19 Prozent viel besser ab-
kassieren konnte, und zwar insbesondere bei den mittle-
ren und unteren Einkommensschichten; denn die trifft
das am stärksten. Schon dies belegt die fehlende Glaub-
würdigkeit der Sozial- und Steuerpolitik der SPD. Eine
Mehrwertsteuererhöhung ist die unsozialste Art der
Steuerpolitik, um es klar zu sagen.


(Beifall bei der FDP)


Ich finde es schon sehr interessant, dass die Steuer-
freiheit der Schichtzulagen durch ein Papier aus dem
SPD-geführten Finanzministerium infrage gestellt
wurde; denn es stellt sich die Frage, warum ein SPD-Mi-
nister das überhaupt begutachten lässt. Es war also ein
SPD-Finanzminister, der diese Debatte angeheizt hat.





Dr. Daniel Volk


(A) (C)



(D)(B)


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Und Stoiber 2002? Herr Stoiber hatte das 2002 in seinem Wahlprogramm!)


Für uns Liberale – das möchte ich hier ganz klar sagen –
steht eine Änderung bei der Steuerfreiheit der Schichtzu-
lagen nicht auf der Tagesordnung.


(Florian Pronold [SPD]: Bis wann? – Joachim Poß [SPD]: Das widerspricht Ihrer Linie!)


Schauen Sie einmal in unser Wahlprogramm. Schauen
Sie in unser Steuerkonzept. Nirgends ist von einer Ab-
schaffung der Steuerfreiheit der Schichtzulagen die
Rede.


(Florian Pronold [SPD]: Dann stimmen Sie halt zu!)


Im Gegensatz zu Ihnen von der SPD halten wir das, was
wir vor der Wahl gesagt haben, auch ein.


(Beifall bei der FDP – Lachen bei der SPD – Joachim Poß [SPD]: Der war gut!)


Arbeit muss sich wieder lohnen in diesem Land. Mit
diesem Versprechen sind wir im Wahlkampf 2009 ange-
treten. Daran werden wir uns messen lassen. Die ersten
Schritte sind getan. Für die nächsten haben wir umfang-
reiche Vorschläge gemacht.

Als Erstes ist unser Steuerreformkonzept zu nennen.
Wir wollen, dass sich Arbeit für alle Menschen in die-
sem Land wieder lohnt. Deswegen wollen wir vor allem
diejenigen entlasten, die in der Vergangenheit unter
SPD-Verantwortung in besonderem Maße und über Ge-
bühr belastet wurden.


(Joachim Poß [SPD]: Das ist so was von lügnerisch! Die Fakten sehen anders aus!)


Dazu zählen nach unserer Ansicht insbesondere die un-
teren und mittleren Einkommensschichten. Nach Jahren
der Dauer- und Zusatzbelastung durch rote Regierungs-
beteiligungen werden wir den Bürgern nun etwas von ih-
rem Geld zurückgeben. Wir Liberale wollen eben einen
anderen Weg gehen. Wir wollen Deutschland zu einem
Land des Aufstiegs machen.


(Joachim Poß [SPD]: Sie wollen den Klientelweg!)


Deshalb wollen wir einen fairen Steuer- und Sozialstaat.
Wir wollen solide Staatsfinanzen im Interesse nachfol-
gender Generationen.


(Beifall bei der FDP – Lachen bei Abgeordneten der SPD)


Ein fairer Steuer- und Sozialstaat stärkt den gesell-
schaftlichen Zusammenhalt und erhöht die empfundene
Steuergerechtigkeit bei den Bürgerinnen und Bürgern.
Die Bereitschaft der Bürger, Steuern zu zahlen, bildet die
finanzielle Grundlage jedes staatlichen Handelns


(Joachim Poß [SPD]: Sie wollen Steuerfreiheit für Millionäre!)


und sollte nicht durch eine ungerechte Steuersystematik
torpediert werden.
Wenn einem Arbeitnehmer in Deutschland mit einem
monatlichen Einkommen von ungefähr 3 000 Euro von
einer Lohnerhöhung netto weniger als die Hälfte bleibt,
dann stimmt etwas mit der Steuergerechtigkeit nicht.


(Joachim Poß [SPD]: Über Steuern oder über Abgaben?)


Genau dort werden wir ansetzen. Nachdem wir die Fa-
milien im Umfang von 4,6 Milliarden Euro entlastet ha-
ben, werden wir nun den Mittelstandsbauch abbauen.
Durch eine Umgestaltung des Steuertarifs in einen
Stufentarif kann die Ungerechtigkeit weitgehend besei-
tigt werden.


(Joachim Poß [SPD]: Ungerechter Stufentarif! Der zerstört die Besteuerung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit!)


Mit unserem Stufentarif werden genau die Berufs-
gruppen entlastet, von denen Sie behaupten, sie schützen
zu wollen; in Wirklichkeit haben Sie sie aber immer
mehr belastet.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Auch das stimmt nicht!)


Bei unserem Stufentarif wird die halbtags tätige Kran-
kenschwester mit 12 000 Euro Jahreseinkommen bei der
Lohnsteuer um fast 21 Prozent entlastet.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Das stimmt nicht! Die müssen mehr Steuern zahlen!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703719800

Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Höll zulassen?


Dr. Daniel Volk (FDP):
Rede ID: ID1703719900

Nein. – Der verheiratete Polizist mit einem Jahresein-

kommen von 30 000 Euro wird bei unserem Stufentarif
um mehr als 11 Prozent entlastet. Er wird nur noch
209 Euro im Monat an Steuern zahlen.


(Beifall bei der FDP – Joachim Poß [SPD]: Worüber reden Sie denn? Bei welcher Gegenfinanzierung?)


Sie hingegen haben gerade diese Berufsgruppen in den
letzten Jahren regelmäßig zur Kasse gebeten.


(Miriam Gruß [FDP]: Genau so ist es!)


Es ist schon verwunderlich, dass dieser Antrag ausge-
rechnet von der SPD kommt, hat doch vor allem Ihre
Partei so viel an Glaubwürdigkeit verspielt, und das
nicht erst seit Wochen, sondern seit Jahren.


(Joachim Poß [SPD]: Dann gucken Sie sich mal Ihre Umfragen an, wie es mit Ihrer Glaubwürdigkeit steht! Lassen Sie sich doch als Liftboy im Hotel anstellen!)


Sie haben vor Wahlen oft viel versprochen und hinterher
wenig davon gehalten. Auch Sie wollten einmal den
Mittelstandsbauch abschaffen. Auch Sie wollten einmal
die Mehrwertsteuer nicht erhöhen. Auch Sie wollten ein-
mal das Gesundheitssystem reformieren. Auch Sie woll-





Dr. Daniel Volk


(A) (C)



(D)(B)

ten einmal gerechte Steuern. Aber nichts davon haben
Sie umgesetzt, da Ihre Wahlversprechen eben nur eine
sehr geringe Halbwertszeit haben. Das ist eine unehrli-
che und unglaubwürdige Politik.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Allein aus diesem Grund werden wir Ihrem Antrag
die Zustimmung verweigern.


(Florian Pronold [SPD]: Aha!)


Es kann sowieso niemand erahnen, wann Sie Ihre Mei-
nung wieder ändern. Die christlich-liberale Koalition
hingegen handelt. Mit unserer Politik sorgen wir für Ver-
besserungen in Deutschland, und zwar für alle Men-
schen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Florian Pronold [SPD]: Schwach begonnen, stark nachgelassen!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703720000

Die Kollegin Dr. Barbara Höll hat das Wort für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703720100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Herr Gutting hat hier eine völlig neue Weis-
heit verkündet: Das Steuersystem soll Leistung beloh-
nen. – Ihr Steuersystem belohnt den Besitz hoher Ver-
mögen und die Bezieher hoher und höchster
Einkommen. Das ist die Realität; das ist Ihr Leistungsbe-
griff.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich sage Ihnen – ich glaube, so steht es in jedem Ökono-
mielehrbuch –: Steuern dienen in erster Linie dazu, das
Gemeinwesen zu finanzieren. Steuern sollen nach der
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gezahlt werden. Ge-
nau deshalb ist die Steuerfreiheit von Sonntags-, Nacht-
und Feiertagszuschlägen gerechtfertigt.


(Beifall bei der LINKEN)


Ob unsere gesundheitliche Versorgung sichergestellt ist,
ob wir die Zeitung bekommen, weil Drucker nachts ar-
beiten, ob Busfahrer und Straßenbahnfahrer nachts tätig
sind – das alles ist von großer Bedeutung für unser Ge-
meinwesen; dies gewährleistet sein Funktionieren. An-
gesichts des zusätzlichen Aufwands, den Menschen in
Kauf nehmen, wenn sie zu ungewöhnlichen Arbeitszei-
ten tätig sind, ist es gerechtfertigt, dass ein Teil ihres
Einkommens von der Steuer befreit wird. Deshalb unter-
stützen wir den Antrag der SPD.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich sage Ihnen hier noch einmal: Der Skandal in die-
sem Lande ist, dass viele Menschen von der Steuerbe-
freiung oft nichts haben, weil Arbeitsverträge vielfach
nicht mehr tariflich gebunden sind, weil Verkäuferinnen
oftmals abends arbeiten müssen. Manche kommen erst
um 23 Uhr aus dem Geschäft, ohne für ihre Nachtarbeit
Zuschläge zu bekommen. Wir fordern von Ihnen, sich
diesem Problem endlich zu stellen und den Mindestlohn
gesetzlich zu verankern. Eine solche Vereinbarung sucht
man in Ihrem Koalitionsvertrag aber leider vergebens.

Zum FDP-Steuerkonzept. Herr Volk, was steht wirk-
lich in Ihrem Papier? Sie haben geschrieben, dass alle
Ausnahmen von der Einkommensteuerpflicht zur Dispo-
sition gestellt werden sollen. Natürlich ist die Steuerfrei-
heit von Zuschlägen eine Ausnahme. Also stellen Sie sie
zur Disposition. Sagen Sie doch bitte wenigstens hier die
Wahrheit!


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Daniel Volk [FDP]: Dann zitieren Sie aber auch richtig!)


Einmal ganz nebenbei gesagt: Sie laufen immer
durchs Land und sagen, die Sozialabgaben seien zu
hoch. Wenn Sie die Steuerfreiheit der Zuschläge ab-
schaffen, dann ist natürlich auch dieser Teil des Einkom-
mens sozialversicherungspflichtig. Damit würden sich
auch für die Unternehmen die Sozialenabgaben erhöhen.
Irgendwie wissen Sie auch nicht, was Sie wollen.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Aber wir wollen das doch gar nicht ändern, Frau Kollegin!)


Ich muss Ihnen noch etwas sagen: Gerade für Kran-
kenschwestern – das gilt auch für viele andere Berufe, in
denen wenig gezahlt wird – ist die Steuerfreiheit für
Nacht-, Feiertags- und Sonntagszuschläge wichtig für
die Aufbesserung ihres Einkommens. Wir wissen, dass
gerade deshalb viele in diesen Bereichen arbeiten – so
sie einen Arbeitsplatz bekommen –, weil sie sich dann
darüber freuen können, dadurch wenigstens ein kleines
bisschen mehr zu verdienen.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Deshalb wollen wir es doch auch gar nicht ändern!)


Wir sagen Ihnen: Die derzeitige Regelung ist richtig, sie
ist wichtig und gesellschaftlich gerechtfertigt. Wenn Sie
Subventionen streichen wollen, dann fangen Sie bei Ih-
rem ermäßigten Mehrwertsteuersatz für die Hotelüber-
nachtungen an, der in einer völlig sinnlosen Form veran-
kert wurde.

Noch ein Letztes, Herr Volk, da Sie meine Zwischen-
frage vorhin nicht zugelassen haben. Sie haben hier wie-
der die Unwahrheit gesagt. Sie haben nur den von Ihnen
vorgeschlagenen Stufentarif berücksichtigt. Nach Ihrem
Gesamtkonzept – falls es jemals Wirklichkeit werden
wird – müssten insbesondere die Bezieherinnen und Be-
zieher niedriger Einkommen – um bei Ihrem Beispiel der
Krankenschwester mit einem Einkommen von 12 000
Euro zu bleiben, das Sie hier angeführt haben – durch
die Streichung der steuerlichen Regelung des Arbeitneh-
merpauschbetrages mehr Steuern zahlen als jetzt. Dabei
habe ich noch nicht mal eingerechnet, dass Sie am liebs-
ten auch noch die Zuschläge nicht mehr steuerfrei stellen
wollen.





Dr. Barbara Höll


(A) (C)



(D)(B)

Ich sage Ihnen hier klipp und klar: Sorgen Sie dafür,
dass die Leistung aller, die in unserem Land arbeiten,
auch ordentlich bezahlt wird, sodass sie dann auch Steu-
ern zahlen können, und lassen Sie die Finger von der
Steuerfreiheit der Nacht-, Sonn- und Feiertagszuschläge.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703720200

Der Kollege Dr. Gerhard Schick hat das Wort für

Bündnis 90/Die Grünen.


Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703720300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es ist ein interessanter Vorwurf vonseiten der FDP, dass
das Wahlkampf sei, wenn man wissen möchte, was Sie
vorhaben. Ist es denn nicht Wahlkampf, wenn wir auf
jede Frage zu den Finanzierungsmöglichkeiten – wir hat-
ten das ja gestern in der Aktuellen Stunde – auswei-
chende Antworten bekommen? Wir wissen, dass im Fi-
nanzministerium schon vorbereitet wird, was nach der
Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen alles kommen
soll, aber man traut es sich natürlich nicht aufzuschrei-
ben.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Woher wissen Sie das?)


Ist das kein Wahlkampf? – Ich glaube, sauber ist es, vor
der Wahl zu sagen, was geplant ist, und nicht erst hinter-
her die Katze aus dem Sack zu lassen. Das ist es aber,
was Sie vorhaben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Daniel Volk [FDP]: Das haben wir bei der Bundestagswahl auch so gemacht!)


– Ja, ich erinnere mich sehr gut an die Podiumsdiskussio-
nen im Bundestagswahlkampf, wo von der FDP auf je-
dem Podium gesagt wurde: Diese 35 Milliarden Euro
kommen. Das können wir uns leisten. Wir haben gar
kein Haushaltsloch. Das wird alles kommen. – Inzwi-
schen sind Sie bei der Hälfte des Betrages angelangt.
Warum sind Sie da? – Weil es schon damals falsch war,
was Sie im Wahlkampf gesagt haben. Das passiert jetzt
wieder.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Die lustige Erfahrung, die wir mit Ihnen machen, ist
– deswegen haben wir genau bei diesem Thema ganz
große Befürchtungen –: Sie ziehen die Themen Vereinfa-
chung und Bürokratieabbau immer dann aus der Tasche,
wenn es gerade in Ihr Konzept passt – und das ist das
Konzept der Entsolidarisierung dieser Gesellschaft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wir haben doch gehört, wie wichtig Ihnen die Vereinfa-
chung und der Bürokratieabbau waren, als es darum
ging, ob wir eine zusätzliche Ausnahme bei der Umsatz-
steuer einführen. Was zählte da der Bürokratieabbau? –
Gar nichts zählte er, weil es Ihre Klientel betraf. Wir ha-
ben ganz großes Misstrauen – nicht nur wir, sondern
auch die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land – ge-
genüber einer Partei, die immer am falschen Ende die
Systematik entdeckt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Denken wir einmal zurück! Wir wissen sehr gut, wie
eine schwarz-gelbe Regierung mit großen Löchern um-
geht. In der Frage „Wie finanzieren wir die Wiederverei-
nigung?“ hat Schwarz-Gelb durch eine hohe Verschul-
dung die Zukunft und durch die Anhebung der
Sozialversicherungsbeiträge die Masse der Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer belastet – mit hoher Arbeitslo-
sigkeit als Folge.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich befürchte, Sie werden genau das wiederholen, und
das lassen wir nicht zu.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Daniel Volk [FDP]: Bei RotGrün war es nicht besser, nur dass da keine Wiedervereinigung war!)


Wir haben heute genau gehört, dass man sich im End-
effekt nicht festlegen will. Wo immer es um die Frage
geht „Wie finanziert man das?“, weichen Sie aus. Die
Debatte gestern zur Finanzierung der FDP-Vorschläge
war doch bezeichnend. Wo waren denn die Antworten?
Sie haben verschiedene Vorschläge gemacht. Sie wollen
mit der Kopfpauschale eine Entsolidarisierung im Ge-
sundheitssystem. Die Solidarität soll ins Steuersystem.
Da kommt sie aber nie an. Das machen wir nicht mit. Sie
sagen nicht, was der Ersatz für die Gewerbesteuer sein
soll.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Doch! Das haben wir gesagt! – Weiterer Zuruf von der FDP: Zuhören!)


Wenn man unter all Ihre Vorschläge einen Strich macht,
stellt man fest: Da ist ein ganz großes Loch; es fehlen
über 80 Milliarden Euro. Wir haben die große Befürch-
tung, dass in dieses Loch von 80 Milliarden Euro die
Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags-, Feiertags-
und Nachtarbeit – 2 Milliarden Euro – gehen soll; das
werden Sie brauchen, wenn Sie nachher den Strich da-
runter machen. Sie werden damit die Entsolidarisierung
weiterführen. Es wird wieder so sein, wie wir es von Ih-
nen kennen: Entlastung oben, Belastung unten. Das wer-
den wir nicht zulassen. Deswegen können wir dem An-
trag der SPD heute nur zustimmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703720400

Der Kollege Peter Aumer spricht für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Peter Aumer (CSU):
Rede ID: ID1703720500

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! „Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags-,
Feiertags- und Nachtarbeit erhalten“ – ein Antrag, der
durchaus seine Berechtigung hätte, wenn jemand aktuell
daran denken würde, diese Steuerfreiheit abzuschaffen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Leo Dautzenberg [CDU/CSU]: So ist es! – Florian Pronold [SPD]: Niemand will eine Mauer bauen!)


Was Sie hier zum Thema machen, Herr Pronold, ist in
der christlich-liberalen Koalition kein Thema.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Anträge wie dieser aus rein politischem Aktionismus he-
raus sind nicht zielführend. Im Gegenteil: Sie schaden in
einer ausgewogenen Debatte über eine zukunftsgerich-
tete und nachhaltige Politik.

Im Koalitionsvertrag der christlich-liberalen Koalition
steht ein klares Bekenntnis zu einer soliden und zielge-
richteten Haushalts- und Finanzpolitik, eine klare Aus-
richtung also auf Nachhaltigkeit und Generationenge-
rechtigkeit. Grundgesetzlicher Handlungsrahmen hierfür
ist die Schuldenbremse. Sie wird bis 2016 und darüber hi-
naus große Anstrengungen von uns allen verlangen.
Diese Anstrengungen sind wichtig, um unserem Staat und
den nachfolgenden Generationen neue Perspektiven und
Spielräume zu geben. Vor diesem Hintergrund wirkt Ihr
Antrag, meine Damen und Herren der SPD, wie eine reine
Schauveranstaltung, wie Populismus pur.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Was wollen Sie mit Ihrem Antrag erreichen? Augen-
scheinlich wollen Sie die Bösen von CDU/CSU und
FDP in die unsoziale Ecke stellen


(Zuruf von der SPD: Genau!)


– genau, ja –


(Florian Pronold [SPD]: Da gehören sie auch hin!)


und die SPD als die großen Retter – von was auch immer –
herausstellen. Welch kurzfristig gedachte Oppositions-
politik! Ja, in die Opposition gehören Sie, meine Damen
und Herren!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


In Ihrer Antragsbegründung wird vor allem deutlich,
dass Sie die bisherigen Maßnahmen der christlich-libera-
len Koalition nicht verstehen und nicht verstehen wollen.
Mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz, das zum
1. Januar dieses Jahres in Kraft getreten ist, wurden Fa-
milien, Unternehmen und Erben entlastet.

(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und Hoteliers! – Joachim Poß [SPD]: Und Hotelkettenbesitzer!)


Gerade das waren auch die Ziele dieses ersten Maßnah-
menpakets der Bundesregierung. Diese Ziele in die Tat
umzusetzen, ist auch aller Anstrengungen wert, Herr
Schick, denn die Familien sind die Keimzellen unserer
Gesellschaft; man muss immer das Ganze sehen, Herr
Dr. Schick.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Unternehmen sind mit ihren Mitarbeiterinnen und
Mitarbeitern für den Erfolg unseres Landes und für das
erfolgreiche Schultern dieser schwierigen wirtschaftli-
chen Situation gemeinsam verantwortlich.

Es wird auch weiter steuerliche Entlastungen geben,
insbesondere für die unteren und mittleren Einkommens-
bereiche sowie für Familien mit Kindern. Die Steuer-
schätzung im Mai wird zeigen, welche Potenziale mög-
lich sind. Ebenso wird es eine spürbare Vereinfachung
des Steuerrechts geben. Auch dafür wurden wir gewählt,
und dafür steht die Koalition aus CDU/CSU und FDP.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Gerade in Zeiten knapper Staatskassen ist es grund-
sätzlich richtig, über Subventionen zu diskutieren und
diese zu überprüfen. Wie vorhin schon gehört, war es
doch der Bundesfinanzminister der SPD, Herr Steinbrück,
der in einer Untersuchung die größten Subventionstatbe-
stände im Steuerrecht hinterfragen ließ. Die Ergebnisse,
meine Damen und Herren von der Opposition, müssten
Sie eigentlich kennen, zumal dann, wenn man Mitglied
des Finanzausschusses ist.

Das deutsche Steuerrecht muss sich für den Erhalt
von Arbeitsplätzen im internationalen Standortwettbe-
werb um Investitionen behaupten, muss den sozialen
Ausgleich sicherstellen und vor allem von den Steuer-
zahlerinnen und Steuerzahlern als gerecht empfunden
werden.


(Joachim Poß [SPD]: Was macht die CSU?)


Beispiele hierfür sind der Sparerfreibetrag, die Riester-
Förderung und eben auch die Steuerbefreiung von Zu-
schlägen für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit.
Diese wird von der Bevölkerung anerkannt und ge-
schätzt. Das wird auch durch die Politik der christlich-li-
beralen Koalition gewürdigt werden. Gerade deshalb
steht die Aufhebung der Steuerbefreiung von Zuschlä-
gen für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit überhaupt
nicht zur Diskussion. Eine Abschaffung ist mit uns nicht
zu machen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir können Ihrem Antrag nicht zustimmen; denn un-
antastbar sollte in Deutschland nur eines sein: die verfas-
sungsrechtlich garantierten Grundrechte.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703720600

Damit schließe ich die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanz-
ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit
dem Titel „Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags-,
Feiertags- und Nachtarbeit erhalten“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/1458, den Antrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/244 abzulehnen.

Wir stimmen über die Beschlussempfehlung auf Ver-
langen der Fraktion der SPD namentlich ab. Ich bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen
Plätze einzunehmen. – Sind alle Urnen besetzt? – Das ist
der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.

Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgeben konnte? – Das scheint mir
nicht der Fall zu sein. Dann schließe ich die Abstim-
mung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,
mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ih-
nen später bekannt gegeben.1)

Wir setzen jetzt unsere Beratungen fort.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Abschaffung des Finanzplanungsrates
– Drucksache 17/983 –

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)


– Drucksache 17/1465 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider (Erfurt)

Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Alexander Bonde

Hierzu liegen Änderungsanträge der Fraktion Die
Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.

Es soll eine halbe Stunde debattiert werden. – Dazu
sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
sen.


(Unruhe)


– Das ist ein wirklich interessantes Thema. Denjenigen,
die die Debatte miterleben möchten, empfehle ich, dies
im Sitzen zu tun. Denjenigen, die sich aktuell für andere
Dinge interessieren, empfehle ich, den Saal zu verlassen.

Das Wort hat die Kollegin Antje Tillmann für die
CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Antje Tillmann (CDU):
Rede ID: ID1703720700

Frau Präsidentin, herzlichen Dank für die Mühe, für

eine interessierte Zuhörerschaft zu sorgen. Dass Sie das

1) Ergebnis Seite 3572 D
Gesetz zur Übertragung von Aufgaben auf den Stabili-
tätsrat interessant finden, freut mich.


(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum sind die ersten zwei Reihen der Regierungsbank komplett leer?)


Ich werde in meiner Rede versuchen, Ihnen die interes-
santen Teile davon nahezubringen.

Die Debatte im Vorfeld hat gezeigt, dass das, was
jetzt ansteht, die Folge von dem ist, was wir vor unge-
fähr einem Jahr beschlossen haben. Im Mai 2009 haben
wir nämlich im Bundestag die Föderalismuskommission
abgeschlossen, indem wir die Schuldenbremse in der
Verfassung verankert haben. Wer sich vor kurzem die
Reden zum Haushalt, aber auch die Reden am heutigen
Tag angehört hat, der weiß, dass das Wort „Schulden-
bremse“ in annähernd jeder zweiten Rede vorgekommen
ist.

Nicht nur zwei Drittel des Deutschen Bundestags,
auch zwei Drittel des Bundesrates und mittlerweile fast
zwei Drittel der Bürgerinnen und Bürger halten die
Haushaltskonsolidierung und Generationengerechtig-
keit angesichts der Schulden, die wir anhäufen, für das
wichtigste Thema dieser Legislaturperiode.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ihre Regierung nicht, sonst säße jemand auf der Regierungsbank!)


In einer Umfrage sagen 62 Prozent der Bürger, ihre
größte Angst sei nicht der Verlust des eigenen Arbeits-
platzes oder das Entstehen von Umweltschäden.
62 Prozent der Deutschen sagen, sie hätten große bzw.
sehr große Angst vor den Folgen der nicht nur im Bund,
sondern auch in den Ländern und Kommunen angehäuf-
ten Schuldenlast. Wir hatten in der Vergangenheit ausrei-
chend Gelegenheit, über die Situation der Kommunen zu
reden.

Die Schuldenbremse ist bei der Haushaltskonsolidie-
rung eigentlich das letzte Instrument. Das Verschul-
dungsproblem entsteht nicht erst mit Überschreiten der
Schuldenbremse, sondern ist bereits im Vorhinein abseh-
bar. Das hat sich durch die Wirtschaftskrise nicht geän-
dert: Sie hat die Verschuldungssituation verschärft, aber
nicht begründet.


(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha!)


Schon in der Vergangenheit wurden die Haushalte
überwacht. Es gab einen Finanzplanungsrat, der eigent-
lich langfristig Konzepte der Haushaltskonsolidierung
erstellen sollte. Der Finanzplanungsrat gab Empfehlun-
gen für eine Koordinierung der Finanzplanungen des
Bundes, der Länder und der Gemeinden, insbesondere
für eine gemeinsame Ausgaben- und Defizitpolitik. Er
erörterte die Vereinbarkeit der Haushalte von Bund und
Ländern mit dem Europäischen Stabilitäts- und Wachs-
tumspakt.

Heute lösen wir den Finanzplanungsrat auf und über-
tragen Teile seiner Aufgaben auf den neuen Stabilitäts-





Antje Tillmann


(A) (C)



(D)(B)


rat. Das Wort an sich zeigt schon, dass der Stabilitätsrat
weitaus mehr Macht, Einfluss und Gestaltungsmöglich-

voranzutreiben. Das ist ein erheblicher Fortschritt ge-
genüber der bisherigen Regelung beim Finanzplanungs-
keiten als der Finanzplanungsrat haben wird. Das Wort
„Finanzplanung“ sagt noch nichts über eine Konsolidie-
rung aus. Das Wort „Stabilität“ hingegen bezeichnet die
Fähigkeit eines Systems, sich wiederherzustellen, nach
einer Störung wieder in den Ausgangszustand zurückzu-
kehren.

Wir brauchen nicht nur eine Finanzplanung, sondern
wir brauchen auch Stabilität. Deswegen ist die Entschei-
dung richtig, dem Stabilitätsrat die Aufgabe der Überwa-
chung zu übertragen; sie ist von den Sachverständigen in
der Anhörung einstimmig als guter Schritt in die richtige
Richtung bezeichnet worden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann muss man beim Haushalt auch was machen!)


– Genau das werden wir tun, Herr Kollege. Der Stabili-
tätsrat wird nämlich jährlich über die Haushaltslage des
Bundes und der einzelnen Länder beraten. Selbstver-
ständlich hat er das Recht, darauf hinzuweisen, wenn der
Haushalt einen Stand erreicht, der weit vor Greifen der
Schuldenbremse eine Notlage signalisiert.


(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Diesen Hinweis muss man bei Ihnen machen!)


Der Stabilitätsrat entwickelt mit der entsprechenden
Gebietskörperschaft, bei der eine Haushaltsnotlage fest-
gestellt wird, ein Sanierungsprogramm, wobei der Bund
oder das Land das Verfahren in eigener Verantwortung,
aber unter Beobachtung des Stabilitätsrates durchführt.
Sind die Sanierungsanstrengungen unzureichend, kann
der Stabilitätsrat zu einer verstärkten Haushaltssanierung
auffordern.


(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wird er ja müssen, so wie Sie drauf sind!)


Dabei hilft es, dass es Kennziffern geben wird, die die
Haushaltsdaten vergleichbar machen. Das ist heute nicht
so: Wir können die Schuldenstandsquote, die Zinsquote
und die Schulden gar nicht von Land zu Land oder zwi-
schen Bund und Ländern vergleichen, weil es unter-
schiedliche Kennziffern gibt, je nachdem, ob die Buch-
führung doppisch oder kameralistisch durchgeführt
wird. Das zu ändern, ist die erste Aufgabe des Stabili-
tätsrates.

Wir haben den Stabilitätsrat im Vergleich zum Fi-
nanzplanungsrat gestärkt, indem wir das Einstimmig-
keitsprinzip aufgegeben haben. Der Finanzplanungsrat
konnte nur einstimmig Beschlüsse fassen; der Stabili-
tätsrat kann dies mit einer Zweidrittelmehrheit. Das gilt
für Beschlüsse gegen ein Land, aber auch umgekehrt:
Zwei Drittel der Länder können den Bund ermahnen und
ihn auffordern, seine Haushaltskonsolidierung stärker
rat.

Hinzu kommt, dass die Berichte veröffentlicht wer-
den. Die aktuelle Situation in Griechenland, aber auch
die Reaktionen auf den ersten blauen Brief der Europäi-
schen Union an Deutschland haben gezeigt, dass gerade
die öffentliche Debatte dazu beiträgt, dass man bei der
Konsolidierung der Haushalte nicht nachlässt; Bürgerin-
nen und Bürger kommen ihrer Kontrollpflicht, ihrem
Kontrollrecht sehr wohl nach und üben hinsichtlich der
Konsolidierung Druck auf die Politiker aus.

Wir sind damit nicht am Ende. Ich gebe zu: Wir haben
im Stabilitätsratsgesetz noch keine Maßnahme dazu be-
schlossen, was passieren soll, wenn sich ein Land oder
der Bund längerfristig gegen Sanierungsmaßnahmen
stellt oder in seinen eigenen Sanierungsbemühungen
nachlässt. Es gibt also keine Sanktionen. Ich bin aber op-
timistisch, dass wir in diesem Augenblick gar keine
Sanktionen brauchen; denn die Debatten in diesem
Haus, aber auch im Bundesrat und in den Kommunen
zeigen, dass der Ernst der Situation eindeutig angekom-
men ist, sowohl bei Politikerinnen und Politikern


(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bei der FDP ja wohl nicht!)


– auch bei der FDP, lieber Kollege; da bin ich ganz si-
cher –


(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!)


als auch bei den Bürgern. Ich bin sicher, dass wir die
Konsolidierung gemeinsam fortführen werden. Ich
glaube deshalb, dass wir zurzeit auf Sanktionierungsme-
chanismen verzichten können; vielleicht müssen wir ir-
gendwann darauf zurückkommen.

Im Moment bin ich froh, dass sich der Stabilitätsrat
nächste Woche konstituiert und dann seine Aufgaben
wahrnimmt. Ich wünsche allen Beteiligten in diesem
neuen Gremium alles Gute und möglichst wenige Sanie-
rungsfälle. Ich bin sicher, dass der Rat einen wesentli-
chen Beitrag zur Haushaltskonsolidierung leistet.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703720800

Ich komme zu Tagesordnungspunkt 10 zurück und

gebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schrift-
führern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Finanzaus-
schusses bekannt. Es ging um die Steuerfreiheit der
Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit,
Drucksachen 17/244 und 17/1458. Abgegeben wurden
570 Stimmen. Mit Ja haben gestimmt 308 Kolleginnen
und Kollegen, mit Nein haben gestimmt 262 Kollegin-
nen und Kollegen, Enthaltungen gab es nicht. Die Be-
schlussempfehlung ist damit angenommen.





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

Endgültiges Ergebnis
Abgegebenen Stimmen: 570;
davon

ja: 308
nein: 262

Ja

CDU/CSU

Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck


(Reutlingen)

Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Wolfgang Börnsen


(Bönstrup)

Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Gitta Connemann
Leo Dautzenberg
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)


(Karlsruhe Land)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Michael Frieser
Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Astrid Grotelüschen
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Dr. Karl-Theodor Freiherr

zu Guttenberg
Olav Gutting
Florian Hahn
Holger Haibach
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Thomas Jarzombek
Dr. Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung (Konstanz)

Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster

(Villingen Schwenningen)

Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Kristina Schröder


(Wiesbaden)

Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers


(Heidelberg)

Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller (Erlangen)

Nadine Müller (St. Wendel)

Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann (Bremen)

Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Lucia Puttrich
Daniela Raab
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)

Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht (Weiden)

Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt (Fürth)

Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl (Heilbronn)

Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg (Hamburg)

Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

FDP

Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine Aschenberg-

Dugnus
Daniel Bahr (Münster)

Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Dr. Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Paul K. Friedhoff
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)

Miriam Gruß
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Hellmut Königshaus
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Patrick Kurth (Kyffhäuser)

Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-

Schnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner (Berlin)

Michael Link (Heilbronn)

Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabi Molitor
Jan Mücke
Petra Müller (Aachen)

Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann


(Lausitz)

Dirk Niebel
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Carl-Ludwig Thiele
Stephan Thomae
Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel


(Lüdenscheid)

Dr. Daniel Volk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


Nein

SPD

Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding (Heidelberg)

Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann


(Hildesheim)

Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Elvira Drobinski-Weiß
Garrelt Duin
Sebastian Edathy
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Peter Friedrich
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf (Rosenheim)

Michael Groschek
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Hubertus Heil (Peine)

Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz (Essen)

Frank Hofmann (Volkach)

Dr. Eva Högl
Christel Humme
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe (Leipzig)

Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Nicolette Kressl
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel (Berlin)

Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Mechthild Rawert
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth (Esslingen)

Michael Roth (Heringen)

Marlene Rupprecht


(Tuchenbach)

Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)

Bernd Scheelen
Marianne Schieder


(Schwandorf)

Werner Schieder (Weiden)

Ulla Schmidt (Aachen)

Silvia Schmidt (Eisleben)

Carsten Schneider (Erfurt)

Olaf Scholz
Ottmar Schreiner
Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Frank Schwabe
Dr. Angelica Schwall-Düren
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)

Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
DIE LINKE

Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Andrej Konstantin Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Dorothée Menzner
Cornelia Möhring
Niema Movassat
Wolfgang Nešković
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer (Köln)

Michael Schlecht
Dr. Herbert Schui
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Sahra Wagenknecht
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


legt: 10 Milliarden Euro an Investitionen gehen an die Nachfragelücke zumindest teilweise zu schließen.

Gemeinden. Sie müssen diese
sodass wir auf 13 Milliarden
nun um einen Effekt der Zus
gung. Diese Bedingung ha
schuss des Bundestages vor
fügt. Heute geschieht F
Bedingung, die wir mit vier
nicht zugestimmt – eingefüg
dem Willen und auf Druck d
rum?


(Heinz-Peter Haustein [ hig Zum Wachstumsbeschleu Klientelbegünstigungsgesetz melle Zusagen der Bundeskan Mittel aber kofinanzieren, Euro kommen. Da geht es ätzlichkeit. Das war Bedinben wir im Haushaltsausungefähr einem Jahr eingeolgendes: Genau diese Fraktionen – die Linke hat t haben, streichen Sie nach es Bundesrates wieder. Wa FDP]: Wir sind lernfä!)


nigungsgesetz, wie Sie Ihr
genannt haben, gab es for-
zlerin, dass Sie dies für die
Auch das ist richtig.


(Bettina Hagedo „Die Streichung des würde zu einer Ungleic munen, die ihre Maßnah haben, wären gegenüber Zeit gelassen haben, ben Es tut mir leid, Sie haben da machen Sie mit diesem Ges kein Wort gesagt haben, gena dafür sind Sie der deutschen rung schuldig. (Beifall bei der SPD un DIE GRÜ rn [SPD]: Ja!)


Zusätzlichkeitskriteriums
hbehandlung führen. Kom-
men bereits durchfinanziert
Kommunen, die sich mehr
achteiligt“, so Tillmann.

mit vollkommen recht; nur
etz, zu dem Sie jetzt eben
u das Gegenteil. Ich finde,
Öffentlichkeit eine Erklä-

d dem BÜNDNIS 90/
NEN)
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Volker Beck (Köln)

Cornelia Behm
Birgitt Bender
Alexander Bonde
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Winfried Hermann

Priska Hinz (Herborn)

Ulrike Höfken
Dr. Anton Hofreiter
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn

Ich gebe jetzt dem Kollegen Carsten Schneider für die
SPD-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Carsten Schneider (SPD):
Rede ID: ID1703720900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Frau Kollegin Tillmann, die Frage des Fi-
nanzplanungsrates ist unstrittig. Dem ursprünglichen
Gesetzentwurf hätten wir auch zugestimmt. Nicht un-
strittig ist allerdings eine maßgebliche Veränderung des
Gesetzes, die Sie am gestrigen Tag im Haushaltsaus-
schuss vorgenommen haben. Sie haben nämlich dieses
Gesetz zur Abschaffung des Finanzplanungsrates ge-
nutzt,


(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Missbraucht!)


um eine maßgebliche Änderung am Konjunkturpro-
gramm vorzunehmen. Sie haben es missbraucht. Das ha-
ben Sie entgegen allen Empfehlungen getan, die sowohl
der Präsident des Bundesrechnungshofes als auch der
Bauindustrieverband, Sie selbst und die Bundesregie-
rung, vertreten durch das Bundesfinanzministerium, ge-
geben haben.

Worum geht es? Im Konjunkturprogramm war festge-
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth (Quedlinburg)

Monika Lazar
Nicole Maisch
Agnes Malczak
Jerzy Montag
Kerstin Müller (Köln)

Beate Müller-Gemmeke
Ingrid Nestle
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Dr. Hermann Ott
Elisabeth Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner

Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Christine Scheel
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms

Länder ändern werden, damit sie diesem unsinnigen Ge-
setz zustimmen, das zu mehr Steuerunsicherheit und
Steuerausfällen geführt hat. Meine Damen und Herren,
das war eine Erpressung, der Sie nachgegeben haben.
Das ist eine Kastration des Bundestages, und es ist fi-
nanzwirtschaftlich ein Desaster.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Otto Fricke [FDP]: Kindergelderhöhung!)


Ich kann Ihnen das nicht ersparen. Frau Kollegin
Tillmann, ich habe gerade eine Pressemitteilung vom
24. Februar 2010 herausgeholt, die vom Tenor her rich-
tig ist. Unter der Überschrift „Zusätzlichkeitskriterium
ist verantwortungsvoll!“ schreiben Sie – ich zitiere, weil
das alles stimmt, was Sie schreiben –:

Die neue Initiative der Länder im Bundesrat, Inves-
titionen in Kommunen auch dann aus dem Kon-
junkturprogramm zu fördern, wenn sie nicht zusätz-
lich sind, hat die Bundesregierung in ihrer heutigen
Kabinettssitzung zu Recht zurückgewiesen.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Ja!)


Nur zusätzliche Investitionen erfüllen den Sinn und
Zweck des Konjunkturprogramms, neue Aufträge
zu generieren und dadurch die krisenbedingte





Carsten Schneider (Erfurt)



(A) (C)



(D)(B)

Ich kann mir vorstellen, dass Ihnen das peinlich ist.
Das kann ich sogar nachvollziehen. Ich würde das nicht
machen wollen. Ich hätte das auch nicht gemacht. Ich
hätte so etwas auch nicht zugesagt. Ich hätte auch das
erste Gesetz, mit dem das in Verbindung steht, nicht ge-
macht. Aber es zieht sich wie ein roter Faden durch die
Finanzpolitik dieser Regierung, dass Sie kein Konzept
haben, dass wirtschaftliche Effekte, die zu einer Stär-
kung von wirtschaftlicher Tätigkeit führen, im Hinter-
grund stehen. Im Gegenteil: Sie betreiben Klientelbe-
günstigung. Das, was an guten Maßnahmen noch da war
– wir laufen jetzt sogar Gefahr, dass diese Hilfen, die wir
gegeben haben, verfassungswidrig sind –, konterkarieren
Sie. Ich finde, es ist eine bittere Stunde für den Bundes-
tag, eine bittere Stunde für den Haushaltsausschuss. Ich
kann nur hoffen, dass das in dieser Tendenz mit Ihnen
nicht so weitergeht. Aber meine Hoffnung wird wahr-
scheinlich trügen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703721000

Otto Fricke hat das Wort für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Otto Fricke (FDP):
Rede ID: ID1703721100

Sehr geschätzte Frau Präsidentin! Kollege Schneider,

Ihr Beitrag war wunderbar. Als Lateiner kann ich nur sa-
gen: Spes saepe fallit, aber nicht immer. Was Sie sagen,
ist gar nicht so falsch. Aber wenn Sie schon analysieren,
wie es zu der Situation gekommen ist, dann wollen wir
doch einmal festhalten, dass es auch im Rahmen der
Föderalismuskommission II nicht gelungen ist, die Frage
zu beantworten, wer für welche Steuereinnahmen zu-
ständig ist und wer im Windschatten bei welchen Steuer-
einnahmen wie vorgeht.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Sehr richtig!)


Sie haben recht – ich bestätige das ausdrücklich –: Es
gab eine Absprache mit dem Bundesrat. Nun können Sie
fragen: Wie kann man so etwas nur machen? Darauf ant-
worte ich: Eine Absprache, die dafür gesorgt hat, dass
wir eine Kindergelderhöhung bekommen, ist mir man-
ches wert, bei dem ich in den sauren Apfel beißen muss.
Sie sagen, dass es Ihnen das nicht wert ist. Das halte ich
schlichtweg für falsch.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Bettina Hagedorn [SPD]: Unglaublich!)


Grundsätzlich ist die Notwendigkeit dieses Gesetzes,
was den ursprünglichen Titel angeht, unbestritten. Die
Abschaffung ist richtig. Die ungeklärte Frage, Frau Kol-
legin Tillmann, ob das mit der Schuldenregelung funk-
tioniert oder nicht, hängt von allen verantwortlichen
Politikern ab,


(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)

nicht nur im Bund, sondern auch in den Ländern und
Kommunen. Es wird aber auch davon abhängen – das
möchte ich den Bürgern sagen –, ob wir eine Gesellschaft
haben, die es nicht nur akzeptiert, dass gespart werden
soll, sondern die ebenso akzeptiert, dass – entsprechend
der jeweiligen Leistungsfähigkeit – auch in Bereichen
gespart wird, die einen selber betreffen. Jede Regierung
und jede Fraktion will sparen. Wenn es aber konkret
wird – seien wir ehrlich –, sieht es anders aus.


(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bisher haben Sie nur an Vorschlägen gespart!)


Ich finde die Reaktionen schon interessant: Die SPD
ist seit einiger Zeit nicht mehr in Regierungsverantwor-
tung. Die Grünen waren sieben Jahre lang an der Regie-
rung beteiligt. Auch Sie haben Schulden gemacht.


(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht so schlimm wie ihr! Ihr seid die Schuldenkönige! 80 Milliarden!)


Seien Sie wenigstens so ehrlich und erkennen Sie das
Kernproblem der Verschuldung an!

Zum Verhalten der Länder. Die Länder müssen – ich
finde es gut und ehrenwert, dass fünf Vertreter der Län-
der hier sind – für ihren Teil kämpfen. Mir wäre es lie-
ber, die Länder hätten eigene Steuerrechte und würden
sagen: Bürger, weil wir diese oder jene Ausgaben für
richtig halten, wollen wir von euch die entsprechenden
Steuern. – Diejenigen, die besser sparen, werden bei den
Bürgern anders ankommen als diejenigen, die schlechter
sparen. Das gilt ebenso für den Bund. Sie werden sehen,
dass das Sparen irgendwann belohnt wird.

Die FDP kann sich etwas klarer positionieren als die
CDU/CSU, die dieses Konjunkturpaket in der Großen
Koalition beschlossen hat. Wir haben es abgelehnt. Die-
ses Konjunkturpaket ist der falsche Ansatz gewesen. Das
zeigt sich jetzt deutlich.


(Georg Schirmbeck [CDU/CSU]: Otto, das kannst du so nicht sagen!)


Wenn wir uns genauer anschauen, was passiert, stellen
wir fest, dass in dem Jahr, in dem die Wirtschaft wieder
wächst, all die Ausgaben, die im Konjunkturpaket ver-
einbart wurden, prozyklisch wirken. In dem Jahr, in dem
sie hätten helfen sollen, haben sie nicht geholfen. Das ist
der Fehler.

Das Schönste im ganzen Gesetzgebungsprozess war
der Sachverständige, der von den Grünen geladen
wurde. Er hat sehr deutlich gesagt – daran sieht man,
dass die Grünen in der Opposition viele Dinge richtig
machen, zum Beispiel die richtigen Sachverständigen
auswählen –, es sei falsch gewesen, das Konjunkturpaket
überhaupt zu verabschieden. Er hat wörtlich gesagt: Die
bessere Alternative wären Steuersenkungen gewesen.


(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er hat gesagt, selbst Steuersenkungen wären besser als der Quatsch, den Sie jetzt machen!)






Otto Fricke


(A) (C)



(D)(B)

Insofern bin ich sehr froh, wenn der Sachverständige das
vielleicht noch genauer darstellen wird und Sie ihm
möglicherweise folgen.


(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie können nicht einmal richtig zitieren! Jetzt geht es bergab!)


Warum? Herr Schneider hat eben gesagt, wir hätten
keinen Plan. Das zu behaupten, ist sehr leicht, vor allem
dann, wenn man selber keinen hat. Aber Herr Kollege
Schneider, wenn man daran glaubt, dass dieses Land die
Wirtschaftskrise besser als manch andere Länder über-
winden kann, dann muss man sich an das halten, was
auch SPD und Grüne im Zuge der Agenda 2010 gemacht
haben: Man muss Reformen auf den Weg bringen. Das
kann man in dem Bereich machen, in dem Sie es ge-
macht haben – wovon Sie jetzt aber nichts mehr wissen
wollen –, oder man kann diejenigen entlasten, von denen
man erwartet, dass sie mit dafür sorgen, dass das Wachs-
tum gesteigert wird.


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Redet nicht so viel! Macht was!)


Für uns in der Koalition sind das ganz wesentlich die un-
teren und mittleren Einkommen, die wir als FDP prozen-
tual am stärksten entlasten wollen. Das ist der Unter-
schied zwischen uns: Sie sehen das absolut. Sie sind
bereit, den Menschen absolut möglichst viele Steuern
wegzunehmen. Wir hingegen wollen möglichst viele
Menschen, ihrer Leistungsfähigkeit entsprechend, pro-
zentual von ihrer jeweiligen Steuerschuld entlasten.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht absolut!)


Das ist der Unterschied zwischen unseren beiden Par-
teien: Bei Ihnen bedeutet Gerechtigkeit, dass man denje-
nigen ungerecht behandeln darf, der viel leistet und viel
verdient, und dass man sich um denjenigen, der wenig
leistet, in anderer Weise kümmert.

Nach meiner Ansicht ist es so, dass wir bei der Frage
der Zusätzlichkeit einen Kompromiss schließen, der für
meine Fraktion sicherlich nicht angenehm ist; aber an
Verträge hält man sich. Das gilt für die Länder – auch
das will ich deutlich sagen – nicht so ganz; denn die Ver-
waltungsvereinbarung, die die Länder zur Zusätzlichkeit
getroffen haben – das möchte ich kritisch anmerken –,
beinhaltete eigentlich genau das, was mit dem Kompro-
miss rückgängig gemacht worden ist.

Ich komme noch kurz zur Härtefallregelung, weil
auch sie Teil des Gesetzentwurfs ist. Wir setzen das Bun-
desverfassungsgerichtsurteil bezüglich der Punkte, bei
denen eine offensichtliche Ungerechtigkeit vorliegt – sie
sind uns von der SPD im Bereich Hartz IV vorgegeben
worden –, mehr oder weniger eins zu eins um. Dieses
Problem lösen wir jetzt. Ich hoffe – ich habe leider
nichts davon gehört –, dass auch seitens der Opposition
anerkannt und für richtig gehalten wird, dass den betrof-
fenen Hartz-IV-Empfängern damit vorläufig – das ist
kein endgültiger Status – Rechtssicherheit gegeben wird,
dass es eine gesetzliche Regelung gibt, die deutlich zum
Ausdruck bringt: Hartz-IV-Empfänger, wenn bei dir ein
besonderer Härtefall vorliegt, kümmert sich diese Koali-
tion eindeutig und klar darum, dass du nicht ins Boden-
lose fällst.


(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wieso ist eigentlich die Regierungsbank komplett leer? Da sitzt ja keiner auf der Regierungsbank! Was ist da los?)


Die Dinge, die es in elf Jahren SPD-Regierungsbeteili-
gung nicht gab, werden nunmehr endlich geregelt. Das
halten wir für eine richtige Lösung.


(Beifall bei der FDP)


Ein letzter Punkt ganz schnell zum Schluss:


(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist die Regierung? Leere Bänke!)


Der eigentliche Streit und das verfassungsrechtlich
größte Problem befindet sich – ich sage das ganz be-
wusst – nicht in diesem Gesetzentwurf. Das ist das Prü-
fungsrecht des Bundesrechnungshofs. Auch wenn wir an
vielen Stellen Streit haben, Herr Kollege Schneider, so
hoffe ich doch, dass wir uns bezüglich der verfassungs-
rechtlichen Streitigkeiten, die jetzt vonseiten der Länder
kommen, einig sind. Wenn die Länder sagen: „Bund, du
darfst uns zwar Geld geben, aber du darfst nicht mit dei-
nem Rechnungshof kontrollieren, ob wir das Geld rich-
tig verwenden“, können wir nur hoffen, dass klar wird:
Wer Geld gibt, hat auch das Recht, zu kontrollieren, ob
es richtig ausgegeben wird.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703721200

Katja Kipping hat das Wort für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Katja Kipping (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703721300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei die-

sem Gesetzentwurf handelt es sich um ein sogenanntes
Omnibusgesetz, in dem ganz verschiedene Regelungen
behandelt werden. Ich möchte mich für die Linke vor al-
len Dingen zur Härtefallklausel im Bereich Hartz IV äu-
ßern.

Diese Klausel soll vor dem Hintergrund eines Bun-
desverfassungsgerichtsurteils eingeführt werden. Das
Gericht hat uns verpflichtet, sicherzustellen, dass es im
Härtefall auch Leistungen über den Regelsatz hinaus
gibt. Es geht hier also um nicht weniger als die Umset-
zung eines verfassungsmäßigen Auftrages. Ich finde, es
ist fraglich, ob der vorliegende Gesetzentwurf diesem
Anspruch gerecht wird.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


In den Beratungen war häufig von Rechtssystematik
und unbestimmten Rechtsbegriffen die Rede. Bei dieser
Regelung geht es aber auch um menschliche Schicksale,
zum Beispiel um folgenden Fall, von dem mir ein Ver-





Katja Kipping


(A) (C)



(D)(B)

treter des Arbeitslosenverbandes erzählte: Eine Alleiner-
ziehende, die ein Kind hat, das asthmakrank ist und eine
Allergie hat und wegen dieser Allergie einen besonderen
Ernährungsbedarf hat, der mehr Geld kostet, was vom
Hartz-IV-Regelsatz nur schwer zu bestreiten ist, hörte
von diesem Urteil, schöpfte Hoffnung und hat einen An-
trag gestellt. Der Antrag ist abgelehnt worden. – Ange-
sichts solcher Meldungen finde ich es fraglich, ob die
Entscheidungen der Jobcenter wirklich immer im Geiste
des Verfassungsgerichtsurteils sind.

In dem nun vorliegenden Gesetzentwurf heißt es, ein
Härtefall liege nur dann vor, wenn der Bedarf nicht
durch Einsparungsmöglichkeiten beim Hartz-IV-Regel-
satz gedeckt werden kann. Meine Damen und Herren,
wo leben Sie denn? Glauben Sie denn ernsthaft, dass
beim Arbeitslosengeld II noch so viel Luft ist, dass man
locker etwas sparen kann? Glauben Sie das ernsthaft?
Die Linke meint: Nein, das ist nicht möglich. Deswegen
meinen wir, dass der Regelsatz generell erhöht werden
muss.


(Beifall bei der LINKEN)


Herr Fricke, auch die juristischen Sachverständigen
haben in der Anhörung an der Formulierung zu den Ein-
sparungsmöglichkeiten kein gutes Haar gelassen. Über-
flüssig und irreführend – das waren die Aussagen von
Klaus Lauterbach vom Landessozialgericht Sachsen-An-
halt. Generell muss man sagen, dass die Stellungnahmen
zur Anhörung und die Wortmeldungen der Sozialver-
bände an dem Vorschlag von Schwarz-Gelb kein gutes
Haar gelassen haben.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist es!)


Ich finde es frappierend, dass Sie trotzdem trotzig darauf
beharren. Das ist Ausdruck höchster Ignoranz.

Wir als Linke haben die Anregung der Sachverständi-
gen ernst genommen. Wir haben sie aufgegriffen und ei-
nen entsprechenden Änderungsantrag eingebracht.


(Beifall bei der LINKEN)


Nun existiert bei der Bundesagentur für Arbeit ein
Katalog mit Beispielen für Härtefälle. Solch ein Katalog
kann niemals abschließend sein; das ist mir bewusst.
Aber es ist sehr auffällig, dass in diesem Katalog ganz
wichtige Beispiele, auf die die Sozialverbände hinge-
wiesen haben, fehlen. Beispielsweise fehlen nichtver-
schreibungspflichtige Medikamente im Fall von Neuro-
dermitis oder HIV-Erkrankungen sowie Mehrbedarfe für
Brillen und orthopädische Sonderbedarfe. Es fehlen
auch Mehrkosten, wenn Unverträglichkeiten für spe-
zielle Lebensmittel wie Laktose vorliegen.

Dringend müssten vor allem besondere Schulbedarfe
ergänzt werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Immerhin – das besagt ja auch das Bundesverfassungs-
gericht – gibt es einen völligen Ermittlungsausfall im
Hinblick auf kinderspezifische Bedarfe. Solange wir
also im Kinderregelsatz die Schulbedarfe nicht klar ein-
gerechnet haben, müssten zumindest bis zu dieser Rege-
lung Schulbedarfe als Härtefall ergänzt werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Nun haben Sie, Herr Fricke, nur ein Argument für die
vorliegende Formulierung genannt, nämlich dass
Rechtssicherheit geschaffen wird. Schön wäre es. Bei
der Anhörung gab es keinen Sachverständigen, der be-
stätigt hat, dass damit Rechtssicherheit geschaffen wird.
Das Freundlichste, was in diesem Zusammenhang zu hö-
ren war, sagte der Direktor des Sozialgerichtes in Pots-
dam, Graf von Pfeil:

Der Gesetzentwurf verhält sich … in gewisser
Weise neutral: Er schafft weder Klarheit noch Un-
klarheit …

Umgangssprachlich würde ich sagen, dass es sich um
einen „Hinischani-Gesetzentwurf“ handelt: hilft nichts,
schadet aber auch nicht. Für diese Form von Rechts-
sicherheit können Sie sich wirklich kräftig auf die Schul-
tern klopfen.


(Beifall bei der LINKEN – Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wobei man schon froh sein muss, wenn Gesetze von denen nicht schaden!)


Halten wir fest: Die vorliegende Formulierung schafft
für die Betroffenen kein Mehr an Rechtssicherheit. Inso-
fern kann man den Betroffenen nur empfehlen, im Zwei-
felsfall einen Antrag zu stellen. Denn nach Aussage aller
Sachverständigen ist der Einzelfall entscheidend. Man
kann den Betroffenen nur sagen: Kämpfen Sie um Ihre
Rechte!

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der LINKEN – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das war eine „HinischaniRede“!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703721400

Alexander Bonde hat das Wort für Bündnis 90/Die

Grünen.


Alexander Bonde (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703721500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Der Entwurf eines Gesetzes zur Abschaffung des Fi-
nanzplanungsrates hatte als unspektakuläre, breit zu-
stimmungsfähige Veranstaltung begonnen, weil es sich
um die logische Umsetzung einer Grundgesetzregelung
handelt. Wenn man einen Rat nicht mehr braucht, sollte
man ihn auch abschaffen. Jetzt haben Sie aber etwas da-
raus gemacht, was Sie selber als Omnibusgesetz be-
zeichnen.


(Otto Fricke [FDP]: Nein, wir nicht!)


Als Freund des öffentlichen Nahverkehrs und des deut-
schen Fahrzeugbaus muss ich sagen, dass es eine Belei-
digung für jeden Omnibus ist, mit diesem Gesetzentwurf
verglichen zu werden.

Sie haben, um andere Gesetzgebungsprozesse abzu-
kürzen, im laufenden Verfahren zwei Punkte draufge-





Alexander Bonde


(A) (C)



(D)(B)

packt. Sie haben das draufgepackt, was Sie für die Um-
setzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts bei
der Härtefallregelung halten. Ich will Ihnen offen sagen:
Die Anhörung im Haushaltsausschuss, die auch zu die-
sem Punkt sehr intensiv stattgefunden hat, ist für Sie voll
nach hinten losgegangen. Es ist klargeworden, dass Ihre
Umsetzung nicht den Anforderungen des Bundesverfas-
sungsgerichts entspricht. Es ist klargeworden, dass Sie
mit Ihrer Katalogisierung von Positiv- und Negativbei-
spielen, statt auf Öffnungsklauseln zu setzen, mehr
Rechtsstreitigkeiten provozieren, als uns allen lieb sein
kann. Damit helfen Sie den Betroffenen nicht. Deshalb
ist der erste Teil des Gesetzentwurfes durchgefallen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Am Schlimmsten haben Sie es allerdings bei der Ver-
änderung des Konjunkturpakets der Großen Koalition
getrieben. Nachdem Sie ihn monatelang bestritten ha-
ben, wollen Sie nun den schmutzigen Hinterzimmerdeal
der Kanzlerin mit dem Bundesrat umsetzen. Ich will da-
ran erinnern: Es gab viele Beteuerungen dieser Koali-
tion, niemals habe man den Ländern unter der Hand
etwas zugesichert, damit sie Ihrem Wachstumstrullala-
gesetz zustimmen. Wir erinnern uns: Mövenpick-
Spende, Umsetzung der Entlastungen für Hoteliers und
Ähnliches.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das musste ja jetzt kommen!)


Man darf ja nicht vergessen, um was es hier geht und
was Sie über Ihre schmutzige Veranstaltung möglich ge-
macht haben.

Am 22. Januar dieses Jahres hat Kollege Koschyk,
Staatssekretär im Finanzministerium, im Finanzaus-
schuss zugegeben, man werde bei der Zusätzlichkeit
etwas ändern. Staatssekretär Kampeter, ebenfalls im
Finanzministerium, hat das Stunden später im Haus-
haltsausschuss dementiert. Am 10. Februar dieses Jahres
hat die Koalition den entsprechenden Tagesordnungs-
punkt im Haushaltsausschuss abgesetzt, weil man an-
geblich keine Veränderung plant. Am 24. Februar hat die
Koalition den Tagesordnungspunkt im Haushaltsaus-
schuss abgesetzt, weil man angeblich keine Veränderung
plant. Am 4. März hat die Koalition diesen Tagesord-
nungspunkt im Haushaltsausschuss abgesetzt, weil man
angeblich keine Veränderung plant. Jedes Mal hat man
sich auf aktuelle Beschlüsse des Kabinetts berufen. In
dieser Woche haben Sie zurückgenommen, was Sie im-
mer dementiert haben, und offen zugegeben: Das war
eine Bestechung der Länder, damit sie den Weg für das
Wachstumsbeschleunigungsgesetz freimachen.

In der Anhörung haben Sie gehört: Selbst der Präsi-
dent des Bundesrechnungshofes hält die heute von Ihnen
vorgelegte Regelung für verfassungswidrig. Die einzige
Grundlage, die der Bund für Zuweisungen an die Kom-
munen hat – ich halte es für falsch, dass das die einzige
Grundlage ist –, war die Hürde, ein Investitionspro-
gramm auf den Weg zu bringen. Es geht darum, in einer
wirtschaftlich schwierigen Situation Investitionen zu tä-
tigen. Durch die Streichung der summerischen Zusätz-
lichkeit fällt das weg, und Sie machen eine verfassungs-
widrige Zuweisung an die Kommunen. Wie absurd ist
die Gesetzgebung unter dieser schwarz-gelben Koalition
inzwischen eigentlich geworden?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die Argumentation, dass man etwas für die Kommu-
nen tun muss, ist richtig. Aber sagen Sie doch offen: Es
hätte den Kommunen viel mehr geholfen, wenn Sie auf
Ihre Steuergeschenke verzichtet und die Kommunen in
die Lage versetzt hätten, mit ihren regulären Steuerein-
nahmen zu operieren, und offen mit den Kommunen da-
rüber diskutiert hätten, wie wir sie wieder auf eine trag-
fähige Finanzbasis stellen können. Es nützt Ihnen gar
nichts, an dieser Stelle ein paar wenigen Kommunen
durch Umwegfinanzierungen zu helfen, wenn Sie ihnen
gleichzeitig den Saft abdrehen: mit dem Wachstumsbe-
schleunigungsgesetz, mit Ihren Kommissionen, mit dem
Anschlag auf die Gewerbesteuer und dem großen An-
schlag der FDP mit einer Einkommensteuerreform, alles
zulasten der Kommunen. Dieses Paket, das eine ver-
meintliche Entlastung bringen soll, ist auch noch eine
Bestechung der Länder, und zwar dafür, dass die Länder,
die eigentlich der Anwalt der Kommunen sein müssten,
diesem absurden Spiel auf Kosten der Kommunen zu-
stimmen.

Meine Damen und Herren, dieses Gesetz ist nicht ein-
mal einer Koalition wie Ihrer würdig. Es ist auch nicht
würdig, wie hier mit Beschlüssen des Parlaments und
mit dem Grundgesetz dieser Republik umgegangen
wird.


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Peinlich!)


Das ist wirklich ein schwarzer Moment in der Parla-
mentsgeschichte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703721600

Peter Götz hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.


Peter Götz (CDU):
Rede ID: ID1703721700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ob man will oder nicht, die weltweite Finanzmarkt- und
Wirtschaftskrise schlägt auch bei den Städten, Gemein-
den und Kreisen für jeden inzwischen sichtbar zu. Des-
halb besteht hier Handlungsbedarf. Wir alle wissen: Die
internationale Krise ist noch lange nicht überwunden.
Auf allen politischen Ebenen sind die Einnahmen weg-
gebrochen. Gleichzeitig steigen die Ausgaben, vor allem
in sozialen Bereich. In diesem Jahr wird für die kommu-
nalen Haushalte bundesweit ein Defizit von 12 Milliar-
den Euro erwartet. Die Gewerbesteuereinnahmen, Herr
Kollege Bonde, sanken 2009 um fast 20 Prozent gegen-
über 2008.


(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Kein Grund, sie abzuschaffen!)






Peter Götz


(A) (C)



(D)(B)

Richtig ist aber auch: 2007 und 2008 waren gute
Jahre für die Kommunen, die besten seit Bestehen der
Bundesrepublik Deutschland. Viele konnten investieren,
Schulden abbauen und Rücklagen bilden. Gleichzeitig
haben die Städte, Gemeinden und Kreise begonnen, den
durch rot-grüne Politik entstandenen kommunalen In-
vestitionsstau Zug um Zug abzubauen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


In Zeiten rot-grüner Regierungsverantwortung war
daran nie zu denken.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo leben Sie eigentlich?)


Damals lag der kommunale Saldo ohne globale Krise
jahrelang im Minus – 2003 waren es über 8 Milliarden
Euro –, und damals gab es keine weltweite Finanzmarkt-
krise. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn
die weltweite Finanzmarktkrise auf uns zugekommen
wäre und Sie noch an der Regierung gewesen wären.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Ja! Das stimmt! – Bettina Hagedorn [SPD]: Das ist ja absurd! Das liegt daran, dass wir die Gemeindefinanzreform 2003 gemacht haben! Geschichtsverfälschung!)


Es ist notwendig, dass wir den Kommunen helfen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Durch das Zukunftsinvestitionsgesetz, über das wir
jetzt sprechen, hat der Bund mit über 10 Milliarden Euro
einen erfolgreichen Beitrag zur Sicherung wertvoller Ar-
beitsplätze im Baugewerbe und im heimischen Hand-
werk geleistet.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Genau! Auf Initiative der SPD! Da haben Sie recht!)


Zusätzliche Investitionen in die energetische Sanierung
von Schulen, Kindergärten und Kindertagesstätten tra-
gen zum Klimaschutz – der müsste Ihnen von den Grü-
nen immer ein Anliegen sein – und gleichzeitig zur Ver-
besserung der Bildungsinfrastruktur bei.

Ein Weiteres kommt hinzu: Die Wirtschaftlichkeit
kommunaler Einrichtungen wird erhöht. So spart eine
energetisch sanierte Schule in Zukunft erhebliche Be-
triebskosten. Das heißt, die geförderten Investitionen
führen nicht zu Folgekosten, sondern entlasten die kom-
munalen Haushalte bereits nach wenigen Jahren spürbar
und gleichzeitig nachhaltig. Dies führt zu einer Stärkung
der Gemeindefinanzen und zu einer Verbesserung der
kommunalen Infrastruktur.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Herr Kollege Fricke, liebe Kolleginnen und Kollegen,
unser Ziel war und ist, einen sinnvollen Weg zwischen
Konjunkturimpuls auf der einen Seite und Stabilisierung
der öffentlichen Haushalte auf der anderen Seite zu ge-
hen. Genau das ist mit diesem Konjunkturpaket gelun-
gen. Dabei hat übrigens die Vereinfachung der Aus-
schreibungsbedingungen bei Vergaben geholfen.
Der gewünschte konjunkturelle Impuls des Konjunk-
turpakets ist inzwischen nahezu vollständig eingetreten.
Der Erfolg des Ansatzes, über kommunale Investitionen
zur Stabilisierung der gesamtwirtschaftlichen Entwick-
lung beizutragen, Herr Kollege Schneider, ist für jeden
sichtbar, der mit offenen Augen durch das Land geht.


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Aber nicht für die FDP!)


Die kommunalen Investitionsplanungen sind inzwi-
schen so weit fortgeschritten, dass selbst bei einer
Lockerung der Kriterien keine Änderungen mehr vorge-
nommen würden, so zumindest der Deutsche Städtetag
bei der Anhörung diese Woche.


(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der war gar nicht da!)


– Vielleicht haben Sie die Stellungnahme des Deutschen
Städtetages nicht gelesen, dafür kann ich nichts, sie war
aber Gegenstand der Beratungen am vergangenen
Montag.

Ab Januar nächsten Jahres können Länder und Kom-
munen ihr Investitionsverhalten ohnehin frei gestalten.
Durch die Streichung des sogenannten statistischen Zu-
sätzlichkeitskriteriums – nur darum geht es – werden
keine spürbaren nachteiligen gesamtwirtschaftlichen
Entwicklungen erwartet.


(Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat in der Anhörung jeder Ökonom, auch die von Ihnen benannten, bestritten!)


Der Wegfall dieser Bestimmung wird aber zu erhebli-
chen administrativen Erleichterungen und damit zu einer
deutlichen Entlastung von bürokratischem Aufwand
beim Bund, bei den Ländern und bei den Kommunen,
aber auch bei den statistischen Ämtern führen; auch das
muss man bei dieser Gelegenheit sagen dürfen.


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Schaffen wir alle Kontrollen ab; dann gibt es keine Bürokratie mehr!)


Unabhängig von der heute zu beschließenden Geset-
zesänderung muss sich der Deutsche Bundestag um die
katastrophale Finanzlage der Kommunen kümmern. Die
von Bundesfinanzminister Dr. Schäuble einberufene Ge-
meindefinanzkommission prüft – das ist richtig und gut
so – mögliche Alternativen zu der sehr konjunkturabhän-
gigen Gewerbesteuer. Viele Kämmerer wollen weg von
der großen Schwankungsbreite und hin zu einer Versteti-
gung der Einnahmen.

Ich fordere Sie auf, gemeinsam und unvoreingenom-
men an dem Reformwerk für die Stärkung der Gemein-
definanzen mitzuwirken, und zwar bei den Einnahmen
und bei den Ausgaben und Aufgaben. Nicht blinde Blo-
ckade, sondern konstruktive Mitarbeit ist auf diesem Ge-
biet gefordert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Auch die anstehende Steuerstrukturreform darf nicht
auf dem Rücken der Städte und Gemeinden erfolgen.





Peter Götz


(A) (C)



(D)(B)

Wir wollen nicht, dass Kindergärten geschlossen werden
müssen und Schulen nicht mehr renoviert werden kön-
nen. Wir müssen vielmehr alles tun, um die kommunalen
Finanzen auf ein solides Fundament zu stellen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die kommunale Selbstverwaltung in Deutschland mit
dem großen ehrenamtlichen Engagement in den Räten
hat sich bewährt. Sie darf nicht zu einer Worthülse ver-
kommen.


(Beifall des Abg. Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Seit der Übernahme der Regierungsverantwortung
durch Bundeskanzlerin Angela Merkel haben wir mit
unserer kommunalfreundlichen Politik für die Städte,
Gemeinden und Kreise viel durchgesetzt.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben die Steuern für die Hoteliers gesenkt!)


Wir lassen die Kommunen auch in schwierigen Zeiten
nicht im Stich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die heute zu verabschiedende kleine Korrektur im
Zukunftsinvestitionsgesetz liegt im kommunalen Inte-
resse. Deshalb bitte ich Sie um Ihre Zustimmung.

Vielen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Alexander Bonde [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Es ist schlimm, wenn man für ein Gesetz reden muss, an das man selber nicht glaubt!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703721800

Angelika Krüger-Leißner hat das Wort für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Angelika Krüger-Leißner (SPD):
Rede ID: ID1703721900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich weiß nicht, ob es Ihnen nicht auch so geht
wie mir: Wenn ich die Bundesarbeitsministerin, Frau
von der Leyen, beobachte, muss ich staunen, wie sie von
Thema zu Thema fliegt wie ein fleißiges Bienchen von
Blüte zu Blüte. Gestern Kurzarbeit, letzte Woche Rente,
übermorgen Jobcenterreform, einmal die Alleinerziehen-
den, dann jüngere Arbeitslose, jeder wird hier bedient.
Heute nun die Härtefallregelung im SGB II.

Bei genauerem Hinsehen entdeckt man allerdings,
dass viele Themen sehr oberflächlich, gar lieblos abge-
tan werden oder das, was vollmundig angekündigt wor-
den ist, herzlos abgelegt wird. So ergeht es mir auch bei
diesem Gesetzentwurf zur Aufnahme einer Härtefallre-
gelung in das SGB II.

Ich habe es begrüßt, dass uns das Gericht den Auftrag
erteilt hat, hier eine neue gesetzliche Regelung zu tref-
fen. Aber mit dem, was die Bundesarbeitsministerin von
der Leyen hier vorgelegt hat, können wir nicht zufrieden
sein, und Sie hätte es besser machen können.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Katja Kipping [DIE LINKE])


Selbst Ihre Sachverständigen haben den Gesetzent-
wurf in der Anhörung am Montag höchst unterschiedlich
bewertet. Sie alle haben bestätigt, dass es keine drin-
gende Notwendigkeit für diese vorgeschlagene gesetzli-
che Regelung gibt. Es sieht also alles nach einem
Schnellschuss aus. Es kann aber doch nicht sein, dass
wir Menschen in Härtesituationen mit Schnellschüssen
abspeisen.


(Beifall der Abg. Anette Kramme [SPD] – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Die eine behauptet, wir seien untätig, Sie reden von Schnellschüssen! Was denn nun?)


Durch die Anhörung wurde deutlich gemacht: Eile ist
in der Sache überflüssig und sogar schädlich. Wir haben
Zeit bis zum Jahresende. Fakt ist, dass das Urteil an die-
ser Stelle sehr eindeutig ist. Der bessere Weg wäre gewe-
sen, hier zu einer Übergangslösung zu kommen. Sie hät-
ten hier den Weg mit einer vorläufigen Härtefallregelung
in Anlehnung an die Regelung in § 28 SGB XII be-
schreiten können. Das ist übrigens auch der Vorschlag
der meisten Sachverständigen gewesen.

Ich bedauere – und bitte den Staatssekretär auch, das
mit ins Haus zu nehmen –, dass die Ministerin diesem
klugen, pragmatischen Vorschlag vieler Sachverständi-
gen nicht gefolgt ist; denn mit ihrem Gesetzentwurf hat
sie nur eine unausgereifte Minimallösung vorgelegt,
durch die die Lebenssituation der Menschen nicht wirk-
lich verbessert wird. Was wir brauchen, ist eine systema-
tische, saubere und stimmige Lösung. Ich gebe zu, dass
wir dazu etwas mehr Zeit brauchen, aber die haben wir.

Ein weiteres Argument für meinen vorgeschlagenen
Weg wurde auch aus Sicht der Bundesagentur für Arbeit
als zweckmäßig angesehen, nämlich, in der Übergangs-
zeit wertvolle Erfahrungen in der Praxis zu typischen
Härtefällen zu sammeln und in die gesetzliche Regelung
einzubeziehen. Zudem erscheint es mir auch sinnvoll,
die erforderliche Neubemessung der Regelsätze im Zu-
sammenhang mit der Härtefallregelung zu sehen und
dies auch zeitlich zu verknüpfen. Vielleicht wäre es Ih-
nen dann gelungen, den Handlungsrahmen des Urteils
voll auszuschöpfen. So ist das nur Stückwerk.

Für mich ist es wichtig, dass wir eine transparente Re-
gelung bekommen, die den Einzelnen und den vielen
Mitarbeitern in den Jobcentern und den Optionskommu-
nen Klarheit bringt. Mit Ihrem restriktiven Negativkata-
log kommen wir nicht weiter. Keiner kann heute sagen,
was letztendlich als Härtefall anerkannt wird, und nie-
mand hat einen Negativkatalog gefordert. Ich plädiere
deshalb für einen offenen, positiven, nicht abschließen-
den Katalog mit konkreten Fallbeispielen.

Gleichzeitig gebe ich Ihnen noch einen Auftrag mit
auf den Weg.





Angelika Krüger-Leißner


(A) (C)



(D)(B)


(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Sie haben nicht das entsprechende Mandat! – Otto Fricke [FDP]: Quasi von einer Ministerin!)


– Wir werden über diesen Punkt noch eine ganze Weile
reden; nehmen Sie das einmal auf! – Ob der Bewilli-
gungszeitraum von sechs Monaten angesichts dieser
Problemfälle gerechtfertigt ist, bitte ich Sie zu überprü-
fen. Warum denn eigentlich nicht länger?


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703722000

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.


Angelika Krüger-Leißner (SPD):
Rede ID: ID1703722100

Ja. Darf ich den Gedanken noch zu Ende führen?


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703722200

Wenn es ein Satz ist, dann ja, sonst nicht.


Angelika Krüger-Leißner (SPD):
Rede ID: ID1703722300

Ja, ich versuche das.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703722400

Wenn es ein kurzer ist.


Angelika Krüger-Leißner (SPD):
Rede ID: ID1703722500

Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich ein

Fazit ziehen: Der Gesetzentwurf zur Härtefallregelung
ist unnötig und bewirkt nichts, er bringt auch keinen
Mehrwert –


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703722600

Frau Kollegin.


Angelika Krüger-Leißner (SPD):
Rede ID: ID1703722700

– und vor allen Dingen hilft er dem Einzelnen nicht.

Darum stimmen wir dem nicht zu. – Das war jetzt aber
doch ein zusammenhängender Satz.


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703722800

Das war aber jedenfalls kein kurzer.

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Abschaf-
fung des Finanzplanungsrates.

Der Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/1465, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf Drucksache 17/983 in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Hierzu liegen Änderungs-
anträge vor. Über diese stimmen wir zuerst ab.

Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 17/1474. Wer stimmt für die-
sen Änderungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Der Änderungsantrag ist abgelehnt. Zuge-
stimmt haben die einbringende Fraktion Die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen, dagegen gestimmt haben die
Koalitionsfraktionen. Die Fraktion der SPD hat sich ent-
halten.

Wir kommen zur Abstimmung über den Änderungs-
antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/1473. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der
Änderungsantrag abgelehnt bei Zustimmung durch
Bündnis 90/Die Grünen, SPD und große Teile der Frak-
tion Die Linke und Ablehnung durch die Koalitionsfrak-
tionen. Enthaltungen gab es in der Fraktion Die Linke.1)

Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Hand-
zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthalten möchte sich
niemand? – Damit ist der Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung in zweiter Beratung angenommen. Zuge-
stimmt haben die Koalitionsfraktionen. Abgelehnt haben
die Oppositionsfraktionen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer zustimmen möge, erhebe
sich bitte. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist
der Gesetzentwurf in dritter Beratung angenommen mit
dem gleichen Abstimmungsverhältnis wie vorher.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Fraktion der

SPD

Beschäftigte vor Arbeitslosigkeit schützen –
Konditionen für Kurzarbeit verbessern
– Drucksachen 17/523, 17/1446 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Paul Lehrieder

Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattie-
ren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch.

Ich eröffne die Aussprache. Der Kollege Peter Weiß
hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1703722900

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

„Man kann von einem deutschen Arbeitsmarktwunder
sprechen: 5 Prozent Rückgang des Bruttosozialprodukts,
kaum Anstieg der Arbeitslosigkeit“, so der Sachverstän-
dige Professor Dr. Gerhard Bosch von der Universität
Duisburg-Essen am Montag in einer Anhörung des Aus-
schusses für Arbeit und Soziales. Das Institut der deut-
schen Wirtschaft hat vor kurzem eine Ausarbeitung vor-
gelegt mit der Aussage: Deutsche Arbeitnehmer am
geringsten von der Krise betroffen.

Um über das, so die Formulierung, „Jobwunder Deutsch-
land“ zu sprechen, war die Bundesarbeitsministerin
Ursula von der Leyen zum G-20-Gipfel nach Washington
eingeladen. Allem Krisengerede zum Trotz: Mit dem
Schutzschirm für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer und insbesondere mit den Regelungen zur Kurzarbeit

1) Anlage 2





Peter Weiß (Emmendingen)



(A) (C)



(D)(B)

hat der Staat unter großer internationaler Beachtung mu-
tig und entschlossen gehandelt und auf die Herausforde-
rungen der Finanz- und Kapitalmarktkrise reagiert.

Zunächst einmal ist festzustellen: Wir Deutschen kön-
nen stolz darauf sein, dass wir in dieser Krisensituation
so klar, mutig und entschlossen gehandelt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ohne die Regelung zur Kurzarbeit, die die Betriebe in
einem beachtlichen Umfang genutzt haben, hätte es zu
Massenentlassungen kommen müssen. Die Betriebe wis-
sen aber, es lohnt sich, qualifiziertes Personal zu halten,
statt zu entlassen, um für die Zeit nach der Krise besser
aufgestellt zu sein. Ich habe keinen Zweifel, dass sich
dieses Verhalten der deutschen Betriebe nach dem An-
springen der Konjunktur auszahlen wird.

Im Mai 2009 bezogen 1,5 Millionen Beschäftigte
Kurzarbeitergeld. Das war der Höchststand. Die Bundes-
agentur rechnet für das laufende Jahr 2010 im Durch-
schnitt mit 700 000 Beziehern von Kurzarbeitergeld und
für 2011 zurückgehend mit 400 000 bis 500 000. Diese
Zahlen zeigen: Mittlerweile geht es in vielen Branchen
der deutschen Wirtschaft wieder aufwärts; aber viele Be-
triebe brauchen trotzdem nach wie vor das Instrument
der Kurzarbeit und stecken nach wie vor mitten in der
Krise.

Deshalb wäre es töricht, diese Brücke Kurzarbeit ab-
zureißen, die die Unternehmen über das Tal der Krise füh-
ren soll. Deshalb hat die neue Bundesregierung sofort
nach ihrem Antritt bereits die Rechtsverordnung in Kraft
gesetzt, nach der nicht für die im Gesetz vorgesehenen
6 Monate, sondern insgesamt für 18 Monate Kurzarbei-
tergeldbezug möglich ist. Gestern hat das Bundeskabinett
mit dem Beschäftigungschancengesetz die weitere ge-
setzliche Initiative auf den Weg gebracht, die Sonderre-
gelung zu verlängern, die wir in der Krise geschaffen und
eigentlich bis zum Ende 2010 begrenzt haben. Diese Re-
gelung besagt, dass ab dem siebten Monat Kurzarbeiter-
geldbezug die Sozialversicherungsbeiträge zu 100 Pro-
zent von der Agentur für Arbeit übernommen werden,
womit die Betriebe zusätzlich finanziell entlastet werden.

Mit diesem Gesetzentwurf der Bundesregierung wer-
den wir weitere Sonderregelungen verlängern, die bis
Ende 2010 befristet waren, zum Beispiel die Regelung,
dass wir in die Kurzarbeiterregelung Beschäftigte von
Leiharbeitsunternehmen einbeziehen, oder die Regelung
zur Entgeltsicherung. Letztere bedeutet, dass dann, wenn
jemand trotz Kurzarbeit leider entlassen wird, das Ar-
beitslosengeld nicht nach dem zuletzt bezogenen Kurzar-
beitergehalt, sondern nach seinem zuletzt bezogenen vol-
len Gehalt berechnet wird. Auch der Ausbildungsbonus
für Lehrlinge insolventer Betriebe wird bis Ende 2013
verlängert.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Fach-
leute, mit denen wir am Montag diskutiert haben, gehen
davon aus, dass wir damit weiterhin dafür sorgen, dass
die Arbeitslosigkeit nicht sprunghaft um 300 000 Perso-
nen ansteigt.
Aber wir haben nicht nur die Regelungen zur Kurzar-
beit verlängert, womit wir dafür sorgen, dass eine tragfä-
hige Brücke in Beschäftigung nach der Krise möglich
wird, sondern wir denken auch an diejenigen, die bereits
leider arbeitslos sind, vor allem an diejenigen, die schon
lange arbeitslos sind. Deshalb hat die Koalition gestern
im Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages die
bislang gesperrten Mittel in Höhe von 900 Millionen
Euro für den Eingliederungstitel freigegeben;


(Beifall bei der CDU/CSU – Anette Kramme [SPD]: Nachdem Sie sie vorher gesperrt haben! Erst verschlechtern und sich dann selber loben, das ist ja wohl der Witz!)


denn wir wollen nicht, dass der mittelfristig beginnende
Aufschwung an den Beziehern von Arbeitslosengeld II
vorbeigeht. Deshalb wollen wir auch für sie neue Chan-
cen auf neue Arbeit eröffnen. Die Bundesministerin für
Arbeit und Soziales hat ein Konzept vorgelegt, nach dem
wir die zusätzlichen Mittel, die jetzt freigegeben worden
sind, vor allen Dingen dafür einsetzen wollen, dass jun-
gen Menschen unter 25 Jahren sofort ein Jobangebot ge-
macht werden kann,


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stand schon vorher im Gesetz!)


dass wir stärker noch Alleinerziehenden helfen, insbeson-
dere dann, wenn das Betreuungsproblem für die Kinder
nicht gelöst ist, und dass wir die Beschäftigungschancen
älterer Arbeitsloser mit dem Programm „Perspektive
50plus“ verbessern.


(Anette Kramme [SPD]: Ja, ein gutes Programm, das die SPD gemacht hat!)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit diesem
Beschäftigungssicherungsgesetz, mit der Verlängerung
der Regelungen zur Kurzarbeit in das nächste und über-
nächste Jahr hinein, um die Krise durchzustehen, -


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703723000

Herr Kollege.


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1703723100

– und mit den zusätzlichen Initiativen, die es möglich

machen sollen, dass Arbeitslosengeld-II-Empfänger Wege
in die Arbeit finden können, setzt diese Koalition ein
deutliches Zeichen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703723200

Herr Kollege, Sie müssen dringend zum Ende kom-

men.


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1703723300

Das wollte ich, Frau Präsidentin.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703723400

Das ist gut.


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1703723500

Wenn Sie mir den richtigen Schwung noch erlaubt

hätten, wäre ich jetzt zum Ende gekommen.






(A) (C)



(D)(B)


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703723600

Man weiß es nicht sicher.


(Heiterkeit)



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1703723700

Mit beiden Programmen verfolgt die Koalition ein

zentrales Ziel. Es heißt: Raus aus der Krise. Wir wollen,
dass die deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer einen starken Schutzschirm durch die Politik behal-
ten, dass unsere Unternehmen eine Zukunftsperspektive
haben, –


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703723800

Herr Kollege!


Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1703723900

– damit, wenn der Aufschwung kommt, die Arbeitneh-

merinnen und Arbeitnehmer von diesem Aufschwung tat-
sächlich profitieren.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Sehr dynamisch!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703724000

Willi Brase hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Willi Brase (SPD):
Rede ID: ID1703724100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Damen und Herren! Mein Vorredner hat auf
das Erfolgsmodell der Kurzarbeit hingewiesen.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Aber Sie haben nicht geklatscht!)


Sie gestatten, dass ich noch einmal klar und deutlich
zum Ausdruck bringe, dass es der Arbeitsminister Olaf
Scholz war, der aufgrund des Zusammenwirkens mit Ge-
werkschaften und Arbeitgebern und der Rückkopplung,
die wir über unsere Betriebe und die Betriebsräte aufge-
nommen haben, gefragt hat: Wie kann ein solches Instru-
ment so ausgestattet werden, dass es in der Praxis ver-
nünftig wirkt? Wenn man es richtig betrachtet, dann
muss man sagen: Das war ein Bündnis für Beschäftigte
und Zukunft.


(Beifall bei der SPD)


Es war deshalb ein Bündnis für Beschäftige und Zu-
kunft, weil es das Ziel war, dass nicht die Arbeitnehme-
rinnen und Arbeitnehmer für die Zockerei am Kapital-
markt und die damit verbundenen Risiken und Krisen zu
bezahlen haben.


(Beifall bei der SPD)


Deshalb haben wir es auf den Weg gebracht. Die Union
ist mitgegangen. Es war ein guter Weg. Es war ein Weg,
den Sozialdemokraten richtig und vernünftig gepflastert
haben.


(Beifall bei der SPD)

Man darf zu Recht sagen, Herr Weiß: Bei Abnahme
des Bruttosozialprodukts um 5 Prozent und fast keinem
Anstieg der Arbeitslosenzahl scheint dieses Mittel in sei-
ner Flexibilität und Wirkung ein Erfolgsmodell zu sein.
Deshalb haben wir diesen Antrag gestellt. Wir wollen,
dass die Verlängerung der Bezugsdauer des Kurzarbei-
tergeldes auch in Zukunft gilt. Wir sind nämlich nicht so
blauäugig, zu glauben, dass die Krise schon in den
nächsten Monaten vorbei ist.


(Beifall bei der SPD)


Dieses Modell hat 500 000 Jobs gerettet; das konnten
wir überall nachlesen. Dieses Modell hat den Arbeitneh-
mern und den Unternehmen Sicherheit gegeben, und es
hat den Blick in die Zukunft der betroffenen Unterneh-
men sowie der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer
nicht ganz so sehr getrübt, wie wir es im Rahmen der Fi-
nanzkrise erlebt haben. Deshalb wollen und werden wir
dies weiterführen.

Ich erlaube mir vor dem Hintergrund der Anhörung
des zuständigen Ausschusses auf die finanziellen Aus-
wirkungen der Krise auf dieses Instrument hinzuweisen.
Die Hans-Böckler-Stiftung hat sie in einer Studie unter-
sucht und deutlich dargestellt, dass im Jahre 2009 die
Kosten für die Agentur für Arbeit circa 4,7 Milliarden
Euro betrugen. Bei den Unternehmen kam es zu Kosten
in Höhe von circa 5 Milliarden Euro. Bei den Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmern kam es zu Einkommens-
verlusten in Höhe von circa 3 Milliarden Euro. Diese
Kosten sind, wenn man so will, relativ gleichmäßig ver-
teilt.

Wenn wir ehrlich sind und sagen, dass die Wirt-
schaftskrise aufgrund der Finanzkrise entstanden ist,
dann wird es langsam Zeit, dass endlich diejenigen, die
sie verursacht haben, dafür bezahlen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Eigentlich müssten wir diese Kosten – weit über
10 Milliarden Euro – den Finanzjongleuren vor die Füße
werfen und es dort abholen; Stichwort Finanztransak-
tionssteuer. Das wäre ein gutes und wirksames Instru-
ment, und es wäre besser als die geplante Bankenabgabe.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir wollen die Verlängerung der Bezugsdauer des
Kurzarbeitergeldes auf 36 Monate; das sehen Sie in un-
serem Antrag. Bereits im November/Dezember 2008, als
die Diskussion darüber, dass die kleinen und mittelstän-
dischen Unternehmen nicht den Bach runtergehen sol-
len, richtig losging, haben wir erkannt, dass es sehr
wichtig ist, dass die sogenannten Remanenzkosten, also
die Kosten für die sozialversicherungspflichtigen Be-
schäftigen, übernommen werden. Es war genauso wich-
tig und notwendig, dies mit der Qualifizierung zu ver-
binden. Bei der Qualifizierung ist mir aufgefallen, dass
bei der Anhörung nur wenige Sachverständige darauf
hingewiesen haben – teilweise hat man es in diesen Wo-
chen aus der Politik gehört; erst sollte das Kurzarbeiter-
geld nicht verlängert werden; jetzt hat man es gemacht –,





Willi Brase


(A) (C)



(D)(B)

dass eine mögliche Verlängerung der Bezugsdauer des
Kurzarbeitergeldes den notwendigen Strukturwandel be-
hindern könnte. Eine mögliche Verlängerung, die gerade
den Beschäftigen und den Unternehmen Sicherheit brin-
gen würde, könnte also einen notwendigen Strukturwan-
del verhindern.

Wenn man sich das genauer anschaut, muss man eini-
ges feststellen – das haben die Sachverständigen teil-
weise getan –: Es gab im verarbeitenden Gewerbe trotz
Kurzarbeit Entlassungen. Innovation findet doch nicht
nur statt, wenn Unternehmen Beschäftigte entlassen und
sie sich einen neuen Arbeitgeber suchen müssen. Im Ge-
genteil: Innovationen in den Betrieben finden statt, wenn
es eine entsprechende Innovationskultur gibt. Grundlage
dafür ist häufig eine sichere Beschäftigung. Es bedeutet
ein Stück Zukunftssicherung, zu wissen, dass man in den
nächsten Jahren für den gleichen Arbeitgeber arbeiten
kann. Diejenigen, für die das gilt, sind doch viel eher be-
reit, sich in betriebliche Belange einzubringen und einen
Beitrag zu Wandel und Fortschritt zu leisten.


(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Wohl wahr!)


Die Kurzarbeit hat dazu geführt, dass nicht entlassen
worden ist und dass darüber hinaus die Ausbildung nicht
eingestellt wurde, obwohl nach den Zahlen des Statisti-
schen Bundesamtes 2009 ein Minus von 7,6 Prozent zu
verzeichnen war. Die Befürchtung, dass 2009 aufgrund
der Finanz- und Wirtschaftskrise massiv weniger ausge-
bildet wird, hat sich nicht bewahrheitet. Wir sind der
Auffassung, dass gute Ausbildung, vor allen Dingen im
verarbeitenden Gewerbe, ein wesentlicher Beitrag zur
Innovationsfähigkeit und Innovationskraft im Mittel-
stand ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele Betriebe in
unserer Republik haben, was Qualifizierung angeht, im-
mer noch schwach ausgeprägte eigene Vorstellungen
über ihren Qualifizierungsbedarf und keine Weiterbil-
dungsstrategie; darüber haben wir an anderer Stelle
mehrfach diskutiert. Um dem entgegenzuwirken, sind
Maßnahmen und Aktivitäten durchgeführt worden,
Stichwort „WeGebAU“. Wenn man sich das Ganze an-
schaut, dann erkennt man, dass es nichts mit dem Struk-
turwandel zu tun hat, dass die Kurzarbeiterregelung ver-
ändert wird.

Ich will auf Folgendes hinweisen: Qualifizierungen,
die für die Beschäftigten sinnvoll und gut sind, sind so
zu organisieren, dass sie möglichst nachhaltig wirken. Es
ist aber nun einmal so, dass Kurzarbeit abgebaut wird,
wenn ein Unternehmen mehr Aufträge bekommt. Das ist
für die Erwachsenenbildung, qualifizierungspolitisch ge-
sehen, manchmal etwas nachteilig. In diesem Bereich
braucht man längere Zeiten. Das spricht nicht gegen eine
Kurzarbeiterregelung, sondern im Prinzip dafür, und
deshalb wollen wir sie aufrechterhalten.

Die betriebliche Weiterbildungsstrategie wäre der
Qualifizierung von Kurzarbeitern sicherlich förderlich,
wenn wir sie schon umfassender hätten durchsetzen kön-
nen. Alle Debatten, auch die im zuständigen Ausschuss,
und alle Untersuchungen haben deutlich gemacht, dass
Deutschland hier noch ein Stück zurückliegt. All das
spricht nicht gegen, sondern für die Verlängerung der
Kurzarbeiterregelung. Deshalb bitte ich Sie: Stimmen
Sie dem Antrag der Fraktion der SPD zu. Für uns geht es
um ein Bündnis für die Sicherung der Beschäftigung,
also um gute Zukunftsaussichten. Wenn Arbeitnehmer
wissen, dass sie nicht entlassen werden, dann ist das
auch für die Unternehmen und für die Zukunft in
Deutschland gut.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Eben hat der geschätzte Kollege Bonde von den Grü-

nen bezogen auf die Debatte zu einem anderen Tages-
ordnungspunkt von einem schwarzen Moment im Parla-
ment gesprochen. Ich sage: Das ist ein grüner
Augenblick mit einer roten Zuversicht. Stimmen Sie die-
ser Regelung deshalb zu. Wir haben sie auf den Weg ge-
bracht. Sie wird auch weiterhin benötigt.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703724200

Kollege Johannes Vogel ist der nächste Redner für die

Fraktion der FDP.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1703724300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es ist richtig, was gerade gesagt wurde: Die Kurzarbeit
ist in der Tat ein sehr wertvolles Instrument in der Krise
gewesen. Ganz wesentlich hat sie dazu beigetragen, dass
das Ausland neidisch auf das sogenannte deutsche Job-
wunder schaut. Was den Arbeitsmarkt angeht, scheint
unser Land trotz der schwersten Rezession in der Ge-
schichte dieser Republik erfreulich gut davongekommen
zu sein. Das ist in der Tat ein Lob und auch einen Dank
wert an unseren geschätzten Koalitionspartner, aber
auch, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, an
Sie und den ehemaligen Minister Scholz.

Nur, Arbeitspolitik, die in der Krise gut war, muss
korrigiert werden, wenn sie auch nach der Krise noch
gut sein soll. Ein Instrument wie die Verlängerung der
Kurzarbeit, das in der Krise wertvoll war, kann nach
Ende der Krise durchaus schädlich sein, weil dadurch
Strukturen konserviert und Arbeitsplätze gefährdet wer-
den.


(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Blödsinn!)

Niemand kann bestreiten, dass es am Konjunkturhim-

mel Zeichen der Besserung gibt. Wie wir alle wissen,
unterscheidet sich das von Branche zu Branche. Ich
glaube, das ist ein Grund, bei dem Thema Kurzarbeit
maßvoll zu agieren, sowohl was die Verlängerung der
Sonderregeln bei der Kurzarbeit als auch was die soge-
nannte Synchronisation der Sozialversicherungsbeiträge
angeht. Man muss nämlich auch etwas anderes synchro-
nisieren: das Ende der Krise und das Ende der Sonderre-
gelungen für die Kurzarbeit.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)






Johannes Vogel (Lüdenscheid)



(A) (C)



(D)(B)

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ich
habe das Gefühl, diese Herausforderung haben Sie nicht
begriffen. Das zeigt sich in meinen Augen in zwei Punk-
ten, nämlich zum einen darin, dass Sie gar nichts zur
Konzernklausel sagen. Die Konzernklausel privilegiert
ohne Not große Unternehmen gegenüber kleinen. Sie
war falsch und systemwidrig.

Genauso falsch ist in meinen Augen zum anderen der
Zeitraum von 36 Monaten, den Sie uns hier vorschlagen.
Das hat auch die Anhörung, die wir am letzten Montag
im Ausschuss für Arbeit und Soziales durchgeführt ha-
ben, ganz klar gezeigt. Ich zitiere nur zwei Sachverstän-
dige aus der Anhörung:

Die OECD sagt:

Unsere Vorhersagen gehen aber davon aus, dass wir
uns bereits in einer beginnenden Aufschwungphase
befinden und dass man im jetzigen Augenblick vor-
sichtig sein sollte mit der Verlängerung und inso-
fern auch eine stärkere Eigenbeteiligung vorzuse-
hen ist.

Das IAB, das wir alle gern zitieren, weil wir alle wis-
sen, dass das ein sehr seriöses Institut ist, sagt:

Eine Verlängerung der maximalen Bezugsfrist des
konjunkturellen Kurzarbeitergeldes auf 36 Monate
zum jetzigen Zeitpunkt könnte als Signal für eine
mittelfristig gewährte Subvention missverstanden
werden und das Risiko von Strukturverhärtungen
eher erhöhen. Auch mit der Frist von 24 Monaten
oder heute 18 Monaten dürften die meisten Betriebe
ausreichend Zeit haben.


(Anette Kramme [SPD]: Was halten Sie von Professor Bosch, IAQ?)


– Ich habe jetzt zwei herausgegriffen, liebe Frau Kolle-
gin.

Man kann also festhalten: Ausgerechnet das Merk-
mal, das Ihren Antrag auszeichnet, die Frist von 36 Mo-
naten, wurde von zwei seriösen Instituten kritisiert.

Deswegen ist sinnvoller, was wir machen, nämlich
eine maßvolle Bezugsdauer von 18 Monaten zu wählen
und die Synchronisation der Sozialversicherungsbeiträge
15 Monate lang zu gewähren. Wir steigen schrittweise
aus diesem Instrument aus.

Es bleibt bei sinnvollen Maßnahmen, wie zum Bei-
spiel der vollen Erstattung bei Qualifizierungsmaßnah-
men. Wir haben aber im Gegensatz zu Ihnen eine klare
Exit-Strategie und haben verstanden, dass ein Instrument
in einer Krise gut sein kann, aber nach der Krise irgend-
wann auch vernünftig auslaufen muss, wenn es im Inte-
resse der Menschen wirken soll.

Mir fällt dazu Ihr Ex-Kanzler Schröder ein. Ich
glaube, man kann für die Kurzarbeit sagen: Wir werden
nicht alles anders machen als Sie, aber vieles besser. Ich
glaube, das ist genau die richtige Antwort. Deshalb wer-
den wir Ihren Antrag auch ablehnen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703724400

Das Wort hat nun die Kollegin Jutta Krellmann für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Jutta Krellmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703724500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die Betriebsräte und Geschäftsleitungen ha-
ben gehandelt, nicht Sie, Herr Weiß. Sie haben höchstens
die Rahmenbedingungen geschaffen, aber sonst nichts.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Gott sei Dank! Das ist doch was gewesen! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


Gehandelt haben andere.

Die Krise zeigt, dass nur eine konsequente Arbeits-
zeitverkürzung Arbeitsplätze schafft und sichert. Statt
immer längere Arbeitszeiten für den einen und gar keine
für den anderen, muss Arbeit gerechter verteilt werden.
Kurzarbeit ist nämlich nichts anderes als Arbeitszeitver-
kürzung mit Teillohnausgleich.


(Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Reichtum für alle!)


Das mit der Kurzarbeit haben zum Glück mittlerweile
auch die CDU, die FDP und Frau von der Leyen verstan-
den. Wir unterstützen die Forderung der SPD in ihrem
Antrag zur Kurzarbeit und werden diesem zustimmen.

Uns geht er aber noch nicht weit genug. Es erfordert
nur gesunden Menschenverstand, um zu erkennen, dass
die gerechte Verteilung von Arbeit der richtige Hebel für
mehr Beschäftigung ist.


(Beifall bei der LINKEN)


Hier gibt es in Ihren Vorschlägen noch einigen Raum für
Verbesserungen.

Ich gehöre zu der Generation, die in den 80er-Jahren
für eine Arbeitszeitverkürzung gekämpft hat. Arbeits-
zeitverkürzung bedeutet nicht nur Kurzarbeit, sondern
sie bedeutet auch, die Arbeitszeit für Vollzeitbeschäftigte
zum Beispiel auf eine 35-Stunden-Woche zu verkürzen;
sie bedeutet, Überstunden zu begrenzen; und sie bedeu-
tet, Altersteilzeit einzuführen.


(Beifall bei der LINKEN)


Arbeitszeitverkürzung erleichtert die Vereinbarkeit von
Beruf und Familie, und sie wirkt sich positiv auf die Ge-
sundheit der Beschäftigten aus. Da schlagen Sie gleich
mehrere Fliegen mit einer Klappe.

Vor dem Hintergrund knapper Arbeit ist es auch völ-
lig irrsinnig, die Menschen mit 67 Jahren noch in den
Betrieben zu beschäftigen.


(Beifall bei der LINKEN)


Nehmen Sie die Entscheidung zur Rente mit 67 wieder
zurück!





Jutta Krellmann


(A) (C)



(D)(B)

Für die Linke ist klar: Die Erstattung von Sozialversi-
cherungsbeiträgen bei Kurzarbeit ist ebenfalls richtig
und muss fortgesetzt werden. Hierbei sind wir ganz auf
Ihrer Seite.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Welche Seite meinen Sie denn jetzt?)


Die Regierung hat lange genug gebraucht, sich dazu
durchzuringen, Klarheit zu schaffen. Damit wurden viele
Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben absolut ver-
unsichert.

Die tarifliche Kurzarbeit, wie sie in der Metall- und
Elektroindustrie ausgehandelt wurde, wäre ebenfalls ein
richtiger Schritt und eine Ergänzung zur konjunkturellen
Kurzarbeit gewesen. Sie fehlt in den Vorschlägen der
SPD und der Regierung aber komplett. Hier müssten
noch Hausaufgaben gemacht und Nachbesserungen vor-
genommen werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Idee, Kurzarbeit für die Qualifizierung der Be-
schäftigten zu nutzen, klingt bestechend und einfach; al-
lerdings funktioniert sie in der Praxis nur schwer. Das
belegt im Grunde die sinkende Zahl von Bildungsmög-
lichkeiten während der Kurzarbeit. Erstens ist es für Bil-
dungsträger schwierig, passende Maßnahmen aus dem
Boden zu stampfen. Zweitens ist es schwierig, in den
Betrieben dafür zu sorgen, dass Leute auch bereit sind,
daran teilzunehmen.

Hinzu kommt noch: Wenn die Kurzarbeit endet, endet
auch die Weiterbildung, weil am nächsten Tag wieder
voll gearbeitet werden muss. Das bedeutet: Wenn man
da etwas erreichen will, muss man über Qualifizierung
für die Zeit nach dem März 2012 reden, also über Quali-
fizierung als Daueraufgabe und nicht nur als Maßnahme
bei Kurzarbeit.


(Beifall bei der LINKEN)


Noch ein Punkt bleibt in Ihren Vorschlägen uner-
wähnt. Sie lassen die Beschäftigten in der Kurzarbeit mit
dem Progressionsvorbehalt in die Steuerfalle laufen. Da-
mit ist gemeint, dass das Kurzarbeitergeld zwar erst ein-
mal lohnsteuerfrei ist, die Beschäftigten aber im nächs-
ten Jahr hohe Steuernachzahlungen leisten müssen. Das
können sie sich aber gar nicht leisten. Wovon auch? Sie
sind schon in Kurzarbeit, erhalten weniger Lohn und
können dementsprechend keine Rücklagen bilden.

Korrigieren Sie bitte Ihre Steuerungerechtigkeiten!
Das ist im Interesse der Beschäftigten.


(Beifall bei der LINKEN)


Sorgen Sie für mehr Steuergerechtigkeit, und haben Sie
den Mut zu konsequenter Arbeitszeitverkürzung! Nur so
können Arbeitsplätze gesichert und geschaffen werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703724600

Nächste Rednerin ist die Kollegin Brigitte Pothmer

für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Nun aber los! – Heiterkeit – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Die SPD feuert mich schon wieder an!)



Brigitte Pothmer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703724700

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nun

aber los! – Alle Fraktionen im Hause sind der Auffas-
sung – das ist schon hinreichend deutlich geworden –,
dass in einer Krisensituation mit Nachfrageeinbrüchen
die Kurzarbeit ein richtiges und solidarisches Instrument
ist, um Arbeitslosigkeit abzufedern.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Da nehmen wir als Grüne uns auch keineswegs aus; das
haben wir immer deutlich gemacht. Wissenschaft, Ge-
werkschaften und Arbeitgeber – das hat die Anhörung
gezeigt – bilden hier eine Phalanx.

Kurzarbeit ist ein Instrument der Untertunnelung, und
zwar der Untertunnelung einer Krise. Wir sollten uns
aber schon die Frage stellen, wie lang denn aus unserer
Sicht dieser Tunnel sein soll, ob nicht irgendwann auch
Licht am Ende des Tunnels zu sehen sein muss, und wie
wir schnellstmöglich aus diesem Tunnel wieder heraus-
kommen. Wir müssen von dieser Art von Subventionie-
rung tatsächlich wieder wegkommen; denn die Krise,
mit der wir es zu tun haben, ist nicht eine einfache Nach-
fragekrise; es ist eine Strukturkrise, und das Kurzarbei-
tergeld wirkt prinzipiell strukturkonservierend.


(Otto Fricke [FDP]: Sehr wahr!)


Deswegen ist es wichtig, dass wir uns darüber ausei-
nandersetzen, wie wir es erreichen, dass wir nicht Struk-
turen konservieren, also Subventionen in einen Bereich
geben, der nach dem Ende der Krise ohne die Subventio-
nen nicht konkurrenzfähig wäre.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich bin bereit, zu applaudieren!)


Es geht nicht an, dass wir erst Geld für Kurzarbeit ausge-
ben und nachher doch Arbeitslosigkeit finanzieren müs-
sen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Das sind die Momente, wo ich den Glauben an die Kollegin Pothmer wiedergewinne!)


Ich sage noch einmal ausdrücklich: Wir sind für die
Weiterführung des Kurzarbeitergeldes. Aber auch in Ih-
rem Beitrag, Herr Brase, haben Sie überhaupt nicht be-
gründen können, warum Sie hier und heute eine Verlän-
gerung der Bezugszeit auf 36 Monate beschließen
wollen.


(Otto Fricke [FDP]: Jawohl, das stimmt!)


Sie sollten wenigstens die vom IAB vorgeschlagene
Überprüfungsklausel in bestimmten Phasen aufgreifen.





Brigitte Pothmer


(A) (C)



(D)(B)

Aber es ist falsch, jetzt einfach die Bezugsdauer auf 36 Mo-
nate zu verlängern, und das, ohne zwischendurch hinzu-
schauen. Das halte ich für nicht verantwortbar.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich will hier einen weiteren kritischen Punkt aufgrei-
fen, den Herr Brase schon angesprochen hat, und zwar
die Verknüpfung von Kurzarbeit und Weiterbildung. Die
Bundeskanzlerin hat hier in vielen Reden immer wieder
gesagt, wir müssten darauf achten, dass wir Deutschen
aus dieser Krise stärker herauskommen, als wir hinein-
gegangen sind. Eines der ganz großen Defizite des deut-
schen Arbeitsmarktes ist die ungenügende Qualifizie-
rungs- und Weiterbildungskultur. Was liegt denn näher,
als in einer solchen Situation die Krise als Chance zu
nutzen, dieses Defizit zu beseitigen? Warum nutzen wir
die derzeit nicht gebrauchten Arbeitszeitpotenziale nicht
für Weiterbildung? Diese Verknüpfung wird zurzeit nur
ungenügend angewandt. Nur 10 Prozent aller Kurzarbei-
terinnen und Kurzarbeiter nutzen die Kurzarbeit, um pa-
rallel eine Weiterbildung zu machen.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Wir haben aber das Angebot im Gesetz!)


– Herr Weiß, in der Anhörung ist gesagt worden, dass
man dieses Defizit ganz deutlich sehen kann.

Nach sieben Monaten wird das Kurzarbeitergeld ge-
zahlt, ohne dass noch irgendwelche Anstrengungen für
Weiterbildung unternommen werden müssen. Der Ver-
treter der Bundesagentur für Arbeit hat gesagt: Man
kann genau sehen, wie dieser Tatbestand den Qualifizie-
rungsanreiz dämpft. – Deswegen ist dieser Ansatz
falsch. Wenn wir den Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung im Ausschuss beraten, dann bitte ich Sie darum,
dass wir einmal sehr ernsthaft und seriös darüber spre-
chen sollten, ob diese Regelung nicht korrigiert werden
muss.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Frak-
tion, aus diesen beiden Gründen, also Verlängerung der
Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes und unzureichende
Verknüpfung des Kurzarbeitergeldes mit der Weiterbil-
dung, werden wir uns bei der Abstimmung über Ihren
Antrag enthalten.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das ist aber schade! Ich dachte, Sie wollten zustimmen! – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Über weite Strecken sehr ordentlich!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703724800

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Paul

Lehrieder das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1703724900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen!

Werte Kollegen! Herr Kollege Brase, Sie haben vorhin
ausgeführt, die Kurzarbeit, wie sie derzeit geregelt ist, sei
während der Zeit unserer gemeinsamen Koalition – mitt-
lerweile sind wir geschiedene Koalitionspartner – einge-
führt worden. Wir haben das Kurzarbeitergeld mit der
FDP fortgeführt. Ich hätte bei dieser Feststellung durch-
aus auch den Applaus der SPD erwartet. Denn das Kurz-
arbeitergeld ist eine gute und richtige Maßnahme. Wir
haben vorhin von mehreren Rednern gehört, dass uns
dieses Kurzarbeitergeld europaweit – ich möchte sagen:
weltweit – bei der Bewältigung der Krise einen Vor-
sprung verschafft hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Willi Brase [SPD])


Wir müssen uns bei all denen, die dafür den Schweiß der
Edlen und Gerechten vergossen haben, bedanken.

Meine Damen und Herren, es besteht im Übrigen
Konsens in diesem Hause darüber, dass die Kurzarbeit
das probate, das richtige Mittel für die Bewältigung der
Krise ist. Auch die Unternehmen haben erkannt, dass sie
qualifizierte und gut ausgebildete Arbeitnehmer sinnvol-
lerweise möglichst lange halten und ihnen nicht ohne
Not kündigen sollten, um so dieses Tal der Krise mithilfe
der Verlängerung der Bezugsdauer für das Kurzarbeiter-
geld zu überbrücken.

Das konjunkturelle Kurzarbeitergeld – die Vorredner
haben dies bereits ausgeführt – hat einen bedeutenden
Anteil daran, dass die Unternehmen in Deutschland in
der Wirtschaftsflaute ihre Arbeitnehmer halten konnten.
Zwei gegensätzliche Tendenzen zeichnen sich aber der-
zeit ab: Unternehmen sind einerseits in vielen Bereichen
an der Grenze der Belastbarkeit in Bezug auf die Halte-
kosten angekommen; die wirtschaftliche Erholung ande-
rerseits beginnt nur langsam. Außerdem stellen die Un-
ternehmen, die von der Krise betroffen sind, keine
homogene Gruppe dar. Manche Unternehmen erreicht
die Krise erst in den nächsten Monaten. Sie wird sie über
das Jahr 2010 hinaus vor Herausforderungen stellen. An-
dere Unternehmen bauen bereits jetzt ihren Mitarbeiter-
bestand wieder auf. In den nächsten Monaten wird sich
deshalb herausstellen, welche Entwicklung in welcher
Sparte dominieren wird.

Bis spätestens Ende Juni dieses Jahres, also Kündi-
gungstermin zum Jahresende, wird der Entwicklung und
den finanziellen Möglichkeiten entsprechend durch die
Unternehmen flexibel und kurzfristig reagiert werden
müssen. Es hat sich erwiesen: Das Instrument des ver-
längerten Bezugs von Kurzarbeitergeld hat sich arbeits-
markt- und wirtschaftspolitisch als Kernstück des gelun-
genen Krisenmanagements bewährt. Daher soll es
erfolgreich fortgeführt werden.

Die Forderung der SPD, liebe Freunde, in der entspre-
chenden gesetzlichen Regelung die Angabe „24 Mo-
nate“ pauschal durch die Angabe „36 Monate“ zu erset-
zen und eine Fristverlängerung bis zum 31. Dezember
2011 vorzusehen, schießt indes über das Ziel hinaus. Die
Kurzarbeit darf nicht dazu führen, dass ein notwendiger





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)

Strukturwandel verhindert wird; darauf haben hier die
Kollegin Pothmer und die sehr weise OECD bereits in
der Anhörung am Montag hingewiesen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Deshalb ist die Verlängerung der Dauer des Bezugs von
Kurzarbeitergeld auf 36 Monate, liebe Genossen von der
SPD, abzulehnen. Die BDA hat in der Anhörung am
Montag argumentiert, dass eine Verlängerung der Be-
zugsfrist auf 36 Monate eine nicht zu rechtfertigende
Belastung der Arbeitslosenversicherung ist.

Mit Kabinettsbeschluss von gestern wurde das Be-
schäftigungschancengesetz als bessere Lösung auf den
Weg gebracht. Es ist gut, dass wir unbeschadet des An-
trags der SPD ein sehr aktives Arbeitsministerium ha-
ben, das die dahinterstehende Idee unverzüglich in die
Tat umgesetzt hat. Dies zeichnet unsere Arbeitsministe-
rin Frau von der Leyen aus.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die bis zum 31. Dezember 2010 geltende Sonderrege-
lung zum Kurzarbeitergeld soll bis zum 31. März 2012
verlängert werden. Eine Ausnahme ist die Konzernklau-
sel; diese wollen wir nicht fortführen.

Im Einzelnen: Der Arbeitgeber bekommt für die ers-
ten sechs Monate 50 Prozent der von ihm allein zu tra-
genden Sozialversicherungsbeiträge von der BA in pau-
schalierter Form erstattet. Frau Pothmer, natürlich ist die
Qualifizierung gerade in den ersten sechs Monaten wäh-
rend des Bezugs von Kurzarbeitergeld ein großes Ziel.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber danach!)


Nur, es gibt Branchen – da sollten wir uns kein X für
ein U vormachen –, in denen eine Qualifizierung keinen
Sinn macht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Beispielsweise der Lkw-Fahrer einer Spedition hat den
Führerschein Klasse CE. Er braucht zur Qualifizierung
während des Bezugs von Kurzarbeitergeld keinen Füh-
rerschein der Klasse A zu machen; denn er kann mit sei-
nem Führerschein bei steigendem Wirtschaftswachstum
wieder ganz normal weiterarbeiten. Für den Fernfahrer
macht eine Weiterqualifizierung während des Bezugs
von Kurzarbeitergeld daher verständlicherweise keinen
großen Sinn. Aber es gibt Branchen – Frau Pothmer, da
sind wir nahe beieinander –, da macht eine Weiterquali-
fizierung durchaus Sinn, und dort wird sie auch in An-
spruch genommen. Es gibt aber Branchen, in denen man
die Koppelung der Erstattung der Sozialversicherungs-
beiträge an eine Fortbildung als schikanös empfinden
und sagen müsste: Warum kann ich meine Mitarbeiter
nicht sinnvoll fortbilden? Ich habe nicht die Möglich-
keit, diese Kosten übernommen zu bekommen.

Ich hätte noch einiges zu sagen; aber ich merke,
meine Redezeit geht allmählich zu Ende. Ich will die
Zeit nicht wie die anderen Kollegen über Gebühr strapa-
zieren.

(Manfred Grund [CDU/CSU]: So ist die CDU/ CSU!)


Lehnen Sie den Antrag der SPD ab. Sie können versi-
chert sein: Mit der Verlängerung der Dauer des Bezugs
von Kurzarbeitergeld tun wir das in der jetzigen wirt-
schaftlichen Situation Wichtige, Erforderliche, Notwen-
dige, aber auch Ausreichende. Wenn die Krise überwun-
den ist, werden wir in dieser christlich-liberalen
Koalition zu gegebener Zeit die richtigen Maßnahmen
auf den Weg bringen. Da dürfen Sie volles Vertrauen zu
uns haben. Ich bitte Sie, an unseren sehr weisen Be-
schlüssen mitzuwirken.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703725000

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege

Dr. Heinrich Kolb für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1703725100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich habe es mir zur Angewohnheit gemacht, mir immer
wieder einmal die Frage zu stellen: Was haben sich Kol-
legen eigentlich dabei gedacht, wenn sie einen Antrag in
den Deutschen Bundestag einbringen?


(Otto Fricke [FDP]: Das ist manchmal gefährlich!)


Ich hatte regelrecht die Nöte des Antragsschreibers in
der SPD-Fraktion vor meinem geistigen Auge, der sich
die Frage gestellt haben muss: Was kann man da eigent-
lich bringen, um noch irgendwie aufzufallen? Nach dem
Motto „Viel hilft viel“ hat man einfach einmal in den
Topf gegriffen und eine Verlängerung der Bezugsfrist
auf 36 Monate an die Spitze eines Antrags gestellt.

Herr Brase hat reklamiert, dass Herr Scholz das alles
ganz toll gemacht habe. Dies fand ich insofern bemer-
kenswert, als Sie sich in anderen Zusammenhängen
nicht mehr so gerne an die Tätigkeit Ihrer Arbeitsminis-
ter in den vergangenen elf Jahren erinnern. Ich habe mir
einmal angeschaut, wie das alles zu Ihrer Zeit gewesen
ist. Die Regelfrist umfasst, wenn es keine Nutzung der
Verordnungsermächtigung nach § 182 SGB III gibt,
sechs Monate. Sie wird in der Regel tatsächlich durch
Verordnung verlängert. Siehe da, Herr Brase, während
der gesamten Zeit Ihrer Regierung gab es Verlängerun-
gen, aber nicht in dem Umfang, wie Sie es von Norbert
Blüm damals übernommen hatten. Ende 1998 haben Sie
die von Blüm per Verordnung durchgesetzte Verlänge-
rung der Bezugszeit von sechs auf 24 Monate übernom-
men. Dann wurde die Bezugszeit immer wieder per Ver-
ordnung geändert: Unter Riester betrug sie zunächst
24 Monate und wurde dann auf 15 Monate gekürzt. Un-
ter Clement stieg die Bezugsdauer auf 18 Monate und
sank wieder auf 15 Monate. Bei Müntefering sank die
Bezugszeit schließlich auf nur noch zwölf Monate. Erst
unter Scholz ist die Bezugsdauer wieder gestiegen: Sie
wurde erst auf 18 und dann auf 24 Monate verlängert.





Dr. Heinrich L. Kolb


(A) (C)



(D)(B)

Eines verstehe ich nicht: Wenn Sie sich denken, dass
es richtig ist, jetzt in die Vollen zu gehen und eine Ver-
längerung der Bezugszeit auf 36 Monate zu fordern, wa-
rum ist Ihnen dieser Gedanke dann nicht in den letzten
elf Jahren gekommen?


(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Weil wir da die Wirtschaftskrise noch nicht hatten!)


Ich finde das nicht sehr überzeugend. Es wirkt ein biss-
chen so, als sei das Ganze aus der Not geboren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Willi Brase [SPD]: Ein ganz schwaches Argument, Herr Kolb! Sie zählen nur auf!)


– Nein, Herr Brase. Sie wollen jetzt, am Ende einer
Krise – Gott sei Dank bewegen wir uns langsam auf das
Ende zu –, noch einmal so richtig in die Vollen gehen,
wo wir mittlerweile dosiert und abgewogen entschieden
haben, die Bezugszeit von 24 auf 18 Monate zu senken.
Auch bei der Beitragserstattung haben wir eine Rege-
lung mit Augenmaß gefunden, im Sinne einer Exit-Stra-
tegie. Sie wollen aber mit dem groben Hammer noch
eins draufsetzen. Das macht aus unserer Sicht einfach
keinen Sinn.


(Otto Fricke [FDP]: Die wollen Rot-RotGrün!)


Die Regelung, die die Koalition am letzten Freitag ver-
einbart hat und die wir morgen hier in erster Lesung be-
handeln wollen, wurde mit Augenmaß getroffen.

Ich bin froh, dass es Klarstellungen gegeben hat, zum
Beispiel bei der tariflichen Kurzarbeit. Frau Krellmann
hat das heute nicht angesprochen; vielleicht wird sie es
morgen früh in der Debatte tun. Aus unserer Sicht war
klar, dass es beim tariflichen Kurzarbeitergeld keine Ta-
rifpolitik zulasten der Beitragszahler geben soll. Für uns
war wichtig, dass die Konzernklausel, die es in der bis-
herigen Regelung gab – § 421 t SGB III –, herausge-
nommen wurde. Man muss ehrlich sagen, dass das Tor
zur Kurzarbeit hier viel zu weit offen gewesen ist.


(Willi Brase [SPD]: Was haben Sie denn dagegen, dass die Beschäftigten ein bisschen Zuversicht und Sicherheit haben? Immer auf die Beschäftigten!)


All das wurde jetzt mit Augenmaß angepasst. Wir
sind auf einem guten Weg und werden auch die weiteren
Monate der Krise mit dem Instrument der Kurzarbeit ab-
wettern. Die Unternehmen haben ihre Segel im Sturm
der Wirtschafts- und Finanzkrise heruntergenommen.
Ich denke, wir werden am Ende der Krise erleben, dass
die Unternehmen ihre Segel wieder hochziehen und
Fahrt aufnehmen. Wir müssen nämlich immer bedenken:
Es kommt jetzt darauf an, darüber nachzudenken, wie
die konjunkturelle Erholung mit geeigneten Maßnahmen
nach vorn gebracht werden soll. Das wird mehr und
mehr auf die Agenda rücken.

Für heute ist damit genug gesagt. Herr Brase, wir
werden das Thema morgen früh sicherlich weiter disku-
tieren. Ich hoffe, dass Sie dann auch das Wort ergreifen.
Dann können wir uns an dieser Stelle austauschen. Ich
wünsche Ihnen jetzt – was wünsche ich Ihnen jetzt ei-
gentlich? – einen schönen Abend und verabschiede mich
an dieser Stelle.

Bis morgen.


(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703725200

Herr Kollege Kolb, ich muss allerdings darauf hin-

weisen, dass es zum Erholen noch etwas zu früh ist.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die Sitzung ist noch nicht geschlossen! – Gegenruf der Abg. Iris Gleicke [SPD]: Die Präsidentin sagt, wann Schluss ist!)


Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesord-
nungspunkt.

Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der
Fraktion der SPD mit dem Titel „Beschäftigte vor Ar-
beitslosigkeit schützen – Konditionen für Kurzarbeit
verbessern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/1446, den Antrag
der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/523 abzuleh-
nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
ist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-
lung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion und
der Fraktion Die Linke bei Enthaltung der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 13 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Ersten
Gesetzes zur Änderung des Telemediengeset-
zes (1. Telemedienänderungsgesetz)


– Drucksachen 17/718, 17/995 –

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss)


– Drucksache 17/1219 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Martin Dörmann

Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –
Damit sind Sie einverstanden. Es geht um die Reden fol-
gender Kolleginnen und Kollegen: Andreas Lämmel,
Klaus Barthel, Claudia Bögel, Kathrin Senger-Schäfer
und Tabea Rößner.1)

Wir kommen nun zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/1219, den Gesetz-

1) Anlage 3





Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

entwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/718
und 17/995 anzunehmen.

Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Wer ist dagegen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, der
SPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke bei Enthaltung
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.

Wir kommen zur

dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in der
zweiten Beratung angenommen.

Nun kommen wir zur Abstimmung über den Ent-
schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 17/1455. Wer stimmt für diesen Ent-
schließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Entschließungsantrag ist damit mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Linken und
Enthaltung der Fraktion der SPD abgelehnt.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 b
auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Hänsel, Jan van Aken, Sevim Dağdelen, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

VI. EU-Lateinamerika-Karibik-Gipfel in
Madrid: Den Aufbruch zur zweiten Unabhän-
gigkeit Lateinamerikas solidarisch unterstüt-
zen

– Drucksache 17/1403 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Thilo
Hoppe, Dr. Hermann Ott, Ute Koczy, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Klimaschutz und gerechten Handel mit
Lateinamerika und der Karibik voranbringen

– Drucksache 17/1419 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung (f)

Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Interfraktionell wurde vereinbart, darüber eine halbe
Stunde zu debattieren. – Ich sehe, damit sind Sie einver-
standen.
Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat die
Kollegin Heike Hänsel für die Fraktion Die Linke das
Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Heike Hänsel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703725300

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Wir beschäftigen uns heute mit dem anstehenden Gipfel-
treffen EU-Lateinamerika-Karibik am 18. Mai 2010 in
Madrid. Dieses Gipfeltreffen findet unter dem Eindruck
der Feierlichkeiten zu 200 Jahren Unabhängigkeitsbe-
strebungen in Lateinamerika statt. Damals begann der
Kampf um die Befreiung von Kolonialismus, Unterdrü-
ckung und Ausbeutung. Heute, 200 Jahre später, geht es
um die sogenannte zweite Unabhängigkeit Lateinameri-
kas, die Unabhängigkeit von imperialer Einmischung,
von aufgezwungenen neoliberalen Wirtschaftsbeziehun-
gen, und den Schuldendienst. Die Menschen in Latein-
amerika erkämpfen sich ihre wirtschaftliche, soziale,
ökologische und kulturelle Souveränität.


(Beifall bei der LINKEN)


Ein neues Selbstbewusstsein geht von diesem Konti-
nent aus, genauso wie viele alternative politische An-
sätze, von denen wir lernen können, zum Beispiel neue
demokratische Verfassungen, die auch per Referendum
abgestimmt werden – im Gegensatz zur Europäischen
Union –, die also Menschen direkt an Politik beteiligen.
Es geht um solidarische Wirtschaftsbeziehungen und ge-
genseitige Unterstützung, um Verstaatlichung der natür-
lichen Ressourcen für Armutsbekämpfung – alles Facet-
ten eines sogenannten Sozialismus des 21. Jahrhunderts.

In Bolivien zum Beispiel geht heute ein großer interna-
tionaler Klimagipfel der Völker mit mehr als 20 000 Teil-
nehmerinnen und Teilnehmern aus aller Welt zu Ende.
Dort gibt es interessanterweise keine Straßenschlachten
mit der Polizei wie beim Umweltgipfel in Kopenhagen;
denn die sozialen Bewegungen und Umweltgruppen sind
Teil des Gipfels und nicht ausgesperrt wie in Kopenha-
gen. Sie können also ihre Ideen und ihre Kritik einbrin-
gen. Davon können wir konkret lernen.


(Beifall bei der LINKEN)


Leider hat die Bundesregierung keine offizielle Vertre-
tung zu diesem wichtigen Ereignis geschickt.

Was macht nun die Europäische Union angesichts
dieser Entwicklung in Lateinamerika? Anstatt diese Ent-
wicklung zu stärken und zu unterstützen, versucht sie,
über neue Freihandelsabkommen – aktuell mit Kolum-
bien, Peru und Zentralamerika – ihre wirtschaftliche und
politische Dominanz in Lateinamerika auszubauen und
solidarische, alternative Politikansätze zu boykottieren.
Das alles ist in der sogenannten Global Europe Strategy
der EU-Kommission schriftlich festgehalten. Sie steht
für den weltweiten Ausbau der Macht europäischer
Konzerne. Dazu gehören auch diese neuen Freihandels-
abkommen mit Lateinamerika. Es geht dabei um Markt-
öffnung und ungehinderten Zugang zu Energie und Roh-
stoffen. Es geht auch um Militärkooperation und den
Export zum Beispiel von Atomtechnologie. In diesem





Heike Hänsel


(A) (C)



(D)(B)

aggressiven Wettbewerb wird es viele Verlierer, aber nur
wenige Gewinner geben. So warnt zum Beispiel die ko-
lumbianische Viehzüchterföderation – ich zitiere –:

… das geplante Freihandelsabkommen zerstört die
Produktion von Fleisch, Milch und deren Erzeug-
nisse im ungleichen Wettbewerb mit der EU und
bringt mehr Armut und Hunger in die ländlichen
Regionen und für 400 000 Familien den Ruin.

Deshalb unterstützt die Linke die Forderungen von so-
zialen Bewegungen, Gewerkschaften und Umweltgrup-
pen und fordert den Stopp dieser Freihandelsabkommen.
Stattdessen brauchen wir solidarische Handelsabkom-
men, die den Interessen der Bevölkerung Lateinamerikas
entsprechen und eine Entwicklung fördern, die Armuts-
bekämpfung, Klimaschutz, Sicherung sozialer Standards
– auch hier in Europa – und den Ausbau der Rechte von
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern möglich macht.


(Beifall bei der LINKEN)


Für uns ist es ein weiterer Skandal, dass in Madrid ein
Handelsabkommen mit dem kolumbianischen Präsiden-
ten Alvaro Uribe unterzeichnet werden soll, in dessen
Amtszeit massive Menschenrechtsverletzungen vonsei-
ten der kolumbianischen Armee begangen wurden, Hun-
derte von Gewerkschaftern getötet und viele Menschen
von ihrem Land vertrieben wurden. In unseren Augen ist
es völlig inakzeptabel, dass mit einem solchen Mann ein
Handelsabkommen unterzeichnet wird. Er gehört eigent-
lich vor den Internationalen Strafgerichtshof.


(Otto Fricke [FDP]: Und Herr Chávez?)


Die spanischen Bewegungen haben deswegen eine Ini-
tiative ins Leben gerufen, die Präsident Uribe in Madrid
als persona non grata – unerwünschte Person – erklärt.
Wir werden uns am alternativen Gegengipfel in Madrid
beteiligen. Er nennt sich „enlazando alternativas“ und
richtet sich gegen die Politik der EU.


(Otto Fricke [FDP]: Bei so einer Rede kann man nur sagen „buenas noches“!)


Auf dem Gegengipfel wird für eine selbstbestimmte,
zweite Unabhängigkeit Lateinamerikas gekämpft, die
den Menschen Hoffnung, Gerechtigkeit und Würde zu-
rückgibt.


(Beifall bei der LINKEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703725400

Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun das Wort die Kol-

legin Anette Hübinger.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Anette Hübinger (CDU):
Rede ID: ID1703725500

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Meine Damen und Herren! In Madrid
werden sich am 17. und 18. Mai dieses Jahres zum
sechsten Mal die Staats- und Regierungschefs Latein-
amerikas, der Karibik und Europas treffen, um sich über
die globalen Zukunftsfragen auszutauschen und gemein-
same Handlungswege zu erörtern. Diese Gipfeltreffen
beruhen auf langen, freundschaftlichen Beziehungen
zwischen Europa, Lateinamerika und der Karibik, die
vor mehr als zehn Jahren in eine strategische Partner-
schaft zwischen diesen beiden Regionen mündeten. Die
gemeinsamen kulturellen Wertvorstellungen wie Freiheit
und Chancengleichheit und unsere gemeinsame demo-
kratische Überzeugung sind eine gute Grundlage für
diese vertiefte Zusammenarbeit, die auch Assoziierungs-
und Freihandelsabkommen vorsieht.


(Beifall der Abg. Marina Schuster [FDP])


Das diesjährige Treffen in Madrid wird diese strategi-
sche Partnerschaft weiter vertiefen und ausbauen. Das
Thema des Gipfels lautet: „Eine neue Phase der bi-regio-
nalen Zusammenarbeit: Innovation und Technologie für
eine nachhaltige Entwicklung und soziale Inklusion“. Er
schließt an den Gipfel in Lima vor zwei Jahren an und
stellt sich gleichzeitig aktuellen Herausforderungen. So-
wohl die aktuelle Situation als auch die zukünftige Ent-
wicklung Haitis, die Wirtschafts- und Finanzkrise sowie
die Klimaverhandlungen stehen auf der Tagesordnung.

Die Staaten Lateinamerikas sind derzeit bei der Be-
wältigung der großen globalen Probleme unserer Zeit
wie Klimawandel und bezüglich der Nutzung der natür-
lichen Ressourcen für Europa ein wichtiger Gesprächs-
und Handelspartner. Vertreter Lateinamerikas sitzen in
jeder Verhandlungsrunde, in der es um diese entschei-
denden Zukunftsthemen geht. Viele Staaten Lateiname-
rikas konnten in den letzten Jahren ein kräftiges Wirt-
schaftswachstum verzeichnen. Selbst die weltweite
Wirtschafts- und Finanzkrise hat keine der früher sehr
oft anfälligen Volkswirtschaften aus der Bahn geworfen.
Im Schnitt schrumpfte das reale Bruttoinlandsprodukt
der lateinamerikanischen Staaten 2009 um 2,5 Prozent,
und für 2010 sagt der Internationale Währungsfonds ein
mittleres Wachstum von 3 Prozent voraus. Trotz oder ge-
rade wegen dieser positiven wirtschaftlichen Entwick-
lungen wird die Bewältigung des wachsenden sozialen
Ungleichgewichts entscheidend für weiteres wirtschaft-
liches Wachstum sein. Die Bekämpfung der Armut
bleibt für die Demokratien in Lateinamerika ein Schlüs-
selfaktor.

Die EU und Deutschland wollen den Staaten Latein-
amerikas und der Karibik bei der Bewältigung dieser
Aufgaben helfen. Dazu dienen neben den allgemeinen
Zollpräferenzen Freihandelsabkommen, wie sie nun-
mehr mit Peru und Kolumbien in Madrid zum Abschluss
gebracht werden sollen. Diese Freihandelsabkommen
bieten die Möglichkeit, Märkte in Europa zu erschließen,
durch die ein weiteres Wirtschaftswachstum generiert
werden kann. Der Zugang zu den europäischen Märkten
ist eine logische Konsequenz unserer Entwicklungszu-
sammenarbeit. Denn was nutzt es, den ökologischen An-
bau von Kakao und Kaffee zu unterstützen und den
Kleinbauern damit Hoffnung zu machen, wenn wir den
Absatz dieser fair gehandelten Produkte in Europa nicht
zu guten Bedingungen ermöglichen?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Marina Schuster [FDP]: Sehr richtig!)






Anette Hübinger


(A) (C)



(D)(B)

Diese Abkommen beinhalten die Verpflichtung zur Ach-
tung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit so-
wie die Einhaltung von internationalen Standards hin-
sichtlich Umwelt und Arbeit. Das schließt die Gründung
von Gewerkschaften – sie sind abgesichert – ebenso wie
die Achtung indigener Rechte und die Einbindung der
indigenen Bevölkerung ein.

Wenn wir von Lateinamerika und der Karibik spre-
chen, dann sehen wir uns einer Vielzahl von Staaten und
Völkern gegenüber, die in ihrer Ausprägung, ihrer
wirtschaftlichen Entwicklung und hinsichtlich ihrer poli-
tischen Vorstellungen kaum unterschiedlicher sein
könnten. Daher gestalten sich Verhandlungen über Asso-
ziierungsabkommen zwischen regionalen lateinamerika-
nischen Zusammenschlüssen wie dem Mercosur, der
Andengemeinschaft oder Zentralamerika und der EU als
äußerst langwierig und oft schwierig. Während die As-
soziierungsverhandlungen zwischen Zentralamerika und
der EU fortgesetzt werden, haben Bolivien und Ecuador
als Staaten der Andengemeinschaft die Verhandlungen
über ein Freihandelsabkommen abgebrochen. Mit Ko-
lumbien und Peru wurde weiterverhandelt, weil der pe-
ruanische Präsident García zu Recht darauf verwies,
„mit denen zu beginnen, die es auch ernsthaft wollen“.

Lateinamerika birgt eine der größten biologischen
Schatzkammern der Welt, die durch kurzfristige Interes-
sen leider höchst gefährdet ist. Deshalb wird der Klima-
und Ressourcenschutz ebenso wie die Zusammenarbeit
im Innovations- und Technologiebereich auf der Agenda
in Madrid stehen. So sind sowohl die Entwicklung und
die breite Anwendung von Technologien im Bereich er-
neuerbarer Energien als auch die Energieeffizienz
Schlüsselfaktoren, um den Klimawandel einzudämmen,
den steigenden Energiebedarf zu decken, aber auch um
zu nachhaltigem Wirtschaftswachstum und nachhaltiger
Entwicklung zu gelangen. Dies erfordert eine verstärkte
und umfangreiche Technologiekooperation zwischen
Lateinamerika und Europa. Am 29. und 30. April wird
ein EU-Lateinamerika-Karibik-Forum zur Energiepoli-
tik in Berlin stattfinden, das nicht nur den Gipfel in Ma-
drid vorbereitet soll, sondern das auch der Vorbereitung
der Weltklimakonferenz in Cancún dient.

Insbesondere Brasilien als neuntgrößte Volkswirt-
schaft mit einem Bruttoinlandsprodukt, das über dem
von China und Indien liegt, kommt dabei eine zuneh-
mend bedeutende Rolle zu, und zwar sowohl als Impuls-
geber in Lateinamerika selbst als auch aufgrund der
Übernahme internationaler Verantwortung in wichtigen
Politikbereichen. Mit den kürzlich entdeckten Erdöl-
und Erdgasvorkommen könnte Brasilien zu einem sehr
wichtigen internationalen Energielieferanten aufsteigen.
So wird es 2010 und 2011im Rahmen des Deutsch-Bra-
silianischen Jahres der Wissenschaft, Technologie und
Innovation zahlreiche Veranstaltungen und Begegnun-
gen zwischen Wissenschaftlern und Forschern sowohl
auf deutscher als auch auf brasilianischer Seite geben,
die die Zusammenarbeit im Bereich Forschung und Wis-
senschaft vertiefen und ausbauen werden. Das ist gelebte
Partnerschaft; denn nur eine gemeinsame Forschung
wird uns bei der Beantwortung globaler Fragen weiter-
bringen.

(Marina Schuster [FDP]: Sehr richtig!)


Nun zu den Anträgen der Fraktionen Bündnis 90/Die
Grünen und Die Linke. Sehr geehrte Damen und Herren
von der Fraktion Die Linke, es wäre wirklich an der Zeit,
dass Sie sich eingestehen, dass die Politik, die Sie mit
diesem Antrag wieder verfolgen und in anderen Staaten
unterstützen, den Menschen keine Zukunft gibt.


(Lachen bei der LINKEN)


Sie gaukeln in Ihrem Antrag wieder einmal vor, Latein-
amerika und die Karibik sprächen mit einer Stimme, ver-
weigerten sich den Freihandelszielen der EU und wiesen
– ich zitiere – „die Vorstellung von einem europäischen
Vorbild in Sachen Demokratie für Lateinamerika zu-
rück“. Die Abkommen mit Mexiko, Chile, Brasilien,
demnächst mit Peru und Kolumbien und die Verhandlun-
gen mit Zentralamerika beweisen das Gegenteil. Die EU
oktroyiert ihren Partnern auch nichts auf. Jeder ist frei,
Abkommen zu schließen oder nicht. Dies ist am Beispiel
von Bolivien und Ecuador leicht zu erkennen. Aber ge-
wollte Partnerschaften dürfen nicht an gegenteiligen
Auffassungen Einzelner scheitern. Das Selbstbestim-
mungsrecht der lateinamerikanischen Staaten, das Sie
richtigerweise immer wieder betonen, beinhaltet das
Recht, Beziehungen – auch im militärischen Bereich –
zu den USA zu unterhalten.

Dass die Hilfseinsätze der Vereinigten Staaten, die
Entsendung einer Gendarmeriemission der EU und die
Aufstockung der UN-Mission MINUSTAH in Ihrem
Antrag als sicherheitspolitische und militärische Instru-
mentalisierung bezeichnet werden, ist abwegig. Ebenso
abwegig ist, die Entschließung des Europäischen Parla-
ments zur Lage der politischen Häftlinge und der Gefan-
gen aus Gesinnungsgründen in Kuba vom 11. März die-
ses Jahres als einen aggressiven Akt gegen Kuba zu
bezeichnen. Diese Beispiele zeigen, durch welche Brille
Sie die Welt betrachten: eine Brille, die Elend, Not und
Herabsetzung ausfiltert.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Ich habe keine Brille!)


Daher lehnt die CDU/CSU-Fraktion diesen Antrag ab.

Ebenso lehnen wir den Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen ab. Dieser Antrag enthält zwar viele gute An-
sätze, insbesondere bei den Themen Klima, Umwelt,
Energie und Menschenrechte, die wir ähnlich sehen. Je-
doch werden Forderungen erhoben, die die Aufhebung
der Hermesbürgschaft für den Export deutscher Atom-
technologie und den Weiterbau von Angra 3 in Brasilien
betreffen, worüber in Deutschland schon längst entschie-
den wurde und was unseres Erachtens auf europäischer
Ebene nicht geändert werden sollte, da jeder Staat sou-
verän über seine Energieversorgung entscheiden kann.


(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wird Ihnen einmal sehr leidtun, dass Sie das so sehen!)


Dem Gipfel in Madrid wünsche ich eine rege politi-
sche Diskussion mit dem Ergebnis einer engen und tie-
fen Zusammenarbeit zwischen Europa, Lateinamerika





Anette Hübinger


(A) (C)



(D)(B)

und der Karibik und gute Fortschritte bei den globalen
Fragen unserer Zeit.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703725600

Nächster Redner ist der Kollege Klaus Barthel für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Klaus Barthel (SPD):
Rede ID: ID1703725700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Dass ein EU-Lateinamerika-Karibik-Gipfel stattfindet
– und das bereits zum sechsten Mal –, ist an sich schon
etwas Besonderes. Es gibt weit und breit keine ver-
gleichbare Einrichtung, die die Europäische Union mit
einer ganzen Großregion eines anderen Kontinents zu-
sammenbringt. Allein das ist aus Sicht der SPD-Bundes-
tagsfraktion nicht nur ein einmaliger, sondern auch ein
vorbildlicher Ansatz in der internationalen Politik. Des-
wegen ist es gut, dass wir uns hier im Bundestag schon
im Vorfeld damit befassen. Ich finde es schade, dass die
Bundesregierung nicht von sich aus darlegt, wie sie sich
auf dieses Ereignis vorbereitet und mit welchen Vorstel-
lungen und Initiativen sie nach Madrid reist.


(Beifall der Abg. Gabriele Hiller-Ohm [SPD])


Das ist umso bedauerlicher, als der Bundesaußen-
minister immer wieder sein besonderes strategisches In-
teresse an Lateinamerika bekundet hat. Uns hätte jen-
seits des inflationären Großsprechs, den er gerne pflegt,
interessiert, welche Grundzüge eine solche Strategie hat.
Uns hätte insbesondere interessiert, ob die Bundesregie-
rung weiterhin der Meinung ist, dass unsere Außenpoli-
tik im Wesentlichen Außenhandelspolitik ist. Dieser Ein-
druck hat sich gerade im Zuge der Reise des
Bundesaußenministers nach Chile, Argentinien, Uru-
guay und Brasilien deutlich verfestigt. Die Delegation,
die er dorthin mitgenommen hat, und die ganzen Be-
gleitumstände waren im Grunde eine Karikatur von Au-
ßenpolitik. Die Grenzen von Außenpolitik, Außenhan-
delspolitik, puren Verkaufsveranstaltungen und
persönlichen Interessen einiger Delegationsmitglieder
wurden hoffnungslos vermischt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Manfred Grund [CDU/CSU]: Waren Sie dabei, oder haben Sie das nur gelesen?)


– Das wurde von niemandem bestritten. Die Reden, die
er dort gehalten hat, kann man nachlesen. Sie widerspre-
chen diesem Eindruck nicht, sondern untermauern ihn.


(Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: So ist es!)


Wir sagen: Wer Lateinamerika oder andere Regionen
der Welt nur als Absatzmarkt für den deutschen Han-
dels- und Leistungsbilanzüberschuss betrachtet, der hat
weder die Ursachen der Wirtschaftskrise – sie haben ge-
rade mit dieser Art von Standortpolitik und den daraus
entstehenden Ungleichgewichten zu tun – noch die Ziele
einer gleichberechtigten Partnerschaft als Grundlage je-
der internationalen Politik verstanden.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wer wie Herr Westerwelle in seinen Reden Brasilien und
andere Länder zu Rohstofflieferanten – auch Frau
Hübinger konnte sich das Wort „Schatzkammer“ nicht
verkneifen – degradieren will und wer wie diese Bundes-
regierung schamlos Sonderinteressen gewisser Konzerne
bedient, die dort Großstaudämme und Atomkraftwerke
bauen wollen,


(Christel Humme [SPD]: Genau!)


der hat jeden Anspruch verloren, von Partnerschaft, der
Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen, vernünf-
tiger Energiepolitik und einer breiten politischen Ge-
samtstrategie zu reden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Sie hätten besser zugehört, was vorhin gesagt worden ist!)


Uns ist der Ansatz des Antrags der Grünen, etwa in
den Punkten 2 bis 15, wesentlich sympathischer. Dort
werden die Klimaziele betont und dem Export und dem
Ausbau der Kernenergie eine Absage erteilt. Auch viele
weitere Punkte dieses Antrags können wir unterschrei-
ben. Aber der Antrag der Grünen hat eine entscheidende
Schwäche, genauso wie der Antrag der Linken: Er ver-
liert sich in 34 Einzelpunkten, in Details.


(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir sind halt gründlich!)


Bei den Linken sind es – durchnummeriert – ungefähr
genauso viele. Früher gab es Zettelkästen. Heute gibt es
digitale Nachschlagewerke, die Sie offenbar nach dem
Motto „Jetzt schauen wir einmal, was wir alles zum
Stichwort Lateinamerika finden“ genutzt haben: Haiti,
Kuba, Honduras, Venezuela, Freihandelsabkommen,
ALBA und Mercosur, indigene Bevölkerung, Vereinte
Nationen, Nachhaltigkeit, Doha, Menschenrechte usw.


(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach! Ihr seid ja bloß neidisch, weil die SPD keinen Antrag hat!)


Das alles ist richtig und wichtig. Bei den Linken ist der
Zettelkasten natürlich noch mit der reflexartigen Gut-
Böse-Semantik eines ziemlich aufgesetzten Antikolonia-
lismus versehen.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Ihr habt ja gar nichts anzubieten!)


Man kann diese Sichtweisen, diese Sympathien und An-
tipathien durchaus teilen und zu bestimmten Einschät-
zungen und Schlussfolgerungen kommen. Aber – das
gilt in Teilen auch für den Duktus der Grünen – man
kann nicht von Selbstbestimmung der Menschen in La-
teinamerika und von Partnerschaft auf gleicher Augen-
höhe reden und gleichzeitig Zensuren geben und Rat-
schläge erteilen, die letztlich wieder in Bevormundung
münden.





Klaus Barthel


(A) (C)



(D)(B)

Unser Ansatz ist ein anderer. Wir wollen nicht ständig
mit Vorbedingungen und Vorhaltungen Gespräche und
Verhandlungen führen. Gerade dann, wenn man nicht
schon im Vorfeld Blockaden aufbaut, kann man konse-
quent für Menschenrechte, für Arbeiter- und Gewerk-
schaftsrechte und gegen Gewalt eintreten und dabei auch
Erfolg haben. Im Übrigen habe ich es satt, dass man im-
mer mit zweierlei Maß misst, je nach Macht und Größe
des Gegenübers und je nach eigener Interessenlage. Da-
mit meine ich auch die Haltung der Grünen gegenüber
Kuba; diesen Punkt kann man nachlesen. Die entschei-
dende Kritik an beiden Anträgen ist, dass sie keine Al-
ternativen zur Regierungspolitik darstellen. Wenn
Westerwelle sagt: „Außenhandel und nochmals Außen-
handel, alles andere ist nachrangig“, dann kann die Ant-
wort darauf keine Spiegelstrichorgie sein, mit der Folge,
dass man den Regelwald vor lauter Bäumen und Regen-
tropfen nicht mehr sieht, so wichtig der einzelne Baum
auch sein mag. Wenn wir über den Dialog zweier großer
Weltregionen sprechen, dann kann man keine Liste ein-
zelstaatlicher Probleme aufstellen. Ich möchte einmal
sehen, wie Sie von den Linken und den Grünen auf einer
solchen Konferenz, die zwei Tage dauert, all diese Kata-
loge abarbeiten wollen.


(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Kommen Sie doch mal vorbei! Dann zeigen wir es Ihnen!)


Ein solcher Ansatz ist von vornherein zum Scheitern
verurteilt.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Ach! Sie haben ja keine Ahnung!)


Worum geht es auf diesem Gipfel im Jahr 2010? Wir
sind nicht im Jahr eins nach der Wirtschaftskrise, son-
dern noch mitten in dieser Krise. Wir müssen uns mit un-
seren Partnern darüber verständigen, welches die Ursa-
chen dieser Krise sind, wie wir sie gemeinsam
bekämpfen und was wir mit Blick auf die G 20 und die
internationalen Institutionen wie IWF und Weltbank tun
wollen, zum Beispiel hinsichtlich der Finanzmärkte oder
des Schutzes der Rohstoffmärkte vor Spekulation zulas-
ten von Erzeugern und Verbrauchern.

Wir müssen über Klima und Energie sprechen. Beide
Seiten können und müssen eine zentrale Rolle spielen.
Wir müssen die Probleme und Strukturen herausarbei-
ten, bei denen Europa wie Lateinamerika besondere Ver-
antwortung und Handlungsmöglichkeiten haben. Ich
nenne hier zum Beispiel den Drogenhandel, der in La-
teinamerika ganze Staaten gefährdet und auch in Europa
seine gefährlichen Entsprechungen – Stichwort „Mafia“ –
findet.

Wir haben wie keine andere Konstellation die große
Chance, zwischen der EU sowie Lateinamerika und der
Karibik eine Debatte über eine soziale und ökologische
Wirtschaft voranzutreiben. Wir können nicht nur debat-
tieren. Es gibt tatsächlich die Chance, Alternativen zu
realisieren, gerade wenn es um den Zusammenhang von
Verteilung, Wachstum, Beschäftigung, Modernisierung
und Nachhaltigkeit geht. Diese vielbeschworenen Ge-
meinsamkeiten können den Weg weisen. Auf eine Dis-
kussion, die sich zielgerichtet auf das Wesentliche kon-
zentriert, würden wir uns freuen. Die beiden Anträge,
die uns vorliegen, können dazu einen Beitrag leisten,
nicht mehr, aber auch nicht weniger.


(Beifall bei der SPD – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Das war wenig überzeugend!)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703725800

Für die FDP-Fraktion hat die Kollegin Marina

Schuster das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Marina Schuster (FDP):
Rede ID: ID1703725900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Herr Kollege Barthel, ich muss mich über Ihre
Ausführungen schon sehr wundern. Sie holzen hier. In
der Sache selbst nehmen Sie zu den einzelnen Punkten
aber gar nicht Stellung. Sie kritisieren eine Reise, bei der
Sie gar nicht dabei waren. Ich war bei der Lateiname-
rika-Reise von Außenminister Westerwelle dabei. Ich
finde, es hätte zur politischen Fairness gehört, sich zu er-
kundigen – Sie hätten sich mit Ihrem Kollegen Klaus
Brandner unterhalten können; er war bei dieser Reise da-
bei und hat von wesentlichen Punkten berichtet –, bevor
Sie hier Anschuldigungen erheben.

Wenn Sie uns vorwerfen, wir ließen Lateinamerika
außer Acht, dann lassen Sie uns einmal in das Jahr 1999
zurückgehen. In diesem Jahr wurde die strategische Part-
nerschaft zwischen der EU und Lateinamerika ins Leben
gerufen. Ich frage Sie: Was haben Sie getan, was hat die
SPD getan, um diese Partnerschaft mit Leben zu erfül-
len?


(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Nichts!)


Wir haben im Koalitionsvertrag verankert, dass wir res-
sortübergreifend eine neue Lateinamerika-Politik ins Le-
ben rufen werden, weil Lateinamerika in der Vergangen-
heit links liegen gelassen wurde. Wie Sie sich in dieser
Debatte eingelassen haben, ist ein starkes Stück.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir konnten bei dieser Reise erkennen, dass bei den
Gesprächspartnern in den Ländern, die wir besucht ha-
ben, großes Interesse besteht, mit der EU enger zusam-
menzuarbeiten. Es liegt im wohlverstandenen europäi-
schen Interesse, diese ausgestreckte Hand zu ergreifen.
Europa und Lateinamerika haben ein gemeinsames Wer-
tefundament. Das ist eine gute Basis für Kooperation.
Ich bin der Kollegin Hübinger sehr dankbar, dass sie
zum Beispiel das Deutsch-Brasilianische Jahr der Wis-
senschaft erwähnt hat. Wir haben auf dieser Reise unter
anderem die größte deutsche Auslandsschule besucht.
Dabei konnten wir uns davon überzeugen, dass sich
deutsche Schulen großer Beliebtheit erfreuen und
Deutschland in der Region großes Ansehen genießt. Der
Wunsch, mit Deutschland zusammenzuarbeiten, ist weit
verbreitet. Das können wir nur unterstützen. Es muss
deshalb bei dem EU-Lateinamerika-Gipfel darum gehen,





Marina Schuster


(A) (C)



(D)(B)

konkrete Erfolge zustande zu bringen. Das unglaubliche
Potenzial, das eine Zusammenarbeit der EU mit Latein-
amerika hat, ist viel zu lange vernachlässigt worden. Ich
bin froh, dass es uns – Dirk Niebel und Staatsministerin
Conny Pieper sind hier – gelungen ist, die Kehrtwende
zu schaffen und Lateinamerika endlich den Stellenwert
zu geben, den es verdient.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zu einem Lateinamerika-Konzept gehören natürlich
Wirtschafts- und Handelsthemen. Die anstehenden Han-
delsabkommen sind angesprochen worden. Aber natür-
lich geht es auch um Fragen der Nichtverbreitung von
Nuklearmaterial und um die Bekämpfung von Drogen-
handel und Kriminalität sowie um Fortschritte bei der
Entwicklung rechtsstaatlicher Strukturen und bei der
kulturellen Zusammenarbeit. Es ist richtig: Es hat beim
Mercosur interne Probleme gegeben, die dazu geführt
haben, dass die Kooperation zwischen den Ländern nicht
vorankam. Ich bin allerdings hoffnungsfroh, dass der
Streit durch den Schiedsspruch des IGH beigelegt wer-
den konnte. Ich hoffe, dass wir in den Verhandlungen
mit dem Mercosur zügig zu einem Abschluss kommen.

Der Bundesaußenminister hat bei seiner Lateiname-
rika-Reise deutlich gemacht – ich glaube, dieser Ansatz
ist ganz wichtig –, dass wir die Länder Lateinamerikas
als gleichberechtigte Partner wahrnehmen und sie unter-
stützen sollen, international – etwa bei den Vereinten
Nationen oder bei den G 20 – mehr Verantwortung zu
übernehmen, wie im Fall Brasilien.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es muss eben auch klargemacht werden: Man wünscht
sich eine engere Kooperation innerhalb der Weltwirt-
schaft, den Abschluss der Doha-Runde, aber auch Frei-
handels- und Assoziierungsabkommen.

Jetzt komme ich noch kurz zu den Anträgen.

In dem Antrag der Grünen stehen einige Forderungen
zur Umwelt- und Klimapolitik. Was mich sehr gewun-
dert hat, ist, dass Sie zwar sehr ausführlich zur Atom-
kraft und zu Atomkraftwerken Stellung nehmen, ich in
dem Antrag aber keinen einzigen Satz dazu finde, wie
Sie sich zu den vielen Staudammprojekten verhalten, die
Lula plant, nämlich unter anderem das Projekt Belo
Monte. Ich hoffe, dass Herr Hoppe, der ja nach mir das
Wort hat, dazu Stellung nimmt.


(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind ja wohl dagegen! Hier hätten Sie die Möglichkeit, Nein zu sagen!)


Zum Antrag der Linken. Zu der Rede ist nicht viel zu
sagen; denn Sie haben die üblichen Ressentiments gegen
die USA bedient.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Ich habe zur EU geredet!)


Ich finde es unglaublich, dass Sie dem Westen und den
USA in Ihrem Antrag eine militärische Besetzung Haitis
unterstellen. Glauben Sie denn wirklich, dass der Aufbau
nach einer solchen Naturkatastrophe mit gutem Zureden
funktioniert?


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Gutes Zureden? Aber auch keine Soldaten! Technisches Hilfswerk!)


Ich finde in Ihrem Antrag auch kein Wort zu Men-
schenrechtsverletzungen in Kuba und zu Einschränkun-
gen der Presse- und Meinungsfreiheit unter Chávez. Hier
kann ich nur meiner Kollegin Hübinger recht geben:
Dort sind Sie auf einem Auge blind.

Ich kann für die FDP-Fraktion nur sagen: Wir sehen
die Zusammenarbeit mit Lateinamerika als große
Chance an. Wir wünschen uns eine enge Kooperation,
von der beide Seiten profitieren, und ich freue mich auf
die Politik unserer Bundesregierung; denn sie wird der
Region endlich die Bedeutung geben, die sie verdient.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703726000

Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Thilo

Hoppe für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Jetzt wird etwas Besseres kommen!)



Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703726100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Kollegin Schuster, Sie haben mich gerade ange-
sprochen und uns vorgeworfen, dass in unserem Antrag
etwas fehlt. Ich kann das gerne nachliefern und sagen,
dass wir die brasilianischen Megastaudammprojekte
sehr kritisch sehen.

Hier wird aber ein Dilemma deutlich: Der Kollege
Barthel sagt, wir hätten hier eine Spiegelstrichorgie
durchgeführt und es seien viel zu viele Forderungen in
unserem Antrag. Er selber hat dann aber noch andere
Forderungen nachgeliefert. Wir hatten zum Beispiel
nichts zur Drogenbekämpfung gesagt. Das ist ja nun
wirklich ein Dilemma.

Wir könnten unseren Antrag spielend noch um sehr
viele andere Punkte ergänzen, die wichtig wären. Ich
finde es aber mit Verlaub gesagt auch ein bisschen selt-
sam, keinen eigenen Antrag vorzulegen und den Linken
und den Grünen vorzuwerfen, sie würden zu viele For-
derungen stellen. Das geht nun auch nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Nun aber zurück zum EU-Lateinamerika-Gipfel. Es
gibt mittlerweile alle zwei Jahre ein solches Gipfeltref-
fen. Die Staats- und Regierungschefs treffen sich, ver-
sammeln sich und beschwören die gemeinsamen Werte.
Sie verabschieden eine Schlusserklärung, in der meis-
tens leider nicht viel steht, und dann gibt es noch das Fa-
milienfoto. Ein Ritual! Ich hoffe, dass sich das in Madrid
nicht wiederholen wird; denn es gibt ja wirklich große
Herausforderungen. Einige Kolleginnen und Kollegen
haben sie beschrieben.





Thilo Hoppe


(A) (C)



(D)(B)

Man könnte die vielbeschworene strategische Part-
nerschaft doch endlich mit Leben füllen, beispielsweise
mit gemeinsamen Initiativen für den Klimaschutz. Me-
xiko und Brasilien haben hierfür doch interessante Vor-
schläge auf den Tisch gelegt. Es gilt jetzt, diese aufzu-
greifen. Was macht aber die Bundesregierung? Sie
verhandelt ernsthaft über Hermesbürgschaften für neue
Atomkraftwerke.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Pfui!)


Was machen die Niederländer? Sie planen in Eemshaven
eines der größten Kohlekraftwerke der Welt, das mit
Kohle aus Kolumbien befeuert werden soll.

Hat Europa die Zeichen der Zeit denn noch immer
nicht erkannt? Setzt Europa denn noch immer auf eine
verfehlte, risikoreiche und umweltschädliche Energie-
politik?


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dabei haben sie so viel Sonne!)


Wir fordern mit unserem Antrag, endlich neue Wege
zu gehen. Vamos adelante! Geht gemeinsam vorwärts,
vorwärts mit einem ehrgeizigen Ausbau der erneuerba-
ren Energien. Hier liegt die Zukunft.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Neue Wege sind auch in der Handelspolitik notwen-
dig. Die spanische Ratspräsidentschaft hat unglaublich
Druck gemacht, und mit heißer Nadel wurden Freihan-
dels- und Assoziierungsabkommen gestrickt, die alle
dann in Madrid feierlich unterzeichnet werden sollen.

Wenn man sich die aktuellen Versionen zum Beispiel
des Abkommens mit Peru und Kolumbien oder mit Zen-
tralamerika ansieht, dann fällt auf, dass die Europäische
Union immer noch auf den Dreiklang Deregulierung,
Privatisierung, Liberalisierung setzt, als ob es nie eine
große Wirtschafts- und Finanzkrise gegeben hätte.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)


Soziologische und ökologische Aspekte und Menschen-
rechtskriterien fallen allesamt hinten runter


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Falsch!)


oder sind bestenfalls noch in unverbindlichen Präambeln
zu finden; es gibt keine Sanktionsmechanismen.

Wie sehr die Exportinteressen alles dominieren, sieht
man daran, dass man sich nicht davor scheut, wieder mit
Honduras zu verhandeln. Der Kollege Klaus Riegert und
ich sind gemeinsam in Honduras gewesen und haben mit
dem weggeputschten Präsidenten Zelaya und dem wie
auch immer neu gewählten Präsidenten Pepe Lobo ge-
sprochen. Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Ich
plädiere nicht dafür, die neue Regierung total zu boykot-
tieren. Aber bevor man die Entwicklungszusammenar-
beit wieder startet und bevor man die neue Regierung als
Verhandlungspartner akzeptiert, hätte man darauf beste-
hen müssen, dass sie tatsächlich zu einer Verbesserung
der Lage beitragen und ihre Versprechen einhalten. Lei-
der ist das Gegenteil passiert. Deshalb hätte man sie
nicht so schnell als Verhandlungspartner akzeptieren
dürfen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir haben einen Antrag vorgelegt, der selbstverständ-
lich das Große und Ganze umfasst und der zum Beispiel
auch die Empfehlungen der Stiglitz-Kommission, in der
Frau Wieczorek-Zeul mitgearbeitet hat, mit nach vorne
bringen will.


(Klaus Barthel [SPD]: Das ist ein kleiner Spiegelstrich!)


– Nein, es sind nicht nur kleine Spiegelstriche. Die Kri-
tik geht ins Leere, Herr Barthel. Wir sollten keine Piese-
pampelei betreiben. Nennen Sie mir einen Punkt, mit
dem Sie nicht zufrieden sind, und geben Sie sich einen
Ruck, diesem Antrag zuzustimmen, statt leere Rhetorik
zu bringen!


(Klaus Barthel [SPD]: Sie müssen uns im Ausschuss noch überzeugen!)


Ich wollte noch etwas ansprechen, das auch nicht
stimmt. Wir verurteilen Menschenrechtsverletzungen,
egal in welchem Land sie geschehen, ob in Kolumbien
oder auf Kuba. In dem Punkt unterscheiden wir uns von
dem Antrag der Linken, den wir in vielen Passagen un-
terstützen können. Aber an einigen Stellen ist erkennbar,
dass die ideologische Zerrbrille aufgesetzt worden ist,
mit der man dann über Menschenrechtsverletzungen auf
Kuba hinwegsieht. Wenn man das nachbessern würde,
dann könnte man zusammenkommen.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703726200

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.


Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703726300

Pardon, ich komme zum letzten Satz. – Wir haben ei-

nen Antrag vorgelegt, der auf eine nachhaltige und wirk-
lich ökologische und soziale Entwicklung setzt, der die
Menschen in den Mittelpunkt rückt und zeigt, dass wir
nicht auf dem einen oder anderen Auge blind sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703726400

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/1403 und 17/1419 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten
Gesetzes zur Änderung des Vorläufigen Ta-
bakgesetzes

– Drucksachen 17/719, 17/996 –





Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss)


– Drucksache 17/1257 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Marlene Mortler
Elvira Drobinski-Weiß
Dr. Christel Happach-Kasan
Karin Binder
Ulrike Höfken

Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.

Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre Re-
den zu Protokoll gegeben: Elvira Drobinski-Weiß, Erik
Schweickert, Karin Binder, Ulrike Höfken und die Parla-
mentarische Staatssekretärin Julia Klöckner.1)

Damit kommen wir zur Abstimmung über den von
der Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur
Änderung des Vorläufigen Tabakgesetzes. Der Aus-
schuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher-
schutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/1257, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksachen 17/719 und 17/996 anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer ist
dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen, der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen und der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke.

Wir kommen zur

dritten Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Ist
jemand dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in der zwei-
ten Beratung angenommen.

Abstimmung über den Entschließungsantrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1456. Wer
stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer ist dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist ab-
gelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Die Linke
und Gegenstimmen der Fraktion Die Grünen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck (Köln), Markus Kurth, Birgitt Bender, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Europäische Antidiskriminierungspolitik un-
terstützen – 5. Gleichbehandlungsrichtlinie
der EU nicht länger blockieren

– Drucksache 17/1202 –

1) Anlage 4
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –
Damit sind Sie einverstanden. Es handelt sich um die
Reden folgender Kolleginnen und Kollegen: Norbert
Geis, Markus Grübel, Christel Humme, Florian
Bernschneider, Dr. Ilja Seifert und Jerzy Montag.2)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/1202 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federfüh-
rung beim Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend liegen soll. – Damit sind Sie einverstanden, wie
ich sehe. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 17:

Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs eines
Ersten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes
zur Errichtung einer Stiftung „Deutsches His-
torisches Museum“

– Drucksache 17/1400 -
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Kultur und Medien (f)

Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und
Geschäftsordnung
Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen. Es handelt sich dabei
um folgende Kolleginnen und Kollegen: Thomas Strobl

(Heilbronn), Dorothee Bär, Dr. Angelica Schwall-Düren,

Patrick Kurth (Kyffhäuser), Dr. Lukrezia Jochimsen und
Claudia Roth (Augsburg).


Thomas Strobl (CDU):
Rede ID: ID1703726500

In dem Gesetz zur Errichtung einer Stiftung „Deut-

sches Historisches Museum“, DHMG, vom 21. Dezem-
ber 2006 wurde die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Ver-
söhnung“ als unselbstständige Stiftung des öffentlichen
Rechts in der Trägerschaft des Deutschen Historischen
Museums, DHM, errichtet. Stiftungszweck war und ist
die Unterhaltung eines Ausstellungs-, Dokumentations-
und Informationszentrums in Berlin, um im Geiste der
Versöhnung die Erinnerung und das Gedenken an
Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im histori-
schen Kontext des Zweiten Weltkriegs und der national-
sozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik und
ihrer Folgen wachzuhalten.

Die bisherige Stiftungsarbeit hat gezeigt, dass die
Komplexität der Aufgabenstellung und des Meinungs-
spektrums eine Vergrößerung des Stiftungsrates und eine

2) Anlage 5

Thomas Strobl (Heilbronn)



(A) (C)



(D)(B)

Modifizierung des Berufungsverfahrens für den Stif-
tungsrat angezeigt erscheinen lassen. Die zentrale Neue-
rung des Gesetzentwurfs ist, die Berufung der Mitglie-
der in den Stiftungsrat fortan dem Bundestag zu über-
tragen, also der Legislative, statt sie wie bisher der
Exekutive anheimzustellen. Dies verbreitert die Ent-
scheidungsbasis erheblich und objektiviert den Beru-
fungsprozess. Auch die Einbeziehung verschiedener
Gruppen, wie etwa die Kirchen und den Zentralrat der
Juden, bürgt für Offenheit und Pluralität der gesamten
Stiftungsarbeit. Einseitigkeiten, Geschichtslegenden, ja,
gewollte Mythologisierungen sind dadurch ausgeschlos-
sen. Und genau das ist die Absicht der von uns erarbei-
teten Neuzusammensetzung des Stiftungsrates „Flucht,
Vertreibung, Versöhnung.“

Dagegen übrigens zu polemisieren, wie es etwa die
Linke tut, ist entlarvend und bestätigt die Probleme, die
man in ihren Reihen mit dem Objektivitätsgebot und
Wahrhaftigkeitspostulat offensichtlich hat. Geradezu
unverschämt aber ist die Behauptung, diese Probleme
lägen im Gegenteil bei uns, und wir wollten Geschichts-
verfälschungen vornehmen, indem wir mehr Sitze für
den Vertriebenenverband forderten, nämlich sechs von
den insgesamt 21 Plätzen. Dass aus linker Sicht offen-
sichtlich in einem Stiftungsrat für Vertreibung ausge-
rechnet die Betroffenen nicht angemessen, also mit we-
nigstens einem knappen Drittel, vertreten sein sollen, ist
schon bizarr. Es ist typischer Ausdruck ideologischen
Scheuklappendenkens. Die Linke verdreht mit ihrer Kri-
tik am DHM-Konzept bewusst Ursache und Wirkung;
denn eher die bisherige Unterrepräsentanz der Vertrie-
benen stand einer objektiven Geschichtsbetrachtung im
Weg, keinesfalls deren nun angestrebte Korrektur. Mit
ihrer Fundamentalkritik beweist die Linke einmal mehr,
dass ihr im politischen Tageskampf jede Faktenverbie-
gung recht ist, wenn sie davon zu profitieren glaubt. Das
aber lassen wir ihr nicht durchgehen.

Der Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen ist aus-
gewogen, die verschiedensten Gruppierungen und Be-
lange werden berücksichtigt, und alle Chancen sind ge-
geben, von der Vergangenheit ein im höchsten Maße
objektives Bild für die Nachwelt zu entwerfen. Und nur
dann können wir aus der Geschichte lernen, wenn bei
ihrer Darstellung Objektivität waltet. Historiker, so
heißt es, sind mächtiger als Götter. Sie können sogar die
Vergangenheit verändern. Mit diesem hintersinnig-iro-
nischen Urteil, das von Geschichtsprofessoren stammt,
wird auf das Problem der Ausdeutbarkeit vergangener
Ereignisse verwiesen. Dass dabei unter Umständen his-
torische Wahrhaftigkeit zu kurz kommt und „erkenntnis-
leitende Interessen“ des Betrachters eine verfälschende
Rolle bei der Darstellung geschichtlicher Zusammen-
hänge spielen können, erlebt man leider allzu oft. Und
angesichts des Eifers, mit dem sich momentan die extre-
mistische Linke anschickt, in der Debatte um die Novelle
des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Deutsches
Historisches Museum“ die Wortführerschaft an sich zu
reißen, liegt der Verdacht nahe, dass hier „erkenntnis-
leitende Links-Interessen“ im Spiel sind. Hier soll offen-
bar eine Deutungshoheit über eine wichtige Frage deut-
scher Geschichte angestrebt werden, die den Linken
Zu Protokoll
einfach nicht zukommt, deren historische „Wahrhaftig-
keit“ nachgewiesenermaßen selbst in eigener Sache
mehr als fragwürdig ist. Denn man braucht ja kaum da-
ran zu erinnern, dass die Linke oft genug Fakten belie-
big verändert, geschichtliche Dokumente manipuliert
hat, wann immer es ihr in den Kram passte. Wer kennt
nicht die berühmten historischen Fotografien von kom-
munistischen Parteitagen, auf denen unliebsam gewor-
dene Parteigenossen, die ursprünglich abgebildet wa-
ren, nachträglich fürs Geschichtsbuch wegretuschiert
wurden, weil sie plötzlich unerwünscht waren und aus
der Erinnerung getilgt werden sollten? Wahrheit ist für
Kommunisten stets veränderlich, situationsbezogen und
nur in einer Hinsicht „fest“: als beliebte Worthülse für
Propagandazwecke.

Nicht zuletzt deshalb hieß ja auch die Staatszeitung
der Sowjetunion Prawda, also „Wahrheit“, obwohl sie
selten Wahres enthielt, das Volk in politischen Dingen
systematisch belog und sogar den Wetterbericht
fälschte. Man kann so weit gehen und sagen: Je mehr die
Kommunisten von Wahrheit sprechen, desto sicherer
kann man sein, dass nun garantiert eine Lüge folgt. Wie
etwa bei Ulbrichts berüchtigtem „Versprechen“ vom
Juni 1961: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu
bauen.“ Und ausgerechnet die Nachfolger der so ge-
strickten DDR-Kommunisten wollen nun beurteilen, was
historische Wahrheit in der Vertriebenenproblematik
ist? Das erscheint fast als Witz, und man könnte darüber
lachen, wenn die Sache nicht so ernst wäre. Deshalb
stelle ich hier in aller Ernsthaftigkeit klar: Für mich und
für alle Demokraten ist die historische Wahrheit etwas
Absolutes und nicht verhandelbar. Auch auf dem Gebiet
der Geschichte fühlt sich die CDU/CSU-Fraktion dem
strikten Objektivitätsgebot liberal-pluralistischer Pro-
venienz verpflichtet. Mit Karl Popper sind wir der Mei-
nung, dass die Wahrheit nur bei einem fairen Wettbe-
werb der Meinungen darstellbar ist und keine einzelne
Partei sich anmaßen darf, zu glauben, die Wahrheit von
vornherein zu kennen, ja, sie für sich gepachtet zu ha-
ben.


Dorothee Mantel (CSU):
Rede ID: ID1703726600

Die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“

stand in den letzten Monaten medial oftmals in der Kri-
tik. Inhaltlich wurde vor allem die mangelnde Ausgewo-
genheit bei der Zusammensetzung des wissenschaftli-
chen Beirats kritisiert. Nachdem wir deshalb im März
drei bedauerliche Austritte aus dem wissenschaftlichen
Beirat zu vermelden hatten, nehmen wir diese Kritik
dankbar auf und beraten heute eine Novellierung des
DHM-Gesetzes. Vorab möchte ich jedoch nicht versäu-
men, Folgendes anzumerken: Etwas zu voreilig, aber
doch stets mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlich-
keit, erfolgt in Momenten, in denen Stiftungen oder ähn-
liche Einrichtungen, die aufgrund politischer Entschei-
dungen eingesetzt wurden, ins Kreuzfeuer der Kritik
geraten, der Fingerzeig auf diejenigen, die es – auf gut
Deutsch – verbockt haben: die Politiker. Im aktuellen
Fall ist die Entscheidung, wer in den wissenschaftlichen
Beraterkreis berufen wird, aber nicht Sache des Kultur-
staatsministers gewesen, sondern Sache des Stiftungsra-



gegebene Reden

Dorothee Bär


(A) (C)



(D)(B)

tes. Nun müssen wir jedoch sicherstellen, dass die Stif-
tung ihre bedeutende Arbeit auf einem sicheren
Fundament fortführen kann, und daher bitte ich Sie
heute um konstruktive Zusammenarbeit zur Novellie-
rung des DHM-Gesetzes. Diese Novellierung ist rein or-
ganisatorischer und nicht inhaltlicher Natur. Um die
Qualität der Arbeit der Stiftung zu garantieren, wird
eine Erhöhung der Zahl der Mitglieder des Stiftungsra-
tes und des wissenschaftlichen Beirates vorgeschlagen.
Auch wenn wir als Deutsche beim Thema Vertreibung
ganz besondere Verantwortung tragen, ist es trotzdem
kein rein deutsches Thema. Die Stiftung trägt das Wort
im Titel: Versöhnung. Und so muss unser gemeinsames
Ziel lauten. Um es zu erreichen, ist gerade die Einbin-
dung der Betroffenen von ganz besonderer Bedeutung.
Daher halte ich es für richtig, die Stiftung personell
möglichst breit aufzustellen und mit Experten zu beset-
zen, die aus möglichst unterschiedlichen Ländern und
Kontexten kommen, sodass die gesamte Vielfalt des Be-
trachtungsgegenstandes aufgegriffen und bearbeitet
werden kann. Darüber hinaus muss es uns ein Anliegen
sein, dass sich möglichst viele Gruppen und Länder ein-
gebunden und zur Mitarbeit aufgerufen fühlen. Die Aus-
gestaltung der weiteren Arbeit der Stiftung ist eine große
Aufgabe. Unsere Aufgabe ist es heute, die Gestaltung
der Formalien auf den Weg zu bringen, sodass diese Ar-
beit mit neuer Motivation aufgenommen werden kann.
Ein Mitglied des Stiftungsbeirates hat vor kurzem den
Wunsch nach einem Neustart der Stiftungsarbeit in ei-
nem konstruktiven Klima geäußert. Diesem Wunsch
schließe ich mich gerne an und bitte Sie, liebe Kollegin-
nen und Kollegen, dass auch wir in einem ergebnisori-
entierten Geiste unseren Teil dazu beitragen.


Dr. Angelica Schwall-Düren (SPD):
Rede ID: ID1703726700

Bei dem vorliegenden Entwurf zur Gesetzesänderung

ist vor allem das Vorspiel der Skandal. Erika Steinbach
hat es geschafft, die Regierungskoalition zu erpressen.
Sie ist nur bereit, auf einen Sitz im Stiftungsrat zu ver-
zichten, wenn bestimmte Bedingungen ihres Verbandes
erfüllt werden. Union und FDP haben mit Erika
Steinbach als Vorsitzender des Bundes der Vertriebenen
verhandelt, als sei der BdV eine Bundestagsfraktion.
Dabei geht es hier doch um eine öffentlich-rechtliche
Stiftung und nicht um eine Institution des BdV.

Hinzu kommt noch, dass der BdV bereits in den Gre-
mien der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“
gut vertreten ist. Die bisherige Präsenz von Wegbeglei-
tern Erika Steinbachs über das Zentrum gegen Vertrei-
bungen im wissenschaftlichen Beirat hat unter Wissen-
schaftlern bereits zu erheblichen Irritationen geführt. So
haben sich der polnische Historiker Tomasz Szarota und
die tschechische Historikerin Kristina Kaiserová bereits
zurückgezogen. Der Zentralrat der Juden ist ebenfalls
höchst alarmiert.

Selbstverständlich müssen Vertriebenenvertreter in
den Gremien der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöh-
nung“ vertreten sein. Wir brauchen sie und ihre Erfah-
rungen, ihre Fragen, ihre Anregungen. Der BdV aber
sollte dazu beitragen, dass das ihm entgegengebrachte
Misstrauen abgebaut wird. Dies entstand aus verschie-
Zu Protokoll
denen Gründen. Ich nenne hier nur die unklaren Mitglie-
derzahlen sowie die NS-Verstrickung von früheren BdV-
Funktionären. In der Machbarkeitsstudie zur Aufarbei-
tung dieses Kapitels wird offensichtlich der Versuch ei-
ner Bagatellisierung der NS-Verstrickung von BdV-
Funktionären unternommen. Pikant ist diese Geschichte
zudem, da der Direktor der Stiftung „Flucht, Vertrei-
bung, Versöhnung“, Herr Professor Kittel, beim IfZ
diese Studie koordiniert hat. Die Geschichte des BdV
muss aufgeklärt werden; sonst verlieren nicht nur seine
Funktionäre, sondern auch die Stiftung noch mehr an
Glaubwürdigkeit. Wenn schon jetzt eine Dominanz des
BdV zu Irritationen führt, wie soll dann mit dem neuen
Gesetzentwurf die Versöhnung – diesen Auftrag hat die
Stiftung ja ebenfalls – mit Polen, Tschechen und anderen
Opfern des Zweiten Weltkriegs funktionieren?

Ich möchte kurz auf die einzelnen Änderungsvor-
schläge der Gesetzesvorlage eingehen:

Erstens. Mir ist schleierhaft, warum zukünftig sechs
Vertreter des BdV im Stiftungsrat sitzen sollen. Ich be-
komme viel Post von Vertriebenen, die sich eben nicht
vom BdV vertreten fühlen. Diese Menschen haben keine
Stimme in der Stiftung. Vertriebene müssen im Stiftungs-
rat vertreten sein; aber angesichts vieler ungeklärter
Fragen beim BdV frage ich mich, warum nicht auch an-
dere Vertriebenenverbände einbezogen werden. Das
Adalbertus-Werk, das sich seit der Nachkriegszeit für
Versöhnung einsetzt, bzw. deren Dachverband, die Ar-
beitsgemeinschaft der Katholischen Vertriebenenorgani-
sationen, AKVO, wären an einer Mitarbeit interessiert.
Es gibt genügend deutsche Vertriebenenorganisationen,
die mit ihrem Engagement für die Versöhnung einen Sitz
im Rat der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“
verdient hätten. Man könnte, wenn man nun neu über
den Stiftungsrat nachdenkt, auch überlegen, ob nicht
auch alternative Projekte, die sich mit dem Thema be-
fassen, eingebunden werden, zum Beispiel die Partner-
städte Görlitz/Zgorzelec, die ein gemeinsames Projekt
zum Thema Vertreibungen vorgestellt hatten, oder auch
einen Vertreter des „Zentrums gegen Krieg“ des Willy-
Brandt-Kreises.

Ich habe in letzter Zeit viel mit Wissenschaftlern ge-
sprochen, die mir wichtige Denkanstöße gegeben haben.
Eine Idee möchte ich Ihnen mit auf den Weg geben. Die
Kirchen und der Zentralrat der Juden sind im Stiftungs-
rat vertreten. Es gibt allerdings keinen muslimischen
Vertreter. Dabei könnte gerade dieser eine Brücke von
der Integration der Vertriebenen in die deutsche Gesell-
schaft zu aktuellen integrationspolitischen Debatten
bauen. Es wäre eine Chance, auch Schulklassen mit
multiethnischer Zusammensetzung stärker für die Aus-
stellung zu interessieren und einen Bogen zur eigenen
Wirklichkeit zu spannen. Es ließen sich am Beispiel der
Integration der Ostdeutschen dann hervorragend Pro-
bleme thematisieren und diskutieren, die der – jugendli-
che – Besucher von Dauer- und Wechselausstellungen
der Stiftung in seiner eigenen Lebenswelt entdecken und
aus denen er für seinen gegenwärtigen und zukünftigen
Alltag lernen kann.



gegebene Reden

Dr. Angelica Schwall-Düren


(A) (C)



(D)(B)

Zweitens. Eine Wahl der Mitglieder des Stiftungsrates
durch den Deutschen Bundestag statt einer Bestellung
durch die Bundesregierung kann ich als Abgeordnete ei-
gentlich nur begrüßen. Aber hier lauert leider eine Ge-
fahr: Durch die Abstimmung im Gesamtpaket wird man
im Zweifel die eigenen Vertreter ablehnen müssen, wenn
eine andere vorgeschlagene Person nicht zustimmungs-
fähig ist. Dies ist für die SPD-Fraktion nicht akzeptabel.

Drittens. Die Erweiterung des wissenschaftlichen
Beirats begrüße ich. Jetzt geht es darum, hochrangige
und kompetente Wissenschaftler für die Mitarbeit zu ge-
winnen. Dabei müssen ausgewiesene Experten für die
Vertreibungsgeschichte sowie Historiker mit dem
Schwerpunkt Zweiter Weltkrieg und Holocaust, außer-
dem Museumspädagogen und neue ausländische Vertre-
ter gefunden werden.

Grundsätzlich muss die Koalition einsehen, dass mit
dem sogenannten Kompromiss, der mit Frau Steinbach
erzielt wurde, kein Vertrauen gewonnen wurde. Vielmehr
stecken wir mitten in einer Krise. Dies habe ich auch bei
der letzten Stiftungsratssitzung deutlich zu machen ver-
sucht. Nur ein Neuanfang der Stiftungsarbeit, bei der
auch kritische Fragen gestellt werden, kann das Projekt
positiv voranbringen. Das ist nicht nur meine Meinung,
sondern die vieler Wissenschaftler, die das Projekt be-
obachten. Deren Stimmen wurden bisher nicht gehört.
Internationale Expertengremien arbeiten seit Jahren in-
tensiv insbesondere im Bereich der deutsch-polnischen
und der deutsch-tschechisch-slowakischen Historiker-
kommissionen an der Thematik der Vertreibungen. Es
wäre engstirnig und provinziell, auf diese Ressourcen zu
verzichten.

Es muss deutlich werden, dass es sich bei der Stiftung
„Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ um eine öffentlich-
rechtliche Einrichtung handelt, die unabhängig und auf
der Basis aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse ar-
beitet und nicht als verlängerter Arm der Präsidentin
des BdV.

Die Stiftung muss endlich in einen ernsthaften Dialog
mit unseren europäischen Nachbarn eintreten. Wir brau-
chen dringend mehr Transparenz. Wir brauchen einen
offenen Diskurs über die Ausrichtung der Stiftung und
deren Ausstellung, und wir brauchen eine ernst ge-
meinte Auseinandersetzung über die offenen und kriti-
schen Fragen.

Wir müssen uns fragen, wie das Verhältnis von Holo-
caust und Vertreibungen im Umfeld des Zweiten Welt-
krieges darzustellen ist. Wir müssen klären, wie Versöh-
nung im Zusammenhang mit dem Thema Vertreibungen
steht. Wir müssen aufhören, vom Jahrhundert der Ver-
treibungen zu reden, sonst relativieren wir den Holo-
caust! Dies darf aus Respekt gegenüber den Opfern des
Nationalsozialismus nicht geschehen; das sind wir au-
ßerdem auch unserer historischen Verantwortung schul-
dig.


Patrick Kurth (FDP):
Rede ID: ID1703726800

In den letzten Monaten bestimmten leider hauptsäch-

lich Personaldebatten die Diskussion über das Gesetz
Zu Protokoll
zur Stiftung „Deutsches Historisches Museum“. Da
diese nun ausgeräumt sind, hat die christlich-liberale
Koalition mit dem nun vorgelegten Änderungsgesetz den
wichtigen Schritt zur sachlichen Debatte über die Stif-
tung „Flucht, Vertreibung und Versöhnung“ getan. Da-
mit haben wir jetzt die Möglichkeit, die Inhalte und die
Ziele der Stiftung in dieser Frage noch einmal deutlich
zu machen. Deshalb gilt: Wir wissen um die deutsche
Schuld. Wir wissen, dass das Deutsche Reich einen
fürchterlichen Krieg begonnen hatte, in bis dahin unbe-
kanntem Ausmaß Verbrechen stattfanden und das Deut-
sche Reich furchtbares Leid über Europa gebracht hatte.
Wir wissen aber auch um die Schrecken der Vertreibung
aus der Heimat, um die schrecklichen Folgen, die eine
Flucht mit sich bringt. Gerade deswegen ist es wichtig,
ein Symbol, einen Anlaufpunkt als Mahnung und Zei-
chen zu haben, als Aufzeig für die Jugend stellvertretend
für alle Vertreibungen in der Welt; denn nicht nur die
Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg
wird thematisiert, sondern auch die Schicksale von Ver-
triebenen anderer Nationen sollen mit einbezogen wer-
den. Die Stiftung ist eben nicht rein national ausgerich-
tet, was die Opposition völlig zu Unrecht moniert hatte.
Aber: Es darf in der gesamten Diskussion über Krieg
und Kriegsfolgen nicht um Aufrechnung gehen. Das ver-
bietet sich. Die Verbrechen der Deutschen werden nicht
kleiner durch Verbrechen an Deutschen. Und: Die Ver-
brechen der Deutschen rechtfertigen nicht die Verbre-
chen an Deutschen. Wir dürfen Verbrechen nicht gegen-
einander aufwiegen. Leid und Schuld sind immer
individuell, wobei der Holocaust und die Taten der Na-
ziherrschaft einen herausragenden Stellenwert besitzen
und auch weiterhin besitzen müssen. Aber auch die Ver-
treibung ganzer Bevölkerungsschichten aus den ur-
sprünglichen Heimatregionen war eine Schuld, die nicht
vergessen oder verharmlost werden soll. Man muss auch
dieser Taten gedenken, dafür sensibilisieren, und dafür
dient diese Stiftung. Sie hat aus meiner Sicht die große
Aufgabe, die Urteilsfähigkeit vor allem junger Men-
schen aufrechtzuerhalten. Wir gedenken ja nicht nur, um
zu erinnern, sondern auch, um urteilsfähig zu bleiben.

Mit dem Änderungsgesetz wird nichts an dem Ziel der
Stiftung geändert. An dem Stiftungszweck, im Geiste der
Versöhnung die Erinnerung und das Gedenken an
Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im histori-
schen Kontext des Zweiten Weltkrieges und der national-
sozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik und
ihrer Folgen wach zu halten, wird nicht gerüttelt. Es
werden lediglich einige verwaltungstechnische Ände-
rungen eingeführt, die allerdings einen entscheidenden
Beitrag zu einer sinnvollen Ausgestaltung der Stiftung
und zur Optimierung der Funktions- und Arbeitsweise
leisten. Durch die Erhöhung der Mitgliederzahl des Stif-
tungsrates von 13 auf 21 Mitglieder schaffen wir die
Möglichkeit, vor allem den wissenschaftlichen Berater-
kreis zu verstärken. Bis zu 15 Mitglieder, statt bisher 9,
aus diesem wichtigen Umfeld tragen in Zukunft wert-
volle Arbeit und Beiträge in die Arbeit des Rates hinein.
Diese Aufstockung trägt der enormen Komplexität und
geschichtspolitischen Bedeutung der Aufgabenstellung
und des Meinungsspektrums Rechnung. Die Mitglieder
des Stiftungsrates sollen in Zukunft nicht mehr durch die



gegebene Reden

Patrick Kurth (Kyffhäuser)



(A) (C)



(D)(B)

Bundesregierung, sondern durch den Deutschen Bundes-
tag gewählt werden. Auf diese Weise können übergeord-
nete politische Belange berücksichtigt werden. Außer-
dem ist die demokratische Legitimation und Akzeptanz
der gewählten Mitglieder erheblich erhöht, wenn die ge-
wählten Volksvertretern, über die Zusammensetzung im
Zuge einer transparenten Debatte entscheiden. Auch die
Tatsache, dass die Stiftung unter dem Dach des Deut-
schen Historischen Museums verbleibt, ist ein außeror-
dentlich wichtiges Zeichen. Auf diese Weise bleibt auch
in Zukunft die staatliche Verantwortung für das Projekt
gewährleistet. Außerdem wird so jeglichen Vorwürfen,
einzelne Gruppen hätten einen dominierenden Einfluss,
frühzeitig der Wind aus den Segeln genommen.

Der vorliegende Gesetzentwurf kann sich sehen las-
sen. Wir haben damit eine sehr gute Grundlage für eine
erfolgreiche Arbeit der Stiftung „Flucht, Vertreibung,
Versöhnung“ geschaffen. Dies gilt insbesondere für das
Ziel der Versöhnung. Durch das breite und internatio-
nale wissenschaftliche Fundament wird sichergestellt,
dass im Ergebnis eine tiefgründige, neutrale und voll-
ständige Aufarbeitung geleistet wird, die frei von Vorur-
teilen und Einseitigkeit ist. Damit wird die Akzeptanz bei
allen Beteiligten gestärkt. Es handelt sich um ein sehr
sensibles historisches Thema. Dieser Sensibilität tragen
die jetzt vorgelegten Rahmenbedingungen in angemes-
sener Weise Rechnung. Es ist ein kluges und weitsichti-
ges Konzept erarbeitet worden, das die Interessen aller
Beteiligten angemessen berücksichtigt. Insbesondere
die Sorgen unserer polnischen Freunde, die Aufarbei-
tung könnte allzu revisionistische Aspekte beinhalten,
räumt das vorgelegte Konzept wirksam aus. Jetzt gilt es,
dass die Stiftungsorgane so schnell wie möglich gebil-
det werden und die Stiftung ihre Arbeit aufnimmt, damit
65 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges das
Kapitel „Flucht und Vertreibung“ eine angemessene
Aufarbeitung und Erinnerungsarbeit erfährt.


Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703726900

Spät am Abend dieses langen Plenartages, mit zu

Protokoll gegebenen Reden, haben wir über einen Ge-
setzentwurf zu beschließen, der für die Stiftung „Flucht,
Vertreibung, Versöhnung“, die in ihrer bisherigen Struk-
tur gescheitert ist, einen Neuanfang ermöglicht.

„Der Komplexität der Aufgabenstellung und des Mei-
nungsspektrums“ soll noch besser Rechnung getragen
werden als bisher. Und wie soll dies geschehen? Indem
Stiftungsrat und wissenschaftlicher Beraterkreis vergrö-
ßert und „das Berufungsverfahren für den Stiftungsrat
modifiziert werden“ soll.

Modifiziert – was heißt das? Sie erinnern sich: Bisher
gab es ein zweistufiges Berufungsverfahren für die Mit-
glieder des Stiftungsrates. Die beteiligten Institutionen
– Bundestag, Glaubensgemeinschaften, der BdV usw. –
schlugen ihre Mitglieder nur vor. Die Regierung
– sprich: das Bundeskabinett – ernannten. Es wurde
also über jedes einzelne Mitglied des Stiftungsrates ab-
gestimmt. Nur, wer einstimmig von der Regierung beru-
fen wurde, konnte im Gremium seine Arbeit aufnehmen.
Zu Protokoll
An dieser Bestimmung ist die Personalie Erika
Steinbach gescheitert. Damit so etwas in Zukunft nicht
wieder passiert, bestimmt das neue Gesetz, dass nun-
mehr der Bundestag die Stiftungsratsmitglieder wählt.
Das soll folgendermaßen vor sich gehen:

Der Wahl liegt ein Gesamtvorschlag zugrunde, der
nur als Ganzes angenommen oder abgelehnt wer-
den kann.

Nur als Ganzes angenommen oder abgelehnt – diese
„Paketlösung“ ist ein übler Mehrheitstrick der Koali-
tion. Diese „Paketlösung“ verhöhnt das Parlament,
seine Mitbestimmung und seine Kontrollaufgabe bei ei-
ner Bundesstiftung.

Die Linksfraktion war von Anfang an gegen die Er-
richtung dieser Stiftung, und zwar aus drei Gründen:

Erstens war sie wegen ihrer Konzeption dagegen. Wir
haben immer gefragt, wer sich – nach der Definition der
Stiftung – mit wem versöhnen soll. Nun haben wir vom
Gründungsdirektor der Stiftung erfahren, dass es vor al-
lem um eine „Versöhnung der Deutschen miteinander“
gehen soll. Das ist nicht hinnehmbar für eine Institution
der Erinnerung an einen Weltkrieg und seine Folgen.

Zweitens. Wir haben nie verstanden, dass der Sitz der
Stiftung ausgerechnet Berlin sein soll, der Ort, von dem
all die mörderischen Verbrechen ausgegangen sind, die
schließlich auch zu dem Elend von Flucht und Vertrei-
bung geführt haben.

Drittens. Wir haben nie verstanden, wieso in einer
Bundesstiftung – einer Stiftung des Bundes wohlge-
merkt, nicht einer Verbandsstiftung – dem Bund der Ver-
triebenen als weitaus größte Gruppe eine derart domi-
nierende Rolle eingeräumt wird. Das haben wir schon
nicht verstanden, als im alten Stiftungsrat 3 von 13 Sit-
zen dem BdV zugesprochen wurden. Nun bekommt er
6 von 21 Sitzen; das heißt, an der Gewichtung hat sich
durch das neue Gesetz überhaupt nichts verändert.

Fazit: Das neue Gesetz trägt der Komplexität der
Aufgabenstellung dieser Stiftung in keiner Weise „besser
Rechnung“. Im Gegenteil, es vermehrt nur die Zahl der
Ämter und Sitze in der Stiftung und degradiert das Par-
lament zu einem Zustimmungsapparat für eine völlig un-
demokratische „Paketlösung“. Schlimmer hätte es ei-
gentlich nicht kommen können – unverfrorener nach all
der öffentlichen Diskussion im In- und Ausland auch
nicht.

Wie gesagt: Wir haben bisher der Errichtung der Stif-
tung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ nicht zuge-
stimmt und für die neue gesetzliche Regelung gilt dies
erst recht.

Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN)

Der Gesetzentwurf zur Vertriebenenstiftung ist fak-
tisch eine Bankrotterklärung der Regierungskoalition.
Monatelang ließ die Kanzlerin den Konflikt mit dem
Bund der Vertriebenen und Frau Steinbach treiben, ohne
sich zu den erpresserischen und undemokratischen An-
sprüchen von Frau Steinbach auch nur zu äußern, ge-



gegebene Reden





Claudia Roth (Augsburg) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


(A) (C)



(D)(B)

schweige denn hier politisch zu entscheiden. Statt Ver-
antwortung zu übernehmen, duckte die Kanzlerin sich
weg und riskierte damit eine Verschlechterung der Be-
ziehungen zu unseren östlichen Nachbarländern. Der
nun vorliegende Gesetzentwurf, der den Konflikt vor-
geblich lösen will, ist tatsächlich ein Ausdruck der
Schwäche und Handlungsunfähigkeit der Regierung
Merkel.

Der Konflikt drehte sich im Kern um Frau Steinbachs
Anspruch, Mitglieder des Stiftungsrats in der mit Steuer-
mitteln finanzierten Stiftung „Flucht, Vertreibung, Ver-
söhnung“ benennen zu können, ohne weitere demokrati-
sche Legitimation durch die politisch Verantwortlichen.
Natürlich dachte Frau Steinbach bei der Benennung von
Stiftungsratsmitgliedern an erster Stelle an sich selbst,
was die Beziehungen zu unseren östlichen Nachbarlän-
dern unerträglich belastet hätte.

Um dem Konflikt aus dem Weg zu gehen, beschloss
die Regierungskoalition einen faulen Kompromiss, der
uns in Form des Gesetzentwurfs nun vorliegt. Damit
Frau Steinbach von ihrem Anspruch ablässt, musste die
Zahl der Stiftungsratsmitglieder aus den Reihen des
Bundes der Vertriebenen verdoppelt werden. Um das
Einknicken vor den Ansprüchen von Frau Steinbach zu
kaschieren, musste die Regierung dann eine noch wei-
tergehende Vergrößerung des Stiftungsrats vornehmen,
von 13 auf die jetzt vorgeschlagenen 21 Mitglieder. Die
Erfahrung zeigt, dass mit einer solchen Erweiterung die
Handlungsfähigkeit eines solchen Gremiums sich nicht
verbessert, sondern die Abläufe dadurch komplizierter
werden.

Die Unfähigkeit der Bundesregierung, die Probleme
mit dem Stiftungsrat zu lösen, brachte sie zu einer Flucht
aus der Verantwortung. Wie Sauerbier ging sie mit der
Verantwortung für die Stiftungsratsbenennung hausie-
ren. Auch das BKM und Kulturstaatsminister Neumann
waren zeitweise in der Diskussion. Nun soll der Bundes-
tag entscheiden. Was auf den ersten Blick wie eine De-
mokratisierung des Verfahrens aussieht, erweist sich
beim Blick in die Details als eine ziemlich fragwürdige
Operation. Ja, der Bundestag soll entscheiden – weil die
Bundesregierung sich damit ein Problem vom Hals
schaffen will. Und in einem Entscheidungsverfahren,
das dem zweifelhaften Motto „Friss, Vogel, oder stirb“
folgt. Der Bundestag soll nur über einen Gesamtvor-
schlag für eine Liste der Stiftungsratsmitglieder abstim-
men können. Wenn zum Beispiel vom Bund der Ver-
triebenen wiederum ein inakzeptabler Kandidat
vorgeschlagen wird, dann kann der Bundestag nur die
Gesamtliste ablehnen. Ich kenne dieses Verfahren noch
sehr gut aus dem Europaparlament, aus Zeiten einer
sehr mangelhaften demokratischen Legitimation. Da-
mals wurden so unliebsame Kandidaten auf kaltem Wege
durchgedrückt. Und genau das versucht man nun auch
in diesem Gesetzentwurf.

Was das Projekt der Stiftung „Flucht, Vertreibung,
Versöhnung“ jetzt braucht, ist kein in Gesetzesform ge-
gossener fauler Kompromiss. Stattdessen ist die inhaltli-
che Ausrichtung der Stiftung neu zu überdenken. Dabei
ist insbesondere die Frage zu stellen, ob und wie die Stif-
tung nach dem von Frau Steinbach provozierten Konflikt
ihrem Zweck der Versöhnung mit den Nachbarländern
überhaupt noch gerecht werden kann.

Sehr besorgt macht mich auch, dass sich inzwischen
die ausländischen Vertreter im wissenschaftlichen Bei-
rat der Stiftung zurückgezogen haben. Ohne eine ange-
messene Beteiligung von renommierten Wissenschaft-
lern und Fachleuten aus den Nachbarländern kann die
Stiftung nicht im Sinne der Zielsetzung funktionieren.

Die Stiftung braucht – wie gesagt – keinen faulen
Kompromiss, sondern ein ernsthaftes Nachdenken im
Bundestag und seinen Ausschüssen über einen grundle-
genden Neustart des Projekts. – Vielen Dank!


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703727000

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/1400 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss) zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung

Initiative für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates über die europäi-
sche Schutzanordnung

(inkl. 17513/09 ADD 1 und 17513/09 ADD 2)


(ADD 1 und ADD 2 in Englisch)

Ratsdok. 17513/09

– Drucksachen 17/720 Nr. A.7, 17/1461 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Eva Högl
Marco Buschmann
Raju Sharma
Ingrid Hönlinger

Auch hier wurde schon in der Tagesordnung ausge-
wiesen, dass die Reden folgender Kolleginnen und Kol-
legen zu Protokoll genommen werden: Dr. Jan-Marco
Luczak, Dr. Eva Högl, Marco Buschmann, Raju Sharma
und Jerzy Montag.


Dr. Jan-Marco Luczak (CDU):
Rede ID: ID1703727100

Die von zwölf Mitgliedstaaten ergriffene Initiative für

die Europäische Schutzanordnung dient im Kern der
Umsetzung eines Teilbereiches des Stockholmer Pro-
gramms. Ziel der Initiative ist, den grenzüberschreiten-
den Schutz der Opfer von Straftaten gegen Wiederho-
lungstaten desselben Täters gegen dasselbe Opfer
innerhalb des europäischen Raums der Freiheit, der Si-
cherheit und des Rechts zu verbessern.

Dieses Ziel teilen wir uneingeschränkt. In einem ge-
meinsamen Rechtsraum ohne Binnengrenzen muss die
Freizügigkeit der Bürger gewährleistet sein. Es gilt hier
der alte Satz: Ohne Sicherheit keine Freiheit. Diese
muss in Europa auch über Grenzen hinweg gewährleis-
tet sein.

Dr. Jan-Marco Luczak


(A) (C)



(D)(B)

Die Richtlinie sieht daher vor, dass Verbote oder Ver-
pflichtungen, die nach dem Recht eines Mitgliedstaates
zum Schutz einer gefährdeten Person gegen eine gefähr-
dende Person erlassen wurden, in anderen Mitgliedstaa-
ten nach dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung
ebenfalls Wirkung entfalten, wenn die gefährdete Person
sich dorthin begeben will.

So sehr wir dieses Ziel auch begrüßen, muss man bei
den Detailfragen doch genau hinsehen. Wir haben das
getan und nutzen daher nun die dem Bundestag gege-
bene Möglichkeit, über eine Stellungnahme nach Art. 23
Abs. 3 GG unsere Bedenken deutlich zu machen und
über unsere Aufforderungen an die Bundesregierung auf
die Diskussion auf europäischer Ebene entsprechend
Einfluss zu nehmen. Ich freue mich insofern, als nach
Aussage des Staatssekretärs Stadler im Rechtsausschuss
diese Woche unsere – durchaus von anderen Mitglied-
staaten geteilten – Bedenken zwischenzeitlich auch bei
der Kommission angekommen zu sein scheinen.

Lassen Sie mich einige Bedenken näher erläutern.
Zweifel bestehen nach unserer Auffassung zunächst da-
ran, ob die gewählte Rechtsgrundlage des Art. 82 AEUV
einen ausreichenden Kompetenztitel vermittelt. Die
Union darf nach dem Prinzip der begrenzten Einzeler-
mächtigung bekanntlich nur dann Maßnahmen ergrei-
fen, wenn das europäische Recht eine entsprechende Zu-
ständigkeit enthält. In Art. 82 AEUV geht es um die
justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. In vielen
Mitgliedstaaten werden Maßnahmen gegen Gewalttäter
zum Schutze der Opfer aber nicht in strafrechtlichen
Verfahren verhängt, sondern gründen auf verwaltungs-
rechtlichen Titeln, oder es wird – wie in Deutschland
nach dem Gewaltschutzgesetz – zivilrechtlicher Schutz
gewährt. Wenn nun aber verwaltungs- oder zivilrechtli-
che Maßnahmen in Rede stehen, können diese nicht
ohne Weiteres auf Grundlage eines Kompetenztitels im
Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen
einem Mechanismus der gegenseitigen Anerkennung zu-
geführt werden.

Auch der Bundesrat teilt diese Bedenken hinsichtlich
der Rechtsgrundlage und hat daher gegen den Richtli-
nienentwurf Subsidiaritätsrüge erhoben. Diese umfasst
neben der eigentlichen Subsidiaritätsfrage als solcher
auch die – gleichsam logisch vorgeschaltete – Frage
nach der Zuständigkeit der Union. Es ist Aufgabe der
Bundesregierung – nicht zuletzt nach den deutlichen
Worten des Bundesverfassungsgerichts im letzten Jahr
zum Lissabonner Vertrag –, sicherzustellen, dass die
Union die ihr übertragenen Kompetenzen nicht über-
dehnt, sondern insbesondere im grundrechtssensiblen
strafrechtlichen Bereich strikt einhält.

Auch gibt es bereits eine Reihe von anderen Rechts-
akten der Europäischen Union, deren Anwendungsbe-
reich sich zumindest teilweise mit dem der vorgeschla-
genen Richtlinie für die Europäische Schutzanordnung
überschneidet. Auch hier sind Mechanismen der gegen-
seitigen Anerkennung vorgesehen. Wieso sollten wir dies
also gleichsam doppelt regeln?

Wir fragen uns aber vor allem: Wird das von uns ge-
teilte Ziel, ein besserer grenzüberschreitender Schutz
Zu Protokoll
von Gewaltopfern, mit der vorgesehenen Richtlinie
wirklich befördert und verbessert? Erreicht man mit der
Europäischen Schutzanordnung wirklich einen schnelle-
ren und effektiveren Schutz? Sieht man sich die Details
der vorgeschlagenen Regelung an, kommen hier Zweifel
auf. Es lässt sich zusammenfassen, dass der Richtli-
nienentwurf ein sehr komplexes, mehrstufiges Verfahren
vorsieht: Es gibt ein schwieriges Zusammenspiel der je-
weils zuständigen Behörden von Anordnungs- und Voll-
streckungsstaat, damit die zugunsten einer gefährdeten
Person getroffene Schutzmaßnahme und die auf dieser
Grundlage erlassene Europäische Schutzanordnung in
einem anderen Mitgliedstaat geprüft, anerkannt und
dann eine eigene Schutzmaßnahme nach dessen natio-
nalem Recht erlassen werden kann. Hinzu kommen die
existenten Sprachbarrieren und die daher notwendigen
Übersetzungsleistungen.

Insgesamt handelt es sich um einen Vorschlag, der
sehr starr, wenig flexibel und daher ineffektiv ist. Zumin-
dest in Deutschland ist Schutz auch für Menschen aus
anderen Staaten der Europäischen Union schneller und
effektiver unmittelbar über das deutsche Gewaltschutz-
gesetz zu erreichen – oftmals binnen weniger Stunden –,
ohne dass es einer Anerkennung von Maßnahmen ande-
rer Mitgliedstaaten bedarf. An der Erforderlichkeit bzw.
Verhältnismäßigkeit der Ausgestaltung der Regelungen
zur Europäischen Schutzanordnung bestehen also ernst
zu nehmende Zweifel.

Wir sind der Auffassung, dass vor allem der Aspekt
der zügigen Übermittlung und Anerkennung derjenigen
Informationen im Vordergrund stehen sollte, die etwa
ein nationales Gericht für den Erlass einer Schutzmaß-
nahme nach nationalem Recht benötigt. Das Opfer einer
Straftat soll im Vollstreckungsstaat nicht ein neuerliches
Verfahren anstrengen und durchlaufen, insbesondere
keine neuen Beweise erheben müssen. Hier kann es ei-
nen echten Effektivitätsgewinn geben.

Die aufgezeigten Bedenken greift unsere Stellung-
nahme auf und weist zugleich auf die Möglichkeiten hin,
wie man durch die zügige Übermittlung der für eine
Schutzmaßnahme notwendigen Fakten und deren gegen-
seitige Anerkennung einen besseren grenzüberschreiten-
den Opferschutz erreichen kann. Hierfür bitte ich um
Ihre Zustimmung.


Dr. Eva Högl (SPD):
Rede ID: ID1703727200

Die Initiative für eine Europäische Schutzanordnung

ist ausdrücklich zu begrüßen und steht in mehrerlei Hin-
sicht für eine fortschrittliche Entwicklung.

Zuerst einmal in der Sache selbst. Menschen, die zu
Opfern geworden sind, finden erweiterten Schutz, und
solche, die befürchten müssen, zum Opfer zu werden, be-
kommen ein deutlich höheres Maß an Sicherheit gebo-
ten, als dies bisher der Fall ist. Das ist vor allem für
Frauen, die gewalttätige Übergriffe fürchten müssen
und diese oft in der Vergangenheit schon erleiden muss-
ten, eine deutliche Verbesserung. Ich will aber auch
diejenigen Fälle nicht unerwähnt lassen, in denen Er-
mittlungsbehörden darauf angewiesen sind, Sicherheits-
garantien abzugeben, um die Aufklärung von Ver-



gegebene Reden

Dr. Eva Högl


(A) (C)



(D)(B)

brechen durch Zeugenaussagen überhaupt erst zu
ermöglichen. Auch diese Fälle sind wichtig.

Der Schutz, den staatliche Organe bisher ermögli-
chen konnten, endete allzu oft an nationalstaatlichen
Grenzen. Was dabei oft übersehen wird: Auch die Souve-
ränität der einzelnen Bürgerin, des einzelnen Bürgers,
die bzw. der auf Schutz angewiesen ist, endet ebenfalls
dort. Erst die Möglichkeit, die Grundfreiheit der Frei-
zügigkeit tatsächlich verwirklichen zu können, bedeutet
eine echte Gleichstellung derjenigen Frauen und Män-
ner, die schon vorher dadurch benachteiligt waren, dass
sie erst um Schutz staatlicher Organe nachsuchen muss-
ten, um Leib und Leben nicht länger unkalkulierbaren
Gefahren aussetzen zu müssen. Die Grundrechte in
Form der allgemeinen Handlungsfreiheit und der Frei-
zügigkeit sind elementare Bürgerrechte, deren verlässli-
che Ausübung unter staatlicher Garantie steht. Freizü-
gigkeit nicht nur national, sondern, wenn schon nicht
weltweit, so doch EU-weit gewährleisten zu können, be-
deutet somit einen spürbaren Abbau faktischer Diskri-
minierung bzw. Benachteiligung.

Die in dem Richtlinienentwurf vorgesehene Möglich-
keit für den Anordnungsstaat, eine Europäische Schutz-
anordnung erlassen zu können, die vom Vollstreckungs-
staat anzuerkennen und umzusetzen ist, bedeutet dabei
nicht nur einen praktikablen Weg der Umsetzung. Ge-
genüber der bilateralen Anerkennung von Rechtstiteln
bedeutet sie auch einen Abbau von bürokratischen
Hemmnissen. Der Fortschritt, der mir als Europapoliti-
kerin besonders am Herzen liegt, ist der Fortschritt der
europäischen Zusammenarbeit. Wir haben uns im Fall
der Europäischen Schutzanordnung europaweit das ge-
meinsame Ziel gesetzt, Gewalt noch effektiver zu ächten
und zu bekämpfen.

Insbesondere das Prinzip der gegenseitigen Anerken-
nung zeigt, dass Entscheidungen, die vor dem Hinter-
grund nationaler Rechtsordnungen und Traditionen er-
gehen, von anderen Staaten respektiert und umgesetzt
werden. Die Erweiterung des gewohnten Rechtsrahmens
wird durch die Europäische Union erst ermöglicht. Nur
auf nationalstaatlichem Wege könnte das Ziel, in einem
internationalen Raum effektiven Schutz für Leib und Le-
ben zu gewährleisten, überhaupt nicht verwirklicht wer-
den. Auch wenn niemandem zu gönnen ist, von der Euro-
päischen Schutzanordnung profitieren zu müssen, zeigt
sich hier doch der Mehrwert an Lebensqualität, den
Europa seiner Bevölkerung bietet.

Wir sind uns im Deutschen Bundestag darüber einig,
dass die von den Mitgliedstaaten erwählte Rechtsgrund-
lage Fragen aufwirft. Diese Haltung wird im Übrigen
von der Europäischen Kommission geteilt. Hier wird so-
gar eine Klage erwogen, um die formale Rechtmäßigkeit
der Richtlinie notfalls zu erzwingen. Es ist deshalb gut,
dass der Bundestag diesen Punkt in seiner Stellung-
nahme deutlich formuliert hat. Der Weg, gemeinsam
eine Stellungnahme nach Art. 23 GG abzugeben und der
Bundesregierung damit für die Beratungen und Ver-
handlungen im Rat unsere Bedenken und Anregungen
mit auf den Weg zu geben, ist daher genau richtig. So
Zu Protokoll
können wir uns als Parlament aktiv in die europäischen
Verhandlungen einbringen.

Ich hätte mir gewünscht, dass wir das gemeinsam
fraktionsübergreifend hinbekommen hätten. Das hat die
unkoordinierte Abstimmung der Koalition im Rechtsaus-
schuss verhindert. Ich hoffe sehr, dass das in Zukunft an-
ders wird. In europäischen Fragen, und darüber waren
wir uns im Rechtsausschuss erfreulicherweise über
Fraktionsgrenzen hinweg einig, werden wir als Deut-
scher Bundestag umso mehr Gehör finden, je einiger wir
auftreten. Daher sollte eine gemeinsame Stellungnahme
bei inhaltlich unstrittigen Themen zukünftig nicht an Ab-
stimmungsschwierigkeiten scheitern. Wir sollten ge-
meinsam die neuen Instrumente nutzen, die den nationa-
len Parlamenten mit dem Vertrag von Lissabon an die
Hand gegeben wurden, und uns nicht gegenseitig Steine
in den Weg legen. Die SPD-Bundestagsfraktion ist des-
halb in der gestrigen Sitzung des Rechtsausschusses als
größte Oppositionsfraktion ihrer Verantwortung für die
europäische Einigung nachgekommen und hat dem An-
trag der Koalition zugestimmt. Ich hoffe sehr, dass wir
zukünftig dazu kommen, uns mehr um die Sache als um
Verfahrensabläufe zu kümmern. Damit wir, Regierung
ebenso wie Opposition, unserer Verantwortung für die
Bedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger Europas ge-
recht werden, wie sie sich beispielhaft in der Europäi-
schen Schutzanordnung manifestieren.


Dr. Marco Buschmann (FDP):
Rede ID: ID1703727300

Der Rechtsausschuss empfiehlt Ihnen, zu der Initia-

tive für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments
und des Rates über die Europäische Schutzanordnung
eine Stellungnahme nach Art. 23 Abs. 3 des Grundgeset-
zes abzugeben. Als Koalitionsfraktionen haben wir die-
ses Vorgehen im Rechtsausschuss vorgeschlagen, weil
wir es für wichtig halten, dass sich der Deutsche Bun-
destag an der Rechtsetzung in der Europäischen Union
beteiligt. Denn was dort beschlossen wird, findet nicht
auf einem fernen Planeten „Brüssel“ statt, der mit unse-
rem Leben hier in Deutschland nichts zu tun hat. Wir als
Parlament sind vielmehr im Regelfall verpflichtet, die
dort beschlossenen Vorgaben umzusetzen. Damit wir
nicht zum bloßen Ausführungsorgan der Rechtsetzungs-
organe der Europäischen Union werden, müssen wir uns
als deutsche Parlamentarier frühzeitig in die Debatten
in Brüssel einbringen.

Wir als FDP-Bundestagsfraktion begrüßen es daher
sehr, dass der Deutsche Bundestag von dem Instrument
einer Stellungnahme nach Art. 23 Abs. 3 GG in der
neuen Legislaturperiode verstärkt Gebrauch macht. Da-
bei geht es uns nicht darum, die Bundesregierung durch
strikteste Vorgaben auf europäischer Ebene manövrier-
unfähig zu machen. Aber wenn der Deutsche Bundestag
die Punkte zusammenträgt, die ihm bei den Verhandlun-
gen besonders wichtig erscheinen, kann dies das Ge-
wicht der deutschen Position in Europa nur verstärken.

Die Initiative zur Einführung einer Europäischen
Schutzanordnung ist dabei ein Fall, in dem wir unser
Gewicht in die Waagschale werfen sollten.



gegebene Reden

Marco Buschmann


(A) (C)



(D)(B)

Das Ziel der Initiative eint uns sicher alle hier im
Parlament. Denn das Ziel der Initiative ist es, dafür zu
sorgen, dass der Schutz von Opfern potenzieller Gewalt
nicht an den Landesgrenzen aufhört. Das ist ein Thema,
dessen wir uns annehmen müssen. Denn der Schutz der
Rechtsgüter des Einzelnen ist ein wesentlicher, wenn
nicht der wesentliche Auftrag des Staates. Dieser Schutz
vor potenzieller Gewalt muss – unter Wahrung der
Grundrechte – effizient und schnell sein. Ist er nämlich
nicht schnell und effizient, dann kann potenzielle Gewalt
in reale Gewalt umschlagen.

Genau aber bei dieser Effizienz und Schnelligkeit fan-
gen bereits unsere Zweifel an der derzeitigen Ausgestal-
tung der vorgeschlagenen Europäischen Schutzanord-
nung an. Diese verlangt nämlich zunächst, dass eine
Schutzmaßnahme eines Mitgliedstaates der EU vorliegt.
Auf dieser Grundlage kann der Mitgliedstaat eine Euro-
päische Schutzanordnung erlassen. Diese wird dann an
den neuen Aufenthaltsstaat der gefährdeten Person ge-
schickt. Dort muss sie anerkannt und umgesetzt werden,
indem der neue Aufenthaltsstaat eine Schutzanordnung
nach seinem Recht erlässt.

Das sind ganz schön viele Zwischenschritte – dabei
muss es doch aber schnell gehen! Zudem sind diese
Schritte unserer Ansicht nach nicht einmal erforderlich,
denn bei anderen Rechtsakten brauchen wir für die ge-
genseitige Anerkennung doch auch keine europäische
Anordnung; die Entscheidungen der Mitgliedstaaten
werden direkt weitergeleitet und anerkannt. Deswegen
bitten wir die Bundesregierung in unserer Stellung-
nahme, auf europäischer Ebene anzuregen, dass zum
Opferschutz ein Mitgliedstaat dem anderen die Informa-
tionen über den zugrunde liegenden Lebenssachverhalt
übermittelt, die er hat und die dem anderen Mitglied-
staat die Grundlage geben können, nach seinem Recht
für den erforderlichen Schutz zu sorgen.

Das scheint unserer Meinung nach auch deshalb an-
gebracht zu sein, da die Mitgliedstaaten hier ganz unter-
schiedliche Systeme für den Schutz von Opfern poten-
zieller Gewalt vorhalten. Wir haben uns im deutschen
Recht mit dem Gewaltschutzgesetz für ein zivilrechtli-
ches Vorgehen entschieden. Andere Mitgliedstaaten ge-
hen hier mit den Mitteln des Strafrechts oder des Verwal-
tungsrechts vor. Die Weiterleitung des Lebenssach-
verhaltes macht es unabhängig vom dogmatischen Cha-
rakter der jeweils im Mitgliedstaat einschlägigen Vorge-
hensweise schnell und effizient möglich, den begehrten
Schutz zu gewähren.

Schließlich haben wir weitere Bedenken. Diese mö-
gen sich zunächst sehr technisch anhören. Denn es geht
um die Frage, ob die Europäische Union überhaupt die
Kompetenz besitzt, die Initiative in der Weise auf den
Weg zu bringen, wie es angedacht ist. Die Europäische
Schutzanordnung, wie derzeit vorgeschlagen, soll näm-
lich einheitlich der strafrechtlichen Zusammenarbeit zu-
geordnet werden.

Damit überdehnen wir den Begriff des Strafrechts,
wie ihn die Kompetenzordnung der Europäischen Union
vorsieht. Denn Strafrecht betrifft die Verfolgung bereits
Zu Protokoll
begangener Straftaten. Der Schutz von Opfern poten-
zieller Gewalt betrifft allenfalls künftige Straftaten und
ist mithin eine Frage der Gefahrenabwehr. Diese veror-
ten wir jedenfalls nach deutschem Verständnis nicht im
Bereich des Strafrechts, sondern im Bereich des Gefah-
renabwehrrechts.

Eine solche durch die Initiative unterstellte Erweite-
rung des kompetenzrechtlichen Strafrechtsbegriffs um
den Bereich der Gefahrenabwehr verunklart die Zustän-
digkeitsverteilung zwischen Europäischer Union und
Mitgliedstaaten.

Wollten wir aber nicht mit dem Vertrag von Lissabon
mehr Transparenz schaffen, insbesondere mehr Trans-
parenz, wer für was zuständig sein soll, ob die EU oder
die Mitgliedstaaten? Hat uns nicht das Bundesverfas-
sungsgericht aufgegeben, dass die neue Zuständigkeits-
verteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten im
Vertrag von Lissabon strikt eingehalten werden muss?
Hat das Gericht nicht sogar ausdrücklich ausgespro-
chen, dass hier gerade im Strafrecht besondere Auf-
merksamkeit gefordert ist? Der Vertrag ist gerade ein-
mal ein paar Monate in Kraft, und schon wird versucht,
Maßnahmen unter den Begriff des Strafrechts zu packen,
die dort so nicht hingehören.

Natürlich hätten wir diese Bedenken auch im Wege
der Subsidiaritätsrüge geltend machen können, ein-
schließlich der Kompetenzverstöße; denn als FDP-Bun-
destagsfraktion vertreten wir die Auffassung, dass auch
Kompetenzverstöße im Wege der Subsidiaritätsrüge gel-
tend gemacht werden können. Da wir aber, wie geschil-
dert, nicht nur kompetenzrechtliche, sondern vor allem
inhaltliche Bedenken gegen den Vorschlag haben, haben
wir uns für den Weg der Stellungnahme nach Art. 23
Abs. 3 des Grundgesetzes entschieden. Lassen Sie uns
unserer Position in Europa Nachdruck verleihen – für
einen kompetenzrechtlich sauberen Weg, der schneller
zu unserem gemeinsamen Ziel führt, nämlich einem
schnellen und effizienten Schutz für Opfer potenzieller
Gewalt!


Raju Sharma (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703727400

NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers hat vor eini-

gen Tagen in einem „FAZ“-Interview Oskar Lafontaine
als „Ideologen“ bezeichnet, und wir können davon aus-
gehen, dass diese Charakterisierung nicht freundlich ge-
meint war. Ich bin weit davon entfernt, den Begriff „Ide-
ologie“ als Schimpfwort zu gebrauchen; allerdings
halte ich ideologische Verbohrtheit im politischen Ent-
scheidungsprozess für wenig erstrebenswert.

Während mir Oskar Lafontaine bei dieser Einschät-
zung sicher zustimmen würde, teilt die CDU diese Auf-
fassung offenbar nicht. Anders kann ich mir jedenfalls
nicht erklären, warum die Union im Fall der Stellung-
nahme zum EU-Richtlinienentwurf über die Europäi-
sche Schutzanordnung die Chance auf interfraktionelle
Einigkeit hat verstreichen lassen, obwohl diese leicht zu
erzielen gewesen wäre. Denn die Linke war trotz einiger
Bedenken in Detailfragen bereit, sich der Entschließung
der Koalitionsfraktionen insgesamt anzuschließen.



gegebene Reden

Raju Sharma


(A) (C)



(D)(B)

Das Ziel der Richtlinie – grenzüberschreitender, eu-
ropaweiter Opferschutz – stellen wir nicht infrage, wohl
aber dessen Umsetzung. Erreicht werden soll der Schutz
durch eine sogenannte Europäische Schutzanordnung.
Das soll folgendermaßen funktionieren: Eine Person ist
zum Beispiel in Deutschland Opfer von Stalking gewor-
den und hat eine Verfügung erwirkt, nach der sich der
Stalker auf 300 Meter nicht nähern darf. Will das Opfer
nach Frankreich umziehen, kann es in Deutschland eine
Europäische Schutzanordnung beantragen. Diese soll
nun in Frankreich dafür sorgen, dass dort vergleichbare
Schutzmaßnahmen ergriffen werden, ohne dass Sachver-
halt oder Rechtsfolgen erneut geprüft werden müssen.

Die Regierungsfraktionen haben hierzu Bedenken
formuliert, die wir in mehreren Hinsichten teilen: Wie
die Koalition bezweifeln auch wir die Anwendbarkeit
der Rechtsgrundlage der Richtlinie, und wie die Koali-
tion stellen auch wir die Verhältnismäßigkeit der Richt-
linie infrage, da das Verfahren kompliziert ist und
Rechtsschutz auf direktem Wege im jeweiligen Land
möglicherweise schneller zu erreichen wäre.

Unsere Kritik geht aber noch weiter: Die Richtlinie
geht davon aus, dass in allen Ländern ausreichende
Schutzmaßnahmen bestehen. Das halte ich für fraglich.
Bevor über eine Anerkennung von Entscheidungen
nachgedacht werden kann, sollten zunächst einheitli-
che Mindeststandards eingeführt werden. Genauso
müsste sichergestellt sein, dass bei einem solchen Ver-
fahren rechtsstaatliche Grundsätze eingehalten wer-
den, insbesondere deshalb, weil dieser Bereich in vie-
len Mitgliedstaaten als Strafverfahren konzipiert ist.
Bei der Zusammenarbeit in Strafsachen sind laut Bun-
desverfassungsgericht aber besonders strenge Maß-
stäbe für die gegenseitige Anerkennung von Entschei-
dungen anzulegen.

In ihrer Entschließung gehen CDU/CSU und FDP
über diesen Punkt hinweg. Sie lehnen zwar die Schutz-
anordnung selbst ab, wollen jedoch die ihr zugrunde lie-
genden Fakten anerkennen. Gerade die Sachverhaltsbe-
stimmung ist aber keine verfahrensrechtliche Kleinig-
keit, sondern wesentlicher Kern dessen, was Grundlage
der Anordnung sein soll. Eine ungeprüfte Anerkennung
wäre deshalb ebenfalls problematisch.

Trotz der Bedenken in diesem Punkt war die Linke
zugunsten einer interfraktionellen, gemeinsamen Stel-
lungnahme des Bundestages bereit, die Entschließung
zu unterstützen, zumal ich die Diskussionen im Rechts-
ausschuss als erfreulich produktiv und auf die Sache
konzentriert erlebt habe und auch Positionen der Oppo-
sition in die Stellungnahme eingeflossen sind und zumal
den Regierungsfraktionen nach eigenem Bekunden an
einem geschlossenen Meinungsbild der Parlamentarier
sehr gelegen war. Was wäre also näherliegend gewesen
als ein gemeinsamer Antrag? Nichts, sollte man meinen –
wäre da nicht die Sache mit der ideologischen Verbohrt-
heit: Gemeinsame Initiativen mit der Linken schließen
die Christdemokraten ausdrücklich aus.


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703727500

Einige Mitgliedstaaten der Europäischen Union ha-

ben eine europäische Gesetzgebungsinitiative gestartet,
mit der Schutzanordnungen, wie sie bei uns in Deutsch-
Zu Protokoll
land nach dem Gewaltschutzgesetz erlassen werden,
europaweit und grenzüberschreitend vollstreckt werden
können. Der Vorschlag beinhaltet, dass solche nationa-
len Schutzanordnungen vom Erlassstaat in eine Euro-
päische Schutzanordnung umgewandelt und sodann im
Vollstreckungsstaat in eine nationale Schutzanordnung
rückumgewandelt werden.

Niemand von uns wendet sich im Grundsatz gegen ei-
nen grenzüberschreitenden Opferschutz. Dieser ist
wichtig, wenn gewährleistet werden soll, dass von Ge-
walt betroffene Personen auch tatsächlich von ihrem
Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen können. Dies
ist nach bisher schon bestehenden europäischen Rege-
lungen nicht ausgeschlossen; Verbesserungen sollten
bei tatsächlichem Bedarf beherzt in Angriff genommen
werden.

Uns Grünen ist es als überzeugten Europäern wich-
tig, den mit dem Lissabon-Vertrag auf eine neue Stufe
angehobenen Prozess der europäischen Integration
nicht zu gefährden. Das Bundesverfassungsgericht hat
uns als den deutschen Gesetzgeber gleichermaßen auf
unsere Verantwortung für die europäische Integration
wie auch auf unsere Verantwortung zum Schutz der na-
tionalen staatlichen Identität Deutschlands als demo-
kratischer Rechtsstaat verpflichtet. Beidem gerecht zu
werden bedeutet insbesondere, den Grundsatz der be-
grenzten Einzelermächtigung ernst zu nehmen, also über
die Kompetenzen der Europäischen Union und ihre
Grenzen zu wachen. Nicht zuletzt bewahren wir damit
die Idee der Europäischen Union vor einer Glaubwür-
digkeitsauszehrung bei den europäischen Bürgerinnen
und Bürgern. Diese wollen, dass sich europäische Ge-
setzgebungskompetenz durch eine strikte Bezugnahme
auf das Primärrecht der Europäischen Union legiti-
miert. Dieses beinhaltet neben dem Grundsatz der be-
grenzten Einzelermächtigung auch und insbesondere die
Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßig-
keit bei der Überprüfung der jeweils in Angriff genom-
menen Maßnahmen. Nicht zuletzt der Lissabon-Vertrag
selbst hat insoweit für die nationalen Parlamente, also
den Deutschen Bundestag, Rechte und Pflichten der Mit-
wirkung statuiert.

Es ist deshalb unsere Pflicht, die Frage zu stellen, ob
die Initiative der Mitgliedstaaten für eine Europäische
Schutzanordnung eine Kompetenzgrundlage im Lissa-
bon-Vertrag hat. Die dem Entwurf zugrunde gelegte
Rechtsgrundlage, Art. 82 AEUV, betrifft die justizielle
Zusammenarbeit in Strafsachen. Diese Rechtsgrundlage
kollidiert mit deutschem Verfassungsrecht nur dann
nicht, wenn die europäische Kompetenz restriktiv und
keinesfalls extensiv ausgelegt wird. Im Kern geht es um
ein einheitliches Vorgehen der Strafverfolgung in be-
stimmten Bereichen grenzüberschreitender Kriminalität.
Der Schutz vor Straftaten, insbesondere präventive
Schutzmaßnahmen auch im Zivil- und Verwaltungsrecht,
lassen sich beim besten Willen nicht unter Bezugnahme
auf Art. 82 AEUV als Aufgaben der Europäischen Union
darstellen. Für Schutzmaßnahmen nach dem deutschen
Gewaltschutzgesetz sind nicht Straf-, sondern Zivilge-
richte zuständig, und Voraussetzung ist nicht unmittel-



gegebene Reden





Jerzy Montag


(A) (C)



(D)(B)

bar und nicht ausschließlich eine Straftat gegen das Op-
fer.

Die Initiative einiger Mitgliedstaaten für eine Euro-
päische Schutzanordnung gründet sich auf einer unzu-
lässigen Ausdehnung des Begriffs der „justiziellen
Zusammenarbeit in Strafsachen“ in den Bereich der
Prävention, die wir nicht unterstützen können. Nach ei-
nigem Zögern scheint auch die Kommission diese kriti-
sche Haltung zu teilen. Sie will notfalls eine gerichtliche
Klärung dieser Frage vor dem EuGH erzwingen.

Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Wir Grü-
nen unterstützen alle sinnvollen und zielführenden Maß-
nahmen zum Opferschutz, aber nicht um den Preis einer
Verletzung des europäischen Rechts und der damit ein-
hergehenden Beschneidung der Gesetzgebungskompe-
tenz des Bundestages. Gerade weil wir den Erfolg der
europäischen Einigung wollen, pochen wir darauf, die
durch die europäischen Verträge vorgegebenen Kompe-
tenzen strikt einzuhalten und zu verteidigen.

Des Weiteren wirkt das vorgeschlagene Instrument
recht aufwendig und wirft die Frage auf, ob sein Einsatz
überhaupt zu einer Erleichterung führt, was letztendlich
zu der Frage der Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit
führt. Aus einem allein deutschen Blickwinkel mag es
tatsächlich so sein, dass eine nach Deutschland kom-
mende gefährdete Person schneller eine neue Schutzan-
ordnung erwirken kann. Es erscheint aber mehr als
zweifelhaft, ob dies auch in allen anderen Mitgliedstaa-
ten so einfach der Fall ist. Aber es geht der Initiative ja
gerade darum, den Opfern in allen Mitgliedstaaten ei-
nen gleichwertigen Schutz zu gewähren.

Wir Grünen teilen die Kritik an der Initiative für eine
Europäische Schutzanordnung, die im Vorschlag von
CDU/CSU und FDP für einen Beschluss nach Art. 23
GG vorgetragen wird, insbesondere an der zweifelhaften
Rechtsgrundlage und an der Rechtsauffassung des Ju-
ristischen Dienstes des Rates, sowie die Bedenken im
Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung dieser Maß-
nahme.

Wir werden dem Antrag dennoch aus zwei Gründen
nicht zustimmen: Der eine Grund ist die Verfahrens-
weise. Es war vereinbart worden, diesen Antrag über-
fraktionell zu gestalten, um ihm, insbesondere auf euro-
päischer Ebene, mehr Gewicht zu verleihen. Dies setzt
aber voraus, dass es einen Diskurs in der Sache gibt,
was wiederum voraussetzt, dass ein Minimum an Zeit
vorhanden ist, um solche Diskussionen führen zu kön-
nen. Leider wurde von der Koalition die Chance vertan,
diesen Antrag gemeinsam auf den Weg zu bringen. Dies
wiegt umso schwerer, als gerade in Fragen europäischer
Gesetzgebung ein einheitliches Auftreten des gesamten
Bundestages vonnöten ist.

Der zweite Grund ist inhaltlicher Art. In Punkt 3 des
Darstellungsteils des Antrags wird behauptet, dass in
bisherigen Rahmenbeschlüssen, die sich mit der gegensei-
tigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Straf-
sachen beschäftigen, 2008/947/JI und 2009/829/JI, der
Grundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit voll verwirk-
licht wäre. Dies ist jedoch schlicht falsch, denn die Prü-
fung der beiderseitigen Strafbarkeit und infolgedessen
die Ablehnung der Anerkennung wird für gut 30 Delikt-
gruppen explizit ausgeschlossen. Wir haben uns, früher
gemeinsam mit der FDP und einigen in der SPD, gegen
diesen Ausschluss des Grundsatzes der beiderseitigen
Strafbarkeit in europäischen Rechtsakten gewandt und
die Abschaffung, zumindest aber eine Präzisierung der
Deliktgruppen gefordert. Es ist schade und unverständ-
lich, weshalb die Koalition hier den Text nicht verbes-
sert und die Fakten nicht richtig darstellt.

Des Weiteren wird im Forderungspunkt 5 des Antrags
die Bundesregierung aufgefordert, für den Fall, dass die
Initiative für eine Europäische Schutzanordnung nicht
zu verhindern ist, wenigstens dafür zu sorgen, dass jeder
Vollstreckungsstaat in vollem Umfang den Einwand feh-
lender beiderseitiger Strafbarkeit erheben darf. Dies
macht aber bei einer Schutzanordnung keinen Sinn, die,
wie auch bei uns in Deutschland, gar nicht notwendiger-
weise mit einer Straftat begründet sein muss.

Wir Grünen werden deshalb dem Antrag der Koali-
tion nicht zustimmen und uns der Stimme enthalten.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703727600

Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-

empfehlung auf Drucksache 17/1461, in Kenntnis der
Unterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ist jemand da-
gegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-
Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen und der Fraktion Die Linke angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:

Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein-
gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Än-

(Abschaffung der strafbefreienden Selbstanzeige bei Steuerhinterziehung)


– Drucksache 17/1411 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss
gemäß § 96 GO

Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre Re-
den zu Protokoll gegeben: Manfred Kolbe, Martin
Gerster, Frank Schäffler, Richard Pitterle und Jerzy
Montag.1)

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/1411 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

1) Anlage 6





Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Martin
Gerster, Sabine Bätzing, Gabriele Fograscher,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Den Sport in Europa voranbringen

– Drucksache 17/1406 -
Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Viola
von Cramon-Taubadel, Winfried Hermann,
Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Sport in der Europäischen Union – Den Lissa-
bon-Vertrag mit Leben füllen

– Drucksache 17/1420 –
Überweisungsvorschlag:
Sportausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Innenausschuss
Rechtsausschuss

Auch hier wurde bereits in der Tagesordnung ausge-
wiesen, dass die Reden folgender Kolleginnen und Kol-
legen zu Protokoll gegeben werden: Martin Gerster,
Joachim Günther, Jens Petermann, Viola von Cramon-
Taubadel und des Parlamentarischen Staatssekretärs
Dr. Christoph Bergner.


Martin Gerster (SPD):
Rede ID: ID1703727700

In wenigen Tagen kommen die Sportminister Europas

zum ersten Mal offiziell zu einem Ministertreffen zusam-
men. Das ist Anlass für unseren Antrag „Den Sport in
Europa voranbringen“. Wir wollen, dass Deutschland
eine aktive Rolle einnimmt und Motor für eine abge-
stimmte, gemeinsame europäische Sportpolitik wird.
Schon bei der Debatte über das „Weißbuch Sport“ der
EU, aber auch bei anderen Debatten hatten wir als
Sportpolitikerinnen und Sportpolitiker ja einhellig da-
rauf gedrängt, dass wir uns als Parlamentarier – und
auch die Bundesregierung – frühzeitig in die Ausgestal-
tung dieser durch den Lissabon-Vertrag neu geschaffe-
nen Kompetenz des EU-Parlaments und der EU-Kom-
mission einbringen. So hatten wir es auch in unserem
Antrag aus der letzten Legislaturperiode zur gesell-
schaftlichen Bedeutung des Sports beschlossen. Daran
wollen wir festhalten – zumindest die SPD-Fraktion! Un-
ser Antrag trägt den veränderten Bedingungen des
Sports auf europäischer Ebene Rechnung. Schon seit vie-
len Jahren – und spätestens seit dem sogenannten
Bosman-Urteil – ist jedem klar, dass die europäische
Dimension, insbesondere für den Profisport, an Bedeu-
tung gewonnen hat und in Zukunft noch wichtiger wer-
den wird. Aber auch für den Breitensport ist die nun-
mehr gegebene europäische Kompetenz ein Meilenstein
für den Sport in Europa. Wir leben schon seit langem
nicht mehr in einer Welt, die vor allem national bestimmt
ist, sondern in einer zunehmend globalisierten Welt.
Nicht zuletzt der Vulkanausbruch in Island und die damit
verbundenen weitreichenden Einschränkungen im euro-
päischen Flugverkehr haben uns wieder einmal vor Au-
gen geführt, wie nah wir aneinandergerückt sind. Und
wie bei allen Veränderungen ergeben sich daraus Chan-
cen, die wir nutzen sollten – aber auch Risiken, die wir
nicht außer Acht lassen dürfen. Zunächst zu den Chan-
cen, die sich aus einer europäischen Sportpolitik erge-
ben werden. Viele Bereiche sind schon im „Weißbuch
Sport“ angeführt und sollten durch die Sportpolitik der
EU aufgegriffen und konkretisiert werden. Ich will hier
nur einige wenige Punkte nennen. So muss beispiels-
weise die Förderung des Ehrenamts und dessen Schutz
um eine europäische Dimension erweitert werden. Wir
in Deutschland haben ja sehr gute Erfahrungen mit un-
seren Förderungen des Ehrenamts gemacht. Ohne diese
Menschen, die jedes Jahr dem Sport Millionen von Ar-
beitsstunden unentgeltlich zur Verfügung stellen, wäre
unser Land um vieles ärmer. Wir sollten den europäi-
schen Einigungsprozess mit den Mitteln des Sports un-
terstützen. Wem, wenn nicht dem Sport mit seinen global
gültigen Regeln und seiner niedrigen Zugangsschwelle,
kann es gelingen, Brücken zu bauen? Wir müssen ver-
stärkt Jugendbegegnungen im Bereich des Sports mög-
lich machen und jungen Erwachsenen die Chance ge-
ben, Erfahrungen außerhalb ihrer Heimatländer zu
machen, in dem sie sich beispielsweise ehrenamtlich en-
gagieren oder multinationale, sportbezogene Ausbil-
dungsmöglichkeiten wahrnehmen. Eine abgestimmte eu-
ropäische Sportpolitik stärkt die Rolle der EU auch auf
dem internationalen sportpolitischen Parkett. Wenn Eu-
ropa hier mit einer Stimme spricht, wächst auch der Ein-
fluss der Europäer in der internationalen Sportpolitik.
Europäische Sportpolitik muss auch bedeuten, grenz-
übergreifend voneinander zu lernen und Gutes aus dem
Bereich des Sports innerhalb Europas zu verbreiten.
Moderne Konzepte von „bewegter Schule“, bewährte
Kooperationsvereinbarungen zwischen Schulen und
Vereinen, Rahmenbedingungen für den Sport für Men-
schen mit Behinderungen, motivierende Bewegungs-an-
gebote für die älteren Bürgerinnen und Bürger unserer
Gesellschaft usw. – in den vielfältigsten Bereichen des
Sports kann man in Europa hervorragende Ansätze fin-
den. Um eine möglichst aktive Bevölkerung zu bekom-
men, muss nicht jedes Land das Rad neu erfinden. Der
Blick über die Landesgrenze und ein intensiver europäi-
scher Austausch sind wichtig. Noch gibt es auch in den
Rahmenbedingungen, die der Sport in den einzelnen
Ländern Europas vorfindet, große Unterschiede, wie
auch in vielen anderen Politikbereichen. Daher muss
eine europäische Sportpolitik auch dazu führen, auf
lange Sicht in allen europäischen Staaten gute Voraus-
setzungen für den Sport zu sichern. Dazu gehört eine
moderne Infrastruktur genauso wie ausreichende finan-
zielle Förderung und ein rechtlicher Rahmen, der dem
Sport vernünftige Gestaltungsfreiheit lässt. Allerdings
sieht sich der Sport auch Risiken ausgesetzt, die nicht
nur national begrenzt werden können. Die Dopingbe-

Martin Gerster


(A) (C)



(D)(B)

kämpfung kann nur international erfolgreich sein! So-
lange Ermittlungsergebnisse nicht problemlos von ei-
nem Land ins nächste gegebenen werden, solange
Sportler in einem Land wegen Dopingvergehen gesperrt
sind und im anderen Land antreten können und solange
die Sanktionen für Dopingsünder nicht einheitlich ab-
schreckend geregelt sind, können Anti-Doping-Bemü-
hungen nicht erfolgreich sein.

Der Sport sieht sich auch anderen Manipulationsver-
suchen ausgesetzt: Wettbetrug, Bestechung und dubiose
Praktiken bei der Spielervermittlung sind nur einige der
Gefahren, denen auf europäischer Ebene begegnet wer-
den muss. Eine europäische Sportpolitik muss also
Chancen für den Sport nutzen und ausbauen, neue Wege
eröffnen und die Benefits des Sports fördern. Sie muss
aber auch klare Grenzen setzen und gesetzliche Rah-
menbedingungen schaffen, die den Risiken für den Sport
Einhalt gebieten. Ich erwarte, dass sich die Bundesre-
gierung in allen Bereichen aktiv einbringt, auch wenn
die Koalitionsfraktionen heute nicht mit eigenen Vor-
schlägen für das erste formelle Sportministertreffen auf-
warten. Daher sehe ich der Berichterstattung des Bun-
desministeriums des Innern im Sportausschuss über
dieses Treffen mit Interesse entgegen.

Noch kurz zum Antrag der Grünen. Ich denke, wir
sind da in ganz vielen Bereichen sehr nah beieinander –
und nicht nur wir, sondern ich denke auch das ganze
Haus. Daher möchte ich nur zwei Punkte anmerken.
Zum einen vermisse ich bei Ihrem Antrag einen Hinweis
auf die Verantwortung Europas für den außereuropäi-
schen Raum. Die Europäische Union ist eine Erfolgsge-
schichte, um die uns die anderen Regionen zum Teil
durchaus beneiden, die aber auf jeden Fall im Rest der
Welt sehr intensiv beobachtet wird. Ich glaube, dass wir
als Europäer mit all unserer Wirtschaftsmacht ein we-
sentliches Interesse, ja sogar eine Pflicht haben, uns
miteinander für andere einzusetzen – und dies nicht zu-
letzt im und durch den Sport. Leider haben die Grünen
diesen Aspekt nicht in ihrem Antrag. Zum Zweiten habe
ich eine Frage, da ich einen Punkt in Ihrem Antrag nicht
verstehe: Unter Punkt B Ziffer 6 fordern Sie ein Lizenz-
vergabesystem für Sportvereine. Ich glaube, da stimmt
einfach die Begrifflichkeit nicht. Wahrscheinlich meinen
Sie eine Zertifizierung bzw. die Schaffung eines Zertifi-
kats für Vereine, die sich in der von Ihnen beschriebenen
Weise um die Bekämpfung von Rassismus, Homophobie
und Gewalt verdient machen. Sollte dies so sein, dann
unterstützen wir das natürlich; da führt dann aber der
von Ihnen gewählte Begriff in die Irre. Auch für die Auf-
klärung solch kleinerer Missverständnisse wird unsere
Sportausschusssitzung gut sein. Ich freue mich auf die
Fortsetzung der heute begonnenen Diskussion in diesem
Gremium.


Joachim Günther (FDP):
Rede ID: ID1703727800

Die FDP sieht es grundsätzlich als positiv an, dass

mit dem Vertrag von Lissabon in Art. 165 eine Kompe-
tenz auf europäischer Ebene für den Sport geschaffen
wurde. Mit der Verankerung im Primärrecht fällt der
Sport auch erstmalig mit in den Zuständigkeitsbereich
der Europäischen Union. Dies bietet eine Reihe von
Zu Protokoll
Chancen für den Sport. Um hier nur einige Punkte zu
nennen:

Mit der Kompetenz der EU im Bereich der Sportpoli-
tik lässt sich eine verbesserte Koordinierung der Do-
pingbekämpfung auf internationaler Ebene erreichen.
Aber auch auf Mitgliedstaaten innerhalb der EU, die die
UNESCO-Anti-Doping-Konvention noch nicht unter-
schrieben haben, kann eingewirkt werden.

Die Bestimmungen des WADA-Anti-Doping-Codes
und der Anti-Doping-Konvention des Europarates wie
auch der UNESCO-Anti-Doping-Konvention sollen
nicht nur im Bereich des Profisports, sondern ebenso im
Bereich des Breitensports Anwendung finden. Natürlich
stehen dabei ganz besonders das gesundheitliche Wohl-
ergehen von Kindern und Jugendlichen im Fokus der
Präventionsmaßnahmen.

Die neugeschaffene Kompetenz eröffnet uns weiter-
hin die Möglichkeit eines besseren Schutzes der körper-
lichen Unversehrtheit von Sportlern, insbesondere Ju-
gendlicher, und bessere Möglichkeiten der Gewaltbe-
kämpfung durch grenzüberschreitende Zusammenarbeit.

Ein Kernanliegen der europäischen Sportpolitik
sollte auch die Rolle des Sports für ein gesundes und fit-
tes Leben sein. Wir haben mittlerweile weltweit das Pro-
blem einer steigenden Anzahl von sogenannten Wohl-
standserkrankungen wie Adipositas oder Diabetes, die
inzwischen einen großen Teil der Kosten unseres Ge-
sundheitssystems verursachen. Mit ausreichend Bewe-
gung und einer guten Ernährung müssen diese Heraus-
forderungen angepackt werden.

Ebenso werden sich die Möglichkeiten verbessern,
Sportwettbetrug zu bekämpfen. Wettbetrug ist natürlich
schädlich und bringt den Sport allgemein zusätzlich zur
Dopingproblematik in ein schlechtes Licht. Jedoch soll-
ten Sportwetten nicht allgemein als Ursache für dieses
Übel angesehen werden. Ich möchte an dieser Stelle
deutlich betonen, dass Sportwetten einen wichtigen Pfei-
ler für die Sportfinanzierung darstellen, auch im Bereich
des Breitensports. Die eingebrachten Anträge gehen in
die richtige Richtung, doch vergessen Sie einmal mehr,
dass das Geld für Ihre Forderungen auch irgendwo her-
kommen muss.

Deshalb fordern wir Liberalen seit langer Zeit die Li-
beralisierung des Sportwettenmarktes. Werfen wir doch
einen Blick auf Deutschland: Das Beratungsunterneh-
men Goldmedia hat in seiner im April 2010 veröffent-
lichten Studie eine umfassende Erhebung über die
Größe des deutschen Glücksspielmarktes vorgelegt.
Diese zeigt unter anderem, dass trotz der Nichtzulassung
privater Sportwettenanbieter in 2009 insgesamt 7,9 Mil-
liarden Euro an Wetteinsätzen platziert worden sind.
Damit entfällt der übergroße Marktanteil von 94 Prozent
auf in Deutschland nichtregulierte Angebote: 2,4 Mil-
liarden Euro auf die nach wie vor existierenden statio-
nären Wettshops, 3,9 Milliarden Euro auf Onlineanbie-
ter und weitere 1,0 Milliarden Euro auf den
Schwarzmarkt, der in sogenannten Hinterzimmern und
mobilen Kassen bzw. Läufergeschäften zu finden ist. Im
Gegensatz dazu kann die staatliche Sportwette Oddset/



gegebene Reden

Joachim Günther (Plauen)



(A) (C)



(D)(B)

Toto gerade einmal einen Umsatz durch Spieleinsätze
von 240 Millionen Euro verzeichnen. Die Diskrepanz
könnte kaum größer sein. Das staatliche Monopol und
das Internetverbot sind gescheitert.

Die Marktzahlen zeigen ganz klar, dass Verbraucher
Verbote nicht akzeptieren und zeitgemäße Glücksspiel-
produkte nachfragen. In der derzeitigen Situation hat
der Staat jedoch keine Kontrolle über diesen Graumarkt
und schöpft zudem die steuerlichen Potenziale nicht ab.

Was bedeutet das für Europa? Mit der Einführung ei-
ner Kompetenz der Europäischen Union im Bereich des
Sports ist es nicht getan. Diese Kompetenz muss mit Le-
ben erfüllt werden. Mit der Aufhebung der Reglementie-
rung für Sportwetten europaweit könnten zusätzlich zu
dem für das Jahr 2012 geplanten ersten EU-Sportför-
derprogramm zusätzliche finanzielle Mittel zur Förde-
rung des Sports und gesundheitspräventiver Maßnah-
men erschlossen werden.


Jens Petermann (Plos):
Rede ID: ID1703727900

Die Zuständigkeit der EU im Bereich Sport ist erst

mit dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages am 1. De-
zember 2009 formalisiert worden. Vor diesem Hinter-
grund wird am 10. Mai in Madrid das erste Treffen der
Sportminister der Europäischen Union stattfinden. Dass
großer Handlungsbedarf besteht, liegt auf der Hand. So-
wohl im Weißbuch der Europäischen Kommission zum
Sport als auch in der Entschließung des Europäischen
Parlaments zu diesem Dokument wird ein Aspekt betont,
der in Deutschland auf Bundesebene leider immer noch
ein Stiefkind ist: die Förderung des Breitensports. In
Deutschland ziehen sich die Verantwortlichen bei die-
sem Thema gern auf eine einzige Aussage zurück: Sport-
förderung sei Sache der Länder und Kommunen. Die
Linke hält dem schon lange entgegen, dass dieses Land
endlich ein Sportförderungsgesetz des Bundes braucht,
damit Länder und Kommunen endlich ihre diesbezügli-
chen Aufgaben befriedigend erfüllen können. Statt ihre
Hausaufgaben zu machen und ein solches Gesetz auf
den Weg zu bringen, streichen die Haushälter der
schwarz-gelben Koalition lieber eines der wenigen Pro-
gramme, das auf die Förderung des Breitensports aus-
gerichtet war: den Goldenen Plan Ost. Die Kommunen
werden nun mit ihren vielerorts maroden Sportstätten
mehr denn je allein gelassen. Das ist wahrlich nicht im
Sinne der europäischen Idee im Bereich des Sportes. Für
zweifelhaft halte ich auch die strikte Trennung zwischen
Breiten- und Leistungssport bei der Bekämpfung von
Dopingpraktiken. Die Grenzen sind hier fließend. Ja, es
ist absolut notwendig, den Kampf gegen Doping auf
europäischer Ebene zu harmonisieren. Ausreichen wird
dies in der globalisierten Welt des Sports jedoch nicht.

Zurück zu den fließenden Grenzen: Wie glaubwürdig
ist ein lautstark propagierter Kampf gegen Doping im
Spitzensport, wenn das Doping im Alltag – ob im Sport,
in Schule oder Universität – längst alltäglich ist? In den
USA nimmt jeder fünfte Student konzentrationsstei-
gernde Mittel, die sich ebenso im Sport etabliert haben.
Und von umfangreichen Doping- und Drogenfunden in
deutschen Fitnessstudios wird bekanntermaßen regel-
Zu Protokoll
mäßig berichtet. Hier gilt es anzusetzen, um das ge-
sellschaftliche Bewusstsein nicht allein auf Dopingprak-
tiken im Leistungssport zu fokussieren. Im Übrigen
beginnen so gut wie alle negativen Erscheinungen be-
reits im Amateursport, sodass schon hier angesetzt wer-
den muss, um Probleme anzugehen. Ich verweise auf den
Themenkomplex Rassismus, Homophobie und Gewalt
im Sport. Diese Bedrohungen zeigen sich insbesondere
im Fußball, und das bereits in den unteren Ligen. Für
lesbische Sportlerinnen und schwule Sportler bietet die
Umgebung des Spiels offenbar eine Atmosphäre, in der
sie große Scheu haben, zu ihrer Homosexualität zu ste-
hen. Deshalb ist es unbedingt erforderlich, Fanprojekte
zu unterstützen, die sich der Aufklärung verschrieben
haben. Gleiches gilt für rassistische Angriffe gegen
Menschen anderer Hautfarbe oder Religion. Auf diesem
Problemfeld sind vor allem grenzüberschreitende Netz-
werke dringend nötig. Es ist eine gesamteuropäische
Aufgabe, sicherzustellen, dass Diskriminierung im Sport
wirksam bekämpft wird. In dem „Tatort“ aus Bremen
mit dem Titel „Endspiel“ wird diese Problemstellung
exemplarisch genauso aufgegriffen wie eine andere
schwerwiegende Entwicklung im Sport: Talentierte min-
derjährige Sportler werden aus ihren meist armen Hei-
matländern von Spieleragenten mit verheißungsvollen
Versprechen in die EU gelockt. Oft aber reicht ihr Talent
nicht aus für den ganz großen Sport, und sie geraten fern
der Heimat allein gelassen auf die schiefe Bahn. Des-
halb ist es unbedingt notwendig, dass die diesbezügli-
chen Gesetze und Vorschriften umgesetzt werden. Die
FIFA verbietet Transfers von Spielern unter 16 Jahren,
nur wird diese Regelung längst nicht strikt genug ange-
wandt. Im Vertrag von Lissabon ist verankert, dass die
EU verpflichtet ist, für den Schutz der körperlichen und
seelischen Unversehrtheit, insbesondere der jüngeren
Sportlerinnen und Sportler, zu sorgen. Hier haben die
Mitgliedstaaten, gerade auch Deutschland, ihre Haus-
aufgaben längst nicht erledigt. Dies sind nur einige aus-
gewählte Handlungsfelder aus dem Sportbereich, auf
denen einerseits die Europäische Union gefordert ist,
andererseits die konkrete Umsetzung aber in der Verant-
wortung der Mitgliedstaaten liegt. Zwar hat die EU mit
dem Vertrag von Lissabon erstmals Kompetenz im Be-
reich Sport erhalten, doch wirkt dies nur unterstützend,
koordinierend und ergänzend. Handeln muss jetzt die
Bundesregierung!


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der Sport war für die EU bisher bestenfalls eine Ne-
bensache. Wer Sport auf die Europabühne bringen
wollte, musste sich argumentativer Hilfskonstruktionen
bedienen. Sport gehörte zu den Politikfeldern, die von
der nationalen Politik dauerhaft gepachtet schienen.
Diese Pachtregelung hat der Vertrag von Lissabon ver-
ändert. Die Möglichkeiten zur Förderung von Sport-
projekten und – noch wichtiger – die systematische Ein-
beziehung des Sports in andere EU-Politiken und
Förderprogramme sind seit Inkrafttreten des Lissabon-
Vertrags möglich. Der Startschuss für eine Sportpolitik
in der EU fiel zwar schon mit dem „Adonnino-Bericht“
an den Europäischen Rat vom Juni 1985, der erstmals



gegebene Reden

Viola von Cramon-Taubadel


(A) (C)



(D)(B)

die gesellschaftliche Rolle des Sports hervorhob. Aber
nun kann die Europäische Union erstmals eigene Maß-
nahmen zur Unterstützung, Koordinierung oder Ergän-
zung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten durchführen.
Das begrüße ich ausdrücklich.

Worum es jetzt aber geht, ist doch offenkundig: Wir
müssen die neuen Regelungen auch anwenden, oder
– um im Bild zu bleiben –: Europa muss das neu gewon-
nene Politikfeld auch bestellen. Und eben bei dieser Be-
stellung sehen wir erhebliche Defizite, die endlich beho-
ben werden müssen. Ich sage bewusst „müssen“; denn
der Sport ist es wert, dass sich Europa – und dazu gehö-
ren eben auch die nationalen Parlamente – im Sinne des
Lissabon-Vertrages engagiert. Dabei hoffe ich – und das
betone ich als Mitglied einer proeuropäischen Partei –,
dass es uns gelingt, den Sport für die Herausbildung ei-
ner europäischen Identität zu nutzen. Natürlich ist uns
hier die Ambivalenz, die Widersprüchlichkeit des Sports
bei der Identitätsbildung von Nationen oder Regionen,
von ethnischen und gesellschaftlichen Gruppen bekannt.
Sport kann eine ganze Nation, eine Stadt oder eine Re-
gion verbinden, er kann aber auch spalten und trennen.
Dieser Realität müssen wir uns bewusst sein, wenn wir
Sport zu einem Instrument der Förderung einer europäi-
schen Identität machen. Und: Wir sollten uns auch kei-
ner Illusion hingeben. Gerade im Sport findet Identitäts-
bildung häufig durch Abgrenzung statt. Der europäische
Integrationsprozess ist jedoch ein Gegenentwurf zu ei-
ner Abgrenzungsstrategie. Wer sich das bewusst macht,
kann wohl auch die Größe der Aufgabe erkennen.

Was fordern wir konkret? Die Bundesregierung muss
eine Position für eine kohärente, nachhaltige europäi-
sche Sportpolitik entwickeln. Und natürlich geht es auch
hier darum, dass sie sich für diese Maßnahmen und für
eine angemessene finanzielle Ausstattung des für 2012
geplanten ersten EU-Sportförderprogramms einsetzt.
Ein solches Programm ist sicher eine große Aufgabe.
Umso wichtiger ist es, sich zu konzentrieren und Priori-
täten zu setzen. Aus meiner Sicht sollte die Bekämpfung
von Rassismus, Homophobie und Gewalt in der europäi-
schen Sportpolitik ganz oben auf der Agenda stehen.
Diese Prioritätensetzung passt hervorragend zum euro-
päischen Politikentwurf. Die Überwindung von nationa-
len Egoismen, Rassismus und Gewalt war und ist das
Kernanliegen des europäischen Projekts. Das sollte
auch in der Sportpolitik deutlich werden. In diesem Kon-
text sollte die EU Fanprojekte fördern, Präventions-
arbeit im Kampf gegen Rassismus, Homophobie und Ge-
walt unterstützen und einen grenzüberschreitenden
Wissenstransfer organisieren sowie die Forschung stär-
ker auf diese Problemfelder fokussieren.

Es ist eine Aufgabe der EU, die Zusammenarbeit zwi-
schen Strafverfolgungsbehörden, Sportorganisationen
und weiteren staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren
zu verbessern. In diesen Kontext passt die ureigene Auf-
gabe des Sports – seine Förderung der Integration. Hier
kann das traditionelle Instrument des Jugendaustauschs
eine neue Funktion bekommen. Das EU-Programm „Ju-
gend in Aktion“ soll auch über 2013 hinaus fortgeführt
werden. Der Sport soll darin stärker als bisher berück-
sichtigt werden. Die Möglichkeiten des Sports zur Inte-
Zu Protokoll
gration sollen durch die Förderung wissenschaftlicher
Untersuchungen und den Austausch von bewährten Ver-
fahren besser genutzt werden. Wir fordern die Bundesre-
gierung auf, ein Konzept für ein von den Mitgliedstaaten
der EU finanziertes europäisches Jugendwerk der inter-
kulturellen Begegnung und des Sports nach dem Vorbild
des deutsch-französischen und des deutsch-polnischen
Jugendwerkes auszuarbeiten.

Es sollen Programme von der EU entwickelt und fi-
nanziert werden, die der Integration von Menschen mit
Behinderung dienen. Die UN-Konvention über die
Rechte für Menschen mit Behinderung soll in allen Mit-
gliedstaaten der EU auch im Sportbereich konsequent
umgesetzt werden. Die EU soll Projekte unterstützen,
die sich für die Integration von Frauen und Mädchen,
speziell aus Familien mit Migrationshintergrund, durch
den Sport einsetzen. Netzwerke zum Austausch bewähr-
ter Verfahren in diesem Bereich sollen unterstützt wer-
den.

Ein weiteres wichtiges Feld ist die Bekämpfung von
Doping. Hier brauchen wir erstens ein europäisches
Kontrollsystem und zweitens geeignete Präventionsmaß-
nahmen, und zwar sowohl für den Profi- als auch für den
Breitensport. Das gilt für Erwachsene, aber besonders
für Jugendliche und – bezüglich der Prävention – auch
für Kinder.

Die EU muss den Kampf gegen Korruption in Sport-
organisationen und gegen Sportwettbetrug wirksam un-
terstützen. Auch hier geht es um den Aufbau von Netz-
werken zum Austausch bewährter Maßnahmen. In
Kooperation mit den Sportorganisationen, den Sport-
wetten- und Glücksspielanbietern und den Mitgliedstaa-
ten soll ein gemeinsamer Rahmen entwickelt werden,
der gewährleistet, dass illegale Wettpraktiken verhin-
dert werden.

Last, but not least: Die europäische Sportpolitik muss
sich an den Zielen der nachhaltigen Entwicklung orien-
tieren. In der Praxis heißt dies: In Europa sollen Sport-
großveranstaltungen nur noch klimaneutral ausgerich-
tet werden. Die Sportakteure in der EU sollen dazu
ermutigt werden, am System für Umweltmanagement
und Umweltbetriebsprüfung teilzunehmen. Es sollen
Projekte entwickelt und unterstützt werden, die das Be-
wusstsein der Menschen für Umwelt- und Naturschutz
bei der Sportausübung in der freien Natur fördern und
ihnen Handlungsempfehlungen geben.

Ich kenne natürlich die Einwände gegen ein stärkeres
EU-Engagement im Sport. Dazu gehört auch der Hin-
weis auf die unterstützende und koordinierende Rolle,
die die EU in erster Linie spielen soll, und dass es hier
um Ergänzung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten
geht. Nach meiner Auffassung ist Sport aber ein so wich-
tiges Feld, dass jedes weitere Engagement willkommen
sein muss. Es ist ja offensichtlich: Die nationalen Aktivi-
täten reichen nicht aus. Deshalb mein Appell: Nutzen
wir die Möglichkeiten der EU und verstärken wir das
Engagement gegen die negativen Begleiterscheinungen
im Sport! Verbinden wir die Ideale der europäischen Ei-
nigung mit den Anliegen des Sports! Dazu ist auch ein
gut strukturierter Meinungsaustausch zwischen allen



gegebene Reden

Viola von Cramon-Taubadel


(A) (C)



(D)(B)

staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren im Sportbe-
reich der Mitgliedstaaten und in Europa sowie der Kom-
mission von großer Bedeutung. Um diese Bedeutung
auch personell zu unterstreichen, sollte auf jeden Fall
der zuständige deutsche Minister beim ersten formellen
Treffen der europäischen Sportminister am 10./11. Mai
ein klares Zeichen setzen. Er sollte zeigen, welche Be-
deutung er dem Sport in Europa beimisst. Dieses Zei-
chen wäre ganz einfach: Er müsste am Treffen der Sport-
minister teilnehmen. Bisher ist er dazu offensichtlich
nicht bereit. Das Fernbleiben des Ministers wäre ein
Fehler. Genau diesen Fehler sollte die Bundesregierung
nicht machen.

D
Dr. Christoph Bergner (CDU):
Rede ID: ID1703728000


Der Vertrag von Lissabon hat uns die lang erwartete
und nicht zuletzt vom Deutschen Bundestag immer wie-
der geforderte Kompetenz der Europäischen Union im
Sport gebracht.

Der Weg bis zu dieser Kompetenz war beschwerlich.
So wurde der Sport durch die Aufnahme der sogenann-
ten Gemeinsamen Erklärung zum Sport in das Amster-
damer Vertragswerk erstmalig in den Vertragstexten
der Europäischen Union berücksichtigt. Dieser Erklä-
rung kam aber lediglich politische Bedeutung zu. Auch
die Erklärung von Nizza, in der sich die Europäische
Union im Jahr 2000 zu sportfreundlichen Entscheidun-
gen verpflichtete, sowie die Erklärung zum Sport, die
der Europäische Rat 2008 anlässlich der französischen
Ratspräsidentschaft verabschiedete, stellten politische
Absichtserklärungen dar. Spätestens nach dem Bosmann-
Urteil bestand wiederholt die Sorge, die europäische
Rechtsprechung könnte mangels spezifischer europa-
rechtlicher Rahmensetzungen die Besonderheiten des
Sports nicht hinreichend berücksichtigen.

Mit dem von der Kommission 2007 im Anschluss an
die deutsche Ratspräsidentschaft veröffentlichten Weiß-
buch Sport hat die EU-Kommission diesbezüglich eine
wichtige Initiative ergriffen. Der Aktionsplan Pierre de
Coubertin, der mit 53 konkreten Maßnahmen aktuelle
sportpolitische Fragestellungen aufgriff, stellt einen
Versuch dar, europäische Gestaltungsräume zu öffnen.

Nun hat die Europäische Union eine Kompetenz im
Sport, und es gilt, nicht nur diese Kompetenz mit Leben
zu füllen, wie die Antragsteller richtig betonen, sondern
auch die Beachtung des Subsidiaritätsgedankens einzu-
fordern.

Dabei sollte uns klar sein, dass Art. 165 des Vertrags
über die Arbeitsweise der Europäischen Union, AEUV,
dieser lediglich eine unterstützende Kompetenz zuweist,
die keinerlei Spielraum für Harmonisierung im Recht
der Europäischen Union lässt. Die Union kann nur er-
gänzend zu den Mitgliedstaaten handeln. Sie muss also
das Subsidiaritätsprinzip und die Autonomie des Sports
beachten.

Art. 165 AEUV stellt allerdings keine generelle Aus-
nahmevorschrift für den Sport dar, die dazu führen
würde, dass die allgemeinen Regelungen des EU-Rechts
Zu Protokoll
wie die Arbeitnehmerfreizügigkeit oder das Wettbe-
werbsrecht von nun an keine Anwendung mehr auf den
Sport finden. Allerdings wird bei der Überprüfung von
Maßnahmen, die den Sport betreffen, in Zukunft ver-
stärkt auf die Besonderheit des Sports zu achten sein.
Hier gilt es, zukünftig Ansatzpunkte zu entwickeln, die
der gesellschaftlichen Bedeutung des Sports gerecht
werden.

Das Initiativrecht für Maßnahmen unter dem neuen
Sportartikel liegt bei der Europäischen Kommission.
Die Kommission hat angekündigt, im Herbst 2010 eine
Mitteilung mit dem Titel „EU-Agenda zur Politikgestal-
tung und Kooperation im Sport“ vorzulegen, die, an das
Weißbuch Sport anknüpfend, aktuelle sportpolitische
Themen festlegt, mit denen sich die Kommission befas-
sen möchte. Zudem wird sie zu diesem Zeitpunkt auch
das erste EU-Sportprogramm mit Fördermaßnahmen
für die Jahre 2012/2013 vorschlagen. In der zweiten
Jahreshälfte 2011 will die EU-Kommission dann ein
Förderprogramm für die Jahre 2014 bis 2020 vorlegen.

Zu der neuen EU-Sportagenda und dem Förderpro-
gramm für 2012/2013 hat die Kommission einen Kon-
sultationsprozess gestartet. Die Mitgliedstaaten wurden
bereits auf dem informellen Sportministertreffen, das
diesen Dienstag und Mittwoch in Madrid stattgefunden
hat, angehört. Leider konnte ich, wie die Mehrzahl mei-
ner europäischen Kollegen, aufgrund des eingeschränk-
ten Flugverkehrs an diesem Treffen nicht persönlich teil-
nehmen. Ein ausführlicher Bericht über das informelle
Ministertreffen wird dem Bundestag in Kürze zugeleitet.
Eine weitere Anhörung ist dann für den formellen Minis-
terrat am 10. Mai 2010 geplant, an dem ich voraussicht-
lich teilnehmen werde. Neben dieser Abfrage bei den
Mitgliedstaaten führt die Europäische Kommission zur-
zeit auch eine für alle offene Konsultation über die In-
ternetseite der Sport Unit durch, die noch bis 1. Juni
2010 andauert. Dies ist eine weitere Möglichkeit, die
Vorschläge der Kommission zu beeinflussen.

Die inhaltlichen Vorstellungen der EU-Kommission
im Hinblick auf die für Herbst 2010 geplanten Maßnah-
men liegen Ihnen mit dem sogenannten Non-Paper der
Kommission zur Umsetzung der neuen EU-Kompetenz
für den Sport, das dem Deutschen Bundestag mit den
weiteren Vorbereitungsunterlagen für das informelle
Sportministertreffen zugeleitet wurde, vor.

Mit der neuen EU-Sportagenda will die Kommission
folgende, in Art. 165 AEUV erwähnte Bereiche abde-
cken: erstens die soziale und erzieherische Funktion des
Sports, zweitens insbesondere auf Ehrenamt basierende
Sportstrukturen, drittens Fairness und Offenheit im
Sport, viertens die körperliche und seelische Unver-
sehrtheit von Sportlern sowie fünftens den Dialog und
Zusammenarbeit mit Interessenvertretern im Sport.

Als mögliche Prioritäten für ein Sportförderpro-
gramm 2012/2013 schlägt die Europäische Kommission
die soziale Eingliederung im und durch Sport, gesund-
heitsfördernde körperliche Betätigung, allgemeine und
berufliche Bildung im Sport, Anti-Doping, vorbildliche
Organisationsformen, den strukturierten Dialog mit der
Sportbewegung und Sportökonomie und Statistiken vor.



gegebene Reden

Parl. Staatssekretär Dr. Christoph Bergner


(A) (C)



(D)(B)

Die Bundesregierung stimmt dem Vorschlag der Eu-
ropäischen Kommission grundsätzlich zu. Allerdings
können wir zum einen den vorgeschlagenen Überwa-
chungs-, Prüfungs- und Koordinierungsmechanismus
zur Umsetzung der EU-Leitlinien für körperliche Aktivi-
tät auf EU-Ebene nicht unterstützen. Dies würde nur zu
zusätzlichem bürokratischem Aufwand führen. Zum an-
deren sehen die Bundesländer, übrigens auch die von
der SPD geführten, keinerlei Notwendigkeit für Aktio-
nen auf EU-Ebene zur Unterstützung der Rolle des
Sports in der Bildung. Es bleibt für uns ein wichtiges An-
liegen, den Kompetenzen der Länder angemessen Rech-
nung zu tragen. Es sei mir gestattet, angesichts der um-
fänglichen Forderungen in den Anträgen, auf unsere
Schwerpunkte zu verweisen:

Anti-Doping. Hier könnten wir uns als konkrete Maß-
nahmen die weitere Unterstützung eines EU-Netzwerks
der nationalen Anti-Doping-Agenturen und die Einrich-
tung einer Anti-Doping Monitoring Task Force in Eu-
ropa zur Überwachung der Entwicklung von Doping-
Substanzen vorstellen. Die Taskforce könnte mit der
WADA zusammenarbeiten. Ich weise an dieser Stelle
aber auch darauf hin, dass die europaweite Koordinie-
rung in Sachen Doping-Bekämpfung in erster Linie in
den Aufgabenbereich des Europarates fällt. Dieser ver-
fügt auch über eine eigenständige Anti-Doping-Konven-
tion, die mit 50 Mitgliedstaaten eine deutlich größere
Reichweite hat als die Europäische Union. Zudem sind
die Dopingkontrollsysteme bereits über den WADA-
Code und die dazugehörigen Standards harmonisiert.

Duale Karriere und Mobilität von im Sport Beschäf-
tigten. Eine konkrete Maßnahme wäre die Förderung
der gegenseitigen Anerkennung von Ausbildungen und
Lizenzen zwischen den Mitgliedstaaten.

Förderung des Ehrenamts im Sport. Konkret könnten
hier in Umsetzung der Studie zur Freiwilligenarbeit in
der Europäischen Union Maßnahmen zur Gewinnung
von Freiwilligen im Sport entwickelt werden.

Integration durch Sport. Die Bundesregierung wird
sich weiter dafür einsetzen, dass die Rahmenbedingun-
gen für die Teilhabe von Menschen mit Behinderung am
Sport – sei es im Breiten-, Freizeit- oder Spitzensport –
EU-weit nachhaltig verbessert werden. Dementspre-
chend halten wir es auch für wichtig, dass die UN-Kon-
vention über die Rechte für Menschen mit Behinderung
in allen Staaten der Europäischen Union auch im Sport-
bereich umgesetzt wird. Wir begrüßen daher auch, wenn
die Union Programme entwickelt und finanziert, die der
Integration von Menschen mit Behinderung dienen. –
Gleiches gilt – vor dem Hintergrund der Erfahrungen in
Deutschland – auch im Hinblick auf Projekte, die im Be-
reich des Sports die Integration von Frauen und Mäd-
chen, speziell aus Familien mit Migrationshintergrund,
fördern sollen.

Gesundheitsförderliche Bedeutung von Sport. Sport-
liche Betätigung und Bewegung im Alltag sind wesentli-
che Elemente eines gesunden Lebensstils. Mit dem Na-
tionalen Aktionsplan „IN FORM – Deutschlands
Initiative für gesunde Ernährung und mehr Bewegung“
Zu Protokoll
werden vielfältige Aktivitäten vorgenommen, die auch
im europäischen Kontext von Interesse sind.

Schließlich begrüßen wir, dass die Europäische Kom-
mission aufgrund der Besonderheit des Sports die Not-
wendigkeit für Handlungsanweisungen zu spezifischen
Themen sieht. Hier hat die Bundesregierung mit der Ka-
binettsinitiative „Sport und Wettbewerb“ die Klarstel-
lung der Anwendbarkeit des EU-Wettbewerbsrechts auf
den Sport gefordert. Die Erstellung von Leitlinien nach
Konsultation des Netzwerks der europäischen Kartellbe-
hörden, ECN, könnte als erster Anwendungsfall für den
Kommissionsvorschlag dienen.

Ich hoffe, ich konnte einen ersten Überblick über die
aktive Beteiligung der Bundesregierung an der Ausfül-
lung der ersten EU-Kompetenz im Sport geben. Ich bin
gerne bereit, in der nächsten Sitzung des Sportausschus-
ses näher auf Vorschläge einzugehen, die den Zustän-
digkeitsbereich des Bundesministeriums des Innern oft
beträchtlich überschreiten. Ich darf angesichts der lan-
gen Forderungskataloge der beiden Anträge von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen darauf hinweisen, dass es
in der Sache weniger auf die Zusammenstellung langer
sportpolitischer Stichpunktlisten als vielmehr auf eine
den Belangen des Sports förderliche Kompetenzgestal-
tung ankommt.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703728100

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf

den Drucksachen 17/1406 und 17/1420 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Auch hier frage ich, ob Sie damit einverstanden sind. –
Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 21:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel
Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt, Marieluise Beck

(Bremen), weiterer Abgeordneter und der Frak-

tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Den Europäischen Auswärtigen Dienst euro-
päisch, handlungsfähig und modern gestalten

– Drucksache 17/1204 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union (f)

Auswärtiger Ausschuss Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden auch
hier die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen zu
Protokoll genommen: Roderich Kiesewetter, Karl
Holmeier, Dietmar Nietan, Oliver Luksic, Dr. Diether
Dehm und Manuel Sarrazin.


Roderich Kiesewetter (CDU):
Rede ID: ID1703728200

Die Einrichtung des Europäischen Auswärtigen

Dienstes, EAD, ist eine großartige Gelegenheit, ganz-
heitliches und verlässliches auswärtiges Handeln der
Europäischen Union zu fördern. Kohärenz und Kontinui-
tät sind hier die Stichworte. Der EAD muss ein leis-



gegebene Reden

Roderich Kiesewetter


(A) (C)



(D)(B)

tungsfähiges und innovatives Instrument zur Unterstüt-
zung der Aufgaben der Hohen Vertreterin werden. Er
sollte auch den Präsidenten des Europäischen Rates
sowie die Kommission bei der Wahrnehmung ihrer je-
weiligen Aufgaben im Bereich der Außenbeziehungen
unterstützen und eng mit den Mitgliedstaaten zusam-
menarbeiten. Der Vertrag von Lissabon stellt die Euro-
päische Union auf ein neues institutionelles Fundament,
das die Handlungsfähigkeit Europas nach innen und au-
ßen stärkt und ihre demokratische Legitimation über das
Europäische Parlament und die nationalen Parlamente
deutlich verbessert. Die Parlamente der Mitgliedstaaten
– und damit auch Bundestag und Bundesrat – erhalten
bessere Mitwirkungsrechte gegenüber den Organen der
Europäischen Union bei der Subsidiaritätskontrolle und
bei institutionellen Entscheidungen. Ich betone das be-
sonders, weil die Entscheidung des Bundesverfassungs-
gerichts zum Vertrag von Lissabon vom 30. Juni 2009
diese demokratische Kontrolle angemahnt hat. Auch in
der Außenpolitik ist der Wille der Menschen maßgeblich
für das Handeln der Europäischen Union. Die Men-
schen in Deutschland wollen, dass die Union eine Rolle
in der Welt spielt, dass sie für unsere Werte einsteht. In
einer Umfrage, die die „BBC“ am 19. April veröffent-
licht hat, haben 76 Prozent der befragten Deutschen ge-
sagt: Die EU hat einen positiven Einfluss in der Welt. Zu
den wichtigsten institutionellen Reformen des Vertrages
von Lissabon gehört die Schaffung des Amtes eines Ho-
hen Vertreters der Union für die Außen- und Sicherheits-
politik, der zugleich Vizepräsident der Europäischen
Kommission ist, sowie Vorsitzender des Rates für Aus-
wärtige Angelegenheiten und Außenbeauftragter des
Europäischen Rates. Der Europäische Auswärtige
Dienst, EAD, unterstützt den hohen Vertreter in allen
Aufgaben. Die Hohe Vertreterin Catherine Ashton wurde
am 19. November 2009 vom Europäischen Rat für das
Amt des Hohen Vertreters der EU für Außen- und Sicher-
heitspolitik nominiert und übt diese Funktion seit dem
Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember
2009 aus. Nun gilt es, die Idee des Europäischen Aus-
wärtigen Dienstes mit Leben zu füllen. Die CDU/CSU-
Bundestagsfraktion unterstützt mit ganzer Kraft die
Schaffung eines leistungsfähigen Europäischen Auswär-
tigen Dienstes, weil damit das außenpolitische Handeln
der Union kohärenter und effizienter gestaltet werden
kann. Sie unterstützt auch die vom Europäischen Parla-
ment geforderte Anlehnung des EAD an die EU-Kom-
mission, damit das Europäische Parlament seine Kon-
trollrechte wahrnehmen kann. Wer die demokratische
Legitimation der Europäischen Union stärken will, muss
auch den diplomatischen Dienst der Union so organisie-
ren, dass die wirksame parlamentarische Kontrolle
durch das Europäische Parlament gegeben ist. Die Ar-
beiten zur Schaffung eines Europäischen Auswärtigen
Dienstes befinden sich in ihrer heißen Phase, aber Sorg-
falt muss vor Eile gehen; denn es sind noch Fragen of-
fen, die gelöst werden müssen. Hierzu gehören neben
der Anbindung des EAD vor allem die Reichweite seiner
Kompetenzen und Instrumente, die Ausbildung und
Laufbahnplanung, die Personalrekrutierung und Perso-
nalfinanzierung sowie die Klärung der künftigen Bezie-
hungen zwischen dem Auswärtigen Dienst der Europäi-
Zu Protokoll
schen Union und den nationalen Botschaften der
Mitgliedstaaten. Es wäre wenig erfreulich, wenn natio-
nale Botschaften und EAD-Vertretungen bei ihren Auf-
gaben miteinander konkurrierten, anstatt sich zu ergän-
zen. Für die Bundesrepublik Deutschland ist auch zu
gewährleisten, dass das nationale Personal nicht nur
aus den auswärtigen Diensten gewonnen wird, sondern
auf die Kompetenz auch der anderen Ressorts zurückge-
griffen wird. Zudem geht es uns um Vermeidung von
Doppelstrukturen, um Zusammenlegung statt Zersplitte-
rung von Fähigkeiten, sodass sämtliches Außenhandeln
der EU in den angesprochenen Bereichen im EAD zu-
sammengefasst ist. Aktuell befinden wir uns in der Ab-
stimmung zu vielen offenen Detailfragen, wie die Anhö-
rung am gestrigen Mittwoch gezeigt hat. Ich sage es
noch einmal: Sorgfalt muss vor Eile gehen! Wir sollten
uns aber die Grundzüge und unsere Ansprüche an den
EAD nochmals vor Augen führen, um uns nicht in den
Detailfragen zu verlieren.

Erstens: Zuständigkeitsbereich. Der EAD sollte so
aufgebaut sein, dass der Hohe Vertreter seinen im Ver-
trag festgelegten Auftrag in vollem Umfang erfüllen
kann. Zur Gewährleistung der Kohärenz und einer bes-
seren Abstimmung des auswärtigen Handelns der Union
sollte der EAD auch den Präsidenten des Europäischen
Rates sowie den Präsidenten und die Mitglieder der
Kommission bei der Wahrnehmung ihrer jeweiligen Auf-
gaben im Bereich der Außenbeziehungen unterstützen
und eng mit den Mitgliedstaaten zusammenarbeiten.

Zweitens: einheitliche Ressorts. Der EAD sollte sich
aus einheitlichen geografischen und thematischen Res-
sorts für alle Regionen und Länder zusammensetzen, die
unter der Aufsicht des Hohen Vertreters die gegenwärtig
von den zuständigen Diensten der Kommission und des
Ratssekretariats wahrgenommenen Aufgaben fortführen
müssen. Im EAD wird es zwar geografische Ressorts ge-
ben, die sich aus allgemeiner außenpolitischer Sicht mit
den Bewerberländern befassen, aber die Erweiterung
wird in der Zuständigkeit der Kommission verbleiben.
Für die Handels- und Entwicklungspolitik im Sinne des
Vertrags sollten weiterhin die betreffenden Mitglieder
und Generaldirektionen der Kommission zuständig blei-
ben, aber gemeinsam mit der Hohen Vertreterin die stra-
tegischen Ziele bestimmen.

Drittens: ESVP und Krisenbewältigungsstrukturen.
Damit der Hohe Vertreter die Europäische Sicherheits-
und Verteidigungspolitik, ESVP, leiten kann, sollten die
Direktion Krisenmanagement und Planung, CMPD, der
Stab für die Planung und Durchführung ziviler Opera-
tionen, CPCC, und der Militärstab, EUMS, Teil des
EAD sein, wobei die Besonderheiten dieser Strukturen
zu berücksichtigen sind. Ihre jeweiligen Aufgaben, Ver-
fahren und Einstellungsbedingungen sollten beibehalten
werden. Das EU-Lagezentrum, SitCen, sollte in den
EAD eingegliedert werden, aber so, dass das Lagezen-
trum auch weiterhin andere relevante Dienstleistungen
für den Europäischen Rat, den Rat und die Kommission
erbringen kann. Diese Strukturen werden eine Einheit
bilden, die der direkten Aufsicht und Verantwortung der
Hohen Vertreterin unterstellt ist. Die Ausarbeitung der
Maßnahmen im Zusammenhang mit dem GASP-Haus-



gegebene Reden

Roderich Kiesewetter


(A) (C)



(D)(B)

halt und dem Stabilitätsinstrument – Sondermaßnahmen
und Interimsprogramme – sollte dem EAD übertragen
werden. Nur so kann die Hohe Vertreterin ihre Aufgaben
im Bereich der Krisenbewältigung effektiv erfüllen.
Beim Entscheidungsprozess wird sich gegenüber der
derzeitigen Gestaltung nichts ändern, da der Rat, GASP,
und die Kommission – Stabilitätsinstrument – auch wei-
terhin die Beschlüsse fassen. Die technische Umsetzung
dieser Instrumente sollte in den Händen der Kommis-
sion liegen. Wichtig ist uns von der CDU/CSU, dass die
zivilen und militärischen Instrumente der Krisenvor-
sorge, also der Prävention, wie auch der Krisenbewälti-
gung ganzheitlich betrachtet werden. Es handelt sich um
eine „Werkzeugkiste“ im Sinne des modernen, erweiter-
ten Begriffs der vernetzten Sicherheit. Deshalb lehnen
wir den Vorschlag von Bündnis 90/Die Grünen ab, eine
eigenständige Generaldirektion ausschließlich für zivile
Krisenprävention zu schaffen. Das ist nur zusätzliche
Bürokratie und widerspricht allen Anforderungen an ein
zeitgemäßes Krisenmanagement. Hier gehören zivile
und militärische Verfahren und Fähigkeiten untrennbar
zusammen. Mit einer „Militarisierung“ der europäi-
schen Außenpolitik hat die Eingliederung der Arbeits-
einheiten für Krisenprävention und Krisenbewältigung
nichts zu tun. Wir haben auch bei der öffentlichen Anhö-
rung zum EAD im Auswärtigen Ausschuss am 21. April
gesehen: Die „Militarisierungs-Experten“ haben keine
Sachargumente, sondern nur ein Schlagwort. Die Mili-
tarisierung ist ein polemisches Schlagwort, die Praxis
sieht anders aus. In der Praxis braucht die EU die ganz-
heitliche zivile und militärische Fähigkeit, Sicherheit zu
schaffen, damit ein Konflikt durch Vermittlung ent-
schärft werden kann, Stichwort „Werkzeugkiste“. Wenn
es nach den Militarisierungsexperten ginge, könnten wir
nur zuschauen, statt einer Krise wirksam zu begegnen.

Viertens: Rechtsstellung und Personalausstattung.
Der EAD sollte einen Organisationsstatus haben, der
seine einzigartige Rolle und Funktion im EU-System wi-
derspiegelt und unterstützt. Der EAD sollte ein von der
Kommission und dem Ratssekretariat getrennter Dienst
eigener Art, „sui generis“, sein. Die notwendigen An-
passungen der Haushaltsordnung, der Kommissionsver-
ordnung über die Durchführungsbestimmungen zur
Haushaltsordnung sowie des Beamtenstatuts sollten zü-
gig umgesetzt werden. Der EAD wird sein Personal aus
drei Quellen beziehen: aus den Fachabteilungen des Ge-
neralsekretariats des Rates und denen der Kommission
sowie aus den Mitgliedstaaten. Alle drei Kategorien die-
ses Personals sollten gleichbehandelt werden, was auch
bedeutet, dass sie für sämtliche Verwendungen unter
gleichwertigen Bedingungen in Betracht kommen. Da-
mit haben sie dieselben Möglichkeiten, Rechte und
Pflichten – zum Beispiel Funktionen, Verantwortlichkei-
ten, Beförderung, Dienstbezüge, Urlaub, Sozialleistun-
gen – wie das Personal aus den beiden anderen Berei-
chen. Gerade die Gleichbehandlung des aus drei
Quellen stammenden Personals ist das Grundprinzip
der Einstellungs- und Personalpolitik des EAD. Die
Hohe Vertreterin allein nimmt die Funktion der Anstel-
lungsbehörde für das EAD-Personal einschließlich der
EU-Delegationen wahr. Auch für die Aufbauphase sollte
ein Einstellungsverfahren vorgesehen werden, an dem
Zu Protokoll
die Mitgliedstaaten, die Kommission und das General-
sekretariat des Rates beteiligt werden. Dies schafft die
nötige Transparenz. Es ist uns wichtig, darauf hinzuwei-
sen, wie bedeutsam die geografische Streuung bei der
Herkunft des EAD-Personals und auch der Grundsatz
der adäquaten Präsenz von Staatsangehörigen aus allen
EU-Mitgliedstaaten im EAD sind. Zumindest ein Drittel
des Personals des EAD soll, sobald der EAD seinen vol-
len Umfang erreicht hat, aus Bediensteten aus den Mit-
gliedstaaten bestehen. Darüber hinaus sollte, soweit
möglich, Mobilität zwischen dem EAD und der Kommis-
sion sowie dem Generalsekretariat des Rates hinsicht-
lich des Personals aus diesen Organen gewährleistet
werden. Gerade der personelle Austausch zwischen na-
tionalen auswärtigen Diensten und dem EAD erhöht die
Expertise und schafft ein besseres Verständnis für euro-
päisches und nationales Handeln. Ich sehe eine wirkli-
che Chance, dass ein europäischer „Esprit de Corps“
die europäischen Diplomaten inspiriert und motiviert.

Fünftens: zu entscheidende Fragen. A) Grundsatzfra-
gen. Die EAD ist eine Institution „sui generis“, deren
Strukturen auf ihre Rolle zugeschnitten sind und von
Kommission und Rat und auch von den Mitgliedstaaten
nicht dupliziert werden sollen. B) Beteiligung des Euro-
päischen Parlaments. Wir brauchen die parlamentari-
sche Haushaltskontrolle und zusätzlich die besonderen
im Rahmen der GASP vorgesehene Anhörung – Art. 36
EUV – bei einzelnen strategischen Entscheidungen. C)
Vertretung der Hohen Vertreterin. Offen ist, ob die Hohe
Vertreterin durch einen Generalsekretär – so Ashton-
Entwurf – oder durch als Sonderbeauftragte ernannte
politische Repräsentanten – so EP – vertreten werden
soll, insbesondere gegenüber dem EP und Drittstaaten.
Wichtig ist, dass die Vertretung im Sinne einer starken
und handlungsfähigen HV erfolgt und trotzdem ad-
äquate Ansprechpartner für Parlament, Rat und Kom-
mission gefunden werden. Hier fordern wir pragmati-
sche, vor allem effiziente Lösungen. Derzeit können wir
uns nur eine politische Stellvertretung vorstellen. Dies
sollte nicht der Generalsekretär sein, dies würde die
Stellung der Hohen Vertreterin eher schwächen. D) Auf-
gabenumfang. Der EAD sollte aus einheitlichen geogra-
fischen und thematischen Referaten bestehen, die die
zurzeit von der Kommission und vom Ratssekretariat
durchgeführten Aufgaben übernehmen: Hier gilt es, be-
reits auf der Dezernats- und Abteilungsebene zivile und
militärische Fähigkeiten zu vernetzen. Die Organisa-
tionselemente für Krisenprävention und Krisenmanage-
ment dürfen somit nicht von den Strukturen des EAD ge-
trennt sein, sondern müssen im EAD auf Arbeitsebene
zusammengeführt werden. Dies ist unsere feste Überzeu-
gung. E) Programmierung. Fraglich ist die Rolle, die
der EAD bei der Programmierung des Europäischen
Entwicklungsfonds und des Instrumentes für die Ent-
wicklungszusammenarbeit sowie für die Nachbar-
schafts- und Partnerschaftspolitik spielen soll. Je inte-
grativer, umso besser. F) Personalauswahl. Die
Mitgliedstaaten sind auf allen Ebenen des EAD ange-
messen zu berücksichtigen. Die ganzheitliche Zusam-
menarbeit zwischen geografischen und thematischen
Ressorts im EAD ist uns wichtig. Gleichzeitig gilt es, ein
spezielles Augenmerk auf die besonderen Bedingungen



gegebene Reden

Roderich Kiesewetter


(A) (C)



(D)(B)

für die Einbeziehung der Europäischen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik, ESVP, und der Krisenbewälti-
gungsstrukturen in den EAD zu richten. Es darf nicht zu
Doppelarbeit zwischen der Kommission, dem General-
sekretariat des Rates und dem EAD kommen.

Ich fasse für die CDU/CSU zusammen: Der EAD
muss nahe der Kommission angesiedelt sein, um die par-
lamentarische Kontrolle durch das Europäische Parla-
ment zu gewährleisten. Doppelstrukturen sind aus Effi-
zienz- und Kostengründen zwingend zu vermeiden. Im
Sinne des erweiterten, vernetzten Sicherheitsbegriffs
sind bereits auf Arbeitsebene die zivilen und militäri-
schen Krisenvorsorge- und Krisenbewältigungsmecha-
nismen zusammenzufassen, also: „eine Werkzeugkiste“.
Die Vertretung der HV in Angelegenheiten des EAD ist
pragmatisch und wirkungsvoll zu gestalten, es sollten
politische Vertreter in ausreichender Anzahl sein, die
auch von den nationalen Parlamenten und Drittpart-
nern, wie beispielsweise dem Golfkooperationsrat, ak-
zeptiert werden. Unser deutsches Personal sollte direkt
entsandt werden. Es sollte die gleichen Rechte und
Pflichten haben wie die originären Beamten der EU. Die
CDU/CSU-Bundestagsfraktion wird die Bildung des Eu-
ropäischen Auswärtigen Dienstes und sein Aufwachsen
aufmerksam und konstruktiv begleiten. Die Europäische
Union garantiert den Menschen in Europa seit ihrer
Gründung Frieden und Wohlstand. Die Union baut auf
Demokratie, Menschenrechte und die Grundsätze der
sozialen Marktwirtschaft. Weltweit können wir diese
Werte nur verteidigen und verbreiten, wenn die Staaten
Europas nach außen als echte Union auftreten. Europas
Diplomaten werden für 500 Millionen Bürger Europas
sprechen. Sie werden unsere Werte und Ziele weltweit
vertreten. 76 Prozent der Deutschen sagen, dass Europa
eine positive Rolle in der Welt spielt. Wie alle diese Men-
schen wollen wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion,
dass der Europäische Auswärtige Dienst die starke
Stimme Europas in der Welt wird.


Karl Holmeier (CSU):
Rede ID: ID1703728300

Mit dem Vertrag von Lissabon, auf den wir lange hin-

gearbeitet haben, wurde eine neue Ära in der Gemeinsa-
men Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen
Union eingeläutet. Wir haben mit diesem Vertrag end-
lich die Möglichkeit zu einem kohärenten auswärtigen
Handeln der Europäischen Union.

Diese Möglichkeit spiegelt sich in erster Linie in der
Funktion des neu geschaffenen Amtes des Hohen Vertre-
ters bzw. der Hohen Vertreterin der Union für die Au-
ßen- und Sicherheitspolitik wider – der Britin Catherine
Ashton. Nach dem Vertrag ist es die Aufgabe der Hohen
Vertreterin, Sorge für ein einheitliches, kohärentes und
wirksames Vorgehen der Union im Bereich der Gemein-
samen Außen- und Sicherheitspolitik zu tragen. Lady
Ashton ist damit das maßgebende außen- und sicher-
heitspolitische Gesicht Europas in der Welt.

In Anbetracht der Bedeutung dieser Funktion ist es
unerlässlich, dass Lady Ashton die maximal mögliche
Unterstützung bei der Erfüllung ihrer Aufgaben zu-
kommt. Ich begrüße daher ausdrücklich die eindeutige
Zu Protokoll
Positionierung der Bundesregierung und insbesondere
des Bundesaußenministers, der Lady Ashton wiederholt
öffentlich sein Vertrauen zugesagt und um Unterstüt-
zung für sie geworben hat. Ich verweise hier nicht zuletzt
auf seinen Besuch im Ausschuss für die Angelegenheiten
der Europäischen Union.

Um diesen bedeutsamen Auftrag auch organisato-
risch und personell bewerkstelligen zu können, sieht der
Vertrag die Einrichtung eines Europäischen Auswärti-
gen Dienstes, EAD, vor, auf den sich die Hohe Vertreterin
bei ihrer Aufgabenerfüllung stützt. Da die Organisation
und Arbeitsweise des EAD nicht durch den Vertrag
selbst, sondern durch einen Ratsbeschluss näher be-
stimmt wird, kommt diesem eine wegweisende Bedeutung
beim Aufbau der einheitlichen, kohärenten und wirksa-
men europäischen Außen- und Sicherheitspolitik zu. Hier
will gut Ding Weile haben, denn die Einrichtung eines
solch bedeutenden Dienstes zieht enorm viele Detailfra-
gen nach sich und birgt ein nicht zu unterschätzendes
Konfliktpotenzial. Es gilt, die vielen verschiedenen Inte-
ressen von Mitgliedstaaten, Rat, EU-Kommission und
EU-Parlament miteinander in Einklang zu bringen und
dabei dennoch eine starke Einrichtung zu schaffen.

Orientierungsmaßstab für die institutionelle Einbin-
dung des EAD muss dabei der Auftrag der Hohen Vertre-
terin sein; denn diese soll der Dienst letztlich stützen.
Dies zugrundegelegt, muss der EAD organisatorisch un-
abhängig von der Kommission und dem Ratssekretariat
sein. Gleichwohl darf dies nicht zu einer vollständigen
Kontrolllosigkeit des EAD führen. Um eine hinreichende
demokratische Legitimation sicherstellen zu können,
muss er vielmehr zwingend einer gewissen Kontrolle
durch das Europäische Parlament und auch durch den
Rat unterliegen. Eine Kontrolle durch den Rat sichert
letztlich auch einen Einfluss der nationalen Parlamente.
Hierauf müssen wir dringend achten, denn es geht da-
rum, die gerade erst mit dem Vertrag von Lissabon ein-
geräumten Rechte der nationalen Parlamente und des
Europäischen Parlaments nicht sofort wieder zu be-
schneiden. Wenn wir dabei nicht auf der Hut sind, be-
weisen wir, dass wir aus dem Urteil des Bundesverfas-
sungsgerichts nichts gelernt haben.

Des Weiteren muss vor der Arbeitsaufnahme des EAD
eindeutig geklärt sein, wer bzw. welche Institution zu-
gunsten des EAD welche Kompetenzen und Aufgaben
abgibt. Dies ist eine besonders schwierige Herausforde-
rung; denn freiwillig gibt so schnell keine Institution
ihre Kompetenzen ab. Genau das ist jedoch zur Vermei-
dung unnötiger Doppelstrukturen und überflüssiger Bü-
rokratie zwingend notwendig.

Dies sage ich nicht nur an die Adresse der Kommis-
sion gerichtet, sondern bewusst auch mit Blick auf die
Mitgliedstaaten. Es macht aus meiner Sicht wenig Sinn,
wenn wir zu den nationalen diplomatischen Diensten
noch einen europäischen hinzubekommen. Hier müssen
wir die sich bietenden Synergieeffekte unbedingt nutzen.
Alles andere lässt sich auch den Bürgerinnen und Bür-
gern nicht glaubhaft vermitteln. Wenn wir ernsthaft von
Bürokratieabbau sprechen, müssen wir ihn auch ernst-
haft betreiben. So ist vor diesem Hintergrund beispiels-



gegebene Reden

Karl Holmeier


(A) (C)



(D)(B)

weise fraglich, ob jeder Mitgliedstaat mehrere konsula-
rische Vertretungen in anderen Staaten haben muss oder
ob es nicht effizienter wäre, sich hier teilweise auf den
EAD zu stützen.

In diesem Zusammenhang stellt sich dann natürlich
die Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, dass das Personal
für den EAD aus den unterschiedlichen Institutionen
und den verschiedenen Mitgliedstaaten gleich behandelt
und eingesetzt wird. Es müssen sich also sowohl die
Kommission wie auch der Rat und die einzelnen Mit-
gliedstaaten personell angemessen im EAD vertreten se-
hen.

Vor dem Hintergrund der sprachlichen Vielfalt Euro-
pas ist es für eine hinreichende Legitimation des EAD
und dessen Akzeptanz in der Bevölkerung auch dringend
erforderlich, dass jeder Bürger in seiner Muttersprache
mit Vertretern des EAD in Kontakt treten kann. Eine an-
gemessene Vertretung der Interessen aller Unionsbürger
nach außen ist anders nicht möglich. Zudem muss sich
bei der Einrichtung des EAD endlich niederschlagen,
dass Deutsch die meistgesprochene Muttersprache in
der Europäischen Union ist. Ihr muss daher eine heraus-
gehobene Stellung eingeräumt werden. Es kann nicht
sein, dass verschiedene Dokumente nur in Englisch oder
Französisch verfügbar sind, sondern hier brauchen wir
eine angemessene Berücksichtigung der deutschen
Sprache.

Der EAD ist ein Dienst zur Wahrnehmung nicht nur
von außen-, sondern eben auch von sicherheitspoliti-
schen Aufgaben. In ihm werden daher zivile aber auch
militärische Aspekte gleichermaßen eine wichtige Rolle
einnehmen. Wenn es tatsächlich unser Ziel ist, einen
starken Auswärtigen Dienst zu etablieren, mit dem wir
einheitlich und geschlossen in der Welt auftreten kön-
nen, dürfen wir uns nicht auf den einen oder anderen Be-
reich versteifen. Wir müssen die zivilen und militäri-
schen Bereiche miteinander vernetzen. Wir dürfen uns
auch nicht nur auf Krisenprävention konzentrieren, wie
im Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gefor-
dert, sondern wir brauchen einen weiten Aktionsradius,
der sowohl präventive Maßnahmen wie auch Maßnah-
men zur aktiven Krisenbewältigung umfasst.

Europa steht mit der Einrichtung des EAD vor einer
bedeutenden Herausforderung. Die Pflöcke, die mit der
Einrichtung dieses Dienstes eingeschlagen werden, sind
eine entscheidende Weichenstellung für die Zukunft der
Europäischen Union, ihrer Institutionen und der Mit-
gliedstaaten. Der Deutsche Bundestag hat die schwie-
rige Aufgabe, im Hinblick auf den Ratsbeschluss sowohl
seine eigenen Interessen und Einflussmöglichkeiten si-
cherzustellen wie auch eine verantwortungsvolle Ent-
scheidung zur Etablierung eines starken Europäischen
Auswärtigen Dienstes zu treffen. Wir werden daher in
den kommende Wochen genau hinsehen und den Prozess
zum Aufbau des EAD aktiv begleiten.


Dietmar Nietan (SPD):
Rede ID: ID1703728400

Mit dem Vertrag von Lissabon und der Berufung von

Lady Catherine Ashton in das neue Amt der Hohen Ver-
treterin hat die Europäische Union zwei weitere wich-
Zu Protokoll
tige Schritte auf dem Weg zu einer Gemeinsamen Außen-
und Sicherheitspolitik, GASP, getan. Um jetzt ein noch
größeres Maß an Kohärenz zu erlangen, wird es ent-
scheidend sein, ob es der EU bald gelingen wird, den im
Lissabon-Vertrag vorgesehenen Europäischen Auswär-
tigen Dienst – kurz EAD – als einen effizienten, unab-
hängigen und loyalen Dienst der Hohen Repräsentantin
an die Seite zu stellen. Denn je länger sich der momen-
tan vorherrschende Eindruck festsetzen wird, dass die
Einrichtung des EAD eher einem Gezerre zwischen
Kommission, Rat und Mitgliedstaaten um Macht, Ein-
fluss und Posten gleicht, desto größer wird die Gefahr,
dass sich die EU weiter in einer aus globaler Sicht au-
ßenpolitisch irrelevanten Wahrnehmung verlieren wird.

Gerade jetzt ist also politische Führung in der EU ge-
fragt. Gerade jetzt bedarf es EU-Mitgliedstaaten, die
dem kleinkarierten Streit ihre eigenen, ambitionierten
Vorschläge entgegensetzen. Das wäre die Chance für
Deutschland, sich wieder als Motor der europäischen
Integration zu bewähren. Doch das, was wir bisher von
der derzeitigen Bundesregierung in der Frage des EAD
zur Kenntnis nehmen durften, ist eine einzige große Ent-
täuschung. Lediglich eine konkrete Initiative gibt es zu
vermelden: Der Bundesaußenminister ließ in einem
Brief an Lady Ashton keinen Zweifel aufkommen, dass
ihm die angemessene Verwendung der deutschen Spra-
che im zukünftigen EAD sehr am Herzen liegt. Es spricht
Bände, dass man jedoch über die – zugegebenermaßen
nicht unwichtige – Sprachenfrage hinaus in den bisheri-
gen öffentlichen Beiträgen von Herrn Westerwelle keine
weiteren ambitionierten Vorschläge für den EAD ver-
nehmen konnte.

Natürlich hat sich der Bundesaußenminister auch zu
vielen Verfahrensfragen geäußert und seine Unterstüt-
zung für Lady Ashton beteuert. Aber wo bleibt ihr An-
spruch, Herr Westerwelle, sich bei diesem wegweisen-
den Projekt um den viel gerühmten großen Wurf zu
bemühen? Wie sehen Ihre konkreten Vorschläge für
einen EAD aus, der die EU und deren Hohe Repräsen-
tantin in die Lage versetzt, dem großen Ziel einer kohä-
renten Außenpolitik näherzukommen? Für eine EU, die
zunehmend mit einer Stimme spricht, wenn es um die
großen globalen Herausforderungen wie Klimawandel,
Armut, Hunger, Unterdrückung, Terrorismus oder Ver-
breitung von Massenvernichtungswaffen geht? Herr
Bundesaußenminister, Sie reden gerne von einer ge-
meinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik
aus einem Guss. Doch wann werden Sie endlich kon-
kret?

Jetzt wäre die Zeit, eine politische Debatte zu führen
für einen EAD, der so gut strukturiert und mit den besten
Mitarbeitern aus Kommission, Rat und den Diplomati-
schen Corps der Mitgliedstaaten ausgerüstet ist, dass er
der Hohen Vertreterin nicht nur in der EU, sondern ge-
rade in der Welt sichtbar den Rücken stärkt. Jetzt und
nur jetzt finden wir Rahmenbedingen vor, die gerade da-
nach rufen, in der GASP einen großen Schritt voranzu-
gehen. Jetzt haben wir endlich die Administration in den
USA, die wir uns so lange gewünscht haben: offen für
multilaterale Ansätze, bereit zur Kooperation mit den
Europäern, ambitioniert in Fragen der Rüstungskon-



gegebene Reden

Dietmar Nietan


(A) (C)



(D)(B)

trolle und Sicherheitspolitik. Die NATO arbeitet an
neuer Strategie, in der auch die EU Mitgliedstaaten in-
nerhalb des Bündnisses eine größere Rolle spielen könn-
ten. Der russische Präsident Medwedjew zeigt großes
Interesse an neuen Initiativen für ein gemeinsames
Europa der Stabilität, Sicherheit und Kooperation. Mit
einem ambitionierten und loyalen EAD an ihrer Seite
könnte die Hohe Vertreterin Lady Ashton mit und für die
EU eine wichtige Rolle spielen, wenn es darum geht, die
große Chance zu nutzen, die EU zu einem wichtigen Ak-
teur in einem gemeinsamen Agieren mit den USA und
der Russischen Föderation zu entwickeln. Das Fenster
einer solchen einmaligen Gelegenheit wird sich mögli-
cherweise bald wieder schließen, wenn wir uns in der
EU weiter mit uns selbst beschäftigen, anstatt die Gele-
genheit beim Schopfe zu packen, die europäische Zu-
kunft zu gestalten.

Vor ein paar Tagen bin ich von politischen Gesprä-
chen mit unseren amerikanischen Freunden aus den
USA zurückgekehrt. Sie alle haben mich gefragt, was
mit der EU los sei? Viele fragten mich, ob die Bundes-
kanzlerin zu einer EU-Skeptikerin geworden sei? Und
diejenigen von ihnen, die uns durchaus freundlich ge-
sonnen sind, erklärten mitleidig, dass sie ja Verständnis
dafür hätten, dass wir in der EU noch nicht so weit
seien. Was für ein verheerendes Bild, wenn man bedenkt,
dass US-Außenministerin Clinton vor einigen Wochen
Europa sogar eine direkte Partnerschaft mit den USA in
sicherheitspolitischen Fragen angeboten hat.

Mir scheint, dass nicht nur die Bundesregierung, son-
dern auch viele andere EU-Mitgliedstaaten bei ihrem in-
nereuropäischen Geplänkel um ihren Einfluss auf den
EAD völlig übersehen, dass die Welt nicht darauf wartet,
bis sich die EU in der Lage sieht, mit einem effizienten
EAD eine kohärente Außenpolitik zu betreiben. In dieser
Situation ist es schon bitter, zu sehen, dass es ausgerech-
net der Bundesregierung an ambitionierten, aber reali-
sierbaren Konzepten fehlt, wie Europa als globaler Ak-
teur aussehen soll und welche positiv verstärkende Rolle
dabei ein gut aufgestellter EAD spielen könnte. Wo ist
Deutschlands Vorschlag, den Doppelschlüssel bei der
Programmierung der EU-Instrumente so zu gestalten,
dass das letzte Wort immer beim EAD und der Hohen
Vertreterin bleibt, wenn sich diese nicht mit dem zustän-
digen Kommissar auf gemeinsame Programmziele eini-
gen kann? Wo ist Deutschlands Konzept für eine Perso-
nalrekrutierungsstrategie, die aus Kommission, Rat und
Mitgliedstaaten die wirklich besten Kräfte in den EAD
bringt? Wir hoffen im Übrigen sehr, dass die Bundes-
regierung hier mit gutem Beispiel vorangehen wird.
Schicken Sie unsere besten Diplomatinnen und Diplo-
maten in den EAD!

Wie sieht die Initiative der Bundesregierung aus, um
einen vernünftigen Kompromiss in der Debatte über den
Personalschlüssel der aus Kommission, Rat und Mit-
gliedstaaten zu entsendenden Mitarbeiter des EAD zu
erwirken? Sollten wir nicht das große Potenzial der
Kommission und ihrer Generaldirektionen effektiver
nutzen, ohne dabei den Anspruch aufzugeben, dass der
EAD nicht lediglich zum verlängerten Arm der Kommis-
sion werden darf? Warum unterstützen Bundesregierung
Zu Protokoll
und CDU/CSU-Bundestagsfraktion nicht den guten Vor-
schlag für politisch legitimierte Stellvertreter der Hohen
Vertreterin im EAD, den ihr Parteifreund Elmar Brok
gemeinsam mit dem früheren belgischen Ministerpräsi-
denten Guy Verhofstadt vorgelegt hat? Mit unserem
deutschen Modell von Staatsministern und Staatssekre-
tären könnten sie doch auf eine erfolgreiche Alternative
verweisen.

Auf all diese Fragen wünschen sich viele Kolleginnen
und Kollegen in diesem Hause und auch ich substan-
zielle Antworten. Wahrscheinlich könnten wir zu all die-
sen Fragen sogar ein weitgehendes Einvernehmen zwi-
schen den Regierungsfraktionen und den Fraktionen von
Bündnis 90/Die Grünen und SPD herstellen. Doch wie
schon in der Frage des Beitritts von Island zur EU nutzt
die Bundesregierung die Möglichkeiten der Beteiligung
des Bundestages nur taktisch und nicht im Sinne eines
gestärkten gemeinsamen Agierens von Parlament und
Regierung. Auch dies ist wieder eine große Chance, die
Sie, Frau Bundeskanzlerin und Herr Bundesaußen-
minister, unnötig vergeben haben.

Lassen Sie mich zum Abschluss noch einmal betonen:
Mir geht es mitnichten darum, die bisherigen Entwick-
lungen im EAD schlechtzureden, ganz im Gegenteil.
Noch nie hatten wir bessere Rahmenbedingungen für
eine tiefgreifende Fortentwicklung der Gemeinsamen
Außen- und Sicherheitspolitik der EU: Wir haben den
Vertrag von Lissabon und das Amt einer Hohen Vertrete-
rin für europäische Außenpolitik ins Leben gerufen. In
den USA und in Russland gibt es den ernstgemeinten
Wunsch nach stärkerer Kooperation mit den Europäern.
Und wir alle wissen, dass dem nicht immer so war. Ein
ambitionierter, gut strukturierter EAD, der der Hohen
Vertreterin loyal zuarbeitet und mit einer hohen politi-
schen Legitimation – auch aus dem Europäischen Par-
lament – ausgestattet ist, würde angesichts dieser
Rahmenbedingungen sehr viel erreichen können. Doch
dafür bedarf es politischer Führung und politischen
Muts. Beides scheint in dieser Bundesregierung jedoch
nicht vorhanden zu sein. Beides würde ich dieser Bun-
desregierung allerdings von Herzen wünschen, weil es
gut wäre für Europa und deshalb auch gut für unser
Land.


Oliver Luksic (FDP):
Rede ID: ID1703728500

Die Einrichtung des Europäischen Auswärtigen

Dienstes unter der Leitung der Hohen Vertreterin für die
Außen- und Sicherheitspolitik bedeutet ein neues Kapitel
in der gemeinsamen europäischen Außen- und Sicher-
heitspolitik. Die FDP-Bundestagsfraktion will eine ef-
fiziente und kohärente Koordinierung der Politikfelder
der europäischen Außen-, Entwicklungs- und Verteidi-
gungspolitik. Die Einrichtung des EAD als neues außen-
politisches Instrument stellt hierfür eine einzigartige
Chance dar, die wir nicht verstreichen lassen dürfen.
Die Europäische Union soll, wo immer möglich, mit ei-
ner Stimme in der Welt sprechen können. Die FDP-Bun-
destagsfraktion steht für einen starken und schlagkräfti-
gen EAD, der die Interessen der EU nach außen
bestmöglich vertreten kann. Lady Ashton hat daher un-
sere volle Unterstützung.



gegebene Reden

Oliver Luksic


(A) (C)



(D)(B)

Der Europäische Auswärtige Dienst stellt jedoch auf-
grund seiner Stellung im europäischen politischen Ko-
ordinatensystem und der Einbeziehung verschiedener
Elemente und Aufgabenfelder eine Institution sui gene-
ris dar. Schon jetzt kann man sagen, dass es für die Zu-
kunft unvermeidbar sein wird, ihn einer ständigen Adap-
tion und Weiterentwicklung unterziehen zu müssen,
beispielsweise angesichts zukünftiger eventueller Neu-
zuschnitte der Generaldirektionen der Europäischen
Kommission.

Lassen Sie mich, bevor ich mich mit dem nun vorlie-
genden Entwurf der Hohen Vertreterin im Einzelnen be-
fasse, kurz vorwegschicken, dass die FDP-Bundestags-
fraktion es außerordentlich begrüßt, dass die Hohe
Vertreterin der Bitte des Bundesaußenministers nachge-
kommen ist und klargestellt hat, dass die deutsche Spra-
che für die Personalauswahl und das Verfassen von Do-
kumenten des EAD von großer Bedeutung sein wird.
Dies war ein besonderes Anliegen der Bundesregierung,
und die FDP-Bundestagsfraktion bedankt sich aus-
drücklich bei Herrn Minister Dr. Westerwelle für dessen
richtige und wichtige Initiative. Deutschland soll jedoch
nicht nur sprachlich, sondern auch personell im EAD
eine Rolle spielen. Angesichts der nach dem vorliegen-
den Entwurf hohen Zahlen der Beamten aus der Euro-
päischen Kommission als auch des Ratssekretariats im
EAD stellt sich für mich die Frage, wie die Bundesregie-
rung wird sicherstellen können, dass Deutschland in
ausreichendem Maße im EAD repräsentiert sein wird.
Dies ist aus der Sicht der FDP-Bundestagsfraktion ein
zentraler Punkt bei den kommenden Verhandlungen.

Es ist angesichts des komplexen Aufbaus des EAD
sehr erfreulich, dass die Hohe Vertreterin bereits Ende
März ihren Vorschlag unterbreitet und diesen nun durch
einen weiteren Annex ergänzt hat. Diese Dokumente
können nun als konkrete Grundlage für die weitere Dis-
kussion dienen. Der Entwurf der Hohen Vertreterin
zeichnet sich durch das Bemühen aus, im Sinne eines In-
teressenausgleichs möglichst viele der gemachten Vor-
schläge und Anregungen seitens der verschiedenen
Akteure zu einem kohärenten Gesamtbild zusammenzu-
fassen. Dies gilt sowohl für die personelle Struktur als
auch für die sachlichen Kompetenzen des EAD.

Meines Erachtens kommt es bei den nun folgenden
Debatten entscheidend darauf an, sicherzustellen, dass
der Europäische Auswärtige Dienst handlungsfähig ist.
Dazu müssen insbesondere seine Kompetenzen und
seine Stellung im EU-Koordinatensystem klar vereinbart
werden. Nur so wird er die mit seiner Errichtung ver-
bundenen Erwartungen erfüllen können. Insbesondere
sollten die mit seiner Schaffung möglichen und auch be-
absichtigten Synergieeffekte umfassend genutzt werden.
Insbesondere sollte vermieden werden, bereits verge-
meinschaftete Politiken in den Bereich der zwischen-
staatlichen Zusammenarbeit im Rahmen der GASP
zurückzuführen. Daneben spricht sich die FDP-Bundes-
tagsfraktion für eine flexible Ausübung konsularischer
Tätigkeiten für EU-Bürger, insbesondere was die Schaf-
fung gemeinsamer Visastellen angeht, aus. Es wird den
Bürgern nicht zu vermitteln sein, falls sie sich angesichts
eines immer enger zusammenwachsenden Europas in
Zu Protokoll
konsularischen Angelegenheiten nicht an die EU-Dele-
gationen wenden könnten. Hier sollten manche Mit-
gliedstaaten europäischer denken und handeln.

Daneben darf es auf keinen Fall dazu kommen, dass
der EAD durch ein Übermaß an Doppelstrukturen zwi-
schen den Institutionen in Brüssel in seiner Handlungs-
fähigkeit gelähmt wird. Eine realistische Einschätzung
gebietet zwar festzustellen, dass sich Doppelstrukturen
aufgrund der sogenannten Doppelhut-Funktion der Ho-
hen Vertreterin nicht vollständig vermeiden werden las-
sen. Allerdings müssen diese auf ein absolut notwendi-
ges Minimum begrenzt bleiben und dürfen nicht die
durch den Vertrag von Lissabon beabsichtigten Syner-
gieeffekte für die europäische Außen- und Sicherheits-
politik zunichtemachen. Die vorgeschlagene Doppel-
schlüsselregelung für die Zusammenarbeit zwischen der
Hohen Vertreterin und den Generaldirektionen Außen-
beziehungen und Erweiterung gehen hier in die richtige
Richtung. Die FDP-Bundestagsfraktion wird sich in den
weiteren Beratungen mit der Europäischen Kommission
und dem Europäischen Parlament nachdrücklich für
solche effektive Regelungen einsetzen.

Ich komme nun zu einigen Punkten des Entwurfs, die
in der Diskussion von besonderer Bedeutung sind und
zum großen Teil auch über Fraktionsgrenzen hinweg kri-
tisch gesehen werden.

Zuallererst muss natürlich die Finanzierung des EAD
abschließend geklärt werden. Der Entwurf schweigt sich
hierüber leider weitgehend aus. Hier gibt es noch Klä-
rungsbedarf, wie die für den EAD notwendigen finan-
ziellen Mittel bereitgestellt werden sollen.

Bezüglich der personellen Struktur des EAD sehen
auch wir insbesondere die Frage nach der politischen
Vertretung von Lady Ashton. Nach Ansicht der FDP-
Bundestagsfraktion ist eine politische Stellvertretung
der Hohen Vertreterin insbesondere gegenüber dem Eu-
ropäischen Parlament und Regierungsmitgliedern erfor-
derlich. Hier ist momentan noch viel im Fluss und unge-
klärt. Je nachdem, aus welchem Kreis die Vertreter
benannt werden sollen, stellt sich hier aus meiner Sicht
jedenfalls generell die Frage nach der politischen Legi-
timation. Natürlich bedarf die Hohe Vertreterin bei der
Erfüllung ihrer umfangreichen Aufgaben der Unterstüt-
zung aus ihrem Stab. Allerdings muss hierbei beachtet
werden, dass sich hierdurch die kompetenzrechtlichen
Koordinaten nicht zu weit verschieben. Der FDP-Bun-
destagsfraktion ist es ein wichtiges Anliegen, dass Baro-
ness Ashton die zentrale Figur für die Führung des EAD
und das Bild einer kohärenten gemeinsamen Außenpoli-
tik ist und auch bleibt.

Für dieses Ziel stellt sich auch zentral die Frage nach
einem von der Hohen Vertreterin ausgehenden einheitli-
chen Weisungsstrang. Dies gilt sowohl für die politische
Arbeit in Brüssel als auch gegenüber den in den EU-De-
legationen tätigen Beamten der Europäischen Kommis-
sion. Die FDP-Bundestagsfraktion sieht das durch den
Entwurf vorgesehene geteilte Weisungsrecht für die EU-
Delegationen äußerst kritisch. Unseres Erachtens ist es
für eine kohärente Außenpolitik unerlässlich, dass die
Weisungsstränge des EAD eindeutig verlaufen. Alle Wei-



gegebene Reden

Oliver Luksic


(A) (C)



(D)(B)

sungen, auch solche, die zunächst in den Generaldirek-
tionen der Europäischen Kommission in Bereichen der
Gemeinschaftszuständigkeit entworfen werden, müssen
durch den EAD bzw. die Hohe Vertreterin an die EU-De-
legationen erteilt werden.

Ein besonders wichtiger Punkt für die Kollegen aus
dem Europäischen Parlament, aber auch für uns hier ist
naturgemäß die Frage nach der parlamentarischen
Kontrolle des EAD. Auch hier liest sich der Entwurf aus
meiner Sicht eher vage. Ich halte es für außerordentlich
wichtig, dass hier eine vernünftige Balance zwischen
parlamentarischem Kontrollrecht einerseits und der
Funktionsfähigkeit des EAD andererseits gefunden wird.
Es ist beispielsweise richtig und notwendig, dass das
Europäische Parlament auch über das Mittel der Haus-
haltskontrolle die Verwendung der finanziellen Mittel
für und durch den EAD überwachen kann. Natürlich
steht die Hohe Vertreterin als Mitglied der Europäischen
Kommission dem Europäischen Parlament gegenüber in
Rechenschaftspflicht. Allerdings darf es nicht zu einer zu
starken Detailkontrolle kommen, die zu einer Behinde-
rung des EAD in seiner täglichen Arbeit führt. Ich freue
mich daher, dass das Europäische Parlament, beispiels-
weise was die Frage nach der Ernennung von Delega-
tionsleitern angeht, mittlerweile auf die Hohe Vertrete-
rin zugekommen ist und anstatt des ursprünglich
geforderten Zustimmungserfordernisses nun die Leiter
der EU-Delegationen nach Amtsantritt zu einer Anhö-
rung in das Europäische Parlament einladen möchte.
Für die Bereiche der Gemeinsamen Außen- und Sicher-
heitspolitik, GASP, und der Europäischen Sicherheits-
und Verteidigungspolitik, ESVP, also die nicht verge-
meinschafteten Aufgabenfelder der Hohen Vertreterin,
steht dem Europäischen Parlament gemäß Art. 36 EUV
nur ein Konsultationsrecht zu. Ich teile daher die Beden-
ken einiger Abgeordneter des Europäischen Parlaments
bezüglich der Regelung, dass jene Teile des EAD, in de-
nen die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspoli-
tik geplant und ausgeführt wird, der Hohen Vertreterin
direkt unterstellt sein sollen. Ich hielte es für besser,
wenn auch diese Politikbereiche wie die übrigen Gene-
raldirektionen in den Abstimmungsprozess einbezogen
werden würden. Wenn dies nicht der Fall sein sollte, bin
ich der Meinung, dass auch der Bundestag hier seiner
Verantwortung bei der Frage nach einer parlamentari-
schen Kontrolle nachkommen sollte.

Aus all diesen genannten Gründen glaube auch ich
nicht, dass der vorgegebene Zeitplan einzuhalten sein
wird. Es bedarf weiterer Beratungen, sowohl hier in
Berlin als auch in Brüssel. Hier sollte man sich meines
Erachtens aber nicht unter zeitlichen Druck setzen. Alle
offenen Fragen müssen ausführlich geklärt werden. Der
Zeitfaktor darf nicht wichtiger sein als die Qualität des
Ergebnisses.

Einige der von mir genannten Punkte und Bedenken
finden sich auch in dem vorliegenden Antrag der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen wieder. Die FDP-Bundes-
tagsfraktion wird die kommenden Verhandlungen über
den Aufbau des EAD weiterhin aufmerksam beobachten
und konstruktiv begleiten. Ich bin sicher, dass wir auch
Zu Protokoll
über Fraktionsgrenzen hinweg uns über einige Punkte
werden verständigen können.


Dr. Jörg-Diether Dehm-Desoi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703728600

Im Vertrag von Lissabon, Art. 27 Abs. 3 EUV, wurde

die Einrichtung des Europäischen Auswärtigen Diens-
tes, EAD, vertraglich festgeschrieben, der den Hohen
Vertreter für Außen- und Sicherheitspolitik bei der Ge-
staltung und Umsetzung einer „kohärenten“ europäi-
schen Außenpolitik unterstützen soll. Zwar spitzen sich
seit der Amtsübernahme von Catherine Ashton als Ho-
her Vertreterin weitgehend abgeschottet und unbeachtet
von der deutschen wie europäischen Öffentlichkeit die
Kontroversen über den EAD zu. Der eng gesteckte Auf-
bauzeitplan lässt sich daher nicht mehr einhalten. Den-
noch nimmt der Dienst immer schärfere – und beunruhi-
gen-de – Konturen an. Bei den Kontroversen geht es
nicht nur um Rivalitäten zwischen EU-Institutionen.
Diese spielen eine wichtige Rolle, doch geht es um
Grundsätzlicheres: Zur Debatte steht – erstens – die
politische Ausrichtung der EU-Außenpolitik. Zweitens
geht es um die entscheidende Frage der demokratischen
Kontrolle dieser zentralen EU-Behörde. Die Linke ist
der Ansicht – wie auch eine wachsende Zahl von europa-
, sicherheits- und entwicklungspolitischen Expertinnen
und Experten –, dass der Aufbau des EAD zu einer qua-
litativ neuen Stufe der Militarisierung der EU-Außen-
und Sicherheitspolitik führt. Wir sind zudem überzeugt,
dass alle derzeitigen Pläne zum EAD als funktional un-
abhängiger Einrichtung – als „Institution sui generis“ –
dem Motiv folgen, wirksame demokratische Kontrollme-
chanismen von vornherein auszuschließen. Die man-
gelnde parlamentarische Kontrolle des EAD wurde auch
von den Berichterstattern des EP wiederholt kritisiert.
Lassen Sie mich diese Punkte näher ausführen: Mit dem
Aufbau des EAD verabschiedet sich die EU endgültig
vom Selbstverständnis als „Zivilmacht“. Nach Jahren
der eher schleichenden Militarisierung – zum Beispiel
durch den Auf- und Ausbau militärischer Kriseninter-
ventionskräfte wie den EU-Battle-Groups und der zu-
nehmenden Entsendung bewaffneter Missionen im Rah-
men von Peacekeeping-Einsätzen nach Kapitel VII der
UN-Charta – bekennt sich die EU offen zum Militär als

(Sicherheitssen. Die EU verfolgt mit dem EAD das Ziel, ihre Interessen künftig „wirksamer“ und unter Einsatz aller Mittel weltweit zu vertreten bzw. durchzusetzen. Ausdrücklich werden hierzu neben diplomatischen, politischen und wirtschaftlichen Instrumenten auch Militär und Nachrichtendienste gezählt. Dies spiegelt sich im institutionellen Aufbau des EAD wider, der bestehende militärische und nachrichtendienstliche Strukturen – den EUMS, EU-Militärstab, das PSK, Politische und Sicherheitspolitische Komitee, und das Sitcen, Situation Center, – unter seinem „Dach“ vereint, um den Dienst „schlagkräftiger“ zu machen. Dadurch wird die – in Deutschland wie der EU – bisher aus gutem Grund eingezogene Trennung militärischer und nachrichtendienstlicher Institutionen aufgehoben. Es ist, vorsichtig formuliert, sehr verwunderlich, dass der Antrag der Grünen auf diesen Aspekt mit keinem Wort eingeht. In die gleiche Richtung weist die geplante Zusammenführung militärischer gegebene Reden Dr. Diether Dehm Strukturen mit denen der zivilen Konfliktbearbeitung im neuen Planungsdirektorat für Krisenmanagement, Crisis Management Directorate, CMPD. Damit gehören unabhängige zivile Einsatzplanungen der Vergangenheit an. Die Gefahr ist groß, dass Instrumente der zivilen Konfliktbearbeitung immer weniger als Alternative in politische und operative Planungen einfließen, sondern diese zum „Appendix“ militärgestützter Krisenintervention werden. Und dies ungeachtet der eindeutig negativen Bilanz zurückliegender Militäreinsätze. Vor dieser Entwicklung warnen nicht nur Friedensbewegung und kritische Friedensforschung. Sehr deutlich äußerte sich unter anderem Alain Délétroz von der International Crisis Group, einem Thinktank, der militärische Interventionen nicht grundsätzlich ablehnt: „Die Kapazität der EU zur Konfliktverhütung und zur Friedenssicherung hat [durch die Einrichtung des EAD] einen herben Schlag erlitten.“ Dies gilt auch für die EU-Entwicklungspolitik, die ebenfalls eng mit dem EAD verzahnt werden soll. Im aktuellen EU-Ratsbeschluss wird zwar die vollständige Unterstellung der Entwicklungszusammenarbeit, EZ, unter den EAD abgelehnt und eine enge Abstimmung mit der Kommission bei Programmplanung, -durchführung und -finanzierung eingefordert. Dennoch setzt sich damit programmatisch und institutionell die „Versicherheitlichung“ der EZ fort, das heißt ihre Unterordnung unter eine sicherheitspolitische und militärische Logik. Kritische Beobachter – und auch die Linke – befürchten, dass über die „Mitverantwortung“ – EU-Ratsbeschluss – des EAD und unter anderem über das Instrument der Entwicklungszusammenarbeit und den Europäischen Entwicklungsfonds es zu einer deutlichen Verschiebung der Mittelzuweisungen zuungunsten der „klassischen“ EZ kommt und immer mehr Gelder direkt oder indirekt in sicherheitsrelevante Programme fließen. Hier, wie die Grünen, nur den Ausbau präventiver und ziviler Instrumente innerhalb der vorgesehenen Strukturen zu fordern und auf „politische Kohärenz“ zu pochen, erweckt in Anbetracht der Erfahrungen mit der Nichtumsetzung entwicklungspolitischer Kohärenzgebote den Eindruck von Naivität – wenn man gutgläubig sein will. Lassen Sie mich zum zweiten Kritikpunkt kommen: dem systematischen Ausschluss demokratischer Kontrollmöglichkeiten. Dies betrifft sowohl die Beteiligung am Aufbau des Dienstes wie auch die parlamentarische Überwachung seiner Tätigkeit. Sowohl der Ashton-Vorschlag als auch der Ratsbeschluss verweisen auf die Art. 27 und 36 EUV. Doch sind dadurch weder Transparenz noch wirksame Kontrollen durch das EP gewährleistet. Bereits in der Aufbauphase sind lediglich Unterrichtungen und Anhörungen des EP vorgesehen, während das Vorschlagsrecht bei der Hohen Vertreterin und die Entscheidung bei der Kommission und – vor allem – dem Europäischen Rat liegen. Dieses strukturelle Demokratiedefizit besteht fort, wenn der EAD arbeitsfähig ist. Im letzten Ratsbeschluss findet sich kein Hinweis mehr auf Einflussmöglichkeiten des EP bei Personalentscheidungen im EAD. Und ob das Parlament über die Haushaltspolitik die Politik des Dienstes wird beeinflussen können, ist äußerst fraglich. Die parlamentarischen Rechte beschränken sich somit auf Unterrichtungen durch den Hohen Vertreter. Die Formulierung im Art. 36 Zu Protokoll EUV, nach der „die Auffassung des EP gebührend berücksichtigt“ werden soll, gibt dem Parlament keinerlei politisch bindende Instrumente an die Hand, um Planung und Arbeit des EAD wirksam beeinflussen oder korrigieren zu können. In Anbetracht der Tatsache, dass HV und EAD die programmatische Ausgestaltung und Durchführung der EU-Außenpolitik entscheidend prägen werden, ist diese mangelhafte politische „Rückbindung“ und Rechenschaftspflicht gegenüber den Parlamenten – gegenüber dem EP wie den Parlamenten der Mitgliedstaaten – ein nicht hinnehmbarer Skandal. Auch in diesem Punkt bleiben die Forderungen der Grünen an die Bundesregierung somit auf halber Strecke stehen. Eine nicht näher ausgeführte „Beteiligung“ des EP zu fordern, ist in keiner Weise ausreichend. Wir lehnen daher sowohl den EAD als auch den Antrag der Grünen ab. Die Regierungsvertreterinnen und Vertreter der EU-Mit gliedstaaten streben an, bereits am kommenden Montag eine grundsätzliche politische Einigung über die zukünftige Struktur des Europäischen Auswärtigen Dienstes zu erzielen. Ein ambitioniertes Ziel, wird doch in Brüssel und den Hauptstädten auf Hochtouren über die konkrete Ausgestaltung, Arbeitsweise, Aufgabenteilung und Personalund Haushaltsfragen gerungen. Rat und Kommission nutzen die Errichtung des EAD für Kämpfe um Macht und Einfluss und verhalten sich dabei – meiner Einschätzung nach – nicht konstruktiv. Das Wesentliche scheint dabei ein wenig aus dem Blickwinkel zu geraten. Ich will hier ganz klar sagen, dass wir Grüne in dem neuen Amt des Hohen Vertreters für die Außenund Sicherheitspolitik und dem EAD immer eine großartige Chance für eine moderne, kohärente und effektive EUAußenpolitik gesehen haben – und dies immer noch sehen! Es gibt einige grundlegende Prämissen, die der EAD unserer Meinung nach erfüllen muss, um einer europäischen Außenpolitik, wie sie Art. 21 des EU-Vertrags, EUV, beschreibt, gerecht zu werden. Der EAD muss modern, wertegebunden, effektiv und in seinem Selbstverständnis „europäisch“ sein. Europa ist eine Zivilmacht. Wir wollen eine klare Priorität des EAD auf Krisenprävention und zivile Konfliktbewältigung. Modern sein heißt für uns, den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu entsprechen: Klimawandel, Armutsbekämpfung, Umgang mit fragiler Staatlichkeit, gerechter Zugang zu natürlichen Ressourcen und die Bekämpfung von Massenvernichtungswaffen – um nur einige zu nennen – sind grundlegende Handlungsfelder dafür. Diese Herausforderungen können nur in Zusammenarbeit mit der internationalen Gemeinschaft gelöst werden. Daher erwarten wir vom EAD einen wichtigen Beitrag zur Stärkung eines effektiven Multilateralismus. Außerdem muss er sich zu den Millenniumsentwicklungszielen bekennen und die Bekämpfung von Armut und Hunger maßgeblich vorantreiben. Im Geiste „europäisch“ bedeutet für uns, dass die Hohe Vertreterin allein weisungsbefugt gegenüber allen Bediensteten des EAD sein muss. Gleichzeitig wünschen wir uns, dass sich unter den Bediensteten ein europäischer „Esprit de Corps“ entwickelt. Dafür ist wichtig, dass sich der EAD gegebene Reden Manuel Sarrazin und seine Bediensteten mit den Zielen des Art. 21 Abs.1, EUV identifizieren und sie nach außen vertreten. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass die EAD-Bediensteten bei Aufnahme ihrer Tätigkeit einen Eid auf den Vertrag von Lissabon schwören. Aber das sind bisher nur Gedankenspiele. Klar ist aber, dass alle EAD-Bediensteten dem EU-Personalstatut unterstellt sein müssen. Zudem muss der Dienst sich an seine Pflichten gegenüber dem Europäischen Parlament halten und Rechenschaft ablegen. Letztendlich kann der EAD nur effektiv, kohärent und stark sein, wenn die Hohe Vertreterin stark ist. Der Begriff der Kohärenz aus dem EU-Vertrag bedeutet für mich, dass die Interpretation der Rolle der Hohen Vertreterin einen deutlichen Mehrwert für die EU und ihr außenpolitisches Handeln bedeutet. Zudem setzten wir uns für einen finanziell eigenständig budgetierten EAD ein, der der strengen haushälterischen Kontrolle des EP untersteht. Die Aufgabenteilung zwischen EU-Kommission und EAD muss vorab eindeutig geklärt sein. Das bringt mich zu dem nun vorliegenden Vorschlag von Lady Ashton. Während im Bereich der Entwicklungspolitik mit der sogenannten Doppel-Schlüssel-Lösung eine – auf den ersten Blick – passable Lösung gefunden wurde, ist unklar, unter welche Verantwortung das Stabilitätsinstrument – das einzig wirklich schnelle Krisenreaktionsinstrument der EU – fällt. Eine Ansiedlung unter die Krisenmanagementstrukturen, so wie sie im Vorschlag von Ashton vorgesehen sind, wäre fatal. Dies ist nicht der einzige Schwachpunkt in Ashtons Vorschlag. Besorgniserregend und vollkommen kontraproduktiv ist die Sonderstellung, die die Krisenmanagementstrukturen des Rates im EAD einnehmen sollen. Ohne jegliche Anbindung an andere für diesen Bereich relevante Strukturen sollen diese Einheiten dem direkten Befehlsstrang und sogar der täglichen Koordinierung durch die Hohe Vertreterin und dem Generalsekretär unterstellt sein. Mit Sorge beobachten wir auch die angedachten Rekrutierungsvorhaben hierfür. Es spricht nichts dafür, Beamte im Krisenmanagementbereich gesondert zu behandeln. Konfliktprävention und Friedensunterstützung, das heißt Konfliktnachsorge, Wiederaufbau und Mediation, spielen im vorliegenden Entwurf keine Rolle. Krisenmanagement wird somit einseitig auf militärische Strukturen reduziert. Das ist weder dem EUV noch den Anforderungen an eine moderne Außenpolitik angemessen. Stattdessen fordern wir die Einrichtung einer Generaldirektion „Peace-Building and Civilian Crisis Management“ im EAD, unter der sich die oben genannten Krisenmanagementstrukturen einordnen. Offen ist auch die Frage nach der politischen Vertretung der Hohen Vertreterin. Unsere Kolleginnen und Kollegen in Brüssel fordern zu Recht eine politische Verantwortung vor dem Europäischen Parlament. Kritisch betrachten wir auch die machtvolle Stellung des Generalsekretärs im Vorschlag von Frau Ashton. Diese Machtposition würde ermöglichen, dass sich dieser zum eigentlichen Strippenzieher entwickelt und die Hohe Vertreterin zur Marionette verkommt. Eine weitere Gefahr besteht in dem Versuch einiger Mitgliedstaaten, bereits vergemeinschaftete Politikbereiche über den Umweg des EAD zurückzuerobern. Diese sich abzeichnende Tendenz einer Rückabwicklung von gemeinschaftlichen in zwischenstaatliche Strukturen stellt eine komplette Fehlentwicklung dar. Der EAD und die Hohe Vertreterin bedeuten einen Fortschritt in der europäischen Integration, und das muss sich auch in der konkreten Umsetzung widerspiegeln. Mit unserem Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, dafür zu sorgen, dass der EAD wirklich modern, wertegebunden und europäisch wird. Verhindern Sie, dass die EU dem Vorwurf ausgesetzt wird, sie würde ihre Rolle als Zivilmacht im EAD verkennen! Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf Drucksache 17/1204 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Wie ich sehe, sind Sie damit einverstanden. Die Überweisung ist somit beschlossen. Ich rufe den Tagesordnungspunkt 22 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Gerold Reichenbach, Dr. Eva Högl, Gabriele Fograscher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD Neues SWIFT-Abkommen nur nach europäischen Grundrechtsund Datenschutzmaßstäben – Drucksache 17/1407 – Überweisungsvorschlag: Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Auch hier wurde bereits in der Tagesordnung ausgewiesen, dass die Reden folgender Kollegen zu Protokoll gegeben werden: Clemens Binninger, Gerold Reichenbach, Jimmy Schulz, Jan Korte und Dr. Konstantin von Notz. Das Europäische Parlament hat am 11. Februar 2010 gegen das SWIFT-Abkommen gestimmt, das die EU-Innenund Justizminister im November 2009 unterzeichnet haben. Deshalb ist es jetzt notwendig geworden, ein neues Abkommen mit den USA zu verhandeln. Die Kommission hat hierzu im März einen Entwurf für das neue Verhandlungsmandat formuliert, der seither mehrfach überarbeitet und nachgebessert wurde. Der JI-Rat soll das Mandat morgen beschließen, sodass die Verhandlungen mit unseren amerikanischen Partnern aufgenommen werden können. Dass Zahlungsverkehrsdaten ein zentraler Ansatzpunkt bei der Aufklärung der Terrorfinanzierung sind und dazu beitragen, terroristische Netzwerke zu identifizieren, steht außer Frage. Auch, dass wir dabei der Kooperation mit unseren Partnern bedürfen, dürfte unstrittig sein. Genauso dürfte es auch Konsens in diesem Hause sein, dass wir dabei bestmögliche Datenschutzstandards und Vorkehrungen gegen den Missbrauch von Daten brauchen und sicherstellen müssen. Das war die Position der Koalition in der vergangenen Legislaturperiode, und das ist auch die Position der christlich-liberalen Koalition. Der Bundesinnenminister hat beim Be Clemens Binninger schluss zum SWIFT-Abkommen im vergangenen Jahr großen Wert darauf gelegt. Er hat in den aktuellen Gesprächen zum neuen Verhandlungsmandat zahlreiche Verbesserungen in Bezug auf den Datenschutz erreicht, und auch in den bevorstehenden Verhandlungen mit den USA wird der Datenschutz ein zentrales Anliegen sein, zentral für die europäische Seite wie auch für unsere amerikanischen Partner. Der Antrag der SPD zum Verhandlungsmandat, der heute vorgelegt wird, enthält indes nicht viel Neues. Eine ganze Reihe von Forderungen wurde schon auf Basis des alten Abkommens berücksichtigt, etwa die enge Beschränkung auf Zwecke der Terrorismusbekämpfung, das Vorliegen eines begründeten Verdachts, das Verbot von Data-Mining, kein Zugriff auf Daten von sogenannten SEPA-Zahlungen. Diese und weitere Datenschutzvorkehrungen waren bereits in der Vergangenheit Gegenstand der Zusammenarbeit der EU mit den USA in diesem Feld. Unter anderem 2007 haben die Vereinigten Staaten solche wesentlichen Zusicherungen zum Datenschutz gemacht. Diese Zusicherungen wurden seinerzeit von der EU begrüßt. Peer Steinbrück hat als Vertreter des Rates der EU seinerzeit zusammen mit Kommissionsvizepräsident Frattini dem US-Finanzministerium ausdrücklich für die Kooperation in Sachen Datenschutz und Datensicherheit gedankt. In ihrem Schreiben – im Amtsblatt der EU nachzulesen – formulieren sie: Wir danken Ihnen für Ihre Mitwirkung in dieser Frage; sie zeigt, wie sehr wir gemeinsam entschlossen sind, die bürgerlichen Freiheiten zu wahren, den Terrorismus zu bekämpfen und für ein reibungsloses Funktionieren des internationalen Finanzsystems zu sorgen. Das ist der Weg, den wir auch in Zukunft gemeinsam mit den Vereinigten Staaten als Partner beschreiten werden – Bekämpfung des Terrorismus, verbunden mit dem Schutz von Daten und bürgerlichen Freiheiten. Ich warne davor, zu unterstellen, die Amerikaner hätten kein Interesse an Datenschutzfragen. Gerade beim Datenschutz, der ja auch im Mittelpunkt des SPD-Antrages steht, wurden in Kooperation mit den Vereinigten Staaten wesentliche Fortschritte erreicht. Schauen wir uns doch einmal die Entwicklung in diesem Bereich an. Erst gab es – zu Regierungszeiten von Rot-Grün – überhaupt kein Abkommen, keine konkreten Regelungen, was die Abfrage von Bankdaten zur Terrorbekämpfung anging. Ein großer Fortschritt waren dann die Zusicherungen zum Datenschutz, die die USA unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft 2007 gemacht haben. Dazu gehörte auch, dass der französische Richter Bruguière im Auftrag der EU als unabhängige Persönlichkeit die Einhaltung der Zusicherungen vor Ort in den USA überprüft hat. Zu seinem Auftrag gehörte auch, den Nutzen des US-Programms für die Terrorismusbekämpfung und die Sicherheit auch in der EU zu bewerten. Er legte seinen ersten Bericht 2008 vor, in dem er in beiden Punkten – Datenschutz und Nutzen – zu einem positiven Fazit kommt und gleichzeitig zusätzliche Empfehlungen für die weitere Verbesserung des DatenZu Protokoll schutzes macht. Seit dem Januar 2010 liegt jetzt der neue Bruguière-Bericht vor, der unterstreicht, dass zusätzliche Verbesserungen in Sachen Datenschutz von amerikanischer Seite umgesetzt wurden und dass die Zusammenarbeit mit den USA bei der Nutzung von Zahlungsverkehrsdaten auch weiterhin von großer Bedeutung bei der Bekämpfung des internationalen Terrorismus ist. Bei aller Kritik, die es in Deutschland in den letzten Monaten gab, gilt es auch, diese unabhängige Einschätzung eines angesehenen Fachmanns anzuerkennen. Das 2009 geschlossene SWIFT-Abkommen, das jetzt nicht mehr zur Anwendung kommt, hatte umfassende und verbindliche Datenschutzstandards festgeschrieben. Ich bin sicher, dass wir auch mit dem neuen Verhandlungsmandat, über das wir hier debattieren, ein hohes und noch weiter verbessertes Datenschutzniveau erreichen werden. Hier wurde schon im Vorfeld bei den Mandatsverhandlungen Wichtiges erreicht. Deutschland hat sich bei den Verhandlungen aktiv und sehr erfolgreich eingebracht. Zahlreiche deutsche Nachbesserungsvorschläge wurden im aktuellen Mandatsentwurf bereits aufgegriffen. Ganz besonders weise ich auf die Forderungen hin, die Innenminister de Maizière beim JI-Rat am 25. Februar vorgegeben hat: Beschränkung der an die USA zu übermittelnden Daten, strikte Zweckbindung der Daten, Beschwerdemöglichkeiten und gerichtlicher Rechtsschutz für die Betroffenen. Eine weitere zentrale Forderung wurde zumindest teilweise aufgegriffen, nämlich die Forderung, die Daten über einen kürzeren Zeitraum aufzubewahren. Der Kommissionsvorschlag sah hier ursprünglich in Übereinstimmung mit der bisherigen Regelung und den Aufbewahrungsfristen der Banken nach internationalen Standards eine Höchstspeicherdauer von fünf Jahren vor. Auf unsere Forderung hin wurde – zusätzlich zu dieser absoluten Höchstgrenze – ergänzt, dass die Speicherdauer im Abkommen „so kurz wie möglich“ angelegt sein soll. Das sind greifbare Verbesserungen im Mandatsentwurf, die mit Blick auf den vorliegenden Antrag auch die SPD-Fraktion begrüßen dürfte. In diesem Zusammenhang möchte ich vor einem Punkt warnen: Wir dürfen uns nicht der Illusion hingeben, dass wir beim Datenschutz das Bestmögliche erreichen können, wenn wir nur mit möglichst weitgehenden Forderungen in die Verhandlungen gehen. Das gerade ist nicht der Fall. Wir isolieren uns dann vielmehr zunehmend von unseren Partnern in der Europäischen Union, und am Ende haben wir dann selbst bei denjenigen erhebliche Probleme, mit denen wir uns gemeinsam für bessere Datenschutzstandards beim SWIFT-Abkommen einsetzen. Deshalb wäre es sehr problematisch, wenn wir – wie der SPD-Antrag empfiehlt – fordern würden, nur deutsche Datenschutzmaßstäbe und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als Standards in das Verhandlungsmandat einzubringen. Wie soll Deutschland seinen Partnern in der EU erklären, dass gerade die deutschen Standards das Maß aller Dinge sein sollen? Für das Abkommen zwischen der EU und den USA kann nicht allein deutsches Recht der gegebene Reden Clemens Binninger Maßstab sein, sondern EU-Recht. Alleingänge in diesem Bereich verhindern mehr, als dass sie am Ende nutzen. Ich möchte dem Bundesminister des Innern und dem Ministerium ausdrücklich für eine kluge Verhandlungsführung danken, mit der deutliche Verbesserungen beim Mandat zustande kommen werden und gleichzeitig eine vernünftige und erfolgversprechende Basis für die Verhandlungen mit den USA erreicht wird. Die Bundesregierung hat in ihren Koalitionsvertrag geschrieben: Bei den Verhandlungen zum SWIFT-Abkommen werden wir uns für ein hohes Datenschutzniveau … und einen effektiven Rechtsschutz einsetzen. Dass daraus nichts geworden ist, haben wir erlebt. Am 30. November 2009 unterzeichneten die europäischen Innenund Justizminister das SWIFT-Abkommen. Mit einer Enthaltung der deutschen Bundesregierung bei der Abstimmung wurde erst die Annahme des Abkommens im Rat ermöglicht, obwohl es den in der schwarz-gelben Koalitionsvereinbarung genannten Voraussetzungen für eine Zustimmung nicht genügte. Zum Glück war für das Inkrafttreten des Abkommens jedoch die Zustimmung des Europäischen Parlaments erforderlich, welches – nebenbei gesagt – viel zu spät in den Verhandlungsprozess einbezogen worden war; auch der Deutsche Bundestag wurde ja erst in einem späten Stadium informiert. Das Nein des EU-Parlaments am 11. Februar 2010 zum SWIFT-Abkommen stellt für Bundesinnenminister de Maizière und die gesamte schwarzgelbe Koalition eine Klatsche dar; denn wenn die Bundesregierung zu ihrer Enthaltung feststellt, dass Grundrechte nicht genügend geschützt sind, wäre es ihre Pflicht gewesen, das Abkommen zu verhindern. Die Entscheidung des EU-Parlaments, dieses zusammengeschusterte Abkommen abzulehnen, ist richtig und ein Sieg für den Schutz der Bürgerrechte in Europa gewesen. Dennoch bleibt die Zusammenarbeit mit den USA im Kampf gegen den Terrorismus wichtig. Das rechtfertigt aber nicht die schrittweise Aushebelung von Grundrechten europäischer Bürger. Jetzt hat die Europäische Kommission am 24. März 2010 einen Entwurf für ein Verhandlungsmandat zu SWIFT vorgelegt. Mit dem neuen Verhandlungsmandat wird sich der EU-Ministerrat am 23. April 2010, also morgen, befassen. Der Antrag der SPD-Fraktion ist somit ein Hilfsangebot für die Bundesregierung und ihre Bundesminister de Maizière und LeutheusserSchnarrenberger. Er ist aber auch ein Glaubwürdigkeitstest für die FDP. Wir wollen der Bundesregierung dabei helfen, dass die Bundesjustizministerin mit ihrer Meinung nicht wieder über Europa ausgehebelt wird. Darum, und auch weil wir der verstärkten Verantwortung, die der Vertrag von Lissabon und wir als Gesetzgeber dem Parlament gegeben haben, gerecht werden sollen! Zu Protokoll Mit dem Vertrag von Lissabon wurden die beiden Bereiche Innenund Justizpolitik vergemeinschaftet und es wurde erreicht, dass das Europäische Parlament endlich mitentscheiden darf. Die Unterzeichnung des ersten SWIFT-Abkommens missachtete das Europäische Parlament, und das Ganze einen Tag vor Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags! Man muss es sich noch einmal vor Augen führen, dass der Bundesinnenminister und die Bundesjustizministerin zwei unterschiedliche Meinungen vertreten haben – diese vertraten sie leider nur unverbindlich in der Presse, nicht aber hier im Parlament. Dass eine Enthaltung bei der Entscheidung einer Zustimmung gleichkommt, das wusste jeder. Bundesinnenminister de Maizière sagt, dass ein nicht vollständig befriedigendes Abkommen besser für die Bürger sei als kein Abkommen, Bundesjustizministerin Leutheusser-Schnarrenberger sagt im Gegensatz, dass diese Entscheidung Millionen von Bürgerinnen und Bürgern in Europa verunsichert. Ja, wo ist denn da der rote Faden der Bundesregierung, wo sind die vorlauten Aussagen der FDP hin? Aus den eigenen Reihen haben sowohl Union als auch FDP herbe Kritik vernehmen müssen, aber nicht nur von den eigenen Parteifreunden, auch der zentrale Kreditausschuss, der BDI und viele mehr kritisierten das von ihnen vorangetriebene Datenschutzdumping. Und nachdem das Abkommen durch eine große und fraktionsübergreifende Mehrheit im Europäischen Parlament abgelehnt wurde, herrscht das gleiche Bild. Die Bundesjustizministerin jubelt geradezu auf ihrer Homepage mit der Stärkung für die Demokratie und den Datenschutz in Europa, auf der des Innenministers kein Wort zu der Entscheidung. Dazu fällt mir nur ein: Mit Zank und Streit kommt man nicht weit! Mit unserem heutigen Antrag wollen wir sichergehen, dass das neue SWIFT-Abkommen nur nach europäischen Grundrechtsund Datenschutzmaßnahmen zustande kommt. Sowohl die Justizals auch die Innenminister der Europäischen Union stehen in der Pflicht, sowohl Transparenz, einen effektiven Rechtsschutz und eine enge Begrenzung der Zwecke als Leitlinien zu verankern. Für die anstehenden Verhandlungen muss gelten, dass der Staat die Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger zu schützen hat. Doch muss er dabei grundrechtliche und menschenrechtliche Garantien beachten, also insbesondere den Datenschutz. Wir fordern die Bundesregierung daher mit unserem Antrag auf, dass sie ihre Zustimmung zum Verhandlungsmandat wie auch zu einem Abkommen davon abhängig macht, dass die Regelungen datenschutzrechtlichen Maßstäben genügen. Neben den genannten Punkten von Transparenz und Rechtsschutz fordern wir eine genaue und abschließende Begrenzung nach Art und Umfang der zu übermittelnden Daten, das Verbot der Übermittlung an Drittstaaten sowie Löschungsund Berichtigungsansprüche. Außerdem müssen der Ratifizierungsbedarf geklärt und der Bundestag fortlaufend unterrichtet werden. Dies gilt auch für die weiteren Verhandlungen. Das Abkommen gegebene Reden Gerold Reichenbach und eventuelle Anhänge sind der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Von meinen sozialdemokratischen Kollegen aus dem Europaparlament höre ich, dass – und da kann ich meinen Kollegen nur zustimmen – das Problem des massenhaften Datentransfers und der zu langen Speicherzeiten im neuen Verhandlungsmandat nach wie vor ungelöst und einfach nur unzureichend ist. Ebenso fehlen strikte Auflagen, die die Weitergabe der Daten an Drittstaaten regeln. Es kann nicht sein, dass Millionen Daten von Bürgern einfach an die USA weitergegeben werden und diese dann auch noch fünf Jahre gespeichert werden sollen. Wir fordern in unserem Antrag die Löschung der übermittelten Daten spätestens nach Ablauf eines Jahres; wenn die Daten für die festgelegten Zwecke nicht erforderlich sind, fordern wir eine unverzügliche Löschung. Im Großen und Ganzen kann man sagen, dass dem vorliegenden Mandatsentwurf so auf europäischer Ebene wieder nicht zugestimmt werden kann. Eines darf man einfach auf keinen Fall vergessen: Ein neues Abkommen zur Übermittlung von Bankdaten an die USA muss unbedingt bestimmte Mindestanforderungen des Datenund Rechtsschutzes sicherstellen. Nicht umsonst hat Anfang März das Bundesverfassungsgericht die anlasslose Speicherung von Telekommunikationsdaten durch den Staat gekippt – obwohl diese Daten nur sechs Monate bis zwei Jahre lang aufbewahrt werden sollten. Da auch bei SWIFT umfangreiche Datenpakete ohne konkreten Verdachtsansatz gesammelt werden sollen, kann man eindeutige Parallelen zur Vorratsdatenspeicherung sehen. SWIFT wäre somit ein guter Kandidat für Verfassungswidrigkeit, wenn eine fünf Jahre lange Speicherung vereinbart wird. Abstriche bei den Datenschutzbestimmungen darf es im Verhandlungsmandat nicht geben. Dafür steht die SPD, dafür steht unser Antrag! Verehrte Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, bekennen Sie Flagge für den Datenschutz, und schauen Sie sich auch einmal an, was Ihre Kolleginnen und Kollegen aus Bayern und Thüringen als Antrag in den Bundesrat eingebracht haben! Dieser ist der SPD zwar nicht konkret und ausführlich genug; aber es zeigt Ihnen den richtigen Weg auf. Nur mit einem ehrgeizigen Mandat kann Europa auf Augenhöhe mit den USA verhandeln und den massenhaften Datentransfer zukünftig unterbinden. Die gestiegene Verantwortung unseres Parlaments durch die Verträge von Lissabon, die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes und unsere eigene Gesetzgebung dazu macht es geradezu zwingend notwendig, dass der Deutsche Bundestag den deutschen Einfluss auf das Verhandlungsmandat und die Verhandlungen zu einem neuen SWIFT-Abkommen nicht den Zufälligkeiten des Koalitionsgerangels in der Bundesregierung überlässt, sondern der Bundesregierung klare Vorgaben macht. Ich kann Sie deshalb nur auffordern, unserem Antrag in den Beratungen zu folgen und den darin enthaltenen Zu Protokoll Forderungen im Interesse des Schutzes der Bürgerrechte Geltung zu verschaffen. Die USA sind unser wichtigster Partner im Kampf ge gen den Terrorismus. Um in diesem Kampf erfolgreich zu sein, ist die Kooperation zwischen den Partnern äußerst wichtig. Aber auch diese Kooperation hat ihre Grenzen. Wenn Kooperation heißt, Bürgerrechte aufs Spiel zu setzen, dann ist sie an dieser Stelle nicht zielführend. Denn dann fördern wir den Kampf nicht, sondern haben ihn bereits verloren. Das neue Verhandlungsmandat für ein neues SWIFTAbkommen, das am Freitag im Rat der EU-Innenund Justizminister verabschiedet werden soll, bedeutet potenziell die Übermittelung von Millionen Daten von EU-Bürgern. Das ist keine leichte Sache und muss sehr ernst genommen werden. Wie bei jeder Maßnahme zur Terrorismusbekämpfung müssen Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit geprüft werden. Die Anforderungen, die das europäische Recht in diesem Zusammenhang stellt, sind von höchster Wichtigkeit und müssen eingehalten werden. Das neue Mandat, das die Kommission am 24. März vorgestellt hat, stellt gegenüber dem vom Parlament abgelehnten Interimsabkommen eine erhebliche Verbesserung dar. Wir sind froh, dass zum Beispiel der Terrorismusbegriff an die Definition in Art. 1 des Rahmenbeschlusses, 2002/475/JI, angeglichen ist und dass SEPADaten ausgeschlossen sind. Trotz dieser Verbesserungen ist das Mandat aber weiterhin unzureichend und enthält noch verschiedene besorgniserregende Eingriffe in Bürgerrechte. Der Transfer von Millionen Daten unbeteiligter Bürger in großen Datenpaketen ist inakzeptabel. Es kann nicht sein, dass aufgrund eines einzelnen Verdachtsfalls die Kontobewegungen Hunderter oder Tausender ausgeliefert werden! Der Grund dafür ist, dass SWIFT die Datenpakete weder öffnen noch lesen kann. Aber dennoch können wir solche technischen Gründe nicht akzeptieren, denn der Transfer dieser großen Pakete kann im Nachhinein nicht mehr berichtigt werden. Aufsicht und Kontrolle kommen zu spät, wenn das Datenschutzrecht schon verletzt ist. Weiterhin sollen natürlich möglichst wenig Daten übermittelt werden, und jede Übermittlung muss an eng gesteckte Bedingungen geknüpft sein. Die Daten müssen auf europäischer Seite kontrolliert und nicht explizit angeforderte Daten müssen aussortiert werden. Damit diese Kontrolle europäischem Recht unterfällt, sollte mit diesen Aufgaben eine europäische Behörde betraut werden. Eine solche Behörde muss hinsichtlich ihrer rechtlichen Aufsichtsfähigkeiten klar definiert sein. Weiterhin sind die vorgesehenen Sperrfristen in keiner Weise akzeptabel. Die Speicherfrist soll unter Berücksichtigung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsverbindungsdaten auf deutlich weniger als fünf Jahre begrenzt werden. gegebene Reden Jimmy Schulz Außerdem brauchen wir strikten Datenwie auch Rechtsschutz. Schließlich geht es um europäische Bürger, und wir dürfen keine Regelungen akzeptieren, die europäische Standards unterschreiten. Das bedeutet Transparenz im Sinne von Information über Daten, Korrektur unrichtiger Daten, Löschung und Entschädigung für zu Unrecht betroffene Bürger. Sehr wichtig ist zudem die Gewährung effektiven Rechtsschutzes vor US-Gerichten. Schließlich dürfen Daten nur dann an Drittstaaten weitergegeben werden, wenn dort erstens ein vergleichbares Datenschutzniveau herrscht und zweitens eine spezifische Anfrage gestellt wird. Keinesfalls denkbar ist eine anlasslose Weitergabe der Daten. Völlige Transparenz ist unabdingbar. Das gesamte Abkommen muss publiziert werden, geheime Anlagen darf es nicht geben. Weiterhin muss eine regelmäßige Überprüfung stattfinden zusammen mit Vertretern von Datenschutzbehörden der Mitgliedstaaten. Es ist zu evaluieren, wie die Daten genutzt werden und inwiefern die Datensammlung für den Kampf gegen den Terrorismus überhaupt zweckmäßig ist. Der Antrag der SPD enthält einige wichtige Ziele; von diesen hat Frau Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger in den momentanen Verhandlungen allerdings wesentliche bereits erreicht. Interessant ist an dieser Stelle Folgendes: Die Verhandlungen über das SWIFT-Abkommen wurden unter deutscher Ratspräsidentschaft 2007 vom damaligen SPDFinanzminister Steinbrück aufgenommen, zum Zeitpunkt der Bundestagswahl waren sie bereits weitestgehend abgeschlossen. Wir hätten uns also viel Mühe ersparen können, wenn die SPD in den Verhandlungen seinerzeit ein paar von ihren eigenen Zielen aus dem jetzt vorgelegten Antrag durchgesetzt hätte. Leider war die SPD damit nicht sehr erfolgreich. Die Justizministerin hat in den letzten Wochen mehr geschafft als die SPD in zwei Jahren. Zum Schluss noch einmal das Entscheidende: Wir dürfen nicht abweichen von dem, was wir im Koalitionsvertrag beschlossen haben, nämlich ein hohes Datenschutzniveau im SWIFT-Abkommen! Ich habe großes Vertrauen in unsere Justizministerin, Frau LeutheusserSchnarrenberger, dass sie sich durchsetzt und damit dafür sorgen wird, dass nichts Geringeres als die Sicherheit der Daten unserer Bürger bewahrt wird. Wäre das SWIFT-Abkommen, über das wir heute re den, schon vorher öfter ein Thema im Parlament gewesen, dann wäre vielen Leuten viel Arbeit erspart worden. Tatsächlich ist das Abkommen durch die EU-Innenund Justizminister ohne Konsultation des Europaparlaments entstanden und von diesem, als es dann mitentscheiden durfte, sofort einkassiert worden – zu Recht, wie wir finden. Ich freue mich, dass das EU-Parlament mit deutlicher Mehrheit dafür gesorgt hat, diesen schwerwiegenden Eingriff in die Freiheitsund Grundrechte aller EUBürgerinnen und Bürger zu beenden. Dem massiven Druck der USA und einiger EU-Mitgliedsländer haben sich die EU-Parlamentarier nicht gebeugt, sondern sie haben sich für die Rechte der Bürgerinnen und Bürger der EU und gegen die Fortsetzung des Marsches in den Zu Protokoll Überwachungsstaat ausgesprochen. In ihrer Durchsetzungsfähigkeit unterscheiden sie sich damit deutlich von der FDP, die es nicht einmal schaffte, den Innenminister dazu zu bewegen, die Koalitionsvereinbarung umzusetzen. Bürgerrechtspartei FDP? – Fehlanzeige! Nach der Ablehnung durch das Europaparlament wird nun fleißig daran gearbeitet, das SWIFT-Abkommen halbwegs an existente Datenschutzrichtlinien der EU anzupassen. Da kann man sich so viel Mühe geben, wie man will: Das SWIFT-Abkommen wird eine Datensammlung auf Vorrat bleiben. Immer noch würden vertrauliche Bankdaten aller EU-Bürgerinnen und Bürger verdachtsunabhängig auf Vorrat gespeichert. Dieses Vorgehen ist nicht verhältnismäßig; das sehen nicht nur wir so. Zur Verhältnismäßigkeit von Vorratsdatenspeicherungen hat das Bundesverfassungsgericht bereits mehr als deutliche Worte gefunden, die man nicht einfach übergehen sollte. Ein weiterer Punkt, den die Linke kritisiert, ist die bis heute nicht belegbare Notwendigkeit des SWIFT-Abkommens. Bis heute wurde von keiner unabhängigen Stelle überprüft, wie effektiv das Abkommen im Kampf gegen den Terror ist, wie viele Terrornetzwerke damit aufgespürt wurden, ob Anschläge damit verhindert werden konnten oder ob in irgendeiner Form die Terrorgefährdung seit der Abfrage von Bankdaten bei SWIFT minimiert wurde. Das Gegenteil ist offenbar der Fall: Noch vor nicht allzu langer Zeit hat Bundesinnenminister Thomas de Maizière erklärt, das SWIFT-Abkommen bringe mehr Sicherheit bei der Terrorbekämpfung. Dabei hat er sich ganz sicher nicht auf das BKA als Quelle berufen. Dieses kam zu dem Schluss, dass zur Bekämpfung politisch motivierter Kriminalität „kein fachlicher Bedarf bzw. kein operatives Interesse an der Nutzung des SWIFT-Datenbestandes zum Zwecke einer systematischen anlassunabhängigen Recherche“ bestehe. Das interne BKA-Papier, das von mehreren Medien zitiert wurde ging sogar noch weiter: Die aus fachlicher Sicht zu erwartenden Erkenntnisse aus einem systematischen und umfangreichen Abgleich der SWIFT-Daten rechtfertigen – zumindest für den Bereich der Finanzierung des Terrorismus – aus hiesiger Sicht nicht den mit der Datenrecherche verbundenen erheblichen materiellen und personellen Aufwand. Aber in den aktuellen Verhandlungen und in der Positionierung der Bundesregierung spielt dies offenbar keine Rolle. Zur Überprüfung der Verhältnismäßigkeit wäre eine Evaluation von unabhängiger Seite dringend geboten. Lassen Sie mich noch einige Worte zum Antrag der SPD verlieren. Man könnte bei Lektüre des Antrages denken, die SPD habe in der Opposition den Datenschutz wiederentdeckt. Das klingt alles erst einmal schön und gut. Doch die Vorratsdatenspeicherung bleibt erhalten, und die Sinnhaftigkeit eines neuen SWIFT-Abkommens wird auch nicht hinterfragt. Auch Informationspflichten in eine neue Regelung einzubringen, nutzt den Betroffenen nichts, wenn sie den Schaden schon haben. Das bisherige Verfahren, angefangen von gegebene Reden Jan Korte der SWIFT-Datenabfrage durch US-Behörden nach dem 11. September 2001 bis hin zu den mit der EU geschlossenen Abkommen, war nicht nur intransparent, sondern entsprach weder nationalen noch europäischen Datenschutzbestimmungen. Die SPD muss sich meiner Meinung nach den Vorwurf gefallen lassen, mit dem vorliegenden Antrag dieses Verfahren mithilfe von Datenschutzkosmetik im Nachhinein zu legitimieren. Das SWIFT-Abkommen ist vom EU-Parlament perfekt korrigiert worden, als die Parlamentarier es beerdigten. Dabei sollte es bleiben. Deshalb hat die Linke den Antrag gestellt, auf ein weiteres Abkommen zu verzichten und die Bundesregierung aufzufordern, sich in diesem Sinne auf europäischer Ebene einzusetzen. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)





(A) (C)


(D)(B)

Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703728700







(A) (C)


(D)(B)

Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703728800
Clemens Binninger (CDU):
Rede ID: ID1703728900

(A) (C)


(D)(B)





(A) (C)


(D)(B)

Gerold Reichenbach (SPD):
Rede ID: ID1703729000




(A) (C)


(D)(B)

Jimmy Schulz (FDP):
Rede ID: ID1703729100




(A) (C)


(D)(B)

Jan Korte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703729200







(A) (C)


(D)(B)


Bereits kurz nach dem Anschlägen vom 11. September
2001 verlangten die USA von dem Monopolisten für die
Abwicklung von internationalen Finanztransaktionen,
dem Unternehmen SWIFT, die Kontobewegungsdaten
von Millionen von Bürgerinnen und Bürgern herauszu-
geben – ein unmittelbares Ergebnis von Bushs damali-
gem Krieg gegen Terror. Der CIA bekam die Daten, und
alles blieb zunächst geheim. Eingeschlossen waren auch
Überweisungen innerhalb der EU und Eilanweisungen
innerhalb Deutschlands. Nur um die Dimension zu ver-
deutlichen: Über SWIFT werden täglich im Durch-
schnitt fast 15 Millionen Transaktionen und Transfers
mit einem Volumen von etwa 4,8 Billionen Euro abgewi-
ckelt. Das SWIFT-Netzwerk in Belgien bündelt Überwei-
sungsdaten von 9 000 Banken aus über 200 Ländern.

Erst als dieser Vorgang 2006 herauskam und allen
bewusst wurde, in welcher Dimension die Kontobewe-
gungsdaten von 500 Millionen von Europäerinnen und
Europäern über Jahre an die USA abgeflossen waren,
begann eine öffentliche Diskussion. Und der Aufschrei
war groß. Selbst die Kolleginnen und Kollegen der FDP
erwachten damals aus einem bürgerrechtlichen Dorn-
röschenschlaf – immerhin ging es ja um Bankdaten! Es
waren insbesondere grüne Anträge, mit denen die Befas-
sung in diesem Parlament vorangebracht wurde. Die
Öffentlichkeit war sich weitgehend einig, dass die statt-
findenden SWIFT-Datentransfers an die USA rechtswid-
rig waren und dass die Daten der Bürgerinnnen und
Bürger vor dem Zugriff der US-Geheimdienste geschützt
werden müssten, um die für den Umgang mit diesen In-
formationen notwendigen Grundrechtsstandards zu
wahren. Zunächst verlor sich die Empörung der Bürge-
rinnen und Bürger angesichts des Wartens auf die Ent-
scheidung der belgischen Datenschutzbehörde. Die EU-
Innenminister, darunter der damalige deutsche Innen-
minister Schäuble, ließen nicht locker. Sie wollten ein
Abkommen mit den USA aushandeln, mit dem der Zu-
griff auf die Daten legalisiert werden könnte. Dabei
wurden nicht einmal ansatzweise die erforderlichen
Standards zum Schutz dieser hochsensiblen Bankdaten
erreicht. Das Europäische Parlament verweigerte des-
halb im März 2010 zu Recht am Ende seine Zustimmung.
Es war eine Sternstunde des Europaparlaments und der
Beginn eines neuen Selbstbewusstseins, das deutlich
über den Fall SWIFT hinausstrahlt.

Interessant ist der Rückblick auf das damalige Ver-
halten der jetzigen Bundesregierung. In der Abstimmung
am 28. November 2009 wurde sie ihrer Verantwortung
nicht gerecht und enthielt sich bei der Abstimmung im
EU-Ministerrat. Praktisch hat sie aber zugestimmt.
Dies, obwohl es der FDP gelungen war, eine glasklare
Formulierung in den Koalitionsvertrag aufzunehmen.
Die FDP, allen voran die selbsternannte Freiheitsstatue
Westerwelle, hatte jedoch nicht den Schneid, die Koali-
tionskarte zu ziehen. Bundesinnenminister de Maizière
versemmelte seinen Einstand, zumindest für den Bereich
der „öffentlichen Sicherheit“. Die selbsternannte Bür-
gerrechtspartei FDP war hier schon kurz nach dem
Regierungsantritt bei ihrem ersten Belastungstest umge-
fallen. Die Justizministerin setzte sich nicht durch, ihr
Parteivorsitzender schloss sich ihrer damals geäußerten
Kritik an SWIFT nicht an. Trotz aller Bekenntnisse für
mehr Datenschutz hatte die schwarz-gelbe Bundesregie-
rung die massive Kritik aus dem EU-Parlament, dem
Bundesrat sowie von Datenschützern und Bürgerrechts-
organisationen in den Wind geschlagen. Wenn es Ihnen
Ernst gewesen wäre mit mehr Datenschutz und Bürger-
rechten, dann hätten Sie nicht unsinnigste Steuersenkun-
gen durchgesetzt, sondern bei SWIFT die Koalitions-
karte gezogen, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP.
Dafür hat das Engagement aber nicht gereicht. Gut,
dass die Bürgerrechte beim Europäischen Parlament so
viel besser aufgehoben waren als bei der Bundesregie-
rung.

Wir stehen jetzt vor der Aushandlung eines neuen
Verhandlungsmandats. Die SPD hat sich in den vergan-
genen Jahren wahrlich nicht hervorgetan mit Vorstößen
zum Schutz der Grundrechte im Feld der öffentlichen
Sicherheit. Jetzt – wir haben lange auf so etwas von Ih-
nen gewartet – legen Sie einen Antrag vor, der grund-
sätzlich Lob verdient. Die dort aufgezählten Standards
fassen den Stand der Datenschutzdiskussion gut zusam-
men. Wir stellen uns klar gegen jegliche Bestrebungen,
die hohen Datenschutzstandards aufzuweichen oder zu
schwächen. Die Bundesregierung muss sich dafür ein-
setzen, dass das kommende Mandat so bürgerrechts-
freundlich als irgend möglich ausgestaltet wird. Es be-
steht kein Zeitdruck, auch wenn einige darüber klagen,
der Datenfluss an die USA sei gegenwärtig gestoppt.
Das Bundeskriminalamt erklärte höchstselbst unlängst,
es könne mit den Finanztransaktionsdaten nichts anfan-
gen und halte deren Wert in der Terrorismusbekämpfung
für nicht maßgeblich. Wir werden natürlich auch in die-
sem Verfahren sorgsam beobachten, ob in der Koalition
weitere bürgerrechtliche Rollen rückwärts drohen oder
sie gar Gefahr läuft, noch einmal umzukippen. Das sind
wir den Bürgerinnen und Bürgern und dem Schutz ihrer
Daten und schuldig.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703729300

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/1407 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Wie ich sehe, sind





Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt


(A) (C)



(D)(B)

Sie auch damit einverstanden. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 23:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Cornelia
Behm, Undine Kurth (Quedlinburg), Bärbel
Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Schaffung eines Naturwalderbes vorbereiten
und Moratorium für die Privatisierung von
Bundeswäldern erlassen

– Drucksache 17/796 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss

In der Tagesordnung wurde bereits ausgewiesen, dass
die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen zu Pro-
tokoll gegeben werden: Alois Gerig, Petra Crone,
Dr. Christel Happach-Kasan, Sabine Stüber und Cornelia
Behm.


Alois Gerig (CDU):
Rede ID: ID1703729400

Die Waldpolitik der CDU/CSU ist darauf ausgerich-

tet, den Wald in unserem Land zu erhalten, damit er auch
in Zukunft seine unterschiedlichen Aufgaben gut erfül-
len kann. Im Mittelpunkt unserer Waldpolitik stehen fol-
gende Ziele: Wir wollen erstens den Wald schützen, weil
er für das Klima, die Luftqualität, das Landschaftsbild
und die biologische Vielfalt überragende Bedeutung hat.
Zweitens treten wir dafür ein, dass sich die Menschen
am Wald erfreuen und den Wald zur Erholung nutzen
können. Drittens sind uns gute Rahmenbedingungen für
die Forstwirtschaft wichtig, weil Holz ein unverzichtba-
rer nachwachsender Rohstoff ist.

In einer Waldpolitik, die sich an diesen Zielen aus-
richtet, sind auch Naturwälder erwünscht. Naturwälder
sind dadurch gekennzeichnet, dass sie ihrer natürlichen
Entwicklung überlassen wurden und Eingriffe des Men-
schen weitgehend unterbleiben. So leisten Naturwälder
einen wichtigen Beitrag zum Artenschutz, weil sie sich
gut als Lebensraum für bedrohte Tier- und Pflanzen-
arten eignen. Zudem kann in einem Naturwald beobach-
tet werden, wie sich der Wald ohne direkte Eingriffe des
Menschen entwickelt. Aus diesen Beobachtungen lassen
sich wichtige Erkenntnisse für eine zukünftige Waldbe-
wirtschaftung gewinnen.

Die Große Koalition hatte 2007 das Ziel formuliert,
dass rund 5 Prozent der Waldflächen in Deutschland bis
2020 in Naturwald umgewandelt werden sollen. In dem
zur Debatte stehenden Antrag fordert die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen die Bundesregierung auf, eine
Reihe konkreter Maßnahmen umzusetzen, um dieses Ziel
zu erreichen.

Aus meiner Sicht ist es nicht sinnvoll, diesem Antrag
zuzustimmen. Um Wälder aus der Nutzung zu nehmen
und in Naturwälder umzuwandeln, bestehen bereits ge-
eignete Instrumente. Zu nennen wäre die Unterschutz-
stellung von Waldflächen sowie der Vertragsnaturschutz
zwischen der zuständigen Naturschutzbehörde und dem
Waldbesitzer. Das geforderte Moratorium für die Priva-
tisierung von bundeseigenen Waldflächen ist für mich
nicht nachvollziehbar. Der Bund hat in den vergangenen
Jahren auf die Privatisierung von schützenswerten Flä-
chen verzichtet und rund 70 000 Hektar, darunter
umfangreiche Waldflächen, dem Projekt Nationales Na-
turerbe zur Verfügung gestellt. Obwohl sich nur ein ge-
ringer Anteil des Waldes in Bundeseigentum befindet,
hat der Bund einen bedeutenden Beitrag dazu geleistet,
den Naturwald in Deutschland zu fördern.

Gegen den Antrag spricht außerdem, dass er einseitig
auf die Naturwälder ausgerichtet ist. Erforderlich ist
vielmehr ein umfassendes Konzept. Nicht nur der Erhalt
der biologischen Vielfalt, sondern auch der Ausbau er-
neuerbarer Energien und der Klimawandel stellen die
Waldpolitik vor große Herausforderungen. Die Bundes-
regierung hat angekündigt, im Herbst die „Waldstrate-
gie 2020“ vorzulegen und im kommenden Jahr mit der
Umsetzung zu beginnen. Die Waldstrategie soll die
Frage beantworten, wie der Wald der Zukunft aussehen
soll. Die nicht leichte Aufgabe besteht darin, den Wald
zu schützen, geänderte Nutzungsansprüche mit der Leis-
tungsfähigkeit des Waldes in Einklang zu bringen und
den Wald auf die Klimaveränderungen vorzubereiten.

Im Zusammenhang mit der Waldstrategie wird auch
über Naturwälder zu reden sein. Meines Erachtens
sollte sich die Waldpolitik nicht starr auf die Erreichung
des 5-Prozent-Ziels ausrichten. Stattdessen sollten die
wirklich schützenswerten Waldflächen identifiziert und
für den Naturschutz gesichert werden. Zwar sind Natur-
wälder wichtig, doch ist zu berücksichtigen, dass auch
bewirtschaftete Wälder zum Erhalt der biologischen
Vielfalt beitragen. Voraussetzung für eine nachhaltige
Waldbewirtschaftung zum Nutzen von Mensch und Natur
ist, dass sowohl die forstwirtschaftlich tätigen Unter-
nehmen als auch die Forstverwaltung genügend und gut
ausgebildete Fachkräfte einsetzen.

Die CDU/CSU wird darauf achten, dass beim Thema
Naturwald das richtige Augenmaß beibehalten wird. So
wünschenswert Naturwälder grundsätzlich sind, so not-
wendig ist es, die Produktion des nachwachsenden Roh-
stoffes Holz nicht durch zu viele Naturwälder einzu-
schränken. Neben der stofflichen Nutzung wird auch die
energetische Nutzung von Holz zunehmen – es ist also
mit steigender Holznachfrage zu rechnen. Deutschland
hat sich das Ziel gesetzt, bis 2020 rund 18 Prozent der
genutzten Energie aus erneuerbaren Energiequellen zu
gewinnen. Wenn zu viele Waldflächen stillgelegt werden,
gefährden wir die Erreichung unserer ehrgeizigen Kli-
maschutzziele.


Petra Crone (SPD):
Rede ID: ID1703729500

In der Ende 2007 beschlossenen nationalen Strategie

zur biologischen Vielfalt hat sich Deutschlands Regie-
rung ehrgeizige Ziele gesetzt. 430 Maßnahmen und
330 Ziele sollen den Erhalt der Biodiversität in Deutsch-
land leisten. Biologische Vielfalt hat existenzielle Be-
deutung. Die Anstrengungen zu deren Erhalt erstrecken
sich unter anderem auf den heimischen Wald als Lebens-

Petra Crone


(A) (C)



(D)(B)

raum für eine Vielzahl von Gemeinschaften aus Flora
und Fauna. Circa 4 300 Pflanzen- und Pilzarten und
mehr als 6 700 Tierarten leben in den Wäldern Deutsch-
lands.

Ein wichtiges Ziel aus der Strategie für das Ökosys-
tem Wald ist die Herausnahme von 5 Prozent der Wälder
aus der Nutzung bis zum Jahr 2020. So wichtig die Bio-
diversitätsstrategie bereits auf dem Papier ist, natur-
schutzrelevante Wirkungen entfaltet sie erst in ihrer kon-
kreten Umsetzung. Daher begrüße ich es, dass die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im vorliegenden An-
trag von der Bundesregierung wissen will, wie genau
das 5-Prozent-Ziel von Wäldern mit natürlicher Wald-
entwicklung erreicht werden soll. Die Forderung nach
einem Maßnahmenplan mit konkretem Zeitfenster ist da-
her zu unterstützen.

Es trifft bei der SPD-Bundestagsfraktion auf Unver-
ständnis, wenn in den letzten Monaten durch Äußerun-
gen mancher politischer Akteure der Eindruck entsteht,
dass die Marke von 5 Prozent zur Disposition stünde
bzw. mit der Tendenz nach unten verhandelbar sei.
Deutschland hat sich zum Schutz seiner Floren- und
Faunendiversität durch eine ressortübergreifende Kabi-
nettsstrategie verpflichtet und sollte sich seiner Vorbild-
funktion für andere Länder bewusst sein und entspre-
chend handeln. Es geht also bei den anstehenden
Beratungen in den Ausschüssen nicht um das „Ob über-
haupt“, sondern wie das 5-Prozent-Ziel konkret erreicht
werden kann. Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
ist hierfür ein Beitrag. Gemeinsam mit den Diskussionen
zur Novellierung des Bundeswaldgesetzes und mit dem
Antrag der SPD-Bundestagsfraktion „Bundeswaldge-
setz nachhaltig gestalten – Schutz und Pflege des Öko-
systems für heutige und künftige Generationen“ erhoffe
ich mir für die nächsten Wochen, dass die Ergebnisse
der parlamentarischen Beratungen einen nennenswer-
ten Beitrag für die Pflege und den Erhalt unseres Waldes
leisten werden.

Deutschland ist zu 30 Prozent bewaldet. Davon sind
nach Erhebungen des Bundesamtes für Naturschutz zwei
Drittel keine naturnahen und nur 9 Prozent altersge-
mischte Wälder. Auch unsere Kulturgeschichte verliert,
wenn nur 2,3 Prozent aller Bäume älter als 160 Jahre
sind. Bei diesen Daten ist es nachvollziehbar, wenn Tier-,
Pflanzen- und Pilzarten überproportional gefährdet
sind, die auf typische Strukturen naturnaher Wälder spe-
zialisiert sind.

Doch wie hoch ist der Anteil naturnaher Wälder in
Deutschland schon heute? Die Regierung hat bisher
keine Aussagen über den Anteil des naturbelassenen
Waldes machen können. Es ist zu begrüßen, dass das
Bundesamt für Naturschutz ein Forschungs- und Ent-
wicklungsvorhaben starten wird, an dessen Ende Zahlen
stehen werden, sozusagen eine Eröffnungsbilanz. Wir
wollen eine halbe Million Hektar Wald aus der Nutzung
nehmen. Wo stehen wir? Wie viel Naturwald brauchen
wir noch? In einem zweiten Schritt muss dann geklärt
werden, welche Flächen und artreichen Biotope die
Vielfalt an Flora und Fauna in Deutschland abbilden.
Nach der Identifizierung der verschiedenen Lebens-
Zu Protokoll
raumtypen muss sichergestellt werden, dass alle heimi-
schen Waldgesellschaften in ausreichender Biotopgröße
in den 5 Prozent Berücksichtigung finden.

Bevor dieses Ziel nicht erreicht ist, muss Abstand von
Privatisierungen bundeseigener Waldflächen genom-
men werden. Auch der Privatwald wird bei der Umset-
zung des 5-Prozent-Ziels seinen Beitrag leisten müssen.
Insofern ist die Idee eines „Deutschen Naturwalderbes“
eine gute Diskussionsgrundlage für alles Weitere. Die
unterschiedlichen Schutzzwecke des Waldes können dem
Waldbesitzer Pflichten und Beschränkungen auferlegen.
Ich würde mir wünschen, dass diese einfache Feststel-
lung öfter Erwähnung findet.

Die Erkenntnis, dass Klimawandel, Landnutzung und
biologische Vielfalt unentrinnbar verbunden sind, nimmt
glücklicherweise zu. Sie bedingen sich lokal, regional,
global. Deshalb ist die Zielmarke von 5 Prozent Wald
mit eigener Entwicklung auch für den Klimaschutz so
immens wichtig. Wir bekommen durch die Vorgänge in
Naturwäldern die Antworten auf die Frage: Was macht
die Natur selbst im Hinblick auf den Klimawandel? Un-
gestörte Wälder besitzen durch die unablässige Anpas-
sung an ihre Umwelt natürliche Abwehrkräfte, zum
Beispiel gegen Schädlinge oder Krankheiten. Die dyna-
mischen Prozesse laufen ohne menschlichen Einfluss ab,
und der Wald befindet sich im ökologischen Gleichge-
wicht. Die hier angesprochene kontinuierliche Anpas-
sung an die Umwelt ist heute eine andere als vor
150 Jahren, und die Wachstums- und Lebensvorgänge
im Wald brauchen ihre Zeit. Wir sind aufgefordert und
verpflichtet, dem Ökosystem diese Zeit zu geben. Spätes-
tens bei dieser Erkenntnis wird klar, dass der Nutzungs-
verzicht nicht vorläufig, sondern dauerhaft angelegt
werden muss, gekennzeichnet durch Verbindlichkeit und
Rechtssicherheit.

Die Abläufe im Naturwald geben uns wertvolle Hin-
weise für den naturnahen Waldbau auf ökologischer
Grundlage, der dem Wald als Ökosystem am besten ge-
recht wird. Die SPD-Bundestagsfraktion bekennt sich
daher zu einer ordnungsgemäßen, nachhaltigen und na-
turnahen Bewirtschaftung des Waldes nach den Grund-
sätzen der guten fachlichen Praxis. Wir sind der Mei-
nung, dass dies die beste Garantie für ein stabiles
Ökosystem ist, und daher gehören diese Grundsätze ei-
ner nachhaltigen Waldbewirtschaftung in das Bundes-
waldgesetz.

Bundesminister Röttgen hat zur Eröffnung des Jahres
der biologischen Vielfalt Anfang dieses Jahres angekün-
digt, ein „Bundesprogramm Biologische Vielfalt“ aufzu-
legen. Eine konkrete Umsetzung des Beschlossenen zum
Schutz der Natur sei wichtig. Wir nehmen ihn beim Wort.
Das ökologische Gleichgewicht wurde an mancher
Stelle empfindlich gestört. Nun ist es unser aller Pflicht,
die Waldbestände zu schützen, also Ernst zu machen mit
der Schaffung natürlicher Wälder.


Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Rede ID: ID1703729600

Die potenzielle natürliche Vegetation in Deutschland

ist Wald. Wälder haben daher für die Biodiversität und
den Artenschutz eine besondere Bedeutung. Die Ausfor-



gegebene Reden

Dr. Christel Happach-Kasan


(A) (C)



(D)(B)

mung einer nachhaltigen Forstwirtschaft ist in einem
waldreichen Land wie Deutschland von besonderer Be-
deutung. Die großen Holzvorräte in unseren Wäldern
haben ein hohes Nutzungspotenzial. Holz ist zurzeit un-
ser wichtigster nachwachsender Rohstoff. Dies gilt für
die rohstoffliche Nutzung genauso wie für die energeti-
sche Nutzung. Die nachhaltige Nutzung von Holz bildet
das Rückgrat einer nachhaltigen Entwicklung. Eine Fo-
kussierung der Bewirtschaftung der Wälder allein auf
die Belange der Ökologie oder der Ökonomie wird dem
Anspruch an eine nachhaltige Entwicklung nicht ge-
recht. Wälder sind CO2-Senken. Sie sind nach dem
Kioto-Protokoll anerkannt. Die Nutzung von Holz im
Bau sowie für die Herstellung von Möbeln und die Er-
zeugung von Wärme und Strom aus Rest- und Durchfor-
stungsholz liefern einen wichtigen Beitrag zum Klima-
schutz und stärken gleichzeitig die regionale Wirtschaft.

Die christlich-liberale Koalition hat sich in ihrem
Koalitionsvertrag eindrücklich zu einer verstärkten Nut-
zung des Rohstoffes Holz bekannt. Gleichzeitig sind wir
im Begriff, das Bundeswaldgesetz zu novellieren, um die
Bedingungen für die privaten und öffentlichen Waldbe-
sitzer zu verbessern und die Nutzung von Kurzumtriebs-
plantagen im Sinne einer nachhaltigen Gewinnung von
Biomasse zu ermöglichen. Die Wälder bieten zahlrei-
chen Menschen einen Arbeitsplatz und ein gesichertes
Einkommen, insbesondere im strukturschwachen ländli-
chen Raum. Insgesamt sind hierzulande in der Forst-
wirtschaft einschließlich der nachgelagerten Bereiche
Holzwirtschaft, Papierindustrie und Holzgroßhandel
nach Schätzungen des Deutschen Forstwirtschaftsrates,
DFWR, etwa 1,2 Millionen Menschen beschäftigt. Die
Bedeutung des Clusters „Forst und Holz“ hat inzwi-
schen aufgrund der wirtschaftlichen Situation Deutsch-
lands eine deutlich höhere Wertigkeit erhalten als noch
vor wenigen Jahren. Das Cluster erwirtschaftete 2008
einen Gesamtumsatz von 168 Milliarden Euro.

In unserem dicht besiedelten Land haben Wälder zu-
gleich eine besondere Bedeutung für die naturnahe Er-
holung sowie für die Naherholung. Repräsentative Um-
fragen in Großstädten ergeben, dass der Erholungsraum
Wald das am häufigsten genutzte Freiraumelement dar-
stellt. Der sonntägliche Waldspaziergang gehört bei vie-
len Familien zu den besonders beliebten Freizeitaktivi-
täten. Durch die vielgestaltige Nutzung der Wälder
ergeben sich verschiedene Zielkonflikte zwischen Wald-
besitzern, Erholungssuchenden und dem Naturschutz.
Die letzte Bundeswaldinventur hat gezeigt, dass die
Waldbesitzer insgesamt ihre Wälder sehr verantwortlich
bewirtschaften. Zahlreiche FFH-Gebiete liegen in Pri-
vatwäldern sowie in Körperschaftswäldern und zeigen,
dass auch eine erwerbsorientierte Bewirtschaftung ver-
einbar ist mit den Zielen des Naturschutzes sowie mit
dem Erhalt der Biodiversität.

Besondere Anforderungen des Naturschutzes können
andere Nutzungsmöglichkeiten einschränken. Dazu ge-
hört insbesondere der totale Verzicht auf Holzeinschlag.
Wo aus Sicht des Naturschutzes zur Sicherung der Biodi-
versität Bewirtschaftungsauflagen erteilt werden, die
über die Gemeinwohlverpflichtung des Grundgesetzes
hinausgehen, beispielsweise Nutzungsverzicht in ausge-
Zu Protokoll
wählten Altwaldstandorten, müssen die Waldeigentü-
mer, zum Beispiel mit den Instrumenten des Vertragsna-
turschutzes, für solche Nutzungseinschränkungen
finanziell entschädigt werden. Ansprüche der Gesell-
schaft an eine ausschließlich naturschutzorientierte Be-
wirtschaftung der Wälder müssen von der Gesellschaft
finanziert werden, nicht vom einzelnen Waldbesitzer. Wir
setzen uns im Naturschutzbereich auch künftig vordring-
lich für Maßnahmen auf freiwilliger Basis und für den
Vertragsnaturschutz ein. Der Naturschutz ist eine ge-
samtgesellschaftliche Aufgabe. Im Waldland Deutsch-
land hat gerade die Forstwirtschaft zur Sicherung der
biologischen Vielfalt beigetragen. Der deutsche Wald
erfüllt die Ziele der Nationalen Strategie zur Sicherung
der biologischen Vielfalt bereits zu über 80 Prozent und
hat damit eine Vorreiterrolle.

Nach unserer Einschätzung hat die deutsche Forst-
wirtschaft im internationalen Vergleich Vorbildcharak-
ter. Deutschland hat sich in der Nationalen Strategie zur
biologischen Vielfalt dazu bekannt, 5 Prozent der Wald-
fläche bis zum Jahr 2020 einer natürlichen Waldent-
wicklung zu überlassen. Wir wollen in Zusammenarbeit
mit den Bundesländern die Erfassung der Flächen, auf
denen schon jetzt auf eine Holznutzung verzichtet wird,
verbessern. Es gibt bereits geeignete Instrumente, um
das beschriebene Ziel umzusetzen. Aus diesem Grund
halten wir die Schaffung neuer Instrumente für nicht er-
forderlich. Der Erhalt der waldlichen Biodiversität in
Deutschland ist nur bei der Verfolgung eines integrati-
ven Bewirtschaftungsansatzes auf ganzer Fläche mög-
lich. Auf vielen Flächen gilt: Schützen durch Nützen. Die
Stilllegung wertvoller Einzelflächen ist ein wirksames
Instrument, die Biodiversität lokal zu schützen. Dadurch
werden auch umliegende, nachhaltig bewirtschaftete
Flächen in ihrer Biodiversität gestärkt. Wir lehnen die
pauschale Stilllegung von Waldflächen ab, die mit der
Erreichung des 5-Prozent-Ziels begründet wird, und be-
fürworten die Stilllegung von Waldflächen, die nach
fachlichen Kriterien ausgewählt wird. Dabei stehen ins-
besondere Altwaldflächen im Fokus. Im Hinblick auf die
derzeit in der Vorbereitung befindliche „Waldstrategie
2020“ und den Bericht zur Umsetzung der Nationalen
Strategie zur biologischen Vielfalt halten wir die von
Bündnis90/Die Grünen geforderten Maßnahmen für we-
nig durchdachte Schnellschüsse, die nicht geeignet sind,
die Ziele bei der Schaffung des nationalen Naturwalder-
bes zu erreichen.


Sabine Stüber (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1703729700

Naturwalderbe in Deutschland schaffen – warum ist

das wichtig? Weil es direkt unsere Zukunftsfrage be-
rührt: Wie schaffen wir die Anpassung an die Klimaver-
änderung, an die Wasserverknappung und an die immer
noch rückläufige Biodiversität?

Uns fehlen nicht die Visionen von einem intakten
Naturhaushalt und auch nicht die erforderlichen Kennt-
nisse. Das alles wird in der 2007 von der Bundesregie-
rung beschlossenen nationalen Strategie zur biologi-
schen Vielfalt aufgezeigt. Die Konsequenz zum klaren
Handeln ist es, was fehlt.



gegebene Reden

Sabine Stüber


(A) (C)



(D)(B)

Für den Wald bedeutet die nationale Strategie, dass
sich Vielfalt, Struktur und Dynamik der heimischen Wäl-
der bis zum Jahre 2020 weitgehend verbessern sollen.
Die Frage nach dem Wie bleibt offen. Bisher ist leider
kein roter Faden erkennbar. Immerhin ein substanzielles
Ziel wurde festgeschrieben: „2020 beträgt der Flächen-
anteil der Wälder mit natürlicher Waldentwicklung
5 Prozent der Waldfläche.“ Das ist erst einmal eine
starke Aussage, aber auch hier erkennt man keine kon-
krete Herangehensweise. Die Bundesregierung benötigt
offensichtlich einen Fahrplan, der die zeitlichen und in-
haltlichen Schritte vorgibt, um das Ziel zu erreichen,
5 Prozent der deutschen Waldflächen bis 2020 als Na-
turwalderbe dauerhaft dem Prozess einer natürlichen
Entwicklung zu überlassen. Deshalb unterstützen wir
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Das Ziel – die Schaffung von 5 Prozent Naturwald-
erbe – steht für uns außer Frage, und wir folgen den Ar-
gumenten des Antrages weitgehend. Als vordringliche
Aufgabe sehen wir für ein so weitreichendes Vorhaben
ein Umsetzungskonzept. So wollen wir auch das Wort
„zeitnah“ in dem Antrag durch einen konkreten Zeit-
punkt ersetzen, bis zu dem eine Bestandsaufnahme der
bisher dauerhaft aus der Nutzung genommenen Wälder
vorgelegt wird. Die Größen der Waldareale mit ihren
charakteristischen Lebensraumtypen bilden für uns die
Grundlage für ein Umsetzungskonzept.

Es gibt noch viele Fragen zur Herangehensweise und
zu den Maßnahmen. Diese hat die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen in ihrem Antrag angesprochen. Neben den
Maßnahmen zur Erreichung des Naturwalderbezieles
muss die Bundesregierung auch die berechtigten Be-
fürchtungen der Holzwirtschaft aufgreifen. Neben sin-
kenden Umsätzen werden steigende Holzimporte aus
schutzwürdigen Wäldern anderer Länder erwartet, wo-
mit wiederum nur ein Verschieben von Problemen statt-
finden wird.

Für die Zeit bis zur Schaffung eines deutschen Natur-
walderbes gebietet schon der gesunde Menschenver-
stand, die weitere Privatisierung bundeseigener Wälder
auszusetzen – von berechtigten Ansprüchen abgesehen.
Eine entsprechende Vereinbarung mit Ländern und
Kommunen muss gefunden werden.

Die Zusammenfassung der Naturwalderbeflächen in
einem eigenen Pool begrüßen wir sehr, sehen aber zu
dessen Verwaltung die Gründung eines eigens dafür vor-
gesehenen Dachverbandes als nicht erforderlich an.
Sinnvoll ist doch, eine geeignete, bereits bestehende
Struktur mit dieser Aufgabe zu betrauen.


Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1703729800

Die alte Bundesregierung hat sich 2007 in ihrer na-

tionalen Biodiversitätsstrategie zum Ziel gesetzt, bis
2020 5 Prozent der deutschen Wälder mit einer natürli-
chen Entwicklung zu erreichen, wobei unter „natürli-
cher Entwicklung“ „aus der Nutzung genommen“ oder
„stillgelegt“ zu verstehen ist. Bei gut 11 Millionen Hek-
tar Wald in Deutschland sind das etwa 550 000 Hektar.
Da bei den Staatswäldern der Anteil 10 Prozent betra-
Zu Protokoll
gen soll, wären das bei einem Staatswaldanteil von
33,3 Prozent im Jahr 2002 etwa 370 000 Hektar.

Die neue Bundesregierung hat sich in ihrer Antwort
auf unsere Kleine Anfrage zur Schaffung eines Natur-
walderbes auf 5 Prozent der bundesdeutschen Waldflä-
che zum Festhalten an diesem Ziel bekannt. Ich weiß
nicht, wie ernst diese Aussage gemeint gewesen ist. Ge-
messen am politischen Handeln kann man den Eindruck
gewinnen, dass die Bundesregierung nur pro forma da-
ran festhält. Sie hat trotz mehrfacher Nachfragen bisher
keinerlei Angaben dazu gemacht, mit welchen Maßnah-
men sie dieses Ziel erreichen will. Daher legen jetzt wir
einen Fahrplan vor, wie für Mitteleuropa typische Wäl-
der und alle in den deutschen Wäldern lebenden Arten
auf entsprechend ausgewählten Flächen geschützt wer-
den können.

Vonseiten der Waldbesitzer wird vielfach argumen-
tiert, der Schutz der biologischen Vielfalt im Wald be-
dürfe keiner stillgelegten Wälder. Schließlich genügten
ordnungsgemäß bewirtschaftete Forsten ohnehin allen
Ansprüchen, die man aus Sicht des Naturschutzes an den
Wald stellen sollte. Wobei mancher meint, das würde be-
reits heute gelten. Andere meinen demgegenüber, das
würde zumindest dann gelten, wenn die Ansprüche des
Naturschutzes flächendeckend in die Waldbewirtschaf-
tung integriert sind, also ein integrierter Naturschutz im
Wald betrieben wird. Jedoch hat jüngst die dritte Tagung
zur Waldstrategie 2020 belegt, dass nichts davon zu-
trifft.

Bedroht sind vor allem die Arten, die an die Alters-
und Absterbephasen von Bäumen und an Totholz gebun-
den sind. Um diese zu schützen, bedarf es eines Mindest-
anteils an nutzungsfreien Wäldern, in denen sich pro
Hektar mehr als 30 bis 60 Kubikmeter an Totholz an-
sammeln. Deshalb ist der dauerhafte Nutzungsverzicht
für besonders schutzwürdige Waldökosysteme so wich-
tig.

Sollte Deutschland den erheblichen Vorbehalten in
der Forst- und Holzwirtschaft gegen den Nutzungsver-
zicht in diesem 5-Prozent-Anteil der deutschen Wälder
nachgeben, macht sich die deutsche Politik internatio-
nal unglaubwürdig, wenn sie andererseits den Erhalt
von Urwäldern und damit den Verzicht auf die Nutzung
eines Teils der Wälder dieser Welt fordert. Schon aus
diesem Grund sind wir verpflichtet, ein nationales Na-
turwalderbe zu schaffen.

Doch seit zweieinhalb Jahren hat es die Bundesregie-
rung unterlassen, für Klarheit darüber zu sorgen, wie
viel Hektar Naturwald es in Deutschland tatsächlich be-
reits gibt. Auch das nährt den Eindruck, dass es die Bun-
desregierung mit diesem Ziel nicht wirklich ernst meint.

Dabei könnte man das recht unbürokratisch errei-
chen, indem zum Beispiel eine Dachorganisation ge-
gründet wird, in die Institutionen und Waldbesitzer ihre
stillgelegten Waldflächen ohne Verzicht auf ihr Eigen-
tum einbringen können. Diese Dachorganisation hätte
die Aufgabe, einen einheitlichen Standard für die Aner-
kennung als verbindlich und dauerhaft nutzungsfreie
Wälder festzulegen. Außerdem hätte sie den Überblick



gegebene Reden





Cornelia Behm


(A) (C)



(D)(B)


über den aktuellen Bestand. Die Unsicherheit über den
Zielerreichungsgrad hätte dann ein Ende.

Zur Beruhigung der Privatwaldbesitzer möchte ich
sagen: Bündnis 90/Die Grünen gehen davon aus, dass
das Naturwalderbe überwiegend aus Wäldern im öffent-
lichen Eigentum bestehen wird. Denn Nutzungsverzicht
ist im Privatwald weder durch Ordnungsrecht noch
durch Vertragsnaturschutz dauerhaft abzusichern. Nut-
zungsverzicht per Ordnungsrecht ohne eine Entschädi-
gung käme einem enteignungsgleichen Eingriff in das
Privateigentum gleich. Statt einmalig Entschädigungen
oder dauerhaft Prämien an
len, dürfte es meist sinnvoll
der zu erwerben.

Angesichts der vorliegen
dingungen kommen wir Bü
zung, dass zur Schaffung
erhebliche Flächen fehlen
Hunderttausend Hektar. D
Wälder erwerben müssen.

Wir kommen nun zum Zusatzpunkt 5:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck (Köln), Tom Koenigs, Marieluise Beck

(Bremen), weiterer Abgeordneter und der Frak-

tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Umgang mit Guantánamo-Häftlingen

– Drucksache 17/1421 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss

te und Humanitäre Hilfe

eschlagen, die Reden zu
zu Protokoll zu geben. –
anden. Es handelt sich um
en und Kollegen: Rüdiger
ke, Volker Beck und des
tärs Dr. Ole Schröder.1)

erweisung der Vorlage auf
der Tagesordnung aufge-
In diesem Zusammenhang wäre es kontraproduktiv,
wenn der Bund 165 000 Hektar Bundeswald zunächst
privatisieren würde, nur um anschließend wieder Wald
für das Naturwalderbe ankaufen zu müssen. Daher for-
dern wir ein Moratorium für die Privatisierung von
Bundeswäldern. Das ist für eine Übergangszeit auch
ohne Gesetzesänderung möglich, auch wenn die bundes-
eigenen Waldbesitzer allesamt gesetzliche Privatisie-
rungsaufträge haben.


Gerda Hasselfeldt (CSU):
Rede ID: ID1703729900

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/796 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Wie ich sehe, sind
Sie damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.

Bericht
36. Sitzung, Seite 3436 B, de
lesen als:

(Zuruf von der SPD: Da
scher Fuffz
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Wie ich sehe, sind
Sie damit einverstanden. Dann ist auch diese Überwei-
sung so beschlossen.

Für heute sind alle Abstimmungen und Debatten erle-
digt.

Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich bedanke mich für das lange Ausharren.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 23. April 2010, 9 Uhr,
ein.

Ich schließe die Sitzung und wünsche Ihnen allen ei-
nen schönen und angenehmen Abend.