1) Anlage 6
igung
r zweite Redebeitrag ist zu
nn muss das ja ein fal-
iger sein!)
Privatwaldbesitzer zu zah-
er sein, die betreffenden Wäl-
den Zahlen und Rahmenbe-
ndnisgrüne zu der Einschät-
des Naturwalderbes noch
, vielleicht sogar mehrere
aher wird der Bund auch
Ausschuss für Menschenrech
Interfraktionell wird vorg
diesem Tagesordnungspunkt
Auch damit sind Sie einverst
die Reden folgender Kolleginn
Veit, Serkan Tören, Ulla Jelp
Parlamentarischen Staatssekre
Interfraktionell wird die Üb
Drucksache 17/1421 an die in
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3635
(A) (C)
(D)(B)
Winkler, Josef Philip BÜNDNIS 90/ 22.04.2010
visuellen Mediendienste ab. Neben den bisher umfassten
Fernsehdiensten sind nun auch die audiovisuellen Me-DIE GRÜNEN
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Beck (Bremen),
Marieluise
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
22.04.2010
Binder, Karin DIE LINKE 22.04.2010
Dörmann, Martin SPD 22.04.2010
Frankenhauser,
Herbert
CDU/CSU 22.04.2010
Dr. Geisen, Edmund
Peter
FDP 22.04.2010
Herrmann, Jürgen CDU/CSU 22.04.2010
Höhn, Bärbel BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
22.04.2010
Kolbe, Daniela SPD 22.04.2010
Krischer, Oliver BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
22.04.2010
Kumpf, Ute SPD 22.04.2010
Laurischk, Sibylle FDP 22.04.2010
Lutze, Thomas DIE LINKE 22.04.2010
Dr. de Maizière,
Thomas
CDU/CSU 22.04.2010
Dr. Miersch, Matthias SPD 22.04.2010
Mißfelder, Philipp CDU/CSU 22.04.2010
Dr. Mützenich, Rolf SPD 22.04.2010
Nietan, Dietmar SPD 22.04.2010
Ostendorff, Friedrich BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
22.04.2010
Dr. Raabe, Sascha SPD 22.04.2010
Riegert, Klaus CDU/CSU 22.04.2010
Steinbrück, Peer SPD 22.04.2010
Dr. Volkmer, Marlies SPD 22.04.2010
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 2
Erklärung
des Abgeordneten Jörn Wunderlich (DIE
LINKE) zur Abstimmung über den Änderungs-
antrag der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN zu dem Entwurf eines Gesetzes zur
Abschaffung des Finanzplanungsrates (Druck-
sache 17/1473) (Tagesordnungspunkt 11)
Das Votum der Fraktion Die Linke ist „Ablehnung“.
Anlage 3
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Ersten Geset-
zes zur Änderung des Telemediengesetzes
(1. Telemedienänderungsgesetz) (Tagesordnungs-
punkt 13)
Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Am 25. Februar
2010 hatten wir diesen Gesetzentwurf bereits in erster
Lesung im Plenum. Nun kann das Gesetz in zweiter und
dritter Lesung verabschiedet werden. Im parlamentari-
schen Verfahren war dieser Gesetzentwurf nicht Gegen-
stand kontroverser Diskussionen. Worum geht es genau,
was regelt dieses Gesetz?
Es geht erstens um die Eins-zu-eins-Umsetzung einer
Richtlinie der Europäischen Union in deutsches Recht.
Konkret geht es um die Richtlinie 2007/65/EG des Euro-
päischen Parlaments und des Rates vom 11. Dezember
2007 zur Änderung der Richtlinie 89/552/EWG des Ra-
tes zur Koordinierung bestimmter Rechts- und Verwal-
tungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Ausübung
der Fernsehtätigkeit, Audiovisuelle-Mediendienste-Richt-
linie – AVMD-RL.
Innerhalb des deutschen Rechts enthält das Teleme-
diengesetz, TMG, die wirtschaftsbezogenen Regelungen
für die Telemedien. Speziell sind dies die Vorschriften,
die der Umsetzung einer anderen Richtlinie der Europäi-
schen Union, 2000/31/EG, sogenannte E-Commerce-
Richtlinie, dienen. Der Rundfunkstaatsvertrag der Bun-
desländer beinhaltet ebenfalls Regelungen zum Thema
Telemedien. Diese gesetzlichen Regelungen werden
durch die Vereinbarungen des Bundes und der Bundes-
länder aus dem Jahre 2004 zur Fortentwicklung der Me-
dienordnung abgerundet.
Es geht zweitens um einheitliche rechtliche Rahmen-
bedingungen. Die nunmehr in deutsches Recht umge-
setzte Richtlinie erweitert den bestehenden Rechtsrah-
men für die Branche. Gerade in einer Branche mit
hohem Innovationstempo ist es notwendig, die rechtli-
chen Rahmenbedingungen ständig zu aktualisieren und
den Marktteilnehmern Rechtssicherheit zu gewähren.
Das neue Telemediengesetz deckt nun sämtliche audio-
3636 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
(A) (C)
(D)(B)
diendienste auf Abruf Gegenstand des Gesetzes. Die
Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaa-
ten für audiovisuelle Mediendienste auf Abruf hatten
bisher unterschiedliche Inhalte, die teilweise den freien
Dienstleistungsverkehr innerhalb der Europäischen
Union zu behindern und den Wettbewerb innerhalb des
EU-Binnenmarkts zu verzerren drohten.
Bedenkt man das erhebliche Potenzial für hochquali-
fizierte Arbeitsplätze, welches die neuen audiovisuellen
Mediendienste auf Abruf – gerade für kleinere und mitt-
lere Unternehmen – bieten, dann ist die Absicht der
Europäischen Union, hier gleiche Wettbewerbsbedin-
gungen zu schaffen, zu begrüßen. Gerade die Prinzipien
des Binnenmarktes, freier Wettbewerb und Gleichbe-
handlung aller Marktteilnehmer, sind Vorraussetzungen
für einen transparenten und berechenbaren Markt sowie
für einen problemlosen Zugang der Verbraucher zu die-
sen Diensten.
Gleiche Wettbewerbsbedingungen und Rechtssicher-
heit innerhalb der Europäischen Union für die audio-
visuellen Mediendienste auf Abruf sind daher unbedingt
positiv zu bewerten. Aus marktwirtschaftlicher Perspek-
tive sind aktuelle und klare rechtliche Rahmenbedingun-
gen stets zu begrüßen.
Es geht drittens um klare Begriffbestimmungen. Die
neue Richtlinie der Europäischen Union und deren recht-
liche Umsetzung in das deutsche Recht sorgen nun dem-
entsprechend auch für eine klare Begriffsbestimmung.
Dazu zählen die Begriffe des Diensteanbieters und des
audiovisuellen Mediendienstes auf Abruf.
Das Gesetz definiert solche Dienste als audiovisuelle
Mediendienste auf Abruf, die nach Form und Inhalt dem
Fernsehen ähnlich sind. Dies gilt dann, wenn sie sich als
Massenmedien an eine breite Öffentlichkeit wenden und
die Bereitstellung fernsehähnlicher Dienste Hauptzweck
des Angebots ist. Ist dieses Angebot nur Nebenzweck ei-
nes Anbieters, so ist dies kein audiovisueller Medien-
dienst auf Abruf. Audiovisuell erfordert in diesem Fall
die Übertragung bewegter Bilder mit oder ohne Ton.
Der Adressatenkreis des Gesetzes ist ebenfalls einge-
grenzt. Anbieter audiovisueller Mediendienste auf Abruf
sind dem Gesetz nach Anbieter, welche die wirksame
Kontrolle über Auswahl und Gestaltung der oben ange-
führten Inhalte haben.
Es geht viertens um eine Klarstellung des Sitzes und
des Herkunftslandes. Klarheit bringt das Gesetz eben-
falls zum Problem des Sitzes und des Herkunftslandes.
Gesetz und Richtlinie stellen einerseits auf die Nieder-
lassung des Anbieters ab, den Ort also, an dem die re-
daktionelle Arbeit und das damit beauftragte Personal tä-
tig sind. Andererseits – falls dieses nicht feststellbar ist –
gilt der Ort der Nutzung einer Satellitenbodenstation.
Es gab fünftens keine Änderungsanträge in den Aus-
schüssen. Im parlamentarischen Verfahren waren keine
Änderungen notwendig. Sowohl im federführenden
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie, als auch im
mitberatenden Rechtsauschuss sowie dem Ausschuss für
Kultur und Medien wurde der Gesetzentwurf mit den
Stimmen von CDU/CSU, FDP, SPD und Linken bei Ent-
haltung von Bündnis 90/Die Grünen angenommen. Die
Absicht, EU-Richtlinien eins zu eins umzusetzen, ist er-
füllt. Über spätere Nachbesserungen kann selbstver-
ständlich nachgedacht werden. Zunächst galt es aber,
den Auftrag der Umsetzung in nationales Recht zu erfül-
len, um Sanktionen zu vermeiden.
Schließlich ist ebenso positiv zu bewerten, dass der
Nationale Normenkontrollrat im Rahmen seines gesetz-
lichen Prüfauftrags keine Bedenken gegen diesen Ge-
setzentwurf vorbringt. Zusätzliche Informationspflichten
für die Unternehmen in unserem Lande werden nicht
eingeführt, geändert oder aufgehoben. Folglich sind mit
diesem Gesetzentwurf auch keine zusätzlichen Büro-
kratiekosten verbunden, ein Umstand, der mir als
Wirtschaftspolitiker große Freude bereitet. Unsere Un-
ternehmen, gerade die kleinen und mittelständischen
Unternehmen, benötigen nicht mehr Bürokratie, sondern
weniger.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist mit den Bundes-
ländern abgestimmt. Diese enge Bund-Länder-Ab-
stimmung wird bewirken, dass die erforderlichen
Umsetzungsmaßnahmen durch die Bundesländer ohne
Probleme geschehen. Die Länder werden die Anforde-
rungen aus der Richtlinie mit dem 13. Rundfunkände-
rungsstaatsvertrag, 13. RÄStV, umsetzen. Ich meine, es
ist gut für das Ansehen des Bundestages und aller Frak-
tionen, wenn Gesetzesvorhaben ohne juristische Streite-
reien und rechtliche Unklarheiten umgesetzt werden.
Die Bürger unseres Landes erwarten schnelles Handeln.
In diesem Fall ist dies durch vorausschauendes Agieren
gelungen.
Klaus Barthel (SPD): Das Internet hat nicht nur alle
gesellschaftlichen Lebensbereiche erfasst, es hat auch
unsere Gewohnheiten verändert. Heute ist es beispiels-
weise problemlos möglich, die eigene Lieblingssendung
auch über das Internet oder das Mobiltelefon zu sehen.
Da die Benutzung jener audiovisuellen Mediendienste
grenzüberschreitend möglich ist, stehen sie auch im Fo-
kus der Europäischen Union.
Die neuen Möglichkeiten werden von den Menschen
angenommen, und das ist gut so. Die Internetbranche ist
ein Wachstumsmarkt für unser Land und hat in den ver-
gangenen Jahren viele Arbeitsplätze insbesondere in
kleineren und mittelständischen Unternehmen geschaf-
fen. Zugleich aber entstehen praktische und rechtliche
Fragen, die es zu lösen gilt. Hier will und muss die Poli