Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Nehmen Sie bitte Platz.Im Namen des ganzen Hauses möchte ich den Kolle-gen Lothar Binding und Dr. Diether Dehm nachträg-lich zu ihren 60. Geburtstagen Anfang April gratulierenund alles Gute wünschen.
Die Kollegin Dr. Martina Krogmann hat am 1. Aprilauf ihre Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag ver-zichtet. Als Nachfolger begrüße ich den Kollegen Hans-Werner Kammer. Herzlich willkommen!
Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbun-dene Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste auf-geführten Punkte zu erweitern:ZP 1 Abgabe einer Regierungserklärung durch denBundesminister für Verkehr, Bau und Stadtent-wicklungzur Sicherheit im LuftverkehrRedeZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion derSPD:Haltung der Bundesregierung zur Finanzier-barkeit der FDP-Steuerpläne
ZP 3 Abgabe einer Regierungserklärung durch dieBundeskanzlerinzum Einsatz der Bundeswehr in AfghanistanZP 4 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahrenErgänzung zu TOP 28a)Beratung des Antrags der ADr. Gerhard Schick, Lisa Paus, Dr. Thomaszung den 22. April 2010.00 UhrGambke, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENFinanzumsatzsteuer auf EU-Ebene einfüh-ren– Drucksache 17/1422 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der EuropäischenUnionHaushaltsausschussb) Beratung des Antrags der AbgeordnetenKerstin Andreae, Fritz Kuhn, Christine Scheel,weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENPluralistischen Ansatz bei Auswahl der For-schungsinstitute für die Gemeinschaftsdia-gnose gewährleisten– Drucksache 17/1424 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologiec) Beratung des Antrags der AbgeordnetenKerstin Andreae, Fritz Kuhn, Christine Scheel,weiterer Abgeordneter und der FraktiontextBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENUmweltberichterstattung in die Gemein-schaftsdiagnose aufnehmen– Drucksache 17/1423 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologied) Beratung des Antrags der AbgeordnetenMichael Schlecht, Dr. Barbara Höll, EvaBulling-Schröter, weiterer Abgeordneter undder Fraktion DIE LINKEPluralistischen Ansatz bei Auswahl der For-schungsinstitute für die Gemeinschaftsdia-se gewährleistenucksache 17/1405 –weisungsvorschlag:bgeordnetengno– DrÜberAusschuss für Wirtschaft und Technologie
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e) Beratung des Antrags der Abgeordneten ElviraDrobinski-Weiß, Dr. Wilhelm Priesmeier,Ulrich Kelber, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPDGentechnisch veränderte Amflora-Kartof-fel zuverlässig aus der Lebensmittel- undFuttermittelkette fernhalten– Drucksache 17/1410 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
Ausschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für die Angelegenheiten der EuropäischenUnionf) Beratung des Antrags der Abgeordneten HildeMattheis, Dr. Karl Lauterbach, Elke Ferner,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derSPDQualität und Transparenz in der Pflege kon-sequent weiterentwickeln – Pflege-Transpa-renzkriterien optimieren– Drucksache 17/1427 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendZP 5 Beratung des Antrags der Abgeordneten VolkerBeck , Tom Koenigs, Marieluise Beck
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENUmgang mit Guantánamo-Häftlingen– Drucksache 17/1421 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Auswärtiger AusschussRechtsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeZP 6 Abgabe einer Regierungserklärung durch denBundesminister für Wirtschaft und TechnologieEine Wirtschaftspolitik für Wachstum undArbeitsplätzeVon der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-weit erforderlich, abgewichen werden.Da heute als erster Tagesordnungspunkt eine Regie-rungserklärung der Bundeskanzlerin aufgerufen wird,verschiebt sich der dort ursprünglich vorgesehene Tages-ordnungspunkt 3 an die Stelle des Tagesordnungspunk-tes 5. Dieser wird abgesetzt. Außerdem soll der Tages-ordnungspunkt 24 abgesetzt werden. Sind Sie mit diesenVereinbarungen einverstanden? – Ich höre keinen Wi-derspruch. Dann ist das so beschlossen.Bevor wir in unsere Tagesordnung eintreten, bitte ichSie, sich von Ihren Plätzen zu erheben und zweier Ereig-nisse in der parlamentarischen Osterpause zu gedenken.
Meine Bitte gilt auch unseren Gästen auf den Tribü-nen, unter denen ich besonders den Botschafter der Re-publik Polen, Herrn Marek Prawda, begrüße.Der Deutsche Bundestag und die Bürgerinnen undBürger unseres Landes sind tief erschüttert über den Ab-sturz der polnischen Präsidentenmaschine in derNähe von Smolensk am Morgen des 10. April 2010, beidem alle Mitglieder der Delegation ums Leben kamen.Unter den 96 Opfern befanden sich der polnische Staats-präsident Lech Kaczynski und seine Ehefrau sowie zahl-reiche hochrangige Repräsentanten des polnischen Staa-tes und der Kirche. Auch die Vizepräsidentin des Senatsund zwei Vizepräsidenten sowie weitere 15 unserer Kol-leginnen und Kollegen des Sejm und des Senats zählenzu den Opfern. Mit vielen von ihnen haben wir über un-sere Parlamente, ihre Ausschüsse und Gremien in denvergangenen Jahren eng zusammengearbeitet. Sie warenuns zu Partnern und Freunden geworden.Staatspräsident Kaczynski und seine Delegation wa-ren auf dem Weg zu einer Gedenkfeier, um am Mahnmalvon Katyn der fast 22 000 polnischen Offiziere und In-tellektuellen zu gedenken, die 1940 von Spezialeinheitendes sowjetischen Geheimdienstes in einem Wald bei Ka-tyn ermordet worden waren. Es ist besonders tragisch,dass diese Reise, die als Geste der Versöhnung zwischenPolen und Russland gedacht war, mit einer solchen Kata-strophe endete.Die große Anteilnahme der internationalen Staatenge-meinschaft und die Beteiligung am Staatsbegräbnis inKrakau belegen die Bedeutung und Wertschätzung, diePolen im Kreis der Demokratien der Welt genießt. Unsergemeinsames Ziel der Versöhnung der europäischenVölker und Nationen werden wir auch im Gedenken undRespekt für die Opfer des Unglücks von Smolensk mitumso größerem Ernst weiterführen.Der Deutsche Bundestag trauert mit dem polnischenVolk und teilt seinen Schmerz über den furchtbaren Un-falltod seines Staatsoberhauptes, seiner Ehefrau und derübrigen Mitglieder seiner Delegation. Wir drücken denAngehörigen der Toten und dem gesamten polnischenVolk unser tief empfundenes Mitgefühl und unser Bei-leid aus.Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit Bestürzung ha-ben wir in den letzten Tagen erfahren müssen, dass amKarfreitag drei deutsche Soldaten in Afghanistan gefal-len sind. Am vergangenen Donnerstag riss in der nordaf-ghanischen Provinz Baghlan eine Sprengstofffalle derTaliban weitere drei unserer Soldaten in den Tod. We-nige Stunden später wurden Bundeswehrangehörige mitHand- und Panzerabwehrwaffen beschossen. Dabeiwurde ein deutsches Sanitätsfahrzeug getroffen und einMilitärarzt getötet.Wir beklagen inzwischen 43 gefallene deutsche Sol-daten. Wir trauern um die Toten. Unsere Anteilnahmegilt den Angehörigen, unsere besondere Fürsorge giltden Verletzten.Der Auftrag unserer Soldaten ist ein Beitrag zu unse-rer Sicherheit und unserer Freiheit, die in Zeiten des in-ternationalen Terrorismus auch und gerade dort vertei-
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digt werden müssen, wo dieser seine Rückzugsräumeund Kommandozentralen hat.Der Deutsche Bundestag ist sich seiner besonderenVerantwortung für die Militäreinsätze bewusst, die bis-lang jeweils mit hohen parlamentarischen Mehrheitenbeschlossen worden sind. Niemand unter den Abgeord-neten macht sich seine Entscheidung leicht. Alle ernst-haften Einwände und Aspekte, die unter den Soldatenund in der Öffentlichkeit diskutiert werden, sind auchGegenstand der parlamentarischen Beratung und Ent-scheidung. Aus guten Gründen entscheidet der Bundes-tag jeweils über ein befristetes Mandat. Dies gibt uns dieMöglichkeit und verpflichtet uns zugleich, immer wie-der neu Auftrag und Ziele im Lichte der Erfahrungenund Lageveränderungen zu überprüfen. Zur selbstkriti-schen Überprüfung der beschlossenen Einsätze gehörtdabei auch, die direkten und indirekten Wirkungen einesbeschleunigten Rückzugs auf Afghanistan und auch aufdie internationale Staatengemeinschaft zu berücksichti-gen.Über vierzig Staaten unterstützen Afghanistan aufdem Weg, für die eigene Sicherheit selbst Verantwortungzu übernehmen. Von diesem Ziel, ein stabiles, demokra-tisches afghanisches Staatswesen aufbauen zu helfen,darf sich die internationale Staatengemeinschaft nichtverabschieden. Diesem Auftrag fühlten sich auch unseregefallenen Soldaten verpflichtet. Unter Einsatz ihres Le-bens haben sie daran mitgewirkt, den Menschen inAfghanistan eine friedfertige Zukunft zu ermöglichen.Der Deutsche Bundestag und die Bürgerinnen undBürger unseres Landes verneigen sich vor den Toten.Den Hinterbliebenen und Angehörigen bekunden wirunser tiefes Mitgefühl. Den Verletzten wünschen wireine schnelle und vollständige Genesung.Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen undHerren, Sie haben sich zu Ehren der Opfer von IhrenPlätzen erhoben. Ich danke Ihnen.Ich rufe nun den Zusatzpunkt 3 unserer Tagesordnungauf:Abgabe einer Regierungserklärung durch dieBundeskanzlerinzum Einsatz der Bundeswehr in AfghanistanNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-rung eineinhalb Stunden vorgesehen. – Auch hierzu darfich Einvernehmen feststellen. Dann ist das so beschlos-sen.Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hatdie Bundeskanzlerin, Frau Dr. Angela Merkel.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Übermorgen nehmen wirAbschied von vier deutschen Soldaten, die am letztenDonnerstag in Afghanistan gefallen sind. Wir nehmenAbschied von Thomas Broer, Marius Dubnicki, JosefKronawitter und Jörn Radloff. Schon vor zwei Wochenmussten wir Abschied nehmen von Martin Augustyniak,Nils Bruns und Robert Hartert. Sie waren am Karfreitagin Afghanistan gefallen, ebenso wie sechs afghanischeSoldaten.Sie alle sind gestorben, weil sie Afghanistan zu einemLand ohne Terror und Angst machen wollten. Ich spre-che den Angehörigen, den Kameraden und Freundenmein tief empfundenes Mitgefühl aus. Ich tue dies imNamen der ganzen Bundesregierung und der Mitgliederdieses Hohen Hauses und für die Bürgerinnen und Bür-ger unseres Landes. Auch an die Verwundeten denkenwir. Auch bei ihnen sind meine und unsere Gedankenund Sorgen. Wir wünschen ihnen baldige und vollstän-dige Genesung.Anlässlich des Gelöbnisses von jungen Bundeswehr-rekruten am Jahrestag des Stauffenberg-Attentats hatAltbundeskanzler Helmut Schmidt am 20. Juli 2008 vordem Reichstag gesagt – ich zitiere –:Liebe junge Soldaten! Ihr habt das große Glück …,einer heute friedfertigen Nation und ihrem … recht-lich geordneten Staat zu dienen. Ihr müsst wissen:Euer Dienst kann auch Risiken und Gefahren um-fassen. Aber ihr könnt euch darauf verlassen: Die-ser Staat wird euch nicht missbrauchen.Ende des Zitats.Ja, dieser Staat, der im letzten Jahr 60 Jahre alt wurdeund der in diesem Jahr 20 Jahre Wiedervereinigung fei-ern kann, verlangt von seinen Soldatinnen und Soldatenviel, sehr viel, wie wir gerade in diesen Tagen schmerz-haft erfahren müssen. Aber niemals wird er sie miss-brauchen. Er stellt sie in den Dienst der freiheitlichenund demokratischen Werte dieses Landes.Die im Einsatz in Afghanistan gefallenen Soldatenhaben wie alle ihre Kameraden, die als Berufssoldatenoder Soldaten auf Zeit tätig sind, einen Eid geleistet, die-sen Eid:Ich schwöre, der Bundesrepublik Deutschland treuzu dienen und das Recht und die Freiheit des deut-schen Volkes tapfer zu verteidigen.Ja, die im Einsatz gefallenen Soldaten, derer wir heutegedenken, haben der Bundesrepublik Deutschland treugedient, indem sie einem Mandat folgten, das der Deut-sche Bundestag in den letzten acht Jahren mit unter-schiedlichen Mehrheitsverhältnissen auf Antrag vonBundesregierungen in unterschiedlicher Zusammenset-zung immer wieder beschlossen hat. Dieses Mandat istüber jeden vernünftigen völkerrechtlichen oder verfas-sungsrechtlichen Zweifel erhaben.
Es ruht auf den Resolutionen des Sicherheitsrates derVereinten Nationen. Es ist unverändert gültig.Unsere im Einsatz gefallenen Soldaten waren tapfer,weil sie ihren Auftrag, unser Recht und unsere Freiheitzu verteidigen, in vollem Bewusstsein der Gefahren fürLeib und Leben ausgeführt haben. Tapferkeit – das ha-ben zuerst sie und ihre Angehörigen, aber dann auch wir
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alle schmerzhaft erfahren müssen – ist ohne Verletzbar-keit nicht denkbar.Jeder einzelne gefallene Soldat verpflichtet deshalbuns alle, sorgsam mit seinem Andenken umzugehen. Un-ser Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel hat die dreiToten des Karfreitags zurück nach Deutschland beglei-tet. Unser Verteidigungsminister Karl-Theodor zuGuttenberg ist unmittelbar nach dem Gefecht der ver-gangenen Woche zurück nach Masar-i-Scharif geflogen.Ich bin vor zwei Wochen nach Selsingen zur Trauerfeiergefahren, und ich werde am Samstag gemeinsam mitdem Bundesaußenminister und dem Bundesverteidi-gungsminister in Ingolstadt sein. Wir alle haben dasnicht allein als Regierungsmitglieder getan, wir tun esauch – wie viele andere aus diesem Hohen Hause – alsAbgeordnete des Deutschen Bundestages. Denn auch alsAbgeordnete haben wir diesen Einsatz beschlossen unddamit die Verantwortung dafür übernommen, was mitunseren Soldatinnen und Soldaten geschieht. Das, wasunsere toten Soldaten für uns getan haben, hat im Mit-telpunkt unseres öffentlichen Andenkens zu stehen.Ich habe es in den letzten Tagen und Wochen häufigergesagt und wiederhole es heute: Dass die meisten Solda-tinnen und Soldaten das, was sie in Afghanistan täglicherleben, Bürgerkrieg oder einfach nur Krieg nennen, dasverstehe ich gut. Wer täglich fürchten muss, in einenHinterhalt zu geraten oder unter gezieltes Feuer zu kom-men, der denkt nicht in juristischen Begrifflichkeiten.Wer so etwas erlebt, der fürchtet vielmehr, dass derje-nige, der völkerrechtlich korrekt vom nicht internationa-len bewaffneten Konflikt spricht, die Situation zu ver-harmlosen versucht. Deshalb sage ich ganz deutlich:Niemand von uns verharmlost; niemand von uns – ob erim Deutschen Bundestag für oder gegen diesen Einsatzgestimmt hat – verharmlost das Leid, das dieser Einsatzbei unseren Soldaten und ihren Familien, aber auch beiAngehörigen unschuldiger ziviler afghanischer Opferhinterlässt.Am 10. Februar dieses Jahres hat Bundesaußenminis-ter Guido Westerwelle für die Bundesregierung vor die-sem Hohen Haus erklärt – ich zitiere –:Die Intensität der mit Waffengewalt ausgetragenenAuseinandersetzung mit Aufständischen und derenmilitärischer Organisation führt uns zu der Bewer-tung, die Einsatzsituation von ISAF auch im Nor-den Afghanistans als bewaffneten Konflikt imSinne des humanitären Völkerrechts zu qualifizie-ren.Das, meine Damen und Herren, ist das, was landläufigals kriegerische Handlung oder Krieg bezeichnet wird.Jedem Mitglied dieses Hauses, das sich ernsthaft mitdieser Frage beschäftigt hat – und das unterstelle ich je-dem von uns –, war dies vor der Abstimmung über dasaktuelle Mandat bewusst. Wir können von unseren Sol-daten nicht Tapferkeit erwarten, wenn uns selbst der Mutfehlt, uns zu dem zu bekennen, was wir beschlossen ha-ben.
In einem Interview, das am letzten Sonntag in derFrankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienen ist,hat Hauptfeldwebel Daniel Seibert minutiös ein Gefechtbeschrieben, in das er am 4. Juni des letzten Jahres ge-riet. Auf die Frage, ob er selbst in diesem Gefecht ge-schossen und einen Menschen getötet hat, antwortet er– ich zitiere –:Ich habe ihn erschossen. Er oder ich, darum ging esin diesem Fall.
Daniel Seiberts Handeln während des Gefechts war es zuverdanken, dass ein Spähtrupp aus einem Hinterhalt derTaliban befreit werden konnte. Hauptfeldwebel Seibertwurde für Tapferkeit ausgezeichnet. Das bedeutet ihm,wie er in dem Interview weiter ausführt, nicht viel.Wichtiger seien ihm Anerkennung und Respekt für dieHärte seines Einsatzes, Anerkennung und Respekt vonuns allen, von allen Bürgerinnen und Bürgern, Respektfür ihn und alle Soldaten, die in Extremsituationen ihresLebens kommen, die wir uns in Deutschland kaum odergar nicht vorstellen können.
Anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreisesam 10. Dezember des letzten Jahres hat der amerikani-sche Präsident Barack Obama gesagt – ich zitiere –:Ja, die Mittel des Krieges spielen eine Rolle in derErhaltung des Friedens. Und doch muss dieseWahrheit neben einer anderen bestehen, nämlichder, dass Kriege menschliche Tragödien bedeuten,wie gerechtfertigt sie auch immer sein mögen. DerMut des Soldaten ist ruhmreich, ein Ausdruck derAufopferung für sein Land, für die Sache und fürseine Waffenbrüder. Doch der Krieg selbst ist nie-mals ruhmreich, und wir dürfen ihn niemals so nen-nen.In anderen Worten: Wir müssen das Leid beim Na-men nennen. 43 deutsche Soldaten haben seit Beginn un-seres Einsatzes ihr Leben in Afghanistan verloren.24 von ihnen sind durch sogenannte Feindeinwirkungund im Kampf gefallen. Unbeteiligte Menschen habenihr Leben verloren – auch infolge deutschen Handelns,wie beim Luftschlag in Kunduz am 4. September ver-gangenen Jahres.Jeder Tod beendet nicht nur ihr Leben, er trifft auchimmer gelebte zwischenmenschliche Nähe, Liebe, Hoff-nungen und Träume. Deshalb ist es wieder und wiederwichtig, dass wir uns klarmachen, warum wir jungeFrauen und Männer in ein fernes Land schicken, wo ihreGesundheit an Körper und Seele und ihr Leben immerwieder in Gefahr sind.
Es ist wieder und wieder wichtig, dass wir Politiker dieTatsachen klar benennen. Es ist wieder und wieder wich-tig, sich auch als Mitglieder der Bundesregierung und alsAbgeordnete zu den menschlichen Zweifeln zu beken-nen, die jeder von uns schon hatte oder hat: die Zweifel,ob dieser Kampfeinsatz in Afghanistan tatsächlich un-
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abweisbar ist. Erst wenn wir uns diesen Zweifeln stellen,können wir den Einsatz glaubhaft verantworten. So je-denfalls geht es mir. Dennoch – und so stehe ich wie diegroße Mehrheit dieses Hauses hinter diesem Einsatz.
Dass afghanische Frauen heute mehr Rechte als frü-her haben, dass Mädchen zur Schule gehen dürfen, dassStraßen gebaut werden und dass vieles, vieles mehr ge-schafft wurde, ist das Ergebnis unseres Einsatzes in Af-ghanistan.
Das lohnt sich, und das ist mancher Mühe wert.Dadurch alleine könnte der Einsatz unserer Soldatendort aber nicht gerechtfertigt werden. In so vielen ande-ren Ländern dieser Welt werden die Menschenrechtemissachtet, werden Ausbildungswege verhindert, sindLebensbedingungen katastrophal – und trotzdem entsen-det die internationale Gemeinschaft keine Truppen, umsich dort militärisch zu engagieren. Nein, in Afghanistangeht es noch um etwas anderes.Der berühmte Satz unseres früheren Verteidigungsmi-nisters Peter Struck bringt das für mich auf den Punkt. Ersagte vor Jahren:Die Sicherheit Deutschlands wird auch am Hindu-kusch verteidigt.
Bis heute hat niemand klarer, präziser und treffenderausdrücken können, worum es in Afghanistan geht. Bis-lang ist diesem Satz aber vielleicht noch nicht eine aus-reichende Debatte darüber gefolgt, was genau es bedeu-tet, wenn wir sagen: Deutschlands Sicherheit wird aucham Hindukusch verteidigt.
Unsere Sicherheit, in einem freien Rechtsstaat lebenzu können, wird heute von Entwicklungen gefährdet, dieweit außerhalb unserer Grenzen entstehen können. Dasist an sich keine neue Entwicklung, aber in Zeiten derGlobalisierung hat es eine neue Qualität erlangt.Der internationale Terrorismus und die von ihm ausge-hende sogenannte asymmetrische Bedrohung durch Men-schen, denen ihr eigenes Leben nichts bedeutet – dies isteine der großen Schattenseiten der Globalisierung. Dochsowenig man die Globalisierung abschaffen kann – wasich nicht will, was aber auch gar nicht ginge, selbst wennman es wollte –, so wenig dürfen wir in unseren Anstren-gungen nachlassen, den Gefahren für das Recht, die Si-cherheit und die Freiheit unseres Landes dort zu begeg-nen, wo sie entstehen.Es ist müßig und an dieser Stelle auch völlig unnötig,darüber zu diskutieren, in welchem Zusammenhang diehistorischen Ereignisse der Jahre 1989 und 1990, diezum Ende des Kalten Krieges geführt haben, auch mitdem ebenfalls 1989 abgeschlossenen Abzug der sowjeti-schen Soldaten aus Afghanistan stehen könnten. DieseDiskussion kann und will ich hier nicht führen, aber et-was anderes steht fest, und zwar, dass Afghanistan durchden Sieg der Taliban Jahre später zur Heimstatt interna-tionaler Terrororganisationen wie al-Qaida gemachtwurde.Die Terrorangriffe des 11. September hatten ihreWurzeln in den Ausbildungslagern der al-Qaida im vonden Taliban beherrschten Afghanistan. Aus ihnen sinddie Attentäter von New York und Washington und späterdie von London und Madrid unerkannt hervorgegangen.Viele dieser Gruppen haben unerkannt unter uns gelebt.Ja, sie haben inzwischen auch bei uns in Deutschlandverheerende Anschläge geplant. Wir hatten bisher ledig-lich das Glück, sie noch rechtzeitig verhindern zu kön-nen.Es wäre jedoch ein Trugschluss, zu glauben, Deutsch-land wäre nicht im Visier des internationalen Terroris-mus. Die Anschläge des 11. September haben uns ahnenlassen, was sich mittlerweile bestätigt hat: dass sich un-ter den Bedingungen der Globalisierung die Herausfor-derungen an unsere Sicherheitspolitik nach dem Endedes Kalten Krieges drastisch gewandelt haben. Es wirdin Zukunft weit weniger als bisher um Konflikte zwi-schen Staaten gehen. Es sind die asymmetrischen Kon-flikte, die unsere sicherheitspolitische Zukunft dominie-ren werden.Es sind Taliban und ihre Verbündeten in Afghanistan,die sich hinter Stammes- und Dorfstrukturen unerkanntverstecken und damit selbst hinter Frauen und Kindern,um dann mit militärischen Mitteln zuzuschlagen. Es sindPiraten vor der Küste Somalias, die mit räuberischen At-tacken unsere Handelswege in Gefahr bringen. Es sinddie Gefahren, die nicht dem klassischen, dem gewohntenMuster von Konflikten und Kriegen entsprechen, dieauch aus weiter Entfernung in Windeseile direkt zu unsgelangen können.Dennoch: Es ist und bleibt zunächst nicht eine militä-rische Aufgabe, dieser Bedrohung zu begegnen, ganz imGegenteil: Der Einsatz der Bundeswehr ist und bleibtnur Ultima Ratio.
Er kann stets nur das äußerste Mittel sein, streng gebun-den an Völker- und Verfassungsrecht.Deutschland übt sich auch aufgrund seiner Geschichtenicht nur in Afghanistan in militärischer Zurückhal-tung. Ich sage: Deutschland übt sich aus gutem Grund inmilitärischer Zurückhaltung. Militärische Zurückhaltungund der Einsatz militärischer Mittel als Ultima Ratio – dasist Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland, undzwar verbunden mit der politischen Verantwortung, die
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wir aufgrund unserer wirtschaftlichen Stärke, unserergeografischen Lage im Herzen Europas wie auch als Mit-glied unserer Bündnisse wahrnehmen.Wir sind eingebunden in die Partnerschaft mit denVerbündeten in der Europäischen Union und der NATO.Alleine vermögen wir wenig bis nichts auszurichten. InPartnerschaften dagegen schaffen wir vieles.Seit 1990, also seit der Wiedervereinigung und demEnde des Kalten Krieges, ist unser Land einen beachtli-chen Weg gegangen.
Im Rahmen der Wiedervereinigung haben wir den Auf-bau einer Bundeswehr geschafft, die seit 1990 das ge-samte Bundesgebiet umfasst, also auch das Gebiet derfrüheren DDR. Schritt für Schritt hat Deutschland inter-national Verantwortung gemeinsam mit unseren Verbün-deten in der NATO, in der europäischen Sicherheitspoli-tik und im Auftrag der Vereinten Nationen auchaußerhalb des Bündnisgebietes übernommen.War es unter den Bedingungen des Kalten Kriegesnoch völlig undenkbar, so stand die Bundeswehr wenigeJahre nach der deutschen Einheit bereits als Teil vonFriedenstruppen in Somalia oder auf dem Balkan. 1999erfolgte die Beteiligung Deutschlands am Einsatz imKosovo. Ohne Zweifel, es sind diese Einsätze im Aus-land, die heute den Auftrag, die Struktur und den Alltagder Bundeswehr wesentlich bestimmen.
Zurzeit beteiligt sich Deutschland mit rund 6 600 Sol-datinnen und Soldaten an elf Missionen. Deutsche Solda-tinnen und Soldaten sind in Bosnien-Herzegowina, imKosovo, im Sudan, vor der Küste des Libanon, im Mittel-meer und in Afghanistan im Einsatz. Die rechtliche Ab-sicherung dieser Auslandseinsätze ist in mehreren Ent-scheidungen des Bundesverfassungsgerichts erfolgt. Siefinden statt auf dem Boden von Mandaten des DeutschenBundestages. Mit ihnen wird über die Abgeordneten einwichtiges Zeichen für die Verbindung der Bürgerinnenund Bürger unseres Landes mit unseren Soldatinnen undSoldaten gesetzt.
Dies ist wichtiger denn je. Denn die Bundeswehr wirdihren Auftrag nur dann erfüllen können, wenn sie sichauf den nötigen Rückhalt in der Gesellschaft verlassenkann
und wenn dieser Rückhalt auch sichtbar wird.
Auf der Grundlage dieses rechtlichen Rahmens fürunsere Bundeswehr sage ich unmissverständlich: ZumEinsatz der Bundeswehr im multilateralen Rahmen wieden Vereinten Nationen, der Europäischen Union undder Nato sind wir bereit, wenn er dem Schutz unsererBevölkerung oder dem unserer Verbündeten dient.
Wer deshalb heute den sofortigen, womöglich sogar al-leinigen Rückzug Deutschlands unabhängig von seinenBündnispartnern aus Afghanistan fordert, der handeltunverantwortlich.
Nicht nur würde Afghanistan in Chaos und Anarchieversinken, auch die Folgen für die internationale Ge-meinschaft und ihre Bündnisse, in denen wir Verantwor-tung übernommen haben, und für unsere eigene Sicher-heit wären unabsehbar. Die internationale Gemeinschaftist gemeinsam hineingegangen; die internationale Ge-meinschaft wird auch gemeinsam hinausgehen. Handeltesie anders, wären die Folgen – das ist meine Überzeu-gung – weit verheerender als die Folgen der Anschlägevom 11. September 2001.Dies zeigt allein ein Blick auf die Landkarte: Afgha-nistan hat in seiner unmittelbaren Nachbarschaft die Nuk-learmacht Pakistan. Wir müssen davon ausgehen, dassein weiterer unmittelbarer Nachbar Afghanistans, derIran, alles unternimmt, um Nuklearmacht zu werden.Vor einigen Tagen habe ich zusammen mit vielenStaats- und Regierungschefs auf Einladung des ameri-kanischen Präsidenten Barack Obama am Nukleargip-fel in Washington teilgenommen. Wir waren uns einig:Der Atomterrorismus gehört zu den größten Bedro-hungen für die Sicherheit der Welt. Organisationen wieal-Qaida versuchen, in den Besitz von Nuklearwaffen zukommen oder nukleares Material zu erlangen, um damitals sogenannte schmutzige Bomben nuklear angerei-cherte konventionelle Waffen zu bauen.
Besonders gefährlich ist die Situation in Pakistan, Af-ghanistans östlichem Nachbarn. Die Lage dort ist heuteschon sehr fragil. Gingen wir nicht ganz konsequent dienukleare Abrüstung an, wie wir es uns in Washingtonvorgenommen haben, und verließen wir planlos Afgha-nistan, würde die Gefahr erheblich steigen, dass Nuk-learwaffen und Nuklearmaterial in die Hände vonextremistischen Gruppen gelangen könnten. Dies mussverhindert werden, meine Damen und Herren.
Wir dürfen niemals vergessen, worum es für uns inAfghanistan geht: Es geht nicht um einen Konflikt zwi-schen sogenanntem Abendland und Morgenland, es gehtnicht um eine Auseinandersetzung zwischen Christen-tum und Islam. Ein Im-Stich-Lassen der moderaten mus-limischen Kräfte in Afghanistan durch einen überstürz-ten oder gar alleinigen Abzug wäre nur eines: eineErmutigung für alle Extremisten, die weit über Afgha-nistan und seine Nachbarn hinausginge. Deshalb kanngar nicht oft genug gesagt werden: Es geht um die Si-
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cherheit Deutschlands, die Sicherheit Europas, die Si-cherheit unserer Partner in der Welt, die auch am Hindu-kusch verteidigt wird.Die Partner der internationalen Gemeinschaft wissen,dass wir Afghanistan nicht zu einer Demokratie nachwestlichem Vorbild machen können. Darum hat es auchgar nicht zu gehen. Etwas mehr als acht Jahre nach Be-ginn des Einsatzes müssen wir feststellen – ich sage diesdurchaus auch selbstkritisch und ohne jede Schuldzu-weisung gegen irgendjemanden –: Es gab manche Fort-schritte, es gab zu viele Rückschritte, und unsere Zielewaren zum Teil unrealistisch hoch oder sogar falsch.
Es ist deshalb in seiner Bedeutung gar nicht hoch genugeinzuschätzen, dass auf der Londoner Afghanistan-Konferenz vor gut drei Monaten gemeinsam mit derneuen afghanischen Regierung wichtige neue Weichen-stellungen unseres bisherigen Vorgehens in Afghanistanvorgenommen wurden.
Es wurde die Strategie der vernetzten Sicherheit verab-schiedet, in der die Sicherheitspolitik und die Entwick-lungspolitik eng miteinander verbunden sind.
Die Londoner Strategie schließt alle politischen KräfteAfghanistans ein. Ja, es ist ein Angebot auch an diejeni-gen unter den Taliban und den Aufständischen, die bereitsind, Gewalt und Terror abzuschwören. Es ist ein Ange-bot an alle, die sich am Aufbau einer guten Zukunft ihresLandes beteiligen wollen.Die Londoner Strategie sieht vor, die afghanischen Si-cherheitskräfte so auszubilden, dass sie schnellstmöglichin die Lage versetzt werden, für die Sicherheit und Stabi-lität ihres Landes selbst zu sorgen. Bereits 2011 wollenwir mit der Übergabe in Verantwortung beginnen.
Die Londoner Strategie stimmt unsere Aufbau- undAusbildungsleistung mit den Entwicklungsmaßnahmenunserer Partner genau ab. Die Londoner Strategie hatausdrücklich eine regelmäßige Überprüfung von Bench-marks, Zielen und Maßnahmen festgelegt. Eine erste Bi-lanz wird die nächste Konferenz am 20. Juli in Kabulziehen, an der der Bundesaußenminister teilnehmenwird.
In einem Wort: Die Londoner Strategie schafft die Vo-raussetzungen für eine Übergabe in Verantwortung. Da-rum, um eine Übergabe in Verantwortung, hat es der in-ternationalen Staatengemeinschaft zu gehen, nicht umeinen Abzug in Verantwortungslosigkeit wie auch nichtum den Versuch, Afghanistan zu einer Demokratie nachwestlichem Vorbild zu machen. Das missachtete entwe-der unsere eigenen Sicherheitsinteressen, oder es wärezum Scheitern verurteilt, weil es die kulturellen, histori-schen und religiösen Traditionen der afghanischen Ge-sellschaft unberücksichtigt ließe. Es ist wahr: Die Tradi-tionen der Stammesversammlungen und der Loya Jirgain Afghanistan sind uns nicht vertraut, sondern fremd.Aber wahr ist auch: Sie sind eine eigene afghanischeTradition der konsensorientierten Entscheidungsfindung,die auf ihre Weise Prinzipien von Rechtsstaatlichkeit er-möglichen kann.Nicht nur aufgrund meiner eigenen Erfahrung in derDDR halte ich den Rechtsstaat für die größte zivilisatori-sche Errungenschaft der Menschheit.
Rechtsstaatlichkeit – das meint nicht nur, aber zunächstdie Freiheit der Menschen von Willkür und Unterdrü-ckung, von Anarchie und Chaos, von einer Situation, inder jeder in der ständigen Angst leben muss, verfolgtoder getötet zu werden. Erst wenn den Menschen diesepermanente Angst genommen wird, erst wenn der Staatin der Lage ist, das elementare Bedürfnis seiner Bevöl-kerung nach Sicherheit zu erfüllen, erst dann gewinnenMenschen auch den Freiraum, ja die Freiheit, sich demAufbau ihres Landes zu widmen, ihrer Bildung, ihrerWirtschaft, ihrem sozialen Ausgleich.Es ist die vornehme Aufgabe der internationalen Staa-tengemeinschaft, Afghanistan beim Aufbau einer sol-chen Ordnung zu unterstützen, und zwar weil das unse-rer eigenen Sicherheit dient. Das ist der Auftrag, den dieNATO und ihre Verbündeten, also auch die Soldatinnenund Soldaten der Bundeswehr, dort erfüllen. Es ist rich-tig: Sicherheit kann es auf Dauer nicht ohne Entwick-lung geben; aber genauso richtig ist: Sicherheit ist dieVoraussetzung jeder Entwicklung und die Voraussetzungdafür, dass sich in einem Land wie Afghanistan nichtwieder Brutstätten des internationalen Terrorismus bil-den, die uns in Europa und der Welt bedrohen können.Das eine ist die Voraussetzung des anderen. Die interna-tionale Gemeinschaft wird ihre militärische Präsenz solange aufrechterhalten, wie es nötig ist, nicht länger, aberauch nicht kürzer. Unser Einsatz ist nicht auf Dauer an-gelegt, aber auf Verlässlichkeit. Das ist der Kern derÜbergabe in Verantwortung, die wir in London eingelei-tet haben und die wir erfolgreich beenden werden.
Herr Präsident, meine Damen und Herren, liebe Kol-leginnen und Kollegen, die 43 Soldaten, die in ihremEinsatz für Deutschland in Afghanistan ihr Leben verlo-ren haben, haben den höchsten Preis gezahlt, den einSoldat zahlen kann. Sie haben uns Deutsche mit davorbeschützt, dass wir in Zeiten der globalen Dimension un-serer Sicherheit im eigenen Land Opfer von Terroran-schlägen werden.
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3480 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
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Alle Soldaten, die in Afghanistan Dienst tun, verdienenunsere Solidarität und unser Mitgefühl. Sie leben ständigin Angst, verletzt oder getötet zu werden. Sie leben indieser Angst, damit wir zu Hause in Deutschland nichtAngst haben müssen. Dafür gebühren ihnen unser Dank,unsere Hochachtung und unsere Unterstützung.Herzlichen Dank.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Sigmar Gabriel für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Frau Bundeskanzlerin! Meine Damenund Herren! Wie alle hier trauern die Sozialdemokrati-sche Partei Deutschlands und die SPD-Bundestagsfrak-tion um die verletzten und getöteten deutschen Soldaten,die in den vergangenen Wochen Opfer hinterhältiger An-schläge und Angriffe in Afghanistan wurden. Wir erin-nern uns zugleich an die früheren Opfer, übrigens auchunter den zivilen Aufbauhelfern, in Afghanistan. UnserMitgefühl gilt den Angehörigen und Familien. Unddoch – das weiß ich jedenfalls und wissen sicher vielevon uns –: Niemand von uns kann das Leid der Angehö-rigen und Freunde wirklich nachempfinden, und nichtskann den Verlust des Ehemanns, des Lebenspartners, desFreundes, des Vaters, des Sohnes, des Bruders oder desEnkels ungeschehen machen. Auch wenn wir als Abge-ordnete des Deutschen Bundestages heute noch einmalund sicher nicht zum letzten Mal über den Sinn des Af-ghanistan-Einsatzes beraten und ihn begründen: KeinWort und keine Erklärung von uns werden die Angehöri-gen, Familien und Freunde wirklich trösten können.Wir debattieren heute erneut eine Regierungserklä-rung, weil wir zu Recht immer wieder darüber beratenmüssen, ob die Gründe, die uns, jedenfalls die übergroßeMehrheit dieses Parlaments, zu diesem Auslandseinsatzder Bundeswehr bewogen haben, wirklich so wichtig,so fundamental und so tragfähig sind, dass wir bereitsind, das Leben anderer zu gefährden. Die Soldatinnenund Soldaten der Bundeswehr sind nicht freiwillig in Af-ghanistan.
Sie leisten dort Dienst, weil dieses Parlament es so be-schlossen hat. Deshalb haben sie zuallererst Anspruchauf Solidarität, Unterstützung und natürlich auch auf denRespekt vor ihrem Mut und ihrer Tapferkeit in einemebenso schwierigen wie gefährlichen Einsatz.
Über jeden dieser Einsätze wurde hier im DeutschenBundestag mit großer Ernsthaftigkeit debattiert, wasdeutlich macht: Wenn es um Leib und Leben von Men-schen geht, die im Auftrag der Bundesregierung und aufBeschluss des Bundestages einen militärischen Einsatzdurchführen, dann stehen wir alle als Mitglieder des Par-laments in einer besonderen Verantwortung, die wirnicht delegieren können, weder an dem Tag, an dem wirentscheiden, noch in den Wochen und Monaten und Jah-ren danach. Aber wir sind als Demokraten zugleich ver-pflichtet, den Kolleginnen und Kollegen, die einem sol-chen Einsatz nicht zustimmen können, unseren Respektnicht zu versagen. Das gilt umgekehrt übrigens genauso.Natürlich kommen vielen von uns angesichts vonschwer verwundeten und getöteten Soldaten und Zivilis-ten in Afghanistan, angesichts des Leids in den betroffe-nen Familien und unserer Hilflosigkeit ihnen gegenüberimmer wieder Zweifel, ob wir eigentlich das Richtigetun. Warum sage ich das zu Beginn? Weil wir gut darantun, diese Zweifel auch im Deutschen Bundestag zuzu-lassen. Sie zwingen uns immer wieder dazu, die Fragenach der Rechtfertigung der Gefährdung von Men-schenleben, egal ob es Deutsche, Afghanen oder Ver-bündete sind, zu überprüfen und zu beantworten. Sindunsere Begründungen und die der Vereinten Nationenzutreffend? Sind vor allem unsere gesetzten Ziele inAfghanistan realistisch und erreichbar? Ganz offen-sichtlich – machen wir uns nichts vor! – überzeugen wirdie Mehrheit der Deutschen derzeit nicht von unserenBegründungen und Zielen.
Wir müssen erkennen: Dieser Afghanistan-Einsatz löstzunehmend Befürchtungen aus, und mit jedem verletz-ten und getöteten Soldaten schwinden offensichtlich Ak-zeptanz und Rückhalt in unserer Bevölkerung.Seit ihrer Gründung hat die Bundesrepublik einen tie-fen und wirklich umfassenden politischen, kulturellenund sozialen Wandel durchlebt. Unser Land ist durchund durch zivil, dem Frieden verpflichtet, ist eine wirk-lich zivile Gesellschaft geworden. Auslandseinsätze derBundeswehr sind zwar seit über 15 Jahren keine Neuheitmehr, aber immer noch keine Selbstverständlichkeit –und ich sage: Das muss auch so bleiben.
In Deutschland werden Berichte über getötete und gefal-lene deutsche Soldaten und Zivilisten nie als Normalitätund mit Gleichgültigkeit aufgenommen – auch das mussso bleiben. Wir dürfen uns an getötete Soldaten ebensowenig gewöhnen wie an die Toten in der Zivilbevölke-rung.Die Fähigkeit und die Bereitschaft kollektiver Anteil-nahme sind auch eine Lehre aus der deutschen Ge-schichte. Sie zeichnen unser heutiges Deutschland alsZivilgesellschaft aus. Darauf können wir zuallererst ein-mal stolz sein.
Aber umso mehr ist die Unterstützung der Mehrheit inunserer Bevölkerung das Entscheidende für den Einsatzeiner Parlamentsarmee. Denn bleibt es beim schwinden-
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den Zutrauen unserer Bevölkerung in unsere Entschei-dungen im Parlament, dann ahnen und wissen doch auchdie Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr in Afgha-nistan, dass ihr Einsatz am Ende auf wackeligen Füßensteht. Neben allen Solidaritätsbekundungen für die Sol-daten der Bundeswehr muss es uns Abgeordneten, diewir den Einsatz beschlossen haben und ihn weiterhin fürrichtig halten, vor allem darum gehen, die Unterstützungder Mehrheit unserer Bevölkerung für den Einsatz zu-rückzugewinnen. Das ist für die Soldatinnen und Solda-ten die eigentliche Rückendeckung, nicht nur Erklärun-gen im Parlament.
Die SPD – und die sozialdemokratische Bundestags-fraktion – ist in ihrer großen Mehrheit davon überzeugt,dass die Beteiligung Deutschlands am militärischen Ein-satz im Auftrag der Vereinten Nationen in Afghanistanweiterhin gerechtfertigt und notwendig ist;
denn unter dem Schutz der radikal-islamischen Talibanhatte das Terrornetzwerk al-Qaida von Afghanistan ausdie monströsen Anschläge mit Tausenden Toten geplantund durchgeführt. Nach nicht einmal drei Monaten wa-ren das Taliban-Regime gestürzt, die Al-Quaida-Terro-risten vertrieben und die Ausbildungslager zerstört. Jetztgeht es darum, Afghanistan eben nicht wieder zu einemRückzugsgebiet für international operierende Terroristenwerden zu lassen.Fest steht: In den ersten Jahren des Einsatzes hat esunbestritten große Erfolge beim Wiederaufbau gegeben.
Fest steht aber auch: Spätestens seit 2006 hat sich dieSituation in Afghanistan deutlich verändert. Die Tali-ban sind wieder erstarkt, ihr Rückhalt in der Bevölke-rung wächst. Sie beherrschen weite Teile des Landes, sieverwickeln die internationalen Truppen in einen asym-metrischen Konflikt mit Selbstmordattentaten, Spreng-fallen und Hinterhalten. Nicht nur in Deutschland – dasist wichtig, auch bei uns zu registrieren –, auch in denUSA und anderen Staaten, die Truppen nach Afghanis-tan entsandt haben, macht sich eine wachsende Skepsisbreit, ob denn der militärische Einsatz wirklich die ge-wünschte Sicherheit und Stabilität in Afghanistan bewir-ken kann.Die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes wollenvon uns wissen, wie es in Afghanistan weitergehen soll,welche Ziele wir dort eigentlich verfolgen, warum deut-sche Soldaten dort immer noch eingesetzt werden, wofürsie ihr Leben riskieren und 43 von ihnen bereits ihr Le-ben verloren haben. Wir Sozialdemokraten haben mitgroßer Mehrheit dem neuen Bundestagsmandat zuge-stimmt, weil wir der Überzeugung sind, dass ein Ab-bruch des UN-Einsatzes mit weit mehr Gefahren undMenschenleben bezahlt werden würde, als das im aktu-ellen Einsatz der Fall ist und sein kann. Nicht nur diedurchaus in vielen Bereichen erreichte Freiheit und dasLeben vieler Afghanen würden wieder gefährdet; dieRückkehr des Terrornetzwerkes in ein weiter destabili-siertes Afghanistan würde am Ende natürlich auch vieleandere Länder der Welt, auch die Menschen in Deutsch-land, erneut und zusätzlich bedrohen.Man muss nun wirklich kein allzu großer Pessimistsein, um sich dramatische Sorgen um die Entwicklung inPakistan zu machen, einem Land, das bereits heute un-ter enormen Druck steht und in dem sich Atomwaffenbefinden. Es geht also bei dem Einsatz der Vereinten Na-tionen – wir tun in der öffentlichen Debatte manchmalso, als sei es ein Einsatz der Bundeswehr – weiterhin umdie Verhinderung der Destabilisierung des Weltfriedens.Das ist die Begründung für den Einsatz der VereintenNationen. Wir sind gebeten worden, uns daran zu beteili-gen.
Man kann nicht öffentlich die Forderung erheben, mi-litärische Gewalt zum Schutz von Menschen dürfe nurdurch die Vereinten Nationen eingesetzt werden, sichdann aber der Debatte entziehen, wenn die Vereinten Na-tionen das tun. Deswegen stehen wir zu diesem Auftragder Vereinten Nationen. Aber wir haben in dem Be-schluss auch dafür gesorgt, dass es in Afghanistan zu ei-nem Strategiewechsel kommt. Die Bundesregierung istdem gefolgt. Deshalb haben wir zugestimmt. Der Ein-stieg in eine verantwortungsvolle Perspektive für denAbzug aus Afghanistan, der 2011 beginnen soll und imZeitraum 2013 bis 2015 die Sicherheitslage in Afghanis-tan durch afghanische Kräfte, nicht durch internationaleTruppen sicherstellen soll, die Verdopplung des zivilenEngagements in Afghanistan, mehr Ausbildung für dieafghanischen Sicherheitskräfte, die stärkere Unterstüt-zung des innerafghanischen Versöhnungsprozesses undnoch mehr Sorgfalt beim Schutz der zivilen Bevölkerung– das waren und sind die zentralen Gründe, warum wirSozialdemokraten der Mandatsverlängerung vor weni-gen Wochen zugestimmt haben und zu dieser Zustim-mung stehen.
Eine Bundesregierung, Frau Bundeskanzlerin, die sichdiesem Mandat und der damit verbundenen verantwor-tungsvollen Abzugsperspektive verpflichtet fühlt, kannsich auf unsere Zustimmung verlassen. Was uns eherSorge macht, ist, ob die Bundesregierung eine gemein-same Vorstellung von dem hat, was die Bundeswehr dortleisten soll. Frau Bundeskanzlerin, genauso wie Sie ver-stehe und akzeptiere ich, dass Soldatinnen und Soldatender Bundeswehr in Afghanistan und auch die Menschenin unserer Bevölkerung angesichts der dramatischenLage in weiten Teilen Afghanistans nichts von politischerSemantik halten. Ich verstehe, dass die Menschen mitdem technokratischen Begriff „nicht internationaler be-waffneter Konflikt“ nichts anfangen können, wenn sieden Alltag beschreiben sollen. Aber so sehr ich Emotio-nen respektiere, gerade auch die der Soldatinnen und Sol-daten, die dort täglich mutig ihren Dienst tun: In einer soelementaren Frage müssen wir Politiker mehr sein als einEcholot öffentlicher Gefühle.
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Ich verlange von einer Bundesregierung, dass sie miteiner verantwortungsvollen und klaren Stimme sprichtund nicht Außen- und Verteidigungsminister für unter-schiedliche Interpretationen sorgen. Frau Bundeskanzle-rin, Sie haben vorhin den Begriff „Krieg“ erläutert. Ichlese Ihnen einmal vor, was Ihr Außenminister zu den Auf-forderungen Ihres Verteidigungsministers, diesen Einsatz„Krieg“ zu nennen, am letzten Wochenende wörtlich ge-sagt hat. Auf die Frage:Aber warum reden dann so viele in Berlin vonKrieg – bis hin zur Kanzlerin?antwortet Herr Westerwelle:… Krieg ist traditionell eine militärische Auseinan-dersetzung zwischen zwei oder mehr Staaten mitder Absicht der Eroberung oder Unterdrückung.Das ist in Afghanistan erkennbar nicht der Fall.
Ich stimme Ihrem Außenminister zu. Er hat recht.
Aber wenn er recht hat, dann passen Sie angesichts IhrerKriegsrhetorik bei der Benutzung des Begriffes „Krieg“auf. Ihre eigenen Leute kommen auf wirklich absurdeGedanken, zum Beispiel wenn dazu aufgefordert wird,wir sollten Leopard-Kampfpanzer nach Afghanistanschicken, damit die Taliban einmal in diese furchterre-genden Rohre schauen.
– Ich kann nichts dafür, dass in Ihrer Koalition solcheDebatten geführt werden. Ich stimme dem Bundes-außenminister ausdrücklich zu.
Außerdem dürfen wir der Delegitimierung des Afgha-nistan-Einsatzes nicht dadurch Vorschub leisten, dass wirso tun, als hätten wir den Einsatz bislang unterschätzt undwürden nun auf einmal feststellen, dass er gefährlich undlebensbedrohlich ist. Wer meint, er könne die Soldatenund die Bevölkerung durch die Kriegsrhetorik vom eige-nen Realitätssinn überzeugen, dem sei gesagt: Wir So-zialdemokraten sind bei unseren Mandatsentscheidungenfür den Bundeswehreinsatz in Afghanistan nie davon aus-gegangen, dass es sich eigentlich um einen Einsatz vonBausoldaten zum Brunnen- und Häuserbau handelt. Wirhaben immer gesagt, dass dieser Einsatz gefährlich istund dass unsere Soldaten einem Auftrag folgen, bei demdie Vereinten Nationen militärische Gewalt nicht nur zurSelbstverteidigung angefordert haben, sondern auch zurDurchsetzung ihres Auftrages. Wer also heute so tut, alshabe sich ein ursprünglich friedlicher Auftrag zum Kriegentwickelt, der muss sich nicht wundern, wenn diejeni-gen, die den eigentlichen Stabilisierungsauftrag der UNnie wahrhaben und akzeptieren, sondern immer nur dele-gitimieren wollten, auf einmal die Bundesregierung zumKronzeugen für ihre ursprüngliche Position erklären.
In Wahrheit löst der Kriegsbegriff keines unserer Pro-bleme. Er hilft nicht bei der dringenden Begründung desEinsatzes und übrigens auch nicht bei der Rechtssicher-heit für die Soldaten. Wer meint, dass die Bundeswehr inAfghanistan Krieg führen soll, der muss sagen, ob er da-mit etwas konkret anderes meint, als wir das heute tun.Wenn der Verteidigungsminister von Krieg redet und derAußenminister nicht, dann muss die Frage erlaubt sein,ob die Bundesregierung ein gemeinsames Verständnisvom Einsatz hat. Heißt für den Verteidigungsminister„Krieg“, dass das Schwergewicht nun doch auf militäri-scher Gewalt und nicht auf Ausbildung und zivilen Auf-bau gelegt werden soll
– Sie können diese Frage nachher beantworten –, odersind Sie der Überzeugung, dass mehr zivile Opfer inKauf genommen werden müssen? Wenn das so wäre,wäre es das Gegenteil dessen, was gestern der ISAF-Kommandeur, General McChrystal, uns und der Öffent-lichkeit hier erklärt hat. Er räumt dem Schutz der Zivil-bevölkerung absolute Priorität ein. Er will die militäri-sche Schwächung der Taliban, um Verhandlungen undpolitische Lösungen zu erreichen. Das wäre also das Ge-genteil unseres Mandatsbeschlusses. Wer das will, dermuss das Mandat ändern. Wir wollen das Mandat nichtändern, weder semantisch noch faktisch.
Frau Bundeskanzlerin, wenn ich Sie richtig verstan-den haben, wollen Sie das alles nicht ändern. Deswegenhabe ich die Bitte: Sorgen Sie dafür, dass Ihr Verteidi-gungsminister und Ihr Außenminister in Zukunft einegemeinsame Sprache für das finden, was dort stattfindet,am besten die des Außenministers.Ein anderer Punkt macht mir zusehends Sorgen: Wiegehen das Bundesverteidigungsministerium und dieBundeswehrverwaltung eigentlich mit den im Einsatz anKörper und Seele verwundeten und verletzten Soldatin-nen und Soldaten um? Der Wehrbeauftragte des Parla-ments hat dazu einige skandalöse Fälle geschildert, diemich wirklich betroffen und in Teilen sprachlos machen.
Da wurde von einem Zeitsoldaten, der in Afghanistanschwer verwundet wurde, der Auslandsverwendungszu-schlag zurückgefordert, weil er im Voraus gezahlt wurde.Nach seiner vierjährigen Dienstzeit wurde der Soldat ent-lassen, weil er keine dauerhafte Erwerbsminderung von50 Prozent nachweisen konnte. Die Fürsorgepflicht ge-genüber Soldatinnen und Soldaten, die ihr Leben in ei-nem hochgefährlichen Einsatz riskieren, müssen wirernster nehmen als bisher.
Wenn eine gesetzliche Lücke existiert, müssen wir sieschließen. Unsere Soldatinnen und Soldaten müssen sich
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darauf verlassen können, dass sie nicht nur bei ihrem le-bensgefährlichen Einsatz geschützt werden, sondernauch, dass die Fürsorgepflicht ihres Dienstherrn nichtendet, wenn sie nach dem Einsatz verletzt oder traumati-siert zurückkehren.Die Bilanz des Afghanistan-Einsatzes ist höchstambivalent. Fest steht: Bislang hat sich die Hoffnungnicht erfüllt, dass die Fortschritte bei der Bekämpfungder Taliban, beim Aufbau der Sicherheitskräfte und beimzivilen Aufbau so vorankommen, wie wir uns das vor-stellen. Diese Entwicklung dürfen wir nicht ignorieren.Wir brauchen nach einem eingeleiteten Strategiewechselim Zuge des aktuellen Mandates, das wir mit großerMehrheit beschlossen haben, zur weiteren Beurteilungder Lage in Afghanistan zwei Elemente:Erstens. Wir brauchen eine unabhängige, systemati-sche und wissenschaftlich gestützte Überprüfung desbisherigen Engagements, um wissen zu können, ob wirunsere Ziele wirklich erreichen.Zweitens. Wir brauchen mehr denn je eine internatio-nale Debatte darüber, wie wir den innerafghanischenVersöhnungsprozess vorantreiben können.Lassen Sie mich abschließend noch einmal etwas zuden Soldatinnen und Soldaten sagen: Wir bekennen uns– das sage ich nochmals – zur internationalen Verant-wortung für den Einsatz. Aber wir müssen und wollenauch die Erreichbarkeit der Ziele überprüfen; denn siesind keineswegs sicher zu erreichen. Das sind wir denSoldatinnen und Soldaten am allermeisten schuldig. Nurso lange, wie wir selbst die Erreichbarkeit der Ziele fürmöglich halten, dürfen wir Soldaten in den Einsatz schi-cken. Nur so lange, wie eine klare und unmissverständli-che Grundlage für unsere Entscheidungen besteht unddiese vor uns selbst zu rechtfertigen ist, können wir esanderen zumuten, in lebensgefährliche Situationen zugeraten. Das ist der Grund, warum die SPD eine solcheÜberprüfung einfordert, bevor wir das nächste Mal, incirca einem Jahr, über das Mandat entscheiden.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort erhält nun die Kollegin Birgit Homburger
für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! DerDeutsche Bundestag trauert um die in Afghanistan gefal-lenen Bundeswehrsoldaten. Unsere Gedanken sind beiden Familien, Freunden und Kameraden der Gefallenen.Ihnen gelten unser Mitgefühl und unsere Anteilnahme indiesen schweren Stunden. Und den verwundeten Solda-ten wünschen wir schnelle und vollständige Genesung.Das Geschehene hat in Deutschland zu Recht erneutzu einer öffentlichen Debatte über den Afghanistan-Ein-satz geführt. Die FDP-Bundestagsfraktion steht fest ander Seite der Soldatinnen und Soldaten. Wir stehen zudiesem Einsatz und halten das im Februar beschlosseneMandat unverändert weiterhin für eine gute und auchrechtlich vollständig tragfähige Grundlage. Dieses Man-dat hat keine Veränderung nötig.
Mit diesem Mandat sind erstmals eine Neubewertungder Sicherheitslage in Afghanistan und ein Strategie-wechsel hin zu mehr Ausbildung afghanischer Sicher-heitskräfte und zu zivilem Wiederaufbau verbunden.Endlich wird in Deutschland mit großer Offenheitüber die tatsächliche Lage in Afghanistan und die Ge-fährlichkeit des Einsatzes gesprochen.
Wer die Unterstützung der Menschen für diesen Einsatzwill, muss sich der Debatte stellen. Wir tun dies hier imDeutschen Bundestag immer wieder. Aber es ist auchunsere Aufgabe, diesen Einsatz öffentlich noch offensi-ver zu erklären. Wer die Unterstützung der Menschen fürdiesen Einsatz will, muss die Wahrheit sagen.
Ich kann verstehen – ich sage das ausdrücklich auchan die Adresse von Herrn Gabriel –, dass sich unsereSoldaten in Afghanistan wie in einem Krieg fühlen ange-sichts dessen, dass sie immer wieder in Gefechte geratenund es immer wieder Kampfhandlungen gibt. Diese Ge-fühle müssen wir ernst nehmen, und man muss sie auchzum Ausdruck bringen. Das ist in der Vergangenheit zulange ignoriert worden. Deshalb finde ich es gut, dasssich die Bundesregierung dem Alltag der Soldatinnenund Soldaten stellt und übereinstimmend deutlich macht,dass sie die tägliche Realität der Soldatinnen und Sol-daten in Afghanistan wahrgenommen hat und ihnen zurSeite stehen will.
Es war deshalb überfällig, dass der Bundesaußen-minister bei der Debatte über das Afghanistan-Mandatfür die Bundesregierung eine rechtliche Neueinschät-zung der Sicherheitslage im Norden Afghanistans vorge-nommen und den Einsatz als bewaffneten Konflikt imSinne des humanitären Völkerrechts charakterisierthat. Dieses Mandat hat niemanden in diesem HohenHause im Unklaren gelassen. Damit sind nämlich einerealistische Einordnung der Lage in Afghanistan undeine höhere Rechtssicherheit für die Soldatinnen undSoldaten verbunden. Diese neue rechtliche Qualifizie-rung hat Folgen für die Handlungsbefugnisse der Solda-tinnen und Soldaten und die Beurteilung ihres Verhal-tens. Das hat sich gerade am Montag bei der Einstellungdes Ermittlungsverfahrens gegen Oberst Klein gezeigt.Wir begrüßen ausdrücklich, dass dieses Ermittlungsver-fahren eingestellt wurde. Wir begrüßen ausdrücklich diehöhere Rechtssicherheit für unsere Soldatinnen undSoldaten.
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Birgit Homburger
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Diese Debatte hat auch dazu geführt, dass wir unsneuerlich mit der Frage der Ausrüstung und Ausstat-tung unserer Soldatinnen und Soldaten auseinanderset-zen. Hier zeigt sich, wie wichtig es ist, dass die Bundes-wehr eine Parlamentsarmee ist. Das garantiert eineöffentliche Debatte und eine ständige Überprüfung desHandelns. Genau das sind wir denen, die wir in den Ein-satz schicken, schuldig.
Mit dem Mandat ist ausdrücklich ein Strategiewech-sel verbunden. Das haben wir hier beschlossen; das istBestandteil der Begründung des Mandats. Das Leitmotivist die Übergabe der Verantwortung an die Afghanen.Ich wiederhole hier ausdrücklich, dass niemand längerals nötig in Afghanistan bleiben will. Wir wollen eineAbzugsperspektive erarbeiten. Deshalb ist es richtig,dass die Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte soverstärkt wird, dass die Afghanen selbst für Sicherheitund Ordnung sorgen können. Außerdem gibt es eine völ-lige Neuorientierung des Mandats in Richtung des zivi-len Wiederaufbaus.Präsident Karzai hat angekündigt, innerhalb dernächsten fünf Jahre die Sicherheitsverantwortung fürsein Land zu übernehmen. Bis dahin ist es noch ein wei-ter Weg; aber erstmals ist eine Abzugsperspektive er-kennbar. Ich möchte vor diesem Hintergrund auch fürmeine Fraktion deutlich sagen: Wer jetzt kopflos abzieht,wer jetzt die Afghanen in einer Situation alleine lässt, inder sie noch nicht selbst für Sicherheit und Ordnung sor-gen können, der trägt Mitverantwortung dafür, wenn das,was erreicht wurde, zunichtegemacht wird und Afgha-nistan wieder zum Zentrum des internationalen Terroris-mus wird. Das wollen wir ausdrücklich nicht.
Eine weitere Voraussetzung für den Abzug ist ein zi-viler Wiederaufbau. Ich habe bei Besuchen in Afgha-nistan oder bei Gesprächen mit Afghanen hier inDeutschland oft genug erlebt, dass wir gebeten wurden,zu bleiben. Die Menschen dort wollen eine Perspektivefür sich und ihre Familien. Deshalb haben wir beschlos-sen, dass das zivile Engagement nahezu verdoppelt wird.Allein im Haushalt des Bundesministeriums für wirt-schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung stehen250 Millionen Euro pro Jahr zur Verfügung, das heißt indieser Legislaturperiode 1 Milliarde Euro. Der Vergleichmit den Ausgaben im Zeitraum von 2002 bis 2010 – eswar insgesamt 1 Milliarde Euro – zeigt, wie ich finde,eindrucksvoll, dass ein Strategiewechsel an dieser Stelleherbeigeführt wurde.
Wir haben klare Ziele: Wir wollen den Menscheneine verlässliche Energie- und Wasserversorgung geben.Wir wollen, dass mehr Kinder in die Schule gehen kön-nen und eine qualitativ gute Ausbildung erhalten. Wirwollen auch helfen, die wirtschaftliche Entwicklungüberhaupt erst in Gang zu setzen. Das wollen wir nichtgegen, sondern gemeinsam mit den teils gewählten, teilstraditionellen lokalen Autoritäten durchsetzen.Deshalb muss die Diskussion über nötige Reform-maßnahmen der afghanischen Regierung im Zentrumder geplanten Afghanistan-Konferenz im Juli in Kabulstehen. Das bedeutet, dass die Zusagen, die hinsichtlichguter Regierungsführung, Korruptionsbekämpfung undVerwaltungsreform, hinsichtlich Rechtsstaatlichkeit undGarantie der Menschenrechte gemacht wurden, von Prä-sident Karzai und seiner Regierung eingehalten werdenmüssen. Ich glaube, es ist wichtig, dass die internatio-nale Gemeinschaft immer wieder genau die Einlösungdieser Zusagen einfordert.Wir wissen um die Gefährlichkeit des Einsatzes. Ichwill deshalb zum Schluss hier auch noch mal sehr deut-lich sagen: Jeder Abgeordnete ist sich seiner persönli-chen Verantwortung bewusst. Wir machen uns die Ent-scheidung nicht leicht, und wir begleiten die Umsetzungdes Mandats durch die Regierung intensiv.Unser Dank gilt allen, die sich in Afghanistan enga-gieren: Soldatinnen und Soldaten, Polizisten und zivilenAufbauhelfern. Durch sie wird erst die Umsetzung derpolitischen Konzepte möglich. Für ihre Leistungen unterschwierigsten Bedingungen gebühren ihnen Anerken-nung, Respekt und Hochachtung. Sie sollen wissen, dasssie sich auf die Unterstützung des Deutschen Bundesta-ges verlassen können.Vielen Dank.
Dr. Gregor Gysi ist der nächste Redner für die Frak-
tion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich ver-trete hier die Fraktion, die von Beginn an gesagt hat:Dieser Krieg ist falsch, er führt in ein Fiasko. Und eswird deutlich, täglich deutlicher, dass wir leider in jederHinsicht recht hatten.
Neu an der Situation ist, dass jetzt neue Vorwürfeauch gegen uns erhoben werden. Zum Beispiel sagt HerrWolffsohn von der Bundeswehrhochschule: Wer gegenden Krieg ist, hilft indirekt den Taliban.
– Passen Sie auf, was Sie da sagen. Die SPD, die Grü-nen, die Linken und andere haben erklärt, dass Deutsch-land nicht am Irakkrieg teilnimmt. Wenn Sie darausschlussfolgern, dass wir Hussein unterstützt hätten, istdas eine Unverschämtheit. Ich will das ganz klar sagen.
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Dr. Gregor Gysi
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Es geht auch um die Frage, ob man Respekt vor Sol-daten hat.
Der Respekt vor Soldaten wird denen abgesprochen, diefür Frieden kämpfen. Ich halte das für absurd.
Diejenigen, die gegen den Krieg waren, haben keine ein-zige Soldatin und keinen einzigen Soldaten je gefährdetund haben das auch nicht gewollt. Wenn unserer Forde-rung nach dem sofortigen Abzug stattgegeben würde,würden weitere Verletzte und Tote auf allen Seiten ver-hindert.
Dabei geht es uns auch um die afghanischen Zivilisten,die hier überhaupt noch nicht erwähnt worden sind.
Eine Grüne hat zu mir gesagt: Wenn deutsche Solda-ten sterben, dann sollte ich doch wenigstens schweigenund nicht in diesem Zusammenhang die Beendigung desKrieges fordern. Warum eigentlich nicht? Ich finde, ge-rade wenn Soldaten sterben, muss der Aufschrei großwerden, dieses Fiasko zu beenden.
Außerdem hat die grüne Abgeordnete selbst sofort beidem Tod der über 100 Zivilisten gesprochen. Wieso sollman in dem einem Fall reden dürfen und in dem anderenFall nicht? Nein, es geht nicht um verschiedene Rege-lungen, sondern es geht darum, eine Lösung zu finden.Und die Lösung sehen wir ausschließlich im sofortigen,im unverzüglichen Abzug der Bundeswehr.
Ich sage Ihnen: Die Mehrheit des Bundestages unddie Bundesregierung sollten auch vorsichtig sein, ande-ren Respekt abzusprechen. Sie schicken die Soldatinnenund Soldaten in den Krieg, und zwar, wie wir jetzt erfah-ren, ohne ausreichende Ausbildung und Ausrüstung.Sie planen jetzt mit dem US-General und ISAF-Kommandeur McChrystal die Beteiligung der Bundes-wehr an einer geplanten Großoffensive. Das bringtdoch wohl auch eine große Gefährdung für alle Betei-ligten mit sich.Sie haben für 4 500 Soldatinnen und Soldaten in Af-ghanistan einen einzigen Facharzt für Psychiatrie zurVerfügung gestellt. Es war der Wehrbeauftragte, nichtwir, der darauf hingewiesen hat, dass die Versorgung derzurückkehrenden Soldatinnen und Soldaten bei seeli-schen Traumatisierungen unzureichend ist. Er bemän-gelte auch, dass es zu wenig Fachärztinnen und Fach-ärzte für Psychiatrie hier in Deutschland bei derBundeswehr gebe.
– Herr Lindner, Sie können mich ruhig als geistig gestörtbetrachten, aber das sagt etwas über Ihr Niveau aus,nicht über mein Niveau, um das auch einmal ganz klarzu sagen.
Wer für all das die Verantwortung trägt, ist nicht imGeringsten berechtigt, den Kriegsgegnerinnen undKriegsgegnern mangelnden Respekt vor den Frauen undMänner der Bundeswehr in Afghanistan vorzuwerfen.Im Unterschied zu Ihnen sind wir nicht bereit, uns mitverletzten und toten afghanischen Zivilisten, mit verletz-ten und toten deutschen Soldaten und mit verletzten undtoten Soldaten afghanischer und anderer Streitkräfte ab-zufinden.
Wer die sofortige Beendigung des Krieges fordert, willdie Gesundheit und das Leben aller Beteiligten schützen.
Herr Bundestagspräsident, ich fand es sehr richtig,und Sie haben meine volle Zustimmung, dass Sie heuteder toten deutschen Soldaten gedacht haben. Dass wirdafür aufstehen, ist eine Selbstverständlichkeit. Dass wirdas alle tun, ist ebenfalls eine Selbstverständlichkeit.Aber ich füge hinzu: Einen Teil Ihrer Begründung teilenmeine Fraktion und ich nicht. Das muss ich deutlich sa-gen.
Ich möchte darauf hinweisen, dass es gut für den Bun-destag gewesen wäre, wenn wir auch für die über 100 to-ten afghanischen Zivilisten aufgestanden wären und ih-rer gedacht hätten.
Frau Bundeskanzlerin, wir haben es mit einer schwie-rigen Situation zu tun, weil die Begründung der Bun-desregierung für den Krieg ständig wechselt. Ich darfSie erinnern:Am Anfang hieß es – das war Ihre erste Begründung –,der Krieg müsse geführt werden, um den Terrorismus zubekämpfen. Aber wir alle wissen: Man kann mittelsKrieg Terrorismus nicht bekämpfen, man erzeugt nurneuen.
Wir wissen, dass die Taliban nicht direkt Terroristen wa-ren, sondern dass sie den al-Qaida-Terroristen die Aus-bildung etc. ermöglicht haben. Das Problem ist nur, dassdie al-Qaida nicht mehr in Afghanistan, sondern jetzt inPakistan und anderen Ländern ist. Wenn die Begründungstimmte, dass man Terrorismus bekämpfen müsste, woer existiert, wo es Lager und Ausbildung gibt, dannmüssten wir inzwischen in Pakistan, im Jemen, im Su-dan und in Somalia einmarschieren. Das fordert zu
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Dr. Gregor Gysi
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Recht niemand. Also ist die Begründung falsch; dennal-Qaida sitzt nicht mehr in Afghanistan.
Ich sage Ihnen noch einmal: Wenn man Terrorismuswirksam bekämpfen will, dann braucht man eine ge-rechtere Weltwirtschaftsordnung, einen neuen Dialogzwischen unterschiedlichen Kulturen und Religionen,uneigennützige Entwicklungshilfe und zivilen Aufbau.Ihre zweite Begründung lautet: Man braucht den mili-tärischen Schutz für den Aufbau einer zivilen Ordnung.Bundesinnenminister de Maizière hat aber festgestellt,die Polizeiausbildung in Afghanistan sei keine Erfolgs-geschichte. Wie wollen Sie erklären, dass Sie das, wasIhnen in fast neun Jahren nicht gelungen ist, jetzt in einpaar Monaten erledigt bekommen? Wer soll das glau-ben? Die UNO berichtete, dass nach fast neun JahrenKrieg neben einigen Fortschritten Folgendes festzustel-len ist: Die Zahl der Menschen, die in Afghanistan in Ar-mut lebt, ist von 33 auf 42 Prozent gestiegen. Unterer-nährt sind nicht mehr 30 Prozent, sondern 39 Prozent derAfghaninnen und Afghanen. Zugang zu sanitären Ein-richtungen haben nicht mehr 12 Prozent der Bevölke-rung, sondern nur noch 5,2 Prozent der Bevölkerung. InSlums leben nicht mehr 2,4 Millionen, sondern 4,5 Mil-lionen Menschen. All das belegen die Zahlen der UNO.Von den Jugendlichen sind nicht mehr nur 26 Prozent,sondern 47 Prozent arbeitslos. Mohnfelder zur Gewin-nung von Rauschgift umfassen nicht mehr 131 000, son-dern 193 000 Hektar. Warlords, also die Rauschgift- undWaffenhändler, regieren wie vor neun Jahren. Wo istdenn der zivile Fortschritt, den Sie dort angeblich seitacht Jahren mithilfe der Bundeswehr organisieren?
Zivile Helfer berichten, dass der zivile Aufbau ohneMilitär erfolgreicher verläuft als mit Militär. FrauMerkel, Herr Gabriel und Frau Homburger, ich sage Ih-nen: Ziviler Aufbau setzt Waffenstillstand und Verhand-lungen zwischen den verfeindeten Parteien voraus.
Krieg dagegen schürt Hass und bereichert die Möglich-keiten der Bin Ladens, neue Terroristinnen und Terroris-ten zu rekrutieren. Für den zivilen Aufbau braucht manergo Frieden und nicht Krieg.
Wir geben für die Bundeswehr in Afghanistan jähr-lich 1 Milliarde Euro aus. Wenn wir nur einen Teil diesesGeldes für den zivilen Aufbau ausgegeben hätten, wärenwir dort deutlich weiter.
Also trifft auch diese Begründung nicht zu.Als dritte Begründung haben Sie vorgebracht, die Ta-liban-Herrschaft müsse ausgeschlossen werden, es geheum die Herstellung einer Art demokratischer Verhält-nisse, nicht gerade unserer, aber immerhin. Ich bitte Sie,das ist doch kein Kriegsgrund. Es wird jetzt behauptet,wenn wir abzögen, würden die Taliban wieder herrschenwie früher. Wenn das stimmt, Frau Bundeskanzlerin,wozu waren wir denn dann fast neun Jahre dort? Habenwir nichts anderes erreicht als die Gewissheit, dass diealten Zustände wiederhergestellt werden, wenn wir ge-hen?
Darf ich Sie erinnern? Wenn das oben Genannte derMaßstab für Kriege ist, dann müssten wir doch wohl inUganda einmarschieren wegen der Kindersoldaten, inBangladesch wegen der Säureattentate auf junge Frauen,in Kenia wegen der Genitalverstümmelung von Mäd-chen, im Iran wegen der Hinrichtung von Oppositionel-len, in Saudi-Arabien wegen der Verweigerung demo-kratischer Rechte, insbesondere für Frauen, und in vieleandere Länder auch. Das kann doch nicht Ihr Ernst sein.Die Begründung sticht überhaupt nicht. Niemand willdort einmarschieren, und das ist auch keine Begründungfür Krieg in Afghanistan.
Jetzt kommt die vierte Begründung. BundesministerNiebel erklärte bei Frau Will im Fernsehen und Sie, FrauBundeskanzlerin, sagten es heute auch, es gehe darum,zu verhindern, dass Terroristen Zugriff auf Atomwaf-fen bekommen. Ich bitte Sie, Frau Bundeskanzlerin, inAfghanistan gibt es keine Atomwaffen. Wenn, dann gibtes die in Pakistan. Das wäre eine Begründung, wenn Siein Pakistan einmarschieren würden, aber nicht für einenEinsatz in Afghanistan.
Abgesehen davon sollen, wie jetzt festgestellt wordenist, die Atomwaffen in Pakistan genauso sicher sein wiedie in anderen Ländern, sodass selbst das keine Begrün-dung wäre.Nein, ich sage Ihnen, was das Problem ist: Das Pro-blem ist, dass Sie genau wissen, dass keine Begründungüberzeugt. Deshalb lassen Sie sich jeden Tag eine neueeinfallen. Das ist das, womit wir uns auseinandersetzenmüssen.
Frau Bundeskanzlerin, dann haben Sie auch heutewieder gesagt, ein Abzug sei unverantwortlich gegen-über den Bündnispartnern, weil man die nicht alleinelassen könne etc.Erstens ist dazu zu sagen: Wir sind ein souveränerStaat. Wir konnten doch auch beim Irakkrieg Nein sa-gen. Warum können wir hier nicht Nein sagen?Zweitens. Kanada und die Niederlande haben be-schlossen, ihre Truppen abzuziehen. Was werfen Sie de-nen denn vor? Das sind doch auch souveräne Länder. Siegehen nur einen anderen Weg als wir.
Es kommt noch etwas hinzu: Präsident Obama hat er-klärt, dass er die amerikanischen Truppen ab Mitte 2011abziehen will. Herr Niebel wurde im Fernsehen von Frau
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3487
Dr. Gregor Gysi
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Will gefragt, ob man denn damit rechnen könne, dassdann auch die deutschen Truppen abgezogen würden. Erwar zu keiner Antwort fähig. Sie haben heute auchnichts dazu gesagt. Ich bitte Sie, Sie wollen dort dochnicht noch alleine bleiben. Also sagen Sie doch wenigs-tens, dass Sie diesen Weg dann mitgehen. Das ist dochwohl das Mindeste, was man hier erwarten kann.
Herr Gabriel, ich habe Ihnen genau zugehört. Was ha-ben Sie denn gesagt? Sie haben gesagt, der Krieg istrichtig, aber Sie wollen ihn nicht so nennen. Das ist dochkeine sozialdemokratische Politik. Ich bitte Sie!
Vollziehen Sie doch einmal den Wechsel und kämpfenSie endlich für den Abzug.
Herr Kollege Gysi!
Ich bin sofort fertig, Herr Präsident. – Ich sage es
ganz klar, Frau Homburger: Wir wollen nicht kopflos
raus. Sie sind kopflos reingegangen. Das ist das Pro-
blem, mit dem wir es zu tun haben.
Ich sage Ihnen deshalb zum Schluss: Ich bin davon
überzeugt, dass auch die Mitglieder der Bundesregie-
rung und viele Mitglieder des Bundestages – weit mehr
als die Mitglieder unserer Fraktion – wissen: Dieser
Krieg war, ist und bleibt falsch. Frau Merkel, Ihnen fehlt
nur der Mut, dies einzuräumen, die Bundeswehr so
schnell wie möglich aus Afghanistan abzuziehen und
endlich entsprechend dem Willen der großen Mehrheit
der Bevölkerung unseres Landes zu handeln.
Nächster Redner ist der Kollege Volker Kauder für
die CDU/CSU-Fraktion.
– Darf ich zu den Aufforderungen aus dem Plenum kurz
etwas sagen: Zwischenrufe, die ich nicht gehört habe,
pflege ich mir im Protokoll anzusehen, bevor ich dazu
Stellung nehme.
Aber ich nutze gerne die Gelegenheit, allgemein da-
rauf hinzuweisen, dass man die Ernsthaftigkeit dieses
Themas nicht durch Temperamentwettbewerbe auf allen
Seiten unterstreichen muss. Im Übrigen komme ich auf
den Vorgang zurück, sobald ich mich damit vertraut ge-
macht habe.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir trauern um die toten Soldaten der letztenTage und Wochen. Wir werden am kommenden Samstagwieder toter Soldaten gedenken. Unsere Gedanken undunsere Gebete sind bei den Angehörigen, bei den Fami-lien dieser Soldaten. Wir drücken ihnen unsere Anteil-nahme aus. Wir wissen, was wir jungen Menschen, dieim Dienste unseres Landes unterwegs sind, zumuten, ja,auch zumuten müssen im Interesse der Verteidigung un-serer Sicherheit und Freiheit.Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, nach diesentragischen Vorgängen ist es völlig richtig, dass wir unsheute noch einmal fragen: Ist der Einsatz in Afghanistanrichtig, und ist er notwendig? Ich finde, die Bundeskanz-lerin hat in beeindruckender Weise deutlich gemacht,warum dieser Einsatz notwendig ist, nicht nur konkretder Einsatz in Afghanistan, sondern auch den Zusam-menhang mit der strategischen Lage dieses Landes.Peter Struck hat 2002 bei der Neuformierung der Bun-deswehr gesagt, dass die Sicherheit unseres Landes amHindukusch verteidigt wird. Er hat in einer Regierungs-erklärung im Jahr 2004 noch einmal präzisiert, was – dasmüssen wir uns immer wieder ins Gedächtnis zurückru-fen – der Ausgangspunkt des Einsatzes der Bundes-wehr war: Wir verteidigen die Sicherheit unseres Lan-des am Hindukusch, vor allem dann, wenn sich indiesem Land eine Bedrohung wie der Terrorismus for-miert. Das ist die erste Begründung dafür, dass wir sa-gen: Wir dürfen nicht zulassen, dass von Afghanistanwieder große und hohe Gefahren für unser Land, für dieMenschen in unserem Land ausgehen. Liebe Kollegin-nen und Kollegen, das ist der entscheidende Punkt.
Die Bundeswehr als eine Armee, die vom DeutschenBundestag eingesetzt wird, hat Anspruch darauf, dasswir, wenn wir sie einsetzen, auch zu ihr stehen. Deswe-gen haben wir allen Grund, zu sagen: Wir haben dasletzte Mandat in klarer Kenntnis dessen, was wir von derBundeswehr erwarten, erteilt und hier im DeutschenBundestag mit großer Mehrheit beschlossen. Wir habenes so formuliert, dass wir einmal dafür sorgen wollen,dass dieses Land nicht mehr Aufmarschgebiet von Ter-roristen ist, zugleich aber auch dafür sorgen wollen, dassdieses Land seine Sicherheit und damit auch unsereSicherheit selbst garantieren kann. Sehr verehrte Kol-leginnen und Kollegen, das betrifft sowohl unsere Si-cherheit als auch die Sicherheit der Menschen in Afgha-nistan.Sehr geehrter Herr Kollege Gysi, ich hätte mir von Ih-nen an diesem Tag inhaltlich, aber auch von der Formher einen anderen Auftritt gewünscht; das ist jedoch IhreSache. Ich will nur eines sagen: Wir haben eine Per-spektive für den Rückzug aus Afghanistan mit derAussage verbunden, dass die Sicherheitskräfte in Afgha-nistan die Sicherheit dort selbst gewährleisten können.
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3488 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
Volker Kauder
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Ich sage Ihnen: Das war zwingend notwendig. HerrGysi, wenn wir dies nicht machen würden, sondernschlicht und ergreifend sagen würden: „Irgendwann,morgen, übermorgen, heute, ziehen wir aus Afghanistanab“, dann würden wir die Menschen in großer Sorge undUnsicherheit zurücklassen, Menschen, die nicht wissen,auf wen sie sich verlassen können, und die damit rech-nen müssen, dass die Taliban zurückkommen und siesich nicht wehren können. Wir wissen doch – davon ha-ben Sie keinen Ton gesagt –, dass Taliban-Kämpfernachts Dörfer überfallen und Menschen hinmetzeln. Dasdarf nicht mehr passieren. Deswegen muss die Sicher-heit in Afghanistan für die Menschen dort und für uns inunserem Land gewährleistet werden.
Deutschland ist an einer Aktion beteiligt – dies hatHerr Gabriel völlig richtig gesagt –, die von der UNObeschlossen worden ist.
Nach den bitteren Erfahrungen im vergangenen Jahrhun-dert mit Weltkriegen war eine der zentralen Forderun-gen, eine Einrichtung zu schaffen, die Terror, Ungerech-tigkeit und Kriege verhindern kann. Diese haben wir inder UNO gefunden. Die UNO selber hat aber kein einzi-ges Instrument, um das, was sie beschließt, auch durch-zuführen und umzusetzen. Deswegen ist die UNO daraufangewiesen, dass ihre Mitglieder das, was dort beschlos-sen worden ist, auch vollziehen. Die Bundeswehr machtim Verein mit 40 anderen Armeen nichts anderes als das,was in der UNO beschlossen worden ist – dafür zu sor-gen, dass kein Terror mehr von Afghanistan ausgeht –,umzusetzen.
Wir haben in Afghanistan, wie ich finde, viel erreicht.Es bleiben aber noch Fragen offen; darauf hat die Bundes-kanzlerin hingewiesen. Afghanistan hat Grenzen zu Pa-kistan und zum Iran. Es ist, wie ich glaube, unbestritten– wahrscheinlich auch bei Ihnen, Herr Gysi; das möchteich Ihnen unterstellen –, dass vom Iran eine Gefahr fürdie Sicherheit in Europa und in Deutschland ausgeht,wenn dieses Land Atomwaffen hat. Wir sehen jetzt, wieschwer es ist, mit den Mitteln der Diplomatie und der Ver-handlung das Ziel zu erreichen, das die UNO formulierthat: dass der Iran auf Atomwaffen verzichtet. Wir sehen,wie schwer das ist, obwohl alle in der Welt sagen: Wirwollen nicht, dass der Iran Atomwaffen hat. – Wenn wirsehen, wie schwer dies ist, haben wir allen Grund, zu ver-hindern, dass sich in Afghanistan etwas etabliert, wasdiese Gefahr, die vom Iran ausgeht, vergrößert und nichtverkleinert.
Deswegen würde ich dringend raten, die Sache ein biss-chen strategischer und auch unter dem Gesichtspunkt derSicherheit der eigenen Bevölkerung zu sehen.Sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir haben inAfghanistan keine Ausbildungslager mehr. Von diesenAusbildungslagern ging aber die Gefahr aus. Wir habenjetzt das eine oder andere Ausbildungslager noch im be-nachbarten Pakistan, aber bei weitem nicht mehr in dieserDichte und Qualität. Trotzdem haben wir noch immerWanderungsbewegungen von Europa in Ausbildungsla-ger nach Pakistan. Dies ist eine Bedrohung für unserLand. Nicht umsonst haben wir unter Strafe gestellt,wenn jemand bewusst in ein solches Lager geht, um sichausbilden zu lassen und dann terroristische Anschlägeauszuführen.Dies alles würde sich weiter verstärken, wenn wir inAfghanistan nicht eine Regierung hätten, die dies unter-bindet, sondern eine Regierung, die dies zulässt und för-dert. Die Taliban sind im Augenblick vielleicht nicht dieGefahr, aber al-Qaida ist von der Terrorlandkarte nichtverschwunden.
Dass al-Qaida nur darauf wartet, dass sie wieder bessereMöglichkeiten bekommen, ihre „terroristischen Aufga-ben“ zu erfüllen, ist doch völlig klar.Deswegen muss noch einmal klar und deutlich formu-liert werden, worum es geht und was die jungen Menschenals Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan machen. Esgeht darum, Sicherheit herzustellen, zu verhindern, dassder Terrorismus eine neue Aufmarschbasis und einenneuen Nährboden bekommt. Es geht schlicht und ergrei-fend darum, dass diese jungen Menschen einen entschei-denden Beitrag dazu leisten, dass wir uns in unseremLand sicher fühlen und sicher bewegen können, HerrGysi. Darum geht es: um die Sicherheit der Menschen inunserem Land.
Ich bin sicher, dass wir mit unserer Arbeit zusammenmit den 40 anderen Nationen erreichen können, dasseine demokratisch gewählte Regierung in AfghanistanSicherheit herstellt. Junge Menschen bei der Polizei aus-zubilden, braucht auch bei uns mehr als ein Jahr. Wir bil-den in Afghanistan mit großer Intensität Polizeibeamteaus. Wir bilden aber auch Soldatinnen und Soldaten aus,damit sie ihrer Aufgabe gewachsen sind. Wenn dies ge-lingt, wenn eine gut ausgebildete und gut ausgerüsteteafghanische Armee dem Land Sicherheit bringen undaufrechterhalten kann, dann haben Terroristen in Afgha-nistan keine Chance mehr. Genau das ist das Ziel. Wennwir das erreicht haben – wir gehen mit ganzer Kraft he-ran –, dann können wir die Aufgabe der Sicherheit ver-antwortungsvoll in die Hand der afghanischen Sicher-heitskräfte legen.
Die afghanische Bevölkerung soll wissen: Wir lassen sienicht im Stich. Wenn die Sicherheit gewährleistet ist unddie Bevölkerung keine Angst davor haben muss, dass dieTaliban mit ganzer Macht und Brutalität wie vor diesemEinsatz wieder zurückkommen, dann haben wir unserZiel erreicht.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3489
Volker Kauder
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, klar ist auch, dasswir alles zur Verfügung stellen müssen, was unsere Sol-datinnen und Soldaten brauchen, um ihre gefährlicheAufgabe zu erfüllen. Deswegen sagen wir als Regie-rungskoalition zu, dass wir das, was die militärischeFührung und der Bundesverteidigungsminister an Aus-rüstung für die Soldaten im Einsatz und für die Ausbil-dung für notwendig halten, auch zur Verfügung stellenwerden. Darauf dürfen sich Bundeswehr und unsere Sol-datinnen und Soldaten verlassen.
Wir können heute feststellen, dass der tragische Todder Soldaten, der jungen Menschen, die in diesem Ein-satz in Afghanistan fallen, für alle Betroffenen, auch füruns, furchtbar ist. Keine Entscheidung im DeutschenBundestag fällt uns Kolleginnen und Kollegen so schwerwie die Entscheidung, junge Menschen in den Krieg, inden Einsatz nach Afghanistan zu schicken; denn bei die-ser Entscheidung sehen wir alle die Gesichter aus unse-rer Heimat, aus unseren Wahlkreisen, und wir alle hof-fen, dass die Soldatinnen und Soldaten wieder aus demEinsatz zurückkommen. Zur gleichen Zeit müssen wiraber auch sagen: Es dient einem großen Ziel: der Sicher-heit der Menschen in unserer Heimat.Herzlichen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Jürgen Trittin, Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich glaube,wir alle hätten es schön gefunden, wenn diese Regie-rungserklärung aus diesem Anlass nicht nötig gewesenwäre. Unsere Gedanken, unsere Trauer gehören den getö-teten und verletzten Soldatinnen und Soldaten und ihrenAngehörigen.Vor dem Hintergrund dieser Eskalation, der wir hierins Auge sehen, wäre es allerdings auch Zeit für einewahrhaftige Bestandsaufnahme gewesen: Was machenwir in Afghanistan? Haben wir einen Stabilisierungsein-satz, oder machen wir da Aufstandsbekämpfung? Was isteigentlich jetzt das politische Ziel? Wofür halten unsereSoldatinnen und Soldaten den Kopf hin? Wie lange müs-sen sie das noch tun?Ich habe Ihnen sehr aufmerksam zugehört. Die Ant-wort auf diese Fragen, Frau Merkel, sind Sie leider weit-gehend schuldig geblieben. Sie haben die Tradition fort-gesetzt, die Ihre Afghanistan-Politik der letzten Zeitgeprägt hat. Sie sind nicht für Transparenz und Wahrhaf-tigkeit. Sie haben uns hier am 8. September 2009, ob-wohl Sie es besser wussten, nichts über die zivilen Opferbei Kunduz gesagt. Ihre Fraktion ist nicht länger gewillt,das, was dort passiert ist, aufzuarbeiten. Sie möchte denDeckel der Akten zumachen. Von einer lückenlosen Auf-klärung kann nicht die Rede sein.Manchmal sagen Sie als Bundesregierung schlicht undergreifend auch die Unwahrheit. Sie dokumentieren dasauch. Sie haben in Ihrem Afghanistan-Konzept geschrie-ben, die neue Afghanistan-Strategie sei eine Schwer-punktverlagerung von einem eher offensiven Vorgehenhin „zu einer grundsätzlich defensiven Ausrichtung“. Wirhaben gestern im Ausschuss sehr genau zugehört, wasGeneral McChrystal gesagt hat. Auf die Frage, was dortin den nächsten Wochen und Monaten passieren soll, hater trocken gesagt: It’s classical counterinsurgency. Alsoklassische Aufstandsbekämpfung. Das nennen Sie„grundsätzlich defensiv“? Es kann ja sein, dass Sie dieseAufstandsbekämpfung machen müssen, aber dann solltenSie das auch so benennen. Sie praktizieren aber das Ge-genteil.
Die übergroße Mehrheit meiner Fraktion hat diesemMandat nicht zugestimmt, weil wir in dem Partnering,das übrigens in dem Mandat steht, die Gefahr gesehenhaben, dass man sich auf die Rutschbahn hin zu einer of-fensiven Aufstandsbekämpfung begibt. Wir haben davorgewarnt, dass das mit erheblichen Risiken verbunden ist.Was sagte Ihr Bundesverteidigungsminister Herr zuGuttenberg – ich zitiere ihn aus der FAZ vom 25. Januar2010 –: Dieses Konzept sei nicht automatisch mit mehrRisiken für die Soldaten verbunden. Das ist schon keineBeschönigung mehr, das ist schlicht und ergreifend dieUnwahrheit gewesen, die Herr zu Guttenberg da gesagthat.
Partnering – auch hier zitiere ich StanleyMcChrystal – ist gefährlich und mit extremen Risikenverbunden. – Das kann man heute nachlesen. Er führtweiter aus: Da nützt es nichts, um den heißen Brei he-rumzureden. – Ja, der General hat recht, und ich hättemir gewünscht, eine Bundesregierung zu haben, die beiihrer Afghanistan-Politik endlich aufhört, um den heißenBrei herumzureden.
Stattdessen klopfen Sie sich selber auf die Schulter, weilSie sich jetzt trauen, das Wort „Krieg“ in den Mund zunehmen.Als Konsequenz auf Ihre Hilflosigkeit, in die Sie dareingestolpert sind – Sie tun so, als ob Sie hineingestol-pert sind –,
fordern Sie jetzt die Ausrüstung mit Haubitzen. Mirmuss erst einmal jemand erklären, wie Sie mit Haubitzendie Gefährdung durch Sprengfallen – durch sie sind dieSoldaten gestorben – vermindern wollen. Das ist einfachnur Rhetorik, um die Heimatfront zu beruhigen, aberhilft den Soldatinnen und Soldaten überhaupt nicht.
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3490 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
Jürgen Trittin
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Wenn Sie jetzt das Wort Krieg verwenden, Frau Bun-deskanzlerin, dann müssten Sie eigentlich auch den Muthaben, zu sagen, was das Ziel dieses Krieges ist. Sie ha-ben sich dabei etwas leichtfertig, wie ich finde, auf PeterStruck berufen. In Afghanistan sind wir im Auftrag derVereinten Nationen mit 43 anderen Nationen. Der Auf-trag lautet: Unterstützung der gewählten afghanischenRegierung. Was tut diese Regierung zurzeit? Sie bereitetsich intensiv auf die Zeit nach dem Abzug der internatio-nalen Gemeinschaft vor. Dafür sucht sie Verbündete.Das ist verständlich.Ich hätte von Ihnen eine Einschätzung erwartet, wasSie von diesen Bündnisbemühungen halten, die HerrKarzai unternimmt. Herr Karzai hat ja Verbündete ge-funden: Indien auf der einen Seite, der Iran auf der an-deren Seite und die Nordallianz, die schon heute in sei-ner Regierung ist. Und er trifft sich mit weiterenpotenziellen Unterstützern. Mitten in Kabul trifft ersich mit Hekmatjar, einem von der UN und den USA ge-suchten Kriegsverbrecher, um auf diese Weise einen in-ternen Ausgleich in Afghanistan herbeizuführen.Es kann zwar sein, Frau Merkel, dass es eine Befrie-dung und Stabilisierung Afghanistans nur mit solchenschmutzigen Deals gibt, aber warum haben Sie dannnicht den Mut, zu sagen: „Das ist der Preis für die Stabi-lisierung Afghanistans“? Warum drücken Sie sich vordiesen unangenehmen Wahrheiten?
Sie setzen Soldatinnen und Soldaten in Afghanistantödlichen Gefahren aus. Sie sollen im Zweifelsfall selbertöten. Sollen sie das tun, damit Herr Karzai eine bessereVerhandlungsposition mit Herrn Hekmatjar hat? Das istdoch die Frage, die Sie an dieser Stelle beantwortenmüssen, und es geht nicht um Kriegsrhetorik. Ich binsehr vorsichtig mit diesem Wort. Es gibt Regionen in Af-ghanistan, in denen kriegerische Zustände herrschen. Esgibt andere Regionen, wo dies nicht der Fall ist. Aber ei-nes weiß ich gewiss: Einen Stabilisierungseinsatz führenSie nicht mit Kriegsrhetorik zu einem Erfolg. Sie führenihn damit zwangsläufig zu einem Misserfolg.Wenn es das Ziel des Bundeswehreinsatzes ist, eineVerhandlungslösung zu erreichen, dann muss man auchVerhandlungsziele und einen Zeitrahmen haben. DerBundesaußenminister pflegt bei solchen Gelegenheitenimmer zu sagen, man dürfe den Taliban nicht sagen,wann man abzieht. Das haben, glaube ich, weder dieHolländer noch die Kanadier gemacht, und auch dieUSA haben das nicht vor.Die Taliban wissen sehr wohl, dass die Präsenz nichtauf Dauer sein wird. Wir alle wissen, dass die Präsenz inAfghanistan keine weiteren zehn Jahre andauern wird.Aber wenn man das alles weiß und klar ist, dass es eineVerhandlungslösung geben muss, dann muss denen, dieverhandeln sollen, auch klar sein, in welchem Rahmenund bis wann sie die Verhandlungen zu Ende zu führenhaben und dass sie die Präsenz internationaler Truppennicht auf Dauer in ihren Verhandlungspoker einkalkulie-ren können. Auch dazu haben Sie nichts gesagt.
Ich glaube, die Soldatinnen und Soldaten haben An-spruch darauf, zu wissen, für welche Ziele und wie langesie Leib und Leben zu riskieren haben. Diese Antwortsind Sie heute schuldig geblieben.
Afghanistan ist aber kein Einzelfall. Globale Risikenwie Aufrüstung, Armut, Klimaentwicklung und Res-sourcenwettkampf erzeugen Staatszerfall, Bürgerkriege,das, was Sie zu Recht asymmetrische Konflikte ge-nannt haben. Friedenssicherung in dieser unsicher ge-wordenen Welt setzt dann handlungsfähige Vereinte Na-tionen voraus. Staatszerfall entgegenzuwirken, wirdauch in Zukunft Stabilisierungseinsätze erfordern.Ich sage in dieser Situation: Deutschland wird sichdem nicht entziehen können. Ich sage auch: Deutschlandwird sich dem nicht entziehen dürfen. Aber gerade des-halb müssen wir aus den Erfolgen und aus den Defizitendieses Einsatzes in Afghanistan lernen. Das ist derGrund, warum wir eine Evaluierung dieses Einsatzesvon unabhängiger Stelle brauchen, und zwar eine Evalu-ierung des gesamten Einsatzes, also der jetzigen Afgha-nistan-Politik, der Afghanistan-Politik der Großen Ko-alition und auch der Afghanistan-Politik von Rot-Grün.Die Bereitschaft, sich in dieser Frage überprüfen zu las-sen, gehört zu der notwendigen Wahrhaftigkeit aus die-sem Hause, auf die die Zivilisten und die Soldatinnenund Soldaten, die sich in Afghanistan um Stabilisierungbemühen, einen Anspruch haben.Vielen Dank.
Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort erteile,
weise ich darauf hin, dass es ausweislich des Stenografi-
schen Protokolls während der Rede des Kollegen Gysi
nach seinem Hinweis auf die Notwendigkeit von mehr
Fachärzten für Psychiatrie in der Bundeswehr einen
Zwischenruf des Kollegen Martin Lindner gegeben hat,
den ich ausdrücklich als unparlamentarisch rüge. Ich
verbinde dies noch einmal mit dem ausdrücklichen Hin-
weis, dass wir auch und gerade bei einer natürlich kriti-
schen Auseinandersetzung auf persönlich herabsetzende,
polemische Bemerkungen verzichten sollten.
Nun erteile ich der Kollegin Elke Hoff für die FDP-
Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Kollege Trittin, entgegen der Auffassung, die Siehier vertreten haben, bin ich sehr wohl der Meinung,dass die Bundeskanzlerin heute die Ziele des Afghanis-
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Elke Hoff
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tan-Einsatzes sehr klar dargestellt hat. Wenn Sie es abernicht hören und dem auch nicht Folge leisten wollen,dann kann ich mir vorstellen, dass Sie ein Problem damithaben, dass hier heute angeblich nicht klar über die Zieledieses Einsatzes berichtet und diskutiert worden ist.
Herr Kollege, ich sehe auch keinen Widerspruchzwischen einem Stabilisierungseinsatz und einer Coun-terinsurgency, einer Aufstandsbekämpfung. Eine we-sentliche Voraussetzung, um eine erfolgreiche Counter-insurgency durchführen zu können, ist natürlich die Sta-bilisierung der Region. Es gibt keinen militärischen Füh-rer in der NATO, der bisher behauptet hätte, dies könneallein mit militärischen Mitteln gemacht werden. Aberes ist eine Voraussetzung zur Herstellung der Stabilisie-rung in einem völlig zerstörten Land, in dem sämtlichestaatlichen Strukturen vernichtet worden sind. Das istdie Aufgabe, die die Nato und auch die BundesrepublikDeutschland übernommen haben.
Deswegen, liebe Kolleginnen und Kollegen, tun wir gutdaran, unseren Soldatinnen und Soldaten, die jeden Tagfür dieses Ziel und für diesen Auftrag, den wir erteilt ha-ben, ihr Leben und ihre Gesundheit riskieren, auch andieser Stelle die größtmögliche Unterstützung zu gewäh-ren.Lieber Herr Kollege Gysi, Sie haben eben mit Rechtdarauf hingewiesen, dass wir, egal welcher unterschied-lichen politischen Auffassung wir sind, den Soldatinnenund Soldaten den Respekt zollen. Daher bitte ich Sie, inIhrer Fraktion auch dafür zu sorgen – auch, wenn es sehrjunge Kolleginnen sind –, dass im Deutschen Bundestagkeine Plakate gezeigt werden, auf denen „Beim Bund istalles doof“ steht und ein Schwein mit einem Stahlhelmabgebildet ist,
hinter dessen Rücken Rauchwolken zu sehen sind, alsgebe es eine Explosion. So etwas geht einfach nicht.
Wenn Sie sich hier für Respekt aussprechen, dann sorgenSie bitte in Ihrer Partei dafür, dass der nötige Respekt ge-zollt wird.
Ich war bei der Trauerfeier für unsere gefallenen Sol-daten anwesend. Ich gebe zu, dass auch ich mich in die-sen schweren Stunden gefragt habe, ob der Auftrag, denwir erteilt haben, richtig ist und ob wir diesen Auftraggegenüber den Angehörigen rechtfertigen können. Diegleiche Frage habe ich mir auch bei der Debatte gestellt,die wir eben geführt haben. Mehr denn je bin ich derÜberzeugung, dass es gerade in diesen schweren Zeitenunsere Aufgabe ist, unserer Bevölkerung unsere Ent-scheidung zu erklären und hier im Parlament den jungenMännern und Frauen, die wir in den Einsatz geschickthaben, deutlich zu machen, dass wir diesen Einsatz mit-tragen. Ich persönlich habe mir die Frage gestellt, ob wires im Nachhinein den Angehörigen der Kameradinnenund Kameraden, die bereits jetzt ums Leben gekommensind, erklären können, wenn wir die Sinnhaftigkeit die-ses Einsatzes infrage stellen. Alle Fraktionen in diesemDeutschen Bundestag bis auf eine haben diesen Einsatzgewollt.Selbstverständlich müssen wir die Benchmarks neusetzen. Auch General McChrystal hat sehr deutlich zumAusdruck gebracht, dass es notwendig ist, flexibel indiesem schwierigen Umfeld zu sein, militärisch flexibel,aber auch politisch flexibel. Herr Trittin, zu erwarten,dass man in dieser Lage schon heute ein fertiges politi-sches Drehbuch für eine Lösung hat, wird der Komplexi-tät dieses Konflikts nicht gerecht. Das wissen auch Sie.Dafür sind Sie viel zu sehr mit der Region vertraut. Wirmüssen neben der Unterstützung unserer Soldatinnenund Soldaten dafür sorgen, dass die internationale Ge-meinschaft auch den zweiten Teil ihrer Verpflichtung er-füllt, nämlich es dem souveränen Staat Afghanistan zuermöglichen, zu einer politischen Lösung zu kommen,damit wir der afghanischen Bevölkerung, gegenüber derwir uns verpflichtet haben, aber auch der eigenen Bevöl-kerung am Ende sagen können: Wir haben gemeinsameine Mission zum Erfolg gebracht. – Dafür kämpfen wir.Ich bitte Sie noch einmal, an dieser Stelle unseren Solda-ten die notwendige Rückendeckung nicht zu entziehen.Vielen Dank.
Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Ströbeledas Wort.
Danke, Herr Präsident. – Mir liegt daran, klarzuma-chen, dass ich mich nicht für eine verhängnisvolleKriegspolitik in Afghanistan vereinnahmen lasse. Wennbeispielsweise vonseiten der FDP hier betont wird, derDeutsche Bundestag steht hinter dem Einsatz der Bun-deswehr in Afghanistan, dann sage ich: Ich stehe nichthinter diesem Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan,und, was vielleicht noch wichtiger ist als die Haltung desAbgeordneten Ströbele, die große Mehrheit der deut-schen Bevölkerung steht nicht hinter dem Kriegseinsatzder Bundeswehr in Afghanistan. Das müssen Sie einmalzur Kenntnis nehmen.
Die deutsche Bevölkerung hat recht mit ihrer Ableh-nung dieses Einsatzes in Afghanistan. Es ist nicht einVermittlungsproblem, wie das offenbar aufseiten derUnion gedacht wird. Gestern wurde der Herr GeneralMcChrystal in der Ausschusssitzung geradezu angefleht,doch zu sagen, wie man der deutschen Bevölkerung dieNotwendigkeit des Afghanistan-Einsatzes vermittelnkönne. Der General hat dazu gar nichts gesagt, weil es
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3492 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
Hans-Christian Ströbele
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ganz offensichtlich nicht seine Aufgabe ist. Sie könnendas auch nicht vermitteln, weil die Auffassung derMehrheit der Bevölkerung richtig ist. Ein Einsatz, der,wie wir inzwischen von General McChrystal, aber auchvom Bundesverteidigungsminister wissen, in diesemJahr aus Großoffensiven im Süden, im Osten und auchim Norden Afghanistans besteht, aus Großeinsätzen derBundeswehr und Großeinsätzen der Alliierten, bei denenunzählige Menschen getötet und bei denen unzähligeMenschen wie jetzt in Helmand in die Flucht getriebenwerden, ist nicht der richtige Weg, um in Afghanistan zudeeskalieren und um Verhandlungen vorzubereiten. Wirkönnen den Soldaten in Afghanistan deshalb guten Ge-wissens nicht sagen, dass sie im Namen des deutschenVolkes in Afghanistan ihren Dienst tun; vielmehr müs-sen wir ihnen sagen, dass sie das zwar im Auftrag einerMehrheit des Deutschen Bundestages tun, aber gegenden erklärten Willen der Mehrheit der deutschen Bevöl-kerung.
Zur Erwiderung Frau Kollegin Hoff.
Herzlichen Dank, Herr Präsident! – Sehr geehrter
Herr Ströbele, sind Sie bereit, anzuerkennen, dass der
überwiegende Teil der zivilen Opfer in Afghanistan
nicht dem Einsatz von NATO-Soldaten zu schulden ist,
sondern den Aufständischen, den Taliban, der al-Qaida,
und dass die Zivilbevölkerung in Afghanistan einen An-
spruch darauf hat, dass wir ihr, die sich gegen Anschläge
nicht wehren kann, weil die Heimtücke dieser Anschläge
durch nichts zu überbieten ist, diesen Schutz geben? Ich
bin der festen Überzeugung, dass wir uns an der Zivilbe-
völkerung in Afghanistan genauso schuldig machen,
wenn wir ihr diesen Schutz verweigern.
Auch Sie wissen, dass General McChrystal gestern
sehr klar und deutlich zum Ausdruck gebracht hat, was
der Wunsch der afghanischen Zivilbevölkerung ist: Si-
cherheit, Gerechtigkeit. Dies kann der afghanische Staat
zurzeit noch nicht allein gewährleisten. Der überwie-
gende Teil des Deutschen Bundestages steht Gott sei
Dank hinter diesem Einsatz.
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Hans-Peter
Friedrich für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Der Tod unserer Soldaten in Afghanistan in denletzten drei Wochen, aber auch der Tod unserer Soldatenin den letzten Jahren ist ein Beleg dafür, wie gefährlichdieser Einsatz ist. Unsere Gedanken in unserer Trauersind bei den Angehörigen der Gefallenen; aber sie sindauch bei denen, die tagtäglich den Einsatz dort leistenund wissen, dass die Gefahr stets real ist, auch jetzt, indieser Stunde, wo wir hier gemeinsam über diesesThema reden.Jeder, der diesem Mandat zugestimmt hat – es war diegroße, überwältigende Mehrheit dieses Hauses –, kanntediese Gefahr, kannte dieses Risiko. Wir sehen mit großerBewunderung, mit Respekt und mit Hochachtung, wieunsere Soldaten vor Ort entschlossen und gewillt sind,ihren Auftrag auszufüllen, was sie in ganz hervorragen-der Weise tun.Wichtig ist ein Aspekt, auf den heute mehrfach hinge-wiesen worden ist: Es handelt sich nicht um eine AktionDeutschlands und der Bundeswehr, sondern um eineAktion der internationalen Staatengemeinschaft. Dieinternationale Staatengemeinschaft hat beschlossen,gemeinsam ein Problem, das für alle zur Bedrohung ge-worden ist, aus der Welt zu schaffen. Deswegen, lieberHerr Gysi, denke ich, sollten Sie sich schon einmal fra-gen, wer der politische Geisterfahrer ist, ob es die Mehr-heit der Staaten rund um den Globus ist oder ob Sie essind.
Die Mehrheit der Staaten rund um den Globus hat von2001 bis 2009 in zehn Mandaten der Vereinten Nationen– das letzte ist im Dezember vergangenen Jahres verab-schiedet worden – die Grundlage dafür gelegt, dass die-ser Einsatz in Afghanistan stattfinden kann. 16 Nationenstehen im Norden Afghanistans zusammen mit unserendeutschen Soldaten. Insgesamt sind 44 Nationen inAfghanistan vertreten. Die Staatengemeinschaft hat sichdarauf verständigt, ein Problem zu lösen, das alle be-droht. Dieses Problem heißt: Fanatiker haben sich aufden Weg gemacht, unsere Kultur, unsere Freiheit, unsereLebensart zu zerstören.
Der 11. September 2001 ist das Symbol für den Kampfdieser Terroristen und dieser Fanatiker. Sie wollen eineWelt zerstören, die ihren Bürgern Toleranz, Lebens-freude, Freiheit, Gleichberechtigung und Menschen-würde gibt.
Sie wollen eine Welt zerstören, die nicht in ihr persönli-ches Weltbild passt. Deswegen haben vor acht Jahren dieVölker dieser Erde beschlossen, daran etwas zu ändern.Deshalb, Herr Trittin, wundert es mich, dass Sie als ehe-maliges Mitglied einer Regierung, die damals diesesMandat mitgetragen und mit auf den Weg gebracht hat,jetzt sagen, man sei da hineingestolpert. Man ist mit demklaren Auftrag nach Afghanistan gegangen, dort mitzu-helfen, ein Regime zu beseitigen, Terroristen zu entwaff-nen und mitzuhelfen, dass dieses Land in einen stabilenZustand gebracht wird.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3493
Dr. Hans-Peter Friedrich
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Nun ist dieser Zustand in der Kürze der Zeit nicht sostabil geworden, wie man sich das vorgestellt hat. Manhat sich vorgestellt, dass das schneller gehen könnte.Meine Damen und Herren, aber ist das Ziel, auch wennman es nicht kurzfristig erreichen konnte, deshalbfalsch? Nein, das Ziel der Weltgemeinschaft bleibt rich-tig, einen neuen Aufmarschraum für Terrorismus undGewalt zu verhindern. Nur, den Preis dafür zahlen dieSoldaten: unsere Soldaten, die Soldaten unserer Verbün-deten. Das ist der Preis, den sie zahlen, um eine Regionzu stabilisieren. Ich bin dankbar dafür, dass die FrauBundeskanzlerin heute sehr ausführlich auf diesen As-pekt hingewiesen hat.
Es geht darum, eine Region zu stabilisieren, in der esAtomwaffen gibt. Es geht nicht nur um Afghanistan,sondern es geht um die Stabilität einer gesamten Re-gion. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn esal-Qaida gelingen würde, Macht – sei es direkt, sei esnur indirekt – über atomare Sprengköpfe in dieser Re-gion zu erlangen.
Meine Damen und Herren, es ist das Ziel, in Afgha-nistan eine sich selbsttragende Ordnung zu schaffen,eine Stabilität, die es auch möglich macht, dass man dorteinen Ansprechpartner hat, der für das ganze Volk, fürden ganzen Staat sprechen kann, eine Ordnung, die einegewisse Rechtsstaatlichkeit gewährleistet, eine Ordnung,die es ermöglicht, dass es Schulen gibt, dass die Bevöl-kerung versorgt wird.Natürlich wissen wir, dass man all das auch mit zivi-len Kräften erreichen muss. Aber, Herr Gysi, glaubenSie allen Ernstes, dass es möglich sein könnte, dass diesezivilen Kräfte nach einem sofortigen Abzug der interna-tionalen Soldaten weiterarbeiten? Wir alle wissen doch,was passieren würde, wenn die Soldaten sofort abziehenwürden. Die zivilen Aufbauhelfer hätten keine Chance.Überall dort, wo die Lage unsicher geworden ist, wo diemilitärischen Möglichkeiten ausgeschöpft sind, ist bis-her die zivile Hilfe der staatlichen und nichtstaatlichenHilfsorganisationen zusammengebrochen. Deswegen istes heuchlerisch, zu sagen: Wir sind zwar für den zivilenAufbau, aber wir sind gegen einen militärischen Einsatz. –Es wird und es kann keinen zivilen Aufbau ohne einemilitärische Absicherung geben. Das ist die Lage.
Die Bundesregierung hat eine klare Strategie – nichtsich selbst und allein ausgedacht, sondern wesentlich mit-gestaltet – zusammen mit den Verbündeten, eine Strategie,die seit der Londoner Konferenz unter dem Titel „Über-gabe in Verantwortung“ zusammengefasst wird. Sie setztvoraus, dass wir die Sicherheitskräfte der Afghanenhandlungsfähig und kampffähig machen. Auch dafürmüssen unsere Soldaten ausgebildet und ausgerüstetsein.Ich bin dem Bundesverteidigungsminister sehr dank-bar dafür, dass er persönlich vor Ort das Gespräch mitden Soldaten sucht, auf ihre Wünsche, auch was Aus-rüstung betrifft, eingeht und sofort anordnet, dass daseine oder andere, was aus ihrer Sicht notwendig ist, auchsogleich erfolgt. Wir alle wissen allerdings, dass es in ei-ner solchen Auseinandersetzung keine hundertprozen-tige Sicherheit geben kann.Meine sehr verehrten Damen und Herren, neben derAusrüstung brauchen die Soldaten aber etwas anderesebenso dringend, nämlich die klare Rückendeckung desDeutschen Bundestages und die klare Rückendeckungder Menschen in unserem Lande.
Die jungen Soldatinnen und Soldaten stehen jeden Mor-gen auf und riskieren Leib und Leben. Jeden Tag laufensie Gefahr, ihr Leben zu verlieren. Sie befinden sich ineiner psychischen Ausnahmesituation. Sie brauchen dieGewissheit, dass wir an ihrer Seite stehen und zumindesterahnen können, was täglich von früh bis spät in ihnenvorgeht.Wenn wir hier über Begriffe streiten, über den Begriff„Krieg“ und wer wo was gesagt und interpretiert hat,dann wird das dem nicht gerecht, was unsere Soldatenfühlen. Es gibt für jeden Begriff eine juristische Dimen-sion. Es gibt auch eine umgangssprachliche Dimension.Aber es gibt für den Begriff „Krieg“ vor allem eine emo-tionale Dimension. Richtig ist natürlich, dass „Krieg“ imklassischen völkerrechtlichen Sinn traditionell für dieAuseinandersetzung zwischen zwei oder mehreren Staa-ten steht. Aber emotional ist „Krieg“ das Synonym fürZerstörung, für Tod und für den Kampf ums nackteÜberleben. Die Frau Bundeskanzlerin hat in einem Bei-spiel sehr plastisch geschildert, welche Situation allzuoft vorkommt: Er oder ich – wer wird überleben? In die-ser Situation fühlen viele, dass es sich um Krieg handelt.Wie oft wurde nach dem 11. September 2001 gesagt:„Die Terroristen haben uns den Krieg erklärt“? Ja, dieTerroristen haben der klassischen Definition von Kriegeine neue Bedeutung hinzugefügt. Sie haben unsererfreien Welt den Krieg erklärt. Deswegen haben wir Sol-daten geschickt, die wir jetzt nicht allein lassen dürfen.Es ist richtig, dass dieser Staat Oberst Klein in diesemKrieg nicht allein gelassen hat.
Unsere Hochachtung und unser Respekt gilt dem Mutder Soldaten, ihrem Können, ihrer Professionalität. Es istein gefährlicher Einsatz, den die Soldaten an der Seiteunserer Verbündeten führen. Es ist ein Einsatz für unsereFreiheit. Wir danken ihnen dafür.
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3494 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
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Letzter Redner in dieser Debatte ist nun der Kollege
Ruprecht Polenz für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
legen! Als die erste Entscheidung über einen Einsatz
deutscher Soldaten in Afghanistan fiel, waren Sie, Herr
Trittin, genauso Minister einer Bundesregierung wie Sie,
Frau Künast. Einer der wesentlichen Gründe, der damals
in der Debatte angeführt wurde, war: Wir dürfen den
Fehler, den die internationale Staatengemeinschaft nach
dem Abzug der Sowjetunion 1989 gemacht hat, nämlich
Afghanistan sich selbst zu überlassen, im Jahre 2001/02
nicht wiederholen.
Wir haben in den 90er-Jahren gesehen – rückblickend
hat es sich als ein Fehler herausgestellt –, dass es nach
dem Abzug der Sowjetunion zum Bürgerkrieg kam. Die
Taliban haben sich durchgesetzt und in weiten Teilen des
Landes eine Schreckensherrschaft errichtet. Sie haben
al-Qaida die Zufluchtsräume ermöglicht, die diese Ter-
rororganisation brauchte, um die Anschläge auf das
World Trade Center, auf das Pentagon und auch in ande-
ren Teilen der Welt vorzubereiten und durchzuführen.
Wegen der Einschätzung, wir dürfen Afghanistan
nicht sich selbst überlassen, weil das eine Gefahr für die
internationale Sicherheit ist, beteiligen sich seitdem
über 40 Nationen an dem ISAF-Einsatz. Die Gedanken,
die wir heute zum Ausdruck gebracht haben – beginnend
mit der Würdigung durch den Bundestagspräsidenten am
Anfang unserer Sitzung –, machen sich doch auch die
Angehörigen von 1 550 Soldaten aus Australien, von
220 Soldaten aus Neuseeland sowie auch beispielsweise
Angehörige von Soldaten aus Norwegen, Dänemark und
Schweden. Natürlich wäre die Entscheidung in diesen
Ländern für einen solchen Einsatz nicht gefallen, wenn
die Politiker in Singapur, in den Arabischen Emiraten
und in Aserbaidschan – ich will jetzt nicht die über 40
Länder alle aufzählen – nicht zu der gleichen Einschät-
zung gekommen wären, die heute die Bundeskanzlerin
in ihrer Regierungserklärung wiederholt hat. Es ist die
internationale Sicherheit, die in Afghanistan auf dem
Spiel steht. In einer globalisierten Welt heißt das: Es ist
auch die deutsche Sicherheit, die dort auf dem Spiel
steht. Deshalb ist der Satz von Peter Struck, dass unsere
Sicherheit auch am Hindukusch verteidigt wird, nach
wie vor richtig.
Wir sind in Afghanistan, um Schlimmeres für die
Menschen dort, insbesondere für die Frauen, zu verhü-
ten. Ich empfehle Ihnen, einmal auf Google unter den
Stichwörtern „Taliban“ und „Frauen“ nachzuschauen.
Herr Ströbele, Sie finden dann Listen afghanischer Frau-
enorganisationen, in denen aufgeführt wird, was den
Frauen alles verboten war und welche Strafen sie zu er-
leiden hatten, wenn sie gegen die Bekleidungsvorschrif-
ten oder etwa gegen die Vorschrift, sich nicht die Finger-
nägel zu lackieren, verstoßen hatten. In diesen Fällen
wurden ihnen unter Umständen die Finger abgeschnit-
ten. Auch daran müssen wir erinnern. Das ist ein wichti-
ger Aspekt in Bezug auf diesen Einsatz.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ströbele?
Ja.
Herr Kollege Polenz, Sie haben mich angesprochen
und gefragt, ob mir das bekannt sei. Mir ist das bekannt.
Es ist schrecklich. Ich will auch viel dafür tun, dass das
nie wieder passiert.
Aber man darf keinen Krieg führen. Denn die Frauen
sind diejenigen, die am allermeisten unter dem Krieg lei-
den.
Herr Kollege, ich habe vorgestern mit zwei Organisa-
tionen, mit dem Afghanischen Frauenverein und mit
Medica Mondiale, gesprochen. Diese sagten mir: Die Si-
tuation der Frauen ist heute unter der Regierung Karzai
und unter dem Schutz der internationalen Gemeinschaft
in weiten Teilen des Landes noch so schlecht, dass sich
jedes Jahr 200 Frauen verbrennen. Diese Frauen können
den Zustand der Erniedrigung und der körperlichen Qua-
len – des Geschlagenwerdens usw. – nicht ertragen. Das
heißt, wir haben es leider überhaupt nicht geschafft,
diese Strukturen, in denen diese schlimme Gewalt ge-
genüber Frauen vorkommt und zur Tagesordnung ge-
hört, zu beseitigen – auch unter dieser Regierung nicht.
Es ist also nicht schwarz-weiß, wie Sie versuchen es dar-
zustellen.
Herr Ströbele, jedem, der sich mit Afghanistan undder Entwicklung dort beschäftigt, ist bekannt, dass esnach wie vor erschreckende Ausmaße häuslicher Gewaltgibt und dass die patriarchalischen Strukturen der afgha-nischen Gesellschaft in vielen Teilen vor allen Dingenim ländlichen Raum nach wie vor zu einer sehr schlim-men Situation für Frauen führen. Aber jedem ist auchbekannt, dass seit dem internationalen Einsatz Mädchenin die Schulen gehen können, Frauen studieren könnenund Berufschancen haben und dass sich, ausgehend vonden städtischen Zentren, die Lage der Frauen im Landverbessert.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3495
Ruprecht Polenz
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Wenn Sie sagen, Sie wollten etwas in dieser Richtungbeitragen, dann müssen Sie von Ihrer Rhetorik bei derKritik des Mandats etwas Abstand nehmen. Denn dievon mir genannten Effekte hätten Sie nicht, wenn die Ta-liban in Kabul wieder herrschen würden.
Ich möchte noch etwas zu den Zielen der Taliban sa-gen. In dem Strategiepapier von McChrystal ist das sehrpräzise beschrieben:The insurgents have two primary objectives: con-trolling the Afghan people and breaking the coali-tion’s will. Their aim is to expel internationalforces …Den Willen der Koalition zu brechen, ist also das Ziel.Deshalb ist es wichtig, wie wir nach solchen schreck-lichen Anschlägen diskutieren. Wenn wir den Eindruckerwecken, es brauche vielleicht nur noch fünf oder zehnweitere Anschläge und dann sei unser Wille gebrochenund dann würden wir uns aus Afghanistan zurückziehen,gefährden wir die Sicherheitslage unserer Soldaten undladen geradezu zu weiteren Anschlägen ein.
Wir dürfen im Hinblick auf einen Taliban nicht nurdie Assoziation „Turban, langer Mantel, barfuß oder mitSandalen, Kalaschnikow“ haben, sondern müssen auchan den Laptop denken. Über diesen Laptop erfährt Spie-gel Online zehn Minuten nach einem Anschlag, welcheZiele die Taliban zur Brechung des Willens der deut-schen Bevölkerung und der deutschen Politiker verfol-gen. Das müssen wir in unsere Diskussion einbeziehen.Deshalb ist auch der eine oder andere Vorwurf an die Artund Weise zu richten, wie die Linke in Deutschland dieDiskussion führt.
Meine Damen und Herren, die Soldaten dürfen si-cherlich erwarten, dass wir uns ein realistisches Bild vonder Gefährlichkeit ihres Einsatzes machen und diesesBild auch in unseren Reden vermitteln.
Deshalb ist es richtig, wenn die Bundeskanzlerin, derAußenminister und der Verteidigungsminister – sie alletun es in der gleichen Weise – von kriegsähnlichen Zu-ständen oder von Krieg sprechen, um das Geschehen zucharakterisieren. Damit ändert sich aber die völkerrecht-liche Lage nicht; das ist damit auch nicht intendiert. Esist und bleibt, Herr Ströbele, ein Einsatz nach Kapi-tel VII der Charta der Vereinten Nationen. Sie vermischendiese beiden kommunikativen Ebenen absichtsvoll,
um gegen einen Krieg zu polemisieren, den Sie als völ-kerrechtlichen Krieg darstellen, wobei Sie genau wissen,dass Deutschland diese Art der Kriegsführung verbotenwäre. Auch Herr Trittin hat in seinen Beiträgen leiderÄhnliches anklingen lassen, Herr Gysi sowieso.Wir müssen uns also gegen diese absichtsvolle Ver-mengung der beiden Ebenen wehren. Eine realistischeBeschreibung der Zustände muss erfolgen. Aber wirmüssen klar festhalten: Es bleibt ein völkerrechtlicherEinsatz nach Kapitel VII der Charta der Vereinten Natio-nen. Die Vereinten Nationen führen, völkerrechtlich ge-sehen, keinen Krieg.
Noch eine Bemerkung zur Politik. Herr Trittin, Siehaben kritisiert, dass zu wenig zum innerafghanischenAussöhnungsprozess gesagt worden sei. Ich stimme Ih-nen zu; das ist ein ganz wichtiger Punkt. Denn wenn wiruns im Rahmen der Strategie der Übergabe in Verant-wortung zurückziehen wollen, dann muss nach 30 Jah-ren Krieg und Bürgerkrieg, die in Afghanistan ge-herrscht haben, ein Zustand erreicht werden, in dem dieafghanischen Stämme ihre Interessengegensätze mög-lichst gewaltfrei austragen und auf das Faustrecht ver-zichten. Sie wissen aber sehr genau – deshalb war IhrVorwurf unredlich –, dass bei den Gesprächen, dieKarzai führt, und angesichts der Grenzen, die er versuchteinzuhalten, Voraussetzung für diesen Versöhnungspro-zess und die Beteiligung daran ist, dass erstens die af-ghanische Verfassung die Grundlage dessen sein soll,worauf man sich zu verständigen hat, zweitens auf Ge-walt verzichtet wird und drittens eine scharfe Abgren-zung gegenüber al-Qaida erfolgt. Das sind die drei rotenLinien, innerhalb deren sich der Versöhnungsprozess ab-spielen muss.Eine letzte kurze – meine Redezeit ist gleich zu Ende –Bemerkung zur Einbeziehung der Nachbarn. Wir spre-chen meines Erachtens zu wenig darüber, dass wir Af-ghanistan nicht dauerhaft stabilisieren können, wenn wirdie Nachbarn nicht in diesen Prozess einbeziehen. ÜberPakistan wird inzwischen glücklicherweise mehr gere-det. Wir reden aber zu wenig über den Iran. Ohne denIran wird es nicht gehen. Wir haben ebenso wie der Iranein Interesse an einem stabilen Afghanistan ohne Dro-genanbau. Nur bei Stabilität können die Iraner dieFlüchtlinge wieder nach Afghanistan zurückschicken; essind über 1 Million im Iran. Die Iraner sind keineFreunde der Taliban, und sie bekämpfen auch al-Qaida.Es gäbe also genügend Anknüpfungspunkte. Derzeithaben wir natürlich mit dem Iran das Nuklearproblem zulösen. Ich glaube aber, dass sich das Nuklearproblemmöglicherweise leichter besprechen und lösen lassenwürde, wenn wir das Spielfeld im Zusammenhang miteiner konstruktiven Zusammenarbeit mit dem Iran imHinblick auf Afghanistan erweitern würden und demIran zeigen würden, welche Rolle wir ihm in der Regionzubilligen.
Vielen Dank.
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3496 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
Ruprecht Polenz
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Ich schließe die Aussprache.
Nun rufe ich den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Ernst, Jutta Krellmann, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Mit guter Arbeit aus der Krise
– Drucksache 17/1396 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache eineinviertel Stunden vorgesehen. – Ich
sehe, Sie sind damit einverstanden. Dann werden wir so
verfahren.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Klaus Ernst für die Fraktion
Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Erneut müssen wir uns hier aufgrund der Reali-täten in unserem Land über die Frage unterhalten, wiees um die Arbeitsbedingungen, die Löhne, die Situationder Menschen, die ihr Geld durch Arbeit verdienenmüssen, steht. Vor allen Dingen weil es veränderte Ge-winnerwartungen der Unternehmen gab, die von derPolitik entsprechend unterstützt wurden, war die Situa-tion in den letzten Jahren von einer sinkenden Lohn-quote geprägt, verbunden mit drastischen Veränderun-gen in der Arbeitswelt. Ich erinnere an das Zitat vonGerhard Schröder vom Februar 1999:Wir müssen einen Niedriglohnsektor schaffen, derdie Menschen, die jetzt Transfer-Einkommen bezie-hen, wieder in Arbeit und Brot bringt.Ich möchte dazu feststellen: Das mit der Arbeit hat imEinzelfall geklappt; allerdings ist das Brot ausgeblieben.
Menschen müssen zunehmend in Beschäftigungsver-hältnissen arbeiten – Sie wissen das –, von denen mannicht mehr leben kann. Die Politik hat die Voraussetzun-gen dafür geschaffen: für die Erosion der regulären undgut abgesicherten Beschäftigung in den Unternehmenunseres Landes. Das Ergebnis sind Leiharbeit, Minijobs,die Befristung von Arbeitsverhältnissen und der Abbaudes Kündigungsschutzes. Hartz IV und Leiharbeit habenbei den Löhnen und bei der Zahl der regulären Arbeits-verhältnisse zu einem Erdrutsch geführt. Der Steuerzah-ler ist in der Situation, dass er dies jährlich mit Zuschüs-sen in Milliardenhöhe finanzieren muss, um dieMenschen überhaupt am Leben zu halten.
– Herr Kollege, das mag aus Ihrer Sicht so sein. Ichweiß, dass Ihr Satz immer ist: Sozial ist, was Arbeitschafft.
Ich sage Ihnen: Die Arbeitsplätze, die Sie geschaffen ha-ben, sind unsozial. Deshalb ist es falsch, zu sagen: Sozialist, was Arbeit schafft. Herr Kollege, Sie müssen schonein bisschen hinschauen, um zu sehen, wie die Men-schen wirklich arbeiten.
Ich sage Ihnen: Die Situation der Frauen, der jungenMenschen und der Menschen mit Migrationshintergrund– das mag nicht Ihre Klientel sein – ist dramatisch. Wirmüssen uns den Fakten zuwenden. Wir müssen uns derRealität zuwenden, dass die Menschen nach einer Um-frage des DGB zu 92 Prozent ein verlässliches und fes-tes Einkommen wünschen. Für sie ist genau das ent-scheidend, was von Ihnen zunehmend infrage gestelltworden ist, auch durch Ihre Politik. Es ist Fakt: 2008waren 7,7 Millionen Menschen entweder in Teilzeit oderin befristeten Arbeitsverhältnissen oder als Leiharbeit-nehmer beschäftigt. Es ist auch Fakt, dass 6,5 MillionenArbeitnehmer – das ist fast ein Viertel der Beschäftigtenin unserem Lande – nur noch mit Niedriglöhnen abge-speist werden und kein vernünftiges Einkommen mehrbekommen.
– Wenn Sie glauben, dass das nicht stimmt, müssen Siedie Statistik lesen. Ich weiß nicht, wie Sie die Statistikfälschen; das sind jedenfalls Zahlen der Bundesagenturfür Arbeit aus dem Jahr 2009.1,37 Millionen Menschen müssen ihr Gehalt aufsto-cken lassen, weil es nicht mehr ausreicht, um ihr Lebenzu bedienen. In der Altersgruppe der 15- bis 20-Jährigenhaben nur noch 40,7 Prozent der Beschäftigten eine un-befristete Stelle, in der Altersgruppe der 20- bis 25-Jäh-rigen sind es nur noch 25 Prozent. Mit diesem Zustanddürfen wir uns nicht abfinden.
Ich möchte, weil es der eine oder andere vielleichtnicht den Linken glaubt, zur Kenntnis geben, was dieSüddeutsche Zeitung am 14. April 2010 dazu geschrie-ben hat. Die Überschrift des Artikels lautete: „Teilzeitund Leiharbeit fressen Demokratie auf“. In dem Artikelüber die veränderten Arbeitsbedingungen heißt es:Es ändert sich zum Beispiel die Art, in der die sol-chermaßen Beschäftigten ihr Leben planen können
. Es ändert sich das Maß, in dem
Arbeitnehmer ihre Rechte in Anspruch nehmen –
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3497
Klaus Ernst
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und, um es leicht pathetisch zu formulieren: Mitden Beschäftigungsverhältnissen erodieren auch In-stitutionen, die einst in der Erkenntnis eingeführtwurden, dass es Demokratie nicht nur in der Politik,sondern auch in der Wirtschaft geben muss.In dem Artikel heißt es weiter – das finde ich nun wirk-lich sehr bemerkenswert –:Wer nur für sechs oder zwölf Monate beschäftigtist, wird auf die Gründung einer Familie vorerstverzichten.Frau von der Leyen ist bei diesem Thema nicht mehr an-wesend. Es ist zwar nett und schön, dass sich Frau vonder Leyen um die Fortpflanzungsmöglichkeiten in derBundesrepublik sorgt und die Familien in den Vorder-grund stellen will; das ist richtig. Aber man muss auch inden Vordergrund stellen, wie es denn einem 25-Jährigenoder 22-Jährigen überhaupt noch möglich sein soll, eineFamilie zu gründen, wenn er weiß, dass er seinen Jobbloß noch einen Monat hat, oder wenn er als Leiharbei-ter beschäftigt ist und weiß, dass er in einer Krise alsErster seinen Job verliert. Das ist der Ansatz für Fami-lienpolitik.
Der Artikel von Herrn Detlef Esslinger ist auch ausfolgendem Grund so interessant:Wer auf einen Anschlussvertrag hofft, wird auf derBezahlung von Überstunden keinesfalls bestehen.Kündigungsschutz kennt ein befristet Beschäftigterallenfalls als Vokabel. Er wird keinen Betriebsratkonsultieren, und schon gar nicht wird er
auf die Idee kommen, selber dafür zu kandidieren.Angesichts der realen Arbeitsbedingungen in unseremLand geht es nicht nur um einen Abbau der unmittelba-ren Leistungen und um eine Verschlechterung der unmit-telbaren Situation der Beschäftigten. Es geht auch um ei-nen Abbau von Demokratie in den Betrieben. Denmüssen wir doch wohl gemeinsam verhindern.
Wir sind nicht damit einverstanden, wenn Sie aus-weislich Ihres Koalitionsvertrages nichts gegen Leihar-beit unternehmen wollen; denn wir wissen, dass Leihar-beit eben nicht dem Abbau von Spitzen dient, sondernletztendlich eine Methode ist, vernünftige Arbeitsplätzeabzubauen und schlecht bezahlte Jobs in den Betriebenzu schaffen. Wir sind nicht damit einverstanden, dass Siein Ihrem Koalitionsvertrag schreiben:Wir werden die Möglichkeit einer Befristung vonArbeitsverträgen so umgestalten, dass die sach-grundlose Befristung nach einer Wartezeit von ei-nem Jahr auch dann möglich wird, wenn mit demsel-ben Arbeitgeber bereits zuvor ein Arbeitsverhältnisbestanden hat.Sie sagen, Sie wollten den Kündigungsschutz nicht ver-schlechtern. Faktisch machen Sie mit dem, was Sie imKoalitionsvertrag schreiben, den Kündigungsschutzobsolet. Den Menschen muss gar nicht mehr gekündigtwerden, weil ihr Vertrag ausläuft und sie dann aus denBetrieben entfernt werden.Wir fordern deshalb: Wir brauchen eine klare Rege-lung für die Leiharbeit. Es muss gelten: gleicher Lohnbei gleicher Arbeit.
– Richtig, das steht im Gesetz. Aber Sie wissen genausogut wie ich, dass dieses Gesetz umgangen wird, unter an-derem durch gelbe Gewerkschaften, die niedrige Tarifeabschließen. Wir brauchen einen Ausschluss der Mög-lichkeit, von diesem Prinzip abzuweichen. Dem musssich die FDP anschließen.
Wenn Sie dauernd die Einführung eines Mindestlohnsverweigern und gleichzeitig sagen, Leistung müsse sichlohnen, dann belügen Sie die Leute. Das ist die Realität,Herr Kolb; der sollten Sie sich zuwenden.
Ich fahre fort. Wir brauchen eine klare Regelung, dassbefristete Arbeitsverhältnisse nicht in der Weise verwen-det werden, wie es gegenwärtig geschieht. Ein Arbeits-vertrag darf nur wegen eines Sachgrundes befristet wer-den. Es kann nicht sein, dass Regelungen, die derSchaffung vernünftiger Arbeitsbedingungen dienen, aus-gehebelt werden. In unserem Antrag fordern wir unteranderem, dass der Kündigungsschutz gestärkt wird unddass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf dadurchverbessert wird, dass zum Beispiel Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer, die im Schichtbetrieb arbeiten müs-sen, die Möglichkeit haben, aus dem Schichtsystem he-rauszukommen, wenn sie kleinere Kinder haben. Oft ar-beiten beide Elternteile im Schichtbetrieb und müssensich abwechselnd um ihre Kinder kümmern. Da schautdas Familienleben so aus, dass der eine auf einen Zettelschreibt: Ich komme heute Abend später. – Wenn er wie-derkommt, hat seine Partnerin auf dem Zettel geschrie-ben: Ja, ich habe es gemerkt. – Das ist nicht der Zustand,den wir wollen. Wir wollen, dass Familie und Beruf bes-ser vereinbart werden können.
Ich komme zum Schluss. Ich möchte, dass die in un-serem Antrag formulierte Forderung, die Bezugsdauerdes Arbeitslosengeldes I auf 24 Monate zu verlängern,realisiert wird, weil wir wissen, dass Leiharbeitnehme-rinnen und Leiharbeitnehmer besonders von Arbeitslo-sigkeit betroffen sind. Die Verlängerung der Geltungs-dauer der Kurzarbeitsregelungen hat nicht geholfen.Wenn die Betroffenen keine Arbeit mehr haben, müssensie von Arbeitslosengeld II leben. Das müssen wir än-dern.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der KollegeDr. Johann Wadephul.
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3498 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
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Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Die Bundesrepublik Deutschland ist gemäß
Art. 20 ihrer Verfassung ein sozialer Rechtsstaat. Die so-
ziale Marktwirtschaft ist wahrscheinlich unser bester Ex-
portartikel. Deswegen ist es in der Tat richtig, dass wir
immer wieder – besonders in Zeiten einer Wirtschafts-
krise, wie wir sie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr
erlebt haben – über die Neujustierung unserer Sozial-
politik diskutieren, dass wir Fehlentwicklungen aufgrei-
fen und überlegen, ob es in der Tat Missbrauch oder ein
Überhandnehmen der Befristung von Arbeitsverhältnis-
sen gibt. Gibt es zu viel Leiharbeit? Gibt es Missbrauch
von Leiharbeit? Über den Fall Schlecker haben wir be-
reits kritisch diskutiert. All das ist notwendig.
Herr Kollege Ernst, zu Ihrer Rede und zu dem Antrag
Ihrer Fraktion muss ich sagen: Wir brauchen kein sozia-
listisches Wünsch-dir-was. Was Ihrer Partei eingefallen
ist, lässt Maß und Mitte völlig vermissen. Es wird ver-
sucht, das sozialpolitische Miteinander, das wir in
Deutschland zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaf-
ten haben, zu diskreditieren. Das haben weder die Tarif-
vertragsparteien noch die Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer verdient. Das leistet auch keinen Beitrag
dazu, dass das soziale Klima in Deutschland besser wird.
Bemerkenswerterweise sind Sie auf viele Punkte Ih-
res Antrags nicht eingegangen. Vielleicht sind sie Ihnen
peinlich gewesen; vielleicht waren Sie auch etwas zu
schnell. Als Porschefahrer lieben Sie die Geschwindig-
keit.
Ich möchte mich zunächst kurz mit den Punkten befas-
sen, die Sie angesprochen haben, insbesondere mit dem
Befristungsrecht. Wir werden das genau prüfen. Falls
wir auf der Grundlage des Koalitionsvertrages gesetzlich
nachsteuern müssen, dann werden wir das maßvoll tun.
Die Forderung, die Sie aufstellen – in Ihrer Rede war das
etwas missverständlich; im Antrag ist es eindeutig –, die
sachgrundlose Befristung von Arbeitsverträgen völlig
abzuschaffen, macht das Übermaß deutlich, das ich ein-
gangs kritisiert habe.
Betriebe brauchen in bestimmten Situationen die
Möglichkeit, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit
einem Sachgrund – damit haben Sie recht – befristet ein-
zustellen. Klassische Fälle sind eine Schwangerschafts-
vertretung, ein hoher Auftragseingang mit der Folge,
dass die Aufträge schnell abgearbeitet werden müssen,
oder der Fall, dass man eine besonders qualifizierte Ar-
beitskraft nur für ein bestimmtes Projekt braucht, danach
aber nicht mehr. Das alles sind Fälle, in denen wir den
Betrieben ermöglichen müssen, befristet einzustellen.
Man würde das Kind mit dem Bade ausschütten, wenn
man auch die sachgrundlose Befristung völlig abschaf-
fen würde. Das hilft den Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmern nicht, Herr Kollege Ernst. Deswegen lehnen
wir das schlicht und ergreifend ab.
Herr Kollege, darf ich Sie unterbrechen? – Herr Kol-
lege Ernst möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.
Bitte.
Danke für die Möglichkeit, nachzufragen. – Sie haben
verschiedene Gründe für eine Befristung genannt. Sie ha-
ben erklärt, warum eine Befristung für einen Betrieb
möglicherweise sinnvoll sein kann. Am Ende Ihrer Aus-
führungen kommen Sie zu dem Ergebnis, dass man eine
sachgrundlose Befristung braucht. Es tut mir leid, aber
das kann ich nicht nachvollziehen. Können Sie mir bitte
erklären, warum Sie trotz der vorgetragenen Sachgründe,
die möglicherweise richtig sind, zu dem Ergebnis kom-
men, dass der Arbeitgeber die Möglichkeit haben muss,
ohne jeden Grund befristet einzustellen? Können Sie mei-
ner Behauptung zustimmen, dass die Möglichkeit, sach-
grundlose Befristungen in den Betrieben durchzuführen,
zu dem Ergebnis geführt hat – ich habe es vorhin ange-
sprochen –, dass inzwischen fast die Hälfte der jungen
Menschen ohne festen Arbeitsvertrag in den Betrieben
eingestellt wird?
Herr Kollege Ernst, Ihre Rede war an dieser Stellemissverständlicher als der Antrag. In Ihrer Rede habenSie auch die Sachgrundbefristung infrage gestellt. Des-halb habe ich dazu etwas gesagt. Das ist der erste Punkt.Zweitens. Die Betriebe haben seit Mitte der 80er-Jahre, eingeführt durch Norbert Blüm, die Möglichkeit,ohne einen Sachgrund für maximal zwei Jahre befristeteinzustellen. Das ist ein Erfolgsmodell. Aus vielen be-fristeten Verträgen sind Dauerarbeitsverhältnisse gewor-den. Weil man den Arbeitnehmer kennengelernt hat,weil man gemerkt hat, was er kann, hat man ihn dauer-haft übernommen.
Ein solches Erfolgsmodell werden wir nicht infrage stel-len. Diese Regelung ist seit 1986 im deutschen Rechtverankert. Dabei bleiben wir. In der Sache bin ich mit Ih-nen vielleicht sogar einer Meinung: Das darf natürlichnicht der Regelfall sein. Der Regelfall soll natürlich einunbefristetes Arbeitsverhältnis sein. Deshalb habe ichgesagt: Wenn wir hier modifizieren, schauen wir unsganz genau an, was wir modifizieren.Ich möchte zu einem weiteren Punkt kommen, dermich wirklich umtreibt, zu dem Sie aber gar nichts ge-sagt haben, nämlich zu den massiven Eingriffen in dieTarifautonomie. Diese ist Ihnen – das wissen wir aus derMindestlohndebatte – ohnehin nicht so wahnsinnig vielwert. Jetzt wollen Sie in das Tarifvertragsgesetz eingrei-fen. Sie wollen vorschreiben, dass Lohngleichheit zwi-schen Frauen und Männern hergestellt wird.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3499
Dr. Johann Wadephul
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Mit einer gewissen Empörung stelle ich fest, dass Sieden Gewerkschaften unterstellen, dass sie genau daraufnicht schon seit Jahrzehnten achten. Das geschieht. Zei-gen Sie mir einen Tarifvertrag, den Gewerkschaften, diedem DGB angehören, unterschrieben haben, in dem vonvornherein eine Diskriminierung von Frauen stattfindet!So etwas gibt es nicht. Das möchte ich im Namen derEinzelgewerkschaften des DGB zurückweisen. Das istdas Erste.
Das Zweite ist: In Art. 9 Abs. 3 des Grundgesetzes istdie Tarifautonomie verankert. Sie ist eines der Erfolgs-modelle der Bundesrepublik Deutschland und der Nach-kriegszeit. Manch einer in Ihrer Fraktion kennt das ausFDGB-Zeiten noch etwas anders. Das mag einigen alsModell der Zukunft vorgeschwebt haben. Ich sage Ihnennur: Das ist ein Holzweg. Wir wollen freie Gewerkschaf-ten und freie Arbeitgeberverbände, die im freien Spielder Kräfte miteinander das Beste für die Arbeitnehme-rinnen und Arbeitnehmer sowie für die Betriebe aushan-deln. Da greift der Gesetzgeber nicht ein. Das ist nichtAufgabe des Staates. Das ist die Lehre, die wir aus Fehl-entwicklungen in der Weimarer Republik und der DDRziehen. Dabei bleiben wir.
Mein dritter Punkt ist: Der Antrag zeigt, dass die Lin-ken teilweise noch in einer utopischen politischen Weltleben und noch immer nicht begriffen haben, dass dieDDR nicht nur finanz- und wirtschaftspolitisch, sondernauch sozialpolitisch gescheitert ist.
– Vieles von dem, was Sie vorschlagen, stammt mögli-cherweise nicht aus Ihrer Feder. Sie müssen das abervertreten, weil Sie Vorsitzender werden wollen. Dasmüssen Sie miteinander aushandeln.
Das weiß ich nicht so genau. Aber vieles von dem, wasSie vorschlagen – auf einige Einzelregelungen werdendie nachfolgenden Redner noch zu sprechen kommen –,lehnt sich an das Wirtschaftssystem an, das im ehemalsunfreien Teil Deutschlands gescheitert ist. Das darf keinZukunftsmodell für Gesamtdeutschland sein.
Das bedeutet im Ergebnis – das möchte ich Ihnen klarsagen –: Ich sehe hier einige Gefahren. Sie nutzen dassoziale Klima – Sie sprechen von sozialer Kälte – füreine populistische öffentliche Propaganda, die gefährlichist. Der Kollege Hunko hat schon im vergangenenSommer in Nordrhein-Westfalen Unruhen wie in Frank-reich heraufbeschworen und für sinnvoll gehalten. Dasist in der Tat eine Entwicklung – das sage ich insbeson-dere im Hinblick auf den Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen –, die wir mit Sorge sehen.
– Wenn Sie ernsthaft suggerieren wollen, dass die Unru-hen der Jugendlichen in den französischen Vorstädtenein Vorbild für Deutschland sind, dann kann ich nur sa-gen: Das zeigt ganz klar, wohin Sie wollen. Sie wollennicht sozialen Frieden, sondern sozialen Unfrieden.
Dass das in der Debatte deutlich wird, ist vielleicht ganzgut.Das heißt im Ergebnis: Die Linke darf keine politi-sche Verantwortung tragen, erst recht nicht in Nord-rhein-Westfalen.
Möglicherweise dient der Antrag der Profilierung vorder dortigen Wahl. Wir brauchen klare Entscheidungender Bürgerinnen und Bürger. Sie müssen wissen, worumes geht und vor welchen Alternativen sie stehen. Wirbrauchen keine sibyllinischen Auskünfte, insbesonderevon Frau Kraft nicht, die in einem Slogan ihren Vor- undNachnamen wiederholen lässt. Wir brauchen klare Aus-sagen, nicht von einer Sibylle Kraft, sondern von einerFrau Kraft. Sie muss klar sagen, welche politische Kon-stellation sie anstrebt und welche sie definitiv – hoffent-lich mit einem größeren Aussagewert und mit Glaub-würdigkeit – ausschließt. Ich ziehe daraus den Schluss,dass vernünftige Sozialpolitik in einer sozialen Markt-wirtschaft dann gemacht wird, wenn die Union Verant-wortung trägt. Jürgen Rüttgers ist dafür der beste Garant.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Ottmar Schreiner für
die SPD-Fraktion.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr KollegeWadephul, ich weiß nicht genau, was der Antrag derLinkspartei mit Jürgen Rüttgers zu tun hat. Sie haben daeinen sehr weiten Bogen gespannt.
Sie haben zunächst – wie ich finde: zu Recht – kritisiert,dass der Antrag der Linkspartei eine sehr breite Palettevon unterschiedlichsten Vorstellungen enthält. Mankönnte auch sagen: Er ist ein Sammelsurium, über dasman in der kurzen Debattenzeit nicht seriös diskutierenkann. Sie haben insgesamt circa 40, 45 Vorschläge unter-schiedlichster Art zusammengeschrieben. Das machteine vernünftige parlamentarische Debatte fast unmög-lich. Deshalb werde ich versuchen, mich auf einige we-nige Punkte zu konzentrieren, die jedenfalls ich für be-sonders wichtig halte.
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Ottmar Schreiner
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Zunächst einmal wird im Antrag gefordert, gute Arbeitzu fördern. Das ist auch zentrales Anliegen der Sozialde-mokraten. Wir wollen gute Arbeit fördern. Viele Arbeit-nehmer wurden gefragt, was für sie gute Arbeit sei. DieErgebnisse sind eindeutig. Alle Befragungen zeigen,dass der überwiegende Teil der bundesdeutschen Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer unter guter Arbeit einauf Dauer angelegtes, stabiles sozialversicherungspflich-tiges Beschäftigungsverhältnis versteht, von dem dieMenschen einigermaßen vernünftig leben können.
Das ist das zentrale Anliegen bei guter Arbeit. Wenn ichdies als Messlatte nehme, dann lässt sich überhaupt nichtbestreiten, dass wir es in Deutschland mit mindestenszwei zentralen Fehlentwicklungen auf dem Arbeitsmarktzu tun haben, die es in diesem Ausmaß möglicherweisein keinem anderen europäischen Land gibt. Diese Fehl-entwicklungen sind teilweise von der Politik gefördertund befördert worden.
Also können sie von der Politik auch wieder korrigiertwerden. Ich sage in aller Deutlichkeit, dass ich es füreine Schande halte, dass in einem der reichsten Länderder Erde immer mehr Menschen so wenig verdienen,dass sie von ihrem Einkommen nicht mehr leben kön-nen. Das ist nicht christlich.
Das mag liberal sein; aber christlich ist es nicht.Die schlecht bezahlten Jobs werden immer mehr zumArmutsrisiko. Inzwischen ist die Entwicklung so, dassauf zehn Arbeitslose im Hartz-IV-System bereits sechsHartz-IV-Empfänger kommen, die erwerbstätig sind,von ihrem Lohn aber nicht leben können und über Hartz-IV-Leistungen aufstocken müssen.
– Es geht jetzt im Wesentlichen nicht darum, darüber zudiskutieren, woher es kommt, sondern darum, wie wir esändern wollen.
– Lieber Kollege von der FDP, Sie haben all den Rege-lungen, die Sie kritisieren, zugestimmt und zu erhebli-chen Teilen weitere Verschärfungen hier im DeutschenBundestag angestrebt.
Wenn Sie sich jetzt hier als Rächer der Enterbten darstel-len, ist das pure Heuchelei. Sie sollten den Mund halten,zumindest für die nächste halbe Stunde; danach sehenwir weiter.
Von Ihnen sollten bei diesen Themen nun wirklich keineZwischenrufe gemacht werden.
– Sind Sie immer noch nicht ruhig? Reicht es nicht?
Das Problem ist, dass die Koalition diese Entwick-lung noch verschärfen will. Sie überlegen, die Hinzuver-dienstgrenzen für Hartz-IV-Empfänger noch großzügigerauszugestalten. Das heißt, dass die Armutslohnproble-matik weiter zunehmen wird. Es ist meine feste Über-zeugung und die feste Überzeugung der SPD-Fraktion,dass es nicht Aufgabe der Steuerzahler ist, Unterneh-men, die Armutslöhne zahlen, zu subventionieren,
dass es aber Aufgabe der Politik ist, die Steuerzahler da-vor zu schützen, Armutslöhne subventionieren zu müs-sen. Wir wollen kein staatlich subventioniertes Lohn-dumping.
Deshalb fordern wir die Koalition auf, entsprechendeBestrebungen unverzüglich einzustellen und sich unse-ren Überlegungen zum Thema Mindestlohn anzuschlie-ßen.Herr Kollege Wadephul, ich verstehe überhaupt nicht,warum Sie den Mindestlohn in Verbindung mit einermöglichen Beschädigung der Tariffreiheit bringen. DerDeutsche Gewerkschaftsbund hat auf seinem letztenBundeskongress vor vier Jahren mit einer Mehrheit von96 Prozent die Forderung nach der Einführung gesetzli-cher Mindestlöhne beschlossen. Die Gewerkschaftensind eine zentrale Säule des Tarifsystems. Wenn die Ge-werkschaften der Auffassung sind, dass es der politischenUnterstützung bedarf, um zu gewährleisten, dass zumin-dest im untersten Einkommensbereich halbwegs men-schenwürdige Löhne gezahlt werden, dann sollte sich diePolitik diesem Ansinnen nicht verweigern. Das hat mitEingriffen in die Tarifautonomie überhaupt nichts zu tun.
Was die Höhe des Mindestlohns betrifft, wird man de-battieren müssen, ob der Vorschlag der Linkspartei– 10 Euro brutto die Stunde – angemessen ist. Ich plä-diere sehr dafür, die Kirche im Dorf zu lassen. DieserVorschlag ist meiner Meinung nach ein bisschen argpopulistisch. Es gibt vernünftige, objektive Kriterien,anhand derer man eine Mindestlohngrenze festlegenkann. Man könnte zum Beispiel die Pfändungs-freigrenze, die Arbeitnehmern im Fall der Überschul-dung einen angemessenen Lebensunterhalt sichert, he-
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Ottmar Schreiner
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ranziehen. Dann hätten wir einen Mindestlohn von etwa1 000 Euro netto bei Vollzeitbeschäftigung. Das würdeungefähr unseren Vorstellungen von einem Einstiegs-mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro brutto die Stundeentsprechen. Ich bin einigermaßen sicher, dass die Ge-werkschaften auf ihrem anstehenden Bundeskongressähnliche Überlegungen anstellen werden. Ich plädieresehr nachdrücklich dafür, in dieser Frage einen mög-lichst engen Schulterschluss mit den Gewerkschaften zusuchen, weil sie in besonderem Maße betroffen sind.Die zweite zentrale Fehlentwicklung auf dem Arbeits-markt ist die systematische Ausbreitung ungeschützter,prekärer oder atypischer Beschäftigungsverhältnisse. DieArbeitsmarktflexibilisierung zielt, was die Instrumentebetrifft, in die völlig falsche Richtung. Es geht in vielenBereichen nicht mehr um die Flexibilisierung des Ar-beitsmarktes, sondern um den nackten Missbrauch der In-strumente zum Zweck des Lohndumpings. Dem muss einRiegel vorgeschoben werden. Die Koalition tut auch hierdas Gegenteil.
Sie wollen die Regelungen betreffend die zeitliche Be-fristung noch stärker lockern. Das ist ein Schritt in diefalsche Richtung.
2009 waren fast 50 Prozent der mit jungen Leuten neugeschlossenen Arbeitsverträge zeitlich befristet. DieUnion behauptet von sich, eine Familienpartei zu sein.Ich sage Ihnen: Diese Entwicklung ist extrem familien-und kinderfeindlich. Wenn ein 28-jähriger Mann odereine 30-jährige Frau – das ist übrigens unabhängig vonder Ausbildung; es gibt auch sehr viele hochqualifizierteund sehr gut ausgebildete junge Menschen, denen Sieden Start ins Berufsleben massiv vermiesen – nicht wis-sen, ob sie ein Kind nach zwei Jahren zeitlicher Befris-tung noch angemessen kleiden und ernähren können,dann entscheiden sie sich nicht für ein Kind. Wir brau-chen eine Wiederbelebung des Normalarbeitsverhältnis-ses. Auch junge Menschen müssen ihr Leben halbwegsvernünftig planen können. Wir brauchen also eine Stär-kung und Ausweitung normaler, stabiler, auf Dauer an-gelegter Arbeitsverhältnisse und eine massive Eindäm-mung prekärer, sozial ungeschützter Beschäftigung.Alles andere wäre die Rückkehr in das 19. Jahrhundertim modernen Gewand der Tagelöhnerei. Das können Sieals christliche Partei nicht ernsthaft wollen.
Es gibt Alternativen zu dieser Flexibilisierung des Ar-beitsmarktes. Es ist von einem Jobwunder in Deutsch-land die Rede, und es heißt, dass Deutschland bisher dietiefste Wirtschafts- und Finanzkrise seit über 80 Jahrenjedenfalls auf dem Arbeitsmarkt einigermaßen gut über-standen hat. Das hat im Wesentlichen mit zwei Flexibili-sierungsinstrumenten zu tun: zum einen mit der zeitge-mäßen Ausgestaltung der Kurzarbeit in Verbindung mitQualifizierung und zum anderen mit dem sehr verant-wortungsvollen Umgang mit Arbeitszeitkonten. Dassind Flexibilisierungsinstrumente, die sowohl dem Ar-beitnehmer als auch dem Unternehmen nutzen. Ange-sichts des anstehenden demografischen Wandels – einFacharbeitermangel wird vorausgesagt – wäre es grot-tenfalsch, hochqualifizierte Arbeitskräfte zu entlassen.Es kommt jetzt darauf an – das ist die zentrale Aufgabeder Politik in der nächsten Zeit –, dass diese bewährteninternen Flexibilisierungsinstrumente so ausgestaltetwerden, dass sie auch dann zur Anwendung kommen,wenn die tiefe Wirtschafts- und Finanzkrise vorbei ist,und dazu beitragen, die eben genannten arbeitnehmer-feindlichen Flexibilisierungsinstrumente – Leiharbeit,zeitliche Befristung, Praktikantenunwesen usw. usf. –zurückzudrängen.Eine weitere Bemerkung zu dem Antrag der Linken,weil ich finde, dass auch da die Auslassungen des Kolle-gen Wadephul von der CDU/CSU zumindest unver-ständlich waren. Herr Kollege Wadephul, wir wissen ausUntersuchungen, dass Frauen in Deutschland trotz glei-cher oder gleichwertiger Arbeit im Durchschnitt 23 Pro-zent weniger verdienen als Männer. Wenn das keine gi-gantische Diskriminierung von Frauen ist!
Da muss der Gesetzgeber handeln. Er muss einen recht-lichen Rahmen schaffen, auf den sich Frauen, die beimLohn diskriminiert werden, berufen können.
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit.
Ich will noch einen letzten Punkt kurz ansprechen.
Sie sind am Ende Ihrer Redezeit.
Wenn ich diesen Punkt angesprochen habe, ist die Re-dezeit zu Ende, Frau Präsidentin.
Es geht – diesen Punkt werden Sie nachher wahr-scheinlich noch angreifen – um die Positionierung zupolitischen Streiks. Ich will dazu ganz kurz KlausWiesehügel zitieren, der lange Jahre Mitglied dieses Ho-hen Hauses gewesen ist und Vorsitzender der IG Bauen-Agrar-Umwelt ist. Klaus Wiesehügel hat auf dem Bun-deskongress seiner Gewerkschaft ausgeführt:Es ist völlig richtig, dieses Thema innerhalb der Ge-werkschaften zu diskutieren. Völlig richtig wäreaber ein Antrag an den Deutschen Gewerkschafts-bund, dafür zu kämpfen …, dass in der Bundesrepu-blik Deutschland genau wie in den anderen europäi-schen Ländern auch der politische Streik eineSelbstverständlichkeit ist. Das wäre völlig richtig …Wir haben 2004 mit Hunderttausenden in verschie-denen Städten – Köln, Berlin und anderen – gestan-den und gegen den Sozialabbau dieser Republik de-
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Ottmar Schreiner
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monstriert. Da ging es ja auch um eine politischeDemonstration. Das war ja nicht nur ein Streik. DerStreik kann ja auch durch eine Demonstration an ei-nem bestimmten Tag herbeigeführt werden. Es hatniemand gesagt: Das dürft ihr nicht, das ist verboten.Ich hoffe sehr, dass das auch weiterhin gilt, liebe Kolle-ginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen.
Nächster Redner ist der Kollege Reiner Deutschmann
für die FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Mit dem großen Sündenfall vonAdam und Eva begann die Vertreibung aus dem Para-dies. Die Einzelheiten dieser Geschichte kennen Sie; ichmuss sie wohl nicht wiederholen. Ich will mir auch nichtden Zorn der Obstproduzenten zuziehen, indem ich dieRolle des Apfels in diesem Drama näher beschreibe.Fakt bleibt: Das Paradies war verloren. Adam und Evawaren fortan gezwungen, zu arbeiten, um ihren Lebens-unterhalt zu bestreiten. So weit, so biblisch.Paradiesische Zustände scheinen die Linken im Blickzu haben.
Diesen Eindruck muss man jedenfalls gewinnen, wennman ihren Antrag betrachtet. Allein der Titel „Mit guterArbeit aus der Krise“ bietet eine Steilvorlage für vielephilosophische Diskussionen bei toskanischem Rotwein.Von deutschem Rotwein rede ich vorsichtshalber nicht;das würden Sie wahrscheinlich wieder Klientelpolitiknennen. Aber zum Thema: Wo es gute Arbeit gibt, musses der Logik nach zwangsläufig auch schlechte Arbeitgeben. Was ist gute Arbeit? Was ist schlechte Arbeit?Wenn es nur mit guter Arbeit einen Weg aus der Krisegibt: Wer macht dann die schlechte?Der Fraktion Die Linke reichen ein bisschen mehr alssechs Seiten, um die Formel der Arbeitswelt quasi neuzu erfinden. Man fühlt sich wie bei einem der allseits be-liebten Best-of-Alben der Musikbranche: Am Ende derRockkarriere wird noch einmal ein zünftiges Album mitallen Hits aufgelegt. Genauso lesen sich die Evergreensdieses Antrags, die Sie wie mit einem Füllhorn über unsausgießen.
Es gibt allerdings einen Unterschied: Das waren nieHits. Es ist also wieder einmal Bescherung bei den Lin-ken, und das mitten im Frühling. Schade ist nur, dass sieuns wieder verschweigen, woher das Geld für dieseWohltaten kommen soll. Selbst die SED-Millionen dürf-ten dafür nicht ausreichen.
Schauen wir uns das einmal genauer an. Wenn man Ih-ren Antrag liest, könnte man den Eindruck bekommen, inDeutschland herrschten katastrophale soziale Zustände,die ein Fall für den Europäischen Gerichtshof für Men-schenrechte wären. Sie sprechen von Erpressung gegen-über Erwerbslosen und Beschäftigten. Sie sprechen da-von, dass auf Arbeitsuchende der Zwang ausgeübt wird,Arbeitsverhältnisse auch zu schlechteren Bedingungenals vorher anzunehmen. Sie sprechen von einem Klimader Angst, das in Deutschland herrscht. In Wahrheit spie-len die Linken selbst mit den durchaus vorhandenen Sor-gen der Menschen.Die Linken wollen keine Anreize für Erwerbslose,sich um Arbeit zu bemühen. Sie setzen stattdessen aufden immer weiteren Ausbau staatlicher Sozialleistun-gen. Sie sind gegen die geringfügige Beschäftigung,ohne zu berücksichtigen, dass Tausende Menschen inDeutschland gerade auch diese Beschäftigungsform ausganz unterschiedlichen Motiven heraus und ganz be-wusst gewählt haben, und Sie verteufeln befristete Ar-beitsverhältnisse und Zeitarbeitsfirmen mit der Folge,dass die Arbeitgeber dann überhaupt nicht einstellen undviele Arbeitsuchende weiter arbeitslos bleiben würden.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen vonder Linken, es ist schon erstaunlich, wie Sie versuchen,den Eindruck zu vermitteln, der Staat unternehme nichtgenug für in Not geratene Bürgerinnen und Bürger. Da-bei hilft eigentlich schon ein kurzer Blick in den Haus-halt 2010, um zu erkennen, dass fast die Hälfte unsererAusgaben für Sozialausgaben aufgewendet wird.Wir haben eines der besten Sozialsysteme der Welt.Gerade gestern hat das Kabinett noch einmal Verbesse-rungen zum Schutz von Arbeitsplätzen und bei den Hin-zuverdienstgrenzen von Hartz-IV-Empfängern beschlos-sen.
Durch das Kurzarbeitergeld konnten wir in der Wirt-schaftskrise den Anstieg der Arbeitslosigkeit, den andereLänder erleben mussten, vermeiden. Jetzt verlängert diechristlich-liberale Koalition diese Maßnahme noch ein-mal bis zum 31. März 2012. Wir werden den Schülerin-nen und Schülern, die in einer SGB-II-Bedarfsgemein-schaft leben, ermöglichen, durch Sommerferienjobs1 200 Euro anrechnungsfrei hinzuzuverdienen.Das sind nur einige unserer Maßnahmen. Wir tun et-was für die Menschen in diesem Land, statt nur leereVersprechungen zu machen. Anders als den Linken ist esuns wichtig, dass sich Leistung wieder lohnen muss,anstatt Wohltaten bedingungslos mit der Gießkanne überdiesem Land auszuschütten.
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Reiner Deutschmann
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Für uns ist es ganz selbstverständlich, dass jeder, derdazu in der Lage ist, seinen Beitrag für die Gemeinschaftleistet, auch, indem er sich aktiv um Arbeit bemüht, an-statt darauf zu warten, dass der Staat kommt und ihmden Arbeitsplatz vor die Tür stellt, wie die Linken esgerne hätten.
Wir leben in einer Gesellschaft, die die Bereitschaft zurLeistung noch stärker honorieren muss. Die Abkehr vomLeistungsprinzip war einer der Sargnägel für die DDR-Wirtschaft und hat zu ihrem Niedergang geführt. Diesesollte hier heute nicht unser Maßstab sein.
Ich kann es immer nur wiederholen: Solidarität istkeine Einbahnstraße. Mit nicht finanzierbaren Plänenmindern die Linken die Leistungsbereitschaft der Men-schen. Sie gefährden die Solidarbereitschaft derjenigen,die die Steuereinnahmen aufbringen, die Sie so großzü-gig verteilen wollen. Durch die Verschärfung des Kündi-gungsschutzes und die Einführung eines Mindestlohneswerden keine neuen Arbeitsplätze entstehen. Das Ge-genteil wäre vielmehr der Fall.
Wir können nicht die Augen vor der globalisiertenWelt verschließen, wir dürfen bestehende Arbeitsplätzenicht mit massiven Eingriffen in den Arbeitsmarkt ge-fährden, und wir können nicht mit Steuergeldern Millio-nen neuer Arbeitsplätze an der Realität vorbei schaffen.Die paradiesische Arbeitswelt, die die Linken den Men-schen vorgaukeln, ist ein einziges „Wünsch dir was“.
Dagegen sind die Märchen der Gebrüder Grimm ein rei-nes Sachbuch.Deshalb sagen wir ein klares Nein zur Umvertei-lungspolitik der Linken, die auch in diesem vorliegendenAntrag wieder zum Ausdruck kommt. Das ist kein Kon-zept, mit dem man unser Land zukunftstauglich aus derKrise führen kann.Vielen Dank.
Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kol-legin Beate Müller-Gemmeke das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Der Wandel in der Erwerbsarbeit istunübersehbar, und der Trend ist eindeutig. Die Vollzeit-beschäftigung nimmt ab, und sowohl die atypische alsauch die prekäre Beschäftigung nimmt zu. In der Folgereichen die Angst und die Unsicherheit vor sozialem Ab-stieg bis weit in die Mitte unserer Gesellschaft.Die FDP und Teile der CDU/CSU wollen den Nied-riglohnsektor dennoch noch weiter ausbauen.
Argumentiert wird ja wieder mit den Arbeitsplätzen. Obdie Beschäftigten von ihrem Lohn leben können odernicht, spielt dabei keine Rolle. Parallel gibt es auch nochdie unsägliche Sozialstaatsdebatte der FDP. Die Ärmstenwerden gegen die Armen ausgespielt. Dieser Weg kannnicht funktionieren, ohne den sozialen Frieden in unsererGesellschaft aufs Spiel zu setzen.
Das Thema heute ist also richtig und wichtig. Wasmacht die Linke? Sie legen ein als Antrag getarntes Posi-tionspapier mit einem wilden Sammelsurium an radika-len Forderungen aus Ihrem Programm vor.
Dazu kann ich nur sagen: Die NRW-Wahl lässt grüßen.
Mit diesem Antrag versprechen Sie ein Märchenland,das es so nicht geben wird und das auch linksorientierteBürgerinnen und Bürger so nicht wollen. Wir braucheneine verlässliche sozialökologische Marktwirtschaft.Ich finde, Sie gaukeln den Menschen etwas vor. Dasmacht mich wütend; denn ich nehme das Thema wirk-lich ernst.
So werden Sie ihm nicht gerecht.Wir Grünen wollen Fairness in der Arbeitswelt undtreten im Interesse der Beschäftigten für gerechte Löhneund gute Arbeitsbedingungen ein. In diesem Sinne gibtes in Ihrem Antrag viele Forderungen, die berechtigtsind und die wir auch unterstützen. Wir fordern eine stär-kere Regulierung der Leiharbeit, damit die „Schleckeri-sierung“ in unserer Arbeitswelt ein Ende hat. Wir wollenMindestlöhne und eine Entfristung der Beschäftigung.Wir halten am Kündigungsschutz fest und wollen eineechte Mitbestimmung. Wir fordern die Entgeltgleichheitzwischen Männern und Frauen.
Genau bei diesen Themen sehe ich sehr starken Hand-lungsbedarf.
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Beate Müller-Gemmeke
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Ich finde, die Linke überzieht aber viele wichtige For-derungen. Damit werden Sie die Regierung nicht in Be-drängnis bringen. Sie differenzieren auch nicht. Bei-spielsweise reden Sie immer von „der Wirtschaft“.Damit werden Sie vielen Betrieben und vor allem demHandwerk nicht gerecht.
Dort gibt es durchaus gute Arbeit. Die Probleme liegenhäufig woanders.Teilweise fehlt ein Konzept. Beispielsweise sollen dieMinijobs nicht mehr subventioniert werden. Das fordernwir auch. Wir haben aber ein Konzept dafür, nämlich un-ser Progressivmodell.In Ihrem Antrag werden einfach alle möglichen For-derungen aneinandergereiht. Ich finde das schwach. Ichhabe einen höheren Anspruch an unsere parlamentari-sche Arbeit.
An einer anderen Stelle sind Sie übrigens ziemlichunehrlich, und zwar bei den Zumutbarkeitskriterien.Leider schaffen Sie es nicht, Tacheles zu reden. Statteine Arbeitsvermittlung auf freiwilliger Basis zu for-dern, schrauben Sie die Hürden derart hoch, dass eineauf Zwang beruhende Arbeitsvermittlung quasi unmög-lich wird.Fordern Sie doch einfach das Sanktionsmorato-rium! Das fordern etliche Abgeordnete, darunter auchich, ebenso wie die Initiative für ein Sanktionsmorato-rium.
Das wäre ein klares und eindeutiges Zeichen an die Re-gierung, wenn die Opposition gemeinsam Verschärfun-gen bei den Sanktionen kritisiert und Veränderungen an-mahnt.
Nun komme ich zu den Punkten in Ihrem Antrag, dieich durchaus als populistisch bezeichnen kann. Sie wol-len die paritätische Unternehmensmitbestimmung aufalle Unternehmen ab 100 Beschäftigte ausdehnen undfordern, dass bei erheblichen Entscheidungen auch zweiDrittel des Aufsichtsrates zustimmen müssen. Mit dieserForderung schießen Sie über das Ziel hinaus. WürdenIhre Forderungen umgesetzt, befände sich die Bundes-republik im Stillstand. Unternehmerische Entscheidun-gen wären dann nicht mehr möglich.Sie können mir glauben, dass ich hinter der Mitbe-stimmung stehe und noch mehr echte Mitbestimmungfordere. Sie sollte aber konstruktiv sein. Mir geht es umgleiche Augenhöhe und um den Interessenausgleich zwi-schen den Beschäftigten und den Unternehmen.
Frau Kollegin, darf ich Sie unterbrechen? Frau Kolle-
gin Kipping möchte gerne eine Zwischenfrage stellen.
Erlauben Sie sie?
Ja.
Liebe Kollegin, ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie
Ihre Redezeit genutzt haben, um auf das Bündnis für ein
Sanktionsmoratorium hinzuweisen und darüber zu in-
formieren. Vor dem Hintergrund, dass mit dem Verweis
auf das Bündnis ein bisschen der Eindruck erweckt wird,
als ob ein Gegensatz zwischen dem Bündnis und unse-
rem Antrag bestünde, frage ich Sie, ob Ihnen bekannt
ist, dass sich die Linke bereits in einem früheren An-
trag konkret für die Streichung des Sanktionsparagra-
fen ausgesprochen hat und dass wir alle unsere Vor-
schläge zu guter Arbeit nicht als Gegenmaßnahme zu
dem Sanktionsmoratorium verstehen, sondern dass es
im Gegenteil Hand in Hand geht? Denn alle unsere Vor-
schläge für gute Arbeit erfordern, dass die Erpressbar-
keit von Erwerbslosen ein Ende hat. Darauf wollte ich an
dieser Stelle gerne hinweisen.
Frau Kollegin Kipping, als ich Ihren Antrag und den
Absatz über die Zumutbarkeitskriterien gelesen habe,
habe ich mich gewundert. Es ist wirklich ein Herum-
eiern.
– Ja, aber ich finde es trotzdem unehrlich, wenn man he-
rumeiert und über Zumutbarkeitskriterien redet, wenn
man die Abschaffung der Sanktionen oder zusammen
mit der bereits erwähnten Initiative ein Sanktionsmora-
torium fordern kann. Dann braucht man Ihre ganzen an-
deren Forderungen einfach nicht. Eine Arbeitsvermitt-
lung, die auf Freiwilligkeit beruht, reicht aus, und man
muss keine anderen Forderungen stellen.
Die Kollegin möchte erneut nachfragen. – Sie erlau-
ben es? – Frau Kipping.
Ich habe mit Interesse zur Kenntnis genommen, dassSie sich jetzt auch für die komplette Abschaffung derSanktionen aussprechen. Wie Sie wissen, ist dies nochnicht einmal bei den Grünen eine mehrheitlich vertretenePosition. Die Linke ist bisher die einzige Fraktion, diesich eindeutig für die Abschaffung der Sanktionen aus-gesprochen hat. Insofern halte ich es schon für sehr an-gemessen, dass man sich über weitere Zumutbarkeits-
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Katja Kipping
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kriterien vor dem Hintergrund verständigt, dass manauch Teilschritte auf dem Weg dahin braucht, bis derSanktionsparagraf abgeschafft sein wird. Daher frageich Sie, ob Ihnen bewusst ist, dass es Sanktionen nichtnur im SGB II gibt, sondern auch im SGB III – das heißtdann Sperrzeiten –, und dass es auch für diesen Bereichsehr sinnvoll ist, dass es geregelte Zumutbarkeitskrite-rien gibt.
Ich muss noch einmal sagen, dass in dem Wahlpro-gramm der Grünen durchaus steht, dass wir ein Sanktions-moratorium wollen und dass die Vermittlung in Arbeitbzw. in Maßnahmen natürlich den Wünschen, Fähigkei-ten und Interessen der Menschen entsprechen soll. Vondaher sind Sie nicht die einzige Partei, sondern es stehtauch in unserem Wahlprogramm.
– Wie bitte?
– Okay, machen Sie das.Ich komme nun zu Ihrer Forderung nach politischemStreik. Dazu hat Kollege Schreiner schon etliches ge-sagt. Für das Land Berlin, in dem Sie ja an der Regie-rung beteiligt sind, wäre ein solches Streikrecht natürlichschon eine Katastrophe. Auch Sie haben etliche unpopu-läre Dinge durchgedrückt, sodass politische Streiks ge-rechtfertigt gewesen wären. Ich kann hier nur KollegenSchreiner unterstützen: Wir können jederzeit streikenund politische Demonstrationen machen. Daher brauchtman so etwas in einem solchen Antrag nicht zu fordern.Positiv in Ihrem Antrag ist aber, dass Sie wieder ein-mal gesetzliche bzw. branchenspezifische Mindestlöhnefordern. Wir wollen sie ja auch. Als sich Ihre Partei nochin den Kinderschuhen befand, haben wir schon einen ge-setzlichen Mindestlohn gefordert. Ich kritisiere aber,dass Sie alle, auch die Gewerkschaften, mit der Forde-rung nach einem gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von10 Euro überbieten. Nehmen Sie doch endlich zurKenntnis, dass wir uns nicht in einem Wettrennen umden höchsten Mindestlohn befinden. Viel wichtiger wärees, dass wir alle gemeinsam an einem Strang ziehen,weil dieses Thema momentan das wichtigste ist.
In Richtung Regierungsfraktionen sage ich: StellenSie sich endlich dem Thema Mindestlohn. Alle Men-schen haben das Recht, dass sie für ihre Arbeit gerechtund fair entlohnt werden.Ein letzter Punkt in Richtung der Linken ist mir jetztnoch wichtig: Sie gaukeln den Menschen vor, dass Sie inder Lage seien, schnell mal 2 Millionen Arbeitsplätzezu installieren. Wie Sie das schaffen und finanzierenwollen, sagen Sie aber nicht. Ich halte dies für unredlich,zumal Sie mit den Emotionen der Menschen spielen, diesich natürlich so schnell wie möglich einen sicheren undgut bezahlten Arbeitsplatz wünschen. Vor allem zeigt eseinmal mehr, dass Sie das mit den Arbeitsplätzen nichtrichtig verstanden haben, wie im Übrigen die Regie-rungsfraktionen auch. Sie versprechen die 2 MillionenArbeitsplätze, aber Sie verbinden dies nicht mit IhremSpiegelstrich i). Hier fordern Sie zwar einen ökologi-schen Umbau der Wirtschaft, aber Sie führen nicht aus,dass überall im Land neue Arbeitsplätze geschaffen kön-nen, wenn man den Energiebedarf ausschließlich aus er-neuerbaren Energien deckt und auf Atomkraft und Kohleverzichtet. Vielleicht sollten Sie endlich einmal inner-halb Ihrer Partei die Kohlediskussion führen.
Ich komme zum Schluss und appelliere an die Regie-rungsfraktionen: Denken Sie endlich an die Beschäftig-ten, denken Sie endlich an die soziale Balance in unsererGesellschaft, und beschäftigen Sie sich endlich ernsthaftmit dem Thema „gute Arbeit“.In Richtung der Linken kann ich nur noch einmal sa-gen: Mich ärgert dieser Antrag; das haben Sie sehr wahr-scheinlich auch gemerkt.
Mir ist dieses Thema wirklich wichtig. Ihr Antrag ist fürmich zu überzogen; damit macht er dieses Thema kaputt.Es darf nicht nur um Profilierung gehen, und es machtauch keinen Sinn, einen Wettbewerb in allen Bereichenzu veranstalten. Vielmehr sollten wir gemeinsam diesewichtigen Themen aufgreifen und uns hier in diesemHause ernsthaft mit dem Thema „gute Arbeit“ auseinan-dersetzen, und zwar im Interesse der Menschen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun die Kollegin Mechthild Heil für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Bei dem Antrag der Linken „Mit guter Arbeitaus der Krise“ trügt schon die Überschrift. Sie müsste ei-gentlich heißen: Mit primitivem Opportunismus immerweiter in die Krise.
Glauben Sie, dass das Volk das nicht merkt? Wenn sichder Sozialismus nicht offen zeigt, dann zieht er im Kleiddes Neides durch die Gesellschaft.
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3506 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
Mechthild Heil
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Unter dem Punkt „Zumutbarkeit verbessern, Qualitätvon Arbeit in den Mittelpunkt rücken“ fordern Sie zumBeispiel, politische und religiöse Gewissensfreiheitmüsste gewährleistet werden. Ein Blick in das Grundge-setz würde Ihnen diesbezüglich sicherlich Auskunft ge-ben. Daran sehen Sie, dass Ihr Antrag rein populistischist. Es gibt keine Forderung von Ihnen, ohne dass Sievorher in den dunkelsten Farben ausmalen, in welchschlechtem Zustand sich unser Land und der Arbeits-markt vermeintlich befinden. Ihr Blick auf die Welt istgrau in grau vernebelt. Das mag in Berlin so sein, wo Siemitregieren.
Aber die Realität ist anders. Unser Konzept der Kurzar-beit ist zwischenzeitlich ein Exportschlager. Die Men-schen im Betrieb können sofort durchstarten, wenn dieKonjunktur anspringt. Das führt zu wirklich guter Ar-beit.
Sie von der Linken beziehen sich heute auf Angabendes Statistischen Bundesamts, wonach die Reallöhneum 0,4 Prozent gesunken sind. Keine Frage, die Zahlstimmt. Sie ist korrekt. Die Verdienstentwicklung in2009 hat unter dem Einfluss der Weltwirtschafts- und Fi-nanzkrise gelitten. Ja, das ist in Ordnung. Nicht in Ord-nung sind aber die Schlüsse, die Sie daraus ziehen. Sieverschweigen, dass die Statistiker festgestellt haben, derRückgang um 0,4 Prozent bei den Reallöhnen hänge vorallem von den starken Einbrüchen bei den Sonderzah-lungen ab. Besonders hohe Verluste bei Sonderzahlun-gen mussten zum Beispiel Beschäftigte des Bankensek-tors, der Versicherungen oder der Automobilindustriehinnehmen. Die ganze Wahrheit ist also: Die Grundver-gütungen, also die Bruttoverdienste ohne die Sonderzu-lagen, sind letztes Jahr sogar um 1,2 Prozentpunkte ge-stiegen. Es ist traurig, dass Sie nicht die Kraft haben, daspositiv zu kommentieren.
Einen weiteren Zusammenhang verschweigen Sie. DerRückgang der Reallöhne um 0,4 Prozent liegt neben demEinbruch bei den Sonderzahlungen für Banker vor alleman der Kurzarbeit. Sie drückt den statistischen Schnitt,weil nur der reduzierte Lohn in dieser Statistik erfasstwird, nicht aber das gesamte tatsächliche Einkommender von Kurzarbeit Betroffenen. Also: Die Reallöhnesanken geringfügig um 0,4 Prozent, weil hier das allseitsfür gut befundene Mittel des Kurzarbeitergeldes statis-tisch durchschlägt, aber die Grundvergütung stieg um1,2 Prozent. Ihre Methoden der Verdrehungen haben Vä-ter, von denen Deutschland mit dem Abriss der Mauerbefreit wurde.
Ich finde es unerträglich, dass Sie keine Verantwor-tung für die unterschiedlichen Gruppen in unserer Ge-sellschaft übernehmen. Sie säen Misstrauen und Hassunter den verschiedenen sozialen Gruppen. Sie ziehenfalsche Schlüsse und blenden einen Teil der Wahrheitaus.
Arbeitgeber und Arbeitnehmer stehen für Sie unversöhn-lich gegeneinander. Meine Wirklichkeit ist da wirklicheine andere.
– Herr Ernst hat schon genug für Sie geschrien. – Viel-leicht empfinde ich dies nicht so sehr als Gegensätze,weil ich in meinem Leben schon sowohl auf der Arbeit-geber- als auch auf der Arbeitnehmerseite gestandenhabe.Sie schreiben weiter in Ihrem Antrag, dass nur12 Prozent der Beschäftigten ihre Arbeit als eine guteArbeit bezeichnen. 55 Prozent bezeichneten ihre Arbeitals mittelmäßig und 33 Prozent sogar als schlecht. Ichkenne diese Zahlen; sie stammen aus dem ersten Quartal2009. Ich kenne aber auch den aktuellen Arbeitsmarkt-index des Emnid-Instituts. Die Daten wurden ganz aktu-ell, im Januar und Februar dieses Jahres, erhoben, undsie sprechen eine ganz andere Sprache: Die Befragtenfühlen sich an ihrem Arbeitsplatz wohl. Der ermittelteZufriedenheitsindex von 7,5 ist ein guter Wert. Er ist zu-letzt sogar gestiegen, zum ersten Mal seit 2008 – trotzder von Ihnen als „katastrophal“ bezeichneten Entwick-lung auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Mein Fazit: Siehaben das Ohr nicht bei unseren Arbeitnehmern, sondernfrönen ideologischer Fiktion.
Bemerkenswert finde ich insbesondere, dass diejeni-gen, die am wenigsten in der von Ihnen gefordertenWeise vom Staat abgesichert werden, also die Selbst-ständigen, die Freiberufler oder die Landwirte, mit ei-nem Wert von 8,6 ganz besonders zufrieden sind. Auchdas passt nicht in Ihr Weltbild; ich weiß.Sie sollten einmal über Folgendes nachdenken: Aufdem Höhepunkt der Krise gingen einige Experten sogarvon einem Anstieg der Arbeitslosenzahl auf 4,5 Millio-nen aus. Dies hat sich nicht bewahrheitet, zum Glück.Die Forschungsinstitute gehen für dieses Jahr von 3,4 bis3,5 Millionen Erwerbslosen aus. Das wäre ungefähr dasNiveau des vergangenen Jahres. Das sind immer nochviel zu viele Arbeitslose. Um jeden einzelnen wollenund müssen wir uns kümmern. Das ist Teil unsereschristlich-liberalen Selbstverständnisses.
Wir sind durch die Krise noch nicht durch. Wir alsRegierungskoalition verschließen nicht die Augen vorder Realität. Wir sind uns der demografischen Heraus-
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forderung bewusst. Wir wissen, dass ein Schlüssel zurpositiven Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt darin liegt,wie es uns gelingen wird, Ältere länger in das Arbeitsle-ben zu integrieren, Alleinerziehenden einen besserenZugang zur Arbeit zu ermöglichen und Menschen mitMigrationshintergrund in den Arbeitsmarkt zu integrie-ren. Wir führen so die Menschen zum Einstieg in guteArbeit. Schreiben Sie weiter Anträge voller Textbau-steine. Wir packen die Probleme an.Vielen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Josip Juratovic für
die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenKolleginnen und Kollegen! Unsere Gesellschaft befindetsich in einer Krise, und das ist eine viel tiefere Krise alsnur eine Wirtschafts- und Finanzkrise. Wir befinden unsin einer tiefgreifenden Gesellschaftskrise. Die Men-schen haben den Wunsch nach Zielen und Orientierung.Das spiegelt sich wider in Familien, in der Freizeit undin der Arbeitswelt. Das Fundament der fortschrittlichenEntwicklung unserer Gesellschaft und unserer Wirt-schaft waren lange Jahre unsere Werte und Tugenden.Wir fuhren auf der Hauptstraße der Werte und Tugenden.Von dieser Hauptstraße des Erfolgs sind wir irgendwannrechts in eine Sackgasse abgebogen.
Diese Sackgasse heißt: reine Wachstumslogik.
Wenn wir uns einmal anschauen, wie unsere heutigeWirtschaft funktioniert, wird diese Sackgasse deutlich:Unsere Wirtschaft ist gekennzeichnet vom Kampf umdie Eroberung der Märkte und von einem knallhartenWettbewerb, der nicht auf Innovation, sondern auf Pro-duktionskostensenkung beruht. Es gibt vor allem zweibetriebswirtschaftliche Herangehensweisen, wie dieKosten zu senken sind:Erstens. Es bestehen komplizierte Zusammenhängezwischen dem Stammunternehmen, den Zulieferern,Subunternehmen und Auslandsverlagerungen der Fir-men. Das ist die sogenannte Mischkalkulation. Es wirdgroßer Druck aufgebaut, und von jedem Teil dieses Sys-tems werden Kostensenkungen erwartet.Zweitens. Die Arbeit in diesen Unternehmen ist ge-prägt durch eine Leistungsverdichtung an jedem Arbeits-platz sowie durch Leiharbeit, Befristungen und Mini-jobs.Der übertriebene Wettbewerb wird auf die Arbeitneh-mer übertragen. Alle leiden unter der Leistungsverdich-tung, auch ältere Arbeitnehmer müssen oft olympiareifeLeistungen vollbringen. Daher haben wir bei den Arbeit-nehmern, aber auch bei den Arbeitgebern eine steigendeUnzufriedenheit, eine Entsolidarisierung und eine stei-gende Zahl psychischer Erkrankungen. In den Betriebenist nur noch Platz für die Menschen, die bei der Leis-tungsoptimierung mithalten können. Menschen, diediese Normen nicht erfüllen können, fallen hinten runteroder erhalten einen Armutslohn.Zum Schluss werden die von den Arbeitnehmernmühsam erwirtschafteten Gewinne, die durch die Leis-tungsverdichtung eingefahren werden, auf dem Finanz-markt Spekulationen ausgesetzt und vernichtet.Unsere heutige Wirtschaft ist durch dieses Systemrein wachstums- und gewinnorientiert. Das geht völligan den Bedürfnissen der Menschen vorbei.
Wenn ich mich mit den Menschen in meinem Wahl-kreis unterhalte, dann spüre ich eine tiefe Ratlosigkeit.Zahlreiche Menschen, die Probleme mit ihrer Arbeit ha-ben, kommen in meine Sprechstunden. Zu mir kommenFamilienväter, die es entwürdigend finden, dass sie, ob-wohl sie Vollzeit arbeiten, Probleme haben, ihren Kin-dern die Teilnahme an einer Klassenreise zu ermögli-chen. Zu mir kommen alleinerziehende Mütter, die soviel es geht arbeiten und nebenher ihre Kinder betreuen.Sie erzählen mir, wie schwierig es ist, als junge Mutterüberhaupt einen Arbeitsplatz zu bekommen. Ich unter-halte mich mit den Hauptschülern, die zahlreiche Bewer-bungen um einen Ausbildungsplatz abschicken. Sie zei-gen ein hohes Maß an Engagement und kümmern sichum ihre Zukunft. Trotzdem flattern immer nur Absagenins Haus, wenn sie überhaupt eine Antwort bekommen.Die Menschen haben die Orientierung verloren. Nie-mand weiß, wohin sich unsere Gesellschaft entwickelt.Niemand weiß, wie unser Wirtschafts- und Gesell-schaftssystem in zwei, in fünf oder in zehn Jahren aus-sieht. Die Menschen interessieren sich nicht nur für dasHier und Jetzt, sondern vor allem für die entscheidendeFrage: Wie geht es weiter? Wie kommen wir aus dieserSackgasse wieder heraus?Meine Kolleginnen und Kollegen, es wird zwar frak-tionsübergreifend gesagt, dass es nach der Krise kein„Weiter so“ geben darf. In den Sonntagsreden sprechenalle von Ethik in der Wirtschaft. Leider finden unsereSitzungen nicht sonntags, sondern donnerstags oder frei-tags statt, und unter der Woche zählen die schönen Re-den vom Sonntag, die man allerorten hört, leider nichtviel.
Wir müssen eine Antwort auf die Frage finden, wiewir aus dieser Sackgasse herauskommen. Wir müssendafür sorgen, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer in unserem Land wieder wissen, wohin die Reisegeht. Derzeit suchen wir den Ausweg am Ende der Sack-gasse. Aus der Sackgasse kommen wir aber nicht vor-wärts heraus. Wir müssen umdrehen, um zurück auf dieHauptstraße der Werte und Tugenden zu kommen. Wirmüssen Einsicht üben: Ein Schritt zurück von derWachstumslogik ist kein Rückschritt! Er bietet vielmehr
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3508 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
Josip Juratovic
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die Grundlage dafür, danach wieder volle Fahrt aufzu-nehmen und dabei alle in unserer Gesellschaft mitzuneh-men.
Eine neue Kultur des Anstands in der Arbeitswelt,eine Ethik in der Wirtschaft, hilft allen. Sie hilft nichtnur den Arbeitnehmern, sondern auch vielen, vor allemkleinen und mittleren Unternehmen in unserem Land,die sich dem System der Kostensenkung und der Leis-tungsoptimierung nicht beugen wollen. Diese anständi-gen Unternehmer haben recht. Wir müssen sie darin un-terstützen, wir müssen zu ihrem Schutz in diesemknallharten Wettbewerb die für sie richtigen Rahmenbe-dingungen schaffen.In der gesamten Diskussion müssen wir weiter den-ken als in unseren bisherigen Debatten. Wir müssen überden Gegensatz zwischen Gewinnmaximierung und Um-verteilung hinausdenken. Wir brauchen ein neues Kon-zept, in dem die Lebensqualität an erster Stelle steht undbei dem diejenigen, die Arbeit verrichten, an der Wert-schöpfung beteiligt werden. Faire Arbeitsbedingungenmüssen Grundlage unseres Wirtschaftserfolges sein undnicht Lohndrückerei und Spekulationen.Eine neue Ethik und Qualität in der Wirtschaftschaffen wir Politiker nicht alleine. Dazu brauchen wirunsere ganze Gesellschaft. Wir müssen gemeinsam mitGewerkschaften und Unternehmen, Kirchen und vielenweiteren Menschen aus der Gesellschaft zusammenkom-men. Wir müssen unseren Anspruch und unser Verhaltengrundlegend auf den Prüfstand stellen mit dem Ziel, wie-der eine gemeinsame Orientierung und gesellschaftli-chen Zusammenhalt zu schaffen. Deswegen brauchenwir Einrichtungen wie die Fortschritts-Enquete-Kom-mission, die SPD und Grüne diese Woche vorgestellt ha-ben. Eine solche Kommission dient uns als Stadtplan,den wir in die Hand nehmen, um den Weg aus der Sack-gasse zu finden.Wir beraten hier den Antrag der Linken: „Mit guterArbeit aus der Krise“. Meine Kolleginnen und Kollegenvon der Linken, das, was Sie mit diesem Antrag vorle-gen, zeugt nicht davon, dass Sie tatsächlich verstandenhaben, wo die gegenwärtigen Probleme liegen.
Sie verharren beim Gegensatz von Umverteilung undGewinnmaximierung. Mit Ihren geballten Forderungenzeigen Sie keinen Ausweg aus der Sackgasse auf. Ichfrage mich bei Ihrem Antrag: Wollen Sie dabei helfen,ein Zukunftskonzept mit gesellschaftlicher Tragfähigkeitzu schaffen, oder wollen Sie diesen Antrag kurz vor dem1. Mai nur einbringen, um dafür billigen Applaus zu be-kommen?Wir müssen den Menschen in unserem Land nicht nuram 1. Mai zeigen: Wir nehmen ihre Sorgen und Pro-bleme ernst. Wir müssen ihnen zeigen, welchen Weg wirin unsere gemeinsame Zukunft gehen wollen: einenWeg, der uns aus der Krise herausführt und ein lebens-wertes Leben für alle ermöglicht.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun der Kollege Pascal Kober für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Fast auf den Tag genau vor einem Jahr, am 23. April2009, haben Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen vonder Linkspartei, einen Antrag in den Deutschen Bundes-tag mit dem vielversprechenden Titel eingebracht: „GuteArbeit – Gutes Leben“. Auch wenn Sie in Ihrem heuti-gen Antrag mit der Formulierung Ihres Titels nicht mehrganz so anmaßend auftreten, als könne die Politik eingutes Leben garantieren, haben Sie sich inhaltlich über-haupt nicht fortentwickelt. Nüchternen und sachlich ge-botenen Realismus sucht man in Ihrem Antrag vergeb-lich. Der Titel mag sich geändert haben, der Geist istbedauerlicherweise noch immer derselbe.
Der Duktus Ihrer Analyse der Wirtschafts- und Ar-beitsmarktsituation in Ihrem Antrag – darauf haben so-gar Kolleginnen und Kollegen der Oppositionsparteienhingewiesen – zielt allein darauf ab, ein Zerrbild derWirklichkeit zu formulieren und die Menschen zu verun-sichern. Wenn Sie, lieber Herr Ernst, von einem erd-rutschartigen Einbruch bei der Lohnhöhe durch Hartz IVsprechen, konstruieren Sie ein Zerrbild der Wirklichkeit,das allein darauf abzielt, die Menschen zu verunsichern.
Meiner Auffassung nach aber steht Politik in der Ver-antwortung, Probleme nüchtern zu benennen, die Ursa-chen zu klären, den Menschen Probleme zu erklären undLösungen für Probleme zu suchen, die Menschen aufHerausforderungen vorzubereiten und ihnen Mut für dieZukunft zu machen. Verunsicherung und Angstpädago-gik sind nicht der Stil einer verantwortungsvollen Poli-tik.
Inhaltlich, liebe Kolleginnen und Kollegen der Links-partei, versprechen Sie den Menschen wieder einmal dasBlaue vom Himmel. Darauf im Einzelnen einzugehen,dafür fehlt an dieser Stelle leider die Zeit. Aber auf einergrundsätzlichen und allgemeinen Ebene möchte ich docheinige Anmerkungen machen, damit die unterschiedli-che Geisteshaltung zwischen Ihnen und dieser christlich-liberalen Koalition deutlich wird.Im Kern beruhen all Ihre Forderungen auf der Idee ei-nes Idealarbeitsverhältnisses: angestellt, gewerkschaft-lich organisiert, sozialversicherungspflichtig, hoch ent-lohnt. Dass das erstrebenswert ist, ist auch für uns keineFrage, wobei wir die selbstständige und unternehmeri-sche Tätigkeit in keiner Weise geringschätzen. Der Unter-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3509
Pascal Kober
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schied zwischen uns und Ihnen ist: Wir wissen, dass dieseArbeitsverhältnisse am effektivsten und stabilsten imSystem der sozialen Marktwirtschaft entstehen undglücklicherweise für die überwiegende Zahl der Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer gegenwärtig Wirklich-keit sind, ganz egal, was Sie dagegen sagen. Sie versu-chen – das ist ein weiterer Unterschied –, dieseArbeitsverhältnisse per Gesetz festzulegen. Dabei über-sehen Sie, dass Sie zugleich um diese Arbeitsverhältnisseherum eine Mauer errichten, die gerade für diejenigen,die draußen sind, die keine Arbeit haben, also die Arbeits-losen, unüberwindbar ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, waswir aber brauchen, um auch denjenigen Menschen ge-recht zu werden, die einen Arbeitsplatz suchen, sind sta-bile und gangbare Brücken in den Arbeitsmarkt. Wirals christlich-liberale Regierungskoalition wollen diesegangbaren und stabilen Brücken für diese Menschenbauen. Wir werden verhindern, dass Langzeitarbeitslosedauerhaft aus dem Arbeitsmarkt herausgehalten werden.Das wäre nämlich die Konsequenz aus den ForderungenIhres Antrages.
Ich möchte aus Zeitgründen nur ein Beispiel für dasherausgreifen, was Sie in Ihrem Antrag formulieren. Siefordern,dass Eltern von Kindern unter zwölf Jahren auf Ver-langen von Schichtarbeit befreit werden können,ohne dass der Arbeitgeber dagegen betrieblicheGründe geltend machen kann.Auch hier ist deutlich zu erkennen, dass Sie die FolgenIhrer Politik nicht im Blick haben. Wäre es denn dannnicht so, dass Unternehmen, in denen in Schichten gear-beitet wird, weniger oder keine Arbeitnehmer mit Kin-dern mehr einstellen würden? Ist das Ihr Ziel?
Ihren Lösungsvorschlag auf dieses Problem kann ichmir leicht vorstellen: Er wäre bestimmt, eine Quote vonBeschäftigten mit Kindern festzulegen, die die Unter-nehmen dann erfüllen müssten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linkspartei, esist doch bemerkenswert – das sollte zum Nachdenkenanregen –, dass gerade in denjenigen Bundesländern dieAnzahl an Arbeitsplätzen und an Ausbildungsplätzen amhöchsten ist, wo man sich am hartnäckigsten einer sol-chen Politik, wie Sie sie hier vorschlagen, enthalten hat.
Herr Kollege, erlauben Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Ernst? – Das Wort hat der Kollege Ernst.
Herr Kollege Kober, vielleicht freuen Sie sich über
die Verlängerung Ihrer Redezeit. – Menschen mit klei-
nen Kindern fällt es schwerer, ihre Kinder vernünftig zu
betreuen, wenn beide Elternteile in Schichtarbeit einge-
setzt werden. Sie haben aber Folgendes gesagt: Wenn
diese Menschen das Recht hätten, vorübergehend aus
der Schichtarbeit auszusteigen, dann würde das dazu
führen, dass sie von Betrieben im Schichtbetrieb nicht
mehr eingestellt würden. Glauben Sie tatsächlich, dass
Menschen auf Kinder gänzlich verzichten würden, nur
um eingestellt zu werden? Oder glauben Sie nicht, dass
die Arbeitgeber, wenn wir eine solche Regelung hätten,
gezwungen wären, Eltern mit Kindern einzustellen, weil
es sonst keine anderen Bewerber mehr gibt?
Ich muss Ihnen auch noch diese Frage stellen: Was ist
denn das für eine Herangehensweise, wenn man nicht
akzeptiert, dass es gerade Eltern, die sich in Schichtar-
beit befinden, massiv erschwert wird, ihre Kindererzie-
hung vernünftig zu organisieren und Familie und Beruf
zu verbinden? Sind Sie tatsächlich der Auffassung, dass
man dies dem freien Spiel der Kräfte überlassen sollte,
was dazu führen würde, dass viele Menschen auf Kinder
verzichten? Es gibt doch schon jetzt einen Geburten-
rückgang, weil es sich Menschen unter diesen Vorausset-
zungen organisatorisch und finanziell nicht mehr leisten
können, Kinder zu haben.
Lieber Herr Ernst, ich glaube vor allen Dingen, dass
wir die Vereinbarkeit von Kindern und Beruf verbessern
müssen. Wir können als Gesetzgeber und als Politiker
auf allen Ebenen etwas dafür tun, die Betreuung von
Kindern zu verbessern.
Wenn die Forderung aus Ihrem Antrag per Gesetz um-
gesetzt würde, dann würde es dazu führen, dass sich Un-
ternehmen bei der Einstellung von Menschen mit Kin-
dern zurückhalten würden. Damit würde auf die
Menschen ein zusätzlicher Druck ausgeübt werden, keine
Kinder mehr zu bekommen. Deshalb glaube ich, dass
diese Forderung in der Tat nicht richtig ist. Deshalb wehre
ich mich dagegen.
Vielen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege
Ulrich Lange.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Lieber Kollege Schreiner, ich muss Ihnen zum ers-ten Mal recht geben – aber nur in folgendem Punkt –:
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3510 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
Ulrich Lange
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Worüber wir heute diskutieren, ist ein unseriöses Sam-melsurium.
Dies ist eine Tatsache. Wir haben es gehört: Dies ist po-pulistisch der NRW-Wahl geschuldet. Der vorliegendeAntrag ist eine Verkürzung des sogenannten Parteipro-gramms der Linken, besser ausgedrückt und zusammen-gefasst unter dem Stichwort: Lafontaine’sches Mani-fest.
Er ist zum Glück bloße Theorie. Würde Ernst daraus,würden wir ihn umsetzen, wir hätten eine beispielloseRezession in Deutschland. Es gäbe sehr viele Arbeits-lose mehr, und Sie hätten Probleme, sie zu zählen. Dasmuss man ganz deutlich sagen.
Wenn diese Bundesregierung – ich nehme die Vor-gängerregierung hinzu – etwas bewiesen hat, dann ist esdas, dass wir seit Beginn der Krise erfolgreiche Arbeits-marktstrategien gefunden haben. Wir hatten in der Spitzefast 5 Millionen Arbeitslose und liegen jetzt trotz Kriseaufgrund der eingeführten Mechanismen bei circa3,5 Millionen.
– Herr Ernst, jetzt bin ich an der Reihe. Sie haben heutegenug gebrüllt. Jetzt darf ich das.
– Das werden wir schon sehen.Ihr Antrag ist letztlich nichts anderes als eine Jobver-nichtung. Die Konjunkturlokomotive Deutschland inEuropa würde zum Bremser. Nachdem Sie mit Ihrer letz-ten Wahlkampfparole „Reichtum für alle“ bei der Bun-destagswahl gescheitert sind, versuchen Sie es jetzt miteinem neuen Antrag. Herr Ernst, Kollegen von der Lin-ken, die Bevölkerung ist viel zu intelligent, um auf dieseThesen hereinzufallen und zu glauben, dass man inDeutschland damit wirklich weiterkommt.
– Wir werden sehen, worauf es am 9. Mai hinausläuft.Ich bin mir sicher, dass die christlich-liberale Koalitionin Nordrhein-Westfalen ein gutes Ergebnis erhalten undweiterregieren wird, damit wir die Krise erfolgreichmeistern können.
Lassen Sie mich noch zu einigen Punkten in IhremAntrag etwas sagen. Im vorliegenden Antrag sehen Sieletztlich vor, die Zeitarbeit zu beenden.
– Dann geben Sie es endlich zu und schreiben Sie nichtirgendetwas von Equal Pay usw. Sagen Sie einfach, dassSie sie beenden wollen. – Sie ignorieren den 11. AÜG-Bericht. Sie ignorieren den Bericht der Bundesagentur,in dem dargelegt wurde, dass Zeitarbeit inzwischen einerheblicher Faktor ist. Über deren Brückenfunktion unddie damit verbundene Flexibilisierung haben wir in die-sem Hause schon mehrfach gesprochen.Zu Ihrer Forderung eines Kündigungsschutzes füralle. Populistischer geht es nicht mehr. Ihnen sollte klarsein, dass Sie damit gerade kleinen Familienbetriebenbzw. Handwerksbetrieben jeglichen Handlungsspiel-raum nehmen. Das ist das Ende solcher Betriebe. Ichkann nur sagen: Sie wollen das wohl so. Diese Forde-rung ist schlicht und ergreifend nicht realistisch.Zu Ihrer Forderung eines Mindestlohns. Über dieHöhe rede ich gar nicht. Nehmen wir uns ein Beispielam Pflegedienst. Dies ist eine Sache der Tarifparteien.Sie wollen die Höchstarbeitszeit auf 40 Stunden be-grenzen. Wir haben ein sehr gutes Arbeitszeitgesetz. We-niger Flexibilität bei der Arbeitszeit können wir uns mitSicherheit nicht leisten.Sie schreiben in Ihrem Parteiprogramm, dass Sie amEnde eine Wochenarbeitszeit von 30 Stunden bei vollemLohnausgleich wollen. Wie soll das funktionieren? Ichsage ganz offen: Das ist unseriös.Zur sachgrundlosen Befristung. Ich habe heute ei-nes gelernt: Die sachgrundlose Befristung hängt mitFortpflanzung zusammen. Über dieses Wort, Herr Ernst,bin ich ein bisschen erschrocken. Ich freue mich jedenTag an meinen Kindern. Ich empfinde sie nicht als Fort-pflanzung, sondern als ein ganz großes Glück; das mussich Ihnen in dieser Deutlichkeit sagen.
Wenn man Kinder nur in einen finanziellen Kontextstellt, dann zeigt das – –
– Ich lasse keine Zwischenfrage zu, auch wenn Sie sichfünfmal melden. Sie bekommen von mir keine Redezeitmehr. Da können Sie machen, was Sie wollen.Wir halten an der sachgrundlosen Befristung fest. Siehat eine positive Wirkung und ist Türöffner für dauer-hafte Arbeitsplätze in den Betrieben. Sie ist – darumgeht es in diesem Zusammenhang – im Teilzeit- und Be-fristungsgesetz geregelt. Das Gesetz beinhaltet denRechtsanspruch auf Teilzeitbeschäftigung, der die Ver-einbarkeit von Familie und Beruf verbessert.Zum politischen Streikrecht kann ich nur sagen: Wirhaben eine hervorragend funktionierende Sozialpartner-schaft, die wir nicht riskieren sollten. Belegschaftsab-stimmungen über wesentliche Betriebsentscheidungenbedeuten letztendlich Enteignung. Ich möchte an dieser
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3511
Ulrich Lange
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Stelle klar festhalten: Das ist mit wahren Demokratennicht zu machen.
Sie wollen mithilfe von Förderprogrammen insge-samt 2,5 Millionen neue Arbeitsplätze schaffen. SagenSie doch einmal, wo Sie das Geld hernehmen wollen!Frau Kollegin, Sie haben mir wirklich aus der Seelegesprochen – das kommt nicht allzu oft vor –: Es istwirklich ärgerlich, dass wir uns heute mit Ihren unrealis-tischen Forderungen beschäftigen müssen.
Herr Ernst, Sie haben vorhin die Süddeutsche Zeitungzitiert; auch ich möchte das tun. Dort heißt es über denEntwurf Ihres neuen Parteiprogramms, er sei „Sozialis-mus in Neuauflage“. Letztendlich geht es in Ihrem Pro-gramm um nichts anderes. Sie polarisieren: hier der aus-gebeutete Arbeitnehmer, dort der böse Arbeitgeber. Soist jedoch die Realität nicht. Wir haben Unternehmer-geist, Ideen, Mut, das Eigentum der Unternehmer, dassie zusammen mit engagierten Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmern in fairer Partnerschaft einbringen. Genaudas wollen wir: soziale Marktwirtschaft. Sie ist ein Er-folg für gute Arbeit, nichts anderes. Daran wollen wirfesthalten.
Nehmen Sie sich ein Beispiel: Nehmen Sie Nachhilfeun-terricht bei unserer Bundesarbeitsministerin! Ich nennenur den Titel des Gesetzentwurfes, der gestern vom Ka-binett verabschiedet wurde: Gesetz für bessere Beschäf-tigungschancen am Arbeitsmarkt – Beschäftigungschan-cengesetz.Es geht hier letztlich um die Grundsatzfrage: sozialeMarktwirtschaft oder Sozialismus? Sie wollen den So-zialismus. Damit haben Sie einen Teil Deutschlandsschon einmal vor die Mauer gefahren. Wir werden unsdagegenstellen. Wir glauben an das Miteinander von Ar-beitnehmern und Arbeitgebern. Wir stehen zur sozialenMarktwirtschaft, die ein Erfolgskonzept für gute Arbeitist.Herzlichen Dank.
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Ernst.
Herr Kollege Lange, Sie sagen, es sei ärgerlich, dass
wir uns mit diesem Thema beschäftigen. Ich kann mir
vorstellen, dass das für Sie ärgerlich ist; denn dabei wer-
den die Defizite dieser Regierung deutlich vor Augen
geführt.
Ich möchte auf das Beispiel der Menschen mit Kin-
dern eingehen. Können Sie sich vorstellen, dass sich ein
junger Mensch, der nach der Ausbildung nur befristet
übernommen wird, tatsächlich überlegt, ob er zusammen
mit seiner Partnerin Kinder in die Welt setzt oder ob er
es angesichts der Tatsache, dass er bei einem befristeten
Arbeitsplatz möglicherweise nur ein halbes Jahr oder ein
Jahr beschäftigt ist, vielleicht gar nicht verantworten
kann, weil er gegebenenfalls Probleme hat, seine Familie
zu ernähren? Herr Lange, können Sie sich vorstellen,
dass sich jemand, der sich in einem Leiharbeitsverhältnis
befindet, angesichts der Tatsache, dass Leiharbeitnehmer
die ersten sind, die aus den Betrieben entfernt werden
– das war auch in dieser Krise so –, überlegt, ob er Kin-
der in die Welt setzt, weil er sie kaum noch ernähren
kann, wenn er den Job verliert und auf Sozialleistungen
dieses Staates angewiesen ist? Können Sie sich vorstel-
len, dass die Familienpolitik auch Ihrer früheren Familien-
ministerin unter diesen Umständen konterkariert wird?
Sie sollte dazu führen, dass man lustvoll dazu beiträgt,
dass dieses Land nicht ausstirbt.
Können Sie sich vorstellen, dass wir unter diesen Bedin-
gungen tatsächlich darüber nachdenken müssen, ob wir
Regelungen wieder einführen, die wir in diesem Land
schon gehabt haben? Die Regelungen galten im Westteil,
nicht im Ostteil des Landes; es handelte sich also nicht
um irgendeine Form des Sozialismus. Herr Lange, wenn
Sie all das verneinen, dann kann ich Ihnen sagen: Sie ha-
ben sich von der Realität der Menschen, insbesondere
der jungen Menschen und der Menschen, die in schlech-
ten Arbeitsverhältnissen beschäftigt sind, vollkommen
verabschiedet. Das werden wir den Menschen auch sa-
gen.
Zur Erwiderung Herr Kollege Lange.
– Gut, also ich antworte lustvoll.Herr Kollege Ernst, ja, ich kann mir das vorstellen,weil ich nicht davon ausgehe, dass ein Kinderwunscheinzig und allein an der materiellen Situation einer Fami-lie, einer Partnerschaft, der Mütter und Väter hängt. Dasist mir zu wenig. Ich kenne viele damalige Kommilito-ninnen und Kommilitonen, die mitten im Studium Kin-der bekommen haben.
– Das gab es, und das gibt es natürlich heute noch.Ich kenne viele Familien, die Hartz IV empfangenund interessanterweise auch viele Kinder haben. Ichkenne viele Familien von Leiharbeitnehmerinnen undLeiharbeitnehmern, die sehr wohl Kinder haben. HerrErnst, Kinder sind etwas anderes, Kinder sind ein Glück
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3512 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
Ulrich Lange
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und nicht nur eine Frage des Geldbeutels. So sollten wirwieder denken.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Dr. Matthias Zimmer für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nachdiesem beinahe lustvollen und – zumindest von einerSeite des Hauses – an die Grenze des Kabarettistischengehenden Austausches über die Familienpolitik fällt esschwer, sich wieder in die Niederungen dessen zu bege-ben, was wir in dem Antrag der Linken vor uns liegenhaben.Der Antrag versammelt alles, was es an Monstrositä-ten und Skurrilitäten aus dem linken Lager so gibt, HerrErnst, eine beachtenswerte Gesamtschau sozialistischerIrrungen und Wirrungen, ein Kompendium wirtschaftli-chen und sozialpolitischen Kompetenzdefizits.
Ich will es mir ersparen, auf die einzelnen Vorschlägeeinzugehen. Da ist viel Richtiges gesagt worden. Aberich will einige Punkte hervorheben, an denen sich dieDifferenz zwischen unseren politischen Ordnungsvor-stellungen sehr deutlich konkretisiert.Da ist zunächst einmal der Begriff der Solidarität.Der wird ja in der Geschichte – auch der Arbeiterbewe-gung – groß geschrieben, auch wenn diese Solidaritätzunächst einmal transnational organisiert werden sollte.Solidarität bedeutet gegenseitiges Einstehen in einerRechtsgemeinschaft, also ein gegenseitiges Hilfever-sprechen. Dieser Anspruch auf gegenseitige Hilfe ent-steht auf der Grundlage von Leistung und Gegenleis-tung. Davon ist bei Ihnen aber nichts zu spüren, denn dersolidarischen Leistung der Unterstützung bei Arbeitslo-sigkeit entspricht bei Ihnen keine Gegenleistung.
Das machen Sie dadurch deutlich, dass Sie sagen: Wirwollen eine sanktionsfreie Mindestsicherung. Dasheißt nichts anderes als ein Abschied vom Prinzip derSolidarität. Die sanktionsfreie Mindestsicherung ist diedauerhafte Subventionierung der Arbeitsunwilligendurch die Arbeitswilligen.
Es ist der Abschied vom Prinzip der Solidarität zu-gunsten einer Alimentierung der Privatisierung Einzel-ner auf Kosten der Allgemeinheit.
Logisch zu Ende gedacht führt aber dieser Abschied vonder Solidarität nicht zum allgemeinen gesellschaftlichenReichtum, sondern zu einer Entsolidarisierung in derGesellschaft und zu einer materiellen und geistigen Ver-armung.
Aber mit der materiellen und geistigen Verarmunghaben Sie ja historisch schon Ihre eigenen Erfahrungengemacht.
Herbert Wehner hat vor 40 Jahren gesagt: Das sozialisti-sche Experiment in der DDR kann nur in einem großenKatzenjammer enden. Und das ist noch das Höflichste,was sich darüber sagen ließ.
Der zweite Punkt: Ich habe den Eindruck, dass Sieden Arbeitsmarkt mit Ansprüchen auf gesellschaftlicheÄnderungen überlasten. Sie begehen damit etwas, wasAndré Comte-Sponville in einem sehr lesenswertenBuch über die Frage, ob der Kapitalismus moralisch seinkann, als Verwechslung der Ordnungen bezeichnet –also etwa das Koalitionsrecht in einem Generalstreik zurDurchsetzung politischer Forderungen zu missbrauchenoder die Auftragsvergabe der öffentlichen Hand an ge-sellschaftliche Reformziele zu koppeln, die an sich fürden Zweck der Auftragsvergabe systemfremd sind. Mitdiesen teilweise massiven Eingriffen in das Wirtschafts-leben wird die Wirtschaft zur Erreichung gesellschaftli-cher Ziele feingesteuert. André Comte-Sponville nenntdas die Tyrannei der höheren Ordnung. Wir meinen al-lerdings: Der Staat soll einen Ordnungsrahmen für dieWirtschaft setzen, aber nicht versuchen, gesellschaftli-che Utopien durch wirtschaftliche Prozesse zu verwirkli-chen.Mit dieser Zurückhaltung sind wir in den 60 Jahrender sozialen Marktwirtschaft gut gefahren, mehr noch:Wir haben das konkurrierende Modell einer sozialisti-schen Planwirtschaft abgehängt. Wir brauchten es wedereinzuholen noch zu überholen, wir haben es einfach ab-gehängt. Es ist zu Recht in der Asservatenkammer derGeschichte gelandet. Dass Sie als Verlierer der Ge-schichte die Stirn haben, uns zu sagen, dass wir ein ande-res Wirtschafts- und Gesellschaftssystem brauchen,
zeigt nur eines: Aus der Geschichte haben Sie nichts ge-lernt.
Ein dritter Punkt. Für Sie kommt alles Heil vom Staat.Für uns ist es zunächst der Einzelne, der in Freiheit undSelbstverantwortung handelt. Für uns gilt der Grundsatzder Subsidiarität, der gesellschaftlichen Selbstorganisa-tion. Deshalb ist auch der Staat subsidiär, also nachran-gig gegenüber der Selbstverantwortung des Einzelnenund der Selbstorganisation der Gesellschaft. Dass Siemit diesem Konzept Probleme haben, erstaunt michnicht. Ihre Tradition ist die Tradition staatlicher Gänge-lung, staatlicher Bevormundung und staatlicher Planung.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3513
Dr. Matthias Zimmer
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Damit haben Ihre geistigen und politischen Ahnen dieBiografien von Millionen Menschen zerstört.
In einem seltenen Anfall von partieller Selbsterkennt-nis schreiben Sie in Ihrem Programm über die DDR:Die Demokratie blieb auf der Strecke, und eineökologische Orientierung hatte keine Chance. DieZentralisation der ökonomischen Entscheidungenund die bürokratisierte Form der Planung und Lei-tung der Volkswirtschaft sowie die weitgehendeEinschränkung betrieblicher Selbstständigkeit führ-ten langfristig zu einem Zurückbleiben der Innova-tions- und Leistungsfähigkeit.Das ist alles richtig. Ich frage mich, wie Sie mit dem al-ten Wein der Denkungsart, den Sie lediglich in einenneuen Schlauch einer Partei gegossen haben, eine Wie-derholung dieses nationalen Unglücks verhindern wol-len. Die Probe aufs Exempel will ich nicht machen, weilich der Meinung bin: Es gilt, den Anfängen zu wehren.Mit ihrem Konzept der guten Arbeit wird kein Weg ausder Krise gewiesen. Im Gegenteil: Das Konzept zeigtnur auf, wie die Krise politisch verstärkt werden kann.
Wir werden Ihr Konzept ablehnen, was Sie sicherlichnicht überraschen wird.Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/1396 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dann ist dieÜberweisung so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 28 a bis 28 g sowieZusatzpunkte 4 a bis 4 f auf:28 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung krankenversicherungsrechtlicher undanderer Vorschriften– Drucksache 17/1297 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Rechtsausschussb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Sechsten Gesetzeszur Änderung des Filmförderungsgesetzes– Drucksache 17/1292 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien
Rechtsausschussc) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieFeststellung des Wirtschaftsplans des ERP-
– Drucksache 17/1294 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft undTechnologie
FinanzausschussAusschuss für TourismusHaushaltsausschussd) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu den Än-derungen vom 2. Oktober 2008 des Überein-kommens vom 3. September 1976 über dieInternationale Organisation für mobile Satelli-
– Drucksache 17/1295 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
FinanzausschussAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklunge) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-zung der Dienstleistungsrichtlinie auf dem Ge-biet des Umweltrechts sowie zur Änderungumweltrechtlicher Vorschriften– Drucksache 17/1393 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzf) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einfüh-rung einer Musterwiderrufsinformation fürVerbraucherdarlehensverträge, zur Ände-rung der Vorschriften über das Widerrufs-recht bei Verbraucherdarlehensverträgen undzur Änderung des Darlehensvermittlungs-rechts– Drucksache 17/1394 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
FinanzausschussAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzg) Beratung des Antrags der Abgeordneten MarleneRupprecht , Petra Crone, PetraErnstberger, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPDFrauenhäuser ausreichend zur Verfügung stel-len und deren Finanzierung sichern– Drucksache 17/1409 –
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3514 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für GesundheitHaushaltsausschuss gemäß § 96 GOZP 4 a)Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Gerhard Schick, Lisa Paus, Dr. ThomasGambke, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENFinanzumsatzsteuer auf EU-Ebene einführen– Drucksache 17/1422 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussb) Beratung des Antrags der Abgeordneten KerstinAndreae, Fritz Kuhn, Christine Scheel, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENPluralistischen Ansatz bei Auswahl der For-schungsinstitute für die Gemeinschaftsdia-gnose gewährleisten– Drucksache 17/1424 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologiec) Beratung des Antrags der Abgeordneten KerstinAndreae, Fritz Kuhn, Christine Scheel, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENUmweltberichterstattung in die Gemein-schaftsdiagnose aufnehmen– Drucksache 17/1423 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologied) Beratung des Antrags der Abgeordneten MichaelSchlecht, Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEPluralistischen Ansatz bei Auswahl der For-schungsinstitute für die Gemeinschaftsdia-gnose gewährleisten– Drucksache 17/1405 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologiee) Beratung des Antrags der Abgeordneten ElviraDrobinski-Weiß, Dr. Wilhelm Priesmeier, UlrichKelber, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPDGentechnisch veränderte Amflora-Kartoffelzuverlässig aus der Lebensmittel- und Futter-mittelkette fernhalten– Drucksache 17/1410 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
Ausschuss für GesundheitAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionf) Beratung des Antrags der Abgeordneten HildeMattheis, Dr. Karl Lauterbach, Elke Ferner, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der SPDQualität und Transparenz in der Pflege konse-quent weiterentwickeln – Pflege-Transparenz-kriterien optimieren– Drucksache 17/1427 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendEs handelt sich dabei um Überweisungen im verein-fachten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Die Vorlage auf Drucksache 17/1409, dasbetrifft den Tagesordnungspunkt 28 g, soll dem Haus-haltsausschuss ausschließlich zur Mitberatung überwie-sen werden. Sind Sie damit einverstanden? – Auch dasist der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlos-sen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines FünftenGesetzes zur Änderung des Kraftfahrzeug-steuergesetzes– Drucksachen 17/717, 17/1209 –Beratung der Beschlussempfehlung und desBerichts des Finanzausschusses
– Drucksache 17/1463 –Berichterstattung:Abgeordnete Patricia LipsIngrid Arndt-BrauerDr. Birgit ReinemundRichard PitterleLisa PausDabei handelt es sich um eine Beschlussfassung zueiner Vorlage, zu der keine Aussprache vorgesehen ist.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-rung des Kraftfahrzeugsteuergesetzes. Der Finanzaus-schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/1463, den Gesetzentwurf der Bundesre-gierung auf den Drucksachen 17/717 und 17/1209 in derAusschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, diedem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmenwollen, um das Handzeichen. – Wer ist dagegen? – Ent-haltungen? – Dann ist der Gesetzentwurf in zweiter Be-ratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen beiEnthaltung der Oppositionsfraktionen angenommen.
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Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in derzweiten Beratung angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 3 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichtsdes Ausschusses für die Angelegenheiten der Euro-päischen Union
– zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU undder FDPEinvernehmensherstellung von Bundestag undBundesregierung zum Beitrittsantrag der Re-publik Island zur Europäischen Union und zurEmpfehlung der EU-Kommission vom 24. Fe-bruar 2010 zur Aufnahme von Beitrittsver-handlungenhier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-ges nach Artikel 23 Absatz 3 GG i. V. m. § 10des Gesetzes über die Zusammenarbeit vonBundesregierung und Deutschem Bundestagin Angelegenheiten der Europäischen Union– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. DietherDehm, Alexander Ulrich, Andrej Hunko, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKEVerhandlungen über die Aufnahme Islands indie Europäische Union eröffnen– zu dem Entschließungsantrag der AbgeordnetenDietmar Nietan, Michael Roth , IrisGleicke, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPDzu der Abgabe einer Regierungserklärungdurch die Bundeskanzlerin zum Europäi-schen Rat am 25./26. März 2010 in Brüssel– zu dem Entschließungsantrag der AbgeordnetenManuel Sarrazin, Viola von Cramon-Taubadel,Ulrike Höfken, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENzu der Abgabe einer Regierungserklärungdurch die Bundeskanzlerin zum Europäi-schen Rat am 25./26. März 2010 in Brüssel– Drucksachen 17/1190, 17/1059, 17/1191, 17/1172,17/1464 –Berichterstattung:Abgeordnete Michael StübgenMichael Roth
Dr. Stefan RuppertAndrej Konstantin HunkoManuel SarrazinDer Ausschuss hat in diese Beschlussempfehlung denAntrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 17/260 mit einbezogen. Über diese Vorlagesoll jetzt ebenfalls abschließend beraten werden. SindSie damit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall.Dann können wir so verfahren.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Stunde vorgesehen. – Auch dazu seheich keinen Widerspruch. Ich eröffne die Aussprache underteile als erstem Redner das Wort dem KollegenMichael Link für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Mitdem heutigen Antrag wollen wir Einvernehmen mit derBundesregierung über die Aufnahme von Beitrittsver-handlungen mit Island herstellen. Die FDP unterstütztebenso wie die Bundesregierung das Ziel einer Vollmit-gliedschaft Islands in der Europäischen Union. Deutsch-land und die EU haben allergrößtes Interesse an der Un-terstützung dieses Beitrittsantrags und an dem Gelingendes Beitrittsprozesses mit Island. Mit Island würde einestabile parlamentarische Demokratie der EU beitreten,die Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechtegarantiert.
Island kann als funktionierende Marktwirtschaft an-gesehen werden, auch wenn mit der Bankenkrise deut-lich geworden ist, wohin es führt, wenn wir in einemMarkt keine klaren Aufsichtsregeln haben. Island wareine funktionierende Marktwirtschaft. Wir sind auch si-cher, dass es wieder eine funktionierende Marktwirt-schaft sein wird. Am Beispiel Island kann man aber, wiegesagt, sehr gut sehen, wohin es führt, wenn keine starkeFinanzmarktaufsicht vorhanden ist.
In der Öffentlichkeit wird teilweise der Eindruck ver-mittelt – er ist falsch –, dass es Island nur um den Beitrittzur Euro-Zone geht, quasi als Rettungsmechanismus.Natürlich geht es Island auch um den Beitritt zur Euro-Zone. Aber der Beitritt zur Euro-Zone und der Beitrittzur Europäischen Union sind und bleiben für uns zweier-lei Paar Stiefel. Wir reden jetzt über den Beitritt zur Eu-ropäischen Union. Der Weg zum Beitritt zur Euro-Zonewird für Island ein sehr viel längerer sein; denn er hängt– ich glaube, da sind wir uns alle einig – mit der striktenEinhaltung der Maastricht-Kriterien zusammen. Hierkönnen wir keine Abstriche machen.
Aber auch die EU kann vom Wissen und den Erfah-rungen Islands profitieren. Island verfügt im Bereich dererneuerbaren Energiequellen, auch im Bereich der Fi-schereiwirtschaft über sehr wichtige Erkenntnisse. Is-land hat es geschafft, eine nachhaltige Fischereiwirt-schaft aufzubauen, übrigens ohne öffentliche Beihilfen,ohne Subventionen aus öffentlichen Kassen. Wir solltendarauf achten, dass wir Island im Beitrittsprozess nichtohne Not ein überarbeitungsbedürftiges Regime der Eu-
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Michael Link
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ropäischen Union an diesem Punkt überstülpen, daIsland mit nachhaltiger Fischerei selbst bereits weiter ist.
Klar muss allerdings auch sein, dass beim kommerziel-len Walfangverbot keine Abstriche, keine Kompromissegemacht werden können.Dankbar sind wir auch für das, was Island uns Neuesbringen kann, insbesondere in der Gemeinsamen Sicher-heits- und Verteidigungspolitik. Island wird an der Nord-westflanke der Europäischen Union eine ganz wichtigeBereicherung sein. Wir alle wissen, dass der arktischeRaum in Zukunft an strategischer Bedeutung hinzuge-winnen wird. Mit Blick auf das, was Island für dieNATO, das atlantische Bündnis, bereits geleistet hat, istes selbstverständlich, dass wir diesen Beitrag sehr schät-zen und uns deshalb freuen würden, wenn wir Islandbald als Mitglied willkommen heißen könnten.Island ist im Übrigen bereits lange in der EFTA undim Europäischen Wirtschaftsraum vertreten. Es ist seit2001 Mitglied des Schengener Abkommens. Insofernglaube ich – da können wir über die Fraktionsgrenzenhinweg vermutlich eine Gemeinsamkeit feststellen –:Island wird mit Sicherheit nicht 10 oder 20 Jahre überseinen Beitritt verhandeln müssen. Wenn es aber so ist,dass die Verhandlungen in einem relativ überschaubarenZeitraum abgeschlossen werden können, dann mussauch klar sein, dass die heutige Stellungnahme des Bun-destages bereits sehr substanziiert sein muss.Der relativ kurze Zeitraum von wenigen Jahren fürBeitrittsverhandlungen mit Island, den wir vor uns ha-ben, erfordert eine umso genauere Begleitung des Pro-zesses durch den Bundestag von Anfang an. Deshalb ha-ben wir von den Koalitionsfraktionen uns sehr viel Mühegemacht, um in diesem Antrag sehr viele inhaltlich an-gereicherte Punkte des EU-Ausschusses genauso wie dermitberatenden Ausschüsse unterzubringen. Ich habe ge-rade das Thema Walfangverbot erwähnt. Den Prozess,die Verhandlungen, die die Bundesregierung durchführt,werden wir sehr genau begleiten.Wichtig ist uns als FDP auch, deutlich zu machen,dass man das isländische Beitrittsgesuch keinesfalls inden Ruch stellen sollte, es sei lediglich erfolgt, weil Is-land jetzt in einer Krise ist und deshalb unter den Schirmder EU möchte. So einfach ist das nicht. Wir wissen,dass viele Parteien in Island, insbesondere die Sozialde-mokraten, schon lange für den isländischen Beitrittkämpfen.
Die Idee des isländischen Beitritts ist also weit mehr alseine Flucht unter den EU-Rettungsschirm. Sie ist auchein Bekenntnis zu gemeinsamen europäischen Werten.Das respektiert die FDP. Auch deshalb setzen wir uns fürden Beitrittsantrag Islands ein.Zu guter Letzt: Wir sollten uns darüber im Klarensein, dass, anders als in der Vergangenheit – ich betonedas bewusst für meine Fraktion –, nur und ausschließlichdie strikte Erfüllung der Kopenhagener Kriterien die Vo-raussetzung für den Beitritt sein kann, also die Beitritts-fähigkeit des Kandidaten und die Aufnahmefähigkeit derEuropäischen Union. Wir sollten uns davor hüten, zurUnzeit Zeitpunkte zu nennen oder gar Pakete zu schnü-ren. Ich glaube, das muss die Lehre aus den großen Er-weiterungswellen der Vergangenheit sein. Die Beitrittewaren in jedem Einzelfall richtig. Vielleicht hätte manaber darauf verzichten sollen, früh und zur Unzeit einBeitrittsdatum zu nennen, und vielleicht hätte man auchnicht jedes Paket so schnüren sollen, wie es geschnürtworden ist. Denn dadurch wird verkannt, welche indivi-duellen Chancen, aber teilweise auch Risiken und Pro-bleme jedes neue Mitglied uns in der Union bringt. Wirsind mehr als ein politischer Klub; wir sind ein Staaten-verbund. Dementsprechend sollten wir Aufnahmen imEinzelfall sehr genau prüfen und uns immer die notwen-dige Zeit dazu nehmen.Die FDP unterstützt die Aufnahme von Beitrittsver-handlungen mit Island zur Europäischen Union.
Das Wort hat jetzt der Kollege Michael Roth von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichgehöre – wie viele andere auch – zu den Leidtragendendieses isländischen Vulkans, dessen Namen ich immernoch nicht auszusprechen vermag. Dennoch sollten wirvor dem Hintergrund des Ascheregens nicht die falschenSchlussfolgerungen ziehen und deutlich machen: Wirfreuen uns darauf, Beitrittsverhandlungen mit Islandführen zu können. Wir hoffen, Island baldmöglichst inder Europäischen Union willkommen heißen zu dürfen.Wir fänden es gut, wenn der Deutsche Bundestag sich indiese Beitrittsverhandlungen aktiv einbringen würde.
Ich kann mich der Kritik meines geschätzten Vorred-ners an Bundeskanzler Helmut Kohl hinsichtlich derNennung eines konkreten Datums nur anschließen; dahaben Sie völlig recht, Herr Kollege Link.
– Meines Wissens hatte der Bundeskanzler Dr. HelmutKohl das Datum 2000 in die Diskussion eingebracht.
Herr Schockenhoff, wir sollten hier keine Geschichts-klitterung beitreiben.
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Michael Roth
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Ich stimme Ihnen auch zu, Herr Kollege Link, wennSie sagen, dass wir die richtigen Schlussfolgerungen ausden bisherigen Beitrittsverhandlungen ziehen müssen.Beitrittsverhandlungen sind nicht nur eine Chance fürIsland, sondern auch für die Europäische Union undDeutschland. In den vergangenen Jahren ist es uns nichtausreichend gelungen, deutlich zu machen, dass es beieinem Beitritt zur Europäischen Union nicht vordergrün-dig um den Binnenmarkt, um den Euro und um ökono-mische Kriterien geht. Wir sind in erster Linie eine Wer-tegemeinschaft.
Wir sind eine politische Union. Insofern lautet meineBitte an die isländischen Partner, von Anfang an die is-ländische Zivilgesellschaft einzubeziehen und deutlichzu machen, dass es sich um eine Win-win-Situation han-delt: nicht nur für die Europäische Union, die ein weite-res Mitgliedsland bekommt, sondern auch für die Bürge-rinnen und Bürger, für die Zivilgesellschaft. Es gehtnicht allein um Vorteile für die isländische Wirtschaft.Denn eine Devise gilt nach wie vor: Kleine Länderganz groß. Die Größe eines Landes bemisst sich nichtvorrangig an der Einwohnerzahl. Länder wieLuxemburg, die sich immer als Speerspitze der europäi-schen Integration gesehen haben, haben sich so unend-lich viele Verdienste um das Projekt der europäischen In-tegration erworben. Man sollte daher den Isländern Mutmachen und ihnen deutlich sagen: Euer Land ist zwarklein, was die Einwohnerzahl anbelangt, aber ihr habt,was euren Beitrag zur Demokratie und zum Parlamenta-rismus in Europa betrifft, große Verdienste. Bringt die-sen demokratischen Geist und diesen Mut zur Autono-mie offensiv ein!Das sind Werte, auf die die Europäische Union zwin-gend angewiesen ist. Insofern kann dieses Angebotdurchaus ein Beitrag dazu sein, die vielen, die den Bei-tritt Islands immer noch ablehnen, zu überzeugen. Wennman sich die politische Landschaft in Island ansieht,muss man feststellen: Die Sozialdemokraten in Islandsind in dieser Hinsicht eine der wenigen rühmlichenAusnahmen. Sie konsequent und frühzeitig für den Bei-tritt eingetreten. Das Fundament derer, die den BeitrittIslands positiv sehen, muss nach Möglichkeit verbreitertwerden.
Das ist auch ein Auftrag an uns. Wir dürfen nichtbeim Vertrag von Lissabon stehen bleiben. Ich weiß,dass das in den vergangenen Jahren für uns alle sehrschwierig, sehr mühselig und manchmal auch nervigwar. Aber jetzt muss eine Debatte über die Fragen ge-führt werden: Was für eine Europäische Union wollenwir eigentlich? Welche sind die richtigen Konsequenzenaus der Wirtschafts- und Finanzkrise? Wo müssen wirvor allem in finanz- und wirtschaftspolitischen und inumweltpolitischen Angelegenheiten noch enger zusam-menarbeiten? Wo ist ehrliche und wahrhaftige Solidari-tät gefragt?Ich bin von der Bundesregierung, insbesondere vonder Bundeskanzlerin und vom Bundesaußenminister,enttäuscht, weil diese wichtigen europäischen Impulse„Wo wollen wir hin?“ und „Was ist unser europapoliti-sches Konzept?“ bislang sträflich vernachlässigt wordensind. Ich fordere alle dazu auf, diese Diskussion zu füh-ren. Möglicherweise können die Beitrittsverhandlungenauch für uns ein Impuls sein, etwas nachzuholen, waswir sträflich vernachlässigt haben.
Die Beitrittsverhandlungen sind eine Zweibahn-, keineEinbahnstraße.Island wäre eine Bereicherung. Ich möchte das an die-ser Stelle nur auf einen einzigen Punkt fokussieren: dieFischereipolitik. Auch dieser Politikbereich ist mühseligund ärgerlich. Denken wir nur an die Quotendiskussioninnerhalb der Europäischen Union. Aber wenn Islandder Europäischen Union beiträte, wäre Island die größteFischereination in der Europäischen Union. Auf diesemGebiet können wir von Island eine Menge lernen. DerAspekt der Nachhaltigkeit ist ein ganz wesentlicher Be-standteil der isländischen Fischereipolitik. Insofern soll-ten wir die isländischen Erfahrungen in die Diskussionüber eine Reform der gemeinsamen Fischereipolitik inder Europäischen Union einbeziehen. Möglicherweisekann auch dies dazu beitragen, die Ängste, die geradedie Fischer in Island vor einem Beitritt zur EuropäischenUnion haben, abzubauen.
Ich möchte noch einen bundestagsinternen Punkt an-sprechen, über den wir gestritten haben, bei dem wir alsonicht einer Meinung waren. Die SPD-Bundestagsfrak-tion hat schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt den An-trag eingebracht, der Bundesregierung eine Stellung-nahme mit auf den Weg zu geben. Wir hätten unsgewünscht, dass schon mit Blick auf den EuropäischenRat am 25. März dieses Jahres eine parlamentarische Ini-tiative eingeleitet worden wäre. Ich will mich mit Vor-würfen zurückhalten. Aber ich meine, dass wir den Nie-derländern und den Briten, die in Bezug auf dieAufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Island ihre ei-genen Spielchen getrieben haben, hier in die Hände ge-spielt haben.Wir hätten deutlich machen müssen: Der DeutscheBundestag ist in der Lage und bereit, trotz sehr engerFristen eine Stellungnahme abzugeben. Wir sind selbst-bewusst, bereit und in der Lage, die Aufgaben undPflichten, die uns das Bundesverfassungsgericht im Hin-blick auf die Umsetzung des Vertrages von Lissabon auf-getragen hat – hier geht es ja um eine stärkere Beteili-gung des Deutschen Bundestages –, vollumfänglich zuerfüllen. Da hätte ich mir von der CDU/CSU, aber auchvon der FDP ein bisschen mehr Engagement und ein bis-schen mehr Kooperationsbereitschaft gewünscht. Dassollte kein schlechtes Beispiel sein dafür, welche RolleStellungnahmen spielen. Für mich sind Stellungnahmeneine zwingende Voraussetzung dafür, Einvernehmenzwischen Bundesregierung und Bundestag herzustellen.
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3518 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
Michael Roth
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Wir dürfen nicht nur abstrakt darüber reden, wir müs-sen konkret handeln. Insofern finde ich den Antrag, dendie Koalitionsfraktionen eingebracht haben, in einemPunkt kleinkariert: Ausgerechnet im Hinblick auf einenBeitritt Islands eine Diskussion über die Aufnahmefä-higkeit der Europäischen Union führen zu wollen, dashätten Sie sich, ehrlich gesagt, sparen können.
Wir begrüßen Beitrittsverhandlungen mit Island, wirfreuen uns darauf, und wir bitten die Bundesregierung,diese Verhandlungen mit aller Sorgfalt und mit allerErnsthaftigkeit, aber auch mit konstruktivem Wohlwol-len zu begleiten. Die SPD wird aufpassen, ob dieser Wegso, wie wir es erwarten, beschritten wird.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Andreas Schockenhoff
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Die heutige Aussprache ist ein besonderes Ereignis;denn zum ersten Mal in seiner Geschichte entscheidetder Deutsche Bundestag darüber, ob mit einem Kandida-tenland Verhandlungen über einen Beitritt zur Europäi-schen Union aufgenommen werden.Es ist eine Folge des Lissabonner Vertrages, dass Ein-vernehmen mit dem Deutschen Bundestag erforderlichist, ehe die Bundesregierung im Rat der Aufnahme vonBeitrittsverhandlungen zustimmen kann. Der DeutscheBundestag hat damit ein starkes Recht erhalten; er über-nimmt damit aber auch eine große Verantwortung.Es geht in der Frage einer Aufnahme von Beitragsver-handlungen nicht nur um ein Ja oder ein Noch-nicht, esgeht vor allem darum, dass wir gegenüber dem Kandida-tenland schon vor Beginn der Verhandlungen unsere Er-wartungen an den Verhandlungsprozess deutlich zumAusdruck bringen.
Die schlechten Erfahrungen, die wir noch heute mitden verfrühten Beitritten Bulgariens und Rumäniens ma-chen müssen, sind eine deutliche Ermahnung an uns,diese Aufgabe anspruchsvoll anzugehen. Wir dürfennicht noch einmal in die Situation kommen, dass wir amEnde nur noch das Verhandlungsergebnis abnicken kön-nen.Wir müssen am Ende der Verhandlungen über denBeitritt des Kandidaten begründet „Ja“ oder „Jetzt nochnicht“ sagen können. Um dies begründet sagen zu kön-nen, müssen wir vor Beginn der Verhandlungen klar for-mulieren, welches unsere Erwartungen an den Verhand-lungsprozess sind, vor allem, in welchen Bereichen desAcquis communautaire der Kandidat noch Anstrengun-gen unternehmen muss, um beitrittsfähig zu werden. Dasbetrifft bei vielen Ländern, die eine EU-Perspektive ha-ben – Island nehme ich dabei ausdrücklich aus –, Pro-blemthemen wie Rechtsstaatlichkeit und Bekämpfungvon Korruption und Kriminalität. Wenn wir vor allem indiesen, aber auch in anderen Fragen vor Beginn von Ver-handlungen unsere Erwartungen deutlich formulieren,haben wir eine wichtige Grundlage, um gegenüber demKandidatenland, vor allem aber gegenüber unseren Bür-gern zu begründen, warum wir am Ende der Verhandlun-gen für ein Ja oder für ein Jetzt-noch-nicht votieren.
Es wird immer wichtiger, dass wir besser als bisher be-gründen, warum wir es für richtig, notwendig und ver-antwortbar halten, ein neues Mitglied aufzunehmen –oder eben nicht aufzunehmen.Das alles erfordert, dass wir uns schon vor dem Be-ginn von Verhandlungen ein eigenes genaues Bild überden Stand der Vorbereitungen des Kandidatenlandes ma-chen. Mit Blick auf den Beitrittsantrag Islands denke ich,für uns alle sagen zu können: Wir haben dies so sorgfäl-tig wie möglich getan. Es wurden Anhörungen durchge-führt, viele Gespräche fanden statt. Einige von uns habensich vor Ort, in Island, ein genaues Bild gemacht. Vorwenigen Tagen – ganz kurz bevor der Vulkan problema-tisch wurde –
haben der Vorsitzende des EU-Ausschusses der französi-schen Nationalversammlung, Pierre Lequiller, und ich inReykjavík gemeinsame Gespräche mit der Regierung Is-lands und mit Vertretern der isländischen Zivilgesell-schaft geführt.Dies wurde dort im Übrigen als ein Zeichen einer en-gen Abstimmung und Zusammenarbeit zwischen den na-tionalen Parlamenten in europapolitischen Fragen ver-standen. Ich denke, es gehört auch zur Wahrnehmungder neuen Rechte, die die nationalen Parlamente durchden Lissabonner Vertrag erhalten haben, dass wir uns ge-meinsam mit Parlamentskollegen anderer EU-Länder einBild verschaffen, um darauf aufbauend zu einer gemein-samen Bewertung zu kommen.Mein französischer Kollege und ich haben am Endeder Gespräche in Reykjavík fünf Punkte zum Ausdruckgebracht:Erstens. Wir unterstützen das Ziel einer Vollmitglied-schaft Islands. Wir haben ein Interesse am Gelingen desBeitrittsprozesses, und wir sagen dies auch und geradeangesichts von Umfragezahlen, die derzeit nur eine Zu-stimmung von rund 30 Prozent der isländischen Bevöl-kerung für einen EU-Beitritt widerspiegeln. Deshalbhoffe ich, dass die Zustimmung zur EU nach Beantwor-tung der Fragen im Zusammenhang mit Icesave wiederdeutlich zunimmt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3519
Dr. Andreas Schockenhoff
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Denn – das ist unser zweiter Punkt –: Ein Beitritt Is-lands wäre für die EU ein Gewinn. Mit Island würde nichtnur eine stabile parlamentarische Demokratie beitreten,die Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Menschenrechtegarantiert, sondern die EU könnte auch – das haben dieVorredner schon gesagt – von Islands Wissen auf demGebiet der erneuerbaren Energien profitieren. Nicht zu-letzt ist Island für die EU von strategischem Interesse alsTor zur Arktis mit Blick auf Rohstoffe und Energiever-sorgung. Die Bedeutung des Nordatlantiks wird in denkommenden Jahren weiter wachsen. Deshalb sollte dieEU in diesem Gebiet direkt präsent sein. Island ist alsofür uns strategisch wichtig.Drittens. Allerdings erwarten wir, dass Island bei ei-nem Beitritt die politischen und wirtschaftlichen Krite-rien umfassend erfüllt. Das betrifft insbesondere – auchdas ist schon gesagt worden – die Überwindung der Fi-nanzkrise. Wir wissen, dass die weitere Haushaltskonso-lidierung und die Gewährleistung tragfähiger öffentli-cher Finanzen besondere Herausforderungen darstellen.Diese Anstrengungen müssen aber konsequent fortge-setzt werden, um Vertrauen wiederherzustellen und einestrikte Einhaltung der Kopenhagener Kriterien sicherzu-stellen.
Übrigens haben uns unsere isländischen Gesprächs-partner gesagt, dass sie für die angestrebte Einführungdes Euro selbst eine Zeitperspektive von rund zehn undmehr Jahren sehen. Ich erwähne das, um deutlich zu ma-chen, dass es hierzu in Island keinerlei unrealistischePerspektiven und Erwartungen gibt.Sichergestellt werden müssen auch das kommerzielleWahlfangverbot und eine Einigung bei den Fischereifra-gen. Diese Fischereifragen seien so schwierig, wurdeuns von isländischer Seite gesagt, dass sie kaum inner-halb von 12 bis 18 Monaten beantwortet werden könn-ten. Ein Beitritt wird eher im Jahre 2014 als früher er-folgen, wenn er die Zustimmung der isländischenBevölkerung findet.Viertens. Wir erwarten, dass Island nicht nur aus fi-nanziellen Gründen unter das Dach der EU kommenmöchte. Neben der Erfüllung der vertraglich vereinbar-ten Beitrittskriterien ist es für uns wichtig, dass Islanddie Grundidee einer immer tieferen Integration mitträgt.Wie weit Island dazu bereit ist, kann nicht anhand derWirtschaftskriterien oder durch Gesetzestexte geklärtwerden. Das müssen wir durch den Kontakt zu denPartnern in Regierung, Parlament und Zivilgesellschaftherausspüren. Deshalb wird die Beurteilung der Inte-grationsbereitschaft Islands eine unserer wichtigsten undschwierigsten Aufgaben bei der Begleitung des Verhand-lungsprozesses sein. Wir haben auch schon die Erfah-rung gemacht, dass ein Land Mitglied der EuropäischenUnion werden wollte, um anschließend die weitere Inte-gration eher zu behindern als zu befördern. Auch dasmüssen wir bei der Beurteilung künftiger Beitrittsgesu-che berücksichtigen.Fünftens haben mein französischer Kollege und ich inIsland in einer gemeinsamen Presseerklärung zum Aus-druck gebracht, dass wir vom Europäischen Rat dieschnellstmögliche Entscheidung über die Eröffnung vonBeitrittsverhandlungen erwarten. Durch die offenen Fra-gen hinsichtlich des Icesave-Abkommens darf eine sol-che Entscheidung nicht noch länger verzögert werden.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion spricht sich aus den genanntenGründen für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungenmit Island aus.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt der Kollege Andrej Hunko von der
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir nei-gen dazu, die Vorgänge in Island zu unterschätzen. Ichrede nicht nur von dem Vulkan Eyjafjalla, dessen Asche-wolke wir gerade in ganz Europa zu spüren bekamen.
– Jökull ist der Gletscher. Eyjafjalla ist der Vulkan.
Auch die Wellen der gesellschaftlichen Ereignisse in-folge der Finanzkrise sind hier zu spüren. Die Tatsache,dass wir heute über die Aufnahme von Verhandlungenüber einen Beitritt Islands zur Europäischen Union dis-kutieren, ist auch eine Folge der sozialen Unruhen desWinters 2008/2009, der sogenannten Kochtopfrevolu-tion. Sie fegte die konservativ geführte Regierung unterGeir Haarde weg und brachte zum ersten Mal in Islandeine sozialdemokratisch-linksgrüne Koalition an die Re-gierung. Diese Regierung stellte im Juli vergangenenJahres ein Beitrittsgesuch zur Europäischen Union.Selbstverständlich unterstützen wir als Linke die Auf-nahme der Beitrittsverhandlungen.
Das Interesse an Island ist aber auch deshalb so groß,weil sich hier die Entwicklungen der letzten beiden Jahr-zehnte besonders konzentrierten. Nach Jahren der Priva-tisierung, der Deregulierung und des Aufbaus eines gi-gantischen Spekulationssystems brach der isländischeBankensektor im Herbst 2008 komplett zusammen. Ge-nau wie hier und in anderen europäischen Ländern solldie Bevölkerung die Zeche für die Party der Reichen be-zahlen. Der Unterschied ist allerdings, dass Island als äl-teste Demokratie Europas über eine höhere demokrati-sche Kultur verfügt: Am 6. März lehnten 94 Prozent derIsländerinnen und Isländer die Übernahme der Icesave-Schulden, der Schulden einer privaten Internetbank, ab.
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3520 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
Andrej Konstantin Hunko
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Ich kann dem isländischen Präsidenten OlafurGrimsson nur zustimmen, der dazu sagte:Wenn Demokratie und Finanzmärkte in Wider-spruch zueinander geraten, muss man sich für dieDemokratie entscheiden.
Vor wenigen Tagen ist in Island ein umfangreicherUntersuchungsbericht über den Finanzkollaps erschie-nen, der im Land für sehr viel Aufsehen gesorgt hat. Auf2 383 Seiten werden die Verantwortlichen des neolibera-len Umbaus, der schließlich zum Zusammenbruchführte, und die unheilvolle Verquickung von Finanzkon-zernen und Politik detailliert benannt.Wer hier meint, das alles gehe ihn nichts an, dem sageich: „De te fabula narratur“ – von dir ist hier die Rede;denn diese Verquickung gibt es genauso auch inDeutschland.
Ich wünsche mir, dass das auch hier einmal so transpa-rent aufgearbeitet würde wie in Island.
Island hat im Juli 2009 den Antrag zur Aufnahme indie EU gestellt. Die isländische Regierung hatte dieHoffnung, dass der Europäische Rat noch im Dezemberunter schwedischer Ratspräsidentschaft über die Auf-nahme von Gesprächen entscheidet. Im Februar 2010 hatdie Europäische Kommission schließlich die Aufnahmevon Beitrittsverhandlungen empfohlen. Leider wurdendie Beitrittsgespräche von der niederländischen und bri-tischen Regierung verzögert, um Island in der Icesave-Frage unter Druck zu setzen.Es ist gut, dass die Mitwirkungsrechte des Bundesta-ges unter anderem durch unsere Klage beim Bundesver-fassungsgericht in dieser Frage gestärkt wurden.
Aber es wäre möglich gewesen, das Einvernehmen mitdem Bundestag schon vor dem Ratsgipfel Ende Märzherzustellen. Das war offensichtlich von der Bundesre-gierung nicht gewollt. Jetzt geht es darum, dass sich dieBundesregierung wenigstens für die Zustimmung zur Er-öffnung der Beitrittsgespräche auf dem Gipfel des Euro-päischen Rates am 17./18. Juni einsetzt.Eine Forderung der Europäischen Kommission an Is-land in dem Bericht vom Februar ist, den freien Kapital-verkehr wiederherzustellen. Wörtlich heißt es im Kom-missionsbericht:Derzeit unterliegen Finanzgeschäfte zwischen Is-land und dem Ausland umfassenden Devisenkon-trollen. … Hier muss Island durch Liberalisierungs-maßnahmen die Vereinbarkeit mit dem Grundsatzdes freien Kapitalverkehrs gewährleisten.Die Kapitalsverkehrskontrollen der isländischen Re-gierung waren die richtige Reaktion auf den Zusammen-bruch der Finanzmärkte,
wie auch der Internationale Währungsfonds, IWF, er-kannte. Sie waren mit dem IWF abgesprochen, der Is-land Kredite gewährte. Der IWF ist zu Recht umstritten,weil er häufig Staaten neoliberale Strukturanpassungs-programme aufgezwungen hat. Aber immerhin ermögli-chen die Statuten des IWF Kapitalverkehrskontrollen,während der Lissabonner Vertrag diese verbietet. DieEU ist hier neoliberaler und marktradikaler als der IWF.Es kann doch nicht sein, dass Island im Zuge der Bei-trittsverhandlungen gezwungen wird, den Zustand vonvor der Krise wiederherzustellen. Hier sind dringendentsprechende Änderungen am Lissabonner Vertrag ein-zuleiten.
Ein weiterer Punkt im Zusammenhang mit dem Bei-tritt Islands ist der Zugang zur Arktis; dies ist eben auchvon Herrn Schockenhoff angesprochen worden. In derArktis liegen die größten bisher nicht erschlossenenRohstoffvorkommen. Bislang war die EU hier weitge-hend abwesend vom sogenannten großen Spiel. IslandsMitgliedschaft im Arktischen Rat und seine geostrategi-sche Lage würden der EU ermöglichen, am Run aufdiese letzten Rohstoffvorkommen teilzunehmen. Im De-zember 2009 wurden im Rat der Europäischen Union fürAuswärtige Angelegenheiten die Schlussfolgerungen zurArktis beschlossen. Dort ist die Rede von „den neuenMöglichkeiten, die sich im Zusammenhang mit demSchmelzen des Meereises und den sonstigen Auswirkun-gen des Klimawandels für den Verkehr, die Gewinnungnatürlicher Ressourcen und sonstige unternehmerischeTätigkeiten ergeben“.Das ist doch an Zynismus nicht mehr zu überbieten.
Anstatt alles Menschenmögliche in Bewegung zu setzen,um den Klimawandel zu stoppen, ist hier von den unter-nehmerischen Möglichkeiten, die sich hieraus ergeben,die Rede. Statt solcher Spekulationen sollten endlich derAusstieg aus der fossilen Energieversorgung eingeleitetund die vollständige Energiewende durchgesetzt werden.
Im Hinblick auf die Arktis wollen wir keinen imperialenWettlauf um die Region. Hier wäre analog zur Antarktisein Moratorium zur Ressourcenausbeutung die beste Re-gelung.
Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss.Die Linke spricht sich für die Aufnahme von Beitritts-verhandlungen mit Island aus. Wir fordern die Trennungder Beitrittsgespräche von der Frage der Icesave-Schul-den. In mancher Hinsicht, etwa beim Walfang, muss sichIsland ändern. Vor allem muss sich aber die EU ändern,
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Andrej Konstantin Hunko
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etwa in der Frage der Kapitalverkehrskontrollen. Eineimperiale Verwendung Islands für einen Wettlauf um dieArktis lehnen wir ab. Wir begrüßen es, dass am Ende inIsland der Souverän über den Beitritt entscheidet, die is-ländische Bevölkerung.Danke.
Das Wort hat jetzt der Kollege Manuel Sarrazin von
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich kannleider den Namen des Vulkans nicht aussprechen. Ichkann Ihnen aber unsere Anteilnahme dadurch versi-chern, dass die Grünen ihren Länderrat am Sonntag inKöln in der Vulkanhalle durchführen. Vielleicht ist dasimmerhin ein Zeichen der Anteilnahme an diesem Ereig-nis.Herr Hunko und auch die anderen Vorredner habenschon die besondere Bedeutung dieser Debatte darge-stellt. Zum ersten Mal wird das Einvernehmen nach § 10des EUZBBG zur Anwendung kommen. Sie habenrecht, wenn Sie davon sprechen, dass wir als Bundestageine besondere Verantwortung tragen, wenn wir die Vor-beitrittsverhandlungsprozesse und auch die Verhand-lungsprozesse begleiten. Dadurch, dass wir uns jetzt einBild machen, uns einmischen und am Ende des Prozes-ses den Wählerinnen und Wählern in Deutschland sagenkönnen, dass wir uns von Anfang an damit auseinander-gesetzt haben, entstehen Chancen, die für beide Seitengut sind: Einerseits erreichen wir ein größeres Verständ-nis für Erweiterungen. Andererseits wissen vielleicht diebeitretenden Partner, was uns wichtig ist. – Ich begrüßedeswegen, dass alle Fraktionen hier Anträge eingebrachthaben, und ich begrüße es auch, dass diese Debatte statt-findet. Ich glaube, das ist ein wichtiges Signal in diesesHaus und in die Öffentlichkeit.Wir Grünen glauben weiterhin an die positive Kraft,die sowohl politisch als auch im konstruktiv-strategi-schen Sinne von Erweiterungen ausgeht. Wir sind wei-terhin davon überzeugt, dass der Erweiterungsprozessfortgehen muss. Das heißt nicht, dass wir nicht auchDinge in der Vergangenheit anders bewerten. Wir haltendie Kopenhagener Kriterien für wichtiger denn je. Wirdenken auch, dass das verfrühte politische Setzen vonBeitrittsdaten kein kluger Schachzug ist, ganz egal, wel-che konkreten Interessen jeweils einzelne Partner dazubewegen könnten, zu sagen, ein bestimmter Partner solleschneller oder besonders berücksichtigt werden. Wirdenken auch, dass bilaterale Konflikte, die plötzlich zuVetogründen erhoben werden, nicht europäisiert werdendürfen. Ein solcher Konflikt hat auch bei Island eineRolle gespielt, was von Herrn Hunko, von Herrn Rothund auch von Herrn Schockenhoff – Stichwort Icesave –erwähnt wurde. Es darf auch keine Erweiterung ersterund zweiter Klasse geben. Jedes Land ist an den Kopen-hagener Kriterien zu messen und nicht daran, ob manihm näher oder ferner steht.
Dabei sind natürlich besondere Fortschritte, die schonvorhanden sind, zu bewerten.Wir freuen uns, dass sich Island auf den Weg gemachthat. Island ist gut für die EU. Island ist in vielen Berei-chen vorbildlich und kann uns ein Beispiel geben. DerBeitritt Islands wäre im deutschen Interesse, weil derBeitritt eine Stärkung der Zusammenarbeit der Ostseean-rainerländer und der nördlichen Länder in der EU bedeu-ten würde. Das sind Bereiche, die für Deutschland vonstrategischem Interesse sind. Darüber hinaus hat Islandin kultureller Hinsicht eine lange Verbindung geradeauch zu Deutschland. Wenn Island beitreten will, dannsind die Türen offen. Dieses Signal geht von allen Frak-tionen dieses Hauses aus. Der Beitritt ist aber auch im is-ländischen Interesse; denn in der Europäischen Unionkönnen auch relativ kleine Mitgliedsländer eine ver-gleichsweise große Bedeutung erreichen, wenn sie aktivund besonders integrationsfreundlich agieren. Das Bei-spiel Luxemburgs ist oft genannt worden, und das ist si-cherlich richtig.Es ist daher richtig, dass wir in unserem Antrag dieAufnahme von Beitrittsverhandlungen ohne Vorbedin-gungen unterstützen.
Wir formulieren Maßgaben für den Weg; aber dieseMaßgaben sind keine Vorbedingungen für die Aufnahmevon Verhandlungen.Das Thema Walfang ist wichtig. Zugeständnisse oderÜbergangsfristen zum Stand des Acquis halten wir fürnicht akzeptabel. In der Europäischen Union ist vor allemdurch die Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie ein hohesSchutzniveau für Wale eingeführt worden. Daran darfnicht gerüttelt werden. Die Wiederaufnahme des Wal-fangs im Jahr 2003 ist aus meiner Sicht weder ökono-misch noch aus anderen Gründen gerechtfertigt. Deswe-gen sollte es der isländischen Seite nicht so schwerfallen,sich auf den Acquis zuzubewegen.Zur Fischerei wurde viel Richtiges gesagt. Die oberstePriorität muss auf der Nachhaltigkeit der isländischen Fi-schereiwirtschaft und der Erhaltung des Fischbestandesliegen. Diese Priorität muss aber auch für die gemein-same Fischereipolitik der Europäischen Union gelten.Alle isländischen Rechtsnormen, die jetzt schon diesemZiel dienen, sollten in die Verhandlungen über die Re-form der gemeinsamen Fischereipolitik einbezogen wer-den.Zum Finanzmarkt. Sie haben recht, Herr Hunko: Is-land braucht eine stabilitätsorientierte Neuausrichtungdes Finanzmarkts. Das ist eine Maßgabe, die wir für beideSeiten formulieren wollen, für die isländische Seite undfür die Europäische Union. Ich denke, der Grundsatz derKapitalverkehrsfreiheit, der in den Verträgen im Primär-recht festgelegt ist, ist wichtig und richtig, aber er darf
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Manuel Sarrazin
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nicht dazu führen, dass die Fehler, die Island einmal ge-macht hat, wiederholt werden.
– Nicht nur Island, auch das ist richtig.Was mir wichtig ist – das sage ich an die Adresse desAuswärtigen Amts, dessen Vertreter nicht mehr da seinkann; er musste rechtzeitig den Flieger nach Brüssel er-wischen, was auch in Ordnung ist –: Das politische Si-gnal auf dem Juni-Gipfel ist noch nicht gesichert. Wirhaben gestern im Ausschuss die Information bekommen,dass es keinen neuen Sachstand bezüglich der Fragegibt, ob die Verhandlungseröffnung auf dem Rat einThema sein wird. Wir sollten gemeinsam unsere Bun-desregierung dazu auffordern, ihren Teil dazu beizutra-gen, dass die Verhandlungen eröffnet werden, damit wirim Juni einen Beschluss fassen können.
Die Verzögerungen, die stattgefunden haben, sind Ge-schichte. Man kann das so oder so bewerten. Jetzt gehtes darum, ein positives Signal zu senden.Wir Grüne wollen Verhandlungen mit dem Ziel des er-folgreichen Beitritts. Die Aufnahme von Verhandlungenist für uns ganz klar mit dem Ziel des Beitritts verbunden.Auch die isländische Politik muss das Signal aussenden,dass sie am Ende den Beitritt möchte. Das Voranschreitenin den Verhandlungen ist jetzt besonders wichtig, damitwir, um in einem Bild der letzten Tage zu sprechen, weg-kommen vom Sichtflug – Ratsgipfel – und hinkommenzum Instrumentenflug – Eröffnung von Kapiteln, Bench-marks, Closure Benchmarks und Schließung von Kapi-teln –, damit Island rechtzeitig Mitglied der EuropäischenUnion wird und nicht noch länger – wie wir letzte Wocheam Flughafen – warten muss, obwohl es schon mehr ma-chen möchte.Danke sehr.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Stefan Ruppert von
der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Ein Wort vorweg zum Verfahren, das hier zumindest
von dem Vertreter der Linken und dem der SPD ange-
sprochen worden ist: Man stelle sich einmal vor, was
passiert wäre, wenn in einem beschleunigten Verfahren
die neuen Mitwirkungsrechte des Bundestags nicht so
ernst genommen worden wären, wie wir es in diesem
Fall getan haben. Wir wären kritisiert worden, etwas
durchpeitschen zu wollen und die neu erworbenen
Rechte nicht ausreichend ernst zu nehmen. Insofern bin
ich froh, dass der Kollege Sarrazin gesagt hat, dieser
Punkt gehöre eher der Vergangenheit als der aktuellen
politischen Debatte an.
Herr Kollege Ruppert, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Sarrazin von Bündnis 90/Die Grü-
nen?
Gerne, ja. – Gerade habe ich ihn noch gelobt.
Herr Kollege, wir hätten Ihnen nicht vorgeworfen, es
durchzupeitschen, weil wir ebenso wie die Koalitions-
fraktionen der Erstansetzung der Voten der mitberaten-
den Ausschüsse am Tag vor der Zusammenkunft des
Rats zugestimmt haben; insofern hätten wir dieses Ver-
fahren ganz in Ordnung gefunden. Als Frage formuliert:
Sehen Sie das auch so?
Herr Kollege Sarrazin, Sie wissen, dass es durchausWünsche der einzelnen Ausschüsse gab, ausführlich zuberaten. Wenn der Ausschuss für die Angelegenheitender Europäischen Union gesagt hätte: „Beeilt euch bitteein bisschen; es muss schneller gehen“, dann hätte es si-cherlich den von mir hier beschriebenen Reflex gegeben,man lasse sich nicht drängen, sondern müsse die Sachensorgfältig und in aller Ruhe beraten. Wie man es auchmacht, im Ergebnis kann man es Ihnen doch nicht rechtmachen. Ich will diese Unterschiede aber gar nicht zusehr betonen; schließlich sind wir uns im Ergebnis einig,und das finde ich sehr erfreulich.Island ist eine uralte und stabile parlamentarische De-mokratie. Rechtsstaatlichkeit und die Achtung von Men-schenrechten sind dort seit langer Zeit fest verankert.Man sieht, wie sehr es den Zusammenhalt, die Architek-tur einer Gesellschaft erschüttert, wenn ein so kleinesLand eine solche Finanzkrise erlebt. Mir ist wichtig, dasswir als deutsches Parlament hier klar sagen: Wir stehendiesem Prozess positiv gegenüber. Wir sehen die Sorgenund Nöte des isländischen Volkes. – Wir können nämlichviel von ihm lernen; das wurde hier schon mehrfach ge-sagt. Ich hätte gern eine Fischereiwirtschaft in der Euro-päischen Union, die so auf ökonomischen Sachverstandund ökologische Nachhaltigkeit setzt, die ohne Subven-tionen auskommt und insofern Vorbild für uns ist. Ichhoffe nicht, dass wir die Isländer mit den Segnungen un-serer Fischereipolitik überziehen.
Die Banken- und Finanzkrise hat dieses Land, wie ge-sagt, nachhaltig erschüttert; aber Island wird diese Krisebewältigen.
Es ist klar, dass dieses Land mit seinem gegenwärtigenhohen Haushaltsdefizit die Konvergenzkriterien derEuro-Zone im Moment nicht erfüllt. Doch die Regierung
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Dr. Stefan Ruppert
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in Reykjavik hat wichtige finanzpolitische Maßnahmenergriffen, um die immense Staatsverschuldung zu senkenund die Konjunktur wieder anzukurbeln. Ich bin deshalbvorsichtig optimistisch. Dies ist eine Einschätzung, dieauch der Chef des Internationalen Währungsfonds teilt.Wir dürfen dieses Beitrittsgesuch nicht auf wirtschafts-politische Fragen reduzieren. Die Kopenhagener Krite-rien müssen vollständig erfüllt werden. Das haben wir inunserem Antrag deutlich gemacht. Fischerei, Landwirt-schaft, Walfang und Finanzkontrolle in Island waren be-reits in der Vergangenheit Bereiche, über die ernsthaftverhandelt werden musste. Gerade was die Finanzkon-trolle angeht, kann es nicht sein, dass eine zu laxe Fi-nanzmarktaufsicht dazu führt, dass sich Krisen gegebe-nenfalls wiederholen.
Auch der Beitritt zur EU kann kein Selbstläufer sein; viel-mehr müssen die Konvergenzkriterien nachhaltig erfülltwerden. Eine langfristige Einhaltung des EU-Stabilitäts-paktes muss gewährleistet werden. Das sind die Lehren,die wir aus aktuellen Krisen zu ziehen haben.Wir ermutigen die isländische Regierung, den Dialogmit Großbritannien und den Niederlanden fortzuführen,um einen fairen Interessenausgleich auch in der Icesave-Problematik zu finden. Island ist sehr wohl bereit – daskommt in der deutschen Öffentlichkeit nicht immer an –,die angelaufenen Schulden zurückzuzahlen. Es geht da-bei nur um die Konditionen. Wir wünschen uns, dass dieniederländischen und britischen Partner dies auch würdi-gen und man sich bald auf einen fairen Interessenaus-gleich einigen kann.
Am Ende sei gesagt: Wir begrüßen das Beitrittsge-such der Isländer. Wer dort war, spürt, dass dieses Landzur Wertegemeinschaft der Europäischen Union gehört.Es ist eine Bereicherung. Es ist ein Land in einer Krise;aber es wird aus dieser Krise herauskommen. Ich glaube,am Ende steht ein positives Ergebnis. Als Liberale wäreuns das eine große Freude.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Franz Thönnes von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Nach dieser Erup-tion, die wir in der letzten Woche am Eyjafjallajökull
in Island erlebt haben, weiß jeder – auch der, der diesenNamen nicht aussprechen kann –, wo dieses Land liegt.Wir alle haben gemerkt, wie stark wir doch von der Na-tur abhängig sind, wie sie unsere Zivilisation beeinflus-sen und welche Folgen das haben kann.Rechtzeitig vor der heutigen Debatte hat der Vulkanseine Aktivitäten etwas eingestellt, damit wir wohlge-sonnener werden. Aber eine Eruption ist geblieben – dieist immer noch da –, nämlich die Eruption, die ein unge-zügelter Finanzkapitalismus in Island in der westlichenWelt, ja nahezu in allen Ländern dieser Erde hervorgeru-fen hat. Diese Betroffenheit macht deutlich, was durchungezügelte Finanzmärkte passieren kann. Deshalb ist esnotwendig, aus der Geschichte, in die Island hineingera-ten ist, den Schluss zu ziehen: Eine Finanzpolitik, dienur auf Zaster und Zinsen, Rendite und Reibach ausge-richtet ist, kann ganze Länder in den Abgrund führenund zerstört Gesellschaften. Das darf nie wieder passie-ren.
Wir brauchen daher eine klare Politik, die hier zügelt,die hier regelt, die auch diesen Teil der freien Wirtschaftein Stück weit an die Leine legt. Das ist eine Herausfor-derung für diese Bundesregierung, aber auch für die Ent-scheidungen auf europäischer Ebene, die zu treffen sind.Der europäische Gedanke in Island ist nicht erst in deroder durch die Krise entstanden. Island ist uns schon viellänger verbunden. Halldor Laxness, der isländische Lite-raturnobelpreisträger, der morgen 108 Jahre alt gewor-den wäre, sagte einmal:Was die Menschen trennt, ist gering, gemessen andem, was sie einen könnte.2 344 Kilometer trennen den Deutschen Bundestag vomisländischen Parlament, vom Althing. Dazwischen lie-gen ein breites Meer und unterschiedliche Auffassungen.Es gibt unterschiedliche Auffassungen, wie man mit denschützenswerten Walen umgeht. Es gibt in Island aberauch eine andere Fischereipolitik, von der die Europäi-sche Union meines Erachtens nach etwas lernen könnte;sie ist dort nämlich schon seit langem ökologisch undnachhaltig orientiert. Es gibt dort eine Nutzung regene-rativer Energien für die Energieversorgung von nahezu100 Prozent. Es gibt dort auch eine Tradition der Demo-kratie, die im Jahr 930 in Thingvellir begonnen hat unddie auf ihrer Wegstrecke – ich sage das auch für die jun-gen Frauen, die heute im Rahmen des Girls’ Day zu Gastbei der SPD-Fraktion sind – seit 1915 das Frauenwahl-recht hat.
Was uns in Europa eint, das ist, dass Island zur euro-päischen Familie gehört. Die langjährige Mitgliedschaftin vielen Gremien ist von meinen Vorrednern schon ge-nannt worden. Die nahezu vollständige Übernahme vie-ler europäischer Regelungen in Island ist allgemein be-kannt. Island ist Gründungsmitglied der NATO, aktiverMitstreiter bei der OSZE, arbeitet mit uns im Polizei-und Justizbereich zusammen und ist, gerade was Demo-kratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit angeht,ein Vorbild. Island ist aber auch bei der Sozialstaatlich-keit ein Vorbild. Island kann Motor für ein sozialesEuropa werden. Die Gewerkschaften in Island haben2008 auf ihrem Kongress mit einer Mehrheit von 290 zu6 Stimmen beschlossen, Mitglied in der EU werden zu
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Franz Thönnes
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wollen und auch den Euro einzuführen; denn sie wissen,dass nur in einem gemeinsamen Markt soziale Sicherheitgestaltet werden kann.Ich sage Ihnen eines: Europa wird wirklich nur sein,wenn es auch ein soziales Europa ist.
Es ist ebenso wichtig, auch auf die tausendjährigen kul-turellen Beziehungen hinzuweisen. Die ersten BischöfeIslands haben ihre Ausbildung vor gut 1 000 Jahren imBistum Bremen erhalten. Das, was uns bis heute kultu-rell miteinander verbindet, ist das große Interesse der Is-länder an der germanischen Sprache und ist das großeInteresse der Deutschen an der Edda und den Sagas. Imnächsten Jahr wird Island das Gastland auf der Frankfur-ter Buchmesse sein. Dort werden die engen kulturellenBindungen nochmals deutlich.Die Perspektiven sind gut – sie sind bereits genanntworden –: Wir müssen die arktische Region nachhaltigund erhaltend gestalten und dürfen nicht nur allein öko-nomische Prinzipien herrschen lassen. Auch über außen-und sicherheitspolitische Fragen muss gemeinsam disku-tiert werden. Das soziale Europa – ich habe es gesagt –bekäme durch einen Beitritt Islands einen Schub.Deutschland ist aus isländischer Sicht ein guter undverlässlicher Partner. Man fand es sehr sensibel – dashabe ich in Island erfahren können –, wie Deutschland inder internationalen Finanzkrise gehandelt hat. Island istvon uns nicht, wie in Großbritannien unter Bezugnahmeauf ein Anti-Terror-Gesetz, zu Zahlungen verpflichtetworden. Nein, wir sind hier anders vorgegangen. Wasman bei Island beachten und verstehen muss, ist, dass Is-land erst seit 1944 eine freie Republik ist. Man muss alsoauch das Selbstbewusstsein respektieren und die Men-schen so annehmen, wie sie sind. Ich glaube, für uns inDeutschland ist es gut, wenn Island in die Familie dereuropäischen Mitgliedstaaten aufgenommen wird undwir dann gemeinsam eine werteorientierte Außenpolitikbetreiben, auf die so oft hingewiesen wird.Man muss einmal die Frage stellen: Was ist hierbeidie Schlussfolgerung? Die Schlussfolgerung ist: Märktebrauchen Regeln. Sozialstaatlichkeit hält die Gesell-schaft zusammen. Freiheit kann nur dann entstehen,wenn aus guter Arbeit auch gutes Einkommen erwächst.Bildung muss frei und für alle zugänglich sein, egal auswelchem Elternhaus man kommt. Der Zugang zu Bil-dung darf nicht vom Einkommen der Eltern, von derEthnie oder von der Rasse abhängen. Hier kann mansehr viel von Island lernen.
Wie die anderen Kolleginnen und Kollegen will auchich mit einem Appell an Sie schließen. Da die Zustim-mung zu einem Beitritt Islands auf der Wegstrecke deroffenen Entscheidungsphase in der Europäischen Unionabgenommen hat, müssen wir Mut machen und über dieEuropa-Union helfen, damit wir bald zu einer mehrheit-lichen positiven Einschätzung des EU-Beitritts in der is-ländischen Gesellschaft kommen; denn so darf es nichtweitergehen. Dabei müssen auch die Kontakte der Par-teien und Fraktionen hier in diesem Haus mit denen ausdem isländischen Parlament verbessert werden. Manwundert sich, warum die eine oder andere Partei in Is-land gegen einen Beitritt ist. Ich will daher mit einem Zi-tat aus der Edda von Snorri Sturluson aus dem 13. Jahr-hundert – ein alter Skalde – schließen: „Hast du einenFreund, dem du fest vertraust, geh oft, ihn aufzusuchen,denn Gesträuch wächst und starkes Gras auf dem Weg,den kein Wanderer geht.“ – Deswegen ist es wichtig, alsParlamentarier gerade in diesen Fragen in Kontakt zutreten und die Kontakte auszubauen.Abschließend will ich die Bundesregierung auffor-dern, im Europäischen Rat Motor dafür zu sein, dass dieVerhandlungen schnell aufgenommen werden könnenund dass Island nicht mehr nur zur europäischen Familiegehört, sondern baldmöglichst Vollmitglied in der Euro-päischen Union ist.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Thomas Silberhorn
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Auch wenn wir heute darüber reden, so ent-scheiden wir doch nicht über die Aufnahme Islands indie Europäische Union. Wir entscheiden aber sehr wohlüber die Aufnahme von Verhandlungen über einen Bei-tritt. Das ist eine echte Premiere. Bisher waren wir erstnach Abschluss der Verhandlungen beteiligt und durftenBeitrittsakten zustimmen, an deren Verhandlungen wirnicht beteiligt waren und deren Ergebnis wir nicht än-dern konnten. Jetzt sind wir erstmals vor Beginn der Ver-handlungen beteiligt. Noch bevor die Bundesregierungim Europäischen Rat der Aufnahme von Verhandlungenzustimmt, muss der Bundestag um Einvernehmen gebe-ten werden. Das wollen wir heute im Sinne einer Auf-nahme der Verhandlungen erreichen.
Es zeigt sich, dass unsere Begleitgesetzgebung zumVertrag von Lissabon, die wir im letzten Jahr beschlos-sen haben, wirkt. Ich will der historischen Wahrheit Ge-nüge tun und betonen, dass diese Initiative einst von derCDU/CSU ausgegangen ist. Wir haben bereits zwei Le-gislaturperioden zuvor, nämlich im Januar 2005, einenentsprechenden Antrag vorgelegt. Ich freue mich, dassunsere Position im Zuge des Lissabon-Vertrages eineMehrheit in diesem Hause gefunden hat.Nicht ganz zustimmen kann ich der Kritik, die hiervor allem vonseiten der SPD geäußert worden ist, dass
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Thomas Silberhorn
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man schneller hätte beraten müssen. Die Kommissionhat ihre Stellungnahme, mit der sie die Aufnahme vonVerhandlungen empfiehlt, am 24. Februar vorgelegt. Ge-rade einmal zwei Monate später verabschieden wir imBundestag eine substanziierte Stellungnahme, mit derwir der Aufnahme von Verhandlungen zustimmen. Waswollen Sie eigentlich mehr? Entweder will man schnelleEntscheidungen, dann darf man im Zweifel die Abge-ordneten nicht fragen; oder man will parlamentarischeMitwirkung, dann muss man dafür auch Zeit einräumen.
Wir sind der Meinung: Parlamentarische Beratungbraucht Zeit; Demokratie insgesamt braucht Zeit. Auchein Europa der Bürger braucht Zeit. Wir nehmen unsdiese Zeit. Das ist richtig so.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich habeden Eindruck, dass auch die isländische Bevölkerungdurchaus Zeit braucht für diesen Verhandlungsprozess.Es gibt dort zwar eine Mehrheit für die Einführung desEuro. Aber 70 Prozent der Bevölkerung lehnen derzeiteinen Beitritt zur Europäischen Union ab. Es hat sich inden letzten Monaten in Island erst noch herumsprechenmüssen, dass man nicht Ja zum Euro, aber Nein zurEuropäischen Union sagen kann. Es zeigt sich, dass inIsland unter dem Eindruck der Finanzkrise und eineswachsenden Haushaltsdefizits sowie angesichts vonBankeninsolvenzen kurzfristig die Überzeugung entstan-den ist, man könne sich mit dem Euro stabiler aufstellen.Dies zeigt auch der Blick nach Irland, das als Mitgliedder Euro-Zone deutlich besser aus der Wirtschafts- undFinanzkrise herausgekommen ist. Der Beitritt selbst er-fordert natürlich eine langfristige Bindung an die Euro-päische Union. Da sind einige Fragen neu zu beantwor-ten.Gleichwohl gilt: Island ist seit Jahrzehnten auf dasEngste mit der Europäischen Union verbunden. Wir un-terstützen das Ziel einer EU-Mitgliedschaft Islands. Diepolitischen Kriterien sind zweifellos erfüllt. Island isteine der ältesten Demokratien der Welt. Fragen nachRechtsstaatlichkeit oder Menschenrechten stellen sichnicht. Auch der gemeinschaftliche Besitzstand ist in wei-ten Teilen bereits übernommen. Island gehört nach demBeitritt im Jahr 1970 der Europäischen Freihandelszoneseit nunmehr 40 Jahren an. Island ist Gründungsmitglieddes Europäischen Wirtschaftsraumes, der 1994 geschaf-fen wurde. Auch die Zusammenarbeit von Polizei undJustiz funktioniert seit vielen Jahren völlig reibungslos.Viele Fragen, die Gegenstand der Verhandlungen seinwerden, werden sich also sehr schnell beantworten las-sen.Island ist ohne Zweifel eine funktionierende Markt-wirtschaft. Aber wie wir in unserem Koalitionsantragganz bewusst formulieren: Vor der Bankenkrise hatte Is-land die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und denMarktkräften im Europäischen Wirtschaftsraum standzu-halten. Nach der Bankenkrise ist es erforderlich, dass dieFähigkeit, dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräftenstandzuhalten, auch in Bezug auf die Europäische Unionals Ganzes möglich wird. Hier gibt es Defizite. DieStaatsverschuldung ist im letzten Jahr auf 125 Prozentgewaltig gestiegen. Das Haushaltsdefizit liegt derzeit bei14,4 Prozent. Das bedeutet, dass Island gewaltige wirt-schaftliche Anstrengungen vor sich hat.Es ist aber wichtig, darauf hinzuweisen, dass die Kri-terien für die Konvergenz in der Euro-Zone nur dann re-levant werden, wenn es um den Beitritt zur Euro-Zonegeht. Es sind keine expliziten Kriterien für die Auf-nahme in die Europäische Union. Natürlich muss die of-fene Frage, wie der Schaden der niederländischen undder britischen Sparer reguliert wird, beantwortet werden.Sehen Sie es mir nach, dass ich mir folgenden Kalauerheute nicht verkneifen kann: Bislang haben die Geschä-digten nur Asche bekommen; aber sie wollen natürlichKohle sehen. Wichtig ist allerdings, dass die wirtschaft-lichen Kriterien erst zum Zeitpunkt des Beitritts erfülltsein müssen. Deswegen sind die noch offenen Fragenkein Hindernis für die Aufnahme von Verhandlungen.Im Gegenteil: Der Prozess der Beitrittsverhandlungenkann zur wirtschaftlichen Stabilisierung Islands selbstbeitragen.Die wichtigsten Fragen in diesem Beitrittsprozessumfassen sicherlich die Fischereipolitik bis hin zumWalfangverbot. Ich kann die Position Islands gut nach-vollziehen, da es hier um erhebliche Kompetenzübertra-gungen auf die Europäische Union in Bereichen geht,die für Island von existenzieller Bedeutung sind.Umso wichtiger ist es, deutlich zu machen, dass Be-hörden der Europäischen Union in der Alltagspolitikkeine anonymen und autokratischen Entscheidungentreffen. Hierfür muss aber im Alltagsgeschäft der Euro-päischen Union Transparenz herrschen, Bürgernähepraktiziert und das Prinzip der Subsidiarität ernst ge-nommen werden. Ich meine, das würde es den Isländernerleichtern, bei den schwierigen Themen „Fischerei“und „Walfangverbot“ Zugeständnisse zu machen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich halte esfür richtig, dass wir diese Debatte über die Aufnahmevon Verhandlungen mit Island über einen Beitritt zur Eu-ropäischen Union zum Anlass nehmen, die Erweite-rungsstrategie der Europäischen Union insgesamt aufden Prüfstand zu stellen. Es ist hier schon angesprochenworden: Es gab immer wieder politische Rabatte. Des-wegen war es notwendig, in unserem Antrag darauf hin-zuweisen, dass erst die Beitrittskriterien strikt erfüllt seinmüssen, bevor man über einen Beitrittstermin sprechenkann. Es gibt insoweit keinen Automatismus.Island selbst wird das Tempo der Verhandlungen be-stimmen. Die Europäische Union wird die Fortschrittebewerten. Ich stimme zu, Herr Kollege Link, dass wirkeine Koppelungsgeschäfte mit der Aufnahme Islandsverbinden dürfen. Wir müssen jeden Staat gesondert be-handeln. Es ist eine Frage der Glaubwürdigkeit der Eu-ropäischen Union, dass wir ein Kandidatenland nicht inHaftung für die Erfüllung sonstiger Zwecke der Europäi-schen Union, für die Vornahme bestimmter Vertragsän-derungen oder für andere Kandidatenländer nehmen.
Wir unterstützen die Aufnahme von Verhandlungen.Ich setze darauf, dass die Bundesregierung bereit ist,
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Thomas Silberhorn
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eine enge Abstimmung mit dem Deutschen Bundestagüber die Fortschritte und über den weiteren Zeitplan derVerhandlungen zu pflegen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat jetzt das Wort die Kollegin Veronika Bellmann von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Aus Überlieferungen ist bekannt, dass die islän-dische Hauptstadt Reykjavik übersetzt so viel wie „rau-chende Bucht“ heißt und die Isländer ihre Vulkane als„Eingänge zur Hölle“ bezeichnen. So weit muss mannicht gehen; aber es sind in den letzten Tagen nun wirk-lich viele mehr oder weniger gut gelungene Sprachbilderin Bezug auf Island gebraucht worden.
Es ist uns jedoch allen klar geworden, dass die Bezeich-nung „Naturgewalten“ wohl ihre Berechtigung hat. Denndie Natur hat europäisch, ja sogar global Gewalt ausge-übt.Eine ganz andere Form der Gewalt, nämlich die ge-setzgeberische, ist das, was uns hier in unserem Hause be-schäftigt und was auch Mittelpunkt der heutigen Debatteist. Der vorliegende Antrag der Koalitionsfraktionenwurde von den Fraktionen und den Facharbeitsgruppensehr intensiv beraten und ist eine gute Arbeitsgrundlage.Insofern brauchen wir uns gerade von Herrn Roth kein zugeringes Engagement vorwerfen zu lassen.
Ganz im Gegenteil: Wir haben uns sehr zeitig und sehrintensiv damit befasst.
– Ich lobe Sie gleich noch, Herr Roth. Also nehmen Siesich mal wieder zurück.Aber auch die Anträge der anderen Fraktionen sindvon der gleichen Grundintention geprägt, nämlich sichpositiv in Richtung Island zu artikulieren. Deshalb habeich auch keine Zweifel, dass wir heute ein Einvernehmenzur Aufnahme von Verhandlungen mit Island über denBeitritt zur EU herstellen können. Damit hat die Bundes-regierung rechtzeitig – ich betone: rechtzeitig – den not-wendigen parlamentarischen Rückhalt, um im Europäi-schen Rat ihre Zustimmung zu den Verhandlungen überdie Aufnahme Islands in die EU zu geben.Insofern verstehe ich nicht, warum die Opposition inden letzten Tagen und Wochen sozusagen im Galoppdurch diese Vorberatungen hindurch wollte. Für meineBegriffe ist es besser, einen kleinen Schritt zu gehen undvoranzukommen, als durch zu große Schritte ins Stol-pern zu geraten. Wir haben nun wirklich lange genug umdie Mitspracherechte in den Angelegenheiten der Euro-päischen Union gerungen; meine Vorredner haben essehr oft betont. Jetzt haben wir sie, und wir wollen ver-antwortlich damit umgehen, weil genau das für die Ak-zeptanz europapolitischer Entscheidungen bei den Bür-gern wichtig ist. Keiner, aber auch wirklich keiner hätteetwas davon gehabt, wenn wir nur durch die Thematikgehastet wären und irgendetwas erzwungen hätten.
Ich bin davon überzeugt, dass es der Würde eines Bei-trittslandes – sei es auch noch so klein – nicht gerechtwürde, wenn wir uns nicht ausreichend mit ihm befassenwürden. Zudem entspricht es nicht der Würde unseresHauses, die Ausschüsse, die noch Beratungsbedarf ha-ben,
unter Druck zu setzen und ihnen zu sagen: Geht nicht!Wir haben bis zum Fristablauf und zur Befassung desEuropäischen Rates zwar noch ausreichend Zeit, aberwir wollen – vor wem auch immer – glänzen und müs-sen dafür eure parlamentarischen Rechte leider ein we-nig einschränken.Diese Hast und auch diese in der Vergangenheit so oftvorgetragene blinde Europa-Euphorie war gestern.
Heute sind gerade bei geplanten Beitritten Realitätssinnund ein ganzes Stück Entschleunigung gefragt. ÜbereilteZusagen entziehen den Verhandlungspartnern nur Si-cherheit. Für ein kleines beitrittswilliges Land bedeutetes Sicherheit, wenn es auf Grundlage eines einstimmi-gen Ratsbeschlusses, der auf stabilen Fundamenten ent-sprechender Beschlüsse in den Nationalstaaten steht, aufgleicher Augenhöhe mit der großen EU über den Beitrittverhandelt. Zu dieser sehr ehrlichen und offenen Aus-sage habe ich bei unseren Gesprächen in Island absolutkeinen Widerspruch gehört.Island kann Europa bereichern, Europa kann Islandbereichern. Das Land gilt als sehr umweltfreundlich. Wirkönnen gerade im Hinblick auf erneuerbare Energien,eine moderne Fischereipolitik und nachhaltiges Wirt-schaften unheimlich viel von ihm lernen.
Island ist bereits heute weitgehend in den Wirtschafts-und Rechtsraum der EU integriert. Das Land gehört zum
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3527
Veronika Bellmann
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Anwendungsbereich des Schengener Abkommens undnimmt am EU-Binnenmarkt teil. Rechtsstaatlichkeit undMarktwirtschaft sind gesetzt, ebenso die Achtung derMenschenrechte. Herr Thönnes hat es schon angespro-chen: Wenn man sich ein wenig mit der Geschichte Is-lands beschäftigt, dann erfährt man, dass dort bereits seitdem Jahr 930 Parlamente gewählt wurden. Damit hat dasLand eine sehr tief verwurzelte demokratische Tradition.Wir trauen diesem Land auch zu – das verlangen wirauch, wenn es zum Beitritt kommt –, dass es die Ziele undVerpflichtungen der politischen Union, also den gemein-schaftlichen Besitzstand, übernimmt. Deshalb sind An-passungen in den Bereichen Fischerei, kommerziellerWalfang – darüber wurde schon viel gesprochen –, Land-wirtschaft, Regionalpolitik, Kapitalverkehr und Finanz-dienstleistungen notwendig. Damit werden die Kopenha-gener Kriterien erfüllt; so sieht es zumindest dieKommission. Auf die Konvergenzkriterien trifft das al-lerdings nicht zu – Herr Silberhorn hat es schon angespro-chen –: Mit einer Schuldenstandsquote von 125 Prozentund einem Haushaltsdefizit von 14,4 Prozent ist das Landweit vom Euro-Raum entfernt.Deutschland hat den Ausbau der Beziehungen zwi-schen Island und der EU bis hin zu einer Vollmitglied-schaft immer begrüßt, nur waren die Isländer bisher sehrzurückhaltend. Diese Zurückhaltung löste sich erst mitBeginn der Finanz- und Wirtschaftskrise, die Island inziemliche Turbulenzen gestürzt hat. Lieber gestern alsheute wäre man dem Euro-Raum beigetreten und erstdann der EU. Als klar wurde, dass der Mechanismus ge-nau andersherum verläuft – erst der Beitritt zur EU, dannzur Währungsunion –, dass für Island im Beitrittsprozesstrotz Krise dieselben Kriterien, Bedingungen und Ver-fahren wie für jeden anderen beitrittswilligen Staat gel-ten, dass es keinen Beitrittsautomatismus geben würde,ebbte die Euphorie erheblich ab. Hinzu kamen schwie-rige Verhandlungen über Rückzahlungsforderungen Groß-britanniens und der Niederlande; dabei ging es umSchulden der isländischen Direktbank Icesave bei diesenLändern in Höhe von immerhin 3,9 Milliarden Euro.Die Isländer sind beim Thema EU-Beitritt zwischenPro und Kontra hin und her gerissen. Deshalb kommt esnicht nur auf die Verhandlungsweise der EU an, sondernauch darauf, ob und wie gut der isländischen Regierungdie Argumentation für einen EU-Beitritt in der Öffent-lichkeit gelingt. Ich denke, dass die isländische Minister-präsidentin nicht unbedingt schlagende Argumente an-wendet, wenn sie auf solche Darstellungen wie aufeinem Wandteppich im Kabinettssaal der isländischenRegierung zurückgreift: Hier hat sie einen Knüppel inder Hand und drischt dem Finanzminister – ich glaube,er ist von den Grünen – so lange auf den Kopf ein, bissich bei ihm zwölf Europasterne um den Kopf drehen.
Die Isländer werden in ein paar Jahren nach Ablaufder Verhandlungen in einem Referendum beweisen kön-nen, wie sie den EU-Beitritt sehen. Dann werden wir se-hen, ob wir mit der heutigen Einvernehmenserklärunghinsichtlich der Aufnahme von Beitrittsverhandlungendie Grundlage für einen gemeinsamen europäischenWeg gelegt haben oder ob das alles – jetzt nutze ich dochein Sprachbild mit dem Vulkan – ein Tanz auf dem Vul-kan gewesen ist. Ich hoffe es nicht. Ich hoffe vielmehr,dass die Isländer auch hier neue Wege gehen und an ihrewichtigste Industrie denken, an die Fischereiindustrie.Denn die Fischer – so sagt ein altes Sprichwort – suchenihre Fische dort, wo sie sind, und nehmen jeden Tag ei-nen neuen Weg, um sie ausfindig zu machen. So kann essein, dass der Weg von gestern nicht der Weg zu den Fi-schen von heute ist.Jeden Tag einen neuen Weg gehen und Mut zum Bei-tritt – das wünsche ich den Isländern und auch uns.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für die Angelegenheiten der EuropäischenUnion auf Drucksache 17/1464.Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-schlussempfehlung die Annahme des Antrags der Frak-tionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/1190mit dem Titel „Einvernehmensherstellung von Bundestagund Bundesregierung zum Beitrittsantrag der RepublikIsland zur Europäischen Union und zur Empfehlung derEU-Kommission vom 24. Februar 2010 zur Aufnahmevon Beitrittsverhandlungen“. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Fraktion DieLinke und Enthaltung der SPD-Fraktion und der FraktionBündnis 90/Die Grünen angenommen.Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-schlussempfehlung die Ablehnung des Entschließungs-antrages der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/1191zu der Abgabe einer Regierungserklärung durch die Bun-deskanzlerin zum Europäischen Rat am 25./26. März2010 in Brüssel. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-fraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmender SPD-Fraktion und Enthaltung von Bündnis 90/DieGrünen angenommen.Unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung emp-fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags derFraktion Die Linke auf Drucksache 17/1059 mit dem Ti-tel „Verhandlungen über die Aufnahme Islands in dieEuropäische Union eröffnen“. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Ko-alitionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion DieLinke bei Enthaltung von SPD und Bündnis 90/Die Grü-nen angenommen.
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3528 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(C)
(B)
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe dseiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Ent-schließungsantrages der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen auf Drucksache 17/1172 zu der bereits genanntenRegierungserklärung. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – DieBeschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-tionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegen-stimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und Ent-haltung der SPD-Fraktion angenommen.Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchsta-be e seiner Beschlussempfehlung, den Antrag der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/260 mitdem Titel „Rechte des Bundestags nach den Begleitge-setzen zum Vertrag von Lissabon wahren – hier: Einver-nehmen mit dem Bundestag vor der Aufnahme von Bei-trittsverhandlungen mit Island herstellen“ für erledigt zuerklären. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist einstimmig angenommen worden.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 6 a bis 6 c auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. KarlLauterbach, Dr. Marlies Volkmer, Elke Ferner,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDEffektivere Arzneimittelversorgung– Drucksache 17/1201 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Wirtschaft und Technologieb) Beratung des Antrags der Abgeordneten KathrinVogler, Dr. Martina Bunge, Dr. Ilja Seifert, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEFaire Preise für wirksame und sichere Arznei-mittel – Einfluss der Pharmaindustrie be-grenzen– Drucksache 17/1206 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungc) Beratung des Antrags der Abgeordneten BirgittBender, Fritz Kuhn, Maria Anna Klein-Schmeink,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENQualität und Sicherheit der Arzneimittelver-sorgung verbessern – Positivliste einführen –Arzneimittelpreise begrenzen– Drucksache 17/1418 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt esWiderspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das sobeschlossen.Ich bitte diejenigen Kolleginnen und Kollegen, diedieser Aussprache nicht bewohnen wollen, den Saal zuverlassen, damit die anderen ungestört folgen können.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner das Wort dem Kollegen Dr. Karl Lauterbach von derSPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir tragenheute unsere Vorschläge zur Verbesserung der Wirt-schaftlichkeit der Arzneimittelversorgung vor. Was istder Hintergrund unserer Vorschläge? Der Hintergrund istder, dass es in der Gesundheitspolitik in den letzten Wo-chen zu einem völligen Stillstand gekommen ist. In denletzten Wochen ist viel geredet worden, zum Teil auchsehr aufgeregt. Aber de facto ist seitdem nichts passiert.
Sie haben von einer großen Kopfpauschale gespro-chen, aber es gab kein Konzept. Frau Merkel hat Minis-ter Rösler gebeten, dieses Thema nicht immer wieder zuerwähnen. Herr Schäuble hat darauf hingewiesen, dasskein Geld da ist. Herr Söder hat ebenso wie HerrSeehofer darauf hingewiesen, dass kein politisches Man-dat vorhanden ist. Was ist übrig geblieben? Es gibt keinGeld, kein Konzept und keinen politischen Willen. Es istschlicht nichts übrig geblieben.
– Keine Sorge, zu Ihnen komme ich gleich.Sie haben dann über eine kleine Kopfpauschale philo-sophiert. Es war von einem Betrag in Höhe von 29 Eurodie Rede. Herr Rösler hat das halbherzig dementiert.Auch hierfür gilt: Es gab nie ein Konzept, es gab keinGeld und keine Einigkeit, gar nichts.
Das Einzige, was in der Diskussion übrig geblieben ist:Man hört aus Kreisen der Regierungskommission bzw.von Herrn de Maizière, dass der Beitragssatz nach derWahl in Nordrhein-Westfalen angehoben werden soll.
Eine Beitragssatzerhöhung ist alles, was nach diesemBuhei übrig geblieben ist. Das ist zu wenig.
Ich fasse dies, wie ich glaube, fair zusammen – auchwenn das eine Enttäuschung für jedermann und jedeFrau ist –, wenn ich sage: Es ist nichts passiert.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3529
Dr. Karl Lauterbach
(C)
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Welche Strategie könnte dahinterstecken? Die Strate-gie – sofern man überhaupt eine erkennt – könnte allen-falls die sein, dass man versucht, sich über die Wahl inNordrhein-Westfalen zu retten, um dann unbeliebte Vor-schläge zur kleinen, mittelgroßen oder großen Kopfpau-schale zu bringen. Sollte dies die Strategie sein, dann istsie nicht aufgegangen. Denn zu dem Zeitpunkt, zu demman eine solche Pauschale hätte beschließen können, hatman es nicht gewagt. Demnächst ist die schwarz-gelbeRegierung in Nordrhein-Westfalen weg, dann kann mansie nicht mehr beschließen.
In der Summe: Als man sie hätte beschließen können,hat man es nicht gewagt. Jetzt, da man möglicherweiseden Mut aufbringt, ist die Zeit abgelaufen. Hat es eineStrategie gegeben, so ist sie nicht aufgegangen.
Ich komme zum Handwerk: Es ist ja viel über das ge-sundheitspolitische Handwerkszeug der schwarz-gelbenKoalition geschrieben worden. Ich gehe einmal kurz aufden Vorschlag der kleinen Kopfpauschale ein, der halb-herzig dementiert wurde. Frau Flach, was käme dabeiheraus?
– Frau Flach, das ist auch für Sie lehrreich. Konzentrie-ren Sie sich.
Was hätten wir dann? Wir hätten einen Arbeitgeberbei-trag, wir hätten einen Arbeitnehmerbeitrag, wir hätteneine kleine Prämie, wir hätten einen Finanzausgleichzum Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeitrag, wir hätteneinen allgemeinen Steuerzuschuss, und wir hätten einenFinanzausgleich für die Prämie.
Wir hätten im Prinzip sieben Elemente auf der Einnah-meseite. Das wäre dann das komplizierteste Gesund-heitssystem in Europa. Das gesamte Buhei hätte nur denHintergrund, dass man den Arbeitgeberbeitrag festfrie-ren will. Es wäre ein reines Umlagesystem.
Ich bringe in Erinnerung: Die FDP hat uns über Jahrehinweg mit dem Hinweis genervt, dass die Gesundheits-politik nur überleben könnte, wenn ein kapitalgedecktesSystem eingeführt würde. Davon ist jetzt keine Redemehr.
Ich habe das immer für falsch gehalten. Alles, was wirjetzt hören, ist: Beitragssatzerhöhung. Außerdem kommtes vielleicht zu einem Umstieg von einem relativ einfa-chen und gerechten Umlagesystem zu einem komplizier-ten und ungerechten Umlagesystem. Das ist alles, wasSie uns bisher hier anbieten können.
– Herr Lanfermann, überlassen Sie es bitte uns, die Dingevorzubringen, die wir für relevant halten. Ich kommegleich zu den Arzneimitteln.
Wenn wir hier Handwerk und Stillstand beklagen, danntut Ihnen das weh. Sonst würden Sie sich nicht beschwe-ren, Herr Lanfermann.
Nun zur Pharmaindustrie: Der einzige brauchbareVorschlag ist die Einführung eines Zwangsrabattes von16 Prozent. Der kommt aber zu spät.
So werden die Preiserhöhungen, die wir derzeit be-obachten, einen Teil dieses Rabattes wegfressen. Das giltübrigens auch, wenn er rückwirkend eingeführt wird.
Wir erwarten, dass es zu Preisverhandlungen für neueArzneimittel kommt. Der Weg über IQWiG wäre einkompliziertes, bürokratisches Verfahren ohne Einspar-potenzial.Was hören wir also auch in diesem Bereich? Bürokra-tie pur ohne eine relevante Einsparung. Ihnen laufen dieBeiträge quasi davon. Im nächsten Jahr werden 15 Mil-liarden Euro fehlen. Wir hören nicht einen einzigen Vor-schlag, wie diese Deckungslücke geschlossen werdensoll.
Herr Kollege Lauterbach, darf ich Sie kurz unterbre-
chen? Der Kollege Lanfermann würde Ihnen gern eine
Zwischenfrage stellen.
Sehr gerne, Herr Lanfermann.
Vielen Dank. – Herr Kollege Lauterbach, ich gehe einwenig zurück: Sie haben gesagt, die Erhöhung des Ra-
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3530 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
Heinz Lanfermann
(C)
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batts auf 16 Prozent käme zu spät, weil wir gerade Preis-erhöhungen erlebt hätten. Man hätte das stattdessen ir-gendwie rückwirkend festsetzen müssen.Ist Ihnen bekannt, dass in unserem Eckpunktepapier,das mittlerweile sehr weit verbreitet ist, mit der Einfüh-rung einer Rabatterhöhung zum 1. August 2010, wie an-gekündigt, auch ein Preismoratorium festgelegt wird,das auf die Preissituation am 1. August 2009 zurückgeht,weil es insbesondere in den Monaten August und Sep-tember 2009 eine Reihe von Preiserhöhungen gegebenhat?
Das ist durchaus bekannt. Meine Belehrung bestand
lediglich darin,
dass zu Jahresbeginn infolge Ihrer Ankündigung Preiser-
höhungen stattgefunden haben und derzeit von den
Krankenkassen die erhöhten Preise bezahlt werden, die-
ses Geld also weg ist und gemäß Ihrem Vorschlag nicht
zurückgefordert werden soll. Bevor ich Ihnen Ihren eige-
nen Vorschlag erkläre, Herr Lanfermann, frage ich Sie:
Ist Ihnen klar, dass das Geld, das die Kassen in dieser
Periode aufgrund der Erhöhung in den Monaten Januar
und Februar mehr haben zahlen müssen, für die Kassen
verloren ist? Ist Ihnen klar, dass dieses Geld durch Ihren
Vorschlag nicht zurückgefordert werden kann? Dieses
Geld ist schlicht weg. Das läuft Ihnen durch die Hand.
Dieses Geld können Sie auch durch eine rückwirkende
Festlegung und ein Preismoratorium nicht festhalten.
Das sage ich dazu.
– Ich habe den Vorschlag ja verstanden, wie auch Sie,
Herr Spahn. Die Rückfrage kam ja von Herrn
Lanfermann, der Probleme hat.
Herr Lanfermann hat ja Probleme.
Es ist richtig, wir machen den gleichen Vorschlag. Ich
sage nur, dass selbst dieser Vorschlag – das ist der ein-
zige Vorschlag, den Sie bisher gemacht haben; daher
können wir nicht viel diskutieren – Ihnen nicht viel Geld
bringt. Sie stehen nachher mit leeren Händen da.
Ich komme zum Abschluss. Ich bringe noch ein letz-
tes Beispiel zum Handwerk. Da wird der Vorschlag ge-
macht, die Mangelversorgung bei Hausärzten dadurch zu
verbessern – das müssen Sie sich einmal vorstellen! –,
dass der Numerus clausus für Medizinstudenten abge-
schafft wird. Was zeigt das? Das zeigt die Vorurteile des
Ministers. Der Minister scheint zu denken, dass man für
die Hausarzttätigkeit nicht so schlau sein muss.
Darüber hinaus scheint er zu denken, dass diejenigen, die
einen guten Numerus clausus haben, keine guten Haus-
ärzte sein können.
Das sind die Vorurteile, die sich hier zeigen. Kein einzi-
ger zusätzlicher Hausarzt wird aufs Land kommen. Die
Zahl der Medizinstudenten bleibt gleich.
Jetzt kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Kollege
Lauterbach.
Ich komme zum Schluss. – Die Vorschläge, die wir
bisher gehört haben, bringen allesamt nichts. Bisher
herrscht Stillstand auf hohem Niveau. Man kann nur ab-
warten, bis sich die FDP wieder aus dieser wichtigen so-
zialpolitischen Disziplin zurückzieht.
Das Wort hat der Kollege Jens Spahn von der CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Kollege Lauterbach, bei aller Wertschätzung, Siehaben es jetzt geschafft, Ihre ganze Redezeit zu demThema „Effektivere Arzneimittelversorgung“, das Siehier beantragt haben, mit Belehrungen, zugegebenerma-ßen professoraler Art, zu füllen und dabei das Wort„Arzneimittel“ nur zweimal zu benutzen; ansonsten ha-ben Sie nichts, aber auch gar nichts zum Inhalt des An-trags, den Sie gestellt haben und den wir hier beraten,gesagt.
Ich glaube, Sie wissen auch, warum Sie Ihren eigenenAntrag nicht erwähnen: Er ist nämlich längst überholt
durch Regierungshandeln.
– Ja, Handeln.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3531
Jens Spahn
(C)
– Vor allem ist das mehr, als elf Jahre lang nur irgendet-was zu erzählen.Sie von Rot-Grün haben elf Jahre lang nacheinanderdie Gesundheitsministerin gestellt
und immer davon geredet, dass Sie jenseits von kurzfris-tigen Strukturveränderungen die Preisbildung von Arz-neimitteln in Deutschland langfristig verändern wollen,aber das haben Sie in elf Jahren nicht geschafft. Jetztsind Sie in der Opposition insgesamt, insbesondere SPDund Grüne, erschrocken, dass es nun gerade eine bürger-liche Koalition ist, die das, was Sie elf Jahre lang ange-kündigt, aber nicht geschafft haben, nun wenige Monatenach Regierungsantritt schafft.
Das ist Ihr eigentliches Problem.
Was werden wir tun? Erstens. Wir werden – darüberhaben Sie gesprochen; auch das wird in Ihren Anträgenerwähnt – kurzfristig Sparmaßnahmen ergreifen; das istnichts Neues, das hat es auch bei früheren Regierungengegeben. Sie haben das Defizit der gesetzlichen Kran-kenversicherung erwähnt: Im nächsten Jahr werden zwi-schen 10 und 15 Milliarden Euro erwartet. Das ist dasgrößte Defizit in der Geschichte der Krankenversiche-rung. Natürlich muss die Pharmaindustrie da einen Soli-daritätsbeitrag leisten. Das werden wir in Form eines ge-setzlich vorgeschriebenen Herstellerrabattes bewirken,der mit allen anderen Maßnahmen zusammen mindes-tens 1,5 bis 2 Milliarden Euro Sparwirkung allein für dasnächste Jahr bringen wird; diese Sparwirkung wird esauch in den Jahren darauf geben.
Das ist ein erster wichtiger Beitrag zu Einsparungen beiden Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung.Zweitens – jetzt kommt das Entscheidende, was beivergangenen Reformen auf dem Arzneimittelmarkt nichtgelungen ist – werden wir langfristig die Strukturen soverändern, dass nicht der Arzneimittelhersteller nachZulassung einseitig die Preise festlegt, die dann auch ge-zahlt werden müssen – so ist es bisher in Deutschlandüblich –, sondern die Preise in Zukunft an den tatsäch-lich wissenschaftlich nachgewiesenen Zusatznutzen vonArzneimitteln gekoppelt sein werden. Es wird nur fürtatsächlich bewiesenen Zusatznutzen in Zukunft mehrGeld geben.
Das ist das eigentlich Neue. Davon haben Sie elf Jahregeredet. Das werden wir jetzt tun. Sie stört, dass wir estun und nicht Sie, nachdem Sie dazu nicht die Kraft hat-ten.
Wir haben zudem eine Verhandlungslösung vorgese-hen. Das heißt, die Hersteller verhandeln mit den Kran-kenkassen, und zwar in genau vorgegebenen Zeitabläufenvon maximal 15 Monaten mit einer Schiedsamtslösung.Sie werfen uns vor, dass wir solche Instrumente ergreifen.Ich halte das unter den gegebenen Umständen für diebeste Lösung. Wir wollen nämlich keine staatliche Preis-festsetzung. Das ist nicht unsere Vorstellung vom Ge-sundheitswesen. Wir wollen Verhandlungslösungen, beidenen die Partner jeweils begründen müssen, welche Vor-stellung sie haben. Wir wollen aber auch nicht, dass sichdie Verhandlungen unendlich in die Länge ziehen. Des-wegen haben wir klare zeitliche Rahmen vorgegeben. Esist doch ein großer Unterschied, ob nach spätestens15 Monaten tatsächlich ein Verhandlungsergebnis vor-liegt oder ob es – so ist es heute – nach oben offene Preis-festsetzungen für die ganze Zeit des Patentes gibt.Eins ist uns dabei ganz wichtig, nachdem hier immerwieder von der sogenannten vierten Hürde bei der Zulas-sung die Rede ist: Wir in der christlich-liberalen Koali-tion legen großen Wert darauf, dass es dabei bleibt, dassPatientinnen und Patienten – auch in der gesetzlichenKrankenversicherung und nicht nur in der privaten Kran-kenversicherung – einen direkten Zugang zu neuen Me-dikamenten bekommen;
denn mit neuen Medikamenten ist auch die Hoffnungetwa von Krebspatienten, von MS- oder Parkinson-Pa-tienten – stellen Sie sich vor, es gäbe endlich ein Medi-kament gegen die Geißel Demenz – auf Leidminderungverbunden. Deswegen wollen wir weiterhin ab Zulas-sung, zum frühestmöglichen Zeitpunkt, einen Zugangder Patientinnen und Patienten zu dieser Versorgung.Auch das ist für uns ein wichtiger Punkt bei dieser anste-henden Reform.
Im Übrigen – ich bin gespannt auf die weiteren Re-den, auch auf die der Opposition –
fand ich es bemerkenswert, Herr Kollege Lauterbach,wie sprachlos Sie im Grunde in Bezug auf Ihren eigenenAntrag gerade sechs Minuten lang gewesen sind. Sie ha-ben über alles Mögliche geredet, über alles, was Ihneneingefallen ist, bis hin zur ärztlichen Versorgung imländlichen Raum. Das ist ein wichtiges Thema. Aber ichweiß nicht, was das in einer Debatte zur effektiven Arz-neimittelversorgung, die Sie selbst beantragt haben, ei-gentlich soll.Sie wissen ganz genau – das gilt im Übrigen auch fürdie Anträge der übrigen Oppositionsfraktionen; ich binschon gespannt auf Ihre Reden –,
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3532 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
Jens Spahn
(C)
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dass wir vieles von dem, was Sie fordern – zum Teilrichtigerweise –, nicht nur in Worten vor uns hertragen,sondern auch in Taten umsetzen werden.
Die ersten Dinge werden zum 1. August in Kraft treten;wir bringen sie jetzt in den Gesetzgebungsprozess ein.Der zweite Teil des Gesetzes, in dem es um die Eck-punkte geht, wird zur Sommerpause hin beraten undzum 1. Januar nächsten Jahres in Kraft treten.Genauso wie wir im Bereich der Arzneimittelpreisfin-dung langfristige Lösungen angestrebt haben und jetztauch finden werden – nicht nur kurzfristige, wie in derVergangenheit, sondern langfristige, nachhaltige Lösun-gen –, werden wir Lösungen bei der ärztlichen Versor-gung suchen und finden – es ist gut, dass die Debatte da-rüber begonnen hat –, und genauso nachhaltig werdenwir eine Lösung für die dauerhafte, breitere, gerechtereFinanzierung des Gesundheitswesens finden.
Wir machen das Schritt für Schritt. Wir machen esfundiert. Wir werden vieles von dem, was Sie über Jahreerzählt haben, jetzt mit christlich-liberalem Geist, aufchristlich-liberaler Basis umsetzen,
und zwar schneller, als es Ihnen lieb ist, weil damit dieganzen Überschriften, die Sie gerne in der Gegend he-rumposaunen, und damit wahrscheinlich auch mancheder vielen Debatten, die Sie hier Woche für Woche bean-tragen, ohne substanziell wirklich Neues vorzutragen,überflüssig werden.
Das ist das eigentliche Problem, Herr KollegeLauterbach: Sie reden, wir handeln.
Aber Sie wollen jede Woche aufs Neue reden und dasGleiche erzählen. Unsere Taten werden Ihren Worten – –
– Immerhin haben alle aufgepasst.
Jetzt habe ich es: Unsere Taten werden Ihre Worte Lügenstrafen. So wollte ich es sagen.
Alles Gute.
Das Wort hat die Kollegin Kathrin Vogler von der
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident, vielen Dank. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Nach so viel Humor will ich versuchen,wieder ein bisschen Ernst in diese Debatte zu bringen.Vor Ostern ist es ja laut durch den Blätterwald gerauscht:Der FDP-Gesundheitsminister will die Pharmakonzerneentmachten, hieß es. Die Branche jaulte natürlich zu-nächst auf. Aber der Bundesverband der Pharmazeuti-schen Industrie hat nur trocken kommentiert, da wolleder Minister die Unternehmen wohl zu etwas zwingen,was sie sich selbst ausgedacht haben,
weil das Verhandlungskonzept in weiten Teilen von denVerbänden vorgelegt worden war.
Uns als Parlament liegt das Konzept der Bundesregie-rung noch nicht vor. Aber nach dem, was bisher sodurchgesickert ist, lieber Kollege Spahn, scheint es füruns in einigen Punkten tatsächlich zustimmungsfähig zusein.
Das gilt insbesondere für die Kosten-Nutzen-Bewertungund die Orientierung an internationalen Vergleichsprei-sen; das steht auch in unserem Antrag. Diese Schrittesind alleine aber keineswegs ausreichend, um denSelbstbedienungsladen für die Pharmaindustrie zuschließen.
Solange die Pharmaunternehmen selbst die Preise festle-gen und über die Studien entscheiden, mit denen Nutzenund Risiken belegt werden, so lange werden wir die Arz-neimittelausgaben nicht in den Griff bekommen. IhrPreisstopp in Kombination mit einem zusätzlichenZwangsrabatt von 10 Prozent schafft zwar kurzfristig et-was Luft, aber dann setzen die Hersteller zukünftig diePreise für neue Produkte entsprechend höher an, zumalSie ihnen ja weiterhin für das erste Jahr oder für15 Monate gestatten wollen, diese Mondpreise zu kas-sieren. Außerdem – das haben wir gelernt – werden dieUnternehmen dafür zu sorgen wissen, dass dann entspre-chend mehr Medikamente verordnet werden. Dem müs-sen wir im Interesse der Versicherten einen Riegel vor-schieben.
Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit imGesundheitswesen, IQWiG, hat vor zwei Jahren in einerStudie festgestellt, dass nirgends in Europa so viel für
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3533
Kathrin Vogler
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Medikamente ausgegeben wird wie bei uns, gleichzeitigdeutsche Ärzte weniger Zeit für die Patienten aufwendenals ihre Kollegen im Ausland. Zwischen diesen beidenFakten gibt es einen Zusammenhang: Viele Patienten er-leben, dass sie im Wartezimmer sitzen müssen, währenddie freundliche Dame oder der freundliche Herr von derPharmaindustrie dem Doktor gerade die neuesten Medi-kamente vorstellt. Ärzte berichten, dass dies keine Infor-mationsgespräche sind, sondern dass es um knallhartesMarketing geht. Die Erfolge dieses Marketings zahlendie Kassen mit jährlich steigenden Arzneimittelausga-ben. In Polen zum Beispiel dürfen Pharmareferentennicht mehr während der Sprechstunden in die Arztpra-xen. Warum regeln wir das nicht ähnlich?
Das Deutsche Ärzteblatt stellt fest, dass die Pharmain-dustrie in großem Stil Studien vortäuscht, manipuliertoder unterdrückt, um Medikamente von zweifelhafterWirksamkeit und unzureichender Sicherheit an denMann oder die Frau zu bringen. Die großartige Innova-tionskraft der forschenden Pharmaindustrie, der Sie,Kollege Spahn, gerade wieder das Wort geredet haben,
ist in Wahrheit allzu oft eine Schimäre, die benutzt wird,um hohe zweistellige Umsatzrenditen zu rechtfertigen.
Wirkliche Neuerungen zum Nutzen der Patienten sindviel seltener, als die Lobbyisten uns glauben machenwollen.
– Es gibt welche; aber sie sind deutlich seltener, als im-mer behauptet wird.Wenn sich, wie die FDP sagt, Leistung wieder lohnensoll, dann müssen die Medikamentenpreise konsequentam Nutzen für die Kranken festgemacht werden.
Dafür sollten wir uns gemeinsam einsetzen.
Die Linke fordert außerdem ein verbindliches öffentli-ches Register für Arzneimittelstudien.
Damit hätten wir ein Instrument, um Manipulationen inder Bewertung neuer Therapien entgegenzuwirken.Vor weniger als einem Jahr hat ein gewisserDr. Philipp Rösler, damals niedersächsischer Wirt-schaftsminister, einen Beschluss unterzeichnet, in demdie Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneimitteln sehrkritisch gesehen und gefordert wird, die Interessen derpharmazeutischen Industrie nicht zu beschädigen. Erle-ben wir gerade einen echten Perspektivenwechsel, oderist das eher Wahlkampfhilfe für Ihren ParteifreundAndreas Pinkwart in NRW, auch um die Mehrheit imBundesrat für die schwarz-gelbe Kopfpauschale nicht zuverlieren?Eine kurze Bemerkung zu dem Antrag der SPD. Wirhaben bei dem Beitrag des Kollegen Lauterbach ebengemerkt, dass er dazu wenig zu sagen hatte.
Der Vorwurf, die jetzige Bundesregierung sei schuld anden Zusatzbeiträgen etlicher Krankenkassen, wird auchdurch Wiederholung nicht wahr.
Erinnern wir uns: Zusatzbeiträge, Praxisgebühr, Sonder-beitrag von 0,9 Prozent, Zuzahlungen, das alles wurde inIhrer Regierungszeit auf den Weg gebracht. Da könnenSie sich nicht aus der Verantwortung stehlen.
Was Ihnen jetzt zu den Arzneimittelpreisen einfällt,unterscheidet sich leider nur wenig von den Ideen ausdem Ministerium. Ihnen fehlt da wohl der Mut, die un-tauglichen Konzepte aus der eigenen Regierungszeitüber Bord zu werfen und noch einmal ganz neu nachzu-denken.Deswegen lade ich Sie dazu ein, den Antrag der Lin-ken zu unterstützen und mitzuhelfen, dass die Bedürf-nisse der Patientinnen und Patienten endlich über die In-teressen der Aktionäre gestellt werden.Herzlichen Dank.
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär
Daniel Bahr.
D
Herr Präsident! Meine Damen und Herren Abgeord-neten! Der Kollege Lauterbach hat den Eindruck er-weckt, als ob die steigenden Arzneimittelausgaben alleinnach dem Herbst 2009 entstanden seien. Jetzt wollen wiruns einmal kurz daran erinnern, welche Situation dieneue Bundesregierung, die neue Koalition im Herbst2009 vorgefunden hat: Die Ausgaben für Arzneimittelliegen mittlerweile deutlich über den Ausgaben für dieambulante Versorgung. Das ist in den letzten Jahren derVerantwortung der SPD für das Gesundheitsministeriumentstanden.
Im Herbst 2009 betrug das Defizit in der gesetzlichenKrankenversicherung 8 Milliarden Euro, und auch für2011 wird ein Milliardendefizit erwartet, das allerdings
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3534 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
Parl. Staatssekretär Daniel Bahr
(C)
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noch nicht beziffert werden kann. Auch dieses Defizit istin der Verantwortung der SPD für die Gesundheitspolitikentstanden.Wenn hier der Eindruck erweckt wird, die neue Bun-desregierung sei angesichts dieser Milliardenlasten untä-tig geblieben, sollte nicht in Vergessenheit geraten, dassder Steuerzahler eine Kraftanstrengung unternehmenmusste, damit das Defizit von 8 Milliarden Euro auf un-ter 4 Milliarden Euro gedrückt werden konnte, auch umeinen besonderen Beitrag für den Arbeitsmarkt, für dieSicherung von Arbeitsplätzen in Deutschland zu leisten.Das gerät bei der SPD immer ein bisschen in Vergessen-heit. Dabei ist das ein großer Beitrag, der hier zur Stabi-lität auch der Finanzierung im Gesundheitswesen geleis-tet wird.
Es kommt etwas Zweites hinzu. Die Koalition hat vonAnfang an keinen Hehl daraus gemacht, dass wir im Ge-sundheitswesen natürlich auch zu Einsparungen kom-men und alle Beteiligten im Gesundheitswesen einenBeitrag dazu leisten müssen. Lieber Herr KollegeLauterbach und Frau Kollegin Bender, die gleich nochdas Wort ergreifen darf, was uns von vergangenen Re-gierungen aber unterscheidet, ist, dass wir nach der Bun-destagswahl zu Beginn der Legislaturperiode eben nichtals Erstes ein kurzfristiges Kostendämpfungsgesetz ma-chen,
durch das kurzfristig irgendwo Geld eingespart wird undkurzfristig zusätzliche Instrumente eingeführt werden.Stattdessen sorgen wir für einen Dreiklang bei diesemArzneimittelpaket: Ja, wir brauchen kurzfristig wirk-same Maßnahmen, aber wir brauchen sie nicht alleine,sondern wir brauchen auch strukturelle Maßnahmen, dieuns helfen, die Arzneimittelausgaben zu begrenzen, undwir brauchen auch deregulierende Maßnahmen.Wir haben mittlerweile einen Instrumentenkasten vonüber 20 Instrumenten, mit denen der Arzneimittelmarktreguliert werden soll, und wir stellen doch gemeinsamfest, dass es uns nicht gelingt, die Arzneimittelausgabenso zu begrenzen, dass wir auf ein vergleichbares Niveauwie in anderen Ländern in Europa kommen. Mittlerweilehaben wir im Arzneimittelbereich Instrumente, die sichwidersprechen und bei denen auch keiner mehr durch-blickt. Dadurch wird die Versorgung vor Ort ganz klarbelastet. Der Arzt weiß gar nicht mehr, was er verordnensoll, weil er Angst hat, in Regress genommen zu werden.Der Patient blickt bei diesen vielen Instrumenten garnicht mehr durch und hat die Sorge, dass er das Medika-ment, das ihm hilft, gar nicht mehr bekommt.Deswegen wollen wir mit diesem Paket dazu beitra-gen, dass wir erstens kurzfristig zu Einsparungen für dieBeitragszahler kommen, dass wir zweitens Strukturellesauf den Weg bringen, um zu einer fairen Preisbildung zukommen, und dass wir drittens am Ende mit weniger In-strumenten auskommen, die aber natürlich wirksamerals die bisherigen Instrumente sein müssen. Das ist dasZiel, das wir mit dem Arzneimittelpaket verfolgen, daswir vorgelegt haben.
Es sind natürlich einige Vorschläge dabei, die zumTeil auch in Ihren Anträgen stehen, auch wenn Sie, HerrKollege Lauterbach, dazu anscheinend nicht reden, son-dern lieber mit anderen Debatten ablenken wollen. Ge-meinhin denkt man ja, dass man, wenn man als Regie-rung Vorschläge der Opposition aufgreift, Applaus dafürbekommt, aber wahrscheinlich haben Sie lieber ver-schwiegen, dass der eine oder andere Vorschlag von Ih-nen durchaus auch aufgegriffen wurde.
Schauen Sie sich einmal den kurzfristigen Bereich an.Mit dem erhöhten Herstellerrabatt auf 16 Prozent tragenwir dazu bei, dass das Niveau der Arzneimittelpreisedem Niveau in der Schweiz entspricht und damit kurz-fristig auch Einsparungen für die Beitragszahler entste-hen.Aber in einem wesentlichen Punkt unterscheiden wiruns: Die christlich-liberale Koalition will erreichen, dasses für Innovationen und neue Medikamente weiterhin ei-nen offenen Zugang zur Versorgung gibt. Wir wollenkeine vierte Hürde, das heißt, wir wollen verhindern,dass Arzneimittel, die neu zugelassen und wirksam sind,erst einen aufwendigen Prozess durchlaufen müssen, bissie in die Anwendung beim Patienten kommen. Wir wol-len, dass der offene Zugang für Innovationen erhaltenbleibt. Das sehen wir in unseren Vorschlägen auch wei-terhin vor.Dieser offene Zugang für neue Medikamente und fürInnovationen darf aber kein Freifahrtsschein für die ein-seitige Preisbildung der Pharmaunternehmen sein, son-dern wir wollen, dass die Pharmaunternehmen quasi ineiner Bewährungszeit nachweisen sollen und müssen,dass dieses neue Medikament einen wirklichen Fort-schritt darstellt und dass deswegen auch ein höhererPreis gerechtfertigt ist. Deswegen schaffen wir mit unse-rem Weg der fairen Verhandlungen zwischen den Kran-kenkassen und den Arzneimittelherstellern eine fairePreisbildung, bei der berücksichtigt wird, dass wirklicheInnovationen auch einen entsprechenden Preis verdie-nen, und gleichzeitig bringen wir die Interessen der Bei-tragszahler und die Interessen der pharmazeutischen In-dustrie in Einklang.
Deswegen ist es unser Ziel, mit den Eckpunkten imArzneimittelpaket dafür zu sorgen, dass den Menschenim Krankheitsfall die besten und wirksamsten Arznei-mittel zur Verfügung stehen, dass die Preise und die Ver-ordnung von Arzneimitteln wirtschaftlich und kostenef-fizient sind und dass verlässliche Rahmenbedingungenfür Innovationen, für die Versorgung der Versichertenund für die Sicherung von Arbeitsplätzen entstehen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3535
Parl. Staatssekretär Daniel Bahr
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Darüber hinaus wollen wir dafür sorgen, dass die Wahl-freiheit des Patienten gewährleistet ist.Sie sagen: Wenn es jetzt zu Rabattverhandlungen zwi-schen Arzneimittelherstellern und Krankenkassen käme,dann würden die Arzneimittelhersteller Mondpreisebzw. überhöhte Preise verlangen und sich das dann ab-handeln lassen. – Herr Lauterbach ist immer wieder mitdem Beispiel des Teppichhändlers durch die Medien ge-laufen. Ich hatte eigentlich erwartet, dass Sie dieses aus-wendig gelernte Beispiel heute wieder vortragen, aberwahrscheinlich reichte die Zeit nicht mehr. Ich wunderemich nun, weil die SPD diese Verhandlungen im Rah-men der Rabattverträge bei Generika einmal selbst miteingeführt hat. Dabei haben wir festgestellt, dass Ver-handlungen zwischen Krankenkassen und Arzneimittel-herstellern zu Einsparungen für die Beitragszahler füh-ren. Weil es aber nicht nur einseitig um Preisdrückengeht, wollen wir auch dafür sorgen, dass es einen fairenRahmen für Arzneimittelhersteller und Krankenkassengibt. Der beste Rahmen, der faire Bedingungen für Ver-handlungen gewährleistet, ist das Wettbewerbs- undKartellrecht. Das wollen wir auch im Arzneimittelbe-reich bei den Verhandlungen zwischen Krankenkassenund Arzneimittelherstellern vorrangig anwenden, weilwir faire Bedingungen für Krankenkassen und Arznei-mittelhersteller wollen.
Aber wir wollen auch Wahlfreiheit für die Versicher-ten gewährleisten. Sie haben die Rabattverträge ange-sprochen. Ich habe in der Praxis, zum Beispiel in derApotheke oder in vielen Gesprächen, erlebt, dass dasVerständnis und die Akzeptanz der Bürgerinnen undBürger groß sind. Sie finden es gut, wenn die Preisver-antwortung nicht länger beim verordnenden Arzt, son-dern bei den Krankenkassen und Arzneimittelherstellernliegt und wenn Krankenkassen in Verhandlungen mitArzneimittelherstellern günstigere Preise heraushandeln,wovon sie als Beitragszahler profitieren. Wenn ein Pa-tient bereit ist, die Differenz für ein teureres Arzneimit-tel zu zahlen, weil ihm dieses Mittel lieber ist – aus wel-chen Gründen auch immer; es können ganz individuelleGründe sein, etwa weil man es angenehmer findet oderbesser verträgt –, dann wollen wir ihm die Möglichkeitbieten, mit einer Aufzahlung dieses Medikament zu be-kommen statt jenes, das die Krankenkasse mit dem Her-steller in einem Rabattvertrag ausgehandelt hat. Dasträgt dazu bei, dass die Akzeptanz bei Einsparungen imArzneimittelbereich auch bei den Patienten und Bei-tragszahlern erhöht wird. Deswegen wollen wir eineMehrkostenregelung einführen.
Herr Kollege Bahr, erlauben Sie noch eine Zwischen-
frage des Kollegen Lauterbach?
D
Meine Redezeit ist abgelaufen, aber wenn der Präsi-
dent mir das gestattet, gerne.
Der Kollege Lauterbach hatte auch anderthalb Minu-
ten mehr.
D
Anderthalb Minuten? Ich bin gerade bei 20 Sekunden.
Herr Bahr, sehen Sie nicht die Gefahr, wenn diese Re-
gelung eingeführt wird und der Patient oder der Kunde,
wie Sie ihn sehen, das Medikament wechseln kann,
wenn er die Differenz zu dem im Rabattvertrag vorgese-
henen Mittel zahlt, dass dann der Apotheker und der
Arzt plötzlich einen Anreiz haben, das teuere Medi-
kament anzubieten? Der Patient oder Kunde kann
überhaupt nicht bewerten – machen wir uns doch nichts
vor –, welcher Hersteller beispielsweise den Wirkstoff
Diazepam am besten herstellt.
Plötzlich ist der Patient, der ältere Mensch, der auf
diese Mittel angewiesen ist, der Kunde. Wir haben mit
der Union gemeinsam die Naturalrabatte dichtgemacht,
weil wir diese Gefahr einer halblegalen Rückfinanzie-
rung, um es einmal so zu sagen, von Mitteln bei Apothe-
kern und Ärzten vermeiden wollten. Wir wollten als eine
Art Verbraucherschutz vermeiden, dass der gleiche
Wirkstoff teurer verkauft wird, nur weil der Patient nicht
in der Lage ist, zu erkennen, dass es der gleiche Wirk-
stoff ist und in der Regel keinen Unterschied macht. Da-
mit öffnen wir die Tür für eine Art der Abzocke, die
auch ein unethisches Geschäft ist.
Bitte.
D
Herr Kollege Lauterbach, das ist der Unterschied indem Gesellschaftsbild, das wir beide haben, der unstrennt. Wir gehen vom mündigen Patienten aus,
der auch im Gesundheitswesen für sich entscheidenkann, was er haben möchte.Der Anreiz besteht übrigens auch für den Patientenwie für den Apotheker und den Arzt. Wenn eine Kran-kenkasse mit einem Arzneimittelhersteller einen Vertraggeschlossen hat, dann ist es für den Patienten möglich,dieses Medikament ohne Zuzahlung zu bekommen. Erprofitiert davon, dass die Krankenkasse mit dem Arznei-mittelhersteller günstigere Preise ausgehandelt hat.
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Parl. Staatssekretär Daniel Bahr
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Nur dann, wenn der Patient ein anderes Medikamenthaben möchte – aus welchen individuellen Gründenauch immer er es für sich besser findet; wir können nichtimmer beurteilen, was besser ist; vielleicht empfindetder Patient es für sich als besser und ist bereit, diese Dif-ferenz zu tragen –, soll er nach der Mehrkostenregelungauch die Freiheit haben, das Medikament zu wählen, daser will.Das ist der Unterschied zwischen Ihrer und unsererHerangehensweise: Wir wollen den Patienten nicht ineine Standardversorgung pressen, die ihm vorgegebenwird, sondern wir wollen dem Patienten die Möglichkeitgeben, selbst zu entscheiden, welche Versorgung er wäh-len möchte.
Das ist ein unterschiedliches Gesellschaftsbild. Wirlassen uns davon prägen, dass der Patient und Bürgermündig genug ist und selbst die Entscheidung treffenkann, weil er sich informieren und beraten lassen unddas, was er für seine Gesundheit braucht, selbst viel bes-ser beurteilen kann.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Birgitt Bender von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn mandie Worte des Staatssekretärs hört und an die Überschrif-ten denkt, die der Minister produziert hat, dann könnteman meinen, der Gesundheitsminister der FDP habe sichvom Beschützer der Pharmaindustrie zum Rambo ge-wandelt, der das Preismonopol der Pharmaindustriebricht. Wenn man die Aufschreie der Frau Yzer vomVerband der Forschenden Arzneimittelhersteller hört,die sogleich den Untergang des pharmaunternehmeri-schen Abendlandes beschwört, dann könnte man fast ge-neigt sein, dem Minister auf die Schulter zu klopfen undihm zu sagen: Das machst du schon richtig.
Aber wir halten einmal Folgendes fest: Um die Phar-maindustrie muss man sich keine Sorgen machen. DieRenditen in diesem Bereich sind hoch genug. Wenn derChef von Boehringer Ingelheim via Interview in der FAZsagt, die Pläne des Ministers seien absolut unterstützens-wert, dann kann dies zweierlei bedeuten: Entweder hatein Pharmachef begriffen, dass es darauf ankommt, lang-fristig zu denken und die Forschung tatsächlich auf echteInnovationen auszurichten.
– Das wäre die gute Nachricht, Frau Flach.
Es kann aber auch bedeuten – so etwas muss die Opposi-tion immer im Auge haben –, dass er glaubt, dass denstarken Worten des Ministers im Gesetz vor allem heißeLuft folgen wird. Genau dies befürchten wir.Was ist denn die Aufgabe, meine Damen und Herren?Gesundheitspolitik muss Rahmenbedingungen setzen,die tatsächlich dazu führen, dass es Innovationen im Ge-sundheitswesen und insbesondere auf dem Arzneimittel-markt gibt, nicht aber Mondpreise, die nur dem Solidar-system schaden und den Menschen nichts nützen. Hiergibt es bei Ihren Eckpunkten einfach weiße Stellen.Ich nenne Ihnen einige Beispiele. Erstens. Bei Ihnensetzen die Arzneimittelhersteller im ersten Jahr weiter-hin völlig frei die Preise fest. Danach soll verhandeltwerden. Nur, was wird denn ein Hersteller tun, der sei-nen Aktionären verpflichtet ist? Er wird doch nach wievor versuchen, im ersten Jahr möglichst viel Gewinn indem Vertrauen darauf hereinzuscheffeln, dass ihm diesschon bleiben wird.
Dagegen, meine Damen und Herren, braucht man einMittel, und zwar eines, das die Grünen gar nicht erfun-den haben, weil es dieses Mittel in den Nachbarländernschon gibt: einen Regress. Wenn sich also bei der voll-ständigen Kosten-Nutzen-Bewertung herausstellt, dassder Preis im Verhältnis zum Mehrnutzen überteuert ist,dann muss der Hersteller regresspflichtig sein. Nur soverhindert man, dass im ersten Jahr nach wie vor Mond-preise genommen werden.
Außerdem muss die Bewertung des Nutzens bereitsparallel zum Zulassungsverfahren durchgeführt werden.Es nützt nichts, wenn man erst danach damit anfängt;denn nur so wird sich auch das Studiendesign in demSinne ändern, dass man in der Phase III nicht nur gegenPlacebos, sondern auch gegen die Standardtherapieprüft.
Nur damit wird man herausbekommen, was tatsächlichder Mehrnutzen ist.Zweitens. Nach Ihren Eckpunkten sollen die Herstel-ler jetzt ein Dossier vorlegen. Das ist zwar schön, aberda besteht die Gefahr, dass dies mehr oder weniger Ver-kaufsbroschüren werden. Ich brauche doch Qualität undechten Nutzen nicht nur für Medikamente, sondern auchfür die Unterlagen, die die Unternehmer vorlegen müs-sen. Dafür brauche ich ein verpflichtendes Studienregis-ter.
Wir müssen wissen, welche Studien sie überhaupt ma-chen. Außerdem brauchen wir zum Design der vorzu-legenden Studie verpflichtende Absprachen mit demGemeinsamen Bundesausschuss bzw. dem IQWiG. Daskann nicht ins Belieben der Hersteller gestellt sein.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3537
Birgitt Bender
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Drittens. Sie wollen auch in Zukunft nicht verhindern,dass es noch nutzlose oder im Vergleich zur Standardthe-rapie sogar schädlichere Arzneimittel geben kann, dieverordnungsfähig sind. Dagegen hilft nur eine Positiv-liste. Wir brauchen ein solches Instrument für Qualitätund Transparenz. Dies nützt den Patientinnen und Pa-tienten; davor dürfen Sie sich nicht drücken.
Frau Kollegin Bender, erlauben Sie eine Zwischen-
frage des Kollegen Dr. Lotter von der FDP-Fraktion?
Bitte.
Herr Lotter.
Verehrte Frau Kollegin Bender, sind Sie bereit, zur
Kenntnis zu nehmen, dass es für die Erstellung eines
Dossiers durchaus sehr bewährte Verfahren gibt – etwa
das sogenannte schottische Verfahren –, die eigentlich
sehr treffsicher sind – sie haben eine Treffsicherheit von
über 70 Prozent, was die Innovation angeht –, und dass
dies eigentlich ein Werkzeug ist, das sehr verlässlich und
sehr gut anzuwenden ist?
Darauf, dass Sie, Herr Kollege, das schottische Ver-
fahren anwenden wollen, werden wir zurückkommen;
denn bei der schottischen Entsprechung zum NICE ist es
so, dass das Arzneimittel erst dann zulasten des Gesund-
heitsdienstes verordnungsfähig ist, wenn tatsächlich die
Kosten-Nutzen-Bewertung abgeschlossen ist. Wenn Sie
das britische System wollen, dann werden Sie unsere
Unterstützung finden, allerdings nur dann, wenn Innova-
tionen tatsächlich für alle gleich zugänglich bleiben. Ich
glaube, da haben wir in Deutschland einen Vorteil, den
wir nicht abschaffen wollen.
Wir wollen eine vorläufige Nutzenbewertung, die zur
Verordnungsfähigkeit führt, aber eben auch eine endgül-
tige Kosten-Nutzen-Bewertung mit der Möglichkeit des
Regresses, wenn der bis dahin vom Hersteller festge-
legte Preis überteuert war.
Jetzt sage ich noch etwas zu den Rabattverträgen.
Was wir eben vom Staatssekretär gehört haben, hört sich
so wunderschön patientenverträglich an.
Man kann Geld mitbringen, und dann bekommt man ein
Arzneimittel, das nicht rabattiert ist. Sagen Sie doch
gleich, dass Sie die Rabattverträge abschaffen wollen.
Dann gibt es Arzneimittel erster und zweiter Klasse, und
die Patienten können Geld mitbringen. Dann aber nutzt
dem Hersteller sein Rabattangebot nichts mehr, weil er
die Grundlage dessen, nämlich den breiten Marktzu-
gang, nicht mehr realisieren kann. Weiterhin müssen Pa-
tienten, die ein bestimmtes Arzneimittel wollen, Geld
mitbringen. Das ist Zweiklassenmedizin. Das setzt die
Rabattverträge de facto außer Kraft. Dazu müssen Sie
stehen, und dann werden wir darüber streiten.
Aber wenn Sie in Sachen Rabattverträgen etwas tun
wollen, dann können Sie das tun. Da gibt es durchaus
Handlungsbedarf. Ich meine diejenigen Rabattverträge,
die von Originalherstellern über die Dauer der Patent-
laufzeit hinaus geschlossen werden, um den Wettbewerb
durch Generikahersteller zu verhindern. Da ist Hand-
lungsbedarf, und dafür würden Sie unsere Unterstützung
haben.
Ich sage: Zu Risiken und Nebenwirkungen Ihrer Vor-
schläge schauen Sie in die Nachbarländer oder fragen
Sie uns, die Opposition. Wir haben gute Vorschläge.
Das Wort hat jetzt der Kollege Stephan Stracke von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich dieDiskussionsbeiträge der Opposition zu den Fragestellun-gen höre, dann ist Gesundheitspolitik bei der christlich-liberalen Koalition am besten aufgehoben. Dafür brau-chen wir Sie und Ihre Ratschläge nur bedingt.
Die Gesundheitspolitik ist eine der wichtigsten gesell-schafts- und sozialpolitischen Herausforderungen derZukunft. Ist gerade in der ersten Hälfte des Lebens dieBildungspolitik von herausragender Bedeutung, so ist essicherlich die Gesundheitspolitik für die zweite Lebens-hälfte. Gerade in einer Situation, in der ein Versicherterzum Patienten wird, also in einer Lebenskrise – das sindhäufig extreme Krankheitsfälle –, will jeder von uns dieGewissheit haben, dass ihm geholfen wird, dass alles ge-tan wird, damit er eine Perspektive auf Heilung hat oderzumindest seine Lebenssituation verbessert wird. Dabeispielt die Arzneimittelversorgung eine nicht unerhebli-che Rolle. Ich möchte, dass auch in Zukunft jeder vonuns Zugang zu den besten und wirksamsten Arzneimit-teln hat. Notwendige Voraussetzung hierfür sind leis-
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3538 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
Stephan Stracke
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tungsstarke Unternehmen, die in Forschung und Ent-wicklung investieren; denn exzellente Arzneien setzenexzellente Forschung voraus, und da ist DeutschlandWeltspitze.
Ich will, dass wir hier Weltspitze bleiben. Ich will, dassForschung und Entwicklung hier stattfinden, und ichwill, dass es sich hier in Deutschland auch für Phar-maunternehmen lohnt, zu investieren.Wer neue, gute Ideen und Produkte auf den Marktbringt, soll auch einen größeren Gewinn als derjenigemachen können, der althergebrachte Produkte anbietet.Das Bessere soll sich durchsetzen. Das ist der Kernpunktunserer Arzneimittelpolitik, der Politik der christlich-liberalen Koalition. Wir wollen gute Leistung belohnenund nicht schlechte. Gutes Geld für gute Leistung. Soeinfach ist das. Wir wollen bei neuen Medikamenten inZukunft nur noch dann mehr bezahlen, wenn ein echter,tatsächlich bewiesener Zusatznutzen vorliegt, nicht al-lerdings für einen bloß scheinbaren, behaupteten.Genau diesen Weg beschreiten wir mit der Umset-zung der Eckpunkte, die die christlich-liberale Koalitionvorgelegt hat. Entscheidend hierbei ist für mich, dass wirdie Balance zwischen Innovation auf der einen Seite,Frau Bender, und Bezahlbarkeit auf der anderen wahren.Dazu sind die Dinge, die Sie ansprechen, etwa die Posi-tivliste, sicherlich nicht geeignet; sie gehören in die Mot-tenkiste der Staatsmedizin. Sie haben keine sinnvollenAnsätze und schaden insbesondere dem Vertrauensver-hältnis zwischen Arzt und Patient. Entscheiden solltenicht der Staat, sondern allein der Arzt im Zusammen-wirken mit den Patienten.
Wir müssen die Kostendynamik im Blick behalten.Nur dadurch schaffen wir es, dass sämtliche Patientin-nen und Patienten einen schnellen Zugang zu unserenfortschrittlichen Medikamenten haben.Ich will nicht verschweigen: Natürlich brauchen wirauch kurzfristige Entlastungsmaßnahmen. Dazu dientbeispielsweise, den Abschlag für Arzneimittel ohneFestbetrag von derzeit 6 Prozent auf 16 Prozent zu erhö-hen. Das kann allerdings gerade bei generikafähigenArzneimitteln ohne Festbetrag dazu führen, dass es hierzu einer Kumulation von Abschlägen auf 26 Prozentkommt. Das ist sicherlich eine unangemessen hohe Be-lastung. Da werden wir mit den entsprechenden Rege-lungen abhelfen. Damit tragen wir auch dem UmstandRechnung, dass die Preise im generikafähigen Markt imGegensatz zu den Preisen im patentgeschützten gesun-ken sind.Dies zeigt: Mit unseren Eckpunkten haben wir eineausgewogene Lösung gefunden, die den Interessen derPatienten genauso gerecht wird wie denen der Industrie.Diese Eckpunkte werden wir zügig umsetzen. Ich ladealle konstruktiven Kräfte ein, uns in diesem Prozess zubegleiten.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Bärbel Bas von der SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Herr Bahr hat vorhin soschön geschildert, in welcher Lage er die Kassen vorge-funden hat. Man kann durchaus sagen, dass die gesetzli-che Krankenversicherung in diesem Jahr in eine schwie-rige Lage kommt. Maßgeblich verantwortlich dafür sinddie seit Jahren steigenden Arzneimittelausgaben. DieseErkenntnis ist wahrlich nicht neu. Das war auch derStand der Dinge im letzten Jahr. Nicht umsonst habender Schätzerkreis und die Krankenkassen davor gewarntund Alarm geschlagen.Schauen wir uns das Ganze einmal an: Allein im Fe-bruar sind die Arzneimittelausgaben im Vergleich zumVorjahr um 5,5 Prozent gestiegen. Sie haben vorhin vonIhren Taten gesprochen. Was hat die Bundesregierungdenn getan, seit sie diesen Zustand im letzten Jahr vorge-funden hat?
– Ich komme jetzt auf Ihre Taten zu sprechen. – Sie wa-ren erst einmal vollauf damit beschäftigt, Steuerge-schenke an Hoteliers zu verteilen; das war die erste Auf-gabe, die Sie erledigt haben.
Außerdem haben Sie monatelang über die Kopfpau-schale gestritten, anstatt diejenigen Defizite zu beseiti-gen, die Sie angeblich vorgefunden haben.Was hat das Bundesministerium für Gesundheit imletzten Jahr getan? Man hat mit dem Institutsleiter desIQWiG erst einmal eine pharmakritische Stimme ausdem Weg geräumt.
Das war eine der Taten, die Sie im letzten Jahr begangenhaben; daran sollte man einmal erinnern. Anschließendsind Sie zu den Arzneimittelherstellern gegangen undhaben sich Tipps geholt, wie man die Ausgaben für Arz-neimittel senkt. Das finde ich auch sehr interessant.
Da machen Sie den Bock zum Gärtner.Dabei ist der Minister tatsächlich als – das muss manihm zugestehen – bissiger Tiger abgesprungen. Ich willan folgenden Satz von ihm erinnern – er hat mich schwerbeeindruckt –: „Wir wollen das Preismonopol der Phar-maindustrie brechen.“ Das Einzige, was Sie brechen,sind Ihre Wahlversprechen; das muss man einmal deut-lich sagen. Landen werden Sie mit Ihren derzeitigen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3539
Bärbel Bas
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Vorschlägen allenfalls als zahnloser Bettvorleger derPharmaindustrie. Von Ihren Vorschlägen wird nichts üb-rig bleiben.
Sie präsentieren uns immer wieder das gleiche Schau-spiel: Sie kündigen große Reformen an, und anschlie-ßend werden sie von Ihrem Koalitionspartner infrage ge-stellt. Grundsätzlich könnte man sich an diesemSchauspiel ergötzen, wenn man nicht wertvolle Zeit da-mit verschwenden würde.
Schlimmer noch: Sie haben der gesetzlichen Kranken-versicherung für das erste Halbjahr 2010 finanziellenSchaden zugefügt. Sie hätten Ihre Vorschläge schon zumEnde des Jahres 2009 umsetzen können.
Sechs Monate später kommen Sie dann mit der Erhö-hung des Herstellerrabatts – zugegebenermaßen ein gu-ter kurzfristiger Vorschlag – und einem Preismorato-rium. Das hätten Sie schon früher haben können. Siebrauchten aber sechs Monate, um sich das auszudenken.
Sie haben damit der gesetzlichen Krankenversicherungeinen finanziellen Schaden zugefügt, und der geht aufIhre Rechnung, den können Sie uns nicht anlasten.
Jetzt sage ich eins: Das passt Ihrer Koalition auch gutin den Kram; denn hinter diesem Zaudern und Zögernsteckt eiskaltes Kalkül – wenn Sie mich fragen. Sie wol-len das Problem der gesetzlichen Krankenversicherungeskalieren. Sie wollen, dass das umlagefinanzierte Sys-tem an die Wand fährt,
um Ihre fixe Idee einer Kopfpauschale umsetzen zu kön-nen.
Diese wollen Sie dann als Wundermittel für die gesetzli-che Krankenversicherung aus dem Hut zaubern.So blind werden die Menschen nicht sein; sie werdenauf diese Kopfpauschale nicht hereinfallen. Sie werdenspätestens am 9. Mai 2010 in Nordrhein-Westfalen vonden Wählerinnen und Wählern die Quittung dafür be-kommen.
Die SPD steht und kämpft auch in der Zukunft für diegesetzliche Krankenversicherung, weil sie uns nicht egalist. Uns ist auch nicht egal, dass die Ausgaben aus demRuder laufen
oder dass weitere Krankenkassen Zusatzbeiträge erhe-ben müssen. Wir wollen, dass die gesetzliche Kranken-versicherung auch in Zukunft ihren Versicherten wirk-same und innovative Medikamente bezahlen kann.Deshalb müssen die Qualität und die Wirtschaftlichkeitder Arzneimittelversorgung verbessert werden.Greifen Sie deshalb unsere Vorschläge für eine effek-tive Arzneimittelversorgung auf.
Das ist zum einen die Positivliste, das sind zum andereneuropäische Durchschnittspreise, und das ist die Teilungdes finanziellen Risikos zwischen Krankenkassen undPharmaindustrie bei innovativen Krebstherapien. Undzur Zulassung von neuen Arzneimitteln gehört eine Kos-ten-Nutzen-Bewertung. Das ist wichtig, und nur damitwerden Sie das Preismonopol tatsächlich brechen.Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Michael Hennrich für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Weshalb haben wir heute eine Debatte über dasThema Arzneimittelversorgung? Hintergrund: DieUnion hat gemeinsam mit der FDP im März 2010 einEckpunktepapier zur Arzneimittelversorgung vorgelegt,das bei den Versicherten, bei der Presse und bei denKrankenversicherungen begeisterten Widerhall gefun-den hat.
Frau Nahles kritisiert das Papier als Mogelpackung,taucht in die Versenkung ab und lässt ihre ArbeitsgruppeGesundheitspolitik damit allein. Hier stellt sich jetzt dieFrage: Was machen wir mit dem Eckpunktepapier? Sieschauen sich das scheinbar etwas genauer an, sehen, dassda gar nicht so viel enthalten ist, was Sie kritisierenkönnten, übernehmen das in vielen Punkten, garnieren esmit einer Positivliste und denken, irgendwie kämen Siedamit durch. In der Debatte heute haben Sie mehr oder
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3540 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
Michael Hennrich
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weniger überhaupt nichts Konkretes zu Ihrem Papier ge-bracht.
Es ist schon bezeichnend, dass die Partei der Linkensagt, dass einiges aus unserem Papier zustimmungsfähigsei.
Sie konnten sich dazu nicht durchringen.Auch die Grünen haben mit unserem Papier Schwie-rigkeiten gehabt. Sie hatten vier, fünf Wochen Zeit, sichdas Papier anzuschauen. Sie haben auch wenig gefun-den, was Sie kritisieren können
– das sage ich auch ganz offen –, haben aber zumindestinhaltlich einige Punkte in Ihrem Papier, über die wirhier in der Debatte und bei den Anhörungen sicher spre-chen können.Was ist der Hintergrund unseres Eckpunktepapieres?Wichtig ist uns als Union, dass wir eine qualitativ hoch-wertige Arzneimittelversorgung sicherstellen können,aber zu vernünftigen Preisen, und vor allem, dass wirauch verlässliche Rahmenbedingungen für Innovationenund Arbeitsplätze schaffen. Deshalb haben wir zu einemrelativ frühen Zeitpunkt unser Papier vorgelegt. Daswerden wir auch konsequent umsetzen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir steckenin einer großen Wirtschafts- und Finanzkrise. Die Auf-träge sind im Maschinenbau teilweise um 50 Prozent zu-rückgegangen. Wir haben eine hohe Zahl an Kurzarbei-tern. Wir sind beim Abbau der Arbeitslosigkeit nicht soweit vorangekommen, wie wir uns das erhofft haben. Alldas hat unmittelbare Auswirkungen auf das System dergesetzlichen Krankenversicherung. Deswegen dürfenwir die Frage, wie wir die Finanzprobleme lösen, nichtnur im Zusammenhang mit der Einnahmeseite debattie-ren, sondern wir müssen auch schauen: Was können wirauf der Ausgabenseite tun?Es war und ist vollkommen richtig, zunächst einmalbeim Thema Arzneimittel anzusetzen; denn die Arznei-mittelindustrie ist im Gegensatz zu vielen anderen relativgut durch die Krise gekommen. Schließlich liegen dieUmsatzrenditen einiger Pharmaunternehmen bei weitüber 20 Prozent. Daher ist es richtig, dass die Arzneimit-telindustrie ihren Solidarbeitrag leistet.
Ich will auch ganz klar sagen: Es geht hier nicht umPharma-Bashing. Es geht nicht darum, dass wir die Arz-neimittelindustrie an den Pranger stellen und sagen wol-len: Ihr seid an der schwierigen Situation im System dergesetzlichen Krankenversicherung hinsichtlich der Fi-nanzierung schuld. Arzneimittel leisten einen wesentli-chen Beitrag bei der Therapie und beim Behandlungser-folg. Ich verstehe nicht, wenn immer wieder kritisiertwird, dass der Arzneimittelblock der zweitgrößte Blockbei den Ausgaben im GKV-System ist. Vom Handaufle-gen alleine ist noch keiner gesund geworden. Wenn wirso weit sind, können wir sicherlich auch die Preise sen-ken. Das sage ich auch ganz klar in Richtung der Ärzte.Die Pakete und Maßnahmen, die wir auf den Weg brin-gen, sind im Einzelnen schon vorgestellt. Ich möchte da-rauf gar nicht weiter eingehen.Ich möchte zum Schluss meiner Rede zwei Aspekteganz gezielt aufgreifen.Bei dem ersten Aspekt geht es um Rabattverträge. Eshat immer geheißen, die Union sei für eine Abschaffungder Rabattverträge. Das war überhaupt nicht der Fall.Wir haben gesagt: Wir wollen, dass die Substitutions-pflicht aufgehoben wird.
– Das stimmt doch überhaupt nicht. Sie haben doch dieMöglichkeit, die Rabattverträge in Selektivverträge, inVersorgungsverträge und Ähnliches zu integrieren. Daswäre durchaus möglich gewesen. Wir aber haben uns mitder FDP geeinigt,
dass wir die Rabattverträge weiterentwickeln. Was wirwollen, ist, die Souveränität und Eigenverantwortungder Patienten zu stärken. Das ist ein ganz wesentlichesZiel.
– Darum brauchen Sie sich überhaupt keine Sorgen zumachen.Ich möchte einen zweiten Aspekt anbringen. Wir soll-ten das Thema Arzneimittelpreise und Arzneimittelkos-ten nicht nur im Zusammenhang mit der gesetzlichenKrankenversicherung prüfen. Es ist wichtig – das gebeich an das Ministerium weiter –, zu prüfen, ob es mög-lich ist, im Bereich der privaten KrankenversicherungEinsparungen zu erreichen. Wir werden uns in dennächsten Tagen und Wochen damit beschäftigen, wie wirdas erreichen können.Als Fazit bleibt am Ende übrig: Es gibt Kritik vonsei-ten der Pharmahersteller, und es gibt Kritik von HerrnLauterbach. Beides zeigt mir sehr deutlich, dass wir aufdem richtigen Weg sind.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 17/1201, 17/1206 und 17/1418 an die
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3541
Vizepräsidentin Petra Pau
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in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieaufsichtsrechtlichen Anforderungen an dieVergütungssysteme von Instituten und Versi-cherungsunternehmen– Drucksachen 17/1291, 17/1457 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
RechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla-mentarische Staatssekretär Hartmut Koschyk.
H
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Von Anfang an hat die Bundesregierung im Zuge der in-ternationalen Finanzmarktkrise darauf gedrungen, aufinternationaler Ebene zu Vereinbarungen zu kommen,mit denen auch die Vergütungssysteme für den Banken-und Versicherungsbereich in Angriff genommen werden.Die Bundesregierung hat auf solche Vereinbarungen ge-drungen. Der Finanzstabilitätsrat hat auf internationalerEbene Ergebnisse vorgelegt, die von den G 20, also den20 führenden Wirtschaftsnationen dieser Welt, gebilligtworden sind. Mit dem Gesetzentwurf, den wir dem Par-lament heute vorlegen, setzt die Bundesregierung dieseinternationalen Vereinbarungen, auf die sie gedrängt hat,in Rekordzeit in innerdeutsches Recht um.
Darüber sind wir uns im Klaren: Mit der Regulierungder Vergütungspraktiken im Finanzbereich muss eine we-sentliche Ursache der Finanzmarktkrise angegangen wer-den, nämlich die übermäßige Übernahme von Risikendurch die Finanzmarktakteure selbst. Die gängigen Ver-gütungsstrukturen im Finanzsektor – darüber besteht Ein-vernehmen – haben zur Verschärfung der Situation aufden internationalen Finanzmärkten beigetragen. Denneine Vergütungspolitik, die auf kurzfristigen Erfolg aus-gerichtet ist und die einseitigen Erfolg belohnt, ohneMisserfolg hinreichend zu sanktionieren, verleitet dazu,den langfristigen und nachhaltigen Unternehmenserfolgaus dem Blick zu verlieren.
Die Finanzmarktkrise hat deutlich gezeigt, dass diedurch eine verfehlte Vergütungspolitik gesetzten Fehlan-reize zu Risiken nicht nur für die Stabilität einzelner Un-ternehmen, sondern auch für die gesamte internationaleFinanzmarktarchitektur führen können. Deshalb setzenwir diesen internationalen Ansatz schnellstmöglich indeutsches Recht um. Bei dem Gesetzentwurf handelt essich um den letzten Schritt eines dreistufigen Maßnah-menpaketes der Bundesregierung.In einem ersten Schritt haben sich bereits im Dezem-ber 2009 acht große deutsche Banken und die drei größ-ten deutschen Versicherungsunternehmen freiwillig zurUmsetzung dieses internationalen Standards verpflichtet.In einem zweiten Schritt hat ebenfalls im Dezember2009 die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsauf-sicht durch zwei aufsichtsrechtliche Rundschreibennachgesteuert und den Instituten diese internationalenRegelungen zur Auflage gemacht. Jetzt geben wir demGanzen eine rechtssichere, gesetzgeberische Unterlage.Wir ändern durch das vorliegende Gesetz das Kreditwe-sengesetz und das Versicherungsaufsichtsgesetz. Bankenund Versicherungen werden nun angemessene, transpa-rente und auf eine nachhaltige Entwicklung ausgerich-tete Vergütungssysteme vorweisen müssen. Die näherenEinzelheiten werden wir durch zwei Rechtsverordnun-gen zeitnah regeln.Durch dieses Gesetz schaffen wir jetzt die Möglich-keit, dass aufgrund der wirtschaftlichen Situation einesFinanzinstituts – sei es eine Bank, sei es ein Versiche-rungsunternehmen – unangemessen hohe Bonuszahlun-gen unterbunden werden können. Hierzu wird die Bun-desanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht befähigt, imFalle der Unterschreitung von aufsichtsrechtlichen An-forderungen die Auszahlung variabler Vergütungsbe-standteile zu untersagen oder auf einen bestimmten An-teil des Jahresergebnisses zu beschränken.Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, Deutsch-land gehört mit der heute vorgelegten Umsetzung inter-nationaler Anforderungen zur führenden Ländergruppe.Dies hat eine Überprüfung durch den Finanzstabilitätsratergeben, deren Ergebnisse kürzlich veröffentlicht wur-den. Aber ich sage sehr deutlich: Was wir heute als Ge-setzentwurf vorlegen, ist nur ein Stein eines Mosaiks, zudem sehr viele Elemente gehören, die bereits in parla-mentarischer Arbeit sind. Auch die Bundesregierung ar-beitet daran und wird dem Parlament in Kürze dazu wei-tere Gesetzentwürfe vorlegen. Ich möchte an dieserStelle erwähnen, dass im Parlament zurzeit über dieNeuregelung der Aufsicht über die Ratingagenturen be-raten wird. Die Bundesregierung arbeitet an einem Insol-venz- und Restrukturierungsrecht für Banken, das wirmit einer Fondslösung koppeln wollen. Dabei ist eineBankenabgabe vorgesehen, mit der risikoadjustiert Vor-sorge für die Zukunft getroffen werden soll. Mit denEckpunkten, die wir in diesem Bereich vorgelegt haben,befinden wir uns im Vorfeld der IWF-Tagung in einembemerkenswerten internationalen Einklang, wie wir fest-stellen konnten.
Der IWF wird jetzt erste Vorschläge in Washington vor-legen, die in Richtung Abgabenlösung zielen. Die Bun-desregierung hat dazu schon ein Eckpunktepapier vorge-legt.
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3542 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk
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Heute wird ein wichtiger Stein in ein Mosaik einge-fügt, zu dem viele weitere Mosaiksteine kommen werden.Ich bitte um zügige Beratung dieses wichtigen Gesetzent-wurfs der Bundesregierung, mit dem internationale Stan-dards in Rekordzeit umgesetzt werden sollen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Manfred Zöllmer für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die „chronische Bonitis“ der Banker ist noch lange nichtverheilt. Britische Medien haben jetzt berichtet, dassGoldman Sachs für das erste Quartal Boni in Höhe von3,5 Milliarden Pfund auszahlen will. Zu Risiken und Ne-benwirkungen schauen Sie sich einfach einmal an, wasdie US-Börsenaufsicht SEC ermittelt hat. Die Börsen-aufsicht wirft Goldman Sachs vor, Anleger mit einem Fi-nanzprodukt getäuscht und um mehr als 1 Milliarde Dol-lar gebracht zu haben.
Wenn das richtig ist, dann war das ein kriminelles Ver-halten.
Investmentbanker werden mit extremen Gehälterneingekauft, um mit extrem riskanten Produkten extremeGewinne zu erwirtschaften. Das erinnert letztendlich anDrogendealer. Der Unterschied liegt einzig und alleindarin, dass deren Geschäft durch Gesetz verboten ist undihre Gewinnspannen nicht so hoch sind wie die auf demFinanzsektor.
Wir müssen feststellen: Die Superboni, die Gehaltsex-zesse gehen weiter. Im Jahre 2006 schütteten allein diegroßen Wall-Street-Banken Boni von umgerechnet rund25 Milliarden US-Dollar aus. Mit solchen Summenkönnte man ein Land wie Griechenland – immerhin ein10-Millionen-Volk – nachhaltig sanieren. Dies zeigt dieDimension und den Wahnsinn solcher Vergütungssys-teme.Die weltweite Finanzkrise, die inzwischen zu einerWirtschafts- und Staatenkrise wurde, hat nicht nur eineUrsache, sondern ist das Ergebnis verschiedener Fakto-ren. Ein ganz wichtiger Faktor in diesem Zusammenhangist ein vollkommen verfehltes Vergütungs- und Anreiz-system in der Finanzbranche, wie es in den vergangenenJahren praktiziert wurde. Dies sind Exzesse, die sich inkeiner Weise an individueller Leistung, beruflicher Er-fahrung, Ausbildung oder Können orientieren.Häufig argumentieren die Banker, geringere Gehälterseien im Kampf um die besseren Köpfe ein Nachteil. Siewürden die Dynamik der Branche bremsen und damitder ganzen Wirtschaft schaden. Eine solche Argumenta-tion ist falsch. Wissenschaftliche Untersuchungen zei-gen, dass ein Großteil der besten Universitätsabsolven-ten in diesen Bereich gehen und nicht dorthin, wo siegesellschaftlich Nützliches leisten könnten. Dies ist,volkswirtschaftlich gesehen, eine Verschwendung vonHumankapital. Es gibt überhaupt keinen ökonomischenGrund, diese Gehaltsexzesse zu akzeptieren.
Gier lässt sich ökonomisch nicht legitimieren.Die besonders aggressiven Vergütungssysteme derletzten Jahre haben Banker dazu angespornt, unvertretbarhohe Risiken zum Schaden der Gesamtökonomie einzu-gehen. Die schnelle Rendite und Superprofite konntennur durch ganz hohe Risiken im Eigenhandel, bei Ver-briefungen und durch exotische Produkte erreicht wer-den. Die Vergütung setzte an ganz vielen Punkten falscheAnreize, etwa bei den Finanzmarktgurus, die riskanteProdukte entwickelten, bei den Ratingagenturen, dieumso mehr verdienten, je mehr Papiere sie mit einer mög-lichst hohen Benotung ausstatteten, bei Anlageberatern,die ihren Kunden die vermeintlich sicheren und gutenProdukte untergeschoben haben, letztlich auch deswegen,weil sie hierfür Provisionen bekamen.Bei der G 20 und dem Financial Stability Board hatteman sich auf multilaterale Standards für verantwortungs-volle und transparente Vergütungssysteme geeinigt.Es ist richtig, dies nun verbindlich in Gesetzesform zugießen und nicht nur auf die vorliegende Selbstverpflich-tung der großen deutschen Banken und der größten Ver-sicherungsunternehmen zu vertrauen. Dieses Gesetz istdie Fortführung der neuen Vergütungsregeln für Vor-stände, die wir noch in der Großen Koalition mit demGesetz zur Angemessenheit der Vorstandsvergütung inKraft gesetzt haben.Es ist grundsätzlich richtig, wenn die Vergütungssys-teme angemessen und transparent gestaltet werden sollenund sich an einer nachhaltigen Unternehmensentwick-lung ausrichten, also nicht mehr nur den kurzfristigenGewinn zum Maßstab der Vergütung machen. Feste Ver-gütungsbestandteile müssen gestärkt, variable zurückge-drängt werden.Der Gesetzentwurf stärkt die Eingriffsrechte derBaFin. Sie soll die Möglichkeit erhalten, im Falle derUnterschreitung oder der drohenden Unterschreitung be-stimmter aufsichtsrechtlicher Kapitalanforderungen dieAuszahlung variabler Vergütungsbestandteile zu unter-sagen, auch bei Rechtsansprüchen aus bestehenden Ar-beitsverträgen. Dies ist richtig; denn es kann nicht sein,dass sich im Extremfall einzelne Personen üppige Bonigenehmigen, während die Allgemeinheit ein Institut mitSteuermitteln stützen muss.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3543
Manfred Zöllmer
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Mit diesem Gesetz wird die wichtige Aufsichtsfunk-tion der BaFin gestärkt; dies ist richtig so. Wir halten esauch für richtig, Aufsichtsratsmitglieder einzubeziehen.Variable Vergütungsbestandteile für Aufsichtsratsmit-glieder vermag ich sowieso nicht nachzuvollziehen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie michjetzt ein paar Worte zu den Schwachstellen des Gesetz-entwurfes sagen. Unserer Meinung nach müssen ange-messene Sanktionsmöglichkeiten bestehen, wenn einUnternehmen gegen das Gebot verstößt, solide Vergü-tungspraktiken zu implementieren. Sie fehlen aber.Darüber hinaus ist es notwendig, zu überlegen, wel-cher Personenkreis erfasst werden soll. Problematisch istes, wenn hier nicht differenziert wird. Das Problem istnicht der einfache Sachbearbeiter oder der Pförtner. DasProblem sind die Häuptlinge, nicht die Indianer. Hierwird nicht entsprechend differenziert. Außerdem möchteich daran erinnern, dass wir in Deutschland Tarifautono-mie haben. Wir müssen sie entsprechend stärken.Ich bin ferner davon überzeugt, dass sich mancherAnreiz eines abenteuerlichen Bonisystems erübrigenwürde, wenn wir deren steuerliche Absetzbarkeit be-grenzen und einschränken würden.
Wir Sozialdemokraten haben dies schon in der letztenLegislaturperiode gefordert, sind aber am Veto derUnion gescheitert.
Wenn wir die Absetzbarkeit einschränken würden, wür-den wir verhindern, dass der normale Steuerzahler die-sen Boni-Irrsinn mitfinanziert. Dies ist nicht vorgesehen;das bedauern wir sehr.
Insgesamt ist der vorliegende Gesetzentwurf einSchritt in die richtige Richtung. Wir sind es der ökono-mischen Stabilität unseres Landes schuldig, hinrei-chende Regeln zu schaffen, die die Finanzbranche ernst-haft an den Kosten der Krise beteiligt, neue wahnwitzigeSpekulationen und Krisen verhindert. Wir brauchen des-halb Vergütungssysteme, die nicht einen Irrwitz beför-dern, bei dem sich wenige auf Kosten von Millionenmaßlos bereichern. Wir sollten die Krankheit der „chro-nischen Bonitis“ im Finanzsystem dauerhaft ausrotten.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Björn Sänger für die FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Der italienische Dichter Dante Alighieri hat ein-mal gesagt:Der Weg zum Ziel beginnt an dem Tag, an dem dudie hundertprozentige Verantwortung für dein Tunübernimmst.Im Hinblick auf die Bewältigung der Finanzkrise befin-den wir uns am Beginn eines solchen Weges, der zu ei-ner neuen Verantwortungskultur führt; sie ist das Zieldieser christlich-liberalen Koalition.Ich möchte einen Blick auf die tragende Säule derRealwirtschaft werfen. Die tragende Säule der Realwirt-schaft ist der Mittelstand. Der Mittelstand arbeitet er-folgreich. Der Mittelstand muss nicht staatlich gestütztwerden. Er trägt vielmehr durch seine erfolgreiche Ar-beit dazu bei, die Basis für die Stützungsmaßnahmen,die in der Finanzwirtschaft notwendig geworden sind, zuschaffen.
Der Mittelstand haftet persönlich, Herr Kollege Binding,und das ist der Unterschied. Ich kenne viele Unterneh-men, die in der Rechtsform eines Einzelunternehmensarbeiten, obwohl ihre Mitarbeiterzahl im dreistelligenBereich liegt. Die Verantwortungskultur, die im Mittel-stand, im Kern unserer Wirtschaft, vorhanden ist, gilt es,auf die Finanzbranche zu übertragen.
Das ist das Ziel dieser Bundesregierung. Sie hat sichauf den Weg dazu gemacht. Das Kabinett hat die Ver-dopplung der Verjährungsfristen von fünf auf zehn Jahrebei Haftungsfällen in diesem Umfeld beschlossen. Bun-desministerin Leutheusser-Schnarrenberger bereitet hierentsprechende Maßnahmen vor. Aber es geht eben nichtnur darum, den Haftungsfall zu regeln, sondern auch da-rum, dafür zu sorgen, dass der Haftungsfall nach Mög-lichkeit erst gar nicht eintritt. Dazu haben wir diesen Ge-setzentwurf vorgelegt. Es geht noch um etwas anderes.Ich möchte Otto Fürst von Bismarck zitieren, der einmalgesagt hat: „Die Politik hat nicht zu rächen, was gesche-hen ist, sondern zu sorgen, dass es nicht wieder ge-schehe.“ Manchmal habe ich in diesem Haus ein biss-chen das Gefühl, dass es ein klein wenig um Rache geht,was natürlich aus der Emotionalität heraus verständlichist, uns aber nicht weiterbringt.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist – Herr Staatssekre-tär Koschyk hat es schon gesagt – ein Teil eines gesam-ten Maßnahmenkataloges, den wir hier einbringen. EinGesetzentwurf betreffend das Rating befindet sich in derBeratung. Zur Bankenabgabe liegen Eckpunkte vor. AmInsolvenzrecht wird gearbeitet. Schlussendlich wird der
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3544 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
Björn Sänger
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gesamte Finanzmarkt neu reguliert. Der vorliegende Ge-setzentwurf zielt auf den nachhaltigen Unternehmens-erfolg ab. Da möchte ich wieder an den Mittelstanderinnern. Das sind Familienunternehmen, die in Genera-tionen und nicht in Quartalen denken. Das macht sie sostabil und so erfolgreich.
Mit der vorgesehenen Transparenz bei den Vergü-tungssystemen sorgen wir dafür, dass die Eigentümer,die Aktionäre der Unternehmen – häufig sind es Aktien-gesellschaften –, ihrer Verantwortung nachkommen undgenauer schauen können, welches Vergütungssystem esin dem Unternehmen gibt, an dem sie beteiligt sind. Wirwollen positive und negative Vergütungsparameter, weildort, wo ein Bonus ist, logischerweise auch immer einMalus sein muss. Es gibt zudem die Eingriffsmöglich-keiten der BaFin, die die Rückzahlung von Boni veran-lassen kann, wenn ein Unternehmen in eine Schieflagegerät. Nicht, dass es so läuft wie auf der „Titanic“, wodie Musik bis zum Letzten gespielt wurde.Wir schließen mit diesem Gesetzentwurf an die gutePraxis des SoFFin an, durch den bei den Unternehmen,an denen der Staat beteiligt ist bzw. die gestützt wurden,Gehaltsgrenzen eingeführt wurden. Diese Grenzen wer-den – wir haben das an den Fällen gesehen, die jetzt auf-getreten sind – nachhaltig eingehalten. Wer sich als Ma-nager an diese Grenzen nicht halten möchte, hat auf demArbeitsmarkt sicherlich die Möglichkeit, sich einen an-deren Arbeitgeber zu suchen. Der Steuerzahler ist jeden-falls nicht dafür verantwortlich, dass hier exzessiv Bonigezahlt werden.Die einzelnen Regelungen dieses Gesetzentwurfswerden wir uns sicherlich im Zuge der Beratungen ge-nau anschauen müssen. Da teile ich das, was der KollegeZöllmer gesagt hat. Das Problem sind nicht die Indianer,sondern die Häuptlinge. Es geht nicht um den Bankbera-ter, der beispielsweise für den Abschluss einer Lebens-versicherung eine Provision erhält. Das Problem ist wei-ter oben, oberhalb der Schalterhalle, angesiedelt. Wirmüssen schauen, dass wir mit dem Gesetz nicht über dasZiel hinausschießen. Unser Ziel ist, die Verantwortungs-kultur in der Finanzbranche insgesamt zu stärken.Ich möchte mit einem Zitat von Antoine de Saint-Exupéry – Kollegin Kressl mag ihn sehr gerne – schlie-ßen: „Mensch sein heißt verantwortlich sein“. Wenn allein der Finanzbranche öfter daran gedacht hätten, gäbe esdie bestehenden Probleme wahrscheinlich nicht.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Harald Koch für die Frak-
tion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Entfesselung der Finanzmärkte und dieabsurd überhöhten Renditeansprüche waren und sindeine zentrale Ursache der momentanen Finanz- undWirtschaftskrise. Die frei vor sich hin flottierenden Fi-nanzmärkte haben Vermögenden Renditen im zweistelli-gen Bereich ermöglicht, wodurch die Umverteilung vonunten nach oben maßgeblich beschleunigt wurde. Ban-ker wurden durch Bonuszahlungen üppig belohnt, wennsie die vorgegebenen Renditeziele erreichten, was frei-lich nur durch hochriskante Geschäfte möglich war. Dawundert es nicht wirklich, dass viele Finanzmarkt-akteure nur noch von der Tapete bis zur Wand dachten,sprich: sich allein am kurzfristigen Profit orientiertenund jegliches Risikomanagement wegdrückten.Das Kasino war eröffnet, der unregulierte Zock an derTagesordnung. Eine Orientierung am gesamtwirtschaftli-chen Interesse war schlichtweg out. Für Manager, Vor-stände, Geschäftsleiter und Aufsichtsräte im Finanz- undVersicherungssektor gab es eine reine Win-win-Situa-tion. Gingen ihre Spekulationen auf, wurden sie mit ho-hen Boni beglückt. Bei Misserfolg wurden sie dadurchbelohnt, dass es kaum Sanktionsmöglichkeiten, keineMalusregelungen gab.Die Zeche müssen wieder einmal die Bürgerinnenund Bürger zahlen. Dies war und ist von dieser Regie-rung und der Vorgängerregierung genauso gewollt. Die-ser Zustand ist aber schon seit langem unhaltbar.
Denn so, wie es bislang läuft, ist es doch kein Wunder,dass langfristiges, soziales und nachhaltiges Wirtschaf-ten aus dem Blick gerät. Auch im Gesetzentwurf do-miniert trotz gegenteiliger Behauptungen die einzel-wirtschaftliche Betrachtung und nicht nachhaltigesvolkswirtschaftliches Handeln. Was wird sich durch die-ses Gesetz konkret ändern? Eine Bank, zu deren Ge-schäftsmodell es zum Beispiel gehört, auf den Nieder-gang anderer Unternehmen Wetten abzuschließen, wirdwohl nicht daran gehindert, so zu agieren wie bisher. DieBank ist nun höchstens ein bisschen mehr vor ihren eige-nen Managern geschützt. In der Öffentlichkeit glänzt sieim schönsten Lichte. Immerhin darf sie sich jetzt als„nachhaltig ausgerichtet“ bezeichnen. Das zieht Kundenund damit frisches Geld an.Wir werden uns bei der Abstimmung über diesen Ge-setzentwurf enthalten. Wir warten gespannt auf die kon-krete Ausgestaltung mittels zweier Rechtsverordnungen.Ich zweifle aber daran, dass die kommenden Einzelrege-lungen für klare Einschnitte sorgen und so die Verursa-cher der Krise nachhaltig zur Verantwortung gezogenwerden. Für mich gilt: Das Festgehalt muss die Grund-lage jeder Entlohnung sein. Boni müssen strikt begrenztwerden, zum Beispiel auf 10 Prozent vom Festgehalt.Die Linke betont: Die Vergütung höherer Lohngruppendarf nie zum Nachteil anderer Lohngruppen erfolgenund nie durch Personalabbau gegenfinanziert werden.
Meine Damen und Herren von der Regierungskoali-tion, meine Fraktion und ich vermissen bei Ihnen alles inallem ein schlüssiges Gesamtkonzept zur Bekämpfungder Finanz- und Wirtschaftskrise.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3545
Harald Koch
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Was Sie anbieten, sind kleine Mosaiksteinchen, mehrnicht. Die strukturellen Probleme, die vor allem durchdie Verselbstständigung der Finanzsphäre ausgelöst wur-den, lösen Sie damit allein jedenfalls nicht. Vielmehrbrauchen wir ein Gesamtpaket, das von der strikten Re-gulierung des Finanzsektors und seiner Unterwerfungunter gesellschaftliche Kontrolle über ein dauerhaftesZukunftsprogramm für Bildung, Verkehr und die Ener-giewende sowie zwei Millionen neuer Jobs bis hin zu ei-ner viel gerechteren Verteilung von Einkommen undVermögen reicht.Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Dr. Gerhard Schick für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Frage nach den Boni und den Finanzmärkten ist ei-gentlich ein Aufregerthema. Leute, die vor kurzem ihrInstitut in den Sand gesetzt haben und dazu beigetragenhaben, dass die Finanzmärkte wackeln, verdienen daranteilweise Millionen. Es sieht so aus, als wäre nichts ge-wesen.Wenn man diese Debatte verfolgt, hat man aber nichtden Eindruck, dass wir es mit einem Aufregerthema zutun haben. Woran liegt das? Das liegt daran, dass dieserGesetzentwurf im Endeffekt aus einem Satz besteht bzw.in einem Satz zusammengefasst werden könnte, der rela-tiv nüchtern ist: Die Finanzdienstleistungsaufsichtsbe-hörde darf die Vergütungsmodelle von Banken und Ver-sicherungen überprüfen. Das ist der Kern. Wesentlichmehr beschließen wir nicht, wenn wir dieses Gesetz ver-abschieden.
Es stellen sich verschiedene Fragen: Erstens. Ist esausreichend, nur dies zu tun? Der Staatssekretär hat ge-sagt, dass es auch noch anderes gibt, dass das nur einBaustein ist. Wichtig aber ist, dass zentrale Bausteine andieser Stelle von Ihnen nicht vorgesehen sind; HerrZöllmer sagte das schon. Wir sind der Meinung, dass wirauch steuerrechtlich etwas tun müssen, um Gehalts-exzessen vorzubeugen und zu verhindern, dass die All-gemeinheit daran beteiligt wird.
Zweitens kann man sich fragen: Warum verlagert derGesetzgeber praktisch alle konkreten Fragen in eine Ver-ordnung und überlässt sie dem Bundesministerium bzw.der Finanzdienstleistungsaufsichtsbehörde? Ich meine,dass wir konkrete Rahmenbedingungen, wie sie auf eu-ropäischer Ebene schon vereinbart worden sind, in dasGesetz hineinschreiben sollten und nicht alles auf denVerordnungsgeber übertragen, also dahin auslagern soll-ten, wo wir als Parlament nichts mehr zu sagen haben.Nachher, wenn es auf den Finanzmärkten wieder kracht,wird es heißen: Wer ist denn verantwortlich? Natürlichhaben wir in diesem Parlament eine Verantwortung.Deswegen sollten zentrale Regelungen auch im Gesetzstehen und nicht ausgelagert werden.
Vom Bundesrat wurden interessante Vorschläge in dieDiskussion eingebracht. Ich meine, es lohnt sich, dieseaufzugreifen. Der erste Vorschlag ist, dass wir uns nichtnur der Frage der Stabilität widmen – sorgen die Bonidafür, dass viel zu riskant gewirtschaftet wird? –, son-dern auch mit der Frage befassen, ob die Vergütungssys-teme – es geht also um das, was Einzelne in den Bankenverdienen – dazu beitragen, dass den Kunden die fal-schen Produkte verkauft werden und die Beratung falschläuft. Ich finde diesen Vorschlag sehr gut. Wir sollten ihndringend aufgreifen; denn wir wissen, dass nicht nurVerkaufslisten, sondern manchmal auch Anreizsystemedazu führen, dass ein Bank- oder Versicherungsberaterfalsch berät und die Kunden auf die falschen Produktezurückgreifen. Deswegen sollten wir diesen Vorschlagdes Bundesrates unbedingt aufgreifen.Der Bundesrat führt interessanterweise noch zwei an-dere Punkte an, die ich wichtig finde. Ich möchte anre-gen, auch diese aufzugreifen. Der eine Punkt ist, dasswir nicht-finanzielle Aspekte bei der Vergütung in denVordergrund stellen sollten, zum Beispiel die Kundenzu-friedenheit und die Mitarbeiterzufriedenheit. Der anderePunkt, den der Bundesrat anführt, ist die Frage: Bekom-men Männer und Frauen eigentlich gleich viel Geld fürgleiche Arbeit? Dass das nicht so ist, ärgert uns Grüneschon seit langem, und zwar bei uns nicht nur dieFrauen, sondern auch die Männer; das ist der Unter-schied.
Ich finde den Vorschlag, dieses Thema aufzugreifen, gut.Ich finde es sehr interessant, dass der Bundesrat vor-schlägt, das im Rahmen dieses Gesetzentwurfs zu be-handeln. Da sind offensichtlich auch ein paar unionsge-führte Länder dabei gewesen. Vielleicht gab es an derRegierung beteiligte Grüne, die sie dazu ermutigt haben.Das werden wir uns noch einmal anschauen.Auf jeden Fall sollten wir die Aspekte, die der Bun-desrat angeführt hat, aufgreifen und uns die Fragen stel-len: Reicht das Geplante aus? Wollen wir als Gesetzge-ber wirklich die gesamte Verantwortung für die wichtigeFrage der Vergütungssysteme auf den Verordnungsge-ber, das heißt auf die Administration, auslagern? Ichmeine: Nein. Das ist etwas, das wir als Parlament selbstzu leisten haben.Danke schön.
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3546 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
Dr. Gerhard Schick
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Das Wort hat der Kollege Ralph Brinkhaus für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das Ge-setz, dessen Entwurf der Staatssekretär gerade vorgelegthat, verpflichtet die Finanzdienstleister und die Versiche-rungen dazu, angemessene Vergütungsstrukturen vorzu-halten. Es ermächtigt die Aufsichtsbehörden, in Schiefla-gen die Auszahlung von variablen Vergütungen zuverbieten oder zumindest zu begrenzen. Wie Sie schon er-wähnt haben, werden damit Regeln zügig umgesetzt, dievom Financial Stability Board erlassen worden sind. Dasist zu begrüßen.
Es ist – auch das hat der Staatssekretär gesagt – ein Teileines größeren Projektes zur Sicherung der Regulierungdes Finanzmarktes, mit dem wir alle uns hier befassen.Wir können das jetzt beliebig ausführen. Wir könnenüber die Regulierung des Derivatemarkts, die Regulie-rung von Hedgefonds, die Neuordnung der Aufsichts-strukturen oder verschiedene Eigenkapitalregelungendebattieren. Aber Ihr Vorwurf greift ins Leere; denn eswird eine Menge getan. Das alles ist nicht immer in nureinem Satz zu erklären. Ich denke, dass es uns gut tunwürde, ein bisschen Seriosität in dieser Debatte zu ha-ben.
Dieser Gesetzentwurf ist notwendig, weil die Erfah-rungen in den letzten Jahren gezeigt haben, dass Unter-nehmenspolitik teilweise zu sehr auf kurzfristige An-reize gesetzt hat und dass Bonusstrukturen – im Übrigenfür Manager und Mitarbeiter – dazu geführt haben, dasseine erhöhte Risikobereitschaft in der Finanzdienstleis-tungsbranche bestand. Diese Risikobereitschaft warletztlich ein Grund für die Krise. Deswegen ist es richtig,dass wir trotz der Selbstverpflichtung der Finanzdienst-leister, zumindest der großen Finanzdienstleister, gesetz-liche Regelungen schaffen und für die Ermächtigungsorgen, die Einhaltung dieser Regelungen zu beaufsichti-gen.Wir nehmen mit Freude zur Kenntnis, dass dieser Ge-setzentwurf einhellig auf Zustimmung stößt. Wir neh-men aber auch die Kritik zur Kenntnis. Dies ist die ersteLesung; wir werden die Kritik ernst nehmen und aufgrei-fen. Natürlich müssen wir uns fragen, inwieweit das ei-nen Eingriff in die Tarifautonomie oder die Vertragsfrei-heit darstellt. Aber wir sind der Meinung, dass dieserEingriff aufgrund des volkswirtschaftlichen Schaden-potenzials durch falsche Vergütungssysteme gerechtfer-tigt ist.
Natürlich müssen wir fragen, ob es richtig ist, dass dieVersicherungen einbezogen werden. Wir sagen Ja, weildie Versicherungen auf ähnlichen Feldern wie die Fi-nanzdienstleister im Bankenbereich operieren. Wir sa-gen Ja, weil auch große Versicherungen wie AIG, diesystemisch sind, in den USA in Schieflage geraten sind.Wir sagen Ja, weil wir an der Diskussion über die Ein-malbeträge bei den Lebensversicherungen sehen, dassdie Grenze zwischen Banken- und Versicherungsaktivi-täten durchaus fließend ist. Wir nehmen auch die Kritikder Menschen ernst, die sagen, dass es zu viel oder zuwenig Regulierung gibt. Ich glaube, im vorliegendenGesetzentwurf ist ein guter Maßstab gesetzt worden, in-dem man die Begriffe „Nachhaltigkeit“ und „Angemes-senheit“ definiert hat. Diese werden in Form von Rechts-verordnungen noch umgesetzt werden müssen. Siewerden durch das Handeln der Aufsichtsbehörden gelebtwerden müssen. Wir als Union werden das eng beglei-ten. Insofern ist alles erst einmal gut.Die eigentliche Frage wird durch diesen Gesetzent-wurf aber nicht beantwortet. Sie lautet: Warum verdieneneinige Banken so viel Geld, dass sie solche enormen Ver-gütungen zahlen können? Warum hat die Deutsche Bankletztes Jahr einen Gewinn von rund 5 Milliarden Euro ge-macht hat, während Daimler einen Verlust von über2 Milliarden Euro gemacht hat? Warum beträgt das Durch-schnittsgehalt bei der Deutschen Bank 150 000 Euro undbei Daimler 54 000 Euro? Welches ist der Grund dafür,dass Spitzenleistungen im Technologiebereich anschei-nend geringer bewertet werden als im Finanzdienstleis-tungsbereich? Diese Frage sollten wir uns stellen. Ichweiß, dass diese Vergleiche nicht ganz fair und nicht ganzrichtig sind.
Aber wir müssen uns diese Frage stellen. Ich möchte ver-suchen – wohlgemerkt versuchen –, diese Frage zu beant-worten. Der erste Versuch einer Antwort lautet – das istuns allen bekannt –: Es gibt eine Entkopplung von Risikound Haftung. Es ist so, dass bestimmte Risiken letztend-lich vom Staat zu tragen sind, aber die Chancen bei denInstituten, insbesondere bei Fonds und Hedgefonds, blei-ben.Ich möchte auf einen weiteren Punkt eingehen undeine weitere Frage stellen, über die wir bisher nicht ge-nügend diskutiert haben. Das ist die Frage nach demWettbewerb. Wettbewerb kann nur funktionieren, wennes mehrere bzw. viele Marktteilnehmer gibt. Ist das imInvestmentbankingbereich der Fall, oder ist es nicht viel-mehr so, dass es nur wenige Marktteilnehmer gibt, dieden Markt unter sich aufteilen? Ganz ehrlich: Wer istdenn überhaupt noch in der Lage, hier in Deutschlandbzw. in Europa eine internationale Finanzierung, einenBörsengang oder eine Anleihe zu organisieren? Ganzehrlich: Wie viele Akteure gibt es noch, die auf dem De-rivatemarkt tätig sind und dort tatsächlich Marktmachtausüben? Ich sage: Wettbewerb ist wichtig. Wettbewerbbraucht vernünftige Strukturen. Wettbewerb führt zu fai-ren Preisen. Wettbewerb führt zu fairen Gewinnen, undWettbewerb führt auch zu fairen Vergütungsstrukturen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3547
Ralph Brinkhaus
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Das ist ein Punkt, den wir bedenken müssen. Das istauch deswegen ein wichtiger Punkt, weil dann, wenn esnur weinige Marktteilnehmer gibt, dies immer dazuführt, dass wir in die Too-big-to-fail-Problematik hinein-kommen. Ich kann uns nur aufrufen, diesen Gesetzent-wurf zum Anlass zu nehmen, ergebnisoffen – ich habenoch keine Lösung und bin noch nicht zu einem Ergeb-nis gekommen – darüber zu diskutieren, ob die Wettbe-werbsstrukturen im Bereich des Investmentbankingsvernünftig sind. Den Bereich der Privatkunden und derkleinen Geschäftskunden nehme ich davon ausdrücklichaus. In Deutschland gibt es im Gegensatz zu anderenStaaten nämlich zwei zusätzliche Säulen: die Volksban-ken und die Sparkassen. Ich glaube, hier ist der Wettbe-werb einigermaßen vernünftig organisiert.Zusammenfassend kann man sagen: Das Gesetz, des-sen Entwurf vorliegt, ist kein Allheilmittel. Es wird nichtverhindern, dass eine Finanzkrise 2.0 ausbricht. Wir wis-sen genau, dass wir viele Bausteine brauchen. Ich denke,dieses Gesetz ist ein solcher Baustein, ein vernünftigerBaustein. Die Regulierung in diesem Bereich wird dazubeitragen, dass der Finanzmarkt ein wenig sicherer wird,nicht nur für die Anleger, sondern auch für den Steuer-zahler. Deswegen wird die Union dieses Gesetzesvorha-ben konstruktiv und zügig vorantreiben.Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf den Drucksachen 17/1291 und 17/1457 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das
ist nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlos-
sen.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 8 a und 8 b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Brigitte
Pothmer, Fritz Kuhn, Katrin Göring-Eckardt,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Teilhabe und Perspektiven für Langzeitar-
beitslose mit einem verlässlichen Sozialen Ar-
beitsmarkt schaffen
– Drucksache 17/1205 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Klaus
Ernst, Matthias W. Birkwald, Heidrun Dittrich,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Gute öffentlich geförderte Beschäftigung –
Eine Alternative zu Langzeiterwerbslosigkeit
und Ein-Euro-Jobs
– Drucksache 17/1397 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Brigitte Pothmer für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Sie allewerden sich daran erinnern, dass sich die Arbeitsuchen-den in den letzten Monaten eine Menge haben bieten las-sen müssen. Sie mussten sich als faule und dekadente So-zialschmarotzer beschimpfen lassen. Ich finde es wirklichunerträglich, dass sowohl Ministerpräsident Koch alsauch Vizekanzler Westerwelle ihre gesammelten Vorur-teile ausgebreitet haben, um Arbeitslosengeld-II-Bezie-her zu diffamieren.
Aber um das gleich zu sagen: Auch die Eingebung einerBerliner Grünen-Abgeordneten finde ich hundsmisera-bel.Grundsätzlich muss klar sein, dass eines gilt: Der so-ziale Arbeitsmarkt ist ausdrücklich nicht dafür da, ver-meintlich faule Arbeitsuchende auf Trab zu bringen. Werhier diesen Zungenschlag hineinbringt, dem geht es umalles Mögliche, aber nicht um die Betroffenen. Wenn esdarum geht, Zwangsdienste zu etablieren, damit Men-schen davon abgehalten werden, in einer Notsituationihre Rechte und Ansprüche geltend zu machen, dannkann ich nur sagen: Das ist eine infame Strategie. DieseStrategie werden wir Ihnen nicht durchgehen lassen.
Fakt ist erstens: Derzeit fehlen in Deutschland unge-fähr 5 Millionen Vollzeitarbeitsplätze. Fakt ist zweitens:Fast alle Arbeitslosen sind absolut erpicht darauf, einenJob zu finden und so schnell wie möglich aus dem Ar-beitslosengeld-II-Bezug herauszukommen. Fakt ist drit-tens – das sage ich denjenigen, die immer von Zwangs-maßnahmen sprechen –: Es gibt derzeit bei weitem nichtgenügend Arbeitsplätze im sogenannten gemeinnützigenSektor. Die Nachfrage ist um ein Mehrfaches höher alsdas Angebot.In genau dem Moment, als der Vizekanzler lautstarkdafür plädiert hat, jeden Arbeitslosen zu irgendeinem ge-meinnützigen Job zu zwingen, hat die Bundesarbeits-ministerin die wenigen Programme, die es für Langzeit-arbeitslose im gemeinnützigen Sektor überhaupt gibt,abgeschafft oder ausgetrocknet.
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Brigitte Pothmer
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Das Programm „Kommunal-Kombi“ ist vollständig ab-geschafft worden, und das Programm „JobPerspektive“wird genau bei den Jobcentern beschnitten, bei denen esbesonders gut funktioniert hat. Das alles geht bei dieserBundesregierung zusammen: Der Vizekanzler brüllt lautund fordert einen sozialen Arbeitsmarkt, und die Bun-desarbeitsministerin stellt diesen parallel dazu ein. Daslassen wir Ihnen nicht durchgehen.Wir wissen, dass ungefähr 400 000 Langzeitarbeits-lose unter den derzeitigen Bedingungen kaum eineChance haben, auf dem ersten Arbeitsmarkt Arbeit zu fin-den. Ich frage Sie: Welchen Sinn soll es machen, dieseMenschen immer wieder in das Auf und Ab von Maßnah-mekarrieren zu zwingen? Sechs Monate einen 1-Euro-Job, dann wieder arbeitslos, dann vielleicht eine Trai-ningsmaßnahme, dann wieder arbeitslos, das demotiviertdie Betroffenen. Das ist teuer. Das ist schlecht und bringtder Gesellschaft gar nichts. Was wir brauchen, ist ein ver-lässlicher zweiter Arbeitsmarkt, der den Langzeitarbeits-losen tatsächlich eine Perspektive gibt. Die Grünen habeneinen entsprechenden Vorschlag vorgelegt. Es geht umsinnstiftende Beschäftigung. Es geht um zusätzliche Be-schäftigung und um Beschäftigung, von der die Gesell-schaft profitiert. Das Ganze muss nach dem Prinzip derFreiwilligkeit organisiert sein. Es muss dezentral, kom-munal organisiert sein, und es muss sich um sozialversi-cherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse handeln.Wir müssen weg von diesem Programm-Hopping. Wirbrauchen in diesem Bereich eine verlässliche Basis.
Kollegin Pothmer, achten Sie bitte auf die Zeit.
Ununterbrochen, Frau Präsidentin.
Dann sollten Sie Schlussfolgerungen ziehen.
Ich komme sofort zum Schluss. – Wir haben Ihnen
mit dem Aktiv-Passiv-Transfer einen Vorschlag ge-
macht, wie man diese Beschäftigungsverhältnisse finan-
zieren kann. Damit wird die Parole, Arbeit statt Arbeits-
losigkeit zu finanzieren, endlich mit Inhalt gefüllt. Ich
finde, die Betroffenen haben einen Anspruch darauf, ihre
Motivation, ihre Talente und ihr Engagement einzubrin-
gen. Ich hoffe auf Ihre Unterstützung.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat die Kollegin Heike Brehmer für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Grünen möchten, wie aus ihrem Antrag hervorgeht,dass für gute öffentlich geförderte Beschäftigung gesorgtwird. Meine Damen und Herren von den Grünen, alsErstes müssen wir feststellen, dass Sie während IhrerRegierungszeit die Weichen offenbar nicht richtig ge-stellt haben. Sonst hätte nicht eine ganze Generation mitLangzeitarbeitslosigkeit so viel Erfahrung machen müs-sen. Sie hätten bei der Gesetzgebung doch die Vorgabemachen können, dass jungen Menschen nach einer be-stimmten Frist eine Tätigkeit zugewiesen werden muss.Sie haben das unbestimmt gelassen, mit der Folge, dassviele junge Menschen in der Langzeitarbeitslosigkeit ge-landet sind.Wir werden uns verstärkt um die Alleinerziehendenkümmern. Es ist unsere Arbeitsministerin, die die Al-leinerziehenden aus der Langzeitarbeitslosigkeit heraus-holen wird.
– Einzelheiten werden morgen hier im Haus erörtert.Für die christlich-liberale Koalition ist klar: Nach un-serem christlichen Menschenbild hat Arbeit einen hohenStellenwert. Wir wissen, wie wichtig Arbeit für denMenschen ist. Was uns von den Grünen und den Rotenjeder Couleur unterscheidet, ist von zentraler Natur: Wirwollen die Menschen an Arbeit heranführen und – wannimmer möglich – in den ersten Arbeitsmarkt integrieren.Dabei sind wir uns im Klaren, dass es Menschen gibt,die den gesamten Weg nicht schaffen. Für diesen Perso-nenkreis werden wir Wege finden, dass sie es zumindestin eine öffentliche geförderte Beschäftigung schaffen.Wir wollen die Menschen aber nicht in den Kreislaufzwischen Arbeitslosigkeit und öffentlich geförderter Be-schäftigung schicken, nach dem Motto: per Drehtüref-fekt von der Arbeitslosigkeit in die nächste öffentlicheBeschäftigung und zurück.
Diesen Kreislauf wollen wir durchbrechen.
Ihnen von den Grünen ist das leider nicht gelungen.Wir wollen nicht so viel Lehrgeld zahlen, wie Sie es mitder Ich-AG getan haben. Sie haben viel Geld, das wirheute bräuchten, ohne gute Ergebnisse verbraten.Seit 2005 sind durch die unionsgeführte Bundesregie-rung viele Programme zur Förderung der Langzeit-arbeitslosen auf den Weg gebracht worden, wie zumBeispiel der Beschäftigungszuschuss für Langzeitar-beitslose, der Jobbonus, die JobPerspektive und der Qua-lifizierungskombi zur Verbesserung der Qualifizierungvon jüngeren Menschen unter 25 Jahren mit Vermitt-lungshemmnissen.
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Heike Brehmer
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Für den Monat März 2010 hat die Bundesagentur fürArbeit mitgeteilt, dass die Zahl der Arbeitslosen, welchelänger als zwei Jahre ohne Job sind, auf circa 405 000gesunken ist.
Das sind im Vergleich zum Vorjahresmonat 12,6 Prozentweniger. Die Wirtschaftsweisen hatten uns angesichtsder größten Wirtschafts- und Finanzkrise weitausschlechtere Prognosen erstellt.
– Das können auch Sie ruhig einmal zur Kenntnis neh-men.
Das zeigt uns, dass die bisherigen Maßnahmenpaketezur Bekämpfung der Krise durch die unionsgeführtenBundesregierungen richtig eingesetzt wurden und Wir-kung zeigen.
Mit dem Beschäftigungschancengesetz werden wirjetzt den nächsten Schritt gehen, und wir werden denMut haben, das Konzept der Bürgerarbeit, das Sie immerin die Ecke gelegt haben und das für Sie immer einRandthema war, umzusetzen. Wir werden die Bürgerar-beit aktivieren. Ich sage Ihnen voraus: Wenn die Jobcen-ter nach jahrelangen Unsicherheiten endlich funktionie-ren, dann werden wir uns mit der Bürgerarbeit hier imBundestag befassen.Das Instrument der Bürgerarbeit wurde vom sachsen-anhaltinischen Wirtschaftsminister Dr. Reiner Haseloffund der Regionaldirektion der Bundesagentur für ArbeitSachsen-Anhalt-Thüringen entwickelt. Die Bürgerarbeithat sich in Sachsen-Anhalt als ein erfolgreiches Modellzur nachhaltigen Reduzierung der Langzeitarbeitslosig-keit bewährt. Durch das Konzept der Bürgerarbeit sollenvorrangig Langzeitarbeitslose in eine sozialversiche-rungspflichtige Beschäftigung vermittelt werden, die aufdem ersten Arbeitsmarkt kaum eine Chance haben. Dasalles geht allerdings nicht zum Nulltarif. Daher wirdnicht alles sofort gehen, dafür aber seriös.
Es gibt durchaus auch Erfolgsmodelle, wie zum Bei-spiel ein kommunales Modell im Landkreis Marburg-Biedenkopf. Im Rahmen des dortigen Modellprojektsmit einem ganzheitlichen Beratungsansatz wurden Lang-zeitarbeitslose gestärkt und aus der sozialen Isolation he-raus und zurück in die Gesellschaft geführt. Zusätzlichwurden arbeitsplatz- und existenzsichernde Beratungs-angebote geschaffen, die mittelfristig die Überwindungder Hilfebedürftigkeit zum Ziel haben. Besonders inte-ressant im Hinblick auf Ihre Anträge ist die Erfolgsquotebei den über 50-Jährigen. Viele ältere Arbeitslose konn-ten in den ersten Arbeitsmarkt integriert werden.
Schauen Sie sich an, was es in den letzten Jahren mitden Ferienjobs für Kinder von Arbeitslosengeld-II-Emp-fängern auf sich hatte.
Was war das für ein Theater! Nichts ging; in diesemSommer geht es. So verhindert man eine Hartz-IV-Kul-tur.
So stellen wir nun die Weichen im Interesse der Men-schen in unserem Land. Dass Ihnen das nicht gefällt,kann ich sehr gut verstehen.
Mit der Umsetzung des Beschäftigungschancengesetzeswerden sich die Arbeitsmarktchancen für Langzeitar-beitslose, für Alleinerziehende und für Ältere über 50 inder nächsten Zeit weitgehend verbessern.Meine lieben Kollegen von den Linken und von denGrünen, es wäre deshalb schön, wenn Sie allein schonaus diesem Grund das Beschäftigungschancengesetz,welches unsere Ministerin morgen hier vorstellen wird,unterstützen würden.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Michael Groschek für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn hier angekündigt wird, dass morgen ein Entwurfeines Beschäftigungschancengesetzes eingebracht wird,dann wird uns und den Betroffenen angst und bange.Denn wir erinnern uns an das Wachstumsbeschleuni-gungsgesetz. Es droht Ungemach, heißt das auf Deutschgesagt.
Wir sollten uns an den Ausgangspunkt der heutigenDiskussion erinnern. Das war das Rezept „Mit Demago-gie gegen Demoskopie“. Das war der Versuch des FDP-Vorsitzenden, der im Nebenamt Außenminister ist, denfreien Fall in Umfragen umzukehren.In dieser Stunde hätten wir uns im Sinne der Betroffe-nen sehr gewünscht, liebe Kollegin, wenn ein Sturm derEntrüstung, gesteuert durch Ihr christliches Menschen-bild, auch durch die CDU/CSU gegangen wäre. Wasaber war? Schweigen im Walde. Das macht uns betrof-fen.
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3550 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
Michael Groschek
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Was war unsere Antwort? Unsere Antwort war der so-ziale Arbeitsmarkt als freiwillige Inanspruchnahme ei-nes sozialen Rechts auf Integration statt als angedrohteZwangsmaßnahme. Das unterscheidet uns. Ich will Ih-nen eines zugutehalten: Viele von Ihnen werden sicher-lich Schwielen an den Fingern haben vom vielen bußfer-tigen Beten mit dem Kruzifix in der Hand, weil Sie soetwas mitmachen, was Ihnen von Ihrem Koalitionspart-ner serviert wird.
Lassen Sie uns auf den Punkt kommen. Wir glauben,dass das Recht auf Arbeit für alle gelten muss, und zwarauf gute und fair bezahlte Arbeit. Arbeit ist Ausdruck ei-ner Würde im Menschenbild, wie wir es haben. Gute undfair bezahlte Arbeit ist Voraussetzung dafür, dass jemandein würdevolles und selbstbestimmtes Leben gestaltenkann.Deshalb sagen wir, dass gerade diejenigen, die mehr-fach benachteiligt sind, nicht als abgeschrieben und ab-geschoben gelten dürfen. Sie dürfen nicht deklassiertund demagogisch verfolgt werden. Gerade sie braucheneine reale Chance. Dazu passt das Aushungern derJobPerspektive und das Abschaffen von Kommunal-Kombi nicht. Das ist der Weg in die Sackgasse und nichtin die soziale Integration.
Der soziale Arbeitsmarkt ist das eine. Mehr sozialeSicherheit am Arbeitsmarkt ist das andere. In der Reali-tät erfolgt jede zweite Neueinstellung befristet. Über1 Million Menschen sind moderne Tagelöhner mit einemStundenlohn von weniger als 5 Euro. Wir haben in die-sem Land 1,4 Millionen Aufstocker und mehr als2,5 Millionen Menschen, die auf Zeit- und Leiharbeitangewiesen sind.Wenn man diese Realität sieht, dann müssen Sie dasdoch als Einladung zur Schaffung von Fairness am Ar-beitsmarkt und als Einladung dazu, am ArbeitsmarktRecht und Ordnung zu schaffen, verstehen. Deshalb hal-ten wir neben der Diskussion um den sozialen Arbeits-markt die Überprüfung der vorhandenen arbeitsmarkt-politischen Instrumente für notwendig.Wir haben uns darangemacht, die Überprüfung durch-zuführen und Weiterentwicklungen und Korrekturen aufden Weg zu bringen. Das ist ein sehr intensiver Diskus-sionsprozess in unserer Partei.Wir laden Sie ein, sich vor einer Entscheidungsfin-dung diesem Diskussionsprozess anzuschließen.
Kollege Groschek, gestatten Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Schiewerling?
Ja, wenn die Zeit angemessen gestoppt wird.
Das ist doch selbstverständlich.
Herr Kollege Groschek, Sie haben gerade behauptet,
das arbeitsmarktpolitische Instrument JobPerspektive sei
abgeschafft worden.
Können Sie mir bestätigen, dass dieses arbeitsmarktpoli-
tische Instrument nach wie vor besteht, dass auch in die-
sem Jahr die Mittel dafür geflossen sind und dass die
Absicht besteht, es beizubehalten?
Lassen Sie mich die Frage mit einer Feststellung er-
gänzen: Wenn Sie sozusagen unterschwellig behaupten,
man bekomme Schwielen an den Händen, wenn man
Kruzifixe festhält und betet, sollten Sie sich bewusst
sein, dass Sie damit viele Menschen in Deutschland
missachten, die aus ihrer religiösen Grundeinstellung he-
raus viel konkrete Hilfe für arbeitslose Jugendliche und
Erwachsene leisten.
Lieber Kollege, lenken Sie nicht ab. Ich denke, Siewissen, dass ich das zitierte christliche Menschenbildfast jedem von Ihnen und in extenso denen zugestehe,die als christliche Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmereine Gruppe in Ihrer Fraktion sind. Deshalb kann ich dasLeid dieser Menschen angesichts der arbeitsmarktfeind-lichen und arbeitslosenfeindlichen Demagogie vonWesterwelle verstehen, und deshalb glaube ich, dassviele bußfertig sein werden, weil sie trotz ihres christli-chen Menschenbildes eine solche Regierung mittragenmüssen; denn die Demagogie gegen die Langzeitarbeits-losen war und bleibt nach meiner festen Überzeugungunchristlich, lieber Kollege.Eine zweite Erwiderung auf Ihr Anliegen: Ja, ichweiß, die JobPerspektive gibt es noch. Aber ich weißauch, dass diese Bundesarbeitsministerin, die ansonstenimmer als symbolträchtige Madonna des Arbeitsmarktesdurch die politische Landschaft geführt wird,
900 Millionen Euro bei Arbeitsförderungsmaßnahmengesperrt hat und die JobPerspektive eben nicht als ad-äquates Instrument ansieht, sondern sie über den Tag hi-naus aushungern will, weil Sie ein anderes Instrumenta-rium und eine andere Perspektive sehen. Dass wir Siehier so kritisch beäugen, hängt auch mit Ihrem Chef-haushälter zusammen, der auf die Frage, wo denn dieKonsolidierungspakete seien, die er stemmen müsse,antwortete, dass Frau von der Leyen wohl ein Drittel bis50 Prozent dieser Konsolidierungsmaßnahmen werdestemmen müssen. Angesichts dessen wissen wir doch,wohin die Reise möglicherweise gehen wird. Diese
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Michael Groschek
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Reise werden wir nicht mitmachen, weil sie sich gegendie Interessen der arbeitslosen Menschen in diesemLande richtet.
Gestatten Sie eine zweite Zwischenfrage des Kolle-
gen Schiewerling?
Ja.
Sind Sie bereit, mir zuzugestehen, dass die Mittel für
die JobPerspektive – jetzt komme ich auf den sachlichen
Gehalt zurück und versuche, Sie dahin zu bringen, dass
Sie auch sachlich antworten – insgesamt nicht gekürzt,
sondern in Deutschland anders verteilt worden sind, und
können Sie mir zustimmen, dass 900 Millionen Euro
entsperrt worden sind, sodass diese Mittel der Arbeits-
marktpolitik zur Verfügung stehen?
Lieber Herr Kollege, dass die 900 Millionen Euro
entsperrt worden sind, ist doch nicht das Ergebnis Ihrer
mutigen christdemokratischen Intervention, sondern Er-
gebnis einer sozialdemokratischen Ansage. Das ist Fakt
eins.
Zweiter Punkt: Wir haben ganz aktuell ein Schreiben
einer Trägerorganisation aus Aachen bekommen, in dem
darauf hingewiesen wird, wie in Nordrhein-Westfalen
durch die Umverteilung, die in vielen Regionen
Deutschlands einer Kürzung gleichkommt, Benachteili-
gungen entstehen. Da helfen kein Laumann und auch
kein Rüttgers im Blaumann. Nordrhein-Westfalen wird
von dieser Bundesregierung sozial- und strukturpolitisch
über den Leisten gezogen, lieber Kollege.
Das Wort hat eigentlich der Kollege Groschek. Ich
sehe allerdings eine weitere Zwischenfrage des Kollegen
Hubertus Heil. Wenn Sie diese zulassen, Kollege
Groschek, füge ich gleich vorsorglich hinzu, dass dies
die letzte Frage ist, die ich innerhalb dieses Redebeitra-
ges zulasse,
weil wir eine Verabredung haben, die besagt, dass wir
Redebeiträge nicht auf diese Weise verdoppeln oder ver-
dreifachen wollen.
Lassen Sie die Frage des Kollegen Heil zu?
Gerne.
Bitte.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Es ist nicht üb-
lich, Zwischenfragen bei Abgeordneten der eigenen
Fraktion zu stellen. Dies weiß ich sehr wohl, und wir
wollen dies auch nicht dauernd machen. Aber die Frage
des Kollegen Schiewerling hat mich ein bisschen dazu
provoziert, noch einen Aspekt hinzuzufügen.
Herr Kollege Groschek, die Entsperrung hat gestern
im Haushaltsausschuss stattgefunden, weil wir dies im
Rahmen der Jobcenterreform durchgedrückt haben.
Aber noch nicht durch ist, wie eigentlich auch verabre-
det, Herr Schiewerling, die Entfristung von 3 200 Job-
vermittlern. Dies muss bis zum 5. Mai im Haushaltsaus-
schuss passieren.
Aber ich frage Sie, Herr Groschek, in Bezug auf den
9. Mai und die Situation danach bei all dem, was wir im
Bereich der Arbeitsmarktpolitik diskutieren, wie es denn
zu werten ist, wenn der Kollege Barthle, haushaltspoliti-
scher Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, jetzt
schon einmal ankündigt, dass für die Konsolidierung im
Jahre 2011 im Rahmen von 10 Milliarden Euro Frau von
der Leyen die Hälfte bis ein Drittel, also 3 bis
5 Milliarden Euro, aufbringen soll. Diese Frage treibt
uns um. Der Eingliederungstitel umfasst fast 6 Milliar-
den Euro. Dies wäre in vielen Bereichen das Ende einer
aktiven Arbeitsmarktpolitik, und alles, was über eine
Jobvermittlungsoffensive gesagt wird, wäre hohles Ge-
schwätz, wenn es keine Unterlegung gibt. Diesen Aspekt
wollte ich Ihnen noch in Frageform mit auf den Weg ge-
ben.
Danke, Herr Kollege Heil. Ich hatte schon das denk-würdige Vergnügen, im Rahmen meiner Antwort aufeine Frage seitens der CDU darauf hinzuweisen, dass of-fensichtlich der arbeitsmarktpolitische Heiligenscheinvon Frau von der Leyen getrübt werden wird. Sie habensich bislang nicht dazu geäußert. Das wäre interessantgewesen. Aber es gibt sicherlich noch Gelegenheit, da-rüber zu reden, ob denn gerade die Arbeitsmarkt- undSozialpolitik der große Steinbruch wird, um die Haus-haltskonsolidierung à la Bundesregierung zu schultern.Aber kommen wir auf das eigentliche Thema zurück.Wir wollen mehr soziale Sicherheit auf dem Arbeits-markt. Dazu zählen für uns nach wie vor anständigeLöhne – auf Deutsch gesagt: gesetzliche Mindestlöhne –,von denen jeder leben kann, der Vollzeit arbeitet. Wir
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3552 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
Michael Groschek
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wollen soziale Leitplanken bei der Zeit- und Leiharbeit,weil da ein riesiger Sozialmissbrauch stattfindet. Wirwollen den Anspruch auf Berufsausbildung, statt einerganzen Generation nur die Perspektive eines Praktikumszu bieten. Wir betonen, dass die Qualifizierung auch inder Arbeitsmarktpolitik eine Schlüsselfunktion hat. Dasbetrifft auch die Beschäftigten der Bundesagentur für Ar-beit. Sie hinkt hinter den Abmachungen, die getroffenwurden, hinterher. Wir brauchen ein besseres Betreu-ungsverhältnis, sonst wird es keine gescheite Perspektiveam Arbeitsmarkt geben, und wir brauchen letztendlicheine Weiterentwicklung der Bundesagentur für Arbeit hinzu einer Arbeitsversicherung mit einem Recht auf best-mögliche individuelle berufliche Qualifizierung und Be-ratung für jeden. Das wäre unsere Perspektive.
– Es gibt nicht nur Koalitionen mit Ihnen als Hemm-schuh. Vielleicht gibt es auch einmal eine Fortschritts-koalition mit einem Partner, der nicht so schwerfällig ist,wie Sie es an unserer Seite gewesen sind.
Zu den beiden vorliegenden Anträgen haben wir Fol-gendes anzumerken: Wir glauben, dass der Grünen-An-trag eine gute Diskussionsgrundlage für die weiterenAusschussberatungen ist. Der Antrag der Linkspartei istsehr stark von der Vorstellung geprägt, man könne Glückund Erfolg mit Methoden von gestern erreichen. Er istvon dem Duktus geprägt: Früher war alles besser. Wiraber haben die Einsicht, dass im Heute und Morgen keinPlatz für das Gestern ist. Das ist das große Problem.Wir werden Arbeitsmarktinstrumente weiterentwi-ckeln müssen. Eine pauschale Schuldzuweisung für alleNöte des Arbeitsmarktes an die Bundesregierung könnenselbst wir nicht mittragen. Die Zuständigkeit dieser Bun-desregierung geht nicht so weit, dass man sie für allesund jedes verantwortlich machen kann. Es reicht, diepolitische Verantwortung für die Maßnahmen zu beto-nen, für die die Bundesregierung verantwortlich ist. Frauvon der Leyen vertritt nach außen eine fortschrittlicheArbeitsmarktpolitik, trägt aber nach innen dazu bei, dassdie Arbeitsmarktförderung zum Steinbruch für die Haus-haltskonsolidierung wird. Wir werden die Situation auchnach dem 9. Mai sehr kritisch verfolgen. Wir lassen Sienicht entkommen. Die Rhetorik vom christlichen Men-schenbild korrespondiert eben nicht mit der Demagogie,die der Demoskopie geschuldet ist, und sie nützt nichtden Arbeitslosen in diesem Land.
Das Wort hat der Kollege Pascal Kober für die FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Diese Koalition hat sich zum Ziel gesetzt, möglichstviele Menschen wieder in den ersten Arbeitsmarkt zu in-tegrieren. Wir möchten dabei niemanden aufgeben, undwir möchten niemanden zurücklassen.
Mit den beiden Anträgen, die heute zur Beratung vor-liegen, soll ein anderer Weg gegangen werden. Ihre Be-fürworter geben faktisch einen Teil der Menschen auf.Deshalb werden wir diesen beiden Anträgen nicht zu-stimmen.
Hannelore Kraft hat dies Anfang März dieses Jahres imSpiegel deutlich zum Ausdruck gebracht – Zitat –:Wir müssen endlich ehrlich sein: Rund ein Viertelunserer Langzeitarbeitslosen wird nie mehr einenregulären Job finden.Diese Aussage ist ein Schlag ins Gesicht der betroffenenMenschen.
Sie klassifiziert sie ab, und sie schreibt sie ab.Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischenIhnen und uns. Die empirische Wirklichkeit mag einenzwar zu einer solch bedauernswerten Schlussfolgerungverleiten; das bedeutet aber noch längst nicht, dass mandiese empirische Wirklichkeit normativ festschreibendarf.
Wir wollen niemanden aufgeben. Wir sind der Überzeu-gung, dass wir durch kluge Politik im Sinne der Men-schen jedem eine Chance auf dem ersten Arbeitsmarktbieten können. Bei der Integration von Langzeitarbeits-losen müssen alle Kräfte auf eine umfassende Vermitt-lungs-, Qualifizierungs- und Betreuungsoffensive kon-zentriert werden. Dazu hat das Kabinett gestern wichtigeMaßnahmen beschlossen. Diese Bundesregierung nimmtsich jetzt vor allem der Alleinerziehenden sowie der jun-gen und älteren Arbeitnehmer an. Das – nicht die Aus-weitung der öffentlichen Beschäftigung – ist der richtigeSchritt in die richtige Richtung.
Öffentliche Beschäftigung darf es nur als Ausnahme un-ter eng definierten Bedingungen geben; denn sie ist nichtnur teuer, sondern sie gefährdet auch reguläre Beschäfti-gung.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3553
Pascal Kober
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So kommt ein im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung er-stelltes Gutachten zu dem Ergebnis, dass – ich zitiere –„öffentlich bereitgestellte Beschäftigung zwangsläufigteurer ist als die Subventionierung eines Beschäftigungs-verhältnisses am ersten Arbeitsmarkt, denn zusätzlichzum Ausgleich der geringen individuellen Produktivitätmuss noch die Anpassung der Arbeitsabläufe finanziertwerden“.Dass ein sogenannter sozialer Arbeitsmarkt, ein Schat-tenarbeitsmarkt, sozialversicherungspflichtige Beschäfti-gung verdrängt, zeigt uns die Erfahrung mit den soge-nannten 1-Euro-Jobs. Dies belegt auch der einschlägigeBericht des Bundesrechnungshofes aus dem Jahr 2008.Bei 80 Prozent der 1-Euro-Jobs wurde beanstandet, dasssie nicht zusätzlich, sondern anstelle von Tätigkeiten aus-geübt wurden, die eigentlich durch reguläre Beschäfti-gung abgedeckt werden müssten, wodurch reguläreBeschäftigungsverhältnisse im ersten Arbeitsmarkt ge-fährdet wurden bzw. verhindert worden ist, dass dort neueArbeitsplätze entstanden sind.
Kollege Kober, gestatten Sie eine Frage der Kollegin
Pothmer?
Gerne, Frau Pothmer.
Herr Kober, Sie haben sich hier sehr kritisch über die
Wirkung von öffentlich geförderter Beschäftigung geäu-
ßert und gesagt, jede öffentlich geförderte Beschäftigung
verdränge Arbeitsplätze im ersten Arbeitsmarkt. Wie
stehen Sie zu dem Vorschlag Ihres Parteivorsitzenden
Westerwelle, Arbeitslose zum Schneeschippen heranzu-
ziehen? Wie wahrscheinlich auch Sie wissen, finanziert
unser Staat normale Arbeitsplätze in der Straßenreini-
gung. Würde das Konzept, das Herr Westerwelle vor-
schlägt, Ihren hier vorgeschlagenen Vorstellungen nicht
zuwiderlaufen?
Liebe Kollegin Pothmer, ich habe mich nicht generell
für einen solchen Beschäftigungsmarkt ausgesprochen.
Ich habe gesagt: „unter eng definierten Bedingungen“.
Wir von der FDP sind der Auffassung, dass diese eng de-
finierten Bedingungen vor allen Dingen so gestaltet wer-
den müssen, dass diese Beschäftigungsverhältnisse der
Qualifizierung der Menschen dienen.
– In der Tat bin ich der Auffassung, Frau Pothmer, dass
es einen eingeschränkten, kleinen Personenkreis gibt, für
den Tätigkeiten wie Schneeschippen oder Straßenreini-
gung als Qualifizierungsmaßnahme dienen können.
Das entscheidet der Kollege Kober. Das wäre dann
aber die letzte Frage, die ich zulasse. Wie Sie wissen, ha-
ben Sie in dieser Debatte schon gesprochen.
Kollege Kober, lassen Sie noch eine Frage zu?
Ja. – Frau Pothmer, bitte.
Sie erinnern sich aber durchaus auch daran, dass Ihr
Parteivorsitzender Westerwelle vorgeschlagen hat, alle
Langzeitarbeitslosen unmittelbar zu einer Tätigkeit auf
dem sozialen Arbeitsmarkt heranzuziehen?
Frau Pothmer, daran erinnere ich mich nicht. Ichglaube, selbst in Berlin lag nicht so viel Schnee, dass esnotwendig gewesen wäre, alle Langzeitarbeitslosen mitSchneeschippen zu beschäftigen. – Vielen Dank.Ihre Vorschläge, liebe Kolleginnen und Kollegen derOpposition, sind volkswirtschaftlich schädlich und ver-decken, dass Sie Menschen Chancen auf reguläre Arbeitim ersten Arbeitsmarkt vorenthalten. Fachleute stellenfest, dass es fast keine Jobs für einen sozialen Arbeits-markt gibt, die nicht reguläre Beschäftigung verdrängen.Straßenreinigung durch öffentlich geförderte Arbeits-kräfte verdrängt andere Reinigungsunternehmen vomMarkt. Die Übernahme der Pflege von Grünflächen, dieeinmal Frau Künast vorgeschlagen hat, verdrängt Gärt-nereien. Diese Liste ließe sich noch länger fortführen. Sowird durch öffentlich geförderte Beschäftigungsmaßnah-men letzten Endes sogar die Arbeitslosigkeit ausgewei-tet.Arbeitsgelegenheiten wie 1-Euro-Jobs sollten nachAuffassung der FDP nur dort angeboten werden, wo sieder Qualifizierung und Integration von Langzeitarbeits-losen in den ersten Arbeitsmarkt dienen. Sie müssen derQualifizierung der Betroffenen dienen. Wir müssen da-rauf achten, dass Menschen nicht in einen zweiten Ar-beitsmarkt abgeschoben werden, sondern dass sie fürden ersten Arbeitsmarkt aktiviert und qualifiziert wer-den.
In unserem Konzept des liberalen Bürgergeldes, alsoeines gesetzlichen Mindesteinkommens, stellen wir si-cher, dass auch die Menschen im ersten Arbeitsmarkt aus-reichend Einkommen zum Leben haben, deren Fähigkei-ten und Begabungen vorübergehend oder auf Dauer nichtauszureichen scheinen, um ein solches durch eigene Kraftvollständig selbst zu erwirtschaften. Hier sind staatlicheMittel viel sinnvoller eingesetzt als in einem sogenanntensozialen Arbeitsmarkt oder in öffentlich geförderter Be-schäftigung.Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen, fürIhre Aufmerksamkeit.
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3554 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
(C)
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Das Wort hat die Kollegin Sabine Zimmermann für
die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Herr Groschek, ich muss Ihnen
schon empfehlen, einmal über unseren Antrag nachzu-
denken. Vielleicht kommen Sie dann doch zu dem
Schluss, dass die Hartz-Gesetzgebung menschenunwür-
dig ist und dass Sie da einen Fehler gemacht haben. Ich
empfehle Ihnen das auf jeden Fall.
Meine Damen und Herren, 1990 haben wir mit ABM
mit einer Bezahlung in Anlehnung an den damaligen
ÖTV-Tarifvertrag angefangen. Dann gab es einige Novel-
len, und mit Einführung des SGB II gab es dann noch eine
Pauschale von 900 Euro. Außerdem wurden diese unsäg-
lichen 1-Euro-Jobs erfunden. Mit diesen 1-Euro-Jobs
sind die anderen sinnvollen Maßnahmen mehr und mehr
zurückgefahren worden. Die Rutschbahn der Löhne
wurde in Gang gesetzt. Das alles wird von der Politik be-
wusst nicht gestoppt, und das ist unerträglich.
Ob Menschen Arbeit haben oder nicht, ist eine zu-
tiefst demokratische Frage. Denn es geht hier vor allem
um die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Die Poli-
tik hat dieses Problem bisher sträflich vernachlässigt und
damit Hunderttausende Menschen ins soziale Abseits
gestellt.
Die Antwort der Bundesregierung auf das immer wei-
ter wachsende Problem der Langzeiterwerbslosigkeit sind
bisher nur Beleidigungen von Herrn Westerwelle und
verschärfte Sanktionen für erwerbslose Menschen. Aber
wo – das frage ich Sie, meine Damen und Herren – sind
denn die Arbeitsplätze, die Sie seit 15 Jahren – egal in
welcher Koalition – den Menschen versprochen haben?
Das Gegenteil ist der Fall. Die Zahl der Langzeitarbeits-
losen stagniert seit Jahren auf hohem Niveau. Fast 1 Mil-
lion Menschen waren im März 2010 seit über einem Jahr
ohne reguläre Arbeit. Insbesondere viele Ältere haben
wenig Chancen auf eine Rückkehr in den regulären Ar-
beitsmarkt. Daneben haben wir viele Erwerbslose, die be-
reits seit mehreren Jahren ohne Arbeit sind. Diese Aus-
grenzung hat bei den arbeitslosen Menschen viele
körperliche und seelische Spuren hinterlassen. Hier ist
der Staat in der Pflicht, zu handeln.
Die Linke legt dafür das Konzept einer guten öffent-
lich geförderten Beschäftigung vor. Dieses ist Bestand-
teil eines Zukunftsprogramms, mit dem wir 2 Millionen
reguläre Arbeitsplätze in der Wirtschaft und im öffentli-
chen Bereich schaffen wollen.
Gute öffentlich geförderte Beschäftigung heißt für uns:
Wir wollen mit Mitteln der Arbeitsmarktpolitik sozialver-
sicherungspflichtige Arbeitsplätze zu Mindestlohnbedin-
gungen oder mit tariflicher Entlohnung schaffen – und
das basierend auf dem Prinzip der Freiwilligkeit.
Die Hartz-Gesetze, die Sie hier in diesem Saal mit
Ausnahme der Linken eingeführt haben, sind zuallererst
darauf ausgerichtet, Erwerbslose zu disziplinieren. Die
Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt sind fatal. Es gibt
einen Erdrutsch bei der Zahl der regulären sozialversi-
cherungspflichtigen Arbeitsplätze und einen Vormarsch
von Billigjobs. Das muss gestoppt werden!
Nun hat Frau von der Leyen unter dem schönen Titel
der „Bürgerarbeit“ eine Reform der Arbeitsmarktpolitik
und eine Vermittlungsoffensive angekündigt. Meine Da-
men und Herren, das ist nichts Neues. Begreifen Sie
doch endlich, dass es zu wenig Arbeitsplätze gibt, von
denen die Menschen in Würde leben können!
Aber natürlich wird die Bundesregierung ihre Pläne
erst nach der Wahl in Nordrhein-Westfalen öffentlich
machen. Wir werden ganz genau hinschauen, ob damit
durch die Hintertür ein Arbeitszwang eingeführt werden
soll, wie das eigentlich schon verschiedene Unionspoliti-
ker in der Vergangenheit gefordert haben. Das stößt auf
unseren entschiedenen Protest, und das werden wir nicht
hinnehmen.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Dr. Matthias
Zimmer das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Esscheint ja nun doch so zu sein, dass der Wahlkampf inNordrhein-Westfalen seine langen Schatten auch auf die-ses Haus wirft. Was der Kollege Groschek als Generalse-kretär der SPD in Nordrhein-Westfalen hier abgelieferthat – er ist in Rambo-Manier argumentativ durchgesaust –,
zeugt von einer gewissen Nervosität, und das, lieber KarlSchiewerling, ist unter dem Strich doch eine ganz posi-tive Botschaft.
Kritisiert wurde von Ihnen ein gewisser Mangel anWahrhaftigkeit. Einen solchen – das will ich der Redevoranstellen – habe ich auch dem Antrag der Linken einwenig entnommen. Ich will an dieser Stelle nur zweiBeispiele bringen:Sie behaupten in Ihrem Antrag, die falsche Wirt-schafts- und Beschäftigungspolitik dieser und der ver-gangenen Regierung habe zu der Arbeitslosigkeit beige-tragen. Wahr ist: Von 2005 bis 2008 ist die
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3555
Dr. Matthias Zimmer
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Arbeitslosigkeit von 4,8 Millionen auf 2,9 Millionen ge-sunken.
Hätten Sie das in Ihrem Leben irgendwann einmal fertig-gebracht, hätte der Kölner Dom dauergeläutet.
Sie beklagen darüber hinaus, dass Stellen im öffentli-chen Dienst abgebaut werden, und erwecken damit soein bisschen den Eindruck, als ob Sie, wenn Sie es dennkönnten, Stellen im öffentlichen Dienst schaffen würden.Ich habe mir das einmal angeschaut. Von 2005 bis 2008verzeichnet Berlin den höchsten Abbau von Stellen imöffentlichen Dienst, nämlich einen Abbau um3,8 Prozent.
In Brandenburg, Herr Kollege, wird geplant,11 000 Stellen im öffentlichen Dienst abzubauen.
Ich habe so ein bisschen den Eindruck, dass bei Ihnenein Realitätsschock eintritt. Das hat mit den Blütenträu-men, die Sie hier sonst verkünden, nichts zu tun.
Eine Sache war für mich sehr überraschend, als ichmir die Zahlen angeschaut habe. Es gab ein Bundesland,das einen leichten Anstieg der Stellenzahl in der öffentli-chen Verwaltung hatte, nämlich Bayern. Das finde ichganz positiv; denn die Bayern haben gesagt: Wir stellenmehr Lehrer ein.
Das ist angesichts der Tatsache, dass wir die Bildungsre-publik ausbauen wollen, das richtige Signal.
Meine Damen und Herren von den Linken, in IhremAntrag ist die Rede davon, dass 500 000 öffentlich ge-förderte Beschäftigungsstellen zu schaffen sind. Wie Sieauf die Zahl gekommen sind, erschließt sich mir nicht.Vielleicht haben Sie einfach die Zahl von den Grünengenommen und noch 100 000 draufgelegt. Man kann jaeine gewisse Reserve einbauen; das ist wohl nie falsch.
Es ist in Ihrem Antrag in keiner Weise begründet, wieSie auf die Zahl von 500 000 kommen. Diese Zahl unddas, was Sie heute Morgen hier mit Ihrem Antrag zur gu-ten Arbeit vorgelegt haben, scheint mir auf Folgendeshinzudeuten: Sie betrachten den Staat lediglich als eineArt Kuh, die man sowohl melken als auch schlachtenkann.Liebe Frau Pothmer, ich will ganz deutlich sagen: Ichteile die Intention in Ihrem Antrag, für Langzeitarbeits-lose etwas zu tun, und ich teile auch ausdrücklich IhreAuffassung, dass die meisten Arbeitsuchenden lieberheute als morgen wieder eine Arbeitsstelle wollen.
Das wollen wir ermöglichen, weil auch wir der Meinungsind, dass Missbrauch kein Volkssport ist – es geht umeine ganz begrenzte Ausnahmesituation – und dass diemeisten Menschen arbeiten wollen, weil Arbeit eineForm von Anerkennung mit sich bringt. Auch das wol-len wir ermöglichen. Deswegen bin ich der Idee einesöffentlich geförderten Sektors persönlich nicht abge-neigt.
Ich bin aber sehr dafür, diese Förderung an sehr engeKriterien zu knüpfen. Das erste Kriterium ist die Integra-tion in den ersten Arbeitsmarkt. Wir wollen keine Zwei-klassengesellschaft und keine Stigmatisierung von Ar-beitsuchenden, sondern wir wollen, dass die Integrationin den ersten Arbeitsmarkt gelingt. Das ist ein Punkt,den ich im Antrag der Linken vermisst habe. Wir wollenkeine Dauersubventionierung und Verstetigung dieserSubventionen, sondern eine zeitliche Begrenzung. Wirwollen außerdem eine genaue Eingrenzung der Ziel-gruppe. Das heißt, wir wollen mit einem öffentlich ge-förderten Sektor vor allen Dingen diejenigen, die meh-rere Vermittlungshemmnisse aufweisen, fördern undnicht, wie es die Linken vorsehen, den Übergang in dieRente unterstützen.Auch das ist sehr wichtig: Wir brauchen eine sehrenge Betreuung. Ich will es einmal mit dem Begriff „für-sorgliche Belagerung“ umschreiben. Denn nur das führtdazu, die Qualifikation zu verbessern und die Defiziteauszugleichen. Wir wollen eine aktivierende Arbeits-marktpolitik, die unter dem Motto „Fordern und För-dern“ steht. Am Ende soll nicht der betreute, sondern derselbstständige Mensch stehen. Wir wollen keine Ver-drängungseffekte für reguläre Arbeit. Kriterium mussdie Zusätzlichkeit sein.
Wir wollen weiterhin eine sorgfältige und regional diffe-renzierte Auswahl der Beschäftigungsfelder. Das heißt,zusätzliche Beschäftigung müsste beispielsweise inFrankfurt am Main anders aussehen als in Mecklenburg-Vorpommern.
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Gleichwohl muss ich sagen, dass wir an dieser Stelleeine ganze Reihe von Instrumenten haben. Die Laufzeitdes Programms „Perspektive 50plus“ wurde gestern vomBundeskabinett verlängert. Alleinerziehende, die Hartz-IV-Leistungen bekommen, würden einen Anspruch aufeinen gesonderten Ansprechpartner erhalten. Wir wollen– auch das ist im Koalitionsvertrag festgelegt – das In-strument der Bürgerarbeit in die Arbeitsmarktpolitik zu-sätzlich einführen. Mit den Modellprojekten haben wirgute Erfahrungen gemacht. Diese Maßnahmen führennicht zu Mehrkosten, und Verdrängungseffekte sind ver-meidbar. Wenn Mittel aus dem Europäischen Sozial-fonds an der Stelle zur Verfügung stehen, dann ist esumso besser.Meine Bitte an das Ministerium ist daher: Neben denMaßnahmen, die bereits beschlossen sind, sollte die Ideeder Bürgerarbeit zügig angegangen werden. Noch in die-sem Jahr sollte, wenn möglich, ein erster Entwurf vorge-legt werden, damit wir für die Integration der Langzeit-arbeitslosen etwas tun können.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/1205 und 17/1397 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
9 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung
– zu dem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU
und der FDP
Gewährleistung der Sicherheit der Eisen-
bahnen in Deutschland
– zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Sören Bartol, Martin Burkert, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Gewährleistung der Sicherheit im Schienen-
verkehr muss Priorität haben
– zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine
Leidig, Dr. Gesine Lötzsch, Heidrun Bluhm,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Den Schienenverkehr als sichere Verkehrs-
form erhalten und stärken
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Anton
Hofreiter, Winfried Hermann, Fritz Kuhn, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Eisenbahnsicherheit verbessern
– Drucksachen 17/1162, 17/655, 17/1016, 17/544,
17/1459 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Uwe Beckmeyer
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Parla-
mentarische Staatssekretär Enak Ferlemann.
E
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Als Erstes möchte ich mich herzlich dafürbedanken, dass sich die Fraktionen des Hauses so inten-siv mit der Sicherheit des Eisenbahnverkehrs inDeutschland und darüber hinaus beschäftigen. Ichmöchte direkt an den Anfang stellen, dass für die Bun-desregierung die Sicherheit der Eisenbahnen in Deutsch-land absolute Priorität hat. Daran gibt es keine Abstri-che, auch wenn die Oppositionsfraktionen in ihrenAnträgen versuchen, hier und da vielleicht ein anderesBild aufzuzeigen. Wegen der Probleme, die zugegebe-nermaßen im letzten Jahr stärker als sonst bei der Fahr-zeugtechnik auftraten – allerdings europaweit, nicht nurin Deutschland –, jetzt das gesamte System Eisenbahnschlechtzureden, geht am Sachverhalt sicherlich völligvorbei.Dadurch wird das Verkehrsmittel, das mit weitem Ab-stand das sicherste Landverkehrsmittel ist, zu Unrechtschlechtgemacht. Unser Land ist auf die Leistungen derEisenbahnunternehmen, die diese jeden Tag für Millio-nen Reisende und im Zusammenhang mit dem Transportvon Millionen Tonnen Güter erbringen, angewiesen. Wirkönnen mit Recht stolz sein auf die Qualität, mit derdiese Leistungen erbracht werden, und auf das hohetechnische Niveau, das unsere Eisenbahnunternehmenerreicht haben und gewährleisten.Ein technisches System wie das der Eisenbahn istaber nichts Statisches. Es lebt von Weiterentwicklung,neuen Erkenntnissen und Innovationen. Deshalb sinddas technische Regelwerk und die technischen und be-trieblichen Vorschriften so angelegt, dass Weiterent-wicklungen berücksichtigt werden. Zurzeit sind wir ineiner Phase, in der neue Erkenntnisse zum Verhalten desMaterials – ich nenne als Beispiel das Stichwort „Rad-satzwellen“ – vorliegen und entsprechende Prüfungenerfolgen. Da dies nicht allein ein nationales Thema ist,hat die Europäische Eisenbahnagentur von der Kommis-sion den Auftrag erhalten, gemeinsam mit dem Sektor,das heißt den Eisenbahnunternehmen, der Bahnindustrieund den nationalen Sicherheitsbehörden, diese Aspekte
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3557
Parl. Staatssekretär Enak Ferlemann
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aufzuarbeiten und eine gemeinsame europäische Strate-gie für die Fahrzeuginstandhaltung zu entwickeln.Ich habe damit aufgezeigt, dass wir uns bei den Eisen-bahnen mit der Liberalisierung des europäischen Eisen-bahnverkehrsmarktes, die wir sehr begrüßen, und derHarmonisierung der technischen Bedingungen nichtmehr allein im nationalen Bereich, sondern vor allem eu-ropaweit bewegen. Dies gilt natürlich für die Leistungenim Verkehrsmarkt, aber zunächst auch für die rechtli-chen Grundlagen. Die Europäische Kommission hatteim Zuge der Errichtung eines Binnenmarktes für Eisen-bahnverkehrsdienste erkannt, dass ein gemeinsamerRahmen für die Regelung der Eisbahnsicherheit geschaf-fen werden muss. Dazu hat sie mit der Richtlinie 2004/49/EG vom 29. April 2004 über die Eisenbahnsicherheitin der Gemeinschaft europäisches Recht geschaffen. Vonbesonderer Bedeutung ist dabei die Harmonisierung desInhalts von Sicherheitsvorschriften, der Sicherheitsbe-scheinigungen für Eisenbahnunternehmen, der Aufga-ben und Funktionen der Sicherheitsbehörden sowie derUntersuchung von Unfällen. Diese Richtlinie wurde inDeutschland am 16. April 2007 mit der Novellierung desAllgemeinen Eisenbahngesetzes sowie des Gesetzesüber die Eisenbahnverkehrsverwaltung in nationalesRecht umgesetzt. Diese Novelle bildet nunmehr, aufbau-end auf dem im deutschen Eisenbahnrecht bewährtenSystem der Aufgabenabgrenzung zwischen den Eisen-bahnunternehmen, den Herstellern, den Haltern und ins-besondere den Aufsichtsbehörden, die Grundlage für dieGewährleistung der Sicherheit des Eisenbahnverkehrs inDeutschland.Der Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-lung hat sich in den letzten Monaten intensiv mit derFrage auseinandergesetzt: Ist die Sicherheit im Schie-nenverkehr gewährleistet, und was muss gegebenenfallsverbessert werden? In einer intensiven Aussprache mitder Deutschen Bahn und dem Eisenbahn-Bundesamt imDezember letzten Jahres sowie in einer Anhörung mitVertretern der DB AG und des Verbandes DeutscherVerkehrsunternehmen, der Bahnindustrie, der Eisen-bahnaufsicht und des Konzernbetriebsrats der DB AGam 3. März dieses Jahres sind alle Aspekte ausführlicherörtert worden.Ich kann die Ergebnisse für mich so zusammenfassen:Für die Sicherheit der Eisenbahnen in Deutschland be-stehen umfassende Regelungen in den nationalen gesetz-lichen Vorschriften auf der Basis des europäischenRechts zur Sicherheit der Eisenbahnen in der Gemein-schaft. Die Serie von gefährlichen Ereignissen mit Rad-satzwellen bei ICE-Zügen und bei Güterwagen sowie dieProbleme bei der S-Bahn in Berlin haben gezeigt, dassdie Übertragung der Aufgaben der Sicherheitsbehördeauf das Eisenbahn-Bundesamt und auch die Einrichtungeiner Eisenbahn-Unfalluntersuchungsstelle des Bundesder richtige und sachgerechte Weg für schnelle und ef-fektive Reaktionen der staatlichen Aufsicht sowohl imnationalen Bereich als auch bei der notwendigen Umset-zung auf europäischer Ebene waren. Ich darf mich andieser Stelle ganz herzlich bei den Mitarbeiterinnen undMitarbeitern der Behörden für die exzellente Arbeit inden vergangenen Monaten bedanken.
Aber diese Ereignisse sowie die hierzu im Ausschussdurchgeführte öffentliche Expertenanhörung haben ei-nen deutlichen Handlungsbedarf im Bereich der Rechteund Pflichten der Betriebsleiter, im Bereich der Fahr-gastrechte, im Bereich der Verantwortung von Eisen-bahnunternehmen und Herstellern sowie bei der Harmo-nisierung der Vorschriften auf europäischer Ebeneaufgezeigt. Diese Folgerungen sind im Antrag der Koali-tionsfraktionen sehr zutreffend dargestellt. Ich darf michdafür ausdrücklich bei den Koalitionsfraktionen bedan-ken. Die Bundesregierung wird den ihr erteilten Auftragfür ein Konzept zur Weiterentwicklung der Sicherheitder Eisenbahnen in Deutschland, wenn er heute so be-schlossen wird, zügig erfüllen. Ich denke, dass wir imzweiten Halbjahr dieses Jahres das Gesetzgebungsver-fahren dazu durchführen können.Herzlichen Dank.
Für die SPD-Fraktion spricht nun der Kollege Uwe
Beckmeyer.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Wir beraten hier heute vier Anträge, die sich mitdem Thema Bahnsicherheit beschäftigen. Sie spiegelnein bisschen wider, welche Diskussionen in den letztenvier Monaten insbesondere in der Fachöffentlichkeit ge-führt wurden. Es gibt seit langem eine ernst zu neh-mende Diskussion über die Achsproblematik bei denverschiedenen Modellreihen des ICE und die im Winterso anfällige Konstruktion der ICE-Fahrzeuge der zwei-ten und dritten Generation. Wir führen in Deutschlandeine generelle Debatte über die häufigen Zugausfälle,die wir in den Wintermonaten erlebt haben und die so-wohl die Mobilität als auch das Netz betreffen. Darüberhinaus führen wir eine heftige Diskussion über die chao-tischen Verhältnisse bei der Berliner S-Bahn. All das istdie Grundlage, auf der wir aktuell diskutieren.Bahnchef Grube war mehrfach im Verkehrsausschusszu Gast. Wir haben im Verkehrsausschuss extra ein Ex-pertengespräch zum Thema Bahnsicherheit durchge-führt. Ich denke, allein das zeigt, dass sich alle Fraktio-nen sehr intensiv darum gekümmert haben.Nachdem alle Oppositionsfraktionen einen Antragvorgelegt hatten, haben schließlich auch Sie, meine sehrgeehrten Damen und Herren von der Koalition, sich be-reit gefunden, einen Antrag vorzulegen. Respekt! InKenntnis der öffentlichen Debatte, der Anträge der Op-positionsfraktionen und der Forderungen in der Öffent-lichkeit meldeten Sie sich Ende März zeitlich als letztemit Ihrem Antrag zu Wort. Ich habe den Worten desStaatssekretärs entnommen, dass sein Haus möglicher-weise Formulierungshilfen gegeben hat; allerdings halteich das für sehr bedenklich.
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3558 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
Uwe Beckmeyer
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Wir hatten die Hoffnung, dass der zeitliche Verzugnicht nur mit dem Prozess der Abstimmung in der Koali-tion zu tun hat, sondern auch mit der Qualität des An-trags. Doch weit gefehlt – ich will es vorsichtig formu-lieren –: Der Antrag der Koalitionsfraktionen ist leiderder mit Abstand nicht beste. Man könnte es auch anderssagen.Weshalb wende ich mich besonders Ihrem Antrag zu?Der gestrige Mehrheitsbeschluss im Ausschuss, der mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen zustande gekom-men ist, hat offenbart, dass Ihr Antrag wohl auch heuteeine Mehrheit finden wird. Sie wollen ein Konzept zurWeiterentwicklung der Gewährleistung der Sicherheitder Eisenbahn in Deutschland. So weit, so gut. Das wol-len wir hier alle. Doch was ist Ihre Top-eins-Forderungzur Lösung der Probleme? Die Forderung nach einerStärkung der Verantwortung und der Rechte des Be-triebsleiters von Eisenbahnverkehrsunternehmen. AlleAchtung! Jetzt ist also die schwache Position des Be-triebsleiters in den Eisenbahnverkehrsunternehmenmöglicherweise an der Sicherheitsproblematik im ge-samten Schienenverkehr schuld. Dazu gibt es in derFachöffentlichkeit nur ungläubiges Kopfschütteln. DieBetriebsleiter sind Angestellte der Eisenbahnverkehrs-unternehmen. Sie haben auch die Wettbewerbsfähigkeitund die wirtschaftlichen Interessen ihrer Unternehmenim Auge zu behalten. Bei den Betriebsleitern anzuset-zen, hieße, das Pferd von hinten aufzuzäumen.Ich vermisse Antworten und Positionen der Koali-tionsfraktionen: Was sagen Sie zur Einhaltung der War-tungsintervalle und der Sicherheitsbestimmungen derHersteller durch die jeweiligen Nutzer? Was sagen Siezur Stärkung des Eisenbahn-Bundesamtes? Was sagenSie zu einer raschen Auswertung der Unfallprüfberichtedurch das EBA? Was sagen Sie zu einer ausführlichenUnfallstatistik zur Art der Unfälle und deren Folgen?Was sagen Sie zu einer Verpflichtung zur Schadensmel-dung an den Hersteller? Was sagen Sie zur Notwendig-keit eines Datentransfers zwischen Hersteller und Nutzerwährend der Betriebsphase, zum Beispiel bei Wartungs-arbeiten? Was sagen Sie zu längeren Garantiezeiten ohneAusschlussklauseln für Teilprodukte? Was sagen Sie zualldem? – Nichts. Was wollen Sie politisch durchsetzen?
Beim Bundesverkehrsminister gewinnt man den Ein-druck, es habe immer derjenige recht, der zuletzt bei ihmwar: Laut Welt vom 8. Februar 2010 waren noch dieHersteller schuld an den ICE-Schäden: Sie hätten nichtdie nötige Qualität geliefert und die DB AG habe nichtsfür die Probleme gekonnt. Laut Frankfurter Rundschauvom 12. März 2010 – ein Monat später – lag derSchwarze Peter auf einmal doch bei der DB AG, weil siedie falschen Fahrzeuge bestellt habe.Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich glaube,es ist entscheidend, dass man in dieser Frage nicht nurMeinungen hinterherläuft, sondern sich selbst eine Mei-nung bildet. Der Minister erläuterte einem erstauntenPublikum, dass er beim Besuch der Bahnindustrie etwasdazugelernt habe, nämlich den Unterschied zwischen„dauerfest“ und „zeitfest“. Das wiederum, meine sehrgeehrte Damen und Herren, bringt den Begriff „sattel-fest“ in die Debatte.Trotzdem gelang es nicht, die Bahnindustrie zu be-sänftigen. Es gebe keinen Grund für eine Änderung desEisenbahngesetzes, sagten Sie der Financial TimesDeutschland im April.Meine sehr geehrten Damen und Herren, ich glaube,diese Strategie des BMVBS ist schlicht falsch. Mankann es nicht jedem recht machen. Allen Beteiligten dasBlaue vom Himmel zu versprechen, hilft nicht. Mal sindSie auf der Seite der Bahnindustrie, dann wieder auf derSeite der DB AG. Es muss ein schlüssiges Konzept her.Ich glaube, das ist das Entscheidende. Ich bitte, einfacheinmal unseren Antrag zu lesen.Fest steht doch eines: Seit 1994 ist der Personalbe-stand in den DB-Instandhaltungswerken halbiert wor-den. Das Durchschnittsalter der Beschäftigten dortbeträgt 45 Jahre. Bei der Wartung im Personenverkehrs-bereich besteht eine Auslastung von 100 Prozent. Zu-sätzlich müssen Zeitarbeitskräfte den jeweiligen Mehr-bedarf an Arbeitskräften ausgleichen.Im Expertengespräch des Ausschusses benannte derVertreter des Konzernbetriebsrates einen weiteren wich-tigen Punkt: die Ausdünnung der Fahrzeugflotte bei derDB AG. Die Sicherheitsreserven im Fahrzeugbestandsind in den vergangenen Jahren reduziert worden. Ichglaube, darüber müssen wir gemeinsam reden. Bei Zug-ausfällen infolge von Wartungsarbeiten wie bei den ICE-Zügen fehlt ein ausreichender Ersatzbestand zur rei-bungslosen Fortführung des Schienenverkehrs. Das istauch ein wesentliches Problem. Hinzu kommt: Quali-tätsstandards werden im DB-Konzern – das haben wirgelernt – unterschiedlich gehandhabt.Während in einzelnen Sparten – Personenfernverkehr,Regionalverkehr – nach ISO-Standards zertifiziert undauf einem hohen Qualitätsniveau geprüft wird, besteht inanderen Sparten eine unzureichende Auditierung. ImGüterverkehr besteht nach wie vor ein geringes Qualifi-zierungsregime. Bei der S-Bahn hat es jahrelang über-haupt nicht stattgefunden.Meine Damen und Herren, für uns steht fest: Die Si-cherheit im Schienenverkehr muss oberste Priorität ha-ben und ist ein nicht verhandelbares Gut. Wir haben inunserem Antrag konkrete Vorschläge unterbreitet, undwir hoffen und erwarten, dass diese auch von den Koali-tionsfraktionen und der Bundesregierung aufgenommenund bei ihrer zukünftigen Politik berücksichtigt werden.Herzlichen Dank.
Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege PatrickDöring das Wort.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3559
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!In der Tat: Die Sicherheit im Schienenverkehr ist nichtverhandelbar, darüber besteht Konsens bei den Beratun-gen im Ausschuss und auch zwischen den Fraktionen;zumindest habe ich es so empfunden. Aber neben dervorgetragenen Einigkeit gibt es natürlich Unterschiedezwischen den Anträgen der Koalition und den Anträgender Oppositionsfraktionen. Der entscheidende Unter-schied ist, dass wir zwischen dem unterscheiden können,was Unternehmen, die Verkehrsdienstleistungen anbie-ten und dazu Schienenfahrzeuge verwenden, leistenmüssen, was die Unternehmen, die diese Fahrzeugebauen und warten, leisten müssen und was am Ende überdie Aufsicht durch das Eisenbahn-Bundesamt und dasAllgemeine Eisenbahngesetz in diesem Hause politischund gesetzgeberisch gemacht werden muss. Ich habe derRede von Uwe Beckmeyer aufmerksam zugehört; ersprach als eine Mischung aus Verkehrspolitiker und Vor-stand eines Eisenbahnunternehmens. Wir haben hieraber nur die eine Rolle, nämlich die des Gesetzgebers,deshalb wird die Koalition das regeln, was sie regelnkann und muss. Wir werden aber keineswegs versuchen,die Dinge zu regeln, die andere zu regeln haben, liebeKolleginnen und Kollegen.
In der heutigen Debatte geht es darum, dass niemanddie Augen davor verschließt, dass in einigen Teilberei-chen von Verkehrsunternehmen, auch bundeseigenerVerkehrsunternehmen in der Bundesrepublik Deutsch-land, beispielsweise bei der S-Bahn Berlin, ganz offen-sichtlich Führungs- und Verantwortungsversagen vorge-legen hat, dass Menschen, die die Verantwortung hatten,die Wartung der S-Bahn in Berlin regelkonform undnach dem Pflichtenheft des Herstellers und des Eisen-bahn-Bundesamtes zu organisieren, dieser Aufgabe nichtnachgekommen sind.
Dafür wurden sie zur Verantwortung gezogen. Natürlichhaften die Mitarbeiter und die Leitung des Unterneh-mens. Zu glauben, dass der Deutsche Bundestag oder garder Bundesverkehrsminister in der Lage sein könnte– egal, unter welcher Regierung, zumal der Vorfall beider S-Bahn Berlin unter einer anderen Koalition stattge-funden hat; insofern müssten andere zur Verantwortunggezogen werden –, jede Entscheidung eines Unterneh-mens per Gesetz zu regeln, ist weltfremd. Wir wissen in-zwischen, dass es bei der S-Bahn Berlin ein solches Füh-rungs- und Verantwortungsversagen gegeben hat. DasUnternehmen trägt dafür die Verantwortung, es hat dieKonsequenzen gezogen, was bis in die Führung des Un-ternehmens zu spüren war. Es gab dort keine gesetzgebe-rischen Probleme, sondern es ist ein rein operatives Han-deln in den Unternehmen gewesen. Wir sollten in diesemFall klar trennen, wer für was verantwortlich ist.
Zum Kern der Sache. In Teilen des Hauses wird be-hauptet, Versagen bei den Sicherheitsstrukturen eines Ei-senbahnunternehmens sei damit zu begründen, dass die-ses Unternehmen privatwirtschaftlich geführt wird.Wenn das so ist, dann dürften Sie in kein Flugzeug einerin Deutschland operierenden Fluggesellschaft einsteigen– denn sie sind alle privatwirtschaftlich organisiert –,noch dürften sie sich an vielen anderen Lebensbereichendes öffentlichen Lebens beteiligen. Es gibt in der Sicher-heitsphilosophie keinen Unterschied zwischen privatenund staatlichen Unternehmen. Wer das behauptet, han-delt fahrlässig gegenüber denjenigen, die sich täglich mitVerkehrsmitteln privater Unternehmen fortbewegen. Esgibt keinen Unterschied. Ganz im Gegenteil: Die Sicher-heit im Luftverkehr ist nicht den Bürokraten und Politi-kern zu verdanken, sondern dem außerordentlich hohenEngagement der Unternehmen, und das, obwohl sie ge-winnorientiert arbeiten. Das ist nämlich kein Wider-spruch. Es lohnt sich, Ihnen das in jeder Debatte erneutbeizubringen.
Kollege Uwe Beckmeyer hat gefragt, was die Koali-tion eigentlich will. Wir bleiben dabei: Wir wollen, dassdiejenigen, die dicht dran sind, beispielsweise die Be-triebsleiter, mehr Rechte bekommen, damit sie sich imBereich der Sicherheitsanforderungen durchsetzen kön-nen. Wir wollen, dass das Eisenbahn-Bundesamt so starkund selbstbewusst ist, dass es noch schneller handelnkann. Deshalb hat es dort einen Stellenaufwuchs gege-ben. Gleichzeitig wollen wir, dass im Allgemeinen Ei-senbahngesetz das geregelt wird, was zu regeln ist. ImGesetz ist nicht zu regeln, ob die Eisenbahnunternehmendie Hersteller in ihre Wartungsanlagen lassen. Das alleskann man aber privatrechtlich regeln.Wir sollten überprüfen, warum all das, was in allenanderen Verkehrsbereichen – im Automobilbereich, imLuftfahrtbereich und in der Seeschifffahrt – zwischenden Herstellern, den Wartungsbetrieben und den Betrei-bern der Verkehrsmittel privatwirtschaftlich organisiertwird, durch bürgerlich-rechtliche Verträge, ausgerech-net bei der Bahn nicht so stark ausgeprägt ist? Muss mandas Allgemeine Eisenbahngesetz oder andere Regelun-gen ändern? Diese Fragen werden wir in den nächstenWochen erörtern. Ich appelliere an die Verantwortungder Bahnindustrie und der Bahnunternehmen, dass sieihre Regelungslücken schließen, was durch entspre-chende Verträge gewährleistet werden kann. Der Staatmuss das tun, was ihm auferlegt ist. Das gilt ebenso fürdie Unternehmen. Darauf legt diese Koalition großenWert.Es gibt keinen Unterschied zwischen den Sicherheits-wünschen der Opposition und der Koalition. Es gibtvielleicht einen etwas anderen Weg der Umsetzung.Aber ich bin mir sicher, dass wir am Ende die ge-wünschte Rechtssicherheit schaffen, dass wir starke Ak-teure haben und dass wir beweisen können, dass es nichtauf die Rechtsform des Verkehrsunternehmens an-kommt, ob Sicherheit herrscht, sondern dass es zu denGrundpfeilern unserer Verkehrspolitik gehört, dass sichjeder, der sich in der Verkehrswirtschaft engagiert, nach
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3560 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
Patrick Döring
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den Sicherheitsvorschriften zu verhalten hat, unabhängigdavon, ob es sich um ein privates oder ein öffentlichesUnternehmen handelt.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Sabine Leidig für die Frak-
tion Die Linke.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich
möchte noch einmal betonen, dass mit der Pannenserie
bei der Berliner S-Bahn, die Ende 2008 begonnen hat,
vor unseren Augen ein beispielloser Niedergang eines
funktionierenden öffentlichen Nahverkehrssystems statt-
gefunden hat. Dieser Niedergang hatte zwei zentrale
Gründe: Erstens gab es eine Menge Probleme mit Rä-
dern und Radachsen, die zu schwach und nicht ausrei-
chend dimensioniert waren. Zweitens – das ist das Ent-
scheidende gewesen – sind die Wartungskapazitäten, die
der Bahn zur Verfügung stehen, systematisch herunter-
gefahren worden. Warum? Weil die S-Bahn Berlin jähr-
lich Zigmillionen Euro Gewinn an die Muttergesell-
schaft Deutsche Bahn AG abzuführen hatte.
Ich glaube, dass man an diesem Beispiel wie in einem
Brennglas sehen kann, worin zentrale Probleme der
Bahnsicherheit bestehen,
auch im Fernverkehr, bei den ICE, und im Güterverkehr.
Eines der größten und schwersten Unglücke der Eisen-
bahngeschichte, die Entgleisung des ICE bei Eschede
1998, hatte genau diesen Grund: Die Radachsen, die Rä-
der waren den Belastungen nicht gewachsen.
24 Radsatzwellenbrüche und 31 Radreifen- und Rad-
scheibenbrüche im In- und Ausland sind seit 2000 be-
kannt geworden. Die Konsequenz, die man aus diesen
Feststellungen bereits 2004 in einer Studie gezogen hat,
ist, dass das Material anders ausgelegt sein muss, dass
man stärkere, dauerfeste Teile braucht. Im japanischen
Fernverkehrssystem und auch beim TGV in Frankreich
wird genau diese Schlussfolgerung gezogen. Dort wird
ein stärkeres Material eingesetzt. Die Deutsche Bahn AG
wählt diesen Weg nicht.
Die Deutsche Bahn AG hat sich entschieden, die Rad-
achsen einer engmaschigen Kontrolle zu unterziehen, sie
mit Ultraschallgeräten zu prüfen und auf feine Haarrisse
und Kerben zu untersuchen.
– Und, wenn nötig, auszutauschen. Völlig richtig.
Sie setzt aber nicht auf ein System, das garantiert, dass
diese Räder und Radachsen bis zum Lebensende eines
Zuges halten.
Sie müssen einfach stärker sein. Aber damit sind sie na-
türlich auch teurer, und das ist genau der Grund, warum
die Deutsche Bahn AG dieses stärkere Material nicht be-
stellt hat. Das hat übrigens auch Verkehrsminister
Ramsauer genau so veröffentlicht.
Er hat darüber hinaus festgestellt, dass die Börsenorien-
tierung des Unternehmens dafür verantwortlich ist, dass
an dieser Stelle gespart wird.
Nun stellen wir fest, dass offensichtlich auch die
Werkstattkapazitäten nicht nur bei der S-Bahn, sondern
insgesamt so stark heruntergefahren wurden, dass sie
nicht mehr ausreichen, um das Herausfliegen einer ICE-
Tür zu verhindern. Wann hat es das in der Zuggeschichte
jemals gegeben? Das muss man sich einmal vorstellen:
Eine Schraubenmutter löst sich. Die löst sich doch nicht
einfach so, sondern sie löst sich, weil der Wagen nicht
richtig gewartet worden ist.
Da darf auf keinen Fall gespart werden. Aus unserer
Sicht ist die zentrale Forderung, dass sich die Deutsche
Bahn AG ganz klar auf einen sicheren Verkehr, auf einen
ausreichend gewarteten Fahrzeugpark orientiert und
nicht darauf, mehr Gewinn zu machen.
Frau Kollegin, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Döring zulassen?
Ja.
Bitte schön.
Frau Kollegin Leidig, sind Sie bereit, zuzugestehen,dass bezüglich der Untersuchung des tragischen Un-glücks mit der herausgerissenen ICE-Tür erstens die Er-mittlungen des Eisenbahn-Bundesamtes andauern, zwei-tens in alle Richtungen ermittelt wird, auch in RichtungFremdeinwirkung/Sabotage? Und sind Sie bereit, zuzu-gestehen, dass wir zu diesem Zeitpunkt keinerlei Er-kenntnisse aus dem Eisenbahn-Bundesamt haben, wie es
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3561
Patrick Döring
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zu diesem tragischen Unglück gekommen ist, bevor Siehier weiter verbreiten, es handele sich bei diesem Unfallum einen Wartungsfehler?
Zumindest hat man gelesen, dass es eine lockere
Schraubenmutter war.
Ich denke, so etwas muss in einer Werkstatt festgestellt
und geklärt werden.
Ich möchte dazu, dass Sie in Ihrem Antrag fordern,
die Verantwortung und Rechte der Betriebsleiter zu stär-
ken, feststellen, dass wir der Meinung sind, dass die Ver-
antwortung da nicht an der richtigen Stelle abgeladen
wird. Ein Betriebsleiter, der permanent dem Rendite-
druck des Unternehmens ausgesetzt ist, wird in ständi-
gem Widerstreit stehen zwischen den notwendigen um-
fangreichen Sicherheits- und Wartungsarbeiten und der
Vorgabe, dass die Züge schnell wieder in Betrieb kom-
men. Das wird übrigens auch von denjenigen, die sich da
fachlich auskennen, genauso geschildert.
Es geht darum, der Deutschen Bahn AG eine andere
Richtung zu geben. Genau darin besteht die Verantwor-
tung der Politik. Wir wollen nicht das operative Geschäft
betreiben, sondern wir wollen eine Bürgerbahn und
keine Börsenbahn. Wir wollen, dass die Sicherheit im
Mittelpunkt steht und nicht die Gewinne. Wir wollen
nicht Arriva in Großbritannien aufkaufen, sondern wir
wollen sicher reisen und das Gefühl haben, dass wir
auch in Zukunft gern in die Bahn steigen.
Frau Kollegin, Sie müssten dringend zum Ende kom-
men.
Ich komme zum Ende. – Ein erster Schritt, um diesen
Kurs der Bahn zu ändern, wäre, den Aufsichtsrat anders
zu besetzen.
Frau Kollegin, Sie müssten schon zum Ende gekom-
men sein.
Warum kann man nicht vonseiten der Bundesregie-
rung, die das alleinige Berufungsrecht hat, eine Bahnsi-
cherheitsfachkraft in den Aufsichtsrat berufen? Das ist
unser Vorschlag.
Frau Kollegin.
Die Lieferanten von Rädern und Radachsen sollten
nicht in diesem Aufsichtsrat sitzen.
Danke.
Der Kollege Dr. Anton Hofreiter hat das Wort für
Bündnis 90/Die Grünen.
Geschätzte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir haben in diesem Winter und schon davoreine ganze Reihe von verblüffenden Ereignissen bei derBahn erleben dürfen: Achsen sind gebrochen, Radschei-ben sind gebrochen, und Güterzüge sind entgleist. Wennman nach den Ursachen für all diese Ereignisse geschauthat, musste man feststellen: Bei der S-Bahn gab es mas-sive Schlamperei und einen Abbau der Wartungskapazi-täten, beim ICE weiß man eigentlich immer noch nichtganz genau, warum die Achse gebrochen ist.Wir hatten einen wunderschönen parlamentarischenAbend mit vielen Experten, die alle nicht wirklich darle-gen konnten, warum der sogenannte dauerfeste Stahldoch nicht dauerfest ist und ob das einfach falsch kon-struiert worden ist. Wir erlebten einen wunderbarenStreit zwischen der DB AG und der Bahnindustrie, werdenn jetzt eigentlich schuld sei. Dies ist für Nichtfach-leute kaum nachvollziehbar. Wir haben, wie gesagt, er-lebt, dass Züge entgleist sind. Ich denke zum Beispiel andas Güterzugunglück bei Fürth. Als man genauer hinge-schaut hat, hat man festgestellt, dass die Schrauben, diedie Gleise befestigen sollten, lose waren, weil sie offen-sichtlich seit vielen Jahren nicht mehr genauer überprüftworden sind.Das heißt, wir können zwei Dinge beobachten: Aufder einen Seite ist die Wartung zurückgefahren worden,auf der anderen Seite ist der Unterhalt der Infrastrukturzurückgefahren worden. Jetzt können wir uns lange undausführlich über gesetzliche Regelungen streiten. Sichergibt es im Detail gesetzgeberischen Nachholbedarf, aberes ist auch schon dargelegt worden, dass selbstverständ-lich nicht hinter jedem einzelnen Mitarbeiter der Gesetz-geber stehen kann. Es handelt sich hier jedoch nicht umein x-beliebiges Unternehmen. In welchem Unterneh-men treten denn all diese Probleme auf? In einem Unter-nehmen, das sich zu 100 Prozent in öffentlichem Eigen-tum befindet,
in einem Unternehmen, das im Schnitt über Regionali-sierungsmittel, über Zuschüsse zur Infrastruktur rund10 Milliarden Euro Steuergelder bekommt. Jetzt ist hierschon zu Recht gesagt worden, dass die Gewährleistungvon Sicherheit nicht unbedingt davon abhängt, ob es sichum ein öffentliches oder privates Unternehmen handelt.Als gutes Beispiel dafür sind die Fluggesellschaften ge-nannt worden.
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Dr. Anton Hofreiter
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Aber bei der Bahn gab es eine ganz spezielle Fehlent-wicklung. Was ist in diesem Unternehmen passiert? Indiesem Unternehmen wurde und wird noch immer einKurs verfolgt, der mehr oder weniger auf einen Börsen-gang hinausläuft. Im Zuge des Anstrebens eines Börsen-gangs hat man beim extrem langlebigen System Eisenbahnetwas ganz Einfaches gemacht, um die Gewinnerwartun-gen zu erhöhen: Man hat schlichtweg weniger in die In-frastruktur und in die Wartung investiert. Was ist der Ef-fekt? Man spart natürlich kurzfristig Geld, und dasGanze schaut finanziell besser aus. Warum hat man dasderart rücksichtslos gemacht, auch ohne auf den lang-fristigen Wert des Unternehmens zu achten? Weil es einbestimmtes Datum gab, auf das man hingearbeitet hat.
Man hat darauf hingearbeitet, das Unternehmen spätes-tens 2008 an die Börse zu bringen. Das ist auch der Un-terschied zu einem privaten, zu einem schon privatisier-ten Unternehmen. Diesem Ziel hat man alles andereuntergeordnet.
Man hat zum Beispiel der S-Bahn Berlin die Vorgabegemacht, einen bestimmten Gewinn abzuliefern: zuerst50 Millionen Euro, dann 80 Millionen Euro und im nächs-ten Jahr 130 Millionen Euro. Das waren harte Vorgaben.Wenn von unten Einspruch geäußert und gesagt wurde,dass diese Gewinnvorgaben nicht realisierbar sind, dannhieß es: Ihr setzt diese Gewinnvorgaben um, komme, wasda wolle. – Das ist auch an den Aussagen verschiedenerMitarbeiter deutlich geworden. Das heißt, die Börsen-orientierung hatte mit den Problemen bei der Sicherheitdurchaus zu tun. Letztendlich hat der Eigentümer versagt,weil er nicht klargemacht hat, was er erwartet.
Was passiert im Moment? Wir sehen, dass die Ent-wicklung weiterhin in diese Richtung geht. 2,7 Milliar-den Euro werden für den Kauf von Arriva ausgegeben.Dieses öffentliche Unternehmen ist an 130 Standorten inden Bereichen Luftfrachtlogistik, Straßenlogistik undSeefrachtlogistik tätig. Dorthin verschwindet das Geld.Dieses Geld sollte bei der Schiene reinvestiert werden.Dann gäbe es auch nicht mehr in diesem Umfang Sicher-heitsprobleme. Als Regierung, als Vertreter des Eigentü-mers ist es Ihre Aufgabe, dies umzusetzen.Danke.
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege
Ulrich Lange.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Kollegin Leidig, Kollege Hofreiter, ich habe Angst.Ich habe ganz große Angst, wenn ich morgen in einenZug steige, um in meinen Wahlkreis zu fahren. Wenn ichmir die Probleme vor Augen halte, die Sie gerade aufge-zählt haben, bleibe ich besser in Berlin oder suche mirein anderes Verkehrsmittel.Ich glaube, es ist gut, dass wir uns über das wichtigeThema Bahnsicherheit unterhalten. Aber die Debattezeigt auch, wie differenziert und unterschiedlich unsereAnsätze in vielen Punkten sind. Die Bahn ist und bleibttrotz alledem, was gerade beschrieben wurde, das si-cherste Verkehrsmittel; das bitte ich festzuhalten. Wergehört hat, was Sie gesagt haben, müsste sonst nämlichglauben, dass man in Deutschland in keinen Zug mehrsteigen kann.
– Ja, Herr Kollege Hofreiter, ich habe wirklich Angst.Über eines müssen wir uns im Klaren sein: AbsoluteSicherheit wird es in einem Unternehmen mit über200 000 Beschäftigten und bei über 5 Millionen Passa-gieren pro Tag – ich brauche die ganze Liste wohl nichtaufzuzählen – nicht geben. Dass wir uns alle um diegrößtmögliche Sicherheit im Eisenbahnverkehr bemü-hen, dürfte unstreitig sein. Ich glaube, auf die vielen Pro-bleme, die es in den vergangenen Jahren gegeben hat, obbei der S-Bahn Berlin oder mit ICE-Radsatzwellen,brauche ich nicht einzugehen. Aber eines funktioniertnatürlich nicht – das haben wir auch in der Anhörung imAusschuss deutlich gemacht –: das Schwarzer-Peter-Spiel zwischen DB AG und Bahnindustrie. Das könnenwir nicht hinnehmen.
Im Übrigen ist es so, dass die Übertragung dieser An-gelegenheit auf das EBA und die Einrichtung einerEisenbahn-Unfalluntersuchungsstelle des Bundes derrichtige Ansatz war. Das EBA hat einen guten Job ge-macht. Die neue Koalition setzt auf eine komplette Neu-orientierung, nicht auf Panikmache.Kollege Beckmeyer, wenn ich Ihnen richtig zugehörthabe, haben Sie in Ihrer Rede neben der üblichen Pres-seschau die Ausdünnung der Flotte, der Werkstättenusw. angesprochen. Mit dieser Bilanz des GespannsMehdorn/Tiefensee haben Sie 4 000 Tage SPD-Ver-kehrspolitik aufgezählt. Überlegen Sie also vorher, wasSie uns erzählen wollen! Ansonsten wird das Ganze zumBumerang.
Mit Peter Ramsauer, lieber Kollege Pronold, habenwir einen ausgezeichneten neuen Verkehrsminister. Das
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Ulrich Lange
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hat er nicht nur bei der Aschewolke bewiesen, das zeigter auch, wenn er die Fehlleistungen des MinisteriumsTiefensee, insbesondere in der Bahnpolitik, korrigierenmuss.
– Natürlich.Sie haben den Antrag der Koalitionsfraktionen sicher-lich gelesen. Er ist in vielen Punkten konkreter als derAntrag der SPD. Sie wollen eine dynamische Sicher-heitsüberprüfung usw. Dazu steht aber nicht viel in Ih-rem Antrag.Frau Kollegin Leidig, Sie haben von der guten altenBahn geschwärmt. Natürlich; denn Sie wollen die Bahnnicht in private Hände geben, meinen, der Staat könnedas Unternehmen besser führen. Sie haben auch von deralten DDR-Reichsbahn geschwärmt. Ich glaube nicht,dass ein Modell für die Zukunft ist, dass wir wieder insolchen Zügen sitzen wollen.
Für uns steht der Neuanfang mit Dr. Grube undDr. Peter Ramsauer fest. Bahnpolitik wird im Verkehrs-ministerium gemacht und nicht wie bei Mehdorn amPotsdamer Platz. Das ist für uns als Politiker das Ent-scheidende.
Der Kunde muss im Mittelpunkt stehen. Pünktlichkeit,Sicherheit, Schnelligkeit und Zuverlässigkeit, das istdas, was die Fahrgäste von der Deutschen Bahn und vonden anderen Bahnunternehmen erwarten. Ich bin mir si-cher, dass wir hier auf einem guten Weg sind.Lassen Sie mich zum Schluss festhalten: Die Bahnsetzt ihre Ankündigungen um, ob es um den Vorstands-posten für die Technik geht oder um die 6 MilliardenEuro für die Nachfolger der IC- und ICE-Züge und vie-les mehr. Der Dienstleistungsanspruch steht im Mittel-punkt. Die Sicherheit ist das höchste Gut. Wir alle sindder Sicherheit verpflichtet, wissen aber: Absolute Si-cherheit im Verkehr kann und wird es nie geben.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung aufDrucksache 17/1459.Unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung emp-fiehlt der Ausschuss die Annahme des Antrags der Frak-tionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/1162mit dem Titel „Gewährleistung der Sicherheit der Eisen-bahnen in Deutschland“. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Die Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Damit ist die Beschlussempfehlung angenommenbei Zustimmung durch die Koalitionsfraktionen. Dage-gen gestimmt haben SPD und Bündnis 90/Die Grünen.Enthalten hat sich die Fraktion Die Linke.Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Druck-sache 17/655 mit dem Titel „Gewährleistung der Sicher-heit im Schienenverkehr muss Priorität haben“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Die Gegen-stimmen! – Enthaltungen? – Damit ist die Beschluss-empfehlung angenommen. Zugestimmt haben CDU/CSU und FDP. Dagegen gestimmt hat die Fraktion derSPD. Linke und Bündnis 90/Die Grünen haben sich ent-halten.Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe cseiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antragsder Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1016 mit demTitel „Den Schienenverkehr als sichere Verkehrsform er-halten und stärken“. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Die Gegenstimmen! – Enthaltungen? –Die Beschlussempfehlung ist ebenfalls angenommen beiZustimmung durch CDU/CSU, FDP und SPD. Die Frak-tion Die Linke hat dagegen gestimmt. Bündnis 90/DieGrünen haben sich enthalten.Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchsta-be d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung desAntrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-sache 17/544 mit dem Titel „Eisenbahnsicherheit ver-bessern“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Die Gegenstimmen! – Enthaltungen? – Damit ist die Be-schlussempfehlung bei Zustimmung durch die Koali-tionsfraktionen angenommen, dagegen haben Bündnis 90/Die Grünen gestimmt, und enthalten haben sich SPDund Linke.Damit rufe ich den Tagesordnungspunkt 10 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Finanzausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Martin Gerster,Nicolette Kressl, Ingrid Arndt-Brauer, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPDSteuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags-,Feiertags- und Nachtarbeit erhalten– Drucksachen 17/244, 17/1458 –Berichterstattung:Abgeordnete Olav GuttingMartin GersterDr. Daniel VolkÜber die Beschlussempfehlung stimmen wir im An-schluss namentlich ab.Es ist zwischen den Fraktionen verabredet, dazu einehalbe Stunde zu debattieren. – Dazu höre ich keinen Wi-derspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort demKollegen Olav Gutting für die CDU/CSU-Fraktion.
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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Die SPD stellt hier heute einen Antrag, dass die Steuer-freiheit der Zuschläge für Sonn-, Feiertags- und Schicht-arbeit für alle Zeiten unangetastet bleiben soll. Manwundert sich geradezu, dass Sie nicht beantragen, dasswir das ins Grundgesetz hineinschreiben.
Es ist ein reines Wahlkampfmanöver der SPD. Sieversuchen hier wider besseres Wissen, die Union als Par-tei hinzustellen, die die Abschaffung der Steuerfreiheitder Zuschläge will. Nur: Die Union plant gar keine Ab-schaffung der Steuerfreiheit dieser Zuschläge.
Das würde im Übrigen auch unserem Ansatz widerspre-chen, der besagt: Wir wollen für die Menschen inDeutschland mehr Netto vom Brutto.
Diese Debatte heute hat schlicht und ergreifend zweiUrsachen. Die eine ist: Wir stehen kurz vor den Wahlenin Nordrhein-Westfalen. Die andere ist: Es liegt ein Gut-achten vor, in dem die Ergebnisse der Beurteilung derSteuerfreiheit der Zuschläge schwarz auf weiß niederge-legt wurden.Es war Ihr Finanzminister Peer Steinbrück, der imJuli 2007 ebenjenes Gutachten in Auftrag gegeben hat.
Das Ergebnis dieses Gutachtens hinsichtlich der Steuer-befreiung von Sonn-, Feiertags- und Nachtzuschlägenkönnen Sie jetzt nachlesen. In diesem Gutachten, dasvon Ihrem Finanzminister in Auftrag gegeben wurde,steht: Durch die Steuerfreiheit wird das Gerechtigkeits-prinzip verletzt. Verteilungspolitisch werden Besserver-dienende mit dieser Steuerbefreiung sogar stärker be-günstigt. – Dort steht auch schwarz auf weiß: Die durchdie Steuerbefreiung der Zuschläge induzierte Anreizwir-kung widerspricht dem Ziel des Schutzes der Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer in diesem Land. – So lautetdas eindeutige Ergebnis dieser Studie, die von Ihrem Fi-nanzminister in Auftrag gegeben wurde.Ich will nochmals klarstellen, damit das auch jederhier kapiert: Die Union und auch die christlich-liberaleKoalition insgesamt planen trotz dieses Ergebnisseskeine Streichung dieser Steuerfreiheit.
Ihrem Antrag, der hinsichtlich des Gestaltungswillens inder Steuerpolitik ja eine Bankrotterklärung ist, werdenwir trotzdem nicht zustimmen.
Der Wegfall von Ausnahmeregelungen ist grundsätz-lich nur vertretbar, wenn er mit einer Steuerreform kom-biniert wird, und in diesem besonderen Fall müssen zu-sätzlich Tarifvereinbarungen hinzukommen, durch diedie Schlechterstellung zum Beispiel gerade der Kranken-schwestern vermieden wird.
Wir wollen ein Einkommensteuerrecht, das Leistungbelohnt, statt sie zu bestrafen.
Ihr Antrag, den wir heute beraten, will aber eine Ausnah-mevorschrift zementieren und damit eine die Arbeitneh-mer begünstigende Rechtsfortbildung grundsätzlich ver-hindern.Wer wirklich arbeitnehmerfreundliche Politik machenund die breite Mitte der Gesellschaft entlasten will, diein diesem Land seit Jahren die Lasten tragen muss, dermuss wie wir das Ziel haben, ein leistungsgerechtes, ein-facheres und transparenteres Einkommensteuerrecht zugestalten.
Das bedeutet nicht zwangsläufig die Abschaffung derSteuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags-, Feiertags-und Nachtarbeit. Es ist auch in keiner Weise Bestandteilunseres Regierungsprogramms. Das bitte ich Sie zurKenntnis zu nehmen.Ich finde Ihren Antrag nicht nur unnötig, sondernauch regelrecht anmaßend. Nicht nur, dass Sie wie im-mer in typischer SPD-Manier den Menschen in diesemLand vorschreiben wollen, was sie zu tun und zu lassenhaben,
nein, jetzt versuchen Sie auch noch, zukünftigen Politi-kergenerationen Vorschriften zu machen.
Was ist denn, meine Damen und Herren von der SPD,wenn in fünf, zehn oder vielleicht fünfzehn Jahren eineandere Politikergeneration der SPD eventuell auf dieIdee kommt, dass das Ergebnis der von Ihrem Finanzmi-nister in Auftrag gegebenen Studie vielleicht doch Be-standteil einer großen Steuerstrukturreform werden soll?Was ist, wenn eine SPD-Politikergeneration genauso wiedas Gutachten eines Tages feststellt, dass die Abschaf-fung der Steuerfreiheit der Zuschläge eine verbesserteSteuertransparenz und eine gleichmäßigere Einkommen-steuerverteilung mit sich bringen würde? Was ist, wenneine zukünftige SPD-Politikergeneration wirklich einearbeitnehmerfreundliche Politik machen will?
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Olav Gutting
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Die meisten von Ihnen werden dann wahrscheinlichnicht mehr in diesem Parlament sein. Aber Ihren Nach-folgern wird man vorwerfen müssen, dass sie umgefal-len sind. Ich weiß, dass Sie das nicht stört. Aber für unsin der Union hat das mit seriöser Politik nichts zu tun.
Deshalb werden wir Ihrem populistischen und kurzsich-tigen Antrag heute nicht zustimmen.
Martin Gerster spricht für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Um eines klarzustellen: Die SPD steht zur Steuer-freiheit der Zuschläge für Sonntags-, Feiertags- undNachtarbeit. Das war, ist und bleibt auch so, um das ganzklar zu sagen.
Das galt auch für die Zeit, als Hans Eichel Bundes-finanzminister war, und es galt für die Zeit, als PeerSteinbrück Bundesfinanzminister war. Denn als die Wis-senschaftler dieses Gutachten vorgelegt haben, hat PeerSteinbrück über den Sprecher des Ministeriums gleichklipp und klar erklären lassen, dass er der Letzte wäre,der an dieser Regelung etwas ändern würde.
Auch das müssen Sie erwähnen, wenn Sie darauf ver-weisen, wer die Studie in Auftrag gegeben hat.
Das gehört zur Redlichkeit dazu, wenn man hier eineRede hält.Was uns umtreibt und alarmiert, sind die Aussagen,die von der FDP zu hören sind. Noch im Dezember hatder haushaltspolitische Sprecher und ParlamentarischeGeschäftsführer der FDP, Fricke, gesagt: An diesesThema müssen wir ran.
Erst vor ein paar Tagen hat Herr Pinkwart in Nordrhein-Westfalen gesagt, dass diese Regelung auf den Prüfstandmuss.
Das können wir nicht zulassen. Deswegen wollen wirheute Klarheit von Ihnen, wo Sie bei diesem Thema ste-hen. Deswegen haben wir auch eine namentliche Ab-stimmung beantragt.
Zur FDP muss man an dieser Stelle ganz klar sagen:Sie kommen langsam Stück für Stück herunter, in denUmfragewerten, aber auch in dem Größenwahn, wasSteuersenkungen anbelangt. Am Wochenende war ichunterwegs und habe festgestellt, dass Sie langsam ver-höhnt und verspottet werden. Am Nachbartisch in derGaststätte wurde gesagt: Kennst du eigentlich das drei-stufige Steuermodell, das die FDP angestrebt hat? – Naklar: 35 Milliarden Euro Steuersenkungen wurden vorder Bundestagswahl versprochen. Im Koalitionsvertragwaren es noch 24 Milliarden Euro. Jetzt sind es noch16 Milliarden Euro.
Das ist das dreistufige Steuermodell der FDP.
Weil Ihnen langsam dämmert, dass dies alles nicht zu-sammenpasst, sagen Sie jetzt, wir bräuchten ein fünfstu-figes Modell. Na klar, die nächste Stufe wird nach derLandtagswahl in Nordrhein-Westfalen zünden, und diefünfte Stufe wird dann kommen, wenn Sie sagen, Siehätten leider kein Geld für Steuersenkungen. So siehtIhre Steuerpolitik aus.
So langsam dämmert Ihnen auch, dass Sie nicht immernoch mehr Schulden machen können. Der KollegeWissing hat gestern im Finanzausschuss gesagt: DieSchuldenbremse ist ja viel härter, als wir ursprünglichgedacht haben.
Sie merken langsam, dass das alles nicht zusammen-passt. Deshalb kommen Sie jetzt auf die Idee, das ThemaSubventionen wieder aus der Schublade zu ziehen. Die-ses Thema ist schon richtig. Mir fällt auch ein Subven-tionstatbestand ein, bei dessen Abschaffung wir sofortmitmachen würden, nämlich der Subventionstatbestand,den Sie hier im Dezember eingeführt haben: die Steuer-vergünstigung für Hoteliers.
Ihre Steuerpolitik und Ihre Vorschläge, die Sie jetzt vorder Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen präsentieren,zielen doch auf eines ab: Dem Hotelier wird gegeben,dem Nachtportier wird genommen. So sieht es doch defacto aus.
Das ist die Rechnung, die Sie aufmachen, wenn Sie sa-gen, die Steuervergünstigungen für diejenigen, dienachts, am Sonntag und am Feiertag arbeiten, gehörtenauf den Prüfstand.
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Martin Gerster
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Jetzt müssen wir noch einmal über diejenigen reden,um die es eigentlich geht. Es geht um 20 Millionen Er-werbstätige. Fast jeder Zweite hat heutzutage inDeutschland nachts, am Sonntag oder am Feiertag zu ar-beiten. Oft sind es Leute, die einen harten Job machen,die dafür sorgen, dass die Maschinen, die Bänder nichtstillstehen, die in der Pflege oder im Gesundheitswesentätig sind, Menschen, auf die wir letztendlich nicht ver-zichten können. Wir sind der Meinung, dass diese außer-gewöhnlichen Belastungen, die die Menschen eingehen,auch honoriert gehören. Das muss man auch ganz klarsagen. Deswegen finde ich es schade, dass Sie davon re-den, dies alles gehöre auf den Prüfstand. Sind Sie esnicht, die immer „mehr Netto vom Brutto“ sagen?
Das passt doch überhaupt nicht zusammen.Ich will einmal erwähnen, was dies de facto aus-macht. Wir haben es einmal ausrechnen lassen. Ein Che-mikant mit zwei Kindern verliert etwa 4 800 Euro imJahr, wenn diese Zuschläge besteuert werden. EinSchichtarbeiter bei Infraserv – das haben wir von derGewerkschaft erfahren – verliert bis zu 4 300 Euro imJahr. Das darf doch wohl nicht wahr sein; das ist dochnicht mehr Netto vom Brutto, sondern das Gegenteil.Sie schaden nicht nur den Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmern, sondern auch den Unternehmen; denn esheißt ja immer wieder, wenn diese Steuerfreiheit falle,müsse dies von den Tarifpartnern ausgeglichen werden.Das will ich einmal sehen, wenn Einbußen von20 Prozent und mehr von den Tarifpartnern ausgeglichenwerden sollen. Das geht überhaupt nicht. Die Gewerk-schaften sind nicht so stark, und die Unternehmen kön-nen es gar nicht finanzieren. Was heißt in diesem Zu-sammenhang eigentlich Arbeitgeber? Es sind ja vielfachArbeitgeber, die sich als öffentliche Hand zusammenfas-sen lassen: die Städte und Gemeinden, die Kreise, dieSie mit Ihrer Gesetzgebung in den Ruin treiben.
Wenn Sie das jetzt auf den Prüfstand stellen wollen,ist das in meinen Augen nichts anderes als ein Anschlagauf die soziale Balance unserer Arbeitsgesellschaft. Des-wegen verlangen wir an dieser Stelle ein klares Bekennt-nis, dass Sie an der Schraube „Steuerfreiheit für Zu-schläge“ nicht drehen wollen. Nicht mehr und nichtweniger verlangen wir von Ihnen. Wir wollen hier wis-sen, wo Sie stehen, und deswegen wird es nachher einenamentliche Abstimmung geben.
Wenn Sie sagen, Sie bräuchten mehr Einnahmen, umIhre geplanten Steuersenkungen durchführen zu können,dann habe ich noch eine gute Idee, wie Sie zu mehr Ein-nahmen kommen.
Schauen Sie einmal nach Baden-Württemberg. Wenn diedortige Landesregierung gesagt hätte: „Jawohl, wir er-werben diese Steuer-CD“, dann hätten wir entsprechendmehr Einnahmen generieren können, und zwar durchdiejenigen, die die Steuerehrlichkeit leider mit Füßentreten, weil sie ihre Gelder ins Ausland schieben, zumBeispiel in die Schweiz, nach Liechtenstein oder in an-dere Länder. Das wäre ein guter Ansatzpunkt gewesen.
Ich möchte ganz deutlich sagen: Die SPD steht zurSteuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags-, Nacht- undFeiertagsarbeit, weil die Menschen es verdient haben.Wir wollen wissen, wo Sie stehen. Deswegen sind wirauf das Ergebnis der namentlichen Abstimmung, dienachher stattfindet, gespannt.Herzlichen Dank.
Der Kollege Dr. Daniel Volk spricht für die FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Lieber Herr Gerster, dass die SPD sich wiedereinmal zum Beschützer der Schichtarbeiter aufschwingt,
die in der elfjährigen Regierungsverantwortung der SPDeher zu den Verlierern der Steuerpolitik gehörten,
ist schon sehr verwunderlich.
Im Jahr 2005 sind Sie mit dem Versprechen zur Bun-destagswahl angetreten, die Mehrwertsteuer nicht zu er-höhen. Das war ein ganz schön gigantischer Wahlbetrug.Sie haben es bei der Steuerfreiheit der Schichtzulagenbelassen, weil Ihr Finanzminister Steinbrück durch dieMehrwertsteuererhöhung auf 19 Prozent viel besser ab-kassieren konnte, und zwar insbesondere bei den mittle-ren und unteren Einkommensschichten; denn die trifftdas am stärksten. Schon dies belegt die fehlende Glaub-würdigkeit der Sozial- und Steuerpolitik der SPD. EineMehrwertsteuererhöhung ist die unsozialste Art derSteuerpolitik, um es klar zu sagen.
Ich finde es schon sehr interessant, dass die Steuer-freiheit der Schichtzulagen durch ein Papier aus demSPD-geführten Finanzministerium infrage gestelltwurde; denn es stellt sich die Frage, warum ein SPD-Mi-nister das überhaupt begutachten lässt. Es war also einSPD-Finanzminister, der diese Debatte angeheizt hat.
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Dr. Daniel Volk
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Für uns Liberale – das möchte ich hier ganz klar sagen –steht eine Änderung bei der Steuerfreiheit der Schichtzu-lagen nicht auf der Tagesordnung.
Schauen Sie einmal in unser Wahlprogramm. SchauenSie in unser Steuerkonzept. Nirgends ist von einer Ab-schaffung der Steuerfreiheit der Schichtzulagen dieRede.
Im Gegensatz zu Ihnen von der SPD halten wir das, waswir vor der Wahl gesagt haben, auch ein.
Arbeit muss sich wieder lohnen in diesem Land. Mitdiesem Versprechen sind wir im Wahlkampf 2009 ange-treten. Daran werden wir uns messen lassen. Die erstenSchritte sind getan. Für die nächsten haben wir umfang-reiche Vorschläge gemacht.Als Erstes ist unser Steuerreformkonzept zu nennen.Wir wollen, dass sich Arbeit für alle Menschen in die-sem Land wieder lohnt. Deswegen wollen wir vor allemdiejenigen entlasten, die in der Vergangenheit unterSPD-Verantwortung in besonderem Maße und über Ge-bühr belastet wurden.
Dazu zählen nach unserer Ansicht insbesondere die un-teren und mittleren Einkommensschichten. Nach Jahrender Dauer- und Zusatzbelastung durch rote Regierungs-beteiligungen werden wir den Bürgern nun etwas von ih-rem Geld zurückgeben. Wir Liberale wollen eben einenanderen Weg gehen. Wir wollen Deutschland zu einemLand des Aufstiegs machen.
Deshalb wollen wir einen fairen Steuer- und Sozialstaat.Wir wollen solide Staatsfinanzen im Interesse nachfol-gender Generationen.
Ein fairer Steuer- und Sozialstaat stärkt den gesell-schaftlichen Zusammenhalt und erhöht die empfundeneSteuergerechtigkeit bei den Bürgerinnen und Bürgern.Die Bereitschaft der Bürger, Steuern zu zahlen, bildet diefinanzielle Grundlage jedes staatlichen Handelns
und sollte nicht durch eine ungerechte Steuersystematiktorpediert werden.Wenn einem Arbeitnehmer in Deutschland mit einemmonatlichen Einkommen von ungefähr 3 000 Euro voneiner Lohnerhöhung netto weniger als die Hälfte bleibt,dann stimmt etwas mit der Steuergerechtigkeit nicht.
Genau dort werden wir ansetzen. Nachdem wir die Fa-milien im Umfang von 4,6 Milliarden Euro entlastet ha-ben, werden wir nun den Mittelstandsbauch abbauen.Durch eine Umgestaltung des Steuertarifs in einenStufentarif kann die Ungerechtigkeit weitgehend besei-tigt werden.
Mit unserem Stufentarif werden genau die Berufs-gruppen entlastet, von denen Sie behaupten, sie schützenzu wollen; in Wirklichkeit haben Sie sie aber immermehr belastet.
Bei unserem Stufentarif wird die halbtags tätige Kran-kenschwester mit 12 000 Euro Jahreseinkommen bei derLohnsteuer um fast 21 Prozent entlastet.
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Höll zulassen?
Nein. – Der verheiratete Polizist mit einem Jahresein-kommen von 30 000 Euro wird bei unserem Stufentarifum mehr als 11 Prozent entlastet. Er wird nur noch209 Euro im Monat an Steuern zahlen.
Sie hingegen haben gerade diese Berufsgruppen in denletzten Jahren regelmäßig zur Kasse gebeten.
Es ist schon verwunderlich, dass dieser Antrag ausge-rechnet von der SPD kommt, hat doch vor allem IhrePartei so viel an Glaubwürdigkeit verspielt, und dasnicht erst seit Wochen, sondern seit Jahren.
Sie haben vor Wahlen oft viel versprochen und hinterherwenig davon gehalten. Auch Sie wollten einmal denMittelstandsbauch abschaffen. Auch Sie wollten einmaldie Mehrwertsteuer nicht erhöhen. Auch Sie wollten ein-mal das Gesundheitssystem reformieren. Auch Sie woll-
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Dr. Daniel Volk
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ten einmal gerechte Steuern. Aber nichts davon habenSie umgesetzt, da Ihre Wahlversprechen eben nur einesehr geringe Halbwertszeit haben. Das ist eine unehrli-che und unglaubwürdige Politik.
Allein aus diesem Grund werden wir Ihrem Antragdie Zustimmung verweigern.
Es kann sowieso niemand erahnen, wann Sie Ihre Mei-nung wieder ändern. Die christlich-liberale Koalitionhingegen handelt. Mit unserer Politik sorgen wir für Ver-besserungen in Deutschland, und zwar für alle Men-schen.Vielen Dank.
Die Kollegin Dr. Barbara Höll hat das Wort für die
Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Herr Gutting hat hier eine völlig neue Weis-heit verkündet: Das Steuersystem soll Leistung beloh-nen. – Ihr Steuersystem belohnt den Besitz hoher Ver-mögen und die Bezieher hoher und höchsterEinkommen. Das ist die Realität; das ist Ihr Leistungsbe-griff.
Ich sage Ihnen – ich glaube, so steht es in jedem Ökono-mielehrbuch –: Steuern dienen in erster Linie dazu, dasGemeinwesen zu finanzieren. Steuern sollen nach derwirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gezahlt werden. Ge-nau deshalb ist die Steuerfreiheit von Sonntags-, Nacht-und Feiertagszuschlägen gerechtfertigt.
Ob unsere gesundheitliche Versorgung sichergestellt ist,ob wir die Zeitung bekommen, weil Drucker nachts ar-beiten, ob Busfahrer und Straßenbahnfahrer nachts tätigsind – das alles ist von großer Bedeutung für unser Ge-meinwesen; dies gewährleistet sein Funktionieren. An-gesichts des zusätzlichen Aufwands, den Menschen inKauf nehmen, wenn sie zu ungewöhnlichen Arbeitszei-ten tätig sind, ist es gerechtfertigt, dass ein Teil ihresEinkommens von der Steuer befreit wird. Deshalb unter-stützen wir den Antrag der SPD.
Ich sage Ihnen hier noch einmal: Der Skandal in die-sem Lande ist, dass viele Menschen von der Steuerbe-freiung oft nichts haben, weil Arbeitsverträge vielfachnicht mehr tariflich gebunden sind, weil Verkäuferinnenoftmals abends arbeiten müssen. Manche kommen erstum 23 Uhr aus dem Geschäft, ohne für ihre NachtarbeitZuschläge zu bekommen. Wir fordern von Ihnen, sichdiesem Problem endlich zu stellen und den Mindestlohngesetzlich zu verankern. Eine solche Vereinbarung suchtman in Ihrem Koalitionsvertrag aber leider vergebens.Zum FDP-Steuerkonzept. Herr Volk, was steht wirk-lich in Ihrem Papier? Sie haben geschrieben, dass alleAusnahmen von der Einkommensteuerpflicht zur Dispo-sition gestellt werden sollen. Natürlich ist die Steuerfrei-heit von Zuschlägen eine Ausnahme. Also stellen Sie siezur Disposition. Sagen Sie doch bitte wenigstens hier dieWahrheit!
Einmal ganz nebenbei gesagt: Sie laufen immerdurchs Land und sagen, die Sozialabgaben seien zuhoch. Wenn Sie die Steuerfreiheit der Zuschläge ab-schaffen, dann ist natürlich auch dieser Teil des Einkom-mens sozialversicherungspflichtig. Damit würden sichauch für die Unternehmen die Sozialenabgaben erhöhen.Irgendwie wissen Sie auch nicht, was Sie wollen.
Ich muss Ihnen noch etwas sagen: Gerade für Kran-kenschwestern – das gilt auch für viele andere Berufe, indenen wenig gezahlt wird – ist die Steuerfreiheit fürNacht-, Feiertags- und Sonntagszuschläge wichtig fürdie Aufbesserung ihres Einkommens. Wir wissen, dassgerade deshalb viele in diesen Bereichen arbeiten – sosie einen Arbeitsplatz bekommen –, weil sie sich danndarüber freuen können, dadurch wenigstens ein kleinesbisschen mehr zu verdienen.
Wir sagen Ihnen: Die derzeitige Regelung ist richtig, sieist wichtig und gesellschaftlich gerechtfertigt. Wenn SieSubventionen streichen wollen, dann fangen Sie bei Ih-rem ermäßigten Mehrwertsteuersatz für die Hotelüber-nachtungen an, der in einer völlig sinnlosen Form veran-kert wurde.Noch ein Letztes, Herr Volk, da Sie meine Zwischen-frage vorhin nicht zugelassen haben. Sie haben hier wie-der die Unwahrheit gesagt. Sie haben nur den von Ihnenvorgeschlagenen Stufentarif berücksichtigt. Nach IhremGesamtkonzept – falls es jemals Wirklichkeit werdenwird – müssten insbesondere die Bezieherinnen und Be-zieher niedriger Einkommen – um bei Ihrem Beispiel derKrankenschwester mit einem Einkommen von 12 000Euro zu bleiben, das Sie hier angeführt haben – durchdie Streichung der steuerlichen Regelung des Arbeitneh-merpauschbetrages mehr Steuern zahlen als jetzt. Dabeihabe ich noch nicht mal eingerechnet, dass Sie am liebs-ten auch noch die Zuschläge nicht mehr steuerfrei stellenwollen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3569
Dr. Barbara Höll
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Ich sage Ihnen hier klipp und klar: Sorgen Sie dafür,dass die Leistung aller, die in unserem Land arbeiten,auch ordentlich bezahlt wird, sodass sie dann auch Steu-ern zahlen können, und lassen Sie die Finger von derSteuerfreiheit der Nacht-, Sonn- und Feiertagszuschläge.Vielen Dank.
Der Kollege Dr. Gerhard Schick hat das Wort für
Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es ist ein interessanter Vorwurf vonseiten der FDP, dassdas Wahlkampf sei, wenn man wissen möchte, was Sievorhaben. Ist es denn nicht Wahlkampf, wenn wir aufjede Frage zu den Finanzierungsmöglichkeiten – wir hat-ten das ja gestern in der Aktuellen Stunde – auswei-chende Antworten bekommen? Wir wissen, dass im Fi-nanzministerium schon vorbereitet wird, was nach derLandtagswahl in Nordrhein-Westfalen alles kommensoll, aber man traut es sich natürlich nicht aufzuschrei-ben.
Ist das kein Wahlkampf? – Ich glaube, sauber ist es, vorder Wahl zu sagen, was geplant ist, und nicht erst hinter-her die Katze aus dem Sack zu lassen. Das ist es aber,was Sie vorhaben.
– Ja, ich erinnere mich sehr gut an die Podiumsdiskussio-nen im Bundestagswahlkampf, wo von der FDP auf je-dem Podium gesagt wurde: Diese 35 Milliarden Eurokommen. Das können wir uns leisten. Wir haben garkein Haushaltsloch. Das wird alles kommen. – Inzwi-schen sind Sie bei der Hälfte des Betrages angelangt.Warum sind Sie da? – Weil es schon damals falsch war,was Sie im Wahlkampf gesagt haben. Das passiert jetztwieder.
Die lustige Erfahrung, die wir mit Ihnen machen, ist– deswegen haben wir genau bei diesem Thema ganzgroße Befürchtungen –: Sie ziehen die Themen Vereinfa-chung und Bürokratieabbau immer dann aus der Tasche,wenn es gerade in Ihr Konzept passt – und das ist dasKonzept der Entsolidarisierung dieser Gesellschaft.
Wir haben doch gehört, wie wichtig Ihnen die Vereinfa-chung und der Bürokratieabbau waren, als es darumging, ob wir eine zusätzliche Ausnahme bei der Umsatz-steuer einführen. Was zählte da der Bürokratieabbau? –Gar nichts zählte er, weil es Ihre Klientel betraf. Wir ha-ben ganz großes Misstrauen – nicht nur wir, sondernauch die Bürgerinnen und Bürger in diesem Land – ge-genüber einer Partei, die immer am falschen Ende dieSystematik entdeckt.
Denken wir einmal zurück! Wir wissen sehr gut, wieeine schwarz-gelbe Regierung mit großen Löchern um-geht. In der Frage „Wie finanzieren wir die Wiederverei-nigung?“ hat Schwarz-Gelb durch eine hohe Verschul-dung die Zukunft und durch die Anhebung derSozialversicherungsbeiträge die Masse der Arbeitnehme-rinnen und Arbeitnehmer belastet – mit hoher Arbeitslo-sigkeit als Folge.
Ich befürchte, Sie werden genau das wiederholen, unddas lassen wir nicht zu.
Wir haben heute genau gehört, dass man sich im End-effekt nicht festlegen will. Wo immer es um die Fragegeht „Wie finanziert man das?“, weichen Sie aus. DieDebatte gestern zur Finanzierung der FDP-Vorschlägewar doch bezeichnend. Wo waren denn die Antworten?Sie haben verschiedene Vorschläge gemacht. Sie wollenmit der Kopfpauschale eine Entsolidarisierung im Ge-sundheitssystem. Die Solidarität soll ins Steuersystem.Da kommt sie aber nie an. Das machen wir nicht mit. Siesagen nicht, was der Ersatz für die Gewerbesteuer seinsoll.
Wenn man unter all Ihre Vorschläge einen Strich macht,stellt man fest: Da ist ein ganz großes Loch; es fehlenüber 80 Milliarden Euro. Wir haben die große Befürch-tung, dass in dieses Loch von 80 Milliarden Euro dieSteuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags-, Feiertags-und Nachtarbeit – 2 Milliarden Euro – gehen soll; daswerden Sie brauchen, wenn Sie nachher den Strich da-runter machen. Sie werden damit die Entsolidarisierungweiterführen. Es wird wieder so sein, wie wir es von Ih-nen kennen: Entlastung oben, Belastung unten. Das wer-den wir nicht zulassen. Deswegen können wir dem An-trag der SPD heute nur zustimmen.
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3570 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
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Der Kollege Peter Aumer spricht für die CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! „Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags-,Feiertags- und Nachtarbeit erhalten“ – ein Antrag, derdurchaus seine Berechtigung hätte, wenn jemand aktuelldaran denken würde, diese Steuerfreiheit abzuschaffen.
Was Sie hier zum Thema machen, Herr Pronold, ist inder christlich-liberalen Koalition kein Thema.
Anträge wie dieser aus rein politischem Aktionismus he-raus sind nicht zielführend. Im Gegenteil: Sie schaden ineiner ausgewogenen Debatte über eine zukunftsgerich-tete und nachhaltige Politik.Im Koalitionsvertrag der christlich-liberalen Koalitionsteht ein klares Bekenntnis zu einer soliden und zielge-richteten Haushalts- und Finanzpolitik, eine klare Aus-richtung also auf Nachhaltigkeit und Generationenge-rechtigkeit. Grundgesetzlicher Handlungsrahmen hierfürist die Schuldenbremse. Sie wird bis 2016 und darüber hi-naus große Anstrengungen von uns allen verlangen.Diese Anstrengungen sind wichtig, um unserem Staat undden nachfolgenden Generationen neue Perspektiven undSpielräume zu geben. Vor diesem Hintergrund wirkt IhrAntrag, meine Damen und Herren der SPD, wie eine reineSchauveranstaltung, wie Populismus pur.
Was wollen Sie mit Ihrem Antrag erreichen? Augen-scheinlich wollen Sie die Bösen von CDU/CSU undFDP in die unsoziale Ecke stellen
– genau, ja –
und die SPD als die großen Retter – von was auch immer –herausstellen. Welch kurzfristig gedachte Oppositions-politik! Ja, in die Opposition gehören Sie, meine Damenund Herren!
In Ihrer Antragsbegründung wird vor allem deutlich,dass Sie die bisherigen Maßnahmen der christlich-libera-len Koalition nicht verstehen und nicht verstehen wollen.Mit dem Wachstumsbeschleunigungsgesetz, das zum1. Januar dieses Jahres in Kraft getreten ist, wurden Fa-milien, Unternehmen und Erben entlastet.
Gerade das waren auch die Ziele dieses ersten Maßnah-menpakets der Bundesregierung. Diese Ziele in die Tatumzusetzen, ist auch aller Anstrengungen wert, HerrSchick, denn die Familien sind die Keimzellen unsererGesellschaft; man muss immer das Ganze sehen, HerrDr. Schick.
Die Unternehmen sind mit ihren Mitarbeiterinnen undMitarbeitern für den Erfolg unseres Landes und für daserfolgreiche Schultern dieser schwierigen wirtschaftli-chen Situation gemeinsam verantwortlich.Es wird auch weiter steuerliche Entlastungen geben,insbesondere für die unteren und mittleren Einkommens-bereiche sowie für Familien mit Kindern. Die Steuer-schätzung im Mai wird zeigen, welche Potenziale mög-lich sind. Ebenso wird es eine spürbare Vereinfachungdes Steuerrechts geben. Auch dafür wurden wir gewählt,und dafür steht die Koalition aus CDU/CSU und FDP.
Gerade in Zeiten knapper Staatskassen ist es grund-sätzlich richtig, über Subventionen zu diskutieren unddiese zu überprüfen. Wie vorhin schon gehört, war esdoch der Bundesfinanzminister der SPD, Herr Steinbrück,der in einer Untersuchung die größten Subventionstatbe-stände im Steuerrecht hinterfragen ließ. Die Ergebnisse,meine Damen und Herren von der Opposition, müsstenSie eigentlich kennen, zumal dann, wenn man Mitglieddes Finanzausschusses ist.Das deutsche Steuerrecht muss sich für den Erhaltvon Arbeitsplätzen im internationalen Standortwettbe-werb um Investitionen behaupten, muss den sozialenAusgleich sicherstellen und vor allem von den Steuer-zahlerinnen und Steuerzahlern als gerecht empfundenwerden.
Beispiele hierfür sind der Sparerfreibetrag, die Riester-Förderung und eben auch die Steuerbefreiung von Zu-schlägen für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit.Diese wird von der Bevölkerung anerkannt und ge-schätzt. Das wird auch durch die Politik der christlich-li-beralen Koalition gewürdigt werden. Gerade deshalbsteht die Aufhebung der Steuerbefreiung von Zuschlä-gen für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit überhauptnicht zur Diskussion. Eine Abschaffung ist mit uns nichtzu machen.
Wir können Ihrem Antrag nicht zustimmen; denn un-antastbar sollte in Deutschland nur eines sein: die verfas-sungsrechtlich garantierten Grundrechte.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3571
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Damit schließe ich die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Finanz-
ausschusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit
dem Titel „Steuerfreiheit der Zuschläge für Sonntags-,
Feiertags- und Nachtarbeit erhalten“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/1458, den Antrag der Fraktion der SPD auf
Drucksache 17/244 abzulehnen.
Wir stimmen über die Beschlussempfehlung auf Ver-
langen der Fraktion der SPD namentlich ab. Ich bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen
Plätze einzunehmen. – Sind alle Urnen besetzt? – Das ist
der Fall. Dann eröffne ich die Abstimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgeben konnte? – Das scheint mir
nicht der Fall zu sein. Dann schließe ich die Abstim-
mung und bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer,
mit der Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis wird Ih-
nen später bekannt gegeben.1)
Wir setzen jetzt unsere Beratungen fort.
Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Abschaffung des Finanzplanungsrates
– Drucksache 17/983 –
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Haushaltsausschusses
– Drucksache 17/1465 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Carsten Schneider
Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Alexander Bonde
Hierzu liegen Änderungsanträge der Fraktion Die
Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Es soll eine halbe Stunde debattiert werden. – Dazu
sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
sen.
– Das ist ein wirklich interessantes Thema. Denjenigen,
die die Debatte miterleben möchten, empfehle ich, dies
im Sitzen zu tun. Denjenigen, die sich aktuell für andere
Dinge interessieren, empfehle ich, den Saal zu verlassen.
Das Wort hat die Kollegin Antje Tillmann für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin, herzlichen Dank für die Mühe, füreine interessierte Zuhörerschaft zu sorgen. Dass Sie das1) Ergebnis Seite 3572 DGesetz zur Übertragung von Aufgaben auf den Stabili-tätsrat interessant finden, freut mich.
Ich werde in meiner Rede versuchen, Ihnen die interes-santen Teile davon nahezubringen.Die Debatte im Vorfeld hat gezeigt, dass das, wasjetzt ansteht, die Folge von dem ist, was wir vor unge-fähr einem Jahr beschlossen haben. Im Mai 2009 habenwir nämlich im Bundestag die Föderalismuskommissionabgeschlossen, indem wir die Schuldenbremse in derVerfassung verankert haben. Wer sich vor kurzem dieReden zum Haushalt, aber auch die Reden am heutigenTag angehört hat, der weiß, dass das Wort „Schulden-bremse“ in annähernd jeder zweiten Rede vorgekommenist.Nicht nur zwei Drittel des Deutschen Bundestags,auch zwei Drittel des Bundesrates und mittlerweile fastzwei Drittel der Bürgerinnen und Bürger halten dieHaushaltskonsolidierung und Generationengerechtig-keit angesichts der Schulden, die wir anhäufen, für daswichtigste Thema dieser Legislaturperiode.
In einer Umfrage sagen 62 Prozent der Bürger, ihregrößte Angst sei nicht der Verlust des eigenen Arbeits-platzes oder das Entstehen von Umweltschäden.62 Prozent der Deutschen sagen, sie hätten große bzw.sehr große Angst vor den Folgen der nicht nur im Bund,sondern auch in den Ländern und Kommunen angehäuf-ten Schuldenlast. Wir hatten in der Vergangenheit ausrei-chend Gelegenheit, über die Situation der Kommunen zureden.Die Schuldenbremse ist bei der Haushaltskonsolidie-rung eigentlich das letzte Instrument. Das Verschul-dungsproblem entsteht nicht erst mit Überschreiten derSchuldenbremse, sondern ist bereits im Vorhinein abseh-bar. Das hat sich durch die Wirtschaftskrise nicht geän-dert: Sie hat die Verschuldungssituation verschärft, abernicht begründet.
Schon in der Vergangenheit wurden die Haushalteüberwacht. Es gab einen Finanzplanungsrat, der eigent-lich langfristig Konzepte der Haushaltskonsolidierungerstellen sollte. Der Finanzplanungsrat gab Empfehlun-gen für eine Koordinierung der Finanzplanungen desBundes, der Länder und der Gemeinden, insbesonderefür eine gemeinsame Ausgaben- und Defizitpolitik. Ererörterte die Vereinbarkeit der Haushalte von Bund undLändern mit dem Europäischen Stabilitäts- und Wachs-tumspakt.Heute lösen wir den Finanzplanungsrat auf und über-tragen Teile seiner Aufgaben auf den neuen Stabilitäts-
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3572 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
Antje Tillmann
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rat. Das Wort an sich zeigt schon, dass der Stabilitätsratweitaus mehr Macht, Einfluss und Gestaltungsmöglich-voranzutreiben. Das ist ein erheblicher Fortschritt ge-genüber der bisherigen Regelung beim Finanzplanungs-keiten als der Finanzplanungsrat haben wird. Das Wort„Finanzplanung“ sagt noch nichts über eine Konsolidie-rung aus. Das Wort „Stabilität“ hingegen bezeichnet dieFähigkeit eines Systems, sich wiederherzustellen, nacheiner Störung wieder in den Ausgangszustand zurückzu-kehren.Wir brauchen nicht nur eine Finanzplanung, sondernwir brauchen auch Stabilität. Deswegen ist die Entschei-dung richtig, dem Stabilitätsrat die Aufgabe der Überwa-chung zu übertragen; sie ist von den Sachverständigen inder Anhörung einstimmig als guter Schritt in die richtigeRichtung bezeichnet worden.
– Genau das werden wir tun, Herr Kollege. Der Stabili-tätsrat wird nämlich jährlich über die Haushaltslage desBundes und der einzelnen Länder beraten. Selbstver-ständlich hat er das Recht, darauf hinzuweisen, wenn derHaushalt einen Stand erreicht, der weit vor Greifen derSchuldenbremse eine Notlage signalisiert.
Der Stabilitätsrat entwickelt mit der entsprechendenGebietskörperschaft, bei der eine Haushaltsnotlage fest-gestellt wird, ein Sanierungsprogramm, wobei der Bundoder das Land das Verfahren in eigener Verantwortung,aber unter Beobachtung des Stabilitätsrates durchführt.Sind die Sanierungsanstrengungen unzureichend, kannder Stabilitätsrat zu einer verstärkten Haushaltssanierungauffordern.
Dabei hilft es, dass es Kennziffern geben wird, die dieHaushaltsdaten vergleichbar machen. Das ist heute nichtso: Wir können die Schuldenstandsquote, die Zinsquoteund die Schulden gar nicht von Land zu Land oder zwi-schen Bund und Ländern vergleichen, weil es unter-schiedliche Kennziffern gibt, je nachdem, ob die Buch-führung doppisch oder kameralistisch durchgeführtwird. Das zu ändern, ist die erste Aufgabe des Stabili-tätsrates.Wir haben den Stabilitätsrat im Vergleich zum Fi-nanzplanungsrat gestärkt, indem wir das Einstimmig-keitsprinzip aufgegeben haben. Der Finanzplanungsratkonnte nur einstimmig Beschlüsse fassen; der Stabili-tätsrat kann dies mit einer Zweidrittelmehrheit. Das giltfür Beschlüsse gegen ein Land, aber auch umgekehrt:Zwei Drittel der Länder können den Bund ermahnen undihn auffordern, seine Haushaltskonsolidierung stärkerrat.Hinzu kommt, dass die Berichte veröffentlicht wer-den. Die aktuelle Situation in Griechenland, aber auchdie Reaktionen auf den ersten blauen Brief der Europäi-schen Union an Deutschland haben gezeigt, dass geradedie öffentliche Debatte dazu beiträgt, dass man bei derKonsolidierung der Haushalte nicht nachlässt; Bürgerin-nen und Bürger kommen ihrer Kontrollpflicht, ihremKontrollrecht sehr wohl nach und üben hinsichtlich derKonsolidierung Druck auf die Politiker aus.Wir sind damit nicht am Ende. Ich gebe zu: Wir habenim Stabilitätsratsgesetz noch keine Maßnahme dazu be-schlossen, was passieren soll, wenn sich ein Land oderder Bund längerfristig gegen Sanierungsmaßnahmenstellt oder in seinen eigenen Sanierungsbemühungennachlässt. Es gibt also keine Sanktionen. Ich bin aber op-timistisch, dass wir in diesem Augenblick gar keineSanktionen brauchen; denn die Debatten in diesemHaus, aber auch im Bundesrat und in den Kommunenzeigen, dass der Ernst der Situation eindeutig angekom-men ist, sowohl bei Politikerinnen und Politikern
– auch bei der FDP, lieber Kollege; da bin ich ganz si-cher –
als auch bei den Bürgern. Ich bin sicher, dass wir dieKonsolidierung gemeinsam fortführen werden. Ichglaube deshalb, dass wir zurzeit auf Sanktionierungsme-chanismen verzichten können; vielleicht müssen wir ir-gendwann darauf zurückkommen.Im Moment bin ich froh, dass sich der Stabilitätsratnächste Woche konstituiert und dann seine Aufgabenwahrnimmt. Ich wünsche allen Beteiligten in diesemneuen Gremium alles Gute und möglichst wenige Sanie-rungsfälle. Ich bin sicher, dass der Rat einen wesentli-chen Beitrag zur Haushaltskonsolidierung leistet.Ich danke Ihnen.
Ich komme zu Tagesordnungspunkt 10 zurück undgebe Ihnen das von den Schriftführerinnen und Schrift-führern ermittelte Ergebnis der namentlichen Abstim-mung über die Beschlussempfehlung des Finanzaus-schusses bekannt. Es ging um die Steuerfreiheit derZuschläge für Sonntags-, Feiertags- und Nachtarbeit,Drucksachen 17/244 und 17/1458. Abgegeben wurden570 Stimmen. Mit Ja haben gestimmt 308 Kolleginnenund Kollegen, mit Nein haben gestimmt 262 Kollegin-nen und Kollegen, Enthaltungen gab es nicht. Die Be-schlussempfehlung ist damit angenommen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3573
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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Endgültiges ErgebnisAbgegebenen Stimmen: 570;davonja: 308nein: 262JaCDU/CSUIlse AignerPeter AltmaierPeter AumerDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannErnst-Reinhard Beck
Veronika BellmannDr. Christoph BergnerPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausGitta ConnemannLeo DautzenbergMarie-Luise DöttDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserErich G. FritzHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigEberhard GiengerJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerAstrid GrotelüschenMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersDr. Karl-Theodor Freiherrzu GuttenbergOlav GuttingFlorian HahnHolger HaibachDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtDr. Matthias HeiderMechthild HeilUrsula Heinen-EsserFrank HeinrichRudolf HenkeMichael HennrichAnsgar HevelingErnst HinskenPeter HintzeChristian HirteRobert HochbaumKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampJoachim HörsterAnette HübingerThomas JarzombekDr. Dieter JasperDr. Franz Josef JungAndreas Jung
Dr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterAlois KarlBernhard Kaster
Volker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterEckart von KlaedenVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenDr. Kristina Schröder
Manfred KolbeDr. Rolf KoschorrekHartmut KoschykThomas KossendeyMichael KretschmerDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Hermann KuesGünter LachDr. Karl A. Lamers
Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeDr. Max LehmerPaul LehriederDr. Ursula von der LeyenIngbert LiebingMatthias LietzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsDr. Jan-Marco LuczakDr. Michael LutherKarin MaagDr. Thomas de MaizièreHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Dr. Michael MeisterMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergDietrich MonstadtMarlene MortlerDr. Gerd MüllerStefan Müller
Nadine Müller
Dr. Philipp MurmannBernd Neumann
Michaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteDr. Michael PaulRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaChristoph PolandRuprecht PolenzEckhard PolsLucia PuttrichDaniela RaabThomas RachelDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche
Lothar RiebsamenJosef RiefKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr. Annette SchavanDr. Andreas ScheuerKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiGeorg SchirmbeckChristian Schmidt
Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffDr. Ole SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe Schummer
Detlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelErika SteinbachChristian Freiherr von StettenDieter StierGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerKarin StrenzThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Vogel
Stefanie VogelsangAndrea Astrid VoßhoffDr. Johann WadephulMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg
Peter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerDr. Matthias ZimmerWolfgang ZöllerWilli ZylajewFDPJens AckermannChristian AhrendtChristine Aschenberg-DugnusDaniel Bahr
Florian BernschneiderSebastian BlumenthalClaudia BögelNicole Bracht-BendtKlaus BreilRainer BrüderleAngelika BrunkhorstErnst BurgbacherMarco BuschmannSylvia CanelHelga DaubReiner DeutschmannDr. Bijan Djir-SaraiPatrick DöringMechthild DyckmansRainer ErdelJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickePaul K. FriedhoffDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannHeinz Golombeck
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3574 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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Miriam GrußDr. Christel Happach-KasanHeinz-Peter HausteinManuel HöferlinElke HoffBirgit HomburgerHeiner KampMichael KauchDr. Lutz KnopekPascal KoberDr. Heinrich L. KolbHellmut KönigshausGudrun KoppDr. h. c. Jürgen KoppelinSebastian KörberPatrick Kurth
Heinz LanfermannHarald LeibrechtSabine Leutheusser-SchnarrenbergerLars LindemannDr. Martin Lindner
Michael Link
Dr. Erwin LotterOliver LuksicHorst MeierhoferPatrick MeinhardtGabi MolitorJan MückePetra Müller
Burkhardt Müller-SönksenDr. Martin Neumann
Dirk NiebelCornelia PieperGisela PiltzDr. Birgit ReinemundDr. Peter RöhlingerDr. Stefan RuppertBjörn SängerFrank SchäfflerChristoph SchnurrJimmy SchulzMarina SchusterDr. Erik SchweickertWerner SimmlingJudith SkudelnyDr. Hermann Otto SolmsJoachim SpatzDr. Max StadlerTorsten StaffeldtDr. Rainer StinnerCarl-Ludwig ThieleStephan ThomaeFlorian ToncarSerkan TörenJohannes Vogel
Dr. Daniel VolkDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff
NeinSPDIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeinz-Joachim BarchmannDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelSören BartolBärbel BasSabine BätzingDirk BeckerUwe BeckmeyerLothar Binding
Gerd BollmannKlaus BrandnerWilli BraseBernhard Brinkmann
Edelgard BulmahnMarco BülowUlla BurchardtMartin BurkertPetra CroneDr. Peter DanckertElvira Drobinski-WeißGarrelt DuinSebastian EdathySiegmund EhrmannPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerElke FernerGabriele FograscherDr. Edgar FrankeDagmar FreitagPeter FriedrichMichael GerdesMartin GersterIris GleickeGünter GloserUlrike GottschalckAngelika Graf
Michael GroschekMichael GroßWolfgang GunkelHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannMichael Hartmann
Hubertus Heil
Rolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz
Frank Hofmann
Dr. Eva HöglChristel HummeJosip JuratovicOliver KaczmarekJohannes KahrsDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberLars KlingbeilHans-Ulrich KloseDr. Bärbel KoflerDaniela Kolbe
Fritz Rudolf KörperAnette KrammeNicolette KresslAngelika Krüger-LeißnerUte KumpfChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeGabriele Lösekrug-MöllerKirsten LühmannCaren MarksKatja MastHilde MattheisPetra Merkel
Franz MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesManfred NinkThomas OppermannHolger OrtelAydan ÖzoğuzHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldMechthild RawertGerold ReichenbachDr. Carola ReimannSönke RixRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth
Michael Roth
Marlene Rupprecht
Anton SchaafAxel Schäfer
Bernd ScheelenMarianne Schieder
Werner Schieder
Ulla Schmidt
Silvia Schmidt
Carsten Schneider
Olaf ScholzOttmar SchreinerSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeDr. Angelica Schwall-DürenDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzStefan SchwartzeDr. Carsten SielingSonja SteffenDr. Frank-Walter SteinmeierChristoph SträsserKerstin TackDr. h. c. Wolfgang ThierseFranz ThönnesWolfgang TiefenseeRüdiger VeitUte VogtAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-ZeulWaltraud Wolff
Uta ZapfDagmar ZieglerManfred ZöllmerBrigitte ZypriesDIE LINKEJan van AkenAgnes AlpersDr. Dietmar BartschHerbert BehrensMatthias W. BirkwaldHeidrun BluhmSteffen BockhahnChristine BuchholzEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausSevim DağdelenDr. Diether DehmWerner DreibusDr. Dagmar EnkelmannKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole GohlkeAnnette GrothDr. Gregor GysiHeike HänselInge HögerDr. Barbara HöllAndrej Konstantin HunkoUlla JelpkeDr. Lukrezia JochimsenKatja KippingHarald KochJan KorteJutta KrellmannCaren LaySabine LeidigRalph LenkertMichael LeutertStefan LiebichUlla LötzerDr. Gesine LötzschDorothée MenznerCornelia MöhringNiema MovassatWolfgang NeškovićPetra PauJens PetermannRichard PitterleYvonne PloetzIngrid RemmersPaul Schäfer
Michael SchlechtDr. Herbert SchuiDr. Ilja SeifertKathrin Senger-SchäferRaju SharmaDr. Petra SitteKersten SteinkeSabine StüberAlexander SüßmairDr. Kirsten TackmannFrank TempelDr. Axel TroostAlexander UlrichKathrin VoglerSahra WagenknechtHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerJörn WunderlichSabine Zimmermann
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3575
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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legt: 10 Milliarden Euro an Investitionen gehen an die Nachfragelücke zumindest teilweise zu schließen.Gemeinden. Sie müssen diesesodass wir auf 13 Milliardennun um einen Effekt der Zusgung. Diese Bedingung haschuss des Bundestages vorfügt. Heute geschieht FBedingung, die wir mit viernicht zugestimmt – eingefügdem Willen und auf Druck drum?
nigungsgesetz, wie Sie Ihrgenannt haben, gab es for-zlerin, dass Sie dies für dieAuch das ist richtig.
Zusätzlichkeitskriteriumshbehandlung führen. Kom-men bereits durchfinanziert Kommunen, die sich mehrachteiligt“, so Tillmann.mit vollkommen recht; nuretz, zu dem Sie jetzt ebenu das Gegenteil. Ich finde, Öffentlichkeit eine Erklä-d dem BÜNDNIS 90/NEN)BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENVolker Beck
Cornelia BehmBirgitt BenderAlexander BondeViola von Cramon-TaubadelEkin DeligözKatja DörnerHans-Josef FellDr. Thomas GambkeKai GehringKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannBettina HerlitziusWinfried HermannPriska Hinz
Ulrike HöfkenDr. Anton HofreiterIngrid HönlingerThilo HoppeUwe KekeritzKatja KeulMemet KilicSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkUte KoczyTom KoenigsSylvia Kotting-UhlAgnes KrumwiedeFritz KuhnStephan KühnIch gebe jetzt dem Kollegen Carsten Schneider für dieSPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Frau Kollegin Tillmann, die Frage des Fi-nanzplanungsrates ist unstrittig. Dem ursprünglichenGesetzentwurf hätten wir auch zugestimmt. Nicht un-strittig ist allerdings eine maßgebliche Veränderung desGesetzes, die Sie am gestrigen Tag im Haushaltsaus-schuss vorgenommen haben. Sie haben nämlich diesesGesetz zur Abschaffung des Finanzplanungsrates ge-nutzt,
um eine maßgebliche Änderung am Konjunkturpro-gramm vorzunehmen. Sie haben es missbraucht. Das ha-ben Sie entgegen allen Empfehlungen getan, die sowohlder Präsident des Bundesrechnungshofes als auch derBauindustrieverband, Sie selbst und die Bundesregie-rung, vertreten durch das Bundesfinanzministerium, ge-geben haben.Worum geht es? Im Konjunkturprogramm war festge-Renate KünastMarkus KurthUndine Kurth
Monika LazarNicole MaischAgnes MalczakJerzy MontagKerstin Müller
Beate Müller-GemmekeIngrid NestleDr. Konstantin von NotzOmid NouripourDr. Hermann OttElisabeth PausBrigitte PothmerTabea RößnerKrista SagerManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergChristine ScheelDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtDorothea SteinerDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDaniela WagnerWolfgang WielandDr. Valerie WilmsLänder ändern werden, damit sie diesem unsinnigen Ge-setz zustimmen, das zu mehr Steuerunsicherheit undSteuerausfällen geführt hat. Meine Damen und Herren,das war eine Erpressung, der Sie nachgegeben haben.Das ist eine Kastration des Bundestages, und es ist fi-nanzwirtschaftlich ein Desaster.
Ich kann Ihnen das nicht ersparen. Frau KolleginTillmann, ich habe gerade eine Pressemitteilung vom24. Februar 2010 herausgeholt, die vom Tenor her rich-tig ist. Unter der Überschrift „Zusätzlichkeitskriteriumist verantwortungsvoll!“ schreiben Sie – ich zitiere, weildas alles stimmt, was Sie schreiben –:Die neue Initiative der Länder im Bundesrat, Inves-titionen in Kommunen auch dann aus dem Kon-junkturprogramm zu fördern, wenn sie nicht zusätz-lich sind, hat die Bundesregierung in ihrer heutigenKabinettssitzung zu Recht zurückgewiesen.
Nur zusätzliche Investitionen erfüllen den Sinn undZweck des Konjunkturprogramms, neue Aufträgezu generieren und dadurch die krisenbedingte
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3576 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
Carsten Schneider
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Ich kann mir vorstellen, dass Ihnen das peinlich ist.Das kann ich sogar nachvollziehen. Ich würde das nichtmachen wollen. Ich hätte das auch nicht gemacht. Ichhätte so etwas auch nicht zugesagt. Ich hätte auch daserste Gesetz, mit dem das in Verbindung steht, nicht ge-macht. Aber es zieht sich wie ein roter Faden durch dieFinanzpolitik dieser Regierung, dass Sie kein Konzepthaben, dass wirtschaftliche Effekte, die zu einer Stär-kung von wirtschaftlicher Tätigkeit führen, im Hinter-grund stehen. Im Gegenteil: Sie betreiben Klientelbe-günstigung. Das, was an guten Maßnahmen noch da war– wir laufen jetzt sogar Gefahr, dass diese Hilfen, die wirgegeben haben, verfassungswidrig sind –, konterkarierenSie. Ich finde, es ist eine bittere Stunde für den Bundes-tag, eine bittere Stunde für den Haushaltsausschuss. Ichkann nur hoffen, dass das in dieser Tendenz mit Ihnennicht so weitergeht. Aber meine Hoffnung wird wahr-scheinlich trügen.Vielen Dank.
Otto Fricke hat das Wort für die FDP-Fraktion.
Sehr geschätzte Frau Präsidentin! Kollege Schneider,Ihr Beitrag war wunderbar. Als Lateiner kann ich nur sa-gen: Spes saepe fallit, aber nicht immer. Was Sie sagen,ist gar nicht so falsch. Aber wenn Sie schon analysieren,wie es zu der Situation gekommen ist, dann wollen wirdoch einmal festhalten, dass es auch im Rahmen derFöderalismuskommission II nicht gelungen ist, die Fragezu beantworten, wer für welche Steuereinnahmen zu-ständig ist und wer im Windschatten bei welchen Steuer-einnahmen wie vorgeht.
Sie haben recht – ich bestätige das ausdrücklich –: Esgab eine Absprache mit dem Bundesrat. Nun können Siefragen: Wie kann man so etwas nur machen? Darauf ant-worte ich: Eine Absprache, die dafür gesorgt hat, dasswir eine Kindergelderhöhung bekommen, ist mir man-ches wert, bei dem ich in den sauren Apfel beißen muss.Sie sagen, dass es Ihnen das nicht wert ist. Das halte ichschlichtweg für falsch.
Grundsätzlich ist die Notwendigkeit dieses Gesetzes,was den ursprünglichen Titel angeht, unbestritten. DieAbschaffung ist richtig. Die ungeklärte Frage, Frau Kol-legin Tillmann, ob das mit der Schuldenregelung funk-tioniert oder nicht, hängt von allen verantwortlichenPolitikern ab,
nicht nur im Bund, sondern auch in den Ländern undKommunen. Es wird aber auch davon abhängen – dasmöchte ich den Bürgern sagen –, ob wir eine Gesellschafthaben, die es nicht nur akzeptiert, dass gespart werdensoll, sondern die ebenso akzeptiert, dass – entsprechendder jeweiligen Leistungsfähigkeit – auch in Bereichengespart wird, die einen selber betreffen. Jede Regierungund jede Fraktion will sparen. Wenn es aber konkretwird – seien wir ehrlich –, sieht es anders aus.
Ich finde die Reaktionen schon interessant: Die SPDist seit einiger Zeit nicht mehr in Regierungsverantwor-tung. Die Grünen waren sieben Jahre lang an der Regie-rung beteiligt. Auch Sie haben Schulden gemacht.
Seien Sie wenigstens so ehrlich und erkennen Sie dasKernproblem der Verschuldung an!Zum Verhalten der Länder. Die Länder müssen – ichfinde es gut und ehrenwert, dass fünf Vertreter der Län-der hier sind – für ihren Teil kämpfen. Mir wäre es lie-ber, die Länder hätten eigene Steuerrechte und würdensagen: Bürger, weil wir diese oder jene Ausgaben fürrichtig halten, wollen wir von euch die entsprechendenSteuern. – Diejenigen, die besser sparen, werden bei denBürgern anders ankommen als diejenigen, die schlechtersparen. Das gilt ebenso für den Bund. Sie werden sehen,dass das Sparen irgendwann belohnt wird.Die FDP kann sich etwas klarer positionieren als dieCDU/CSU, die dieses Konjunkturpaket in der GroßenKoalition beschlossen hat. Wir haben es abgelehnt. Die-ses Konjunkturpaket ist der falsche Ansatz gewesen. Daszeigt sich jetzt deutlich.
Wenn wir uns genauer anschauen, was passiert, stellenwir fest, dass in dem Jahr, in dem die Wirtschaft wiederwächst, all die Ausgaben, die im Konjunkturpaket ver-einbart wurden, prozyklisch wirken. In dem Jahr, in demsie hätten helfen sollen, haben sie nicht geholfen. Das istder Fehler.Das Schönste im ganzen Gesetzgebungsprozess warder Sachverständige, der von den Grünen geladenwurde. Er hat sehr deutlich gesagt – daran sieht man,dass die Grünen in der Opposition viele Dinge richtigmachen, zum Beispiel die richtigen Sachverständigenauswählen –, es sei falsch gewesen, das Konjunkturpaketüberhaupt zu verabschieden. Er hat wörtlich gesagt: Diebessere Alternative wären Steuersenkungen gewesen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3577
Otto Fricke
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Insofern bin ich sehr froh, wenn der Sachverständige dasvielleicht noch genauer darstellen wird und Sie ihmmöglicherweise folgen.
Warum? Herr Schneider hat eben gesagt, wir hättenkeinen Plan. Das zu behaupten, ist sehr leicht, vor allemdann, wenn man selber keinen hat. Aber Herr KollegeSchneider, wenn man daran glaubt, dass dieses Land dieWirtschaftskrise besser als manch andere Länder über-winden kann, dann muss man sich an das halten, wasauch SPD und Grüne im Zuge der Agenda 2010 gemachthaben: Man muss Reformen auf den Weg bringen. Daskann man in dem Bereich machen, in dem Sie es ge-macht haben – wovon Sie jetzt aber nichts mehr wissenwollen –, oder man kann diejenigen entlasten, von denenman erwartet, dass sie mit dafür sorgen, dass das Wachs-tum gesteigert wird.
Für uns in der Koalition sind das ganz wesentlich die un-teren und mittleren Einkommen, die wir als FDP prozen-tual am stärksten entlasten wollen. Das ist der Unter-schied zwischen uns: Sie sehen das absolut. Sie sindbereit, den Menschen absolut möglichst viele Steuernwegzunehmen. Wir hingegen wollen möglichst vieleMenschen, ihrer Leistungsfähigkeit entsprechend, pro-zentual von ihrer jeweiligen Steuerschuld entlasten.
Das ist der Unterschied zwischen unseren beiden Par-teien: Bei Ihnen bedeutet Gerechtigkeit, dass man denje-nigen ungerecht behandeln darf, der viel leistet und vielverdient, und dass man sich um denjenigen, der wenigleistet, in anderer Weise kümmert.Nach meiner Ansicht ist es so, dass wir bei der Frageder Zusätzlichkeit einen Kompromiss schließen, der fürmeine Fraktion sicherlich nicht angenehm ist; aber anVerträge hält man sich. Das gilt für die Länder – auchdas will ich deutlich sagen – nicht so ganz; denn die Ver-waltungsvereinbarung, die die Länder zur Zusätzlichkeitgetroffen haben – das möchte ich kritisch anmerken –,beinhaltete eigentlich genau das, was mit dem Kompro-miss rückgängig gemacht worden ist.Ich komme noch kurz zur Härtefallregelung, weilauch sie Teil des Gesetzentwurfs ist. Wir setzen das Bun-desverfassungsgerichtsurteil bezüglich der Punkte, beidenen eine offensichtliche Ungerechtigkeit vorliegt – siesind uns von der SPD im Bereich Hartz IV vorgegebenworden –, mehr oder weniger eins zu eins um. DiesesProblem lösen wir jetzt. Ich hoffe – ich habe leidernichts davon gehört –, dass auch seitens der Oppositionanerkannt und für richtig gehalten wird, dass den betrof-fenen Hartz-IV-Empfängern damit vorläufig – das istkein endgültiger Status – Rechtssicherheit gegeben wird,dass es eine gesetzliche Regelung gibt, die deutlich zumAusdruck bringt: Hartz-IV-Empfänger, wenn bei dir einbesonderer Härtefall vorliegt, kümmert sich diese Koali-tion eindeutig und klar darum, dass du nicht ins Boden-lose fällst.
Die Dinge, die es in elf Jahren SPD-Regierungsbeteili-gung nicht gab, werden nunmehr endlich geregelt. Dashalten wir für eine richtige Lösung.
Ein letzter Punkt ganz schnell zum Schluss:
Der eigentliche Streit und das verfassungsrechtlichgrößte Problem befindet sich – ich sage das ganz be-wusst – nicht in diesem Gesetzentwurf. Das ist das Prü-fungsrecht des Bundesrechnungshofs. Auch wenn wir anvielen Stellen Streit haben, Herr Kollege Schneider, sohoffe ich doch, dass wir uns bezüglich der verfassungs-rechtlichen Streitigkeiten, die jetzt vonseiten der Länderkommen, einig sind. Wenn die Länder sagen: „Bund, dudarfst uns zwar Geld geben, aber du darfst nicht mit dei-nem Rechnungshof kontrollieren, ob wir das Geld rich-tig verwenden“, können wir nur hoffen, dass klar wird:Wer Geld gibt, hat auch das Recht, zu kontrollieren, obes richtig ausgegeben wird.Herzlichen Dank.
Katja Kipping hat das Wort für die Fraktion Die
Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Bei die-sem Gesetzentwurf handelt es sich um ein sogenanntesOmnibusgesetz, in dem ganz verschiedene Regelungenbehandelt werden. Ich möchte mich für die Linke vor al-len Dingen zur Härtefallklausel im Bereich Hartz IV äu-ßern.Diese Klausel soll vor dem Hintergrund eines Bun-desverfassungsgerichtsurteils eingeführt werden. DasGericht hat uns verpflichtet, sicherzustellen, dass es imHärtefall auch Leistungen über den Regelsatz hinausgibt. Es geht hier also um nicht weniger als die Umset-zung eines verfassungsmäßigen Auftrages. Ich finde, esist fraglich, ob der vorliegende Gesetzentwurf diesemAnspruch gerecht wird.
In den Beratungen war häufig von Rechtssystematikund unbestimmten Rechtsbegriffen die Rede. Bei dieserRegelung geht es aber auch um menschliche Schicksale,zum Beispiel um folgenden Fall, von dem mir ein Ver-
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3578 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
Katja Kipping
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treter des Arbeitslosenverbandes erzählte: Eine Alleiner-ziehende, die ein Kind hat, das asthmakrank ist und eineAllergie hat und wegen dieser Allergie einen besonderenErnährungsbedarf hat, der mehr Geld kostet, was vomHartz-IV-Regelsatz nur schwer zu bestreiten ist, hörtevon diesem Urteil, schöpfte Hoffnung und hat einen An-trag gestellt. Der Antrag ist abgelehnt worden. – Ange-sichts solcher Meldungen finde ich es fraglich, ob dieEntscheidungen der Jobcenter wirklich immer im Geistedes Verfassungsgerichtsurteils sind.In dem nun vorliegenden Gesetzentwurf heißt es, einHärtefall liege nur dann vor, wenn der Bedarf nichtdurch Einsparungsmöglichkeiten beim Hartz-IV-Regel-satz gedeckt werden kann. Meine Damen und Herren,wo leben Sie denn? Glauben Sie denn ernsthaft, dassbeim Arbeitslosengeld II noch so viel Luft ist, dass manlocker etwas sparen kann? Glauben Sie das ernsthaft?Die Linke meint: Nein, das ist nicht möglich. Deswegenmeinen wir, dass der Regelsatz generell erhöht werdenmuss.
Herr Fricke, auch die juristischen Sachverständigenhaben in der Anhörung an der Formulierung zu den Ein-sparungsmöglichkeiten kein gutes Haar gelassen. Über-flüssig und irreführend – das waren die Aussagen vonKlaus Lauterbach vom Landessozialgericht Sachsen-An-halt. Generell muss man sagen, dass die Stellungnahmenzur Anhörung und die Wortmeldungen der Sozialver-bände an dem Vorschlag von Schwarz-Gelb kein gutesHaar gelassen haben.
Ich finde es frappierend, dass Sie trotzdem trotzig daraufbeharren. Das ist Ausdruck höchster Ignoranz.Wir als Linke haben die Anregung der Sachverständi-gen ernst genommen. Wir haben sie aufgegriffen und ei-nen entsprechenden Änderungsantrag eingebracht.
Nun existiert bei der Bundesagentur für Arbeit einKatalog mit Beispielen für Härtefälle. Solch ein Katalogkann niemals abschließend sein; das ist mir bewusst.Aber es ist sehr auffällig, dass in diesem Katalog ganzwichtige Beispiele, auf die die Sozialverbände hinge-wiesen haben, fehlen. Beispielsweise fehlen nichtver-schreibungspflichtige Medikamente im Fall von Neuro-dermitis oder HIV-Erkrankungen sowie Mehrbedarfe fürBrillen und orthopädische Sonderbedarfe. Es fehlenauch Mehrkosten, wenn Unverträglichkeiten für spe-zielle Lebensmittel wie Laktose vorliegen.Dringend müssten vor allem besondere Schulbedarfeergänzt werden.
Immerhin – das besagt ja auch das Bundesverfassungs-gericht – gibt es einen völligen Ermittlungsausfall imHinblick auf kinderspezifische Bedarfe. Solange wiralso im Kinderregelsatz die Schulbedarfe nicht klar ein-gerechnet haben, müssten zumindest bis zu dieser Rege-lung Schulbedarfe als Härtefall ergänzt werden.
Nun haben Sie, Herr Fricke, nur ein Argument für dievorliegende Formulierung genannt, nämlich dassRechtssicherheit geschaffen wird. Schön wäre es. Beider Anhörung gab es keinen Sachverständigen, der be-stätigt hat, dass damit Rechtssicherheit geschaffen wird.Das Freundlichste, was in diesem Zusammenhang zu hö-ren war, sagte der Direktor des Sozialgerichtes in Pots-dam, Graf von Pfeil:Der Gesetzentwurf verhält sich … in gewisserWeise neutral: Er schafft weder Klarheit noch Un-klarheit …Umgangssprachlich würde ich sagen, dass es sich umeinen „Hinischani-Gesetzentwurf“ handelt: hilft nichts,schadet aber auch nicht. Für diese Form von Rechts-sicherheit können Sie sich wirklich kräftig auf die Schul-tern klopfen.
Halten wir fest: Die vorliegende Formulierung schafftfür die Betroffenen kein Mehr an Rechtssicherheit. Inso-fern kann man den Betroffenen nur empfehlen, im Zwei-felsfall einen Antrag zu stellen. Denn nach Aussage allerSachverständigen ist der Einzelfall entscheidend. Mankann den Betroffenen nur sagen: Kämpfen Sie um IhreRechte!Herzlichen Dank.
Alexander Bonde hat das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der Entwurf eines Gesetzes zur Abschaffung des Fi-nanzplanungsrates hatte als unspektakuläre, breit zu-stimmungsfähige Veranstaltung begonnen, weil es sichum die logische Umsetzung einer Grundgesetzregelunghandelt. Wenn man einen Rat nicht mehr braucht, sollteman ihn auch abschaffen. Jetzt haben Sie aber etwas da-raus gemacht, was Sie selber als Omnibusgesetz be-zeichnen.
Als Freund des öffentlichen Nahverkehrs und des deut-schen Fahrzeugbaus muss ich sagen, dass es eine Belei-digung für jeden Omnibus ist, mit diesem Gesetzentwurfverglichen zu werden.Sie haben, um andere Gesetzgebungsprozesse abzu-kürzen, im laufenden Verfahren zwei Punkte draufge-
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Alexander Bonde
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packt. Sie haben das draufgepackt, was Sie für die Um-setzung des Urteils des Bundesverfassungsgerichts beider Härtefallregelung halten. Ich will Ihnen offen sagen:Die Anhörung im Haushaltsausschuss, die auch zu die-sem Punkt sehr intensiv stattgefunden hat, ist für Sie vollnach hinten losgegangen. Es ist klargeworden, dass IhreUmsetzung nicht den Anforderungen des Bundesverfas-sungsgerichts entspricht. Es ist klargeworden, dass Siemit Ihrer Katalogisierung von Positiv- und Negativbei-spielen, statt auf Öffnungsklauseln zu setzen, mehrRechtsstreitigkeiten provozieren, als uns allen lieb seinkann. Damit helfen Sie den Betroffenen nicht. Deshalbist der erste Teil des Gesetzentwurfes durchgefallen.
Am Schlimmsten haben Sie es allerdings bei der Ver-änderung des Konjunkturpakets der Großen Koalitiongetrieben. Nachdem Sie ihn monatelang bestritten ha-ben, wollen Sie nun den schmutzigen Hinterzimmerdealder Kanzlerin mit dem Bundesrat umsetzen. Ich will da-ran erinnern: Es gab viele Beteuerungen dieser Koali-tion, niemals habe man den Ländern unter der Handetwas zugesichert, damit sie Ihrem Wachstumstrullala-gesetz zustimmen. Wir erinnern uns: Mövenpick-Spende, Umsetzung der Entlastungen für Hoteliers undÄhnliches.
Man darf ja nicht vergessen, um was es hier geht undwas Sie über Ihre schmutzige Veranstaltung möglich ge-macht haben.Am 22. Januar dieses Jahres hat Kollege Koschyk,Staatssekretär im Finanzministerium, im Finanzaus-schuss zugegeben, man werde bei der Zusätzlichkeitetwas ändern. Staatssekretär Kampeter, ebenfalls imFinanzministerium, hat das Stunden später im Haus-haltsausschuss dementiert. Am 10. Februar dieses Jahreshat die Koalition den entsprechenden Tagesordnungs-punkt im Haushaltsausschuss abgesetzt, weil man an-geblich keine Veränderung plant. Am 24. Februar hat dieKoalition den Tagesordnungspunkt im Haushaltsaus-schuss abgesetzt, weil man angeblich keine Veränderungplant. Am 4. März hat die Koalition diesen Tagesord-nungspunkt im Haushaltsausschuss abgesetzt, weil manangeblich keine Veränderung plant. Jedes Mal hat mansich auf aktuelle Beschlüsse des Kabinetts berufen. Indieser Woche haben Sie zurückgenommen, was Sie im-mer dementiert haben, und offen zugegeben: Das wareine Bestechung der Länder, damit sie den Weg für dasWachstumsbeschleunigungsgesetz freimachen.In der Anhörung haben Sie gehört: Selbst der Präsi-dent des Bundesrechnungshofes hält die heute von Ihnenvorgelegte Regelung für verfassungswidrig. Die einzigeGrundlage, die der Bund für Zuweisungen an die Kom-munen hat – ich halte es für falsch, dass das die einzigeGrundlage ist –, war die Hürde, ein Investitionspro-gramm auf den Weg zu bringen. Es geht darum, in einerwirtschaftlich schwierigen Situation Investitionen zu tä-tigen. Durch die Streichung der summerischen Zusätz-lichkeit fällt das weg, und Sie machen eine verfassungs-widrige Zuweisung an die Kommunen. Wie absurd istdie Gesetzgebung unter dieser schwarz-gelben Koalitioninzwischen eigentlich geworden?
Die Argumentation, dass man etwas für die Kommu-nen tun muss, ist richtig. Aber sagen Sie doch offen: Eshätte den Kommunen viel mehr geholfen, wenn Sie aufIhre Steuergeschenke verzichtet und die Kommunen indie Lage versetzt hätten, mit ihren regulären Steuerein-nahmen zu operieren, und offen mit den Kommunen da-rüber diskutiert hätten, wie wir sie wieder auf eine trag-fähige Finanzbasis stellen können. Es nützt Ihnen garnichts, an dieser Stelle ein paar wenigen Kommunendurch Umwegfinanzierungen zu helfen, wenn Sie ihnengleichzeitig den Saft abdrehen: mit dem Wachstumsbe-schleunigungsgesetz, mit Ihren Kommissionen, mit demAnschlag auf die Gewerbesteuer und dem großen An-schlag der FDP mit einer Einkommensteuerreform, alleszulasten der Kommunen. Dieses Paket, das eine ver-meintliche Entlastung bringen soll, ist auch noch eineBestechung der Länder, und zwar dafür, dass die Länder,die eigentlich der Anwalt der Kommunen sein müssten,diesem absurden Spiel auf Kosten der Kommunen zu-stimmen.Meine Damen und Herren, dieses Gesetz ist nicht ein-mal einer Koalition wie Ihrer würdig. Es ist auch nichtwürdig, wie hier mit Beschlüssen des Parlaments undmit dem Grundgesetz dieser Republik umgegangenwird.
Das ist wirklich ein schwarzer Moment in der Parla-mentsgeschichte.
Peter Götz hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ob man will oder nicht, die weltweite Finanzmarkt- undWirtschaftskrise schlägt auch bei den Städten, Gemein-den und Kreisen für jeden inzwischen sichtbar zu. Des-halb besteht hier Handlungsbedarf. Wir alle wissen: Dieinternationale Krise ist noch lange nicht überwunden.Auf allen politischen Ebenen sind die Einnahmen weg-gebrochen. Gleichzeitig steigen die Ausgaben, vor allemin sozialen Bereich. In diesem Jahr wird für die kommu-nalen Haushalte bundesweit ein Defizit von 12 Milliar-den Euro erwartet. Die Gewerbesteuereinnahmen, HerrKollege Bonde, sanken 2009 um fast 20 Prozent gegen-über 2008.
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3580 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
Peter Götz
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Richtig ist aber auch: 2007 und 2008 waren guteJahre für die Kommunen, die besten seit Bestehen derBundesrepublik Deutschland. Viele konnten investieren,Schulden abbauen und Rücklagen bilden. Gleichzeitighaben die Städte, Gemeinden und Kreise begonnen, dendurch rot-grüne Politik entstandenen kommunalen In-vestitionsstau Zug um Zug abzubauen.
In Zeiten rot-grüner Regierungsverantwortung wardaran nie zu denken.
Damals lag der kommunale Saldo ohne globale Krisejahrelang im Minus – 2003 waren es über 8 MilliardenEuro –, und damals gab es keine weltweite Finanzmarkt-krise. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenndie weltweite Finanzmarktkrise auf uns zugekommenwäre und Sie noch an der Regierung gewesen wären.
Es ist notwendig, dass wir den Kommunen helfen.
Durch das Zukunftsinvestitionsgesetz, über das wirjetzt sprechen, hat der Bund mit über 10 Milliarden Euroeinen erfolgreichen Beitrag zur Sicherung wertvoller Ar-beitsplätze im Baugewerbe und im heimischen Hand-werk geleistet.
Zusätzliche Investitionen in die energetische Sanierungvon Schulen, Kindergärten und Kindertagesstätten tra-gen zum Klimaschutz – der müsste Ihnen von den Grü-nen immer ein Anliegen sein – und gleichzeitig zur Ver-besserung der Bildungsinfrastruktur bei.Ein Weiteres kommt hinzu: Die Wirtschaftlichkeitkommunaler Einrichtungen wird erhöht. So spart eineenergetisch sanierte Schule in Zukunft erhebliche Be-triebskosten. Das heißt, die geförderten Investitionenführen nicht zu Folgekosten, sondern entlasten die kom-munalen Haushalte bereits nach wenigen Jahren spürbarund gleichzeitig nachhaltig. Dies führt zu einer Stärkungder Gemeindefinanzen und zu einer Verbesserung derkommunalen Infrastruktur.
Herr Kollege Fricke, liebe Kolleginnen und Kollegen,unser Ziel war und ist, einen sinnvollen Weg zwischenKonjunkturimpuls auf der einen Seite und Stabilisierungder öffentlichen Haushalte auf der anderen Seite zu ge-hen. Genau das ist mit diesem Konjunkturpaket gelun-gen. Dabei hat übrigens die Vereinfachung der Aus-schreibungsbedingungen bei Vergaben geholfen.Der gewünschte konjunkturelle Impuls des Konjunk-turpakets ist inzwischen nahezu vollständig eingetreten.Der Erfolg des Ansatzes, über kommunale Investitionenzur Stabilisierung der gesamtwirtschaftlichen Entwick-lung beizutragen, Herr Kollege Schneider, ist für jedensichtbar, der mit offenen Augen durch das Land geht.
Die kommunalen Investitionsplanungen sind inzwi-schen so weit fortgeschritten, dass selbst bei einerLockerung der Kriterien keine Änderungen mehr vorge-nommen würden, so zumindest der Deutsche Städtetagbei der Anhörung diese Woche.
– Vielleicht haben Sie die Stellungnahme des DeutschenStädtetages nicht gelesen, dafür kann ich nichts, sie waraber Gegenstand der Beratungen am vergangenenMontag.Ab Januar nächsten Jahres können Länder und Kom-munen ihr Investitionsverhalten ohnehin frei gestalten.Durch die Streichung des sogenannten statistischen Zu-sätzlichkeitskriteriums – nur darum geht es – werdenkeine spürbaren nachteiligen gesamtwirtschaftlichenEntwicklungen erwartet.
Der Wegfall dieser Bestimmung wird aber zu erhebli-chen administrativen Erleichterungen und damit zu einerdeutlichen Entlastung von bürokratischem Aufwandbeim Bund, bei den Ländern und bei den Kommunen,aber auch bei den statistischen Ämtern führen; auch dasmuss man bei dieser Gelegenheit sagen dürfen.
Unabhängig von der heute zu beschließenden Geset-zesänderung muss sich der Deutsche Bundestag um diekatastrophale Finanzlage der Kommunen kümmern. Dievon Bundesfinanzminister Dr. Schäuble einberufene Ge-meindefinanzkommission prüft – das ist richtig und gutso – mögliche Alternativen zu der sehr konjunkturabhän-gigen Gewerbesteuer. Viele Kämmerer wollen weg vonder großen Schwankungsbreite und hin zu einer Versteti-gung der Einnahmen.Ich fordere Sie auf, gemeinsam und unvoreingenom-men an dem Reformwerk für die Stärkung der Gemein-definanzen mitzuwirken, und zwar bei den Einnahmenund bei den Ausgaben und Aufgaben. Nicht blinde Blo-ckade, sondern konstruktive Mitarbeit ist auf diesem Ge-biet gefordert.
Auch die anstehende Steuerstrukturreform darf nichtauf dem Rücken der Städte und Gemeinden erfolgen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3581
Peter Götz
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Wir wollen nicht, dass Kindergärten geschlossen werdenmüssen und Schulen nicht mehr renoviert werden kön-nen. Wir müssen vielmehr alles tun, um die kommunalenFinanzen auf ein solides Fundament zu stellen.
Die kommunale Selbstverwaltung in Deutschland mitdem großen ehrenamtlichen Engagement in den Rätenhat sich bewährt. Sie darf nicht zu einer Worthülse ver-kommen.
Seit der Übernahme der Regierungsverantwortungdurch Bundeskanzlerin Angela Merkel haben wir mitunserer kommunalfreundlichen Politik für die Städte,Gemeinden und Kreise viel durchgesetzt.
Wir lassen die Kommunen auch in schwierigen Zeitennicht im Stich.
Die heute zu verabschiedende kleine Korrektur imZukunftsinvestitionsgesetz liegt im kommunalen Inte-resse. Deshalb bitte ich Sie um Ihre Zustimmung.Vielen Dank.
Angelika Krüger-Leißner hat das Wort für die SPD-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich weiß nicht, ob es Ihnen nicht auch so gehtwie mir: Wenn ich die Bundesarbeitsministerin, Frauvon der Leyen, beobachte, muss ich staunen, wie sie vonThema zu Thema fliegt wie ein fleißiges Bienchen vonBlüte zu Blüte. Gestern Kurzarbeit, letzte Woche Rente,übermorgen Jobcenterreform, einmal die Alleinerziehen-den, dann jüngere Arbeitslose, jeder wird hier bedient.Heute nun die Härtefallregelung im SGB II.Bei genauerem Hinsehen entdeckt man allerdings,dass viele Themen sehr oberflächlich, gar lieblos abge-tan werden oder das, was vollmundig angekündigt wor-den ist, herzlos abgelegt wird. So ergeht es mir auch beidiesem Gesetzentwurf zur Aufnahme einer Härtefallre-gelung in das SGB II.Ich habe es begrüßt, dass uns das Gericht den Auftragerteilt hat, hier eine neue gesetzliche Regelung zu tref-fen. Aber mit dem, was die Bundesarbeitsministerin vonder Leyen hier vorgelegt hat, können wir nicht zufriedensein, und Sie hätte es besser machen können.
Selbst Ihre Sachverständigen haben den Gesetzent-wurf in der Anhörung am Montag höchst unterschiedlichbewertet. Sie alle haben bestätigt, dass es keine drin-gende Notwendigkeit für diese vorgeschlagene gesetzli-che Regelung gibt. Es sieht also alles nach einemSchnellschuss aus. Es kann aber doch nicht sein, dasswir Menschen in Härtesituationen mit Schnellschüssenabspeisen.
Durch die Anhörung wurde deutlich gemacht: Eile istin der Sache überflüssig und sogar schädlich. Wir habenZeit bis zum Jahresende. Fakt ist, dass das Urteil an die-ser Stelle sehr eindeutig ist. Der bessere Weg wäre gewe-sen, hier zu einer Übergangslösung zu kommen. Sie hät-ten hier den Weg mit einer vorläufigen Härtefallregelungin Anlehnung an die Regelung in § 28 SGB XII be-schreiten können. Das ist übrigens auch der Vorschlagder meisten Sachverständigen gewesen.Ich bedauere – und bitte den Staatssekretär auch, dasmit ins Haus zu nehmen –, dass die Ministerin diesemklugen, pragmatischen Vorschlag vieler Sachverständi-gen nicht gefolgt ist; denn mit ihrem Gesetzentwurf hatsie nur eine unausgereifte Minimallösung vorgelegt,durch die die Lebenssituation der Menschen nicht wirk-lich verbessert wird. Was wir brauchen, ist eine systema-tische, saubere und stimmige Lösung. Ich gebe zu, dasswir dazu etwas mehr Zeit brauchen, aber die haben wir.Ein weiteres Argument für meinen vorgeschlagenenWeg wurde auch aus Sicht der Bundesagentur für Arbeitals zweckmäßig angesehen, nämlich, in der Übergangs-zeit wertvolle Erfahrungen in der Praxis zu typischenHärtefällen zu sammeln und in die gesetzliche Regelungeinzubeziehen. Zudem erscheint es mir auch sinnvoll,die erforderliche Neubemessung der Regelsätze im Zu-sammenhang mit der Härtefallregelung zu sehen unddies auch zeitlich zu verknüpfen. Vielleicht wäre es Ih-nen dann gelungen, den Handlungsrahmen des Urteilsvoll auszuschöpfen. So ist das nur Stückwerk.Für mich ist es wichtig, dass wir eine transparente Re-gelung bekommen, die den Einzelnen und den vielenMitarbeitern in den Jobcentern und den Optionskommu-nen Klarheit bringt. Mit Ihrem restriktiven Negativkata-log kommen wir nicht weiter. Keiner kann heute sagen,was letztendlich als Härtefall anerkannt wird, und nie-mand hat einen Negativkatalog gefordert. Ich plädieredeshalb für einen offenen, positiven, nicht abschließen-den Katalog mit konkreten Fallbeispielen.Gleichzeitig gebe ich Ihnen noch einen Auftrag mitauf den Weg.
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3582 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
Angelika Krüger-Leißner
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– Wir werden über diesen Punkt noch eine ganze Weilereden; nehmen Sie das einmal auf! – Ob der Bewilli-gungszeitraum von sechs Monaten angesichts dieserProblemfälle gerechtfertigt ist, bitte ich Sie zu überprü-fen. Warum denn eigentlich nicht länger?
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Ende.
Ja. Darf ich den Gedanken noch zu Ende führen?
Wenn es ein Satz ist, dann ja, sonst nicht.
Ja, ich versuche das.
Wenn es ein kurzer ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich ein
Fazit ziehen: Der Gesetzentwurf zur Härtefallregelung
ist unnötig und bewirkt nichts, er bringt auch keinen
Mehrwert –
Frau Kollegin.
– und vor allen Dingen hilft er dem Einzelnen nicht.
Darum stimmen wir dem nicht zu. – Das war jetzt aber
doch ein zusammenhängender Satz.
Das war aber jedenfalls kein kurzer.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Abschaf-
fung des Finanzplanungsrates.
Der Haushaltsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/1465, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf Drucksache 17/983 in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Hierzu liegen Änderungs-
anträge vor. Über diese stimmen wir zuerst ab.
Abstimmung über den Änderungsantrag der Fraktion
Die Linke auf Drucksache 17/1474. Wer stimmt für die-
sen Änderungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Der Änderungsantrag ist abgelehnt. Zuge-
stimmt haben die einbringende Fraktion Die Linke und
Bündnis 90/Die Grünen, dagegen gestimmt haben die
Koalitionsfraktionen. Die Fraktion der SPD hat sich ent-
halten.
Wir kommen zur Abstimmung über den Änderungs-
antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/1473. Wer stimmt für diesen Änderungsantrag? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist der
Änderungsantrag abgelehnt bei Zustimmung durch
Bündnis 90/Die Grünen, SPD und große Teile der Frak-
tion Die Linke und Ablehnung durch die Koalitionsfrak-
tionen. Enthaltungen gab es in der Fraktion Die Linke.1)
Ich bitte nun diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr Hand-
zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthalten möchte sich
niemand? – Damit ist der Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung in zweiter Beratung angenommen. Zuge-
stimmt haben die Koalitionsfraktionen. Abgelehnt haben
die Oppositionsfraktionen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Wer zustimmen möge, erhebe
sich bitte. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist
der Gesetzentwurf in dritter Beratung angenommen mit
dem gleichen Abstimmungsverhältnis wie vorher.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Fraktion der
SPD
Beschäftigte vor Arbeitslosigkeit schützen –
Konditionen für Kurzarbeit verbessern
– Drucksachen 17/523, 17/1446 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Paul Lehrieder
Hierzu ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattie-
ren. – Dazu höre ich keinen Widerspruch.
Ich eröffne die Aussprache. Der Kollege Peter Weiß
hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!„Man kann von einem deutschen Arbeitsmarktwundersprechen: 5 Prozent Rückgang des Bruttosozialprodukts,kaum Anstieg der Arbeitslosigkeit“, so der Sachverstän-dige Professor Dr. Gerhard Bosch von der UniversitätDuisburg-Essen am Montag in einer Anhörung des Aus-schusses für Arbeit und Soziales. Das Institut der deut-schen Wirtschaft hat vor kurzem eine Ausarbeitung vor-gelegt mit der Aussage: Deutsche Arbeitnehmer amgeringsten von der Krise betroffen.Um über das, so die Formulierung, „Jobwunder Deutsch-land“ zu sprechen, war die BundesarbeitsministerinUrsula von der Leyen zum G-20-Gipfel nach Washingtoneingeladen. Allem Krisengerede zum Trotz: Mit demSchutzschirm für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer und insbesondere mit den Regelungen zur Kurzarbeit1) Anlage 2
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3583
Peter Weiß
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hat der Staat unter großer internationaler Beachtung mu-tig und entschlossen gehandelt und auf die Herausforde-rungen der Finanz- und Kapitalmarktkrise reagiert.Zunächst einmal ist festzustellen: Wir Deutschen kön-nen stolz darauf sein, dass wir in dieser Krisensituationso klar, mutig und entschlossen gehandelt haben.
Ohne die Regelung zur Kurzarbeit, die die Betriebe ineinem beachtlichen Umfang genutzt haben, hätte es zuMassenentlassungen kommen müssen. Die Betriebe wis-sen aber, es lohnt sich, qualifiziertes Personal zu halten,statt zu entlassen, um für die Zeit nach der Krise besseraufgestellt zu sein. Ich habe keinen Zweifel, dass sichdieses Verhalten der deutschen Betriebe nach dem An-springen der Konjunktur auszahlen wird.Im Mai 2009 bezogen 1,5 Millionen BeschäftigteKurzarbeitergeld. Das war der Höchststand. Die Bundes-agentur rechnet für das laufende Jahr 2010 im Durch-schnitt mit 700 000 Beziehern von Kurzarbeitergeld undfür 2011 zurückgehend mit 400 000 bis 500 000. DieseZahlen zeigen: Mittlerweile geht es in vielen Branchender deutschen Wirtschaft wieder aufwärts; aber viele Be-triebe brauchen trotzdem nach wie vor das Instrumentder Kurzarbeit und stecken nach wie vor mitten in derKrise.Deshalb wäre es töricht, diese Brücke Kurzarbeit ab-zureißen, die die Unternehmen über das Tal der Krise füh-ren soll. Deshalb hat die neue Bundesregierung sofortnach ihrem Antritt bereits die Rechtsverordnung in Kraftgesetzt, nach der nicht für die im Gesetz vorgesehenen6 Monate, sondern insgesamt für 18 Monate Kurzarbei-tergeldbezug möglich ist. Gestern hat das Bundeskabinettmit dem Beschäftigungschancengesetz die weitere ge-setzliche Initiative auf den Weg gebracht, die Sonderre-gelung zu verlängern, die wir in der Krise geschaffen undeigentlich bis zum Ende 2010 begrenzt haben. Diese Re-gelung besagt, dass ab dem siebten Monat Kurzarbeiter-geldbezug die Sozialversicherungsbeiträge zu 100 Pro-zent von der Agentur für Arbeit übernommen werden,womit die Betriebe zusätzlich finanziell entlastet werden.Mit diesem Gesetzentwurf der Bundesregierung wer-den wir weitere Sonderregelungen verlängern, die bisEnde 2010 befristet waren, zum Beispiel die Regelung,dass wir in die Kurzarbeiterregelung Beschäftigte vonLeiharbeitsunternehmen einbeziehen, oder die Regelungzur Entgeltsicherung. Letztere bedeutet, dass dann, wennjemand trotz Kurzarbeit leider entlassen wird, das Ar-beitslosengeld nicht nach dem zuletzt bezogenen Kurzar-beitergehalt, sondern nach seinem zuletzt bezogenen vol-len Gehalt berechnet wird. Auch der Ausbildungsbonusfür Lehrlinge insolventer Betriebe wird bis Ende 2013verlängert.Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Fach-leute, mit denen wir am Montag diskutiert haben, gehendavon aus, dass wir damit weiterhin dafür sorgen, dassdie Arbeitslosigkeit nicht sprunghaft um 300 000 Perso-nen ansteigt.Aber wir haben nicht nur die Regelungen zur Kurzar-beit verlängert, womit wir dafür sorgen, dass eine tragfä-hige Brücke in Beschäftigung nach der Krise möglichwird, sondern wir denken auch an diejenigen, die bereitsleider arbeitslos sind, vor allem an diejenigen, die schonlange arbeitslos sind. Deshalb hat die Koalition gesternim Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages diebislang gesperrten Mittel in Höhe von 900 MillionenEuro für den Eingliederungstitel freigegeben;
denn wir wollen nicht, dass der mittelfristig beginnendeAufschwung an den Beziehern von Arbeitslosengeld IIvorbeigeht. Deshalb wollen wir auch für sie neue Chan-cen auf neue Arbeit eröffnen. Die Bundesministerin fürArbeit und Soziales hat ein Konzept vorgelegt, nach demwir die zusätzlichen Mittel, die jetzt freigegeben wordensind, vor allen Dingen dafür einsetzen wollen, dass jun-gen Menschen unter 25 Jahren sofort ein Jobangebot ge-macht werden kann,
dass wir stärker noch Alleinerziehenden helfen, insbeson-dere dann, wenn das Betreuungsproblem für die Kindernicht gelöst ist, und dass wir die Beschäftigungschancenälterer Arbeitsloser mit dem Programm „Perspektive50plus“ verbessern.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, mit diesemBeschäftigungssicherungsgesetz, mit der Verlängerungder Regelungen zur Kurzarbeit in das nächste und über-nächste Jahr hinein, um die Krise durchzustehen, -
Herr Kollege.
– und mit den zusätzlichen Initiativen, die es möglich
machen sollen, dass Arbeitslosengeld-II-Empfänger Wege
in die Arbeit finden können, setzt diese Koalition ein
deutliches Zeichen.
Herr Kollege, Sie müssen dringend zum Ende kom-
men.
Das wollte ich, Frau Präsidentin.
Das ist gut.
Wenn Sie mir den richtigen Schwung noch erlaubthätten, wäre ich jetzt zum Ende gekommen.
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3584 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
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Man weiß es nicht sicher.
Mit beiden Programmen verfolgt die Koalition ein
zentrales Ziel. Es heißt: Raus aus der Krise. Wir wollen,
dass die deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-
mer einen starken Schutzschirm durch die Politik behal-
ten, dass unsere Unternehmen eine Zukunftsperspektive
haben, –
Herr Kollege!
– damit, wenn der Aufschwung kommt, die Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer von diesem Aufschwung tat-
sächlich profitieren.
Vielen Dank.
Willi Brase hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Mein Vorredner hat aufdas Erfolgsmodell der Kurzarbeit hingewiesen.
Sie gestatten, dass ich noch einmal klar und deutlichzum Ausdruck bringe, dass es der Arbeitsminister OlafScholz war, der aufgrund des Zusammenwirkens mit Ge-werkschaften und Arbeitgebern und der Rückkopplung,die wir über unsere Betriebe und die Betriebsräte aufge-nommen haben, gefragt hat: Wie kann ein solches Instru-ment so ausgestattet werden, dass es in der Praxis ver-nünftig wirkt? Wenn man es richtig betrachtet, dannmuss man sagen: Das war ein Bündnis für Beschäftigteund Zukunft.
Es war deshalb ein Bündnis für Beschäftige und Zu-kunft, weil es das Ziel war, dass nicht die Arbeitnehme-rinnen und Arbeitnehmer für die Zockerei am Kapital-markt und die damit verbundenen Risiken und Krisen zubezahlen haben.
Deshalb haben wir es auf den Weg gebracht. Die Unionist mitgegangen. Es war ein guter Weg. Es war ein Weg,den Sozialdemokraten richtig und vernünftig gepflasterthaben.
Man darf zu Recht sagen, Herr Weiß: Bei Abnahmedes Bruttosozialprodukts um 5 Prozent und fast keinemAnstieg der Arbeitslosenzahl scheint dieses Mittel in sei-ner Flexibilität und Wirkung ein Erfolgsmodell zu sein.Deshalb haben wir diesen Antrag gestellt. Wir wollen,dass die Verlängerung der Bezugsdauer des Kurzarbei-tergeldes auch in Zukunft gilt. Wir sind nämlich nicht soblauäugig, zu glauben, dass die Krise schon in dennächsten Monaten vorbei ist.
Dieses Modell hat 500 000 Jobs gerettet; das konntenwir überall nachlesen. Dieses Modell hat den Arbeitneh-mern und den Unternehmen Sicherheit gegeben, und eshat den Blick in die Zukunft der betroffenen Unterneh-men sowie der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmernicht ganz so sehr getrübt, wie wir es im Rahmen der Fi-nanzkrise erlebt haben. Deshalb wollen und werden wirdies weiterführen.Ich erlaube mir vor dem Hintergrund der Anhörungdes zuständigen Ausschusses auf die finanziellen Aus-wirkungen der Krise auf dieses Instrument hinzuweisen.Die Hans-Böckler-Stiftung hat sie in einer Studie unter-sucht und deutlich dargestellt, dass im Jahre 2009 dieKosten für die Agentur für Arbeit circa 4,7 MilliardenEuro betrugen. Bei den Unternehmen kam es zu Kostenin Höhe von circa 5 Milliarden Euro. Bei den Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmern kam es zu Einkommens-verlusten in Höhe von circa 3 Milliarden Euro. DieseKosten sind, wenn man so will, relativ gleichmäßig ver-teilt.Wenn wir ehrlich sind und sagen, dass die Wirt-schaftskrise aufgrund der Finanzkrise entstanden ist,dann wird es langsam Zeit, dass endlich diejenigen, diesie verursacht haben, dafür bezahlen.
Eigentlich müssten wir diese Kosten – weit über10 Milliarden Euro – den Finanzjongleuren vor die Füßewerfen und es dort abholen; Stichwort Finanztransak-tionssteuer. Das wäre ein gutes und wirksames Instru-ment, und es wäre besser als die geplante Bankenabgabe.
Wir wollen die Verlängerung der Bezugsdauer desKurzarbeitergeldes auf 36 Monate; das sehen Sie in un-serem Antrag. Bereits im November/Dezember 2008, alsdie Diskussion darüber, dass die kleinen und mittelstän-dischen Unternehmen nicht den Bach runtergehen sol-len, richtig losging, haben wir erkannt, dass es sehrwichtig ist, dass die sogenannten Remanenzkosten, alsodie Kosten für die sozialversicherungspflichtigen Be-schäftigen, übernommen werden. Es war genauso wich-tig und notwendig, dies mit der Qualifizierung zu ver-binden. Bei der Qualifizierung ist mir aufgefallen, dassbei der Anhörung nur wenige Sachverständige daraufhingewiesen haben – teilweise hat man es in diesen Wo-chen aus der Politik gehört; erst sollte das Kurzarbeiter-geld nicht verlängert werden; jetzt hat man es gemacht –,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3585
Willi Brase
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dass eine mögliche Verlängerung der Bezugsdauer desKurzarbeitergeldes den notwendigen Strukturwandel be-hindern könnte. Eine mögliche Verlängerung, die geradeden Beschäftigen und den Unternehmen Sicherheit brin-gen würde, könnte also einen notwendigen Strukturwan-del verhindern.Wenn man sich das genauer anschaut, muss man eini-ges feststellen – das haben die Sachverständigen teil-weise getan –: Es gab im verarbeitenden Gewerbe trotzKurzarbeit Entlassungen. Innovation findet doch nichtnur statt, wenn Unternehmen Beschäftigte entlassen undsie sich einen neuen Arbeitgeber suchen müssen. Im Ge-genteil: Innovationen in den Betrieben finden statt, wennes eine entsprechende Innovationskultur gibt. Grundlagedafür ist häufig eine sichere Beschäftigung. Es bedeutetein Stück Zukunftssicherung, zu wissen, dass man in dennächsten Jahren für den gleichen Arbeitgeber arbeitenkann. Diejenigen, für die das gilt, sind doch viel eher be-reit, sich in betriebliche Belange einzubringen und einenBeitrag zu Wandel und Fortschritt zu leisten.
Die Kurzarbeit hat dazu geführt, dass nicht entlassenworden ist und dass darüber hinaus die Ausbildung nichteingestellt wurde, obwohl nach den Zahlen des Statisti-schen Bundesamtes 2009 ein Minus von 7,6 Prozent zuverzeichnen war. Die Befürchtung, dass 2009 aufgrundder Finanz- und Wirtschaftskrise massiv weniger ausge-bildet wird, hat sich nicht bewahrheitet. Wir sind derAuffassung, dass gute Ausbildung, vor allen Dingen imverarbeitenden Gewerbe, ein wesentlicher Beitrag zurInnovationsfähigkeit und Innovationskraft im Mittel-stand ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, viele Betriebe inunserer Republik haben, was Qualifizierung angeht, im-mer noch schwach ausgeprägte eigene Vorstellungenüber ihren Qualifizierungsbedarf und keine Weiterbil-dungsstrategie; darüber haben wir an anderer Stellemehrfach diskutiert. Um dem entgegenzuwirken, sindMaßnahmen und Aktivitäten durchgeführt worden,Stichwort „WeGebAU“. Wenn man sich das Ganze an-schaut, dann erkennt man, dass es nichts mit dem Struk-turwandel zu tun hat, dass die Kurzarbeiterregelung ver-ändert wird.Ich will auf Folgendes hinweisen: Qualifizierungen,die für die Beschäftigten sinnvoll und gut sind, sind sozu organisieren, dass sie möglichst nachhaltig wirken. Esist aber nun einmal so, dass Kurzarbeit abgebaut wird,wenn ein Unternehmen mehr Aufträge bekommt. Das istfür die Erwachsenenbildung, qualifizierungspolitisch ge-sehen, manchmal etwas nachteilig. In diesem Bereichbraucht man längere Zeiten. Das spricht nicht gegen eineKurzarbeiterregelung, sondern im Prinzip dafür, unddeshalb wollen wir sie aufrechterhalten.Die betriebliche Weiterbildungsstrategie wäre derQualifizierung von Kurzarbeitern sicherlich förderlich,wenn wir sie schon umfassender hätten durchsetzen kön-nen. Alle Debatten, auch die im zuständigen Ausschuss,und alle Untersuchungen haben deutlich gemacht, dassDeutschland hier noch ein Stück zurückliegt. All dasspricht nicht gegen, sondern für die Verlängerung derKurzarbeiterregelung. Deshalb bitte ich Sie: StimmenSie dem Antrag der Fraktion der SPD zu. Für uns geht esum ein Bündnis für die Sicherung der Beschäftigung,also um gute Zukunftsaussichten. Wenn Arbeitnehmerwissen, dass sie nicht entlassen werden, dann ist dasauch für die Unternehmen und für die Zukunft inDeutschland gut.
Eben hat der geschätzte Kollege Bonde von den Grü-nen bezogen auf die Debatte zu einem anderen Tages-ordnungspunkt von einem schwarzen Moment im Parla-ment gesprochen. Ich sage: Das ist ein grünerAugenblick mit einer roten Zuversicht. Stimmen Sie die-ser Regelung deshalb zu. Wir haben sie auf den Weg ge-bracht. Sie wird auch weiterhin benötigt.Vielen Dank.
Kollege Johannes Vogel ist der nächste Redner für die
Fraktion der FDP.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es ist richtig, was gerade gesagt wurde: Die Kurzarbeitist in der Tat ein sehr wertvolles Instrument in der Krisegewesen. Ganz wesentlich hat sie dazu beigetragen, dassdas Ausland neidisch auf das sogenannte deutsche Job-wunder schaut. Was den Arbeitsmarkt angeht, scheintunser Land trotz der schwersten Rezession in der Ge-schichte dieser Republik erfreulich gut davongekommenzu sein. Das ist in der Tat ein Lob und auch einen Dankwert an unseren geschätzten Koalitionspartner, aberauch, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, anSie und den ehemaligen Minister Scholz.Nur, Arbeitspolitik, die in der Krise gut war, musskorrigiert werden, wenn sie auch nach der Krise nochgut sein soll. Ein Instrument wie die Verlängerung derKurzarbeit, das in der Krise wertvoll war, kann nachEnde der Krise durchaus schädlich sein, weil dadurchStrukturen konserviert und Arbeitsplätze gefährdet wer-den.
Niemand kann bestreiten, dass es am Konjunkturhim-mel Zeichen der Besserung gibt. Wie wir alle wissen,unterscheidet sich das von Branche zu Branche. Ichglaube, das ist ein Grund, bei dem Thema Kurzarbeitmaßvoll zu agieren, sowohl was die Verlängerung derSonderregeln bei der Kurzarbeit als auch was die soge-nannte Synchronisation der Sozialversicherungsbeiträgeangeht. Man muss nämlich auch etwas anderes synchro-nisieren: das Ende der Krise und das Ende der Sonderre-gelungen für die Kurzarbeit.
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3586 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
Johannes Vogel
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ichhabe das Gefühl, diese Herausforderung haben Sie nichtbegriffen. Das zeigt sich in meinen Augen in zwei Punk-ten, nämlich zum einen darin, dass Sie gar nichts zurKonzernklausel sagen. Die Konzernklausel privilegiertohne Not große Unternehmen gegenüber kleinen. Siewar falsch und systemwidrig.Genauso falsch ist in meinen Augen zum anderen derZeitraum von 36 Monaten, den Sie uns hier vorschlagen.Das hat auch die Anhörung, die wir am letzten Montagim Ausschuss für Arbeit und Soziales durchgeführt ha-ben, ganz klar gezeigt. Ich zitiere nur zwei Sachverstän-dige aus der Anhörung:Die OECD sagt:Unsere Vorhersagen gehen aber davon aus, dass wiruns bereits in einer beginnenden Aufschwungphasebefinden und dass man im jetzigen Augenblick vor-sichtig sein sollte mit der Verlängerung und inso-fern auch eine stärkere Eigenbeteiligung vorzuse-hen ist.Das IAB, das wir alle gern zitieren, weil wir alle wis-sen, dass das ein sehr seriöses Institut ist, sagt:Eine Verlängerung der maximalen Bezugsfrist deskonjunkturellen Kurzarbeitergeldes auf 36 Monatezum jetzigen Zeitpunkt könnte als Signal für einemittelfristig gewährte Subvention missverstandenwerden und das Risiko von Strukturverhärtungeneher erhöhen. Auch mit der Frist von 24 Monatenoder heute 18 Monaten dürften die meisten Betriebeausreichend Zeit haben.
– Ich habe jetzt zwei herausgegriffen, liebe Frau Kolle-gin.Man kann also festhalten: Ausgerechnet das Merk-mal, das Ihren Antrag auszeichnet, die Frist von 36 Mo-naten, wurde von zwei seriösen Instituten kritisiert.Deswegen ist sinnvoller, was wir machen, nämlicheine maßvolle Bezugsdauer von 18 Monaten zu wählenund die Synchronisation der Sozialversicherungsbeiträge15 Monate lang zu gewähren. Wir steigen schrittweiseaus diesem Instrument aus.Es bleibt bei sinnvollen Maßnahmen, wie zum Bei-spiel der vollen Erstattung bei Qualifizierungsmaßnah-men. Wir haben aber im Gegensatz zu Ihnen eine klareExit-Strategie und haben verstanden, dass ein Instrumentin einer Krise gut sein kann, aber nach der Krise irgend-wann auch vernünftig auslaufen muss, wenn es im Inte-resse der Menschen wirken soll.Mir fällt dazu Ihr Ex-Kanzler Schröder ein. Ichglaube, man kann für die Kurzarbeit sagen: Wir werdennicht alles anders machen als Sie, aber vieles besser. Ichglaube, das ist genau die richtige Antwort. Deshalb wer-den wir Ihren Antrag auch ablehnen.Vielen Dank.
Das Wort hat nun die Kollegin Jutta Krellmann für die
Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Betriebsräte und Geschäftsleitungen ha-ben gehandelt, nicht Sie, Herr Weiß. Sie haben höchstensdie Rahmenbedingungen geschaffen, aber sonst nichts.
Gehandelt haben andere.Die Krise zeigt, dass nur eine konsequente Arbeits-zeitverkürzung Arbeitsplätze schafft und sichert. Stattimmer längere Arbeitszeiten für den einen und gar keinefür den anderen, muss Arbeit gerechter verteilt werden.Kurzarbeit ist nämlich nichts anderes als Arbeitszeitver-kürzung mit Teillohnausgleich.
Das mit der Kurzarbeit haben zum Glück mittlerweileauch die CDU, die FDP und Frau von der Leyen verstan-den. Wir unterstützen die Forderung der SPD in ihremAntrag zur Kurzarbeit und werden diesem zustimmen.Uns geht er aber noch nicht weit genug. Es erfordertnur gesunden Menschenverstand, um zu erkennen, dassdie gerechte Verteilung von Arbeit der richtige Hebel fürmehr Beschäftigung ist.
Hier gibt es in Ihren Vorschlägen noch einigen Raum fürVerbesserungen.Ich gehöre zu der Generation, die in den 80er-Jahrenfür eine Arbeitszeitverkürzung gekämpft hat. Arbeits-zeitverkürzung bedeutet nicht nur Kurzarbeit, sondernsie bedeutet auch, die Arbeitszeit für Vollzeitbeschäftigtezum Beispiel auf eine 35-Stunden-Woche zu verkürzen;sie bedeutet, Überstunden zu begrenzen; und sie bedeu-tet, Altersteilzeit einzuführen.
Arbeitszeitverkürzung erleichtert die Vereinbarkeit vonBeruf und Familie, und sie wirkt sich positiv auf die Ge-sundheit der Beschäftigten aus. Da schlagen Sie gleichmehrere Fliegen mit einer Klappe.Vor dem Hintergrund knapper Arbeit ist es auch völ-lig irrsinnig, die Menschen mit 67 Jahren noch in denBetrieben zu beschäftigen.
Nehmen Sie die Entscheidung zur Rente mit 67 wiederzurück!
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3587
Jutta Krellmann
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Für die Linke ist klar: Die Erstattung von Sozialversi-cherungsbeiträgen bei Kurzarbeit ist ebenfalls richtigund muss fortgesetzt werden. Hierbei sind wir ganz aufIhrer Seite.
Die Regierung hat lange genug gebraucht, sich dazudurchzuringen, Klarheit zu schaffen. Damit wurden vieleKolleginnen und Kollegen in den Betrieben absolut ver-unsichert.Die tarifliche Kurzarbeit, wie sie in der Metall- undElektroindustrie ausgehandelt wurde, wäre ebenfalls einrichtiger Schritt und eine Ergänzung zur konjunkturellenKurzarbeit gewesen. Sie fehlt in den Vorschlägen derSPD und der Regierung aber komplett. Hier müsstennoch Hausaufgaben gemacht und Nachbesserungen vor-genommen werden.
Die Idee, Kurzarbeit für die Qualifizierung der Be-schäftigten zu nutzen, klingt bestechend und einfach; al-lerdings funktioniert sie in der Praxis nur schwer. Dasbelegt im Grunde die sinkende Zahl von Bildungsmög-lichkeiten während der Kurzarbeit. Erstens ist es für Bil-dungsträger schwierig, passende Maßnahmen aus demBoden zu stampfen. Zweitens ist es schwierig, in denBetrieben dafür zu sorgen, dass Leute auch bereit sind,daran teilzunehmen.Hinzu kommt noch: Wenn die Kurzarbeit endet, endetauch die Weiterbildung, weil am nächsten Tag wiedervoll gearbeitet werden muss. Das bedeutet: Wenn manda etwas erreichen will, muss man über Qualifizierungfür die Zeit nach dem März 2012 reden, also über Quali-fizierung als Daueraufgabe und nicht nur als Maßnahmebei Kurzarbeit.
Noch ein Punkt bleibt in Ihren Vorschlägen uner-wähnt. Sie lassen die Beschäftigten in der Kurzarbeit mitdem Progressionsvorbehalt in die Steuerfalle laufen. Da-mit ist gemeint, dass das Kurzarbeitergeld zwar erst ein-mal lohnsteuerfrei ist, die Beschäftigten aber im nächs-ten Jahr hohe Steuernachzahlungen leisten müssen. Daskönnen sie sich aber gar nicht leisten. Wovon auch? Siesind schon in Kurzarbeit, erhalten weniger Lohn undkönnen dementsprechend keine Rücklagen bilden.Korrigieren Sie bitte Ihre Steuerungerechtigkeiten!Das ist im Interesse der Beschäftigten.
Sorgen Sie für mehr Steuergerechtigkeit, und haben Sieden Mut zu konsequenter Arbeitszeitverkürzung! Nur sokönnen Arbeitsplätze gesichert und geschaffen werden.Vielen Dank.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Brigitte Pothmer
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nunaber los! – Alle Fraktionen im Hause sind der Auffas-sung – das ist schon hinreichend deutlich geworden –,dass in einer Krisensituation mit Nachfrageeinbrüchendie Kurzarbeit ein richtiges und solidarisches Instrumentist, um Arbeitslosigkeit abzufedern.
Da nehmen wir als Grüne uns auch keineswegs aus; dashaben wir immer deutlich gemacht. Wissenschaft, Ge-werkschaften und Arbeitgeber – das hat die Anhörunggezeigt – bilden hier eine Phalanx.Kurzarbeit ist ein Instrument der Untertunnelung, undzwar der Untertunnelung einer Krise. Wir sollten unsaber schon die Frage stellen, wie lang denn aus unsererSicht dieser Tunnel sein soll, ob nicht irgendwann auchLicht am Ende des Tunnels zu sehen sein muss, und wiewir schnellstmöglich aus diesem Tunnel wieder heraus-kommen. Wir müssen von dieser Art von Subventionie-rung tatsächlich wieder wegkommen; denn die Krise,mit der wir es zu tun haben, ist nicht eine einfache Nach-fragekrise; es ist eine Strukturkrise, und das Kurzarbei-tergeld wirkt prinzipiell strukturkonservierend.
Deswegen ist es wichtig, dass wir uns darüber ausei-nandersetzen, wie wir es erreichen, dass wir nicht Struk-turen konservieren, also Subventionen in einen Bereichgeben, der nach dem Ende der Krise ohne die Subventio-nen nicht konkurrenzfähig wäre.
Es geht nicht an, dass wir erst Geld für Kurzarbeit ausge-ben und nachher doch Arbeitslosigkeit finanzieren müs-sen.
Ich sage noch einmal ausdrücklich: Wir sind für dieWeiterführung des Kurzarbeitergeldes. Aber auch in Ih-rem Beitrag, Herr Brase, haben Sie überhaupt nicht be-gründen können, warum Sie hier und heute eine Verlän-gerung der Bezugszeit auf 36 Monate beschließenwollen.
Sie sollten wenigstens die vom IAB vorgeschlageneÜberprüfungsklausel in bestimmten Phasen aufgreifen.
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3588 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
Brigitte Pothmer
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Aber es ist falsch, jetzt einfach die Bezugsdauer auf 36 Mo-nate zu verlängern, und das, ohne zwischendurch hinzu-schauen. Das halte ich für nicht verantwortbar.
Ich will hier einen weiteren kritischen Punkt aufgrei-fen, den Herr Brase schon angesprochen hat, und zwardie Verknüpfung von Kurzarbeit und Weiterbildung. DieBundeskanzlerin hat hier in vielen Reden immer wiedergesagt, wir müssten darauf achten, dass wir Deutschenaus dieser Krise stärker herauskommen, als wir hinein-gegangen sind. Eines der ganz großen Defizite des deut-schen Arbeitsmarktes ist die ungenügende Qualifizie-rungs- und Weiterbildungskultur. Was liegt denn näher,als in einer solchen Situation die Krise als Chance zunutzen, dieses Defizit zu beseitigen? Warum nutzen wirdie derzeit nicht gebrauchten Arbeitszeitpotenziale nichtfür Weiterbildung? Diese Verknüpfung wird zurzeit nurungenügend angewandt. Nur 10 Prozent aller Kurzarbei-terinnen und Kurzarbeiter nutzen die Kurzarbeit, um pa-rallel eine Weiterbildung zu machen.
– Herr Weiß, in der Anhörung ist gesagt worden, dassman dieses Defizit ganz deutlich sehen kann.Nach sieben Monaten wird das Kurzarbeitergeld ge-zahlt, ohne dass noch irgendwelche Anstrengungen fürWeiterbildung unternommen werden müssen. Der Ver-treter der Bundesagentur für Arbeit hat gesagt: Mankann genau sehen, wie dieser Tatbestand den Qualifizie-rungsanreiz dämpft. – Deswegen ist dieser Ansatzfalsch. Wenn wir den Gesetzentwurf der Bundesregie-rung im Ausschuss beraten, dann bitte ich Sie darum,dass wir einmal sehr ernsthaft und seriös darüber spre-chen sollten, ob diese Regelung nicht korrigiert werdenmuss.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD-Frak-tion, aus diesen beiden Gründen, also Verlängerung derBezugsdauer des Kurzarbeitergeldes und unzureichendeVerknüpfung des Kurzarbeitergeldes mit der Weiterbil-dung, werden wir uns bei der Abstimmung über IhrenAntrag enthalten.Ich danke Ihnen.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Paul
Lehrieder das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen!Werte Kollegen! Herr Kollege Brase, Sie haben vorhinausgeführt, die Kurzarbeit, wie sie derzeit geregelt ist, seiwährend der Zeit unserer gemeinsamen Koalition – mitt-lerweile sind wir geschiedene Koalitionspartner – einge-führt worden. Wir haben das Kurzarbeitergeld mit derFDP fortgeführt. Ich hätte bei dieser Feststellung durch-aus auch den Applaus der SPD erwartet. Denn das Kurz-arbeitergeld ist eine gute und richtige Maßnahme. Wirhaben vorhin von mehreren Rednern gehört, dass unsdieses Kurzarbeitergeld europaweit – ich möchte sagen:weltweit – bei der Bewältigung der Krise einen Vor-sprung verschafft hat.
Wir müssen uns bei all denen, die dafür den Schweiß derEdlen und Gerechten vergossen haben, bedanken.Meine Damen und Herren, es besteht im ÜbrigenKonsens in diesem Hause darüber, dass die Kurzarbeitdas probate, das richtige Mittel für die Bewältigung derKrise ist. Auch die Unternehmen haben erkannt, dass siequalifizierte und gut ausgebildete Arbeitnehmer sinnvol-lerweise möglichst lange halten und ihnen nicht ohneNot kündigen sollten, um so dieses Tal der Krise mithilfeder Verlängerung der Bezugsdauer für das Kurzarbeiter-geld zu überbrücken.Das konjunkturelle Kurzarbeitergeld – die Vorrednerhaben dies bereits ausgeführt – hat einen bedeutendenAnteil daran, dass die Unternehmen in Deutschland inder Wirtschaftsflaute ihre Arbeitnehmer halten konnten.Zwei gegensätzliche Tendenzen zeichnen sich aber der-zeit ab: Unternehmen sind einerseits in vielen Bereichenan der Grenze der Belastbarkeit in Bezug auf die Halte-kosten angekommen; die wirtschaftliche Erholung ande-rerseits beginnt nur langsam. Außerdem stellen die Un-ternehmen, die von der Krise betroffen sind, keinehomogene Gruppe dar. Manche Unternehmen erreichtdie Krise erst in den nächsten Monaten. Sie wird sie überdas Jahr 2010 hinaus vor Herausforderungen stellen. An-dere Unternehmen bauen bereits jetzt ihren Mitarbeiter-bestand wieder auf. In den nächsten Monaten wird sichdeshalb herausstellen, welche Entwicklung in welcherSparte dominieren wird.Bis spätestens Ende Juni dieses Jahres, also Kündi-gungstermin zum Jahresende, wird der Entwicklung undden finanziellen Möglichkeiten entsprechend durch dieUnternehmen flexibel und kurzfristig reagiert werdenmüssen. Es hat sich erwiesen: Das Instrument des ver-längerten Bezugs von Kurzarbeitergeld hat sich arbeits-markt- und wirtschaftspolitisch als Kernstück des gelun-genen Krisenmanagements bewährt. Daher soll eserfolgreich fortgeführt werden.Die Forderung der SPD, liebe Freunde, in der entspre-chenden gesetzlichen Regelung die Angabe „24 Mo-nate“ pauschal durch die Angabe „36 Monate“ zu erset-zen und eine Fristverlängerung bis zum 31. Dezember2011 vorzusehen, schießt indes über das Ziel hinaus. DieKurzarbeit darf nicht dazu führen, dass ein notwendiger
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3589
Paul Lehrieder
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Strukturwandel verhindert wird; darauf haben hier dieKollegin Pothmer und die sehr weise OECD bereits inder Anhörung am Montag hingewiesen.
Deshalb ist die Verlängerung der Dauer des Bezugs vonKurzarbeitergeld auf 36 Monate, liebe Genossen von derSPD, abzulehnen. Die BDA hat in der Anhörung amMontag argumentiert, dass eine Verlängerung der Be-zugsfrist auf 36 Monate eine nicht zu rechtfertigendeBelastung der Arbeitslosenversicherung ist.Mit Kabinettsbeschluss von gestern wurde das Be-schäftigungschancengesetz als bessere Lösung auf denWeg gebracht. Es ist gut, dass wir unbeschadet des An-trags der SPD ein sehr aktives Arbeitsministerium ha-ben, das die dahinterstehende Idee unverzüglich in dieTat umgesetzt hat. Dies zeichnet unsere Arbeitsministe-rin Frau von der Leyen aus.
Die bis zum 31. Dezember 2010 geltende Sonderrege-lung zum Kurzarbeitergeld soll bis zum 31. März 2012verlängert werden. Eine Ausnahme ist die Konzernklau-sel; diese wollen wir nicht fortführen.Im Einzelnen: Der Arbeitgeber bekommt für die ers-ten sechs Monate 50 Prozent der von ihm allein zu tra-genden Sozialversicherungsbeiträge von der BA in pau-schalierter Form erstattet. Frau Pothmer, natürlich ist dieQualifizierung gerade in den ersten sechs Monaten wäh-rend des Bezugs von Kurzarbeitergeld ein großes Ziel.
Nur, es gibt Branchen – da sollten wir uns kein X fürein U vormachen –, in denen eine Qualifizierung keinenSinn macht.
Beispielsweise der Lkw-Fahrer einer Spedition hat denFührerschein Klasse CE. Er braucht zur Qualifizierungwährend des Bezugs von Kurzarbeitergeld keinen Füh-rerschein der Klasse A zu machen; denn er kann mit sei-nem Führerschein bei steigendem Wirtschaftswachstumwieder ganz normal weiterarbeiten. Für den Fernfahrermacht eine Weiterqualifizierung während des Bezugsvon Kurzarbeitergeld daher verständlicherweise keinengroßen Sinn. Aber es gibt Branchen – Frau Pothmer, dasind wir nahe beieinander –, da macht eine Weiterquali-fizierung durchaus Sinn, und dort wird sie auch in An-spruch genommen. Es gibt aber Branchen, in denen mandie Koppelung der Erstattung der Sozialversicherungs-beiträge an eine Fortbildung als schikanös empfindenund sagen müsste: Warum kann ich meine Mitarbeiternicht sinnvoll fortbilden? Ich habe nicht die Möglich-keit, diese Kosten übernommen zu bekommen.Ich hätte noch einiges zu sagen; aber ich merke,meine Redezeit geht allmählich zu Ende. Ich will dieZeit nicht wie die anderen Kollegen über Gebühr strapa-zieren.
Lehnen Sie den Antrag der SPD ab. Sie können versi-chert sein: Mit der Verlängerung der Dauer des Bezugsvon Kurzarbeitergeld tun wir das in der jetzigen wirt-schaftlichen Situation Wichtige, Erforderliche, Notwen-dige, aber auch Ausreichende. Wenn die Krise überwun-den ist, werden wir in dieser christlich-liberalenKoalition zu gegebener Zeit die richtigen Maßnahmenauf den Weg bringen. Da dürfen Sie volles Vertrauen zuuns haben. Ich bitte Sie, an unseren sehr weisen Be-schlüssen mitzuwirken.Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Dr. Heinrich Kolb für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich habe es mir zur Angewohnheit gemacht, mir immerwieder einmal die Frage zu stellen: Was haben sich Kol-legen eigentlich dabei gedacht, wenn sie einen Antrag inden Deutschen Bundestag einbringen?
Ich hatte regelrecht die Nöte des Antragsschreibers inder SPD-Fraktion vor meinem geistigen Auge, der sichdie Frage gestellt haben muss: Was kann man da eigent-lich bringen, um noch irgendwie aufzufallen? Nach demMotto „Viel hilft viel“ hat man einfach einmal in denTopf gegriffen und eine Verlängerung der Bezugsfristauf 36 Monate an die Spitze eines Antrags gestellt.Herr Brase hat reklamiert, dass Herr Scholz das allesganz toll gemacht habe. Dies fand ich insofern bemer-kenswert, als Sie sich in anderen Zusammenhängennicht mehr so gerne an die Tätigkeit Ihrer Arbeitsminis-ter in den vergangenen elf Jahren erinnern. Ich habe mireinmal angeschaut, wie das alles zu Ihrer Zeit gewesenist. Die Regelfrist umfasst, wenn es keine Nutzung derVerordnungsermächtigung nach § 182 SGB III gibt,sechs Monate. Sie wird in der Regel tatsächlich durchVerordnung verlängert. Siehe da, Herr Brase, währendder gesamten Zeit Ihrer Regierung gab es Verlängerun-gen, aber nicht in dem Umfang, wie Sie es von NorbertBlüm damals übernommen hatten. Ende 1998 haben Siedie von Blüm per Verordnung durchgesetzte Verlänge-rung der Bezugszeit von sechs auf 24 Monate übernom-men. Dann wurde die Bezugszeit immer wieder per Ver-ordnung geändert: Unter Riester betrug sie zunächst24 Monate und wurde dann auf 15 Monate gekürzt. Un-ter Clement stieg die Bezugsdauer auf 18 Monate undsank wieder auf 15 Monate. Bei Müntefering sank dieBezugszeit schließlich auf nur noch zwölf Monate. Erstunter Scholz ist die Bezugsdauer wieder gestiegen: Siewurde erst auf 18 und dann auf 24 Monate verlängert.
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3590 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
Dr. Heinrich L. Kolb
(C)
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Eines verstehe ich nicht: Wenn Sie sich denken, dasses richtig ist, jetzt in die Vollen zu gehen und eine Ver-längerung der Bezugszeit auf 36 Monate zu fordern, wa-rum ist Ihnen dieser Gedanke dann nicht in den letztenelf Jahren gekommen?
Ich finde das nicht sehr überzeugend. Es wirkt ein biss-chen so, als sei das Ganze aus der Not geboren.
– Nein, Herr Brase. Sie wollen jetzt, am Ende einerKrise – Gott sei Dank bewegen wir uns langsam auf dasEnde zu –, noch einmal so richtig in die Vollen gehen,wo wir mittlerweile dosiert und abgewogen entschiedenhaben, die Bezugszeit von 24 auf 18 Monate zu senken.Auch bei der Beitragserstattung haben wir eine Rege-lung mit Augenmaß gefunden, im Sinne einer Exit-Stra-tegie. Sie wollen aber mit dem groben Hammer nocheins draufsetzen. Das macht aus unserer Sicht einfachkeinen Sinn.
Die Regelung, die die Koalition am letzten Freitag ver-einbart hat und die wir morgen hier in erster Lesung be-handeln wollen, wurde mit Augenmaß getroffen.Ich bin froh, dass es Klarstellungen gegeben hat, zumBeispiel bei der tariflichen Kurzarbeit. Frau Krellmannhat das heute nicht angesprochen; vielleicht wird sie esmorgen früh in der Debatte tun. Aus unserer Sicht warklar, dass es beim tariflichen Kurzarbeitergeld keine Ta-rifpolitik zulasten der Beitragszahler geben soll. Für unswar wichtig, dass die Konzernklausel, die es in der bis-herigen Regelung gab – § 421 t SGB III –, herausge-nommen wurde. Man muss ehrlich sagen, dass das Torzur Kurzarbeit hier viel zu weit offen gewesen ist.
All das wurde jetzt mit Augenmaß angepasst. Wirsind auf einem guten Weg und werden auch die weiterenMonate der Krise mit dem Instrument der Kurzarbeit ab-wettern. Die Unternehmen haben ihre Segel im Sturmder Wirtschafts- und Finanzkrise heruntergenommen.Ich denke, wir werden am Ende der Krise erleben, dassdie Unternehmen ihre Segel wieder hochziehen undFahrt aufnehmen. Wir müssen nämlich immer bedenken:Es kommt jetzt darauf an, darüber nachzudenken, wiedie konjunkturelle Erholung mit geeigneten Maßnahmennach vorn gebracht werden soll. Das wird mehr undmehr auf die Agenda rücken.Für heute ist damit genug gesagt. Herr Brase, wirwerden das Thema morgen früh sicherlich weiter disku-tieren. Ich hoffe, dass Sie dann auch das Wort ergreifen.Dann können wir uns an dieser Stelle austauschen. Ichwünsche Ihnen jetzt – was wünsche ich Ihnen jetzt ei-gentlich? – einen schönen Abend und verabschiede michan dieser Stelle.Bis morgen.
Herr Kollege Kolb, ich muss allerdings darauf hin-weisen, dass es zum Erholen noch etwas zu früh ist.
Ich schließe die Aussprache zu diesem Tagesord-nungspunkt.Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag derFraktion der SPD mit dem Titel „Beschäftigte vor Ar-beitslosigkeit schützen – Konditionen für Kurzarbeitverbessern“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 17/1446, den Antragder Fraktion der SPD auf Drucksache 17/523 abzuleh-nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werist dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-lung ist angenommen mit den Stimmen der Koalitions-fraktionen bei Gegenstimmen der SPD-Fraktion undder Fraktion Die Linke bei Enthaltung der FraktionBündnis 90/Die Grünen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 13 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines ErstenGesetzes zur Änderung des Telemediengeset-zes
– Drucksachen 17/718, 17/995 –Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie
– Drucksache 17/1219 –Berichterstattung:Abgeordneter Martin DörmannHierzu liegt ein Entschließungsantrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen vor.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –Damit sind Sie einverstanden. Es geht um die Reden fol-gender Kolleginnen und Kollegen: Andreas Lämmel,Klaus Barthel, Claudia Bögel, Kathrin Senger-Schäferund Tabea Rößner.1)Wir kommen nun zur Abstimmung. Der Ausschuss fürWirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 17/1219, den Gesetz-1) Anlage 3
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Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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entwurf der Bundesregierung auf Drucksachen 17/718und 17/995 anzunehmen.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustim-men wollen, um das Handzeichen. – Wer ist dagegen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiterBeratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen, derSPD-Fraktion und der Fraktion Die Linke bei Enthaltungder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen angenommen.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist damit mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in derzweiten Beratung angenommen.Nun kommen wir zur Abstimmung über den Ent-schließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenauf Drucksache 17/1455. Wer stimmt für diesen Ent-schließungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-gen? – Der Entschließungsantrag ist damit mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen derFraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Linken undEnthaltung der Fraktion der SPD abgelehnt.Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 14 a und 14 bauf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten HeikeHänsel, Jan van Aken, Sevim Dağdelen, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKEVI. EU-Lateinamerika-Karibik-Gipfel inMadrid: Den Aufbruch zur zweiten Unabhän-gigkeit Lateinamerikas solidarisch unterstüt-zen– Drucksache 17/1403 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung
Auswärtiger AusschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Unionb) Beratung des Antrags der Abgeordneten ThiloHoppe, Dr. Hermann Ott, Ute Koczy, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKlimaschutz und gerechten Handel mitLateinamerika und der Karibik voranbringen– Drucksache 17/1419 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung
Auswärtiger AusschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionInterfraktionell wurde vereinbart, darüber eine halbeStunde zu debattieren. – Ich sehe, damit sind Sie einver-standen.Ich eröffne die Aussprache. Als erste Rednerin hat dieKollegin Heike Hänsel für die Fraktion Die Linke dasWort.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Wir beschäftigen uns heute mit dem anstehenden Gipfel-treffen EU-Lateinamerika-Karibik am 18. Mai 2010 inMadrid. Dieses Gipfeltreffen findet unter dem Eindruckder Feierlichkeiten zu 200 Jahren Unabhängigkeitsbe-strebungen in Lateinamerika statt. Damals begann derKampf um die Befreiung von Kolonialismus, Unterdrü-ckung und Ausbeutung. Heute, 200 Jahre später, geht esum die sogenannte zweite Unabhängigkeit Lateinameri-kas, die Unabhängigkeit von imperialer Einmischung,von aufgezwungenen neoliberalen Wirtschaftsbeziehun-gen, und den Schuldendienst. Die Menschen in Latein-amerika erkämpfen sich ihre wirtschaftliche, soziale,ökologische und kulturelle Souveränität.
Ein neues Selbstbewusstsein geht von diesem Konti-nent aus, genauso wie viele alternative politische An-sätze, von denen wir lernen können, zum Beispiel neuedemokratische Verfassungen, die auch per Referendumabgestimmt werden – im Gegensatz zur EuropäischenUnion –, die also Menschen direkt an Politik beteiligen.Es geht um solidarische Wirtschaftsbeziehungen und ge-genseitige Unterstützung, um Verstaatlichung der natür-lichen Ressourcen für Armutsbekämpfung – alles Facet-ten eines sogenannten Sozialismus des 21. Jahrhunderts.In Bolivien zum Beispiel geht heute ein großer interna-tionaler Klimagipfel der Völker mit mehr als 20 000 Teil-nehmerinnen und Teilnehmern aus aller Welt zu Ende.Dort gibt es interessanterweise keine Straßenschlachtenmit der Polizei wie beim Umweltgipfel in Kopenhagen;denn die sozialen Bewegungen und Umweltgruppen sindTeil des Gipfels und nicht ausgesperrt wie in Kopenha-gen. Sie können also ihre Ideen und ihre Kritik einbrin-gen. Davon können wir konkret lernen.
Leider hat die Bundesregierung keine offizielle Vertre-tung zu diesem wichtigen Ereignis geschickt.Was macht nun die Europäische Union angesichtsdieser Entwicklung in Lateinamerika? Anstatt diese Ent-wicklung zu stärken und zu unterstützen, versucht sie,über neue Freihandelsabkommen – aktuell mit Kolum-bien, Peru und Zentralamerika – ihre wirtschaftliche undpolitische Dominanz in Lateinamerika auszubauen undsolidarische, alternative Politikansätze zu boykottieren.Das alles ist in der sogenannten Global Europe Strategyder EU-Kommission schriftlich festgehalten. Sie stehtfür den weltweiten Ausbau der Macht europäischerKonzerne. Dazu gehören auch diese neuen Freihandels-abkommen mit Lateinamerika. Es geht dabei um Markt-öffnung und ungehinderten Zugang zu Energie und Roh-stoffen. Es geht auch um Militärkooperation und denExport zum Beispiel von Atomtechnologie. In diesem
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Heike Hänsel
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aggressiven Wettbewerb wird es viele Verlierer, aber nurwenige Gewinner geben. So warnt zum Beispiel die ko-lumbianische Viehzüchterföderation – ich zitiere –:… das geplante Freihandelsabkommen zerstört dieProduktion von Fleisch, Milch und deren Erzeug-nisse im ungleichen Wettbewerb mit der EU undbringt mehr Armut und Hunger in die ländlichenRegionen und für 400 000 Familien den Ruin.Deshalb unterstützt die Linke die Forderungen von so-zialen Bewegungen, Gewerkschaften und Umweltgrup-pen und fordert den Stopp dieser Freihandelsabkommen.Stattdessen brauchen wir solidarische Handelsabkom-men, die den Interessen der Bevölkerung Lateinamerikasentsprechen und eine Entwicklung fördern, die Armuts-bekämpfung, Klimaschutz, Sicherung sozialer Standards– auch hier in Europa – und den Ausbau der Rechte vonArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern möglich macht.
Für uns ist es ein weiterer Skandal, dass in Madrid einHandelsabkommen mit dem kolumbianischen Präsiden-ten Alvaro Uribe unterzeichnet werden soll, in dessenAmtszeit massive Menschenrechtsverletzungen vonsei-ten der kolumbianischen Armee begangen wurden, Hun-derte von Gewerkschaftern getötet und viele Menschenvon ihrem Land vertrieben wurden. In unseren Augen istes völlig inakzeptabel, dass mit einem solchen Mann einHandelsabkommen unterzeichnet wird. Er gehört eigent-lich vor den Internationalen Strafgerichtshof.
Die spanischen Bewegungen haben deswegen eine Ini-tiative ins Leben gerufen, die Präsident Uribe in Madridals persona non grata – unerwünschte Person – erklärt.Wir werden uns am alternativen Gegengipfel in Madridbeteiligen. Er nennt sich „enlazando alternativas“ undrichtet sich gegen die Politik der EU.
Auf dem Gegengipfel wird für eine selbstbestimmte,zweite Unabhängigkeit Lateinamerikas gekämpft, dieden Menschen Hoffnung, Gerechtigkeit und Würde zu-rückgibt.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun das Wort die Kol-
legin Anette Hübinger.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Meine Damen und Herren! In Madridwerden sich am 17. und 18. Mai dieses Jahres zumsechsten Mal die Staats- und Regierungschefs Latein-amerikas, der Karibik und Europas treffen, um sich überdie globalen Zukunftsfragen auszutauschen und gemein-same Handlungswege zu erörtern. Diese Gipfeltreffenberuhen auf langen, freundschaftlichen Beziehungenzwischen Europa, Lateinamerika und der Karibik, dievor mehr als zehn Jahren in eine strategische Partner-schaft zwischen diesen beiden Regionen mündeten. Diegemeinsamen kulturellen Wertvorstellungen wie Freiheitund Chancengleichheit und unsere gemeinsame demo-kratische Überzeugung sind eine gute Grundlage fürdiese vertiefte Zusammenarbeit, die auch Assoziierungs-und Freihandelsabkommen vorsieht.
Das diesjährige Treffen in Madrid wird diese strategi-sche Partnerschaft weiter vertiefen und ausbauen. DasThema des Gipfels lautet: „Eine neue Phase der bi-regio-nalen Zusammenarbeit: Innovation und Technologie füreine nachhaltige Entwicklung und soziale Inklusion“. Erschließt an den Gipfel in Lima vor zwei Jahren an undstellt sich gleichzeitig aktuellen Herausforderungen. So-wohl die aktuelle Situation als auch die zukünftige Ent-wicklung Haitis, die Wirtschafts- und Finanzkrise sowiedie Klimaverhandlungen stehen auf der Tagesordnung.Die Staaten Lateinamerikas sind derzeit bei der Be-wältigung der großen globalen Probleme unserer Zeitwie Klimawandel und bezüglich der Nutzung der natür-lichen Ressourcen für Europa ein wichtiger Gesprächs-und Handelspartner. Vertreter Lateinamerikas sitzen injeder Verhandlungsrunde, in der es um diese entschei-denden Zukunftsthemen geht. Viele Staaten Lateiname-rikas konnten in den letzten Jahren ein kräftiges Wirt-schaftswachstum verzeichnen. Selbst die weltweiteWirtschafts- und Finanzkrise hat keine der früher sehroft anfälligen Volkswirtschaften aus der Bahn geworfen.Im Schnitt schrumpfte das reale Bruttoinlandsproduktder lateinamerikanischen Staaten 2009 um 2,5 Prozent,und für 2010 sagt der Internationale Währungsfonds einmittleres Wachstum von 3 Prozent voraus. Trotz oder ge-rade wegen dieser positiven wirtschaftlichen Entwick-lungen wird die Bewältigung des wachsenden sozialenUngleichgewichts entscheidend für weiteres wirtschaft-liches Wachstum sein. Die Bekämpfung der Armutbleibt für die Demokratien in Lateinamerika ein Schlüs-selfaktor.Die EU und Deutschland wollen den Staaten Latein-amerikas und der Karibik bei der Bewältigung dieserAufgaben helfen. Dazu dienen neben den allgemeinenZollpräferenzen Freihandelsabkommen, wie sie nun-mehr mit Peru und Kolumbien in Madrid zum Abschlussgebracht werden sollen. Diese Freihandelsabkommenbieten die Möglichkeit, Märkte in Europa zu erschließen,durch die ein weiteres Wirtschaftswachstum generiertwerden kann. Der Zugang zu den europäischen Märktenist eine logische Konsequenz unserer Entwicklungszu-sammenarbeit. Denn was nutzt es, den ökologischen An-bau von Kakao und Kaffee zu unterstützen und denKleinbauern damit Hoffnung zu machen, wenn wir denAbsatz dieser fair gehandelten Produkte in Europa nichtzu guten Bedingungen ermöglichen?
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Anette Hübinger
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Diese Abkommen beinhalten die Verpflichtung zur Ach-tung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit so-wie die Einhaltung von internationalen Standards hin-sichtlich Umwelt und Arbeit. Das schließt die Gründungvon Gewerkschaften – sie sind abgesichert – ebenso wiedie Achtung indigener Rechte und die Einbindung derindigenen Bevölkerung ein.Wenn wir von Lateinamerika und der Karibik spre-chen, dann sehen wir uns einer Vielzahl von Staaten undVölkern gegenüber, die in ihrer Ausprägung, ihrerwirtschaftlichen Entwicklung und hinsichtlich ihrer poli-tischen Vorstellungen kaum unterschiedlicher seinkönnten. Daher gestalten sich Verhandlungen über Asso-ziierungsabkommen zwischen regionalen lateinamerika-nischen Zusammenschlüssen wie dem Mercosur, derAndengemeinschaft oder Zentralamerika und der EU alsäußerst langwierig und oft schwierig. Während die As-soziierungsverhandlungen zwischen Zentralamerika undder EU fortgesetzt werden, haben Bolivien und Ecuadorals Staaten der Andengemeinschaft die Verhandlungenüber ein Freihandelsabkommen abgebrochen. Mit Ko-lumbien und Peru wurde weiterverhandelt, weil der pe-ruanische Präsident García zu Recht darauf verwies,„mit denen zu beginnen, die es auch ernsthaft wollen“.Lateinamerika birgt eine der größten biologischenSchatzkammern der Welt, die durch kurzfristige Interes-sen leider höchst gefährdet ist. Deshalb wird der Klima-und Ressourcenschutz ebenso wie die Zusammenarbeitim Innovations- und Technologiebereich auf der Agendain Madrid stehen. So sind sowohl die Entwicklung unddie breite Anwendung von Technologien im Bereich er-neuerbarer Energien als auch die EnergieeffizienzSchlüsselfaktoren, um den Klimawandel einzudämmen,den steigenden Energiebedarf zu decken, aber auch umzu nachhaltigem Wirtschaftswachstum und nachhaltigerEntwicklung zu gelangen. Dies erfordert eine verstärkteund umfangreiche Technologiekooperation zwischenLateinamerika und Europa. Am 29. und 30. April wirdein EU-Lateinamerika-Karibik-Forum zur Energiepoli-tik in Berlin stattfinden, das nicht nur den Gipfel in Ma-drid vorbereitet soll, sondern das auch der Vorbereitungder Weltklimakonferenz in Cancún dient.Insbesondere Brasilien als neuntgrößte Volkswirt-schaft mit einem Bruttoinlandsprodukt, das über demvon China und Indien liegt, kommt dabei eine zuneh-mend bedeutende Rolle zu, und zwar sowohl als Impuls-geber in Lateinamerika selbst als auch aufgrund derÜbernahme internationaler Verantwortung in wichtigenPolitikbereichen. Mit den kürzlich entdeckten Erdöl-und Erdgasvorkommen könnte Brasilien zu einem sehrwichtigen internationalen Energielieferanten aufsteigen.So wird es 2010 und 2011im Rahmen des Deutsch-Bra-silianischen Jahres der Wissenschaft, Technologie undInnovation zahlreiche Veranstaltungen und Begegnun-gen zwischen Wissenschaftlern und Forschern sowohlauf deutscher als auch auf brasilianischer Seite geben,die die Zusammenarbeit im Bereich Forschung und Wis-senschaft vertiefen und ausbauen werden. Das ist gelebtePartnerschaft; denn nur eine gemeinsame Forschungwird uns bei der Beantwortung globaler Fragen weiter-bringen.
Nun zu den Anträgen der Fraktionen Bündnis 90/DieGrünen und Die Linke. Sehr geehrte Damen und Herrenvon der Fraktion Die Linke, es wäre wirklich an der Zeit,dass Sie sich eingestehen, dass die Politik, die Sie mitdiesem Antrag wieder verfolgen und in anderen Staatenunterstützen, den Menschen keine Zukunft gibt.
Sie gaukeln in Ihrem Antrag wieder einmal vor, Latein-amerika und die Karibik sprächen mit einer Stimme, ver-weigerten sich den Freihandelszielen der EU und wiesen– ich zitiere – „die Vorstellung von einem europäischenVorbild in Sachen Demokratie für Lateinamerika zu-rück“. Die Abkommen mit Mexiko, Chile, Brasilien,demnächst mit Peru und Kolumbien und die Verhandlun-gen mit Zentralamerika beweisen das Gegenteil. Die EUoktroyiert ihren Partnern auch nichts auf. Jeder ist frei,Abkommen zu schließen oder nicht. Dies ist am Beispielvon Bolivien und Ecuador leicht zu erkennen. Aber ge-wollte Partnerschaften dürfen nicht an gegenteiligenAuffassungen Einzelner scheitern. Das Selbstbestim-mungsrecht der lateinamerikanischen Staaten, das Sierichtigerweise immer wieder betonen, beinhaltet dasRecht, Beziehungen – auch im militärischen Bereich –zu den USA zu unterhalten.Dass die Hilfseinsätze der Vereinigten Staaten, dieEntsendung einer Gendarmeriemission der EU und dieAufstockung der UN-Mission MINUSTAH in IhremAntrag als sicherheitspolitische und militärische Instru-mentalisierung bezeichnet werden, ist abwegig. Ebensoabwegig ist, die Entschließung des Europäischen Parla-ments zur Lage der politischen Häftlinge und der Gefan-gen aus Gesinnungsgründen in Kuba vom 11. März die-ses Jahres als einen aggressiven Akt gegen Kuba zubezeichnen. Diese Beispiele zeigen, durch welche BrilleSie die Welt betrachten: eine Brille, die Elend, Not undHerabsetzung ausfiltert.
Daher lehnt die CDU/CSU-Fraktion diesen Antrag ab.Ebenso lehnen wir den Antrag von Bündnis 90/DieGrünen ab. Dieser Antrag enthält zwar viele gute An-sätze, insbesondere bei den Themen Klima, Umwelt,Energie und Menschenrechte, die wir ähnlich sehen. Je-doch werden Forderungen erhoben, die die Aufhebungder Hermesbürgschaft für den Export deutscher Atom-technologie und den Weiterbau von Angra 3 in Brasilienbetreffen, worüber in Deutschland schon längst entschie-den wurde und was unseres Erachtens auf europäischerEbene nicht geändert werden sollte, da jeder Staat sou-verän über seine Energieversorgung entscheiden kann.
Dem Gipfel in Madrid wünsche ich eine rege politi-sche Diskussion mit dem Ergebnis einer engen und tie-fen Zusammenarbeit zwischen Europa, Lateinamerika
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Anette Hübinger
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und der Karibik und gute Fortschritte bei den globalenFragen unserer Zeit.Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Klaus Barthel für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Dass ein EU-Lateinamerika-Karibik-Gipfel stattfindet– und das bereits zum sechsten Mal –, ist an sich schonetwas Besonderes. Es gibt weit und breit keine ver-gleichbare Einrichtung, die die Europäische Union miteiner ganzen Großregion eines anderen Kontinents zu-sammenbringt. Allein das ist aus Sicht der SPD-Bundes-tagsfraktion nicht nur ein einmaliger, sondern auch einvorbildlicher Ansatz in der internationalen Politik. Des-wegen ist es gut, dass wir uns hier im Bundestag schonim Vorfeld damit befassen. Ich finde es schade, dass dieBundesregierung nicht von sich aus darlegt, wie sie sichauf dieses Ereignis vorbereitet und mit welchen Vorstel-lungen und Initiativen sie nach Madrid reist.
Das ist umso bedauerlicher, als der Bundesaußen-minister immer wieder sein besonderes strategisches In-teresse an Lateinamerika bekundet hat. Uns hätte jen-seits des inflationären Großsprechs, den er gerne pflegt,interessiert, welche Grundzüge eine solche Strategie hat.Uns hätte insbesondere interessiert, ob die Bundesregie-rung weiterhin der Meinung ist, dass unsere Außenpoli-tik im Wesentlichen Außenhandelspolitik ist. Dieser Ein-druck hat sich gerade im Zuge der Reise desBundesaußenministers nach Chile, Argentinien, Uru-guay und Brasilien deutlich verfestigt. Die Delegation,die er dorthin mitgenommen hat, und die ganzen Be-gleitumstände waren im Grunde eine Karikatur von Au-ßenpolitik. Die Grenzen von Außenpolitik, Außenhan-delspolitik, puren Verkaufsveranstaltungen undpersönlichen Interessen einiger Delegationsmitgliederwurden hoffnungslos vermischt.
– Das wurde von niemandem bestritten. Die Reden, dieer dort gehalten hat, kann man nachlesen. Sie widerspre-chen diesem Eindruck nicht, sondern untermauern ihn.
Wir sagen: Wer Lateinamerika oder andere Regionender Welt nur als Absatzmarkt für den deutschen Han-dels- und Leistungsbilanzüberschuss betrachtet, der hatweder die Ursachen der Wirtschaftskrise – sie haben ge-rade mit dieser Art von Standortpolitik und den darausentstehenden Ungleichgewichten zu tun – noch die Zieleeiner gleichberechtigten Partnerschaft als Grundlage je-der internationalen Politik verstanden.
Wer wie Herr Westerwelle in seinen Reden Brasilien undandere Länder zu Rohstofflieferanten – auch FrauHübinger konnte sich das Wort „Schatzkammer“ nichtverkneifen – degradieren will und wer wie diese Bundes-regierung schamlos Sonderinteressen gewisser Konzernebedient, die dort Großstaudämme und Atomkraftwerkebauen wollen,
der hat jeden Anspruch verloren, von Partnerschaft, derFörderung kleiner und mittlerer Unternehmen, vernünf-tiger Energiepolitik und einer breiten politischen Ge-samtstrategie zu reden.
Uns ist der Ansatz des Antrags der Grünen, etwa inden Punkten 2 bis 15, wesentlich sympathischer. Dortwerden die Klimaziele betont und dem Export und demAusbau der Kernenergie eine Absage erteilt. Auch vieleweitere Punkte dieses Antrags können wir unterschrei-ben. Aber der Antrag der Grünen hat eine entscheidendeSchwäche, genauso wie der Antrag der Linken: Er ver-liert sich in 34 Einzelpunkten, in Details.
Bei den Linken sind es – durchnummeriert – ungefährgenauso viele. Früher gab es Zettelkästen. Heute gibt esdigitale Nachschlagewerke, die Sie offenbar nach demMotto „Jetzt schauen wir einmal, was wir alles zumStichwort Lateinamerika finden“ genutzt haben: Haiti,Kuba, Honduras, Venezuela, Freihandelsabkommen,ALBA und Mercosur, indigene Bevölkerung, VereinteNationen, Nachhaltigkeit, Doha, Menschenrechte usw.
Das alles ist richtig und wichtig. Bei den Linken ist derZettelkasten natürlich noch mit der reflexartigen Gut-Böse-Semantik eines ziemlich aufgesetzten Antikolonia-lismus versehen.
Man kann diese Sichtweisen, diese Sympathien und An-tipathien durchaus teilen und zu bestimmten Einschät-zungen und Schlussfolgerungen kommen. Aber – dasgilt in Teilen auch für den Duktus der Grünen – mankann nicht von Selbstbestimmung der Menschen in La-teinamerika und von Partnerschaft auf gleicher Augen-höhe reden und gleichzeitig Zensuren geben und Rat-schläge erteilen, die letztlich wieder in Bevormundungmünden.
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Klaus Barthel
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Unser Ansatz ist ein anderer. Wir wollen nicht ständigmit Vorbedingungen und Vorhaltungen Gespräche undVerhandlungen führen. Gerade dann, wenn man nichtschon im Vorfeld Blockaden aufbaut, kann man konse-quent für Menschenrechte, für Arbeiter- und Gewerk-schaftsrechte und gegen Gewalt eintreten und dabei auchErfolg haben. Im Übrigen habe ich es satt, dass man im-mer mit zweierlei Maß misst, je nach Macht und Größedes Gegenübers und je nach eigener Interessenlage. Da-mit meine ich auch die Haltung der Grünen gegenüberKuba; diesen Punkt kann man nachlesen. Die entschei-dende Kritik an beiden Anträgen ist, dass sie keine Al-ternativen zur Regierungspolitik darstellen. WennWesterwelle sagt: „Außenhandel und nochmals Außen-handel, alles andere ist nachrangig“, dann kann die Ant-wort darauf keine Spiegelstrichorgie sein, mit der Folge,dass man den Regelwald vor lauter Bäumen und Regen-tropfen nicht mehr sieht, so wichtig der einzelne Baumauch sein mag. Wenn wir über den Dialog zweier großerWeltregionen sprechen, dann kann man keine Liste ein-zelstaatlicher Probleme aufstellen. Ich möchte einmalsehen, wie Sie von den Linken und den Grünen auf einersolchen Konferenz, die zwei Tage dauert, all diese Kata-loge abarbeiten wollen.
Ein solcher Ansatz ist von vornherein zum Scheiternverurteilt.
Worum geht es auf diesem Gipfel im Jahr 2010? Wirsind nicht im Jahr eins nach der Wirtschaftskrise, son-dern noch mitten in dieser Krise. Wir müssen uns mit un-seren Partnern darüber verständigen, welches die Ursa-chen dieser Krise sind, wie wir sie gemeinsambekämpfen und was wir mit Blick auf die G 20 und dieinternationalen Institutionen wie IWF und Weltbank tunwollen, zum Beispiel hinsichtlich der Finanzmärkte oderdes Schutzes der Rohstoffmärkte vor Spekulation zulas-ten von Erzeugern und Verbrauchern.Wir müssen über Klima und Energie sprechen. BeideSeiten können und müssen eine zentrale Rolle spielen.Wir müssen die Probleme und Strukturen herausarbei-ten, bei denen Europa wie Lateinamerika besondere Ver-antwortung und Handlungsmöglichkeiten haben. Ichnenne hier zum Beispiel den Drogenhandel, der in La-teinamerika ganze Staaten gefährdet und auch in Europaseine gefährlichen Entsprechungen – Stichwort „Mafia“ –findet.Wir haben wie keine andere Konstellation die großeChance, zwischen der EU sowie Lateinamerika und derKaribik eine Debatte über eine soziale und ökologischeWirtschaft voranzutreiben. Wir können nicht nur debat-tieren. Es gibt tatsächlich die Chance, Alternativen zurealisieren, gerade wenn es um den Zusammenhang vonVerteilung, Wachstum, Beschäftigung, Modernisierungund Nachhaltigkeit geht. Diese vielbeschworenen Ge-meinsamkeiten können den Weg weisen. Auf eine Dis-kussion, die sich zielgerichtet auf das Wesentliche kon-zentriert, würden wir uns freuen. Die beiden Anträge,die uns vorliegen, können dazu einen Beitrag leisten,nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Für die FDP-Fraktion hat die Kollegin Marina
Schuster das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Herr Kollege Barthel, ich muss mich über IhreAusführungen schon sehr wundern. Sie holzen hier. Inder Sache selbst nehmen Sie zu den einzelnen Punktenaber gar nicht Stellung. Sie kritisieren eine Reise, bei derSie gar nicht dabei waren. Ich war bei der Lateiname-rika-Reise von Außenminister Westerwelle dabei. Ichfinde, es hätte zur politischen Fairness gehört, sich zu er-kundigen – Sie hätten sich mit Ihrem Kollegen KlausBrandner unterhalten können; er war bei dieser Reise da-bei und hat von wesentlichen Punkten berichtet –, bevorSie hier Anschuldigungen erheben.Wenn Sie uns vorwerfen, wir ließen Lateinamerikaaußer Acht, dann lassen Sie uns einmal in das Jahr 1999zurückgehen. In diesem Jahr wurde die strategische Part-nerschaft zwischen der EU und Lateinamerika ins Lebengerufen. Ich frage Sie: Was haben Sie getan, was hat dieSPD getan, um diese Partnerschaft mit Leben zu erfül-len?
Wir haben im Koalitionsvertrag verankert, dass wir res-sortübergreifend eine neue Lateinamerika-Politik ins Le-ben rufen werden, weil Lateinamerika in der Vergangen-heit links liegen gelassen wurde. Wie Sie sich in dieserDebatte eingelassen haben, ist ein starkes Stück.
Wir konnten bei dieser Reise erkennen, dass bei denGesprächspartnern in den Ländern, die wir besucht ha-ben, großes Interesse besteht, mit der EU enger zusam-menzuarbeiten. Es liegt im wohlverstandenen europäi-schen Interesse, diese ausgestreckte Hand zu ergreifen.Europa und Lateinamerika haben ein gemeinsames Wer-tefundament. Das ist eine gute Basis für Kooperation.Ich bin der Kollegin Hübinger sehr dankbar, dass siezum Beispiel das Deutsch-Brasilianische Jahr der Wis-senschaft erwähnt hat. Wir haben auf dieser Reise unteranderem die größte deutsche Auslandsschule besucht.Dabei konnten wir uns davon überzeugen, dass sichdeutsche Schulen großer Beliebtheit erfreuen undDeutschland in der Region großes Ansehen genießt. DerWunsch, mit Deutschland zusammenzuarbeiten, ist weitverbreitet. Das können wir nur unterstützen. Es mussdeshalb bei dem EU-Lateinamerika-Gipfel darum gehen,
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Marina Schuster
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konkrete Erfolge zustande zu bringen. Das unglaublichePotenzial, das eine Zusammenarbeit der EU mit Latein-amerika hat, ist viel zu lange vernachlässigt worden. Ichbin froh, dass es uns – Dirk Niebel und StaatsministerinConny Pieper sind hier – gelungen ist, die Kehrtwendezu schaffen und Lateinamerika endlich den Stellenwertzu geben, den es verdient.
Zu einem Lateinamerika-Konzept gehören natürlichWirtschafts- und Handelsthemen. Die anstehenden Han-delsabkommen sind angesprochen worden. Aber natür-lich geht es auch um Fragen der Nichtverbreitung vonNuklearmaterial und um die Bekämpfung von Drogen-handel und Kriminalität sowie um Fortschritte bei derEntwicklung rechtsstaatlicher Strukturen und bei derkulturellen Zusammenarbeit. Es ist richtig: Es hat beimMercosur interne Probleme gegeben, die dazu geführthaben, dass die Kooperation zwischen den Ländern nichtvorankam. Ich bin allerdings hoffnungsfroh, dass derStreit durch den Schiedsspruch des IGH beigelegt wer-den konnte. Ich hoffe, dass wir in den Verhandlungenmit dem Mercosur zügig zu einem Abschluss kommen.Der Bundesaußenminister hat bei seiner Lateiname-rika-Reise deutlich gemacht – ich glaube, dieser Ansatzist ganz wichtig –, dass wir die Länder Lateinamerikasals gleichberechtigte Partner wahrnehmen und sie unter-stützen sollen, international – etwa bei den VereintenNationen oder bei den G 20 – mehr Verantwortung zuübernehmen, wie im Fall Brasilien.
Es muss eben auch klargemacht werden: Man wünschtsich eine engere Kooperation innerhalb der Weltwirt-schaft, den Abschluss der Doha-Runde, aber auch Frei-handels- und Assoziierungsabkommen.Jetzt komme ich noch kurz zu den Anträgen.In dem Antrag der Grünen stehen einige Forderungenzur Umwelt- und Klimapolitik. Was mich sehr gewun-dert hat, ist, dass Sie zwar sehr ausführlich zur Atom-kraft und zu Atomkraftwerken Stellung nehmen, ich indem Antrag aber keinen einzigen Satz dazu finde, wieSie sich zu den vielen Staudammprojekten verhalten, dieLula plant, nämlich unter anderem das Projekt BeloMonte. Ich hoffe, dass Herr Hoppe, der ja nach mir dasWort hat, dazu Stellung nimmt.
Zum Antrag der Linken. Zu der Rede ist nicht viel zusagen; denn Sie haben die üblichen Ressentiments gegendie USA bedient.
Ich finde es unglaublich, dass Sie dem Westen und denUSA in Ihrem Antrag eine militärische Besetzung Haitisunterstellen. Glauben Sie denn wirklich, dass der Aufbaunach einer solchen Naturkatastrophe mit gutem Zuredenfunktioniert?
Ich finde in Ihrem Antrag auch kein Wort zu Men-schenrechtsverletzungen in Kuba und zu Einschränkun-gen der Presse- und Meinungsfreiheit unter Chávez. Hierkann ich nur meiner Kollegin Hübinger recht geben:Dort sind Sie auf einem Auge blind.Ich kann für die FDP-Fraktion nur sagen: Wir sehendie Zusammenarbeit mit Lateinamerika als großeChance an. Wir wünschen uns eine enge Kooperation,von der beide Seiten profitieren, und ich freue mich aufdie Politik unserer Bundesregierung; denn sie wird derRegion endlich die Bedeutung geben, die sie verdient.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege Thilo
Hoppe für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Kollegin Schuster, Sie haben mich gerade ange-sprochen und uns vorgeworfen, dass in unserem Antragetwas fehlt. Ich kann das gerne nachliefern und sagen,dass wir die brasilianischen Megastaudammprojektesehr kritisch sehen.Hier wird aber ein Dilemma deutlich: Der KollegeBarthel sagt, wir hätten hier eine Spiegelstrichorgiedurchgeführt und es seien viel zu viele Forderungen inunserem Antrag. Er selber hat dann aber noch andereForderungen nachgeliefert. Wir hatten zum Beispielnichts zur Drogenbekämpfung gesagt. Das ist ja nunwirklich ein Dilemma.Wir könnten unseren Antrag spielend noch um sehrviele andere Punkte ergänzen, die wichtig wären. Ichfinde es aber mit Verlaub gesagt auch ein bisschen selt-sam, keinen eigenen Antrag vorzulegen und den Linkenund den Grünen vorzuwerfen, sie würden zu viele For-derungen stellen. Das geht nun auch nicht.
Nun aber zurück zum EU-Lateinamerika-Gipfel. Esgibt mittlerweile alle zwei Jahre ein solches Gipfeltref-fen. Die Staats- und Regierungschefs treffen sich, ver-sammeln sich und beschwören die gemeinsamen Werte.Sie verabschieden eine Schlusserklärung, in der meis-tens leider nicht viel steht, und dann gibt es noch das Fa-milienfoto. Ein Ritual! Ich hoffe, dass sich das in Madridnicht wiederholen wird; denn es gibt ja wirklich großeHerausforderungen. Einige Kolleginnen und Kollegenhaben sie beschrieben.
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Thilo Hoppe
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Man könnte die vielbeschworene strategische Part-nerschaft doch endlich mit Leben füllen, beispielsweisemit gemeinsamen Initiativen für den Klimaschutz. Me-xiko und Brasilien haben hierfür doch interessante Vor-schläge auf den Tisch gelegt. Es gilt jetzt, diese aufzu-greifen. Was macht aber die Bundesregierung? Sieverhandelt ernsthaft über Hermesbürgschaften für neueAtomkraftwerke.
Was machen die Niederländer? Sie planen in Eemshaveneines der größten Kohlekraftwerke der Welt, das mitKohle aus Kolumbien befeuert werden soll.Hat Europa die Zeichen der Zeit denn noch immernicht erkannt? Setzt Europa denn noch immer auf eineverfehlte, risikoreiche und umweltschädliche Energie-politik?
Wir fordern mit unserem Antrag, endlich neue Wegezu gehen. Vamos adelante! Geht gemeinsam vorwärts,vorwärts mit einem ehrgeizigen Ausbau der erneuerba-ren Energien. Hier liegt die Zukunft.
Neue Wege sind auch in der Handelspolitik notwen-dig. Die spanische Ratspräsidentschaft hat unglaublichDruck gemacht, und mit heißer Nadel wurden Freihan-dels- und Assoziierungsabkommen gestrickt, die alledann in Madrid feierlich unterzeichnet werden sollen.Wenn man sich die aktuellen Versionen zum Beispieldes Abkommens mit Peru und Kolumbien oder mit Zen-tralamerika ansieht, dann fällt auf, dass die EuropäischeUnion immer noch auf den Dreiklang Deregulierung,Privatisierung, Liberalisierung setzt, als ob es nie einegroße Wirtschafts- und Finanzkrise gegeben hätte.
Soziologische und ökologische Aspekte und Menschen-rechtskriterien fallen allesamt hinten runter
oder sind bestenfalls noch in unverbindlichen Präambelnzu finden; es gibt keine Sanktionsmechanismen.Wie sehr die Exportinteressen alles dominieren, siehtman daran, dass man sich nicht davor scheut, wieder mitHonduras zu verhandeln. Der Kollege Klaus Riegert undich sind gemeinsam in Honduras gewesen und haben mitdem weggeputschten Präsidenten Zelaya und dem wieauch immer neu gewählten Präsidenten Pepe Lobo ge-sprochen. Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Ichplädiere nicht dafür, die neue Regierung total zu boykot-tieren. Aber bevor man die Entwicklungszusammenar-beit wieder startet und bevor man die neue Regierung alsVerhandlungspartner akzeptiert, hätte man darauf beste-hen müssen, dass sie tatsächlich zu einer Verbesserungder Lage beitragen und ihre Versprechen einhalten. Lei-der ist das Gegenteil passiert. Deshalb hätte man sienicht so schnell als Verhandlungspartner akzeptierendürfen.
Wir haben einen Antrag vorgelegt, der selbstverständ-lich das Große und Ganze umfasst und der zum Beispielauch die Empfehlungen der Stiglitz-Kommission, in derFrau Wieczorek-Zeul mitgearbeitet hat, mit nach vornebringen will.
– Nein, es sind nicht nur kleine Spiegelstriche. Die Kri-tik geht ins Leere, Herr Barthel. Wir sollten keine Piese-pampelei betreiben. Nennen Sie mir einen Punkt, mitdem Sie nicht zufrieden sind, und geben Sie sich einenRuck, diesem Antrag zuzustimmen, statt leere Rhetorikzu bringen!
Ich wollte noch etwas ansprechen, das auch nichtstimmt. Wir verurteilen Menschenrechtsverletzungen,egal in welchem Land sie geschehen, ob in Kolumbienoder auf Kuba. In dem Punkt unterscheiden wir uns vondem Antrag der Linken, den wir in vielen Passagen un-terstützen können. Aber an einigen Stellen ist erkennbar,dass die ideologische Zerrbrille aufgesetzt worden ist,mit der man dann über Menschenrechtsverletzungen aufKuba hinwegsieht. Wenn man das nachbessern würde,dann könnte man zusammenkommen.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Pardon, ich komme zum letzten Satz. – Wir haben ei-
nen Antrag vorgelegt, der auf eine nachhaltige und wirk-
lich ökologische und soziale Entwicklung setzt, der die
Menschen in den Mittelpunkt rückt und zeigt, dass wir
nicht auf dem einen oder anderen Auge blind sind.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 17/1403 und 17/1419 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dannsind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines ZweitenGesetzes zur Änderung des Vorläufigen Ta-bakgesetzes– Drucksachen 17/719, 17/996 –
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Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-schaft und Verbraucherschutz
– Drucksache 17/1257 –Berichterstattung:Abgeordnete Marlene MortlerElvira Drobinski-WeißDr. Christel Happach-KasanKarin BinderUlrike HöfkenHierzu liegt ein Entschließungsantrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen vor.Folgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre Re-den zu Protokoll gegeben: Elvira Drobinski-Weiß, ErikSchweickert, Karin Binder, Ulrike Höfken und die Parla-mentarische Staatssekretärin Julia Klöckner.1)Damit kommen wir zur Abstimmung über den vonder Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zurÄnderung des Vorläufigen Tabakgesetzes. Der Aus-schuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher-schutz empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/1257, den Gesetzentwurf der Bundesre-gierung auf Drucksachen 17/719 und 17/996 anzuneh-men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-stimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer istdagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damitin zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen, der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen und der SPD-Fraktion bei Enthaltung der FraktionDie Linke.Wir kommen zurdritten Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. – Istjemand dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist mit dem gleichen Stimmenverhältnis wie in der zwei-ten Beratung angenommen.Abstimmung über den Entschließungsantrag der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1456. Werstimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer ist dage-gen? – Enthaltungen? – Der Entschließungsantrag ist ab-gelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen undder SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Die Linkeund Gegenstimmen der Fraktion Die Grünen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten VolkerBeck , Markus Kurth, Birgitt Bender, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENEuropäische Antidiskriminierungspolitik un-terstützen – 5. Gleichbehandlungsrichtlinieder EU nicht länger blockieren– Drucksache 17/1202 –1) Anlage 4Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
RechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –Damit sind Sie einverstanden. Es handelt sich um dieReden folgender Kolleginnen und Kollegen: NorbertGeis, Markus Grübel, Christel Humme, FlorianBernschneider, Dr. Ilja Seifert und Jerzy Montag.2)Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/1202 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen, wobei die Federfüh-rung beim Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen undJugend liegen soll. – Damit sind Sie einverstanden, wieich sehe. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 17:Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und der FDP eingebrachten Entwurfs einesErsten Gesetzes zur Änderung des Gesetzeszur Errichtung einer Stiftung „Deutsches His-torisches Museum“– Drucksache 17/1400 -Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität undGeschäftsordnungAuswärtiger AusschussInnenausschussRechtsausschussAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussWie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen. Es handelt sich dabeium folgende Kolleginnen und Kollegen: Thomas Strobl
, Dorothee Bär, Dr. Angelica Schwall-Düren,
Patrick Kurth , Dr. Lukrezia Jochimsen undClaudia Roth .
In dem Gesetz zur Errichtung einer Stiftung „Deut-
sches Historisches Museum“, DHMG, vom 21. Dezem-
ber 2006 wurde die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Ver-
söhnung“ als unselbstständige Stiftung des öffentlichen
Rechts in der Trägerschaft des Deutschen Historischen
Museums, DHM, errichtet. Stiftungszweck war und ist
die Unterhaltung eines Ausstellungs-, Dokumentations-
und Informationszentrums in Berlin, um im Geiste der
Versöhnung die Erinnerung und das Gedenken an
Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im histori-
schen Kontext des Zweiten Weltkriegs und der national-
sozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik und
ihrer Folgen wachzuhalten.
Die bisherige Stiftungsarbeit hat gezeigt, dass die
Komplexität der Aufgabenstellung und des Meinungs-
spektrums eine Vergrößerung des Stiftungsrates und eine
2) Anlage 5
Thomas Strobl
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Modifizierung des Berufungsverfahrens für den Stif-
tungsrat angezeigt erscheinen lassen. Die zentrale Neue-
rung des Gesetzentwurfs ist, die Berufung der Mitglie-
der in den Stiftungsrat fortan dem Bundestag zu über-
tragen, also der Legislative, statt sie wie bisher der
Exekutive anheimzustellen. Dies verbreitert die Ent-
scheidungsbasis erheblich und objektiviert den Beru-
fungsprozess. Auch die Einbeziehung verschiedener
Gruppen, wie etwa die Kirchen und den Zentralrat der
Juden, bürgt für Offenheit und Pluralität der gesamten
Stiftungsarbeit. Einseitigkeiten, Geschichtslegenden, ja,
gewollte Mythologisierungen sind dadurch ausgeschlos-
sen. Und genau das ist die Absicht der von uns erarbei-
teten Neuzusammensetzung des Stiftungsrates „Flucht,
Vertreibung, Versöhnung.“
Dagegen übrigens zu polemisieren, wie es etwa die
Linke tut, ist entlarvend und bestätigt die Probleme, die
man in ihren Reihen mit dem Objektivitätsgebot und
Wahrhaftigkeitspostulat offensichtlich hat. Geradezu
unverschämt aber ist die Behauptung, diese Probleme
lägen im Gegenteil bei uns, und wir wollten Geschichts-
verfälschungen vornehmen, indem wir mehr Sitze für
den Vertriebenenverband forderten, nämlich sechs von
den insgesamt 21 Plätzen. Dass aus linker Sicht offen-
sichtlich in einem Stiftungsrat für Vertreibung ausge-
rechnet die Betroffenen nicht angemessen, also mit we-
nigstens einem knappen Drittel, vertreten sein sollen, ist
schon bizarr. Es ist typischer Ausdruck ideologischen
Scheuklappendenkens. Die Linke verdreht mit ihrer Kri-
tik am DHM-Konzept bewusst Ursache und Wirkung;
denn eher die bisherige Unterrepräsentanz der Vertrie-
benen stand einer objektiven Geschichtsbetrachtung im
Weg, keinesfalls deren nun angestrebte Korrektur. Mit
ihrer Fundamentalkritik beweist die Linke einmal mehr,
dass ihr im politischen Tageskampf jede Faktenverbie-
gung recht ist, wenn sie davon zu profitieren glaubt. Das
aber lassen wir ihr nicht durchgehen.
Der Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen ist aus-
gewogen, die verschiedensten Gruppierungen und Be-
lange werden berücksichtigt, und alle Chancen sind ge-
geben, von der Vergangenheit ein im höchsten Maße
objektives Bild für die Nachwelt zu entwerfen. Und nur
dann können wir aus der Geschichte lernen, wenn bei
ihrer Darstellung Objektivität waltet. Historiker, so
heißt es, sind mächtiger als Götter. Sie können sogar die
Vergangenheit verändern. Mit diesem hintersinnig-iro-
nischen Urteil, das von Geschichtsprofessoren stammt,
wird auf das Problem der Ausdeutbarkeit vergangener
Ereignisse verwiesen. Dass dabei unter Umständen his-
torische Wahrhaftigkeit zu kurz kommt und „erkenntnis-
leitende Interessen“ des Betrachters eine verfälschende
Rolle bei der Darstellung geschichtlicher Zusammen-
hänge spielen können, erlebt man leider allzu oft. Und
angesichts des Eifers, mit dem sich momentan die extre-
mistische Linke anschickt, in der Debatte um die Novelle
des Gesetzes zur Errichtung einer Stiftung „Deutsches
Historisches Museum“ die Wortführerschaft an sich zu
reißen, liegt der Verdacht nahe, dass hier „erkenntnis-
leitende Links-Interessen“ im Spiel sind. Hier soll offen-
bar eine Deutungshoheit über eine wichtige Frage deut-
scher Geschichte angestrebt werden, die den Linken
Zu Protokoll
einfach nicht zukommt, deren historische „Wahrhaftig-
keit“ nachgewiesenermaßen selbst in eigener Sache
mehr als fragwürdig ist. Denn man braucht ja kaum da-
ran zu erinnern, dass die Linke oft genug Fakten belie-
big verändert, geschichtliche Dokumente manipuliert
hat, wann immer es ihr in den Kram passte. Wer kennt
nicht die berühmten historischen Fotografien von kom-
munistischen Parteitagen, auf denen unliebsam gewor-
dene Parteigenossen, die ursprünglich abgebildet wa-
ren, nachträglich fürs Geschichtsbuch wegretuschiert
wurden, weil sie plötzlich unerwünscht waren und aus
der Erinnerung getilgt werden sollten? Wahrheit ist für
Kommunisten stets veränderlich, situationsbezogen und
nur in einer Hinsicht „fest“: als beliebte Worthülse für
Propagandazwecke.
Nicht zuletzt deshalb hieß ja auch die Staatszeitung
der Sowjetunion Prawda, also „Wahrheit“, obwohl sie
selten Wahres enthielt, das Volk in politischen Dingen
systematisch belog und sogar den Wetterbericht
fälschte. Man kann so weit gehen und sagen: Je mehr die
Kommunisten von Wahrheit sprechen, desto sicherer
kann man sein, dass nun garantiert eine Lüge folgt. Wie
etwa bei Ulbrichts berüchtigtem „Versprechen“ vom
Juni 1961: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu
bauen.“ Und ausgerechnet die Nachfolger der so ge-
strickten DDR-Kommunisten wollen nun beurteilen, was
historische Wahrheit in der Vertriebenenproblematik
ist? Das erscheint fast als Witz, und man könnte darüber
lachen, wenn die Sache nicht so ernst wäre. Deshalb
stelle ich hier in aller Ernsthaftigkeit klar: Für mich und
für alle Demokraten ist die historische Wahrheit etwas
Absolutes und nicht verhandelbar. Auch auf dem Gebiet
der Geschichte fühlt sich die CDU/CSU-Fraktion dem
strikten Objektivitätsgebot liberal-pluralistischer Pro-
venienz verpflichtet. Mit Karl Popper sind wir der Mei-
nung, dass die Wahrheit nur bei einem fairen Wettbe-
werb der Meinungen darstellbar ist und keine einzelne
Partei sich anmaßen darf, zu glauben, die Wahrheit von
vornherein zu kennen, ja, sie für sich gepachtet zu ha-
ben.
Die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“stand in den letzten Monaten medial oftmals in der Kri-tik. Inhaltlich wurde vor allem die mangelnde Ausgewo-genheit bei der Zusammensetzung des wissenschaftli-chen Beirats kritisiert. Nachdem wir deshalb im Märzdrei bedauerliche Austritte aus dem wissenschaftlichenBeirat zu vermelden hatten, nehmen wir diese Kritikdankbar auf und beraten heute eine Novellierung desDHM-Gesetzes. Vorab möchte ich jedoch nicht versäu-men, Folgendes anzumerken: Etwas zu voreilig, aberdoch stets mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlich-keit, erfolgt in Momenten, in denen Stiftungen oder ähn-liche Einrichtungen, die aufgrund politischer Entschei-dungen eingesetzt wurden, ins Kreuzfeuer der Kritikgeraten, der Fingerzeig auf diejenigen, die es – auf gutDeutsch – verbockt haben: die Politiker. Im aktuellenFall ist die Entscheidung, wer in den wissenschaftlichenBeraterkreis berufen wird, aber nicht Sache des Kultur-staatsministers gewesen, sondern Sache des Stiftungsra-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3599
gegebene RedenDorothee Bär
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tes. Nun müssen wir jedoch sicherstellen, dass die Stif-tung ihre bedeutende Arbeit auf einem sicherenFundament fortführen kann, und daher bitte ich Sieheute um konstruktive Zusammenarbeit zur Novellie-rung des DHM-Gesetzes. Diese Novellierung ist rein or-ganisatorischer und nicht inhaltlicher Natur. Um dieQualität der Arbeit der Stiftung zu garantieren, wirdeine Erhöhung der Zahl der Mitglieder des Stiftungsra-tes und des wissenschaftlichen Beirates vorgeschlagen.Auch wenn wir als Deutsche beim Thema Vertreibungganz besondere Verantwortung tragen, ist es trotzdemkein rein deutsches Thema. Die Stiftung trägt das Wortim Titel: Versöhnung. Und so muss unser gemeinsamesZiel lauten. Um es zu erreichen, ist gerade die Einbin-dung der Betroffenen von ganz besonderer Bedeutung.Daher halte ich es für richtig, die Stiftung personellmöglichst breit aufzustellen und mit Experten zu beset-zen, die aus möglichst unterschiedlichen Ländern undKontexten kommen, sodass die gesamte Vielfalt des Be-trachtungsgegenstandes aufgegriffen und bearbeitetwerden kann. Darüber hinaus muss es uns ein Anliegensein, dass sich möglichst viele Gruppen und Länder ein-gebunden und zur Mitarbeit aufgerufen fühlen. Die Aus-gestaltung der weiteren Arbeit der Stiftung ist eine großeAufgabe. Unsere Aufgabe ist es heute, die Gestaltungder Formalien auf den Weg zu bringen, sodass diese Ar-beit mit neuer Motivation aufgenommen werden kann.Ein Mitglied des Stiftungsbeirates hat vor kurzem denWunsch nach einem Neustart der Stiftungsarbeit in ei-nem konstruktiven Klima geäußert. Diesem Wunschschließe ich mich gerne an und bitte Sie, liebe Kollegin-nen und Kollegen, dass auch wir in einem ergebnisori-entierten Geiste unseren Teil dazu beitragen.
Bei dem vorliegenden Entwurf zur Gesetzesänderungist vor allem das Vorspiel der Skandal. Erika Steinbachhat es geschafft, die Regierungskoalition zu erpressen.Sie ist nur bereit, auf einen Sitz im Stiftungsrat zu ver-zichten, wenn bestimmte Bedingungen ihres Verbandeserfüllt werden. Union und FDP haben mit ErikaSteinbach als Vorsitzender des Bundes der Vertriebenenverhandelt, als sei der BdV eine Bundestagsfraktion.Dabei geht es hier doch um eine öffentlich-rechtlicheStiftung und nicht um eine Institution des BdV.Hinzu kommt noch, dass der BdV bereits in den Gre-mien der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“gut vertreten ist. Die bisherige Präsenz von Wegbeglei-tern Erika Steinbachs über das Zentrum gegen Vertrei-bungen im wissenschaftlichen Beirat hat unter Wissen-schaftlern bereits zu erheblichen Irritationen geführt. Sohaben sich der polnische Historiker Tomasz Szarota unddie tschechische Historikerin Kristina Kaiserová bereitszurückgezogen. Der Zentralrat der Juden ist ebenfallshöchst alarmiert.Selbstverständlich müssen Vertriebenenvertreter inden Gremien der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöh-nung“ vertreten sein. Wir brauchen sie und ihre Erfah-rungen, ihre Fragen, ihre Anregungen. Der BdV abersollte dazu beitragen, dass das ihm entgegengebrachteMisstrauen abgebaut wird. Dies entstand aus verschie-Zu Protokolldenen Gründen. Ich nenne hier nur die unklaren Mitglie-derzahlen sowie die NS-Verstrickung von früheren BdV-Funktionären. In der Machbarkeitsstudie zur Aufarbei-tung dieses Kapitels wird offensichtlich der Versuch ei-ner Bagatellisierung der NS-Verstrickung von BdV-Funktionären unternommen. Pikant ist diese Geschichtezudem, da der Direktor der Stiftung „Flucht, Vertrei-bung, Versöhnung“, Herr Professor Kittel, beim IfZdiese Studie koordiniert hat. Die Geschichte des BdVmuss aufgeklärt werden; sonst verlieren nicht nur seineFunktionäre, sondern auch die Stiftung noch mehr anGlaubwürdigkeit. Wenn schon jetzt eine Dominanz desBdV zu Irritationen führt, wie soll dann mit dem neuenGesetzentwurf die Versöhnung – diesen Auftrag hat dieStiftung ja ebenfalls – mit Polen, Tschechen und anderenOpfern des Zweiten Weltkriegs funktionieren?Ich möchte kurz auf die einzelnen Änderungsvor-schläge der Gesetzesvorlage eingehen:Erstens. Mir ist schleierhaft, warum zukünftig sechsVertreter des BdV im Stiftungsrat sitzen sollen. Ich be-komme viel Post von Vertriebenen, die sich eben nichtvom BdV vertreten fühlen. Diese Menschen haben keineStimme in der Stiftung. Vertriebene müssen im Stiftungs-rat vertreten sein; aber angesichts vieler ungeklärterFragen beim BdV frage ich mich, warum nicht auch an-dere Vertriebenenverbände einbezogen werden. DasAdalbertus-Werk, das sich seit der Nachkriegszeit fürVersöhnung einsetzt, bzw. deren Dachverband, die Ar-beitsgemeinschaft der Katholischen Vertriebenenorgani-sationen, AKVO, wären an einer Mitarbeit interessiert.Es gibt genügend deutsche Vertriebenenorganisationen,die mit ihrem Engagement für die Versöhnung einen Sitzim Rat der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“verdient hätten. Man könnte, wenn man nun neu überden Stiftungsrat nachdenkt, auch überlegen, ob nichtauch alternative Projekte, die sich mit dem Thema be-fassen, eingebunden werden, zum Beispiel die Partner-städte Görlitz/Zgorzelec, die ein gemeinsames Projektzum Thema Vertreibungen vorgestellt hatten, oder aucheinen Vertreter des „Zentrums gegen Krieg“ des Willy-Brandt-Kreises.Ich habe in letzter Zeit viel mit Wissenschaftlern ge-sprochen, die mir wichtige Denkanstöße gegeben haben.Eine Idee möchte ich Ihnen mit auf den Weg geben. DieKirchen und der Zentralrat der Juden sind im Stiftungs-rat vertreten. Es gibt allerdings keinen muslimischenVertreter. Dabei könnte gerade dieser eine Brücke vonder Integration der Vertriebenen in die deutsche Gesell-schaft zu aktuellen integrationspolitischen Debattenbauen. Es wäre eine Chance, auch Schulklassen mitmultiethnischer Zusammensetzung stärker für die Aus-stellung zu interessieren und einen Bogen zur eigenenWirklichkeit zu spannen. Es ließen sich am Beispiel derIntegration der Ostdeutschen dann hervorragend Pro-bleme thematisieren und diskutieren, die der – jugendli-che – Besucher von Dauer- und Wechselausstellungender Stiftung in seiner eigenen Lebenswelt entdecken undaus denen er für seinen gegenwärtigen und zukünftigenAlltag lernen kann.
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3600 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
gegebene RedenDr. Angelica Schwall-Düren
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Zweitens. Eine Wahl der Mitglieder des Stiftungsratesdurch den Deutschen Bundestag statt einer Bestellungdurch die Bundesregierung kann ich als Abgeordnete ei-gentlich nur begrüßen. Aber hier lauert leider eine Ge-fahr: Durch die Abstimmung im Gesamtpaket wird manim Zweifel die eigenen Vertreter ablehnen müssen, wenneine andere vorgeschlagene Person nicht zustimmungs-fähig ist. Dies ist für die SPD-Fraktion nicht akzeptabel.Drittens. Die Erweiterung des wissenschaftlichenBeirats begrüße ich. Jetzt geht es darum, hochrangigeund kompetente Wissenschaftler für die Mitarbeit zu ge-winnen. Dabei müssen ausgewiesene Experten für dieVertreibungsgeschichte sowie Historiker mit demSchwerpunkt Zweiter Weltkrieg und Holocaust, außer-dem Museumspädagogen und neue ausländische Vertre-ter gefunden werden.Grundsätzlich muss die Koalition einsehen, dass mitdem sogenannten Kompromiss, der mit Frau Steinbacherzielt wurde, kein Vertrauen gewonnen wurde. Vielmehrstecken wir mitten in einer Krise. Dies habe ich auch beider letzten Stiftungsratssitzung deutlich zu machen ver-sucht. Nur ein Neuanfang der Stiftungsarbeit, bei derauch kritische Fragen gestellt werden, kann das Projektpositiv voranbringen. Das ist nicht nur meine Meinung,sondern die vieler Wissenschaftler, die das Projekt be-obachten. Deren Stimmen wurden bisher nicht gehört.Internationale Expertengremien arbeiten seit Jahren in-tensiv insbesondere im Bereich der deutsch-polnischenund der deutsch-tschechisch-slowakischen Historiker-kommissionen an der Thematik der Vertreibungen. Eswäre engstirnig und provinziell, auf diese Ressourcen zuverzichten.Es muss deutlich werden, dass es sich bei der Stiftung„Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ um eine öffentlich-rechtliche Einrichtung handelt, die unabhängig und aufder Basis aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse ar-beitet und nicht als verlängerter Arm der Präsidentindes BdV.Die Stiftung muss endlich in einen ernsthaften Dialogmit unseren europäischen Nachbarn eintreten. Wir brau-chen dringend mehr Transparenz. Wir brauchen einenoffenen Diskurs über die Ausrichtung der Stiftung undderen Ausstellung, und wir brauchen eine ernst ge-meinte Auseinandersetzung über die offenen und kriti-schen Fragen.Wir müssen uns fragen, wie das Verhältnis von Holo-caust und Vertreibungen im Umfeld des Zweiten Welt-krieges darzustellen ist. Wir müssen klären, wie Versöh-nung im Zusammenhang mit dem Thema Vertreibungensteht. Wir müssen aufhören, vom Jahrhundert der Ver-treibungen zu reden, sonst relativieren wir den Holo-caust! Dies darf aus Respekt gegenüber den Opfern desNationalsozialismus nicht geschehen; das sind wir au-ßerdem auch unserer historischen Verantwortung schul-dig.
In den letzten Monaten bestimmten leider hauptsäch-lich Personaldebatten die Diskussion über das GesetzZu Protokollzur Stiftung „Deutsches Historisches Museum“. Dadiese nun ausgeräumt sind, hat die christlich-liberaleKoalition mit dem nun vorgelegten Änderungsgesetz denwichtigen Schritt zur sachlichen Debatte über die Stif-tung „Flucht, Vertreibung und Versöhnung“ getan. Da-mit haben wir jetzt die Möglichkeit, die Inhalte und dieZiele der Stiftung in dieser Frage noch einmal deutlichzu machen. Deshalb gilt: Wir wissen um die deutscheSchuld. Wir wissen, dass das Deutsche Reich einenfürchterlichen Krieg begonnen hatte, in bis dahin unbe-kanntem Ausmaß Verbrechen stattfanden und das Deut-sche Reich furchtbares Leid über Europa gebracht hatte.Wir wissen aber auch um die Schrecken der Vertreibungaus der Heimat, um die schrecklichen Folgen, die eineFlucht mit sich bringt. Gerade deswegen ist es wichtig,ein Symbol, einen Anlaufpunkt als Mahnung und Zei-chen zu haben, als Aufzeig für die Jugend stellvertretendfür alle Vertreibungen in der Welt; denn nicht nur dieVertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkriegwird thematisiert, sondern auch die Schicksale von Ver-triebenen anderer Nationen sollen mit einbezogen wer-den. Die Stiftung ist eben nicht rein national ausgerich-tet, was die Opposition völlig zu Unrecht moniert hatte.Aber: Es darf in der gesamten Diskussion über Kriegund Kriegsfolgen nicht um Aufrechnung gehen. Das ver-bietet sich. Die Verbrechen der Deutschen werden nichtkleiner durch Verbrechen an Deutschen. Und: Die Ver-brechen der Deutschen rechtfertigen nicht die Verbre-chen an Deutschen. Wir dürfen Verbrechen nicht gegen-einander aufwiegen. Leid und Schuld sind immerindividuell, wobei der Holocaust und die Taten der Na-ziherrschaft einen herausragenden Stellenwert besitzenund auch weiterhin besitzen müssen. Aber auch die Ver-treibung ganzer Bevölkerungsschichten aus den ur-sprünglichen Heimatregionen war eine Schuld, die nichtvergessen oder verharmlost werden soll. Man muss auchdieser Taten gedenken, dafür sensibilisieren, und dafürdient diese Stiftung. Sie hat aus meiner Sicht die großeAufgabe, die Urteilsfähigkeit vor allem junger Men-schen aufrechtzuerhalten. Wir gedenken ja nicht nur, umzu erinnern, sondern auch, um urteilsfähig zu bleiben.Mit dem Änderungsgesetz wird nichts an dem Ziel derStiftung geändert. An dem Stiftungszweck, im Geiste derVersöhnung die Erinnerung und das Gedenken anFlucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert im histori-schen Kontext des Zweiten Weltkrieges und der national-sozialistischen Expansions- und Vernichtungspolitik undihrer Folgen wach zu halten, wird nicht gerüttelt. Eswerden lediglich einige verwaltungstechnische Ände-rungen eingeführt, die allerdings einen entscheidendenBeitrag zu einer sinnvollen Ausgestaltung der Stiftungund zur Optimierung der Funktions- und Arbeitsweiseleisten. Durch die Erhöhung der Mitgliederzahl des Stif-tungsrates von 13 auf 21 Mitglieder schaffen wir dieMöglichkeit, vor allem den wissenschaftlichen Berater-kreis zu verstärken. Bis zu 15 Mitglieder, statt bisher 9,aus diesem wichtigen Umfeld tragen in Zukunft wert-volle Arbeit und Beiträge in die Arbeit des Rates hinein.Diese Aufstockung trägt der enormen Komplexität undgeschichtspolitischen Bedeutung der Aufgabenstellungund des Meinungsspektrums Rechnung. Die Mitgliederdes Stiftungsrates sollen in Zukunft nicht mehr durch die
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3601
gegebene RedenPatrick Kurth
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Bundesregierung, sondern durch den Deutschen Bundes-tag gewählt werden. Auf diese Weise können übergeord-nete politische Belange berücksichtigt werden. Außer-dem ist die demokratische Legitimation und Akzeptanzder gewählten Mitglieder erheblich erhöht, wenn die ge-wählten Volksvertretern, über die Zusammensetzung imZuge einer transparenten Debatte entscheiden. Auch dieTatsache, dass die Stiftung unter dem Dach des Deut-schen Historischen Museums verbleibt, ist ein außeror-dentlich wichtiges Zeichen. Auf diese Weise bleibt auchin Zukunft die staatliche Verantwortung für das Projektgewährleistet. Außerdem wird so jeglichen Vorwürfen,einzelne Gruppen hätten einen dominierenden Einfluss,frühzeitig der Wind aus den Segeln genommen.Der vorliegende Gesetzentwurf kann sich sehen las-sen. Wir haben damit eine sehr gute Grundlage für eineerfolgreiche Arbeit der Stiftung „Flucht, Vertreibung,Versöhnung“ geschaffen. Dies gilt insbesondere für dasZiel der Versöhnung. Durch das breite und internatio-nale wissenschaftliche Fundament wird sichergestellt,dass im Ergebnis eine tiefgründige, neutrale und voll-ständige Aufarbeitung geleistet wird, die frei von Vorur-teilen und Einseitigkeit ist. Damit wird die Akzeptanz beiallen Beteiligten gestärkt. Es handelt sich um ein sehrsensibles historisches Thema. Dieser Sensibilität tragendie jetzt vorgelegten Rahmenbedingungen in angemes-sener Weise Rechnung. Es ist ein kluges und weitsichti-ges Konzept erarbeitet worden, das die Interessen allerBeteiligten angemessen berücksichtigt. Insbesonderedie Sorgen unserer polnischen Freunde, die Aufarbei-tung könnte allzu revisionistische Aspekte beinhalten,räumt das vorgelegte Konzept wirksam aus. Jetzt gilt es,dass die Stiftungsorgane so schnell wie möglich gebil-det werden und die Stiftung ihre Arbeit aufnimmt, damit65 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges dasKapitel „Flucht und Vertreibung“ eine angemesseneAufarbeitung und Erinnerungsarbeit erfährt.
Spät am Abend dieses langen Plenartages, mit zuProtokoll gegebenen Reden, haben wir über einen Ge-setzentwurf zu beschließen, der für die Stiftung „Flucht,Vertreibung, Versöhnung“, die in ihrer bisherigen Struk-tur gescheitert ist, einen Neuanfang ermöglicht.„Der Komplexität der Aufgabenstellung und des Mei-nungsspektrums“ soll noch besser Rechnung getragenwerden als bisher. Und wie soll dies geschehen? IndemStiftungsrat und wissenschaftlicher Beraterkreis vergrö-ßert und „das Berufungsverfahren für den Stiftungsratmodifiziert werden“ soll.Modifiziert – was heißt das? Sie erinnern sich: Bishergab es ein zweistufiges Berufungsverfahren für die Mit-glieder des Stiftungsrates. Die beteiligten Institutionen– Bundestag, Glaubensgemeinschaften, der BdV usw. –schlugen ihre Mitglieder nur vor. Die Regierung– sprich: das Bundeskabinett – ernannten. Es wurdealso über jedes einzelne Mitglied des Stiftungsrates ab-gestimmt. Nur, wer einstimmig von der Regierung beru-fen wurde, konnte im Gremium seine Arbeit aufnehmen.Zu ProtokollAn dieser Bestimmung ist die Personalie ErikaSteinbach gescheitert. Damit so etwas in Zukunft nichtwieder passiert, bestimmt das neue Gesetz, dass nun-mehr der Bundestag die Stiftungsratsmitglieder wählt.Das soll folgendermaßen vor sich gehen:Der Wahl liegt ein Gesamtvorschlag zugrunde, dernur als Ganzes angenommen oder abgelehnt wer-den kann.Nur als Ganzes angenommen oder abgelehnt – diese„Paketlösung“ ist ein übler Mehrheitstrick der Koali-tion. Diese „Paketlösung“ verhöhnt das Parlament,seine Mitbestimmung und seine Kontrollaufgabe bei ei-ner Bundesstiftung.Die Linksfraktion war von Anfang an gegen die Er-richtung dieser Stiftung, und zwar aus drei Gründen:Erstens war sie wegen ihrer Konzeption dagegen. Wirhaben immer gefragt, wer sich – nach der Definition derStiftung – mit wem versöhnen soll. Nun haben wir vomGründungsdirektor der Stiftung erfahren, dass es vor al-lem um eine „Versöhnung der Deutschen miteinander“gehen soll. Das ist nicht hinnehmbar für eine Institutionder Erinnerung an einen Weltkrieg und seine Folgen.Zweitens. Wir haben nie verstanden, dass der Sitz derStiftung ausgerechnet Berlin sein soll, der Ort, von demall die mörderischen Verbrechen ausgegangen sind, dieschließlich auch zu dem Elend von Flucht und Vertrei-bung geführt haben.Drittens. Wir haben nie verstanden, wieso in einerBundesstiftung – einer Stiftung des Bundes wohlge-merkt, nicht einer Verbandsstiftung – dem Bund der Ver-triebenen als weitaus größte Gruppe eine derart domi-nierende Rolle eingeräumt wird. Das haben wir schonnicht verstanden, als im alten Stiftungsrat 3 von 13 Sit-zen dem BdV zugesprochen wurden. Nun bekommt er6 von 21 Sitzen; das heißt, an der Gewichtung hat sichdurch das neue Gesetz überhaupt nichts verändert.Fazit: Das neue Gesetz trägt der Komplexität derAufgabenstellung dieser Stiftung in keiner Weise „besserRechnung“. Im Gegenteil, es vermehrt nur die Zahl derÄmter und Sitze in der Stiftung und degradiert das Par-lament zu einem Zustimmungsapparat für eine völlig un-demokratische „Paketlösung“. Schlimmer hätte es ei-gentlich nicht kommen können – unverfrorener nach allder öffentlichen Diskussion im In- und Ausland auchnicht.Wie gesagt: Wir haben bisher der Errichtung der Stif-tung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ nicht zuge-stimmt und für die neue gesetzliche Regelung gilt dieserst recht.Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN)Der Gesetzentwurf zur Vertriebenenstiftung ist fak-tisch eine Bankrotterklärung der Regierungskoalition.Monatelang ließ die Kanzlerin den Konflikt mit demBund der Vertriebenen und Frau Steinbach treiben, ohnesich zu den erpresserischen und undemokratischen An-sprüchen von Frau Steinbach auch nur zu äußern, ge-
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3602 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3603
Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
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schweige denn hier politisch zu entscheiden. Statt Ver-antwortung zu übernehmen, duckte die Kanzlerin sichweg und riskierte damit eine Verschlechterung der Be-ziehungen zu unseren östlichen Nachbarländern. Dernun vorliegende Gesetzentwurf, der den Konflikt vor-geblich lösen will, ist tatsächlich ein Ausdruck derSchwäche und Handlungsunfähigkeit der RegierungMerkel.Der Konflikt drehte sich im Kern um Frau SteinbachsAnspruch, Mitglieder des Stiftungsrats in der mit Steuer-mitteln finanzierten Stiftung „Flucht, Vertreibung, Ver-söhnung“ benennen zu können, ohne weitere demokrati-sche Legitimation durch die politisch Verantwortlichen.Natürlich dachte Frau Steinbach bei der Benennung vonStiftungsratsmitgliedern an erster Stelle an sich selbst,was die Beziehungen zu unseren östlichen Nachbarlän-dern unerträglich belastet hätte.Um dem Konflikt aus dem Weg zu gehen, beschlossdie Regierungskoalition einen faulen Kompromiss, deruns in Form des Gesetzentwurfs nun vorliegt. DamitFrau Steinbach von ihrem Anspruch ablässt, musste dieZahl der Stiftungsratsmitglieder aus den Reihen desBundes der Vertriebenen verdoppelt werden. Um dasEinknicken vor den Ansprüchen von Frau Steinbach zukaschieren, musste die Regierung dann eine noch wei-tergehende Vergrößerung des Stiftungsrats vornehmen,von 13 auf die jetzt vorgeschlagenen 21 Mitglieder. DieErfahrung zeigt, dass mit einer solchen Erweiterung dieHandlungsfähigkeit eines solchen Gremiums sich nichtverbessert, sondern die Abläufe dadurch komplizierterwerden.Die Unfähigkeit der Bundesregierung, die Problememit dem Stiftungsrat zu lösen, brachte sie zu einer Fluchtaus der Verantwortung. Wie Sauerbier ging sie mit derVerantwortung für die Stiftungsratsbenennung hausie-ren. Auch das BKM und Kulturstaatsminister Neumannwaren zeitweise in der Diskussion. Nun soll der Bundes-tag entscheiden. Was auf den ersten Blick wie eine De-mokratisierung des Verfahrens aussieht, erweist sichbeim Blick in die Details als eine ziemlich fragwürdigeOperation. Ja, der Bundestag soll entscheiden – weil dieBundesregierung sich damit ein Problem vom Halsschaffen will. Und in einem Entscheidungsverfahren,das dem zweifelhaften Motto „Friss, Vogel, oder stirb“folgt. Der Bundestag soll nur über einen Gesamtvor-schlag für eine Liste der Stiftungsratsmitglieder abstim-men können. Wenn zum Beispiel vom Bund der Ver-triebenen wiederum ein inakzeptabler Kandidatvorgeschlagen wird, dann kann der Bundestag nur dieGesamtliste ablehnen. Ich kenne dieses Verfahren nochsehr gut aus dem Europaparlament, aus Zeiten einersehr mangelhaften demokratischen Legitimation. Da-mals wurden so unliebsame Kandidaten auf kaltem Wegedurchgedrückt. Und genau das versucht man nun auchin diesem Gesetzentwurf.Was das Projekt der Stiftung „Flucht, Vertreibung,Versöhnung“ jetzt braucht, ist kein in Gesetzesform ge-gossener fauler Kompromiss. Stattdessen ist die inhaltli-che Ausrichtung der Stiftung neu zu überdenken. Dabeiist insbesondere die Frage zu stellen, ob und wie die Stif-tung nach dem von Frau Steinbach provozierten Konfliktihrem Zweck der Versöhnung mit den Nachbarländernüberhaupt noch gerecht werden kann.Sehr besorgt macht mich auch, dass sich inzwischendie ausländischen Vertreter im wissenschaftlichen Bei-rat der Stiftung zurückgezogen haben. Ohne eine ange-messene Beteiligung von renommierten Wissenschaft-lern und Fachleuten aus den Nachbarländern kann dieStiftung nicht im Sinne der Zielsetzung funktionieren.Die Stiftung braucht – wie gesagt – keinen faulenKompromiss, sondern ein ernsthaftes Nachdenken imBundestag und seinen Ausschüssen über einen grundle-genden Neustart des Projekts. – Vielen Dank!
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/1400 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie
damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses zu
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Initiative für eine Richtlinie des Europäischen
Parlaments und des Rates über die europäi-
sche Schutzanordnung
Ratsdok. 17513/09
– Drucksachen 17/720 Nr. A.7, 17/1461 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jan-Marco Luczak
Dr. Eva Högl
Marco Buschmann
Raju Sharma
Ingrid Hönlinger
Auch hier wurde schon in der Tagesordnung ausge-
wiesen, dass die Reden folgender Kolleginnen und Kol-
legen zu Protokoll genommen werden: Dr. Jan-Marco
Luczak, Dr. Eva Högl, Marco Buschmann, Raju Sharma
und Jerzy Montag.
Die von zwölf Mitgliedstaaten ergriffene Initiative für
die Europäische Schutzanordnung dient im Kern der
Umsetzung eines Teilbereiches des Stockholmer Pro-
gramms. Ziel der Initiative ist, den grenzüberschreiten-
den Schutz der Opfer von Straftaten gegen Wiederho-
lungstaten desselben Täters gegen dasselbe Opfer
innerhalb des europäischen Raums der Freiheit, der Si-
cherheit und des Rechts zu verbessern.
Dieses Ziel teilen wir uneingeschränkt. In einem ge-
meinsamen Rechtsraum ohne Binnengrenzen muss die
Freizügigkeit der Bürger gewährleistet sein. Es gilt hier
der alte Satz: Ohne Sicherheit keine Freiheit. Diese
muss in Europa auch über Grenzen hinweg gewährleis-
tet sein.
Dr. Jan-Marco Luczak
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Die Richtlinie sieht daher vor, dass Verbote oder Ver-
pflichtungen, die nach dem Recht eines Mitgliedstaates
zum Schutz einer gefährdeten Person gegen eine gefähr-
dende Person erlassen wurden, in anderen Mitgliedstaa-
ten nach dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung
ebenfalls Wirkung entfalten, wenn die gefährdete Person
sich dorthin begeben will.
So sehr wir dieses Ziel auch begrüßen, muss man bei
den Detailfragen doch genau hinsehen. Wir haben das
getan und nutzen daher nun die dem Bundestag gege-
bene Möglichkeit, über eine Stellungnahme nach Art. 23
Abs. 3 GG unsere Bedenken deutlich zu machen und
über unsere Aufforderungen an die Bundesregierung auf
die Diskussion auf europäischer Ebene entsprechend
Einfluss zu nehmen. Ich freue mich insofern, als nach
Aussage des Staatssekretärs Stadler im Rechtsausschuss
diese Woche unsere – durchaus von anderen Mitglied-
staaten geteilten – Bedenken zwischenzeitlich auch bei
der Kommission angekommen zu sein scheinen.
Lassen Sie mich einige Bedenken näher erläutern.
Zweifel bestehen nach unserer Auffassung zunächst da-
ran, ob die gewählte Rechtsgrundlage des Art. 82 AEUV
einen ausreichenden Kompetenztitel vermittelt. Die
Union darf nach dem Prinzip der begrenzten Einzeler-
mächtigung bekanntlich nur dann Maßnahmen ergrei-
fen, wenn das europäische Recht eine entsprechende Zu-
ständigkeit enthält. In Art. 82 AEUV geht es um die
justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. In vielen
Mitgliedstaaten werden Maßnahmen gegen Gewalttäter
zum Schutze der Opfer aber nicht in strafrechtlichen
Verfahren verhängt, sondern gründen auf verwaltungs-
rechtlichen Titeln, oder es wird – wie in Deutschland
nach dem Gewaltschutzgesetz – zivilrechtlicher Schutz
gewährt. Wenn nun aber verwaltungs- oder zivilrechtli-
che Maßnahmen in Rede stehen, können diese nicht
ohne Weiteres auf Grundlage eines Kompetenztitels im
Bereich der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen
einem Mechanismus der gegenseitigen Anerkennung zu-
geführt werden.
Auch der Bundesrat teilt diese Bedenken hinsichtlich
der Rechtsgrundlage und hat daher gegen den Richtli-
nienentwurf Subsidiaritätsrüge erhoben. Diese umfasst
neben der eigentlichen Subsidiaritätsfrage als solcher
auch die – gleichsam logisch vorgeschaltete – Frage
nach der Zuständigkeit der Union. Es ist Aufgabe der
Bundesregierung – nicht zuletzt nach den deutlichen
Worten des Bundesverfassungsgerichts im letzten Jahr
zum Lissabonner Vertrag –, sicherzustellen, dass die
Union die ihr übertragenen Kompetenzen nicht über-
dehnt, sondern insbesondere im grundrechtssensiblen
strafrechtlichen Bereich strikt einhält.
Auch gibt es bereits eine Reihe von anderen Rechts-
akten der Europäischen Union, deren Anwendungsbe-
reich sich zumindest teilweise mit dem der vorgeschla-
genen Richtlinie für die Europäische Schutzanordnung
überschneidet. Auch hier sind Mechanismen der gegen-
seitigen Anerkennung vorgesehen. Wieso sollten wir dies
also gleichsam doppelt regeln?
Wir fragen uns aber vor allem: Wird das von uns ge-
teilte Ziel, ein besserer grenzüberschreitender Schutz
Zu Protokoll
von Gewaltopfern, mit der vorgesehenen Richtlinie
wirklich befördert und verbessert? Erreicht man mit der
Europäischen Schutzanordnung wirklich einen schnelle-
ren und effektiveren Schutz? Sieht man sich die Details
der vorgeschlagenen Regelung an, kommen hier Zweifel
auf. Es lässt sich zusammenfassen, dass der Richtli-
nienentwurf ein sehr komplexes, mehrstufiges Verfahren
vorsieht: Es gibt ein schwieriges Zusammenspiel der je-
weils zuständigen Behörden von Anordnungs- und Voll-
streckungsstaat, damit die zugunsten einer gefährdeten
Person getroffene Schutzmaßnahme und die auf dieser
Grundlage erlassene Europäische Schutzanordnung in
einem anderen Mitgliedstaat geprüft, anerkannt und
dann eine eigene Schutzmaßnahme nach dessen natio-
nalem Recht erlassen werden kann. Hinzu kommen die
existenten Sprachbarrieren und die daher notwendigen
Übersetzungsleistungen.
Insgesamt handelt es sich um einen Vorschlag, der
sehr starr, wenig flexibel und daher ineffektiv ist. Zumin-
dest in Deutschland ist Schutz auch für Menschen aus
anderen Staaten der Europäischen Union schneller und
effektiver unmittelbar über das deutsche Gewaltschutz-
gesetz zu erreichen – oftmals binnen weniger Stunden –,
ohne dass es einer Anerkennung von Maßnahmen ande-
rer Mitgliedstaaten bedarf. An der Erforderlichkeit bzw.
Verhältnismäßigkeit der Ausgestaltung der Regelungen
zur Europäischen Schutzanordnung bestehen also ernst
zu nehmende Zweifel.
Wir sind der Auffassung, dass vor allem der Aspekt
der zügigen Übermittlung und Anerkennung derjenigen
Informationen im Vordergrund stehen sollte, die etwa
ein nationales Gericht für den Erlass einer Schutzmaß-
nahme nach nationalem Recht benötigt. Das Opfer einer
Straftat soll im Vollstreckungsstaat nicht ein neuerliches
Verfahren anstrengen und durchlaufen, insbesondere
keine neuen Beweise erheben müssen. Hier kann es ei-
nen echten Effektivitätsgewinn geben.
Die aufgezeigten Bedenken greift unsere Stellung-
nahme auf und weist zugleich auf die Möglichkeiten hin,
wie man durch die zügige Übermittlung der für eine
Schutzmaßnahme notwendigen Fakten und deren gegen-
seitige Anerkennung einen besseren grenzüberschreiten-
den Opferschutz erreichen kann. Hierfür bitte ich um
Ihre Zustimmung.
Die Initiative für eine Europäische Schutzanordnungist ausdrücklich zu begrüßen und steht in mehrerlei Hin-sicht für eine fortschrittliche Entwicklung.Zuerst einmal in der Sache selbst. Menschen, die zuOpfern geworden sind, finden erweiterten Schutz, undsolche, die befürchten müssen, zum Opfer zu werden, be-kommen ein deutlich höheres Maß an Sicherheit gebo-ten, als dies bisher der Fall ist. Das ist vor allem fürFrauen, die gewalttätige Übergriffe fürchten müssenund diese oft in der Vergangenheit schon erleiden muss-ten, eine deutliche Verbesserung. Ich will aber auchdiejenigen Fälle nicht unerwähnt lassen, in denen Er-mittlungsbehörden darauf angewiesen sind, Sicherheits-garantien abzugeben, um die Aufklärung von Ver-
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3604 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
gegebene RedenDr. Eva Högl
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brechen durch Zeugenaussagen überhaupt erst zuermöglichen. Auch diese Fälle sind wichtig.Der Schutz, den staatliche Organe bisher ermögli-chen konnten, endete allzu oft an nationalstaatlichenGrenzen. Was dabei oft übersehen wird: Auch die Souve-ränität der einzelnen Bürgerin, des einzelnen Bürgers,die bzw. der auf Schutz angewiesen ist, endet ebenfallsdort. Erst die Möglichkeit, die Grundfreiheit der Frei-zügigkeit tatsächlich verwirklichen zu können, bedeuteteine echte Gleichstellung derjenigen Frauen und Män-ner, die schon vorher dadurch benachteiligt waren, dasssie erst um Schutz staatlicher Organe nachsuchen muss-ten, um Leib und Leben nicht länger unkalkulierbarenGefahren aussetzen zu müssen. Die Grundrechte inForm der allgemeinen Handlungsfreiheit und der Frei-zügigkeit sind elementare Bürgerrechte, deren verlässli-che Ausübung unter staatlicher Garantie steht. Freizü-gigkeit nicht nur national, sondern, wenn schon nichtweltweit, so doch EU-weit gewährleisten zu können, be-deutet somit einen spürbaren Abbau faktischer Diskri-minierung bzw. Benachteiligung.Die in dem Richtlinienentwurf vorgesehene Möglich-keit für den Anordnungsstaat, eine Europäische Schutz-anordnung erlassen zu können, die vom Vollstreckungs-staat anzuerkennen und umzusetzen ist, bedeutet dabeinicht nur einen praktikablen Weg der Umsetzung. Ge-genüber der bilateralen Anerkennung von Rechtstitelnbedeutet sie auch einen Abbau von bürokratischenHemmnissen. Der Fortschritt, der mir als Europapoliti-kerin besonders am Herzen liegt, ist der Fortschritt dereuropäischen Zusammenarbeit. Wir haben uns im Fallder Europäischen Schutzanordnung europaweit das ge-meinsame Ziel gesetzt, Gewalt noch effektiver zu ächtenund zu bekämpfen.Insbesondere das Prinzip der gegenseitigen Anerken-nung zeigt, dass Entscheidungen, die vor dem Hinter-grund nationaler Rechtsordnungen und Traditionen er-gehen, von anderen Staaten respektiert und umgesetztwerden. Die Erweiterung des gewohnten Rechtsrahmenswird durch die Europäische Union erst ermöglicht. Nurauf nationalstaatlichem Wege könnte das Ziel, in eineminternationalen Raum effektiven Schutz für Leib und Le-ben zu gewährleisten, überhaupt nicht verwirklicht wer-den. Auch wenn niemandem zu gönnen ist, von der Euro-päischen Schutzanordnung profitieren zu müssen, zeigtsich hier doch der Mehrwert an Lebensqualität, denEuropa seiner Bevölkerung bietet.Wir sind uns im Deutschen Bundestag darüber einig,dass die von den Mitgliedstaaten erwählte Rechtsgrund-lage Fragen aufwirft. Diese Haltung wird im Übrigenvon der Europäischen Kommission geteilt. Hier wird so-gar eine Klage erwogen, um die formale Rechtmäßigkeitder Richtlinie notfalls zu erzwingen. Es ist deshalb gut,dass der Bundestag diesen Punkt in seiner Stellung-nahme deutlich formuliert hat. Der Weg, gemeinsameine Stellungnahme nach Art. 23 GG abzugeben und derBundesregierung damit für die Beratungen und Ver-handlungen im Rat unsere Bedenken und Anregungenmit auf den Weg zu geben, ist daher genau richtig. SoZu Protokollkönnen wir uns als Parlament aktiv in die europäischenVerhandlungen einbringen.Ich hätte mir gewünscht, dass wir das gemeinsamfraktionsübergreifend hinbekommen hätten. Das hat dieunkoordinierte Abstimmung der Koalition im Rechtsaus-schuss verhindert. Ich hoffe sehr, dass das in Zukunft an-ders wird. In europäischen Fragen, und darüber warenwir uns im Rechtsausschuss erfreulicherweise überFraktionsgrenzen hinweg einig, werden wir als Deut-scher Bundestag umso mehr Gehör finden, je einiger wirauftreten. Daher sollte eine gemeinsame Stellungnahmebei inhaltlich unstrittigen Themen zukünftig nicht an Ab-stimmungsschwierigkeiten scheitern. Wir sollten ge-meinsam die neuen Instrumente nutzen, die den nationa-len Parlamenten mit dem Vertrag von Lissabon an dieHand gegeben wurden, und uns nicht gegenseitig Steinein den Weg legen. Die SPD-Bundestagsfraktion ist des-halb in der gestrigen Sitzung des Rechtsausschusses alsgrößte Oppositionsfraktion ihrer Verantwortung für dieeuropäische Einigung nachgekommen und hat dem An-trag der Koalition zugestimmt. Ich hoffe sehr, dass wirzukünftig dazu kommen, uns mehr um die Sache als umVerfahrensabläufe zu kümmern. Damit wir, Regierungebenso wie Opposition, unserer Verantwortung für dieBedürfnisse der Bürgerinnen und Bürger Europas ge-recht werden, wie sie sich beispielhaft in der Europäi-schen Schutzanordnung manifestieren.
Der Rechtsausschuss empfiehlt Ihnen, zu der Initia-tive für eine Richtlinie des Europäischen Parlamentsund des Rates über die Europäische Schutzanordnungeine Stellungnahme nach Art. 23 Abs. 3 des Grundgeset-zes abzugeben. Als Koalitionsfraktionen haben wir die-ses Vorgehen im Rechtsausschuss vorgeschlagen, weilwir es für wichtig halten, dass sich der Deutsche Bun-destag an der Rechtsetzung in der Europäischen Unionbeteiligt. Denn was dort beschlossen wird, findet nichtauf einem fernen Planeten „Brüssel“ statt, der mit unse-rem Leben hier in Deutschland nichts zu tun hat. Wir alsParlament sind vielmehr im Regelfall verpflichtet, diedort beschlossenen Vorgaben umzusetzen. Damit wirnicht zum bloßen Ausführungsorgan der Rechtsetzungs-organe der Europäischen Union werden, müssen wir unsals deutsche Parlamentarier frühzeitig in die Debattenin Brüssel einbringen.Wir als FDP-Bundestagsfraktion begrüßen es dahersehr, dass der Deutsche Bundestag von dem Instrumenteiner Stellungnahme nach Art. 23 Abs. 3 GG in derneuen Legislaturperiode verstärkt Gebrauch macht. Da-bei geht es uns nicht darum, die Bundesregierung durchstrikteste Vorgaben auf europäischer Ebene manövrier-unfähig zu machen. Aber wenn der Deutsche Bundestagdie Punkte zusammenträgt, die ihm bei den Verhandlun-gen besonders wichtig erscheinen, kann dies das Ge-wicht der deutschen Position in Europa nur verstärken.Die Initiative zur Einführung einer EuropäischenSchutzanordnung ist dabei ein Fall, in dem wir unserGewicht in die Waagschale werfen sollten.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3605
gegebene RedenMarco Buschmann
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Das Ziel der Initiative eint uns sicher alle hier imParlament. Denn das Ziel der Initiative ist es, dafür zusorgen, dass der Schutz von Opfern potenzieller Gewaltnicht an den Landesgrenzen aufhört. Das ist ein Thema,dessen wir uns annehmen müssen. Denn der Schutz derRechtsgüter des Einzelnen ist ein wesentlicher, wennnicht der wesentliche Auftrag des Staates. Dieser Schutzvor potenzieller Gewalt muss – unter Wahrung derGrundrechte – effizient und schnell sein. Ist er nämlichnicht schnell und effizient, dann kann potenzielle Gewaltin reale Gewalt umschlagen.Genau aber bei dieser Effizienz und Schnelligkeit fan-gen bereits unsere Zweifel an der derzeitigen Ausgestal-tung der vorgeschlagenen Europäischen Schutzanord-nung an. Diese verlangt nämlich zunächst, dass eineSchutzmaßnahme eines Mitgliedstaates der EU vorliegt.Auf dieser Grundlage kann der Mitgliedstaat eine Euro-päische Schutzanordnung erlassen. Diese wird dann anden neuen Aufenthaltsstaat der gefährdeten Person ge-schickt. Dort muss sie anerkannt und umgesetzt werden,indem der neue Aufenthaltsstaat eine Schutzanordnungnach seinem Recht erlässt.Das sind ganz schön viele Zwischenschritte – dabeimuss es doch aber schnell gehen! Zudem sind dieseSchritte unserer Ansicht nach nicht einmal erforderlich,denn bei anderen Rechtsakten brauchen wir für die ge-genseitige Anerkennung doch auch keine europäischeAnordnung; die Entscheidungen der Mitgliedstaatenwerden direkt weitergeleitet und anerkannt. Deswegenbitten wir die Bundesregierung in unserer Stellung-nahme, auf europäischer Ebene anzuregen, dass zumOpferschutz ein Mitgliedstaat dem anderen die Informa-tionen über den zugrunde liegenden Lebenssachverhaltübermittelt, die er hat und die dem anderen Mitglied-staat die Grundlage geben können, nach seinem Rechtfür den erforderlichen Schutz zu sorgen.Das scheint unserer Meinung nach auch deshalb an-gebracht zu sein, da die Mitgliedstaaten hier ganz unter-schiedliche Systeme für den Schutz von Opfern poten-zieller Gewalt vorhalten. Wir haben uns im deutschenRecht mit dem Gewaltschutzgesetz für ein zivilrechtli-ches Vorgehen entschieden. Andere Mitgliedstaaten ge-hen hier mit den Mitteln des Strafrechts oder des Verwal-tungsrechts vor. Die Weiterleitung des Lebenssach-verhaltes macht es unabhängig vom dogmatischen Cha-rakter der jeweils im Mitgliedstaat einschlägigen Vorge-hensweise schnell und effizient möglich, den begehrtenSchutz zu gewähren.Schließlich haben wir weitere Bedenken. Diese mö-gen sich zunächst sehr technisch anhören. Denn es gehtum die Frage, ob die Europäische Union überhaupt dieKompetenz besitzt, die Initiative in der Weise auf denWeg zu bringen, wie es angedacht ist. Die EuropäischeSchutzanordnung, wie derzeit vorgeschlagen, soll näm-lich einheitlich der strafrechtlichen Zusammenarbeit zu-geordnet werden.Damit überdehnen wir den Begriff des Strafrechts,wie ihn die Kompetenzordnung der Europäischen Unionvorsieht. Denn Strafrecht betrifft die Verfolgung bereitsZu Protokollbegangener Straftaten. Der Schutz von Opfern poten-zieller Gewalt betrifft allenfalls künftige Straftaten undist mithin eine Frage der Gefahrenabwehr. Diese veror-ten wir jedenfalls nach deutschem Verständnis nicht imBereich des Strafrechts, sondern im Bereich des Gefah-renabwehrrechts.Eine solche durch die Initiative unterstellte Erweite-rung des kompetenzrechtlichen Strafrechtsbegriffs umden Bereich der Gefahrenabwehr verunklart die Zustän-digkeitsverteilung zwischen Europäischer Union undMitgliedstaaten.Wollten wir aber nicht mit dem Vertrag von Lissabonmehr Transparenz schaffen, insbesondere mehr Trans-parenz, wer für was zuständig sein soll, ob die EU oderdie Mitgliedstaaten? Hat uns nicht das Bundesverfas-sungsgericht aufgegeben, dass die neue Zuständigkeits-verteilung zwischen der EU und den Mitgliedstaaten imVertrag von Lissabon strikt eingehalten werden muss?Hat das Gericht nicht sogar ausdrücklich ausgespro-chen, dass hier gerade im Strafrecht besondere Auf-merksamkeit gefordert ist? Der Vertrag ist gerade ein-mal ein paar Monate in Kraft, und schon wird versucht,Maßnahmen unter den Begriff des Strafrechts zu packen,die dort so nicht hingehören.Natürlich hätten wir diese Bedenken auch im Wegeder Subsidiaritätsrüge geltend machen können, ein-schließlich der Kompetenzverstöße; denn als FDP-Bun-destagsfraktion vertreten wir die Auffassung, dass auchKompetenzverstöße im Wege der Subsidiaritätsrüge gel-tend gemacht werden können. Da wir aber, wie geschil-dert, nicht nur kompetenzrechtliche, sondern vor alleminhaltliche Bedenken gegen den Vorschlag haben, habenwir uns für den Weg der Stellungnahme nach Art. 23Abs. 3 des Grundgesetzes entschieden. Lassen Sie unsunserer Position in Europa Nachdruck verleihen – füreinen kompetenzrechtlich sauberen Weg, der schnellerzu unserem gemeinsamen Ziel führt, nämlich einemschnellen und effizienten Schutz für Opfer potenziellerGewalt!
NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers hat vor eini-gen Tagen in einem „FAZ“-Interview Oskar Lafontaineals „Ideologen“ bezeichnet, und wir können davon aus-gehen, dass diese Charakterisierung nicht freundlich ge-meint war. Ich bin weit davon entfernt, den Begriff „Ide-ologie“ als Schimpfwort zu gebrauchen; allerdingshalte ich ideologische Verbohrtheit im politischen Ent-scheidungsprozess für wenig erstrebenswert.Während mir Oskar Lafontaine bei dieser Einschät-zung sicher zustimmen würde, teilt die CDU diese Auf-fassung offenbar nicht. Anders kann ich mir jedenfallsnicht erklären, warum die Union im Fall der Stellung-nahme zum EU-Richtlinienentwurf über die Europäi-sche Schutzanordnung die Chance auf interfraktionelleEinigkeit hat verstreichen lassen, obwohl diese leicht zuerzielen gewesen wäre. Denn die Linke war trotz einigerBedenken in Detailfragen bereit, sich der Entschließungder Koalitionsfraktionen insgesamt anzuschließen.
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3606 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
gegebene RedenRaju Sharma
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Das Ziel der Richtlinie – grenzüberschreitender, eu-ropaweiter Opferschutz – stellen wir nicht infrage, wohlaber dessen Umsetzung. Erreicht werden soll der Schutzdurch eine sogenannte Europäische Schutzanordnung.Das soll folgendermaßen funktionieren: Eine Person istzum Beispiel in Deutschland Opfer von Stalking gewor-den und hat eine Verfügung erwirkt, nach der sich derStalker auf 300 Meter nicht nähern darf. Will das Opfernach Frankreich umziehen, kann es in Deutschland eineEuropäische Schutzanordnung beantragen. Diese sollnun in Frankreich dafür sorgen, dass dort vergleichbareSchutzmaßnahmen ergriffen werden, ohne dass Sachver-halt oder Rechtsfolgen erneut geprüft werden müssen.Die Regierungsfraktionen haben hierzu Bedenkenformuliert, die wir in mehreren Hinsichten teilen: Wiedie Koalition bezweifeln auch wir die Anwendbarkeitder Rechtsgrundlage der Richtlinie, und wie die Koali-tion stellen auch wir die Verhältnismäßigkeit der Richt-linie infrage, da das Verfahren kompliziert ist undRechtsschutz auf direktem Wege im jeweiligen Landmöglicherweise schneller zu erreichen wäre.Unsere Kritik geht aber noch weiter: Die Richtliniegeht davon aus, dass in allen Ländern ausreichendeSchutzmaßnahmen bestehen. Das halte ich für fraglich.Bevor über eine Anerkennung von Entscheidungennachgedacht werden kann, sollten zunächst einheitli-che Mindeststandards eingeführt werden. Genausomüsste sichergestellt sein, dass bei einem solchen Ver-fahren rechtsstaatliche Grundsätze eingehalten wer-den, insbesondere deshalb, weil dieser Bereich in vie-len Mitgliedstaaten als Strafverfahren konzipiert ist.Bei der Zusammenarbeit in Strafsachen sind laut Bun-desverfassungsgericht aber besonders strenge Maß-stäbe für die gegenseitige Anerkennung von Entschei-dungen anzulegen.In ihrer Entschließung gehen CDU/CSU und FDPüber diesen Punkt hinweg. Sie lehnen zwar die Schutz-anordnung selbst ab, wollen jedoch die ihr zugrunde lie-genden Fakten anerkennen. Gerade die Sachverhaltsbe-stimmung ist aber keine verfahrensrechtliche Kleinig-keit, sondern wesentlicher Kern dessen, was Grundlageder Anordnung sein soll. Eine ungeprüfte Anerkennungwäre deshalb ebenfalls problematisch.Trotz der Bedenken in diesem Punkt war die Linkezugunsten einer interfraktionellen, gemeinsamen Stel-lungnahme des Bundestages bereit, die Entschließungzu unterstützen, zumal ich die Diskussionen im Rechts-ausschuss als erfreulich produktiv und auf die Sachekonzentriert erlebt habe und auch Positionen der Oppo-sition in die Stellungnahme eingeflossen sind und zumalden Regierungsfraktionen nach eigenem Bekunden aneinem geschlossenen Meinungsbild der Parlamentariersehr gelegen war. Was wäre also näherliegend gewesenals ein gemeinsamer Antrag? Nichts, sollte man meinen –wäre da nicht die Sache mit der ideologischen Verbohrt-heit: Gemeinsame Initiativen mit der Linken schließendie Christdemokraten ausdrücklich aus.
Einige Mitgliedstaaten der Europäischen Union ha-ben eine europäische Gesetzgebungsinitiative gestartet,mit der Schutzanordnungen, wie sie bei uns in Deutsch-Zu Protokollland nach dem Gewaltschutzgesetz erlassen werden,europaweit und grenzüberschreitend vollstreckt werdenkönnen. Der Vorschlag beinhaltet, dass solche nationa-len Schutzanordnungen vom Erlassstaat in eine Euro-päische Schutzanordnung umgewandelt und sodann imVollstreckungsstaat in eine nationale Schutzanordnungrückumgewandelt werden.Niemand von uns wendet sich im Grundsatz gegen ei-nen grenzüberschreitenden Opferschutz. Dieser istwichtig, wenn gewährleistet werden soll, dass von Ge-walt betroffene Personen auch tatsächlich von ihremRecht auf Freizügigkeit Gebrauch machen können. Diesist nach bisher schon bestehenden europäischen Rege-lungen nicht ausgeschlossen; Verbesserungen solltenbei tatsächlichem Bedarf beherzt in Angriff genommenwerden.Uns Grünen ist es als überzeugten Europäern wich-tig, den mit dem Lissabon-Vertrag auf eine neue Stufeangehobenen Prozess der europäischen Integrationnicht zu gefährden. Das Bundesverfassungsgericht hatuns als den deutschen Gesetzgeber gleichermaßen aufunsere Verantwortung für die europäische Integrationwie auch auf unsere Verantwortung zum Schutz der na-tionalen staatlichen Identität Deutschlands als demo-kratischer Rechtsstaat verpflichtet. Beidem gerecht zuwerden bedeutet insbesondere, den Grundsatz der be-grenzten Einzelermächtigung ernst zu nehmen, also überdie Kompetenzen der Europäischen Union und ihreGrenzen zu wachen. Nicht zuletzt bewahren wir damitdie Idee der Europäischen Union vor einer Glaubwür-digkeitsauszehrung bei den europäischen Bürgerinnenund Bürgern. Diese wollen, dass sich europäische Ge-setzgebungskompetenz durch eine strikte Bezugnahmeauf das Primärrecht der Europäischen Union legiti-miert. Dieses beinhaltet neben dem Grundsatz der be-grenzten Einzelermächtigung auch und insbesondere dieGrundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßig-keit bei der Überprüfung der jeweils in Angriff genom-menen Maßnahmen. Nicht zuletzt der Lissabon-Vertragselbst hat insoweit für die nationalen Parlamente, alsoden Deutschen Bundestag, Rechte und Pflichten der Mit-wirkung statuiert.Es ist deshalb unsere Pflicht, die Frage zu stellen, obdie Initiative der Mitgliedstaaten für eine EuropäischeSchutzanordnung eine Kompetenzgrundlage im Lissa-bon-Vertrag hat. Die dem Entwurf zugrunde gelegteRechtsgrundlage, Art. 82 AEUV, betrifft die justizielleZusammenarbeit in Strafsachen. Diese Rechtsgrundlagekollidiert mit deutschem Verfassungsrecht nur dannnicht, wenn die europäische Kompetenz restriktiv undkeinesfalls extensiv ausgelegt wird. Im Kern geht es umein einheitliches Vorgehen der Strafverfolgung in be-stimmten Bereichen grenzüberschreitender Kriminalität.Der Schutz vor Straftaten, insbesondere präventiveSchutzmaßnahmen auch im Zivil- und Verwaltungsrecht,lassen sich beim besten Willen nicht unter Bezugnahmeauf Art. 82 AEUV als Aufgaben der Europäischen Uniondarstellen. Für Schutzmaßnahmen nach dem deutschenGewaltschutzgesetz sind nicht Straf-, sondern Zivilge-richte zuständig, und Voraussetzung ist nicht unmittel-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3607
gegebene Reden
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3608 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
Jerzy Montag
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bar und nicht ausschließlich eine Straftat gegen das Op-fer.Die Initiative einiger Mitgliedstaaten für eine Euro-päische Schutzanordnung gründet sich auf einer unzu-lässigen Ausdehnung des Begriffs der „justiziellenZusammenarbeit in Strafsachen“ in den Bereich derPrävention, die wir nicht unterstützen können. Nach ei-nigem Zögern scheint auch die Kommission diese kriti-sche Haltung zu teilen. Sie will notfalls eine gerichtlicheKlärung dieser Frage vor dem EuGH erzwingen.Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Wir Grü-nen unterstützen alle sinnvollen und zielführenden Maß-nahmen zum Opferschutz, aber nicht um den Preis einerVerletzung des europäischen Rechts und der damit ein-hergehenden Beschneidung der Gesetzgebungskompe-tenz des Bundestages. Gerade weil wir den Erfolg dereuropäischen Einigung wollen, pochen wir darauf, diedurch die europäischen Verträge vorgegebenen Kompe-tenzen strikt einzuhalten und zu verteidigen.Des Weiteren wirkt das vorgeschlagene Instrumentrecht aufwendig und wirft die Frage auf, ob sein Einsatzüberhaupt zu einer Erleichterung führt, was letztendlichzu der Frage der Geeignetheit und Verhältnismäßigkeitführt. Aus einem allein deutschen Blickwinkel mag estatsächlich so sein, dass eine nach Deutschland kom-mende gefährdete Person schneller eine neue Schutzan-ordnung erwirken kann. Es erscheint aber mehr alszweifelhaft, ob dies auch in allen anderen Mitgliedstaa-ten so einfach der Fall ist. Aber es geht der Initiative jagerade darum, den Opfern in allen Mitgliedstaaten ei-nen gleichwertigen Schutz zu gewähren.Wir Grünen teilen die Kritik an der Initiative für eineEuropäische Schutzanordnung, die im Vorschlag vonCDU/CSU und FDP für einen Beschluss nach Art. 23GG vorgetragen wird, insbesondere an der zweifelhaftenRechtsgrundlage und an der Rechtsauffassung des Ju-ristischen Dienstes des Rates, sowie die Bedenken imRahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung dieser Maß-nahme.Wir werden dem Antrag dennoch aus zwei Gründennicht zustimmen: Der eine Grund ist die Verfahrens-weise. Es war vereinbart worden, diesen Antrag über-fraktionell zu gestalten, um ihm, insbesondere auf euro-päischer Ebene, mehr Gewicht zu verleihen. Dies setztaber voraus, dass es einen Diskurs in der Sache gibt,was wiederum voraussetzt, dass ein Minimum an Zeitvorhanden ist, um solche Diskussionen führen zu kön-nen. Leider wurde von der Koalition die Chance vertan,diesen Antrag gemeinsam auf den Weg zu bringen. Dieswiegt umso schwerer, als gerade in Fragen europäischerGesetzgebung ein einheitliches Auftreten des gesamtenBundestages vonnöten ist.Der zweite Grund ist inhaltlicher Art. In Punkt 3 desDarstellungsteils des Antrags wird behauptet, dass inbisherigen Rahmenbeschlüssen, die sich mit der gegensei-tigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen in Straf-sachen beschäftigen, 2008/947/JI und 2009/829/JI, derGrundsatz der beiderseitigen Strafbarkeit voll verwirk-licht wäre. Dies ist jedoch schlicht falsch, denn die Prü-fung der beiderseitigen Strafbarkeit und infolgedessendie Ablehnung der Anerkennung wird für gut 30 Delikt-gruppen explizit ausgeschlossen. Wir haben uns, frühergemeinsam mit der FDP und einigen in der SPD, gegendiesen Ausschluss des Grundsatzes der beiderseitigenStrafbarkeit in europäischen Rechtsakten gewandt unddie Abschaffung, zumindest aber eine Präzisierung derDeliktgruppen gefordert. Es ist schade und unverständ-lich, weshalb die Koalition hier den Text nicht verbes-sert und die Fakten nicht richtig darstellt.Des Weiteren wird im Forderungspunkt 5 des Antragsdie Bundesregierung aufgefordert, für den Fall, dass dieInitiative für eine Europäische Schutzanordnung nichtzu verhindern ist, wenigstens dafür zu sorgen, dass jederVollstreckungsstaat in vollem Umfang den Einwand feh-lender beiderseitiger Strafbarkeit erheben darf. Diesmacht aber bei einer Schutzanordnung keinen Sinn, die,wie auch bei uns in Deutschland, gar nicht notwendiger-weise mit einer Straftat begründet sein muss.Wir Grünen werden deshalb dem Antrag der Koali-tion nicht zustimmen und uns der Stimme enthalten.
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/1461, in Kenntnis derUnterrichtung eine Entschließung anzunehmen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ist jemand da-gegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung istmit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Enthaltung der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen und der Fraktion Die Linke angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 auf:Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein-gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Än-
– Drucksache 17/1411 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
RechtsausschussHaushaltsausschussgemäß § 96 GOFolgende Kolleginnen und Kollegen haben ihre Re-den zu Protokoll gegeben: Manfred Kolbe, MartinGerster, Frank Schäffler, Richard Pitterle und JerzyMontag.1)Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/1411 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Siedamit einverstanden? – Ich sehe, das ist der Fall. Dannist die Überweisung so beschlossen.1) Anlage 6
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3609
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten MartinGerster, Sabine Bätzing, Gabriele Fograscher,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDDen Sport in Europa voranbringen– Drucksache 17/1406 -Überweisungsvorschlag:Sportausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für GesundheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss für Kultur und Medienb) Beratung des Antrags der Abgeordneten Violavon Cramon-Taubadel, Winfried Hermann,Volker Beck , weiterer Abgeordneter undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENSport in der Europäischen Union – Den Lissa-bon-Vertrag mit Leben füllen– Drucksache 17/1420 –Überweisungsvorschlag:Sportausschuss
Auswärtiger AusschussInnenausschussRechtsausschussAuch hier wurde bereits in der Tagesordnung ausge-wiesen, dass die Reden folgender Kolleginnen und Kol-legen zu Protokoll gegeben werden: Martin Gerster,Joachim Günther, Jens Petermann, Viola von Cramon-Taubadel und des Parlamentarischen StaatssekretärsDr. Christoph Bergner.
In wenigen Tagen kommen die Sportminister Europas
zum ersten Mal offiziell zu einem Ministertreffen zusam-
men. Das ist Anlass für unseren Antrag „Den Sport in
Europa voranbringen“. Wir wollen, dass Deutschland
eine aktive Rolle einnimmt und Motor für eine abge-
stimmte, gemeinsame europäische Sportpolitik wird.
Schon bei der Debatte über das „Weißbuch Sport“ der
EU, aber auch bei anderen Debatten hatten wir als
Sportpolitikerinnen und Sportpolitiker ja einhellig da-
rauf gedrängt, dass wir uns als Parlamentarier – und
auch die Bundesregierung – frühzeitig in die Ausgestal-
tung dieser durch den Lissabon-Vertrag neu geschaffe-
nen Kompetenz des EU-Parlaments und der EU-Kom-
mission einbringen. So hatten wir es auch in unserem
Antrag aus der letzten Legislaturperiode zur gesell-
schaftlichen Bedeutung des Sports beschlossen. Daran
wollen wir festhalten – zumindest die SPD-Fraktion! Un-
ser Antrag trägt den veränderten Bedingungen des
Sports auf europäischer Ebene Rechnung. Schon seit vie-
len Jahren – und spätestens seit dem sogenannten
Bosman-Urteil – ist jedem klar, dass die europäische
Dimension, insbesondere für den Profisport, an Bedeu-
tung gewonnen hat und in Zukunft noch wichtiger wer-
den wird. Aber auch für den Breitensport ist die nun-
mehr gegebene europäische Kompetenz ein Meilenstein
für den Sport in Europa. Wir leben schon seit langem
nicht mehr in einer Welt, die vor allem national bestimmt
ist, sondern in einer zunehmend globalisierten Welt.
Nicht zuletzt der Vulkanausbruch in Island und die damit
verbundenen weitreichenden Einschränkungen im euro-
päischen Flugverkehr haben uns wieder einmal vor Au-
gen geführt, wie nah wir aneinandergerückt sind. Und
wie bei allen Veränderungen ergeben sich daraus Chan-
cen, die wir nutzen sollten – aber auch Risiken, die wir
nicht außer Acht lassen dürfen. Zunächst zu den Chan-
cen, die sich aus einer europäischen Sportpolitik erge-
ben werden. Viele Bereiche sind schon im „Weißbuch
Sport“ angeführt und sollten durch die Sportpolitik der
EU aufgegriffen und konkretisiert werden. Ich will hier
nur einige wenige Punkte nennen. So muss beispiels-
weise die Förderung des Ehrenamts und dessen Schutz
um eine europäische Dimension erweitert werden. Wir
in Deutschland haben ja sehr gute Erfahrungen mit un-
seren Förderungen des Ehrenamts gemacht. Ohne diese
Menschen, die jedes Jahr dem Sport Millionen von Ar-
beitsstunden unentgeltlich zur Verfügung stellen, wäre
unser Land um vieles ärmer. Wir sollten den europäi-
schen Einigungsprozess mit den Mitteln des Sports un-
terstützen. Wem, wenn nicht dem Sport mit seinen global
gültigen Regeln und seiner niedrigen Zugangsschwelle,
kann es gelingen, Brücken zu bauen? Wir müssen ver-
stärkt Jugendbegegnungen im Bereich des Sports mög-
lich machen und jungen Erwachsenen die Chance ge-
ben, Erfahrungen außerhalb ihrer Heimatländer zu
machen, in dem sie sich beispielsweise ehrenamtlich en-
gagieren oder multinationale, sportbezogene Ausbil-
dungsmöglichkeiten wahrnehmen. Eine abgestimmte eu-
ropäische Sportpolitik stärkt die Rolle der EU auch auf
dem internationalen sportpolitischen Parkett. Wenn Eu-
ropa hier mit einer Stimme spricht, wächst auch der Ein-
fluss der Europäer in der internationalen Sportpolitik.
Europäische Sportpolitik muss auch bedeuten, grenz-
übergreifend voneinander zu lernen und Gutes aus dem
Bereich des Sports innerhalb Europas zu verbreiten.
Moderne Konzepte von „bewegter Schule“, bewährte
Kooperationsvereinbarungen zwischen Schulen und
Vereinen, Rahmenbedingungen für den Sport für Men-
schen mit Behinderungen, motivierende Bewegungs-an-
gebote für die älteren Bürgerinnen und Bürger unserer
Gesellschaft usw. – in den vielfältigsten Bereichen des
Sports kann man in Europa hervorragende Ansätze fin-
den. Um eine möglichst aktive Bevölkerung zu bekom-
men, muss nicht jedes Land das Rad neu erfinden. Der
Blick über die Landesgrenze und ein intensiver europäi-
scher Austausch sind wichtig. Noch gibt es auch in den
Rahmenbedingungen, die der Sport in den einzelnen
Ländern Europas vorfindet, große Unterschiede, wie
auch in vielen anderen Politikbereichen. Daher muss
eine europäische Sportpolitik auch dazu führen, auf
lange Sicht in allen europäischen Staaten gute Voraus-
setzungen für den Sport zu sichern. Dazu gehört eine
moderne Infrastruktur genauso wie ausreichende finan-
zielle Förderung und ein rechtlicher Rahmen, der dem
Sport vernünftige Gestaltungsfreiheit lässt. Allerdings
sieht sich der Sport auch Risiken ausgesetzt, die nicht
nur national begrenzt werden können. Die Dopingbe-
Martin Gerster
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kämpfung kann nur international erfolgreich sein! So-
lange Ermittlungsergebnisse nicht problemlos von ei-
nem Land ins nächste gegebenen werden, solange
Sportler in einem Land wegen Dopingvergehen gesperrt
sind und im anderen Land antreten können und solange
die Sanktionen für Dopingsünder nicht einheitlich ab-
schreckend geregelt sind, können Anti-Doping-Bemü-
hungen nicht erfolgreich sein.
Der Sport sieht sich auch anderen Manipulationsver-
suchen ausgesetzt: Wettbetrug, Bestechung und dubiose
Praktiken bei der Spielervermittlung sind nur einige der
Gefahren, denen auf europäischer Ebene begegnet wer-
den muss. Eine europäische Sportpolitik muss also
Chancen für den Sport nutzen und ausbauen, neue Wege
eröffnen und die Benefits des Sports fördern. Sie muss
aber auch klare Grenzen setzen und gesetzliche Rah-
menbedingungen schaffen, die den Risiken für den Sport
Einhalt gebieten. Ich erwarte, dass sich die Bundesre-
gierung in allen Bereichen aktiv einbringt, auch wenn
die Koalitionsfraktionen heute nicht mit eigenen Vor-
schlägen für das erste formelle Sportministertreffen auf-
warten. Daher sehe ich der Berichterstattung des Bun-
desministeriums des Innern im Sportausschuss über
dieses Treffen mit Interesse entgegen.
Noch kurz zum Antrag der Grünen. Ich denke, wir
sind da in ganz vielen Bereichen sehr nah beieinander –
und nicht nur wir, sondern ich denke auch das ganze
Haus. Daher möchte ich nur zwei Punkte anmerken.
Zum einen vermisse ich bei Ihrem Antrag einen Hinweis
auf die Verantwortung Europas für den außereuropäi-
schen Raum. Die Europäische Union ist eine Erfolgsge-
schichte, um die uns die anderen Regionen zum Teil
durchaus beneiden, die aber auf jeden Fall im Rest der
Welt sehr intensiv beobachtet wird. Ich glaube, dass wir
als Europäer mit all unserer Wirtschaftsmacht ein we-
sentliches Interesse, ja sogar eine Pflicht haben, uns
miteinander für andere einzusetzen – und dies nicht zu-
letzt im und durch den Sport. Leider haben die Grünen
diesen Aspekt nicht in ihrem Antrag. Zum Zweiten habe
ich eine Frage, da ich einen Punkt in Ihrem Antrag nicht
verstehe: Unter Punkt B Ziffer 6 fordern Sie ein Lizenz-
vergabesystem für Sportvereine. Ich glaube, da stimmt
einfach die Begrifflichkeit nicht. Wahrscheinlich meinen
Sie eine Zertifizierung bzw. die Schaffung eines Zertifi-
kats für Vereine, die sich in der von Ihnen beschriebenen
Weise um die Bekämpfung von Rassismus, Homophobie
und Gewalt verdient machen. Sollte dies so sein, dann
unterstützen wir das natürlich; da führt dann aber der
von Ihnen gewählte Begriff in die Irre. Auch für die Auf-
klärung solch kleinerer Missverständnisse wird unsere
Sportausschusssitzung gut sein. Ich freue mich auf die
Fortsetzung der heute begonnenen Diskussion in diesem
Gremium.
Die FDP sieht es grundsätzlich als positiv an, dassmit dem Vertrag von Lissabon in Art. 165 eine Kompe-tenz auf europäischer Ebene für den Sport geschaffenwurde. Mit der Verankerung im Primärrecht fällt derSport auch erstmalig mit in den Zuständigkeitsbereichder Europäischen Union. Dies bietet eine Reihe vonZu ProtokollChancen für den Sport. Um hier nur einige Punkte zunennen:Mit der Kompetenz der EU im Bereich der Sportpoli-tik lässt sich eine verbesserte Koordinierung der Do-pingbekämpfung auf internationaler Ebene erreichen.Aber auch auf Mitgliedstaaten innerhalb der EU, die dieUNESCO-Anti-Doping-Konvention noch nicht unter-schrieben haben, kann eingewirkt werden.Die Bestimmungen des WADA-Anti-Doping-Codesund der Anti-Doping-Konvention des Europarates wieauch der UNESCO-Anti-Doping-Konvention sollennicht nur im Bereich des Profisports, sondern ebenso imBereich des Breitensports Anwendung finden. Natürlichstehen dabei ganz besonders das gesundheitliche Wohl-ergehen von Kindern und Jugendlichen im Fokus derPräventionsmaßnahmen.Die neugeschaffene Kompetenz eröffnet uns weiter-hin die Möglichkeit eines besseren Schutzes der körper-lichen Unversehrtheit von Sportlern, insbesondere Ju-gendlicher, und bessere Möglichkeiten der Gewaltbe-kämpfung durch grenzüberschreitende Zusammenarbeit.Ein Kernanliegen der europäischen Sportpolitiksollte auch die Rolle des Sports für ein gesundes und fit-tes Leben sein. Wir haben mittlerweile weltweit das Pro-blem einer steigenden Anzahl von sogenannten Wohl-standserkrankungen wie Adipositas oder Diabetes, dieinzwischen einen großen Teil der Kosten unseres Ge-sundheitssystems verursachen. Mit ausreichend Bewe-gung und einer guten Ernährung müssen diese Heraus-forderungen angepackt werden.Ebenso werden sich die Möglichkeiten verbessern,Sportwettbetrug zu bekämpfen. Wettbetrug ist natürlichschädlich und bringt den Sport allgemein zusätzlich zurDopingproblematik in ein schlechtes Licht. Jedoch soll-ten Sportwetten nicht allgemein als Ursache für diesesÜbel angesehen werden. Ich möchte an dieser Stelledeutlich betonen, dass Sportwetten einen wichtigen Pfei-ler für die Sportfinanzierung darstellen, auch im Bereichdes Breitensports. Die eingebrachten Anträge gehen indie richtige Richtung, doch vergessen Sie einmal mehr,dass das Geld für Ihre Forderungen auch irgendwo her-kommen muss.Deshalb fordern wir Liberalen seit langer Zeit die Li-beralisierung des Sportwettenmarktes. Werfen wir docheinen Blick auf Deutschland: Das Beratungsunterneh-men Goldmedia hat in seiner im April 2010 veröffent-lichten Studie eine umfassende Erhebung über dieGröße des deutschen Glücksspielmarktes vorgelegt.Diese zeigt unter anderem, dass trotz der Nichtzulassungprivater Sportwettenanbieter in 2009 insgesamt 7,9 Mil-liarden Euro an Wetteinsätzen platziert worden sind.Damit entfällt der übergroße Marktanteil von 94 Prozentauf in Deutschland nichtregulierte Angebote: 2,4 Mil-liarden Euro auf die nach wie vor existierenden statio-nären Wettshops, 3,9 Milliarden Euro auf Onlineanbie-ter und weitere 1,0 Milliarden Euro auf denSchwarzmarkt, der in sogenannten Hinterzimmern undmobilen Kassen bzw. Läufergeschäften zu finden ist. ImGegensatz dazu kann die staatliche Sportwette Oddset/
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3610 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
gegebene RedenJoachim Günther
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Toto gerade einmal einen Umsatz durch Spieleinsätzevon 240 Millionen Euro verzeichnen. Die Diskrepanzkönnte kaum größer sein. Das staatliche Monopol unddas Internetverbot sind gescheitert.Die Marktzahlen zeigen ganz klar, dass VerbraucherVerbote nicht akzeptieren und zeitgemäße Glücksspiel-produkte nachfragen. In der derzeitigen Situation hatder Staat jedoch keine Kontrolle über diesen Graumarktund schöpft zudem die steuerlichen Potenziale nicht ab.Was bedeutet das für Europa? Mit der Einführung ei-ner Kompetenz der Europäischen Union im Bereich desSports ist es nicht getan. Diese Kompetenz muss mit Le-ben erfüllt werden. Mit der Aufhebung der Reglementie-rung für Sportwetten europaweit könnten zusätzlich zudem für das Jahr 2012 geplanten ersten EU-Sportför-derprogramm zusätzliche finanzielle Mittel zur Förde-rung des Sports und gesundheitspräventiver Maßnah-men erschlossen werden.
Die Zuständigkeit der EU im Bereich Sport ist erstmit dem Inkrafttreten des Lissabon-Vertrages am 1. De-zember 2009 formalisiert worden. Vor diesem Hinter-grund wird am 10. Mai in Madrid das erste Treffen derSportminister der Europäischen Union stattfinden. Dassgroßer Handlungsbedarf besteht, liegt auf der Hand. So-wohl im Weißbuch der Europäischen Kommission zumSport als auch in der Entschließung des EuropäischenParlaments zu diesem Dokument wird ein Aspekt betont,der in Deutschland auf Bundesebene leider immer nochein Stiefkind ist: die Förderung des Breitensports. InDeutschland ziehen sich die Verantwortlichen bei die-sem Thema gern auf eine einzige Aussage zurück: Sport-förderung sei Sache der Länder und Kommunen. DieLinke hält dem schon lange entgegen, dass dieses Landendlich ein Sportförderungsgesetz des Bundes braucht,damit Länder und Kommunen endlich ihre diesbezügli-chen Aufgaben befriedigend erfüllen können. Statt ihreHausaufgaben zu machen und ein solches Gesetz aufden Weg zu bringen, streichen die Haushälter derschwarz-gelben Koalition lieber eines der wenigen Pro-gramme, das auf die Förderung des Breitensports aus-gerichtet war: den Goldenen Plan Ost. Die Kommunenwerden nun mit ihren vielerorts maroden Sportstättenmehr denn je allein gelassen. Das ist wahrlich nicht imSinne der europäischen Idee im Bereich des Sportes. Fürzweifelhaft halte ich auch die strikte Trennung zwischenBreiten- und Leistungssport bei der Bekämpfung vonDopingpraktiken. Die Grenzen sind hier fließend. Ja, esist absolut notwendig, den Kampf gegen Doping aufeuropäischer Ebene zu harmonisieren. Ausreichen wirddies in der globalisierten Welt des Sports jedoch nicht.Zurück zu den fließenden Grenzen: Wie glaubwürdigist ein lautstark propagierter Kampf gegen Doping imSpitzensport, wenn das Doping im Alltag – ob im Sport,in Schule oder Universität – längst alltäglich ist? In denUSA nimmt jeder fünfte Student konzentrationsstei-gernde Mittel, die sich ebenso im Sport etabliert haben.Und von umfangreichen Doping- und Drogenfunden indeutschen Fitnessstudios wird bekanntermaßen regel-Zu Protokollmäßig berichtet. Hier gilt es anzusetzen, um das ge-sellschaftliche Bewusstsein nicht allein auf Dopingprak-tiken im Leistungssport zu fokussieren. Im Übrigenbeginnen so gut wie alle negativen Erscheinungen be-reits im Amateursport, sodass schon hier angesetzt wer-den muss, um Probleme anzugehen. Ich verweise auf denThemenkomplex Rassismus, Homophobie und Gewaltim Sport. Diese Bedrohungen zeigen sich insbesondereim Fußball, und das bereits in den unteren Ligen. Fürlesbische Sportlerinnen und schwule Sportler bietet dieUmgebung des Spiels offenbar eine Atmosphäre, in dersie große Scheu haben, zu ihrer Homosexualität zu ste-hen. Deshalb ist es unbedingt erforderlich, Fanprojektezu unterstützen, die sich der Aufklärung verschriebenhaben. Gleiches gilt für rassistische Angriffe gegenMenschen anderer Hautfarbe oder Religion. Auf diesemProblemfeld sind vor allem grenzüberschreitende Netz-werke dringend nötig. Es ist eine gesamteuropäischeAufgabe, sicherzustellen, dass Diskriminierung im Sportwirksam bekämpft wird. In dem „Tatort“ aus Bremenmit dem Titel „Endspiel“ wird diese Problemstellungexemplarisch genauso aufgegriffen wie eine andereschwerwiegende Entwicklung im Sport: Talentierte min-derjährige Sportler werden aus ihren meist armen Hei-matländern von Spieleragenten mit verheißungsvollenVersprechen in die EU gelockt. Oft aber reicht ihr Talentnicht aus für den ganz großen Sport, und sie geraten fernder Heimat allein gelassen auf die schiefe Bahn. Des-halb ist es unbedingt notwendig, dass die diesbezügli-chen Gesetze und Vorschriften umgesetzt werden. DieFIFA verbietet Transfers von Spielern unter 16 Jahren,nur wird diese Regelung längst nicht strikt genug ange-wandt. Im Vertrag von Lissabon ist verankert, dass dieEU verpflichtet ist, für den Schutz der körperlichen undseelischen Unversehrtheit, insbesondere der jüngerenSportlerinnen und Sportler, zu sorgen. Hier haben dieMitgliedstaaten, gerade auch Deutschland, ihre Haus-aufgaben längst nicht erledigt. Dies sind nur einige aus-gewählte Handlungsfelder aus dem Sportbereich, aufdenen einerseits die Europäische Union gefordert ist,andererseits die konkrete Umsetzung aber in der Verant-wortung der Mitgliedstaaten liegt. Zwar hat die EU mitdem Vertrag von Lissabon erstmals Kompetenz im Be-reich Sport erhalten, doch wirkt dies nur unterstützend,koordinierend und ergänzend. Handeln muss jetzt dieBundesregierung!
Der Sport war für die EU bisher bestenfalls eine Ne-bensache. Wer Sport auf die Europabühne bringenwollte, musste sich argumentativer Hilfskonstruktionenbedienen. Sport gehörte zu den Politikfeldern, die vonder nationalen Politik dauerhaft gepachtet schienen.Diese Pachtregelung hat der Vertrag von Lissabon ver-ändert. Die Möglichkeiten zur Förderung von Sport-projekten und – noch wichtiger – die systematische Ein-beziehung des Sports in andere EU-Politiken undFörderprogramme sind seit Inkrafttreten des Lissabon-Vertrags möglich. Der Startschuss für eine Sportpolitikin der EU fiel zwar schon mit dem „Adonnino-Bericht“an den Europäischen Rat vom Juni 1985, der erstmals
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3611
gegebene RedenViola von Cramon-Taubadel
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die gesellschaftliche Rolle des Sports hervorhob. Abernun kann die Europäische Union erstmals eigene Maß-nahmen zur Unterstützung, Koordinierung oder Ergän-zung der Maßnahmen der Mitgliedstaaten durchführen.Das begrüße ich ausdrücklich.Worum es jetzt aber geht, ist doch offenkundig: Wirmüssen die neuen Regelungen auch anwenden, oder– um im Bild zu bleiben –: Europa muss das neu gewon-nene Politikfeld auch bestellen. Und eben bei dieser Be-stellung sehen wir erhebliche Defizite, die endlich beho-ben werden müssen. Ich sage bewusst „müssen“; dennder Sport ist es wert, dass sich Europa – und dazu gehö-ren eben auch die nationalen Parlamente – im Sinne desLissabon-Vertrages engagiert. Dabei hoffe ich – und dasbetone ich als Mitglied einer proeuropäischen Partei –,dass es uns gelingt, den Sport für die Herausbildung ei-ner europäischen Identität zu nutzen. Natürlich ist unshier die Ambivalenz, die Widersprüchlichkeit des Sportsbei der Identitätsbildung von Nationen oder Regionen,von ethnischen und gesellschaftlichen Gruppen bekannt.Sport kann eine ganze Nation, eine Stadt oder eine Re-gion verbinden, er kann aber auch spalten und trennen.Dieser Realität müssen wir uns bewusst sein, wenn wirSport zu einem Instrument der Förderung einer europäi-schen Identität machen. Und: Wir sollten uns auch kei-ner Illusion hingeben. Gerade im Sport findet Identitäts-bildung häufig durch Abgrenzung statt. Der europäischeIntegrationsprozess ist jedoch ein Gegenentwurf zu ei-ner Abgrenzungsstrategie. Wer sich das bewusst macht,kann wohl auch die Größe der Aufgabe erkennen.Was fordern wir konkret? Die Bundesregierung musseine Position für eine kohärente, nachhaltige europäi-sche Sportpolitik entwickeln. Und natürlich geht es auchhier darum, dass sie sich für diese Maßnahmen und füreine angemessene finanzielle Ausstattung des für 2012geplanten ersten EU-Sportförderprogramms einsetzt.Ein solches Programm ist sicher eine große Aufgabe.Umso wichtiger ist es, sich zu konzentrieren und Priori-täten zu setzen. Aus meiner Sicht sollte die Bekämpfungvon Rassismus, Homophobie und Gewalt in der europäi-schen Sportpolitik ganz oben auf der Agenda stehen.Diese Prioritätensetzung passt hervorragend zum euro-päischen Politikentwurf. Die Überwindung von nationa-len Egoismen, Rassismus und Gewalt war und ist dasKernanliegen des europäischen Projekts. Das sollteauch in der Sportpolitik deutlich werden. In diesem Kon-text sollte die EU Fanprojekte fördern, Präventions-arbeit im Kampf gegen Rassismus, Homophobie und Ge-walt unterstützen und einen grenzüberschreitendenWissenstransfer organisieren sowie die Forschung stär-ker auf diese Problemfelder fokussieren.Es ist eine Aufgabe der EU, die Zusammenarbeit zwi-schen Strafverfolgungsbehörden, Sportorganisationenund weiteren staatlichen und nichtstaatlichen Akteurenzu verbessern. In diesen Kontext passt die ureigene Auf-gabe des Sports – seine Förderung der Integration. Hierkann das traditionelle Instrument des Jugendaustauschseine neue Funktion bekommen. Das EU-Programm „Ju-gend in Aktion“ soll auch über 2013 hinaus fortgeführtwerden. Der Sport soll darin stärker als bisher berück-sichtigt werden. Die Möglichkeiten des Sports zur Inte-Zu Protokollgration sollen durch die Förderung wissenschaftlicherUntersuchungen und den Austausch von bewährten Ver-fahren besser genutzt werden. Wir fordern die Bundesre-gierung auf, ein Konzept für ein von den Mitgliedstaatender EU finanziertes europäisches Jugendwerk der inter-kulturellen Begegnung und des Sports nach dem Vorbilddes deutsch-französischen und des deutsch-polnischenJugendwerkes auszuarbeiten.Es sollen Programme von der EU entwickelt und fi-nanziert werden, die der Integration von Menschen mitBehinderung dienen. Die UN-Konvention über dieRechte für Menschen mit Behinderung soll in allen Mit-gliedstaaten der EU auch im Sportbereich konsequentumgesetzt werden. Die EU soll Projekte unterstützen,die sich für die Integration von Frauen und Mädchen,speziell aus Familien mit Migrationshintergrund, durchden Sport einsetzen. Netzwerke zum Austausch bewähr-ter Verfahren in diesem Bereich sollen unterstützt wer-den.Ein weiteres wichtiges Feld ist die Bekämpfung vonDoping. Hier brauchen wir erstens ein europäischesKontrollsystem und zweitens geeignete Präventionsmaß-nahmen, und zwar sowohl für den Profi- als auch für denBreitensport. Das gilt für Erwachsene, aber besondersfür Jugendliche und – bezüglich der Prävention – auchfür Kinder.Die EU muss den Kampf gegen Korruption in Sport-organisationen und gegen Sportwettbetrug wirksam un-terstützen. Auch hier geht es um den Aufbau von Netz-werken zum Austausch bewährter Maßnahmen. InKooperation mit den Sportorganisationen, den Sport-wetten- und Glücksspielanbietern und den Mitgliedstaa-ten soll ein gemeinsamer Rahmen entwickelt werden,der gewährleistet, dass illegale Wettpraktiken verhin-dert werden.Last, but not least: Die europäische Sportpolitik musssich an den Zielen der nachhaltigen Entwicklung orien-tieren. In der Praxis heißt dies: In Europa sollen Sport-großveranstaltungen nur noch klimaneutral ausgerich-tet werden. Die Sportakteure in der EU sollen dazuermutigt werden, am System für Umweltmanagementund Umweltbetriebsprüfung teilzunehmen. Es sollenProjekte entwickelt und unterstützt werden, die das Be-wusstsein der Menschen für Umwelt- und Naturschutzbei der Sportausübung in der freien Natur fördern undihnen Handlungsempfehlungen geben.Ich kenne natürlich die Einwände gegen ein stärkeresEU-Engagement im Sport. Dazu gehört auch der Hin-weis auf die unterstützende und koordinierende Rolle,die die EU in erster Linie spielen soll, und dass es hierum Ergänzung der Maßnahmen der Mitgliedstaatengeht. Nach meiner Auffassung ist Sport aber ein so wich-tiges Feld, dass jedes weitere Engagement willkommensein muss. Es ist ja offensichtlich: Die nationalen Aktivi-täten reichen nicht aus. Deshalb mein Appell: Nutzenwir die Möglichkeiten der EU und verstärken wir dasEngagement gegen die negativen Begleiterscheinungenim Sport! Verbinden wir die Ideale der europäischen Ei-nigung mit den Anliegen des Sports! Dazu ist auch eingut strukturierter Meinungsaustausch zwischen allen
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3612 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
gegebene RedenViola von Cramon-Taubadel
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staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren im Sportbe-reich der Mitgliedstaaten und in Europa sowie der Kom-mission von großer Bedeutung. Um diese Bedeutungauch personell zu unterstreichen, sollte auf jeden Fallder zuständige deutsche Minister beim ersten formellenTreffen der europäischen Sportminister am 10./11. Maiein klares Zeichen setzen. Er sollte zeigen, welche Be-deutung er dem Sport in Europa beimisst. Dieses Zei-chen wäre ganz einfach: Er müsste am Treffen der Sport-minister teilnehmen. Bisher ist er dazu offensichtlichnicht bereit. Das Fernbleiben des Ministers wäre einFehler. Genau diesen Fehler sollte die Bundesregierungnicht machen.D
Der Vertrag von Lissabon hat uns die lang erwarteteund nicht zuletzt vom Deutschen Bundestag immer wie-der geforderte Kompetenz der Europäischen Union imSport gebracht.Der Weg bis zu dieser Kompetenz war beschwerlich.So wurde der Sport durch die Aufnahme der sogenann-ten Gemeinsamen Erklärung zum Sport in das Amster-damer Vertragswerk erstmalig in den Vertragstextender Europäischen Union berücksichtigt. Dieser Erklä-rung kam aber lediglich politische Bedeutung zu. Auchdie Erklärung von Nizza, in der sich die EuropäischeUnion im Jahr 2000 zu sportfreundlichen Entscheidun-gen verpflichtete, sowie die Erklärung zum Sport, dieder Europäische Rat 2008 anlässlich der französischenRatspräsidentschaft verabschiedete, stellten politischeAbsichtserklärungen dar. Spätestens nach dem Bosmann-Urteil bestand wiederholt die Sorge, die europäischeRechtsprechung könnte mangels spezifischer europa-rechtlicher Rahmensetzungen die Besonderheiten desSports nicht hinreichend berücksichtigen.Mit dem von der Kommission 2007 im Anschluss andie deutsche Ratspräsidentschaft veröffentlichten Weiß-buch Sport hat die EU-Kommission diesbezüglich einewichtige Initiative ergriffen. Der Aktionsplan Pierre deCoubertin, der mit 53 konkreten Maßnahmen aktuellesportpolitische Fragestellungen aufgriff, stellt einenVersuch dar, europäische Gestaltungsräume zu öffnen.Nun hat die Europäische Union eine Kompetenz imSport, und es gilt, nicht nur diese Kompetenz mit Lebenzu füllen, wie die Antragsteller richtig betonen, sondernauch die Beachtung des Subsidiaritätsgedankens einzu-fordern.Dabei sollte uns klar sein, dass Art. 165 des Vertragsüber die Arbeitsweise der Europäischen Union, AEUV,dieser lediglich eine unterstützende Kompetenz zuweist,die keinerlei Spielraum für Harmonisierung im Rechtder Europäischen Union lässt. Die Union kann nur er-gänzend zu den Mitgliedstaaten handeln. Sie muss alsodas Subsidiaritätsprinzip und die Autonomie des Sportsbeachten.Art. 165 AEUV stellt allerdings keine generelle Aus-nahmevorschrift für den Sport dar, die dazu führenwürde, dass die allgemeinen Regelungen des EU-RechtsZu Protokollwie die Arbeitnehmerfreizügigkeit oder das Wettbe-werbsrecht von nun an keine Anwendung mehr auf denSport finden. Allerdings wird bei der Überprüfung vonMaßnahmen, die den Sport betreffen, in Zukunft ver-stärkt auf die Besonderheit des Sports zu achten sein.Hier gilt es, zukünftig Ansatzpunkte zu entwickeln, dieder gesellschaftlichen Bedeutung des Sports gerechtwerden.Das Initiativrecht für Maßnahmen unter dem neuenSportartikel liegt bei der Europäischen Kommission.Die Kommission hat angekündigt, im Herbst 2010 eineMitteilung mit dem Titel „EU-Agenda zur Politikgestal-tung und Kooperation im Sport“ vorzulegen, die, an dasWeißbuch Sport anknüpfend, aktuelle sportpolitischeThemen festlegt, mit denen sich die Kommission befas-sen möchte. Zudem wird sie zu diesem Zeitpunkt auchdas erste EU-Sportprogramm mit Fördermaßnahmenfür die Jahre 2012/2013 vorschlagen. In der zweitenJahreshälfte 2011 will die EU-Kommission dann einFörderprogramm für die Jahre 2014 bis 2020 vorlegen.Zu der neuen EU-Sportagenda und dem Förderpro-gramm für 2012/2013 hat die Kommission einen Kon-sultationsprozess gestartet. Die Mitgliedstaaten wurdenbereits auf dem informellen Sportministertreffen, dasdiesen Dienstag und Mittwoch in Madrid stattgefundenhat, angehört. Leider konnte ich, wie die Mehrzahl mei-ner europäischen Kollegen, aufgrund des eingeschränk-ten Flugverkehrs an diesem Treffen nicht persönlich teil-nehmen. Ein ausführlicher Bericht über das informelleMinistertreffen wird dem Bundestag in Kürze zugeleitet.Eine weitere Anhörung ist dann für den formellen Minis-terrat am 10. Mai 2010 geplant, an dem ich voraussicht-lich teilnehmen werde. Neben dieser Abfrage bei denMitgliedstaaten führt die Europäische Kommission zur-zeit auch eine für alle offene Konsultation über die In-ternetseite der Sport Unit durch, die noch bis 1. Juni2010 andauert. Dies ist eine weitere Möglichkeit, dieVorschläge der Kommission zu beeinflussen.Die inhaltlichen Vorstellungen der EU-Kommissionim Hinblick auf die für Herbst 2010 geplanten Maßnah-men liegen Ihnen mit dem sogenannten Non-Paper derKommission zur Umsetzung der neuen EU-Kompetenzfür den Sport, das dem Deutschen Bundestag mit denweiteren Vorbereitungsunterlagen für das informelleSportministertreffen zugeleitet wurde, vor.Mit der neuen EU-Sportagenda will die Kommissionfolgende, in Art. 165 AEUV erwähnte Bereiche abde-cken: erstens die soziale und erzieherische Funktion desSports, zweitens insbesondere auf Ehrenamt basierendeSportstrukturen, drittens Fairness und Offenheit imSport, viertens die körperliche und seelische Unver-sehrtheit von Sportlern sowie fünftens den Dialog undZusammenarbeit mit Interessenvertretern im Sport.Als mögliche Prioritäten für ein Sportförderpro-gramm 2012/2013 schlägt die Europäische Kommissiondie soziale Eingliederung im und durch Sport, gesund-heitsfördernde körperliche Betätigung, allgemeine undberufliche Bildung im Sport, Anti-Doping, vorbildlicheOrganisationsformen, den strukturierten Dialog mit derSportbewegung und Sportökonomie und Statistiken vor.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3613
gegebene RedenParl. Staatssekretär Dr. Christoph Bergner
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Die Bundesregierung stimmt dem Vorschlag der Eu-ropäischen Kommission grundsätzlich zu. Allerdingskönnen wir zum einen den vorgeschlagenen Überwa-chungs-, Prüfungs- und Koordinierungsmechanismuszur Umsetzung der EU-Leitlinien für körperliche Aktivi-tät auf EU-Ebene nicht unterstützen. Dies würde nur zuzusätzlichem bürokratischem Aufwand führen. Zum an-deren sehen die Bundesländer, übrigens auch die vonder SPD geführten, keinerlei Notwendigkeit für Aktio-nen auf EU-Ebene zur Unterstützung der Rolle desSports in der Bildung. Es bleibt für uns ein wichtiges An-liegen, den Kompetenzen der Länder angemessen Rech-nung zu tragen. Es sei mir gestattet, angesichts der um-fänglichen Forderungen in den Anträgen, auf unsereSchwerpunkte zu verweisen:Anti-Doping. Hier könnten wir uns als konkrete Maß-nahmen die weitere Unterstützung eines EU-Netzwerksder nationalen Anti-Doping-Agenturen und die Einrich-tung einer Anti-Doping Monitoring Task Force in Eu-ropa zur Überwachung der Entwicklung von Doping-Substanzen vorstellen. Die Taskforce könnte mit derWADA zusammenarbeiten. Ich weise an dieser Stelleaber auch darauf hin, dass die europaweite Koordinie-rung in Sachen Doping-Bekämpfung in erster Linie inden Aufgabenbereich des Europarates fällt. Dieser ver-fügt auch über eine eigenständige Anti-Doping-Konven-tion, die mit 50 Mitgliedstaaten eine deutlich größereReichweite hat als die Europäische Union. Zudem sinddie Dopingkontrollsysteme bereits über den WADA-Code und die dazugehörigen Standards harmonisiert.Duale Karriere und Mobilität von im Sport Beschäf-tigten. Eine konkrete Maßnahme wäre die Förderungder gegenseitigen Anerkennung von Ausbildungen undLizenzen zwischen den Mitgliedstaaten.Förderung des Ehrenamts im Sport. Konkret könntenhier in Umsetzung der Studie zur Freiwilligenarbeit inder Europäischen Union Maßnahmen zur Gewinnungvon Freiwilligen im Sport entwickelt werden.Integration durch Sport. Die Bundesregierung wirdsich weiter dafür einsetzen, dass die Rahmenbedingun-gen für die Teilhabe von Menschen mit Behinderung amSport – sei es im Breiten-, Freizeit- oder Spitzensport –EU-weit nachhaltig verbessert werden. Dementspre-chend halten wir es auch für wichtig, dass die UN-Kon-vention über die Rechte für Menschen mit Behinderungin allen Staaten der Europäischen Union auch im Sport-bereich umgesetzt wird. Wir begrüßen daher auch, wenndie Union Programme entwickelt und finanziert, die derIntegration von Menschen mit Behinderung dienen. –Gleiches gilt – vor dem Hintergrund der Erfahrungen inDeutschland – auch im Hinblick auf Projekte, die im Be-reich des Sports die Integration von Frauen und Mäd-chen, speziell aus Familien mit Migrationshintergrund,fördern sollen.Gesundheitsförderliche Bedeutung von Sport. Sport-liche Betätigung und Bewegung im Alltag sind wesentli-che Elemente eines gesunden Lebensstils. Mit dem Na-tionalen Aktionsplan „IN FORM – DeutschlandsInitiative für gesunde Ernährung und mehr Bewegung“Zu Protokollwerden vielfältige Aktivitäten vorgenommen, die auchim europäischen Kontext von Interesse sind.Schließlich begrüßen wir, dass die Europäische Kom-mission aufgrund der Besonderheit des Sports die Not-wendigkeit für Handlungsanweisungen zu spezifischenThemen sieht. Hier hat die Bundesregierung mit der Ka-binettsinitiative „Sport und Wettbewerb“ die Klarstel-lung der Anwendbarkeit des EU-Wettbewerbsrechts aufden Sport gefordert. Die Erstellung von Leitlinien nachKonsultation des Netzwerks der europäischen Kartellbe-hörden, ECN, könnte als erster Anwendungsfall für denKommissionsvorschlag dienen.Ich hoffe, ich konnte einen ersten Überblick über dieaktive Beteiligung der Bundesregierung an der Ausfül-lung der ersten EU-Kompetenz im Sport geben. Ich bingerne bereit, in der nächsten Sitzung des Sportausschus-ses näher auf Vorschläge einzugehen, die den Zustän-digkeitsbereich des Bundesministeriums des Innern oftbeträchtlich überschreiten. Ich darf angesichts der lan-gen Forderungskataloge der beiden Anträge von SPDund Bündnis 90/Die Grünen darauf hinweisen, dass esin der Sache weniger auf die Zusammenstellung langersportpolitischer Stichpunktlisten als vielmehr auf eineden Belangen des Sports förderliche Kompetenzgestal-tung ankommt.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/1406 und 17/1420 an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Auch hier frage ich, ob Sie damit einverstanden sind. –
Das ist der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 21:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Manuel
Sarrazin, Dr. Frithjof Schmidt, Marieluise Beck
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Den Europäischen Auswärtigen Dienst euro-
päisch, handlungsfähig und modern gestalten
– Drucksache 17/1204 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Auswärtiger Ausschuss Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden auch
hier die Reden folgender Kolleginnen und Kollegen zu
Protokoll genommen: Roderich Kiesewetter, Karl
Holmeier, Dietmar Nietan, Oliver Luksic, Dr. Diether
Dehm und Manuel Sarrazin.
Die Einrichtung des Europäischen AuswärtigenDienstes, EAD, ist eine großartige Gelegenheit, ganz-heitliches und verlässliches auswärtiges Handeln derEuropäischen Union zu fördern. Kohärenz und Kontinui-tät sind hier die Stichworte. Der EAD muss ein leis-
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3614 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
gegebene RedenRoderich Kiesewetter
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tungsfähiges und innovatives Instrument zur Unterstüt-zung der Aufgaben der Hohen Vertreterin werden. Ersollte auch den Präsidenten des Europäischen Ratessowie die Kommission bei der Wahrnehmung ihrer je-weiligen Aufgaben im Bereich der Außenbeziehungenunterstützen und eng mit den Mitgliedstaaten zusam-menarbeiten. Der Vertrag von Lissabon stellt die Euro-päische Union auf ein neues institutionelles Fundament,das die Handlungsfähigkeit Europas nach innen und au-ßen stärkt und ihre demokratische Legitimation über dasEuropäische Parlament und die nationalen Parlamentedeutlich verbessert. Die Parlamente der Mitgliedstaaten– und damit auch Bundestag und Bundesrat – erhaltenbessere Mitwirkungsrechte gegenüber den Organen derEuropäischen Union bei der Subsidiaritätskontrolle undbei institutionellen Entscheidungen. Ich betone das be-sonders, weil die Entscheidung des Bundesverfassungs-gerichts zum Vertrag von Lissabon vom 30. Juni 2009diese demokratische Kontrolle angemahnt hat. Auch inder Außenpolitik ist der Wille der Menschen maßgeblichfür das Handeln der Europäischen Union. Die Men-schen in Deutschland wollen, dass die Union eine Rollein der Welt spielt, dass sie für unsere Werte einsteht. Ineiner Umfrage, die die „BBC“ am 19. April veröffent-licht hat, haben 76 Prozent der befragten Deutschen ge-sagt: Die EU hat einen positiven Einfluss in der Welt. Zuden wichtigsten institutionellen Reformen des Vertragesvon Lissabon gehört die Schaffung des Amtes eines Ho-hen Vertreters der Union für die Außen- und Sicherheits-politik, der zugleich Vizepräsident der EuropäischenKommission ist, sowie Vorsitzender des Rates für Aus-wärtige Angelegenheiten und Außenbeauftragter desEuropäischen Rates. Der Europäische AuswärtigeDienst, EAD, unterstützt den hohen Vertreter in allenAufgaben. Die Hohe Vertreterin Catherine Ashton wurdeam 19. November 2009 vom Europäischen Rat für dasAmt des Hohen Vertreters der EU für Außen- und Sicher-heitspolitik nominiert und übt diese Funktion seit demInkrafttreten des Vertrags von Lissabon am 1. Dezember2009 aus. Nun gilt es, die Idee des Europäischen Aus-wärtigen Dienstes mit Leben zu füllen. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützt mit ganzer Kraft dieSchaffung eines leistungsfähigen Europäischen Auswär-tigen Dienstes, weil damit das außenpolitische Handelnder Union kohärenter und effizienter gestaltet werdenkann. Sie unterstützt auch die vom Europäischen Parla-ment geforderte Anlehnung des EAD an die EU-Kom-mission, damit das Europäische Parlament seine Kon-trollrechte wahrnehmen kann. Wer die demokratischeLegitimation der Europäischen Union stärken will, mussauch den diplomatischen Dienst der Union so organisie-ren, dass die wirksame parlamentarische Kontrolledurch das Europäische Parlament gegeben ist. Die Ar-beiten zur Schaffung eines Europäischen AuswärtigenDienstes befinden sich in ihrer heißen Phase, aber Sorg-falt muss vor Eile gehen; denn es sind noch Fragen of-fen, die gelöst werden müssen. Hierzu gehören nebender Anbindung des EAD vor allem die Reichweite seinerKompetenzen und Instrumente, die Ausbildung undLaufbahnplanung, die Personalrekrutierung und Perso-nalfinanzierung sowie die Klärung der künftigen Bezie-hungen zwischen dem Auswärtigen Dienst der Europäi-Zu Protokollschen Union und den nationalen Botschaften derMitgliedstaaten. Es wäre wenig erfreulich, wenn natio-nale Botschaften und EAD-Vertretungen bei ihren Auf-gaben miteinander konkurrierten, anstatt sich zu ergän-zen. Für die Bundesrepublik Deutschland ist auch zugewährleisten, dass das nationale Personal nicht nuraus den auswärtigen Diensten gewonnen wird, sondernauf die Kompetenz auch der anderen Ressorts zurückge-griffen wird. Zudem geht es uns um Vermeidung vonDoppelstrukturen, um Zusammenlegung statt Zersplitte-rung von Fähigkeiten, sodass sämtliches Außenhandelnder EU in den angesprochenen Bereichen im EAD zu-sammengefasst ist. Aktuell befinden wir uns in der Ab-stimmung zu vielen offenen Detailfragen, wie die Anhö-rung am gestrigen Mittwoch gezeigt hat. Ich sage esnoch einmal: Sorgfalt muss vor Eile gehen! Wir solltenuns aber die Grundzüge und unsere Ansprüche an denEAD nochmals vor Augen führen, um uns nicht in denDetailfragen zu verlieren.Erstens: Zuständigkeitsbereich. Der EAD sollte soaufgebaut sein, dass der Hohe Vertreter seinen im Ver-trag festgelegten Auftrag in vollem Umfang erfüllenkann. Zur Gewährleistung der Kohärenz und einer bes-seren Abstimmung des auswärtigen Handelns der Unionsollte der EAD auch den Präsidenten des EuropäischenRates sowie den Präsidenten und die Mitglieder derKommission bei der Wahrnehmung ihrer jeweiligen Auf-gaben im Bereich der Außenbeziehungen unterstützenund eng mit den Mitgliedstaaten zusammenarbeiten.Zweitens: einheitliche Ressorts. Der EAD sollte sichaus einheitlichen geografischen und thematischen Res-sorts für alle Regionen und Länder zusammensetzen, dieunter der Aufsicht des Hohen Vertreters die gegenwärtigvon den zuständigen Diensten der Kommission und desRatssekretariats wahrgenommenen Aufgaben fortführenmüssen. Im EAD wird es zwar geografische Ressorts ge-ben, die sich aus allgemeiner außenpolitischer Sicht mitden Bewerberländern befassen, aber die Erweiterungwird in der Zuständigkeit der Kommission verbleiben.Für die Handels- und Entwicklungspolitik im Sinne desVertrags sollten weiterhin die betreffenden Mitgliederund Generaldirektionen der Kommission zuständig blei-ben, aber gemeinsam mit der Hohen Vertreterin die stra-tegischen Ziele bestimmen.Drittens: ESVP und Krisenbewältigungsstrukturen.Damit der Hohe Vertreter die Europäische Sicherheits-und Verteidigungspolitik, ESVP, leiten kann, sollten dieDirektion Krisenmanagement und Planung, CMPD, derStab für die Planung und Durchführung ziviler Opera-tionen, CPCC, und der Militärstab, EUMS, Teil desEAD sein, wobei die Besonderheiten dieser Strukturenzu berücksichtigen sind. Ihre jeweiligen Aufgaben, Ver-fahren und Einstellungsbedingungen sollten beibehaltenwerden. Das EU-Lagezentrum, SitCen, sollte in denEAD eingegliedert werden, aber so, dass das Lagezen-trum auch weiterhin andere relevante Dienstleistungenfür den Europäischen Rat, den Rat und die Kommissionerbringen kann. Diese Strukturen werden eine Einheitbilden, die der direkten Aufsicht und Verantwortung derHohen Vertreterin unterstellt ist. Die Ausarbeitung derMaßnahmen im Zusammenhang mit dem GASP-Haus-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3615
gegebene RedenRoderich Kiesewetter
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halt und dem Stabilitätsinstrument – Sondermaßnahmenund Interimsprogramme – sollte dem EAD übertragenwerden. Nur so kann die Hohe Vertreterin ihre Aufgabenim Bereich der Krisenbewältigung effektiv erfüllen.Beim Entscheidungsprozess wird sich gegenüber derderzeitigen Gestaltung nichts ändern, da der Rat, GASP,und die Kommission – Stabilitätsinstrument – auch wei-terhin die Beschlüsse fassen. Die technische Umsetzungdieser Instrumente sollte in den Händen der Kommis-sion liegen. Wichtig ist uns von der CDU/CSU, dass diezivilen und militärischen Instrumente der Krisenvor-sorge, also der Prävention, wie auch der Krisenbewälti-gung ganzheitlich betrachtet werden. Es handelt sich umeine „Werkzeugkiste“ im Sinne des modernen, erweiter-ten Begriffs der vernetzten Sicherheit. Deshalb lehnenwir den Vorschlag von Bündnis 90/Die Grünen ab, eineeigenständige Generaldirektion ausschließlich für zivileKrisenprävention zu schaffen. Das ist nur zusätzlicheBürokratie und widerspricht allen Anforderungen an einzeitgemäßes Krisenmanagement. Hier gehören zivileund militärische Verfahren und Fähigkeiten untrennbarzusammen. Mit einer „Militarisierung“ der europäi-schen Außenpolitik hat die Eingliederung der Arbeits-einheiten für Krisenprävention und Krisenbewältigungnichts zu tun. Wir haben auch bei der öffentlichen Anhö-rung zum EAD im Auswärtigen Ausschuss am 21. Aprilgesehen: Die „Militarisierungs-Experten“ haben keineSachargumente, sondern nur ein Schlagwort. Die Mili-tarisierung ist ein polemisches Schlagwort, die Praxissieht anders aus. In der Praxis braucht die EU die ganz-heitliche zivile und militärische Fähigkeit, Sicherheit zuschaffen, damit ein Konflikt durch Vermittlung ent-schärft werden kann, Stichwort „Werkzeugkiste“. Wennes nach den Militarisierungsexperten ginge, könnten wirnur zuschauen, statt einer Krise wirksam zu begegnen.Viertens: Rechtsstellung und Personalausstattung.Der EAD sollte einen Organisationsstatus haben, derseine einzigartige Rolle und Funktion im EU-System wi-derspiegelt und unterstützt. Der EAD sollte ein von derKommission und dem Ratssekretariat getrennter Diensteigener Art, „sui generis“, sein. Die notwendigen An-passungen der Haushaltsordnung, der Kommissionsver-ordnung über die Durchführungsbestimmungen zurHaushaltsordnung sowie des Beamtenstatuts sollten zü-gig umgesetzt werden. Der EAD wird sein Personal ausdrei Quellen beziehen: aus den Fachabteilungen des Ge-neralsekretariats des Rates und denen der Kommissionsowie aus den Mitgliedstaaten. Alle drei Kategorien die-ses Personals sollten gleichbehandelt werden, was auchbedeutet, dass sie für sämtliche Verwendungen untergleichwertigen Bedingungen in Betracht kommen. Da-mit haben sie dieselben Möglichkeiten, Rechte undPflichten – zum Beispiel Funktionen, Verantwortlichkei-ten, Beförderung, Dienstbezüge, Urlaub, Sozialleistun-gen – wie das Personal aus den beiden anderen Berei-chen. Gerade die Gleichbehandlung des aus dreiQuellen stammenden Personals ist das Grundprinzipder Einstellungs- und Personalpolitik des EAD. DieHohe Vertreterin allein nimmt die Funktion der Anstel-lungsbehörde für das EAD-Personal einschließlich derEU-Delegationen wahr. Auch für die Aufbauphase sollteein Einstellungsverfahren vorgesehen werden, an demZu Protokolldie Mitgliedstaaten, die Kommission und das General-sekretariat des Rates beteiligt werden. Dies schafft dienötige Transparenz. Es ist uns wichtig, darauf hinzuwei-sen, wie bedeutsam die geografische Streuung bei derHerkunft des EAD-Personals und auch der Grundsatzder adäquaten Präsenz von Staatsangehörigen aus allenEU-Mitgliedstaaten im EAD sind. Zumindest ein Dritteldes Personals des EAD soll, sobald der EAD seinen vol-len Umfang erreicht hat, aus Bediensteten aus den Mit-gliedstaaten bestehen. Darüber hinaus sollte, soweitmöglich, Mobilität zwischen dem EAD und der Kommis-sion sowie dem Generalsekretariat des Rates hinsicht-lich des Personals aus diesen Organen gewährleistetwerden. Gerade der personelle Austausch zwischen na-tionalen auswärtigen Diensten und dem EAD erhöht dieExpertise und schafft ein besseres Verständnis für euro-päisches und nationales Handeln. Ich sehe eine wirkli-che Chance, dass ein europäischer „Esprit de Corps“die europäischen Diplomaten inspiriert und motiviert.Fünftens: zu entscheidende Fragen. A) Grundsatzfra-gen. Die EAD ist eine Institution „sui generis“, derenStrukturen auf ihre Rolle zugeschnitten sind und vonKommission und Rat und auch von den Mitgliedstaatennicht dupliziert werden sollen. B) Beteiligung des Euro-päischen Parlaments. Wir brauchen die parlamentari-sche Haushaltskontrolle und zusätzlich die besonderenim Rahmen der GASP vorgesehene Anhörung – Art. 36EUV – bei einzelnen strategischen Entscheidungen. C)Vertretung der Hohen Vertreterin. Offen ist, ob die HoheVertreterin durch einen Generalsekretär – so Ashton-Entwurf – oder durch als Sonderbeauftragte ernanntepolitische Repräsentanten – so EP – vertreten werdensoll, insbesondere gegenüber dem EP und Drittstaaten.Wichtig ist, dass die Vertretung im Sinne einer starkenund handlungsfähigen HV erfolgt und trotzdem ad-äquate Ansprechpartner für Parlament, Rat und Kom-mission gefunden werden. Hier fordern wir pragmati-sche, vor allem effiziente Lösungen. Derzeit können wiruns nur eine politische Stellvertretung vorstellen. Diessollte nicht der Generalsekretär sein, dies würde dieStellung der Hohen Vertreterin eher schwächen. D) Auf-gabenumfang. Der EAD sollte aus einheitlichen geogra-fischen und thematischen Referaten bestehen, die diezurzeit von der Kommission und vom Ratssekretariatdurchgeführten Aufgaben übernehmen: Hier gilt es, be-reits auf der Dezernats- und Abteilungsebene zivile undmilitärische Fähigkeiten zu vernetzen. Die Organisa-tionselemente für Krisenprävention und Krisenmanage-ment dürfen somit nicht von den Strukturen des EAD ge-trennt sein, sondern müssen im EAD auf Arbeitsebenezusammengeführt werden. Dies ist unsere feste Überzeu-gung. E) Programmierung. Fraglich ist die Rolle, dieder EAD bei der Programmierung des EuropäischenEntwicklungsfonds und des Instrumentes für die Ent-wicklungszusammenarbeit sowie für die Nachbar-schafts- und Partnerschaftspolitik spielen soll. Je inte-grativer, umso besser. F) Personalauswahl. DieMitgliedstaaten sind auf allen Ebenen des EAD ange-messen zu berücksichtigen. Die ganzheitliche Zusam-menarbeit zwischen geografischen und thematischenRessorts im EAD ist uns wichtig. Gleichzeitig gilt es, einspezielles Augenmerk auf die besonderen Bedingungen
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3616 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
gegebene RedenRoderich Kiesewetter
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für die Einbeziehung der Europäischen Sicherheits- undVerteidigungspolitik, ESVP, und der Krisenbewälti-gungsstrukturen in den EAD zu richten. Es darf nicht zuDoppelarbeit zwischen der Kommission, dem General-sekretariat des Rates und dem EAD kommen.Ich fasse für die CDU/CSU zusammen: Der EADmuss nahe der Kommission angesiedelt sein, um die par-lamentarische Kontrolle durch das Europäische Parla-ment zu gewährleisten. Doppelstrukturen sind aus Effi-zienz- und Kostengründen zwingend zu vermeiden. ImSinne des erweiterten, vernetzten Sicherheitsbegriffssind bereits auf Arbeitsebene die zivilen und militäri-schen Krisenvorsorge- und Krisenbewältigungsmecha-nismen zusammenzufassen, also: „eine Werkzeugkiste“.Die Vertretung der HV in Angelegenheiten des EAD istpragmatisch und wirkungsvoll zu gestalten, es solltenpolitische Vertreter in ausreichender Anzahl sein, dieauch von den nationalen Parlamenten und Drittpart-nern, wie beispielsweise dem Golfkooperationsrat, ak-zeptiert werden. Unser deutsches Personal sollte direktentsandt werden. Es sollte die gleichen Rechte undPflichten haben wie die originären Beamten der EU. DieCDU/CSU-Bundestagsfraktion wird die Bildung des Eu-ropäischen Auswärtigen Dienstes und sein Aufwachsenaufmerksam und konstruktiv begleiten. Die EuropäischeUnion garantiert den Menschen in Europa seit ihrerGründung Frieden und Wohlstand. Die Union baut aufDemokratie, Menschenrechte und die Grundsätze dersozialen Marktwirtschaft. Weltweit können wir dieseWerte nur verteidigen und verbreiten, wenn die StaatenEuropas nach außen als echte Union auftreten. EuropasDiplomaten werden für 500 Millionen Bürger Europassprechen. Sie werden unsere Werte und Ziele weltweitvertreten. 76 Prozent der Deutschen sagen, dass Europaeine positive Rolle in der Welt spielt. Wie alle diese Men-schen wollen wir, die CDU/CSU-Bundestagsfraktion,dass der Europäische Auswärtige Dienst die starkeStimme Europas in der Welt wird.
Mit dem Vertrag von Lissabon, auf den wir lange hin-gearbeitet haben, wurde eine neue Ära in der Gemeinsa-men Außen- und Sicherheitspolitik der EuropäischenUnion eingeläutet. Wir haben mit diesem Vertrag end-lich die Möglichkeit zu einem kohärenten auswärtigenHandeln der Europäischen Union.Diese Möglichkeit spiegelt sich in erster Linie in derFunktion des neu geschaffenen Amtes des Hohen Vertre-ters bzw. der Hohen Vertreterin der Union für die Au-ßen- und Sicherheitspolitik wider – der Britin CatherineAshton. Nach dem Vertrag ist es die Aufgabe der HohenVertreterin, Sorge für ein einheitliches, kohärentes undwirksames Vorgehen der Union im Bereich der Gemein-samen Außen- und Sicherheitspolitik zu tragen. LadyAshton ist damit das maßgebende außen- und sicher-heitspolitische Gesicht Europas in der Welt.In Anbetracht der Bedeutung dieser Funktion ist esunerlässlich, dass Lady Ashton die maximal möglicheUnterstützung bei der Erfüllung ihrer Aufgaben zu-kommt. Ich begrüße daher ausdrücklich die eindeutigeZu ProtokollPositionierung der Bundesregierung und insbesonderedes Bundesaußenministers, der Lady Ashton wiederholtöffentlich sein Vertrauen zugesagt und um Unterstüt-zung für sie geworben hat. Ich verweise hier nicht zuletztauf seinen Besuch im Ausschuss für die Angelegenheitender Europäischen Union.Um diesen bedeutsamen Auftrag auch organisato-risch und personell bewerkstelligen zu können, sieht derVertrag die Einrichtung eines Europäischen Auswärti-gen Dienstes, EAD, vor, auf den sich die Hohe Vertreterinbei ihrer Aufgabenerfüllung stützt. Da die Organisationund Arbeitsweise des EAD nicht durch den Vertragselbst, sondern durch einen Ratsbeschluss näher be-stimmt wird, kommt diesem eine wegweisende Bedeutungbeim Aufbau der einheitlichen, kohärenten und wirksa-men europäischen Außen- und Sicherheitspolitik zu. Hierwill gut Ding Weile haben, denn die Einrichtung einessolch bedeutenden Dienstes zieht enorm viele Detailfra-gen nach sich und birgt ein nicht zu unterschätzendesKonfliktpotenzial. Es gilt, die vielen verschiedenen Inte-ressen von Mitgliedstaaten, Rat, EU-Kommission undEU-Parlament miteinander in Einklang zu bringen unddabei dennoch eine starke Einrichtung zu schaffen.Orientierungsmaßstab für die institutionelle Einbin-dung des EAD muss dabei der Auftrag der Hohen Vertre-terin sein; denn diese soll der Dienst letztlich stützen.Dies zugrundegelegt, muss der EAD organisatorisch un-abhängig von der Kommission und dem Ratssekretariatsein. Gleichwohl darf dies nicht zu einer vollständigenKontrolllosigkeit des EAD führen. Um eine hinreichendedemokratische Legitimation sicherstellen zu können,muss er vielmehr zwingend einer gewissen Kontrolledurch das Europäische Parlament und auch durch denRat unterliegen. Eine Kontrolle durch den Rat sichertletztlich auch einen Einfluss der nationalen Parlamente.Hierauf müssen wir dringend achten, denn es geht da-rum, die gerade erst mit dem Vertrag von Lissabon ein-geräumten Rechte der nationalen Parlamente und desEuropäischen Parlaments nicht sofort wieder zu be-schneiden. Wenn wir dabei nicht auf der Hut sind, be-weisen wir, dass wir aus dem Urteil des Bundesverfas-sungsgerichts nichts gelernt haben.Des Weiteren muss vor der Arbeitsaufnahme des EADeindeutig geklärt sein, wer bzw. welche Institution zu-gunsten des EAD welche Kompetenzen und Aufgabenabgibt. Dies ist eine besonders schwierige Herausforde-rung; denn freiwillig gibt so schnell keine Institutionihre Kompetenzen ab. Genau das ist jedoch zur Vermei-dung unnötiger Doppelstrukturen und überflüssiger Bü-rokratie zwingend notwendig.Dies sage ich nicht nur an die Adresse der Kommis-sion gerichtet, sondern bewusst auch mit Blick auf dieMitgliedstaaten. Es macht aus meiner Sicht wenig Sinn,wenn wir zu den nationalen diplomatischen Dienstennoch einen europäischen hinzubekommen. Hier müssenwir die sich bietenden Synergieeffekte unbedingt nutzen.Alles andere lässt sich auch den Bürgerinnen und Bür-gern nicht glaubhaft vermitteln. Wenn wir ernsthaft vonBürokratieabbau sprechen, müssen wir ihn auch ernst-haft betreiben. So ist vor diesem Hintergrund beispiels-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3617
gegebene RedenKarl Holmeier
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weise fraglich, ob jeder Mitgliedstaat mehrere konsula-rische Vertretungen in anderen Staaten haben muss oderob es nicht effizienter wäre, sich hier teilweise auf denEAD zu stützen.In diesem Zusammenhang stellt sich dann natürlichdie Aufgabe, dafür Sorge zu tragen, dass das Personalfür den EAD aus den unterschiedlichen Institutionenund den verschiedenen Mitgliedstaaten gleich behandeltund eingesetzt wird. Es müssen sich also sowohl dieKommission wie auch der Rat und die einzelnen Mit-gliedstaaten personell angemessen im EAD vertreten se-hen.Vor dem Hintergrund der sprachlichen Vielfalt Euro-pas ist es für eine hinreichende Legitimation des EADund dessen Akzeptanz in der Bevölkerung auch dringenderforderlich, dass jeder Bürger in seiner Muttersprachemit Vertretern des EAD in Kontakt treten kann. Eine an-gemessene Vertretung der Interessen aller Unionsbürgernach außen ist anders nicht möglich. Zudem muss sichbei der Einrichtung des EAD endlich niederschlagen,dass Deutsch die meistgesprochene Muttersprache inder Europäischen Union ist. Ihr muss daher eine heraus-gehobene Stellung eingeräumt werden. Es kann nichtsein, dass verschiedene Dokumente nur in Englisch oderFranzösisch verfügbar sind, sondern hier brauchen wireine angemessene Berücksichtigung der deutschenSprache.Der EAD ist ein Dienst zur Wahrnehmung nicht nurvon außen-, sondern eben auch von sicherheitspoliti-schen Aufgaben. In ihm werden daher zivile aber auchmilitärische Aspekte gleichermaßen eine wichtige Rolleeinnehmen. Wenn es tatsächlich unser Ziel ist, einenstarken Auswärtigen Dienst zu etablieren, mit dem wireinheitlich und geschlossen in der Welt auftreten kön-nen, dürfen wir uns nicht auf den einen oder anderen Be-reich versteifen. Wir müssen die zivilen und militäri-schen Bereiche miteinander vernetzen. Wir dürfen unsauch nicht nur auf Krisenprävention konzentrieren, wieim Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen gefor-dert, sondern wir brauchen einen weiten Aktionsradius,der sowohl präventive Maßnahmen wie auch Maßnah-men zur aktiven Krisenbewältigung umfasst.Europa steht mit der Einrichtung des EAD vor einerbedeutenden Herausforderung. Die Pflöcke, die mit derEinrichtung dieses Dienstes eingeschlagen werden, sindeine entscheidende Weichenstellung für die Zukunft derEuropäischen Union, ihrer Institutionen und der Mit-gliedstaaten. Der Deutsche Bundestag hat die schwie-rige Aufgabe, im Hinblick auf den Ratsbeschluss sowohlseine eigenen Interessen und Einflussmöglichkeiten si-cherzustellen wie auch eine verantwortungsvolle Ent-scheidung zur Etablierung eines starken EuropäischenAuswärtigen Dienstes zu treffen. Wir werden daher inden kommende Wochen genau hinsehen und den Prozesszum Aufbau des EAD aktiv begleiten.
Mit dem Vertrag von Lissabon und der Berufung vonLady Catherine Ashton in das neue Amt der Hohen Ver-treterin hat die Europäische Union zwei weitere wich-Zu Protokolltige Schritte auf dem Weg zu einer Gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik, GASP, getan. Um jetzt ein nochgrößeres Maß an Kohärenz zu erlangen, wird es ent-scheidend sein, ob es der EU bald gelingen wird, den imLissabon-Vertrag vorgesehenen Europäischen Auswär-tigen Dienst – kurz EAD – als einen effizienten, unab-hängigen und loyalen Dienst der Hohen Repräsentantinan die Seite zu stellen. Denn je länger sich der momen-tan vorherrschende Eindruck festsetzen wird, dass dieEinrichtung des EAD eher einem Gezerre zwischenKommission, Rat und Mitgliedstaaten um Macht, Ein-fluss und Posten gleicht, desto größer wird die Gefahr,dass sich die EU weiter in einer aus globaler Sicht au-ßenpolitisch irrelevanten Wahrnehmung verlieren wird.Gerade jetzt ist also politische Führung in der EU ge-fragt. Gerade jetzt bedarf es EU-Mitgliedstaaten, diedem kleinkarierten Streit ihre eigenen, ambitioniertenVorschläge entgegensetzen. Das wäre die Chance fürDeutschland, sich wieder als Motor der europäischenIntegration zu bewähren. Doch das, was wir bisher vonder derzeitigen Bundesregierung in der Frage des EADzur Kenntnis nehmen durften, ist eine einzige große Ent-täuschung. Lediglich eine konkrete Initiative gibt es zuvermelden: Der Bundesaußenminister ließ in einemBrief an Lady Ashton keinen Zweifel aufkommen, dassihm die angemessene Verwendung der deutschen Spra-che im zukünftigen EAD sehr am Herzen liegt. Es sprichtBände, dass man jedoch über die – zugegebenermaßennicht unwichtige – Sprachenfrage hinaus in den bisheri-gen öffentlichen Beiträgen von Herrn Westerwelle keineweiteren ambitionierten Vorschläge für den EAD ver-nehmen konnte.Natürlich hat sich der Bundesaußenminister auch zuvielen Verfahrensfragen geäußert und seine Unterstüt-zung für Lady Ashton beteuert. Aber wo bleibt ihr An-spruch, Herr Westerwelle, sich bei diesem wegweisen-den Projekt um den viel gerühmten großen Wurf zubemühen? Wie sehen Ihre konkreten Vorschläge füreinen EAD aus, der die EU und deren Hohe Repräsen-tantin in die Lage versetzt, dem großen Ziel einer kohä-renten Außenpolitik näherzukommen? Für eine EU, diezunehmend mit einer Stimme spricht, wenn es um diegroßen globalen Herausforderungen wie Klimawandel,Armut, Hunger, Unterdrückung, Terrorismus oder Ver-breitung von Massenvernichtungswaffen geht? HerrBundesaußenminister, Sie reden gerne von einer ge-meinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitikaus einem Guss. Doch wann werden Sie endlich kon-kret?Jetzt wäre die Zeit, eine politische Debatte zu führenfür einen EAD, der so gut strukturiert und mit den bestenMitarbeitern aus Kommission, Rat und den Diplomati-schen Corps der Mitgliedstaaten ausgerüstet ist, dass erder Hohen Vertreterin nicht nur in der EU, sondern ge-rade in der Welt sichtbar den Rücken stärkt. Jetzt undnur jetzt finden wir Rahmenbedingen vor, die gerade da-nach rufen, in der GASP einen großen Schritt voranzu-gehen. Jetzt haben wir endlich die Administration in denUSA, die wir uns so lange gewünscht haben: offen fürmultilaterale Ansätze, bereit zur Kooperation mit denEuropäern, ambitioniert in Fragen der Rüstungskon-
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3618 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
gegebene RedenDietmar Nietan
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trolle und Sicherheitspolitik. Die NATO arbeitet anneuer Strategie, in der auch die EU Mitgliedstaaten in-nerhalb des Bündnisses eine größere Rolle spielen könn-ten. Der russische Präsident Medwedjew zeigt großesInteresse an neuen Initiativen für ein gemeinsamesEuropa der Stabilität, Sicherheit und Kooperation. Miteinem ambitionierten und loyalen EAD an ihrer Seitekönnte die Hohe Vertreterin Lady Ashton mit und für dieEU eine wichtige Rolle spielen, wenn es darum geht, diegroße Chance zu nutzen, die EU zu einem wichtigen Ak-teur in einem gemeinsamen Agieren mit den USA undder Russischen Föderation zu entwickeln. Das Fenstereiner solchen einmaligen Gelegenheit wird sich mögli-cherweise bald wieder schließen, wenn wir uns in derEU weiter mit uns selbst beschäftigen, anstatt die Gele-genheit beim Schopfe zu packen, die europäische Zu-kunft zu gestalten.Vor ein paar Tagen bin ich von politischen Gesprä-chen mit unseren amerikanischen Freunden aus denUSA zurückgekehrt. Sie alle haben mich gefragt, wasmit der EU los sei? Viele fragten mich, ob die Bundes-kanzlerin zu einer EU-Skeptikerin geworden sei? Unddiejenigen von ihnen, die uns durchaus freundlich ge-sonnen sind, erklärten mitleidig, dass sie ja Verständnisdafür hätten, dass wir in der EU noch nicht so weitseien. Was für ein verheerendes Bild, wenn man bedenkt,dass US-Außenministerin Clinton vor einigen WochenEuropa sogar eine direkte Partnerschaft mit den USA insicherheitspolitischen Fragen angeboten hat.Mir scheint, dass nicht nur die Bundesregierung, son-dern auch viele andere EU-Mitgliedstaaten bei ihrem in-nereuropäischen Geplänkel um ihren Einfluss auf denEAD völlig übersehen, dass die Welt nicht darauf wartet,bis sich die EU in der Lage sieht, mit einem effizientenEAD eine kohärente Außenpolitik zu betreiben. In dieserSituation ist es schon bitter, zu sehen, dass es ausgerech-net der Bundesregierung an ambitionierten, aber reali-sierbaren Konzepten fehlt, wie Europa als globaler Ak-teur aussehen soll und welche positiv verstärkende Rolledabei ein gut aufgestellter EAD spielen könnte. Wo istDeutschlands Vorschlag, den Doppelschlüssel bei derProgrammierung der EU-Instrumente so zu gestalten,dass das letzte Wort immer beim EAD und der HohenVertreterin bleibt, wenn sich diese nicht mit dem zustän-digen Kommissar auf gemeinsame Programmziele eini-gen kann? Wo ist Deutschlands Konzept für eine Perso-nalrekrutierungsstrategie, die aus Kommission, Rat undMitgliedstaaten die wirklich besten Kräfte in den EADbringt? Wir hoffen im Übrigen sehr, dass die Bundes-regierung hier mit gutem Beispiel vorangehen wird.Schicken Sie unsere besten Diplomatinnen und Diplo-maten in den EAD!Wie sieht die Initiative der Bundesregierung aus, umeinen vernünftigen Kompromiss in der Debatte über denPersonalschlüssel der aus Kommission, Rat und Mit-gliedstaaten zu entsendenden Mitarbeiter des EAD zuerwirken? Sollten wir nicht das große Potenzial derKommission und ihrer Generaldirektionen effektivernutzen, ohne dabei den Anspruch aufzugeben, dass derEAD nicht lediglich zum verlängerten Arm der Kommis-sion werden darf? Warum unterstützen BundesregierungZu Protokollund CDU/CSU-Bundestagsfraktion nicht den guten Vor-schlag für politisch legitimierte Stellvertreter der HohenVertreterin im EAD, den ihr Parteifreund Elmar Brokgemeinsam mit dem früheren belgischen Ministerpräsi-denten Guy Verhofstadt vorgelegt hat? Mit unseremdeutschen Modell von Staatsministern und Staatssekre-tären könnten sie doch auf eine erfolgreiche Alternativeverweisen.Auf all diese Fragen wünschen sich viele Kolleginnenund Kollegen in diesem Hause und auch ich substan-zielle Antworten. Wahrscheinlich könnten wir zu all die-sen Fragen sogar ein weitgehendes Einvernehmen zwi-schen den Regierungsfraktionen und den Fraktionen vonBündnis 90/Die Grünen und SPD herstellen. Doch wieschon in der Frage des Beitritts von Island zur EU nutztdie Bundesregierung die Möglichkeiten der Beteiligungdes Bundestages nur taktisch und nicht im Sinne einesgestärkten gemeinsamen Agierens von Parlament undRegierung. Auch dies ist wieder eine große Chance, dieSie, Frau Bundeskanzlerin und Herr Bundesaußen-minister, unnötig vergeben haben.Lassen Sie mich zum Abschluss noch einmal betonen:Mir geht es mitnichten darum, die bisherigen Entwick-lungen im EAD schlechtzureden, ganz im Gegenteil.Noch nie hatten wir bessere Rahmenbedingungen füreine tiefgreifende Fortentwicklung der GemeinsamenAußen- und Sicherheitspolitik der EU: Wir haben denVertrag von Lissabon und das Amt einer Hohen Vertrete-rin für europäische Außenpolitik ins Leben gerufen. Inden USA und in Russland gibt es den ernstgemeintenWunsch nach stärkerer Kooperation mit den Europäern.Und wir alle wissen, dass dem nicht immer so war. Einambitionierter, gut strukturierter EAD, der der HohenVertreterin loyal zuarbeitet und mit einer hohen politi-schen Legitimation – auch aus dem Europäischen Par-lament – ausgestattet ist, würde angesichts dieserRahmenbedingungen sehr viel erreichen können. Dochdafür bedarf es politischer Führung und politischenMuts. Beides scheint in dieser Bundesregierung jedochnicht vorhanden zu sein. Beides würde ich dieser Bun-desregierung allerdings von Herzen wünschen, weil esgut wäre für Europa und deshalb auch gut für unserLand.
Die Einrichtung des Europäischen AuswärtigenDienstes unter der Leitung der Hohen Vertreterin für dieAußen- und Sicherheitspolitik bedeutet ein neues Kapitelin der gemeinsamen europäischen Außen- und Sicher-heitspolitik. Die FDP-Bundestagsfraktion will eine ef-fiziente und kohärente Koordinierung der Politikfelderder europäischen Außen-, Entwicklungs- und Verteidi-gungspolitik. Die Einrichtung des EAD als neues außen-politisches Instrument stellt hierfür eine einzigartigeChance dar, die wir nicht verstreichen lassen dürfen.Die Europäische Union soll, wo immer möglich, mit ei-ner Stimme in der Welt sprechen können. Die FDP-Bun-destagsfraktion steht für einen starken und schlagkräfti-gen EAD, der die Interessen der EU nach außenbestmöglich vertreten kann. Lady Ashton hat daher un-sere volle Unterstützung.
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gegebene RedenOliver Luksic
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Der Europäische Auswärtige Dienst stellt jedoch auf-grund seiner Stellung im europäischen politischen Ko-ordinatensystem und der Einbeziehung verschiedenerElemente und Aufgabenfelder eine Institution sui gene-ris dar. Schon jetzt kann man sagen, dass es für die Zu-kunft unvermeidbar sein wird, ihn einer ständigen Adap-tion und Weiterentwicklung unterziehen zu müssen,beispielsweise angesichts zukünftiger eventueller Neu-zuschnitte der Generaldirektionen der EuropäischenKommission.Lassen Sie mich, bevor ich mich mit dem nun vorlie-genden Entwurf der Hohen Vertreterin im Einzelnen be-fasse, kurz vorwegschicken, dass die FDP-Bundestags-fraktion es außerordentlich begrüßt, dass die HoheVertreterin der Bitte des Bundesaußenministers nachge-kommen ist und klargestellt hat, dass die deutsche Spra-che für die Personalauswahl und das Verfassen von Do-kumenten des EAD von großer Bedeutung sein wird.Dies war ein besonderes Anliegen der Bundesregierung,und die FDP-Bundestagsfraktion bedankt sich aus-drücklich bei Herrn Minister Dr. Westerwelle für dessenrichtige und wichtige Initiative. Deutschland soll jedochnicht nur sprachlich, sondern auch personell im EADeine Rolle spielen. Angesichts der nach dem vorliegen-den Entwurf hohen Zahlen der Beamten aus der Euro-päischen Kommission als auch des Ratssekretariats imEAD stellt sich für mich die Frage, wie die Bundesregie-rung wird sicherstellen können, dass Deutschland inausreichendem Maße im EAD repräsentiert sein wird.Dies ist aus der Sicht der FDP-Bundestagsfraktion einzentraler Punkt bei den kommenden Verhandlungen.Es ist angesichts des komplexen Aufbaus des EADsehr erfreulich, dass die Hohe Vertreterin bereits EndeMärz ihren Vorschlag unterbreitet und diesen nun durcheinen weiteren Annex ergänzt hat. Diese Dokumentekönnen nun als konkrete Grundlage für die weitere Dis-kussion dienen. Der Entwurf der Hohen Vertreterinzeichnet sich durch das Bemühen aus, im Sinne eines In-teressenausgleichs möglichst viele der gemachten Vor-schläge und Anregungen seitens der verschiedenenAkteure zu einem kohärenten Gesamtbild zusammenzu-fassen. Dies gilt sowohl für die personelle Struktur alsauch für die sachlichen Kompetenzen des EAD.Meines Erachtens kommt es bei den nun folgendenDebatten entscheidend darauf an, sicherzustellen, dassder Europäische Auswärtige Dienst handlungsfähig ist.Dazu müssen insbesondere seine Kompetenzen undseine Stellung im EU-Koordinatensystem klar vereinbartwerden. Nur so wird er die mit seiner Errichtung ver-bundenen Erwartungen erfüllen können. Insbesonderesollten die mit seiner Schaffung möglichen und auch be-absichtigten Synergieeffekte umfassend genutzt werden.Insbesondere sollte vermieden werden, bereits verge-meinschaftete Politiken in den Bereich der zwischen-staatlichen Zusammenarbeit im Rahmen der GASPzurückzuführen. Daneben spricht sich die FDP-Bundes-tagsfraktion für eine flexible Ausübung konsularischerTätigkeiten für EU-Bürger, insbesondere was die Schaf-fung gemeinsamer Visastellen angeht, aus. Es wird denBürgern nicht zu vermitteln sein, falls sie sich angesichtseines immer enger zusammenwachsenden Europas inZu Protokollkonsularischen Angelegenheiten nicht an die EU-Dele-gationen wenden könnten. Hier sollten manche Mit-gliedstaaten europäischer denken und handeln.Daneben darf es auf keinen Fall dazu kommen, dassder EAD durch ein Übermaß an Doppelstrukturen zwi-schen den Institutionen in Brüssel in seiner Handlungs-fähigkeit gelähmt wird. Eine realistische Einschätzunggebietet zwar festzustellen, dass sich Doppelstrukturenaufgrund der sogenannten Doppelhut-Funktion der Ho-hen Vertreterin nicht vollständig vermeiden werden las-sen. Allerdings müssen diese auf ein absolut notwendi-ges Minimum begrenzt bleiben und dürfen nicht diedurch den Vertrag von Lissabon beabsichtigten Syner-gieeffekte für die europäische Außen- und Sicherheits-politik zunichtemachen. Die vorgeschlagene Doppel-schlüsselregelung für die Zusammenarbeit zwischen derHohen Vertreterin und den Generaldirektionen Außen-beziehungen und Erweiterung gehen hier in die richtigeRichtung. Die FDP-Bundestagsfraktion wird sich in denweiteren Beratungen mit der Europäischen Kommissionund dem Europäischen Parlament nachdrücklich fürsolche effektive Regelungen einsetzen.Ich komme nun zu einigen Punkten des Entwurfs, diein der Diskussion von besonderer Bedeutung sind undzum großen Teil auch über Fraktionsgrenzen hinweg kri-tisch gesehen werden.Zuallererst muss natürlich die Finanzierung des EADabschließend geklärt werden. Der Entwurf schweigt sichhierüber leider weitgehend aus. Hier gibt es noch Klä-rungsbedarf, wie die für den EAD notwendigen finan-ziellen Mittel bereitgestellt werden sollen.Bezüglich der personellen Struktur des EAD sehenauch wir insbesondere die Frage nach der politischenVertretung von Lady Ashton. Nach Ansicht der FDP-Bundestagsfraktion ist eine politische Stellvertretungder Hohen Vertreterin insbesondere gegenüber dem Eu-ropäischen Parlament und Regierungsmitgliedern erfor-derlich. Hier ist momentan noch viel im Fluss und unge-klärt. Je nachdem, aus welchem Kreis die Vertreterbenannt werden sollen, stellt sich hier aus meiner Sichtjedenfalls generell die Frage nach der politischen Legi-timation. Natürlich bedarf die Hohe Vertreterin bei derErfüllung ihrer umfangreichen Aufgaben der Unterstüt-zung aus ihrem Stab. Allerdings muss hierbei beachtetwerden, dass sich hierdurch die kompetenzrechtlichenKoordinaten nicht zu weit verschieben. Der FDP-Bun-destagsfraktion ist es ein wichtiges Anliegen, dass Baro-ness Ashton die zentrale Figur für die Führung des EADund das Bild einer kohärenten gemeinsamen Außenpoli-tik ist und auch bleibt.Für dieses Ziel stellt sich auch zentral die Frage nacheinem von der Hohen Vertreterin ausgehenden einheitli-chen Weisungsstrang. Dies gilt sowohl für die politischeArbeit in Brüssel als auch gegenüber den in den EU-De-legationen tätigen Beamten der Europäischen Kommis-sion. Die FDP-Bundestagsfraktion sieht das durch denEntwurf vorgesehene geteilte Weisungsrecht für die EU-Delegationen äußerst kritisch. Unseres Erachtens ist esfür eine kohärente Außenpolitik unerlässlich, dass dieWeisungsstränge des EAD eindeutig verlaufen. Alle Wei-
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3620 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
gegebene RedenOliver Luksic
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sungen, auch solche, die zunächst in den Generaldirek-tionen der Europäischen Kommission in Bereichen derGemeinschaftszuständigkeit entworfen werden, müssendurch den EAD bzw. die Hohe Vertreterin an die EU-De-legationen erteilt werden.Ein besonders wichtiger Punkt für die Kollegen ausdem Europäischen Parlament, aber auch für uns hier istnaturgemäß die Frage nach der parlamentarischenKontrolle des EAD. Auch hier liest sich der Entwurf ausmeiner Sicht eher vage. Ich halte es für außerordentlichwichtig, dass hier eine vernünftige Balance zwischenparlamentarischem Kontrollrecht einerseits und derFunktionsfähigkeit des EAD andererseits gefunden wird.Es ist beispielsweise richtig und notwendig, dass dasEuropäische Parlament auch über das Mittel der Haus-haltskontrolle die Verwendung der finanziellen Mittelfür und durch den EAD überwachen kann. Natürlichsteht die Hohe Vertreterin als Mitglied der EuropäischenKommission dem Europäischen Parlament gegenüber inRechenschaftspflicht. Allerdings darf es nicht zu einer zustarken Detailkontrolle kommen, die zu einer Behinde-rung des EAD in seiner täglichen Arbeit führt. Ich freuemich daher, dass das Europäische Parlament, beispiels-weise was die Frage nach der Ernennung von Delega-tionsleitern angeht, mittlerweile auf die Hohe Vertrete-rin zugekommen ist und anstatt des ursprünglichgeforderten Zustimmungserfordernisses nun die Leiterder EU-Delegationen nach Amtsantritt zu einer Anhö-rung in das Europäische Parlament einladen möchte.Für die Bereiche der Gemeinsamen Außen- und Sicher-heitspolitik, GASP, und der Europäischen Sicherheits-und Verteidigungspolitik, ESVP, also die nicht verge-meinschafteten Aufgabenfelder der Hohen Vertreterin,steht dem Europäischen Parlament gemäß Art. 36 EUVnur ein Konsultationsrecht zu. Ich teile daher die Beden-ken einiger Abgeordneter des Europäischen Parlamentsbezüglich der Regelung, dass jene Teile des EAD, in de-nen die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspoli-tik geplant und ausgeführt wird, der Hohen Vertreterindirekt unterstellt sein sollen. Ich hielte es für besser,wenn auch diese Politikbereiche wie die übrigen Gene-raldirektionen in den Abstimmungsprozess einbezogenwerden würden. Wenn dies nicht der Fall sein sollte, binich der Meinung, dass auch der Bundestag hier seinerVerantwortung bei der Frage nach einer parlamentari-schen Kontrolle nachkommen sollte.Aus all diesen genannten Gründen glaube auch ichnicht, dass der vorgegebene Zeitplan einzuhalten seinwird. Es bedarf weiterer Beratungen, sowohl hier inBerlin als auch in Brüssel. Hier sollte man sich meinesErachtens aber nicht unter zeitlichen Druck setzen. Alleoffenen Fragen müssen ausführlich geklärt werden. DerZeitfaktor darf nicht wichtiger sein als die Qualität desErgebnisses.Einige der von mir genannten Punkte und Bedenkenfinden sich auch in dem vorliegenden Antrag der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen wieder. Die FDP-Bundes-tagsfraktion wird die kommenden Verhandlungen überden Aufbau des EAD weiterhin aufmerksam beobachtenund konstruktiv begleiten. Ich bin sicher, dass wir auchZu Protokollüber Fraktionsgrenzen hinweg uns über einige Punktewerden verständigen können.
Im Vertrag von Lissabon, Art. 27 Abs. 3 EUV, wurdedie Einrichtung des Europäischen Auswärtigen Diens-tes, EAD, vertraglich festgeschrieben, der den HohenVertreter für Außen- und Sicherheitspolitik bei der Ge-staltung und Umsetzung einer „kohärenten“ europäi-schen Außenpolitik unterstützen soll. Zwar spitzen sichseit der Amtsübernahme von Catherine Ashton als Ho-her Vertreterin weitgehend abgeschottet und unbeachtetvon der deutschen wie europäischen Öffentlichkeit dieKontroversen über den EAD zu. Der eng gesteckte Auf-bauzeitplan lässt sich daher nicht mehr einhalten. Den-noch nimmt der Dienst immer schärfere – und beunruhi-gen-de – Konturen an. Bei den Kontroversen geht esnicht nur um Rivalitäten zwischen EU-Institutionen.Diese spielen eine wichtige Rolle, doch geht es umGrundsätzlicheres: Zur Debatte steht – erstens – diepolitische Ausrichtung der EU-Außenpolitik. Zweitensgeht es um die entscheidende Frage der demokratischenKontrolle dieser zentralen EU-Behörde. Die Linke istder Ansicht – wie auch eine wachsende Zahl von europa-, sicherheits- und entwicklungspolitischen Expertinnenund Experten –, dass der Aufbau des EAD zu einer qua-litativ neuen Stufe der Militarisierung der EU-Außen-und Sicherheitspolitik führt. Wir sind zudem überzeugt,dass alle derzeitigen Pläne zum EAD als funktional un-abhängiger Einrichtung – als „Institution sui generis“ –dem Motiv folgen, wirksame demokratische Kontrollme-chanismen von vornherein auszuschließen. Die man-gelnde parlamentarische Kontrolle des EAD wurde auchvon den Berichterstattern des EP wiederholt kritisiert.Lassen Sie mich diese Punkte näher ausführen: Mit demAufbau des EAD verabschiedet sich die EU endgültigvom Selbstverständnis als „Zivilmacht“. Nach Jahrender eher schleichenden Militarisierung – zum Beispieldurch den Auf- und Ausbau militärischer Kriseninter-ventionskräfte wie den EU-Battle-Groups und der zu-nehmenden Entsendung bewaffneter Missionen im Rah-men von Peacekeeping-Einsätzen nach Kapitel VII derUN-Charta – bekennt sich die EU offen zum Militär als
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Bereits kurz nach dem Anschlägen vom 11. September2001 verlangten die USA von dem Monopolisten für dieAbwicklung von internationalen Finanztransaktionen,dem Unternehmen SWIFT, die Kontobewegungsdatenvon Millionen von Bürgerinnen und Bürgern herauszu-geben – ein unmittelbares Ergebnis von Bushs damali-gem Krieg gegen Terror. Der CIA bekam die Daten, undalles blieb zunächst geheim. Eingeschlossen waren auchÜberweisungen innerhalb der EU und Eilanweisungeninnerhalb Deutschlands. Nur um die Dimension zu ver-deutlichen: Über SWIFT werden täglich im Durch-schnitt fast 15 Millionen Transaktionen und Transfersmit einem Volumen von etwa 4,8 Billionen Euro abgewi-ckelt. Das SWIFT-Netzwerk in Belgien bündelt Überwei-sungsdaten von 9 000 Banken aus über 200 Ländern.Erst als dieser Vorgang 2006 herauskam und allenbewusst wurde, in welcher Dimension die Kontobewe-gungsdaten von 500 Millionen von Europäerinnen undEuropäern über Jahre an die USA abgeflossen waren,begann eine öffentliche Diskussion. Und der Aufschreiwar groß. Selbst die Kolleginnen und Kollegen der FDPerwachten damals aus einem bürgerrechtlichen Dorn-röschenschlaf – immerhin ging es ja um Bankdaten! Eswaren insbesondere grüne Anträge, mit denen die Befas-sung in diesem Parlament vorangebracht wurde. DieÖffentlichkeit war sich weitgehend einig, dass die statt-findenden SWIFT-Datentransfers an die USA rechtswid-rig waren und dass die Daten der Bürgerinnnen undBürger vor dem Zugriff der US-Geheimdienste geschütztwerden müssten, um die für den Umgang mit diesen In-formationen notwendigen Grundrechtsstandards zuwahren. Zunächst verlor sich die Empörung der Bürge-rinnen und Bürger angesichts des Wartens auf die Ent-scheidung der belgischen Datenschutzbehörde. Die EU-Innenminister, darunter der damalige deutsche Innen-minister Schäuble, ließen nicht locker. Sie wollten einAbkommen mit den USA aushandeln, mit dem der Zu-griff auf die Daten legalisiert werden könnte. Dabeiwurden nicht einmal ansatzweise die erforderlichenStandards zum Schutz dieser hochsensiblen Bankdatenerreicht. Das Europäische Parlament verweigerte des-halb im März 2010 zu Recht am Ende seine Zustimmung.Es war eine Sternstunde des Europaparlaments und derBeginn eines neuen Selbstbewusstseins, das deutlichüber den Fall SWIFT hinausstrahlt.Interessant ist der Rückblick auf das damalige Ver-halten der jetzigen Bundesregierung. In der Abstimmungam 28. November 2009 wurde sie ihrer Verantwortungnicht gerecht und enthielt sich bei der Abstimmung imEU-Ministerrat. Praktisch hat sie aber zugestimmt.Dies, obwohl es der FDP gelungen war, eine glasklareFormulierung in den Koalitionsvertrag aufzunehmen.Die FDP, allen voran die selbsternannte FreiheitsstatueWesterwelle, hatte jedoch nicht den Schneid, die Koali-tionskarte zu ziehen. Bundesinnenminister de Maizièreversemmelte seinen Einstand, zumindest für den Bereichder „öffentlichen Sicherheit“. Die selbsternannte Bür-gerrechtspartei FDP war hier schon kurz nach demRegierungsantritt bei ihrem ersten Belastungstest umge-fallen. Die Justizministerin setzte sich nicht durch, ihrParteivorsitzender schloss sich ihrer damals geäußertenKritik an SWIFT nicht an. Trotz aller Bekenntnisse fürmehr Datenschutz hatte die schwarz-gelbe Bundesregie-rung die massive Kritik aus dem EU-Parlament, demBundesrat sowie von Datenschützern und Bürgerrechts-organisationen in den Wind geschlagen. Wenn es IhnenErnst gewesen wäre mit mehr Datenschutz und Bürger-rechten, dann hätten Sie nicht unsinnigste Steuersenkun-gen durchgesetzt, sondern bei SWIFT die Koalitions-karte gezogen, liebe Kolleginnen und Kollegen der FDP.Dafür hat das Engagement aber nicht gereicht. Gut,dass die Bürgerrechte beim Europäischen Parlament soviel besser aufgehoben waren als bei der Bundesregie-rung.Wir stehen jetzt vor der Aushandlung eines neuenVerhandlungsmandats. Die SPD hat sich in den vergan-genen Jahren wahrlich nicht hervorgetan mit Vorstößenzum Schutz der Grundrechte im Feld der öffentlichenSicherheit. Jetzt – wir haben lange auf so etwas von Ih-nen gewartet – legen Sie einen Antrag vor, der grund-sätzlich Lob verdient. Die dort aufgezählten Standardsfassen den Stand der Datenschutzdiskussion gut zusam-men. Wir stellen uns klar gegen jegliche Bestrebungen,die hohen Datenschutzstandards aufzuweichen oder zuschwächen. Die Bundesregierung muss sich dafür ein-setzen, dass das kommende Mandat so bürgerrechts-freundlich als irgend möglich ausgestaltet wird. Es be-steht kein Zeitdruck, auch wenn einige darüber klagen,der Datenfluss an die USA sei gegenwärtig gestoppt.Das Bundeskriminalamt erklärte höchstselbst unlängst,es könne mit den Finanztransaktionsdaten nichts anfan-gen und halte deren Wert in der Terrorismusbekämpfungfür nicht maßgeblich. Wir werden natürlich auch in die-sem Verfahren sorgsam beobachten, ob in der Koalitionweitere bürgerrechtliche Rollen rückwärts drohen odersie gar Gefahr läuft, noch einmal umzukippen. Das sindwir den Bürgerinnen und Bürgern und dem Schutz ihrerDaten und schuldig.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/1407 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Wie ich sehe, sind
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Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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Sie auch damit einverstanden. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Wir kommen zum Tagesordnungspunkt 23:Beratung des Antrags der Abgeordneten CorneliaBehm, Undine Kurth , BärbelHöhn, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENSchaffung eines Naturwalderbes vorbereitenund Moratorium für die Privatisierung vonBundeswäldern erlassen– Drucksache 17/796 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitHaushaltsausschussIn der Tagesordnung wurde bereits ausgewiesen, dassdie Reden folgender Kolleginnen und Kollegen zu Pro-tokoll gegeben werden: Alois Gerig, Petra Crone,Dr. Christel Happach-Kasan, Sabine Stüber und CorneliaBehm.
Die Waldpolitik der CDU/CSU ist darauf ausgerich-
tet, den Wald in unserem Land zu erhalten, damit er auch
in Zukunft seine unterschiedlichen Aufgaben gut erfül-
len kann. Im Mittelpunkt unserer Waldpolitik stehen fol-
gende Ziele: Wir wollen erstens den Wald schützen, weil
er für das Klima, die Luftqualität, das Landschaftsbild
und die biologische Vielfalt überragende Bedeutung hat.
Zweitens treten wir dafür ein, dass sich die Menschen
am Wald erfreuen und den Wald zur Erholung nutzen
können. Drittens sind uns gute Rahmenbedingungen für
die Forstwirtschaft wichtig, weil Holz ein unverzichtba-
rer nachwachsender Rohstoff ist.
In einer Waldpolitik, die sich an diesen Zielen aus-
richtet, sind auch Naturwälder erwünscht. Naturwälder
sind dadurch gekennzeichnet, dass sie ihrer natürlichen
Entwicklung überlassen wurden und Eingriffe des Men-
schen weitgehend unterbleiben. So leisten Naturwälder
einen wichtigen Beitrag zum Artenschutz, weil sie sich
gut als Lebensraum für bedrohte Tier- und Pflanzen-
arten eignen. Zudem kann in einem Naturwald beobach-
tet werden, wie sich der Wald ohne direkte Eingriffe des
Menschen entwickelt. Aus diesen Beobachtungen lassen
sich wichtige Erkenntnisse für eine zukünftige Waldbe-
wirtschaftung gewinnen.
Die Große Koalition hatte 2007 das Ziel formuliert,
dass rund 5 Prozent der Waldflächen in Deutschland bis
2020 in Naturwald umgewandelt werden sollen. In dem
zur Debatte stehenden Antrag fordert die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen die Bundesregierung auf, eine
Reihe konkreter Maßnahmen umzusetzen, um dieses Ziel
zu erreichen.
Aus meiner Sicht ist es nicht sinnvoll, diesem Antrag
zuzustimmen. Um Wälder aus der Nutzung zu nehmen
und in Naturwälder umzuwandeln, bestehen bereits ge-
eignete Instrumente. Zu nennen wäre die Unterschutz-
stellung von Waldflächen sowie der Vertragsnaturschutz
zwischen der zuständigen Naturschutzbehörde und dem
Waldbesitzer. Das geforderte Moratorium für die Priva-
tisierung von bundeseigenen Waldflächen ist für mich
nicht nachvollziehbar. Der Bund hat in den vergangenen
Jahren auf die Privatisierung von schützenswerten Flä-
chen verzichtet und rund 70 000 Hektar, darunter
umfangreiche Waldflächen, dem Projekt Nationales Na-
turerbe zur Verfügung gestellt. Obwohl sich nur ein ge-
ringer Anteil des Waldes in Bundeseigentum befindet,
hat der Bund einen bedeutenden Beitrag dazu geleistet,
den Naturwald in Deutschland zu fördern.
Gegen den Antrag spricht außerdem, dass er einseitig
auf die Naturwälder ausgerichtet ist. Erforderlich ist
vielmehr ein umfassendes Konzept. Nicht nur der Erhalt
der biologischen Vielfalt, sondern auch der Ausbau er-
neuerbarer Energien und der Klimawandel stellen die
Waldpolitik vor große Herausforderungen. Die Bundes-
regierung hat angekündigt, im Herbst die „Waldstrate-
gie 2020“ vorzulegen und im kommenden Jahr mit der
Umsetzung zu beginnen. Die Waldstrategie soll die
Frage beantworten, wie der Wald der Zukunft aussehen
soll. Die nicht leichte Aufgabe besteht darin, den Wald
zu schützen, geänderte Nutzungsansprüche mit der Leis-
tungsfähigkeit des Waldes in Einklang zu bringen und
den Wald auf die Klimaveränderungen vorzubereiten.
Im Zusammenhang mit der Waldstrategie wird auch
über Naturwälder zu reden sein. Meines Erachtens
sollte sich die Waldpolitik nicht starr auf die Erreichung
des 5-Prozent-Ziels ausrichten. Stattdessen sollten die
wirklich schützenswerten Waldflächen identifiziert und
für den Naturschutz gesichert werden. Zwar sind Natur-
wälder wichtig, doch ist zu berücksichtigen, dass auch
bewirtschaftete Wälder zum Erhalt der biologischen
Vielfalt beitragen. Voraussetzung für eine nachhaltige
Waldbewirtschaftung zum Nutzen von Mensch und Natur
ist, dass sowohl die forstwirtschaftlich tätigen Unter-
nehmen als auch die Forstverwaltung genügend und gut
ausgebildete Fachkräfte einsetzen.
Die CDU/CSU wird darauf achten, dass beim Thema
Naturwald das richtige Augenmaß beibehalten wird. So
wünschenswert Naturwälder grundsätzlich sind, so not-
wendig ist es, die Produktion des nachwachsenden Roh-
stoffes Holz nicht durch zu viele Naturwälder einzu-
schränken. Neben der stofflichen Nutzung wird auch die
energetische Nutzung von Holz zunehmen – es ist also
mit steigender Holznachfrage zu rechnen. Deutschland
hat sich das Ziel gesetzt, bis 2020 rund 18 Prozent der
genutzten Energie aus erneuerbaren Energiequellen zu
gewinnen. Wenn zu viele Waldflächen stillgelegt werden,
gefährden wir die Erreichung unserer ehrgeizigen Kli-
maschutzziele.
In der Ende 2007 beschlossenen nationalen Strategie
zur biologischen Vielfalt hat sich Deutschlands Regie-
rung ehrgeizige Ziele gesetzt. 430 Maßnahmen und
330 Ziele sollen den Erhalt der Biodiversität in Deutsch-
land leisten. Biologische Vielfalt hat existenzielle Be-
deutung. Die Anstrengungen zu deren Erhalt erstrecken
sich unter anderem auf den heimischen Wald als Lebens-
Petra Crone
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raum für eine Vielzahl von Gemeinschaften aus Flora
und Fauna. Circa 4 300 Pflanzen- und Pilzarten und
mehr als 6 700 Tierarten leben in den Wäldern Deutsch-
lands.
Ein wichtiges Ziel aus der Strategie für das Ökosys-
tem Wald ist die Herausnahme von 5 Prozent der Wälder
aus der Nutzung bis zum Jahr 2020. So wichtig die Bio-
diversitätsstrategie bereits auf dem Papier ist, natur-
schutzrelevante Wirkungen entfaltet sie erst in ihrer kon-
kreten Umsetzung. Daher begrüße ich es, dass die
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im vorliegenden An-
trag von der Bundesregierung wissen will, wie genau
das 5-Prozent-Ziel von Wäldern mit natürlicher Wald-
entwicklung erreicht werden soll. Die Forderung nach
einem Maßnahmenplan mit konkretem Zeitfenster ist da-
her zu unterstützen.
Es trifft bei der SPD-Bundestagsfraktion auf Unver-
ständnis, wenn in den letzten Monaten durch Äußerun-
gen mancher politischer Akteure der Eindruck entsteht,
dass die Marke von 5 Prozent zur Disposition stünde
bzw. mit der Tendenz nach unten verhandelbar sei.
Deutschland hat sich zum Schutz seiner Floren- und
Faunendiversität durch eine ressortübergreifende Kabi-
nettsstrategie verpflichtet und sollte sich seiner Vorbild-
funktion für andere Länder bewusst sein und entspre-
chend handeln. Es geht also bei den anstehenden
Beratungen in den Ausschüssen nicht um das „Ob über-
haupt“, sondern wie das 5-Prozent-Ziel konkret erreicht
werden kann. Der Antrag von Bündnis 90/Die Grünen
ist hierfür ein Beitrag. Gemeinsam mit den Diskussionen
zur Novellierung des Bundeswaldgesetzes und mit dem
Antrag der SPD-Bundestagsfraktion „Bundeswaldge-
setz nachhaltig gestalten – Schutz und Pflege des Öko-
systems für heutige und künftige Generationen“ erhoffe
ich mir für die nächsten Wochen, dass die Ergebnisse
der parlamentarischen Beratungen einen nennenswer-
ten Beitrag für die Pflege und den Erhalt unseres Waldes
leisten werden.
Deutschland ist zu 30 Prozent bewaldet. Davon sind
nach Erhebungen des Bundesamtes für Naturschutz zwei
Drittel keine naturnahen und nur 9 Prozent altersge-
mischte Wälder. Auch unsere Kulturgeschichte verliert,
wenn nur 2,3 Prozent aller Bäume älter als 160 Jahre
sind. Bei diesen Daten ist es nachvollziehbar, wenn Tier-,
Pflanzen- und Pilzarten überproportional gefährdet
sind, die auf typische Strukturen naturnaher Wälder spe-
zialisiert sind.
Doch wie hoch ist der Anteil naturnaher Wälder in
Deutschland schon heute? Die Regierung hat bisher
keine Aussagen über den Anteil des naturbelassenen
Waldes machen können. Es ist zu begrüßen, dass das
Bundesamt für Naturschutz ein Forschungs- und Ent-
wicklungsvorhaben starten wird, an dessen Ende Zahlen
stehen werden, sozusagen eine Eröffnungsbilanz. Wir
wollen eine halbe Million Hektar Wald aus der Nutzung
nehmen. Wo stehen wir? Wie viel Naturwald brauchen
wir noch? In einem zweiten Schritt muss dann geklärt
werden, welche Flächen und artreichen Biotope die
Vielfalt an Flora und Fauna in Deutschland abbilden.
Nach der Identifizierung der verschiedenen Lebens-
Zu Protokoll
raumtypen muss sichergestellt werden, dass alle heimi-
schen Waldgesellschaften in ausreichender Biotopgröße
in den 5 Prozent Berücksichtigung finden.
Bevor dieses Ziel nicht erreicht ist, muss Abstand von
Privatisierungen bundeseigener Waldflächen genom-
men werden. Auch der Privatwald wird bei der Umset-
zung des 5-Prozent-Ziels seinen Beitrag leisten müssen.
Insofern ist die Idee eines „Deutschen Naturwalderbes“
eine gute Diskussionsgrundlage für alles Weitere. Die
unterschiedlichen Schutzzwecke des Waldes können dem
Waldbesitzer Pflichten und Beschränkungen auferlegen.
Ich würde mir wünschen, dass diese einfache Feststel-
lung öfter Erwähnung findet.
Die Erkenntnis, dass Klimawandel, Landnutzung und
biologische Vielfalt unentrinnbar verbunden sind, nimmt
glücklicherweise zu. Sie bedingen sich lokal, regional,
global. Deshalb ist die Zielmarke von 5 Prozent Wald
mit eigener Entwicklung auch für den Klimaschutz so
immens wichtig. Wir bekommen durch die Vorgänge in
Naturwäldern die Antworten auf die Frage: Was macht
die Natur selbst im Hinblick auf den Klimawandel? Un-
gestörte Wälder besitzen durch die unablässige Anpas-
sung an ihre Umwelt natürliche Abwehrkräfte, zum
Beispiel gegen Schädlinge oder Krankheiten. Die dyna-
mischen Prozesse laufen ohne menschlichen Einfluss ab,
und der Wald befindet sich im ökologischen Gleichge-
wicht. Die hier angesprochene kontinuierliche Anpas-
sung an die Umwelt ist heute eine andere als vor
150 Jahren, und die Wachstums- und Lebensvorgänge
im Wald brauchen ihre Zeit. Wir sind aufgefordert und
verpflichtet, dem Ökosystem diese Zeit zu geben. Spätes-
tens bei dieser Erkenntnis wird klar, dass der Nutzungs-
verzicht nicht vorläufig, sondern dauerhaft angelegt
werden muss, gekennzeichnet durch Verbindlichkeit und
Rechtssicherheit.
Die Abläufe im Naturwald geben uns wertvolle Hin-
weise für den naturnahen Waldbau auf ökologischer
Grundlage, der dem Wald als Ökosystem am besten ge-
recht wird. Die SPD-Bundestagsfraktion bekennt sich
daher zu einer ordnungsgemäßen, nachhaltigen und na-
turnahen Bewirtschaftung des Waldes nach den Grund-
sätzen der guten fachlichen Praxis. Wir sind der Mei-
nung, dass dies die beste Garantie für ein stabiles
Ökosystem ist, und daher gehören diese Grundsätze ei-
ner nachhaltigen Waldbewirtschaftung in das Bundes-
waldgesetz.
Bundesminister Röttgen hat zur Eröffnung des Jahres
der biologischen Vielfalt Anfang dieses Jahres angekün-
digt, ein „Bundesprogramm Biologische Vielfalt“ aufzu-
legen. Eine konkrete Umsetzung des Beschlossenen zum
Schutz der Natur sei wichtig. Wir nehmen ihn beim Wort.
Das ökologische Gleichgewicht wurde an mancher
Stelle empfindlich gestört. Nun ist es unser aller Pflicht,
die Waldbestände zu schützen, also Ernst zu machen mit
der Schaffung natürlicher Wälder.
Die potenzielle natürliche Vegetation in Deutschlandist Wald. Wälder haben daher für die Biodiversität undden Artenschutz eine besondere Bedeutung. Die Ausfor-
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3630 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
gegebene RedenDr. Christel Happach-Kasan
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mung einer nachhaltigen Forstwirtschaft ist in einemwaldreichen Land wie Deutschland von besonderer Be-deutung. Die großen Holzvorräte in unseren Wäldernhaben ein hohes Nutzungspotenzial. Holz ist zurzeit un-ser wichtigster nachwachsender Rohstoff. Dies gilt fürdie rohstoffliche Nutzung genauso wie für die energeti-sche Nutzung. Die nachhaltige Nutzung von Holz bildetdas Rückgrat einer nachhaltigen Entwicklung. Eine Fo-kussierung der Bewirtschaftung der Wälder allein aufdie Belange der Ökologie oder der Ökonomie wird demAnspruch an eine nachhaltige Entwicklung nicht ge-recht. Wälder sind CO2-Senken. Sie sind nach demKioto-Protokoll anerkannt. Die Nutzung von Holz imBau sowie für die Herstellung von Möbeln und die Er-zeugung von Wärme und Strom aus Rest- und Durchfor-stungsholz liefern einen wichtigen Beitrag zum Klima-schutz und stärken gleichzeitig die regionale Wirtschaft.Die christlich-liberale Koalition hat sich in ihremKoalitionsvertrag eindrücklich zu einer verstärkten Nut-zung des Rohstoffes Holz bekannt. Gleichzeitig sind wirim Begriff, das Bundeswaldgesetz zu novellieren, um dieBedingungen für die privaten und öffentlichen Waldbe-sitzer zu verbessern und die Nutzung von Kurzumtriebs-plantagen im Sinne einer nachhaltigen Gewinnung vonBiomasse zu ermöglichen. Die Wälder bieten zahlrei-chen Menschen einen Arbeitsplatz und ein gesichertesEinkommen, insbesondere im strukturschwachen ländli-chen Raum. Insgesamt sind hierzulande in der Forst-wirtschaft einschließlich der nachgelagerten BereicheHolzwirtschaft, Papierindustrie und Holzgroßhandelnach Schätzungen des Deutschen Forstwirtschaftsrates,DFWR, etwa 1,2 Millionen Menschen beschäftigt. DieBedeutung des Clusters „Forst und Holz“ hat inzwi-schen aufgrund der wirtschaftlichen Situation Deutsch-lands eine deutlich höhere Wertigkeit erhalten als nochvor wenigen Jahren. Das Cluster erwirtschaftete 2008einen Gesamtumsatz von 168 Milliarden Euro.In unserem dicht besiedelten Land haben Wälder zu-gleich eine besondere Bedeutung für die naturnahe Er-holung sowie für die Naherholung. Repräsentative Um-fragen in Großstädten ergeben, dass der ErholungsraumWald das am häufigsten genutzte Freiraumelement dar-stellt. Der sonntägliche Waldspaziergang gehört bei vie-len Familien zu den besonders beliebten Freizeitaktivi-täten. Durch die vielgestaltige Nutzung der Wälderergeben sich verschiedene Zielkonflikte zwischen Wald-besitzern, Erholungssuchenden und dem Naturschutz.Die letzte Bundeswaldinventur hat gezeigt, dass dieWaldbesitzer insgesamt ihre Wälder sehr verantwortlichbewirtschaften. Zahlreiche FFH-Gebiete liegen in Pri-vatwäldern sowie in Körperschaftswäldern und zeigen,dass auch eine erwerbsorientierte Bewirtschaftung ver-einbar ist mit den Zielen des Naturschutzes sowie mitdem Erhalt der Biodiversität.Besondere Anforderungen des Naturschutzes könnenandere Nutzungsmöglichkeiten einschränken. Dazu ge-hört insbesondere der totale Verzicht auf Holzeinschlag.Wo aus Sicht des Naturschutzes zur Sicherung der Biodi-versität Bewirtschaftungsauflagen erteilt werden, dieüber die Gemeinwohlverpflichtung des Grundgesetzeshinausgehen, beispielsweise Nutzungsverzicht in ausge-Zu Protokollwählten Altwaldstandorten, müssen die Waldeigentü-mer, zum Beispiel mit den Instrumenten des Vertragsna-turschutzes, für solche Nutzungseinschränkungenfinanziell entschädigt werden. Ansprüche der Gesell-schaft an eine ausschließlich naturschutzorientierte Be-wirtschaftung der Wälder müssen von der Gesellschaftfinanziert werden, nicht vom einzelnen Waldbesitzer. Wirsetzen uns im Naturschutzbereich auch künftig vordring-lich für Maßnahmen auf freiwilliger Basis und für denVertragsnaturschutz ein. Der Naturschutz ist eine ge-samtgesellschaftliche Aufgabe. Im Waldland Deutsch-land hat gerade die Forstwirtschaft zur Sicherung derbiologischen Vielfalt beigetragen. Der deutsche Walderfüllt die Ziele der Nationalen Strategie zur Sicherungder biologischen Vielfalt bereits zu über 80 Prozent undhat damit eine Vorreiterrolle.Nach unserer Einschätzung hat die deutsche Forst-wirtschaft im internationalen Vergleich Vorbildcharak-ter. Deutschland hat sich in der Nationalen Strategie zurbiologischen Vielfalt dazu bekannt, 5 Prozent der Wald-fläche bis zum Jahr 2020 einer natürlichen Waldent-wicklung zu überlassen. Wir wollen in Zusammenarbeitmit den Bundesländern die Erfassung der Flächen, aufdenen schon jetzt auf eine Holznutzung verzichtet wird,verbessern. Es gibt bereits geeignete Instrumente, umdas beschriebene Ziel umzusetzen. Aus diesem Grundhalten wir die Schaffung neuer Instrumente für nicht er-forderlich. Der Erhalt der waldlichen Biodiversität inDeutschland ist nur bei der Verfolgung eines integrati-ven Bewirtschaftungsansatzes auf ganzer Fläche mög-lich. Auf vielen Flächen gilt: Schützen durch Nützen. DieStilllegung wertvoller Einzelflächen ist ein wirksamesInstrument, die Biodiversität lokal zu schützen. Dadurchwerden auch umliegende, nachhaltig bewirtschafteteFlächen in ihrer Biodiversität gestärkt. Wir lehnen diepauschale Stilllegung von Waldflächen ab, die mit derErreichung des 5-Prozent-Ziels begründet wird, und be-fürworten die Stilllegung von Waldflächen, die nachfachlichen Kriterien ausgewählt wird. Dabei stehen ins-besondere Altwaldflächen im Fokus. Im Hinblick auf diederzeit in der Vorbereitung befindliche „Waldstrategie2020“ und den Bericht zur Umsetzung der NationalenStrategie zur biologischen Vielfalt halten wir die vonBündnis90/Die Grünen geforderten Maßnahmen für we-nig durchdachte Schnellschüsse, die nicht geeignet sind,die Ziele bei der Schaffung des nationalen Naturwalder-bes zu erreichen.
Naturwalderbe in Deutschland schaffen – warum istdas wichtig? Weil es direkt unsere Zukunftsfrage be-rührt: Wie schaffen wir die Anpassung an die Klimaver-änderung, an die Wasserverknappung und an die immernoch rückläufige Biodiversität?Uns fehlen nicht die Visionen von einem intaktenNaturhaushalt und auch nicht die erforderlichen Kennt-nisse. Das alles wird in der 2007 von der Bundesregie-rung beschlossenen nationalen Strategie zur biologi-schen Vielfalt aufgezeigt. Die Konsequenz zum klarenHandeln ist es, was fehlt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3631
gegebene RedenSabine Stüber
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Für den Wald bedeutet die nationale Strategie, dasssich Vielfalt, Struktur und Dynamik der heimischen Wäl-der bis zum Jahre 2020 weitgehend verbessern sollen.Die Frage nach dem Wie bleibt offen. Bisher ist leiderkein roter Faden erkennbar. Immerhin ein substanziellesZiel wurde festgeschrieben: „2020 beträgt der Flächen-anteil der Wälder mit natürlicher Waldentwicklung5 Prozent der Waldfläche.“ Das ist erst einmal einestarke Aussage, aber auch hier erkennt man keine kon-krete Herangehensweise. Die Bundesregierung benötigtoffensichtlich einen Fahrplan, der die zeitlichen und in-haltlichen Schritte vorgibt, um das Ziel zu erreichen,5 Prozent der deutschen Waldflächen bis 2020 als Na-turwalderbe dauerhaft dem Prozess einer natürlichenEntwicklung zu überlassen. Deshalb unterstützen wirden Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.Das Ziel – die Schaffung von 5 Prozent Naturwald-erbe – steht für uns außer Frage, und wir folgen den Ar-gumenten des Antrages weitgehend. Als vordringlicheAufgabe sehen wir für ein so weitreichendes Vorhabenein Umsetzungskonzept. So wollen wir auch das Wort„zeitnah“ in dem Antrag durch einen konkreten Zeit-punkt ersetzen, bis zu dem eine Bestandsaufnahme derbisher dauerhaft aus der Nutzung genommenen Wäldervorgelegt wird. Die Größen der Waldareale mit ihrencharakteristischen Lebensraumtypen bilden für uns dieGrundlage für ein Umsetzungskonzept.Es gibt noch viele Fragen zur Herangehensweise undzu den Maßnahmen. Diese hat die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen in ihrem Antrag angesprochen. Neben denMaßnahmen zur Erreichung des Naturwalderbezielesmuss die Bundesregierung auch die berechtigten Be-fürchtungen der Holzwirtschaft aufgreifen. Neben sin-kenden Umsätzen werden steigende Holzimporte ausschutzwürdigen Wäldern anderer Länder erwartet, wo-mit wiederum nur ein Verschieben von Problemen statt-finden wird.Für die Zeit bis zur Schaffung eines deutschen Natur-walderbes gebietet schon der gesunde Menschenver-stand, die weitere Privatisierung bundeseigener Wälderauszusetzen – von berechtigten Ansprüchen abgesehen.Eine entsprechende Vereinbarung mit Ländern undKommunen muss gefunden werden.Die Zusammenfassung der Naturwalderbeflächen ineinem eigenen Pool begrüßen wir sehr, sehen aber zudessen Verwaltung die Gründung eines eigens dafür vor-gesehenen Dachverbandes als nicht erforderlich an.Sinnvoll ist doch, eine geeignete, bereits bestehendeStruktur mit dieser Aufgabe zu betrauen.
Die alte Bundesregierung hat sich 2007 in ihrer na-tionalen Biodiversitätsstrategie zum Ziel gesetzt, bis2020 5 Prozent der deutschen Wälder mit einer natürli-chen Entwicklung zu erreichen, wobei unter „natürli-cher Entwicklung“ „aus der Nutzung genommen“ oder„stillgelegt“ zu verstehen ist. Bei gut 11 Millionen Hek-tar Wald in Deutschland sind das etwa 550 000 Hektar.Da bei den Staatswäldern der Anteil 10 Prozent betra-Zu Protokollgen soll, wären das bei einem Staatswaldanteil von33,3 Prozent im Jahr 2002 etwa 370 000 Hektar.Die neue Bundesregierung hat sich in ihrer Antwortauf unsere Kleine Anfrage zur Schaffung eines Natur-walderbes auf 5 Prozent der bundesdeutschen Waldflä-che zum Festhalten an diesem Ziel bekannt. Ich weißnicht, wie ernst diese Aussage gemeint gewesen ist. Ge-messen am politischen Handeln kann man den Eindruckgewinnen, dass die Bundesregierung nur pro forma da-ran festhält. Sie hat trotz mehrfacher Nachfragen bisherkeinerlei Angaben dazu gemacht, mit welchen Maßnah-men sie dieses Ziel erreichen will. Daher legen jetzt wireinen Fahrplan vor, wie für Mitteleuropa typische Wäl-der und alle in den deutschen Wäldern lebenden Artenauf entsprechend ausgewählten Flächen geschützt wer-den können.Vonseiten der Waldbesitzer wird vielfach argumen-tiert, der Schutz der biologischen Vielfalt im Wald be-dürfe keiner stillgelegten Wälder. Schließlich genügtenordnungsgemäß bewirtschaftete Forsten ohnehin allenAnsprüchen, die man aus Sicht des Naturschutzes an denWald stellen sollte. Wobei mancher meint, das würde be-reits heute gelten. Andere meinen demgegenüber, daswürde zumindest dann gelten, wenn die Ansprüche desNaturschutzes flächendeckend in die Waldbewirtschaf-tung integriert sind, also ein integrierter Naturschutz imWald betrieben wird. Jedoch hat jüngst die dritte Tagungzur Waldstrategie 2020 belegt, dass nichts davon zu-trifft.Bedroht sind vor allem die Arten, die an die Alters-und Absterbephasen von Bäumen und an Totholz gebun-den sind. Um diese zu schützen, bedarf es eines Mindest-anteils an nutzungsfreien Wäldern, in denen sich proHektar mehr als 30 bis 60 Kubikmeter an Totholz an-sammeln. Deshalb ist der dauerhafte Nutzungsverzichtfür besonders schutzwürdige Waldökosysteme so wich-tig.Sollte Deutschland den erheblichen Vorbehalten inder Forst- und Holzwirtschaft gegen den Nutzungsver-zicht in diesem 5-Prozent-Anteil der deutschen Wäldernachgeben, macht sich die deutsche Politik internatio-nal unglaubwürdig, wenn sie andererseits den Erhaltvon Urwäldern und damit den Verzicht auf die Nutzungeines Teils der Wälder dieser Welt fordert. Schon ausdiesem Grund sind wir verpflichtet, ein nationales Na-turwalderbe zu schaffen.Doch seit zweieinhalb Jahren hat es die Bundesregie-rung unterlassen, für Klarheit darüber zu sorgen, wieviel Hektar Naturwald es in Deutschland tatsächlich be-reits gibt. Auch das nährt den Eindruck, dass es die Bun-desregierung mit diesem Ziel nicht wirklich ernst meint.Dabei könnte man das recht unbürokratisch errei-chen, indem zum Beispiel eine Dachorganisation ge-gründet wird, in die Institutionen und Waldbesitzer ihrestillgelegten Waldflächen ohne Verzicht auf ihr Eigen-tum einbringen können. Diese Dachorganisation hättedie Aufgabe, einen einheitlichen Standard für die Aner-kennung als verbindlich und dauerhaft nutzungsfreieWälder festzulegen. Außerdem hätte sie den Überblick
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3632 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3633
Cornelia Behm
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über den aktuellen Bestand. Die Unsicherheit über denZielerreichungsgrad hätte dann ein Ende.Zur Beruhigung der Privatwaldbesitzer möchte ichsagen: Bündnis 90/Die Grünen gehen davon aus, dassdas Naturwalderbe überwiegend aus Wäldern im öffent-lichen Eigentum bestehen wird. Denn Nutzungsverzichtist im Privatwald weder durch Ordnungsrecht nochdurch Vertragsnaturschutz dauerhaft abzusichern. Nut-zungsverzicht per Ordnungsrecht ohne eine Entschädi-gung käme einem enteignungsgleichen Eingriff in dasPrivateigentum gleich. Statt einmalig Entschädigungenoder dauerhaft Prämien anlen, dürfte es meist sinnvollder zu erwerben.Angesichts der vorliegendingungen kommen wir Büzung, dass zur Schaffungerhebliche Flächen fehlenHunderttausend Hektar. DWälder erwerben müssen.Wir kommen nun zum Zusatzpunkt 5:Beratung des Antrags der Abgeordneten VolkerBeck , Tom Koenigs, Marieluise Beck
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENUmgang mit Guantánamo-Häftlingen– Drucksache 17/1421 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Auswärtiger AusschussRechtsausschusste und Humanitäre Hilfeeschlagen, die Reden zuzu Protokoll zu geben. –anden. Es handelt sich umen und Kollegen: Rüdigerke, Volker Beck und destärs Dr. Ole Schröder.1)erweisung der Vorlage auf der Tagesordnung aufge-In diesem Zusammenhang wäre es kontraproduktiv,wenn der Bund 165 000 Hektar Bundeswald zunächstprivatisieren würde, nur um anschließend wieder Waldfür das Naturwalderbe ankaufen zu müssen. Daher for-dern wir ein Moratorium für die Privatisierung vonBundeswäldern. Das ist für eine Übergangszeit auchohne Gesetzesänderung möglich, auch wenn die bundes-eigenen Waldbesitzer allesamt gesetzliche Privatisie-rungsaufträge haben.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/796 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Wie ich sehe, sind
Sie damit einverstanden. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.
Bericht
36. Sitzung, Seite 3436 B, de
lesen als:
(Zuruf von der SPD: Da
scher Fuffz
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Wie ich sehe, sind
Sie damit einverstanden. Dann ist auch diese Überwei-
sung so beschlossen.
Für heute sind alle Abstimmungen und Debatten erle-
digt.
Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich bedanke mich für das lange Ausharren.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 23. April 2010, 9 Uhr,
ein.
Ich schließe die Sitzung und wünsche Ihnen allen ei-
nen schönen und angenehmen Abend.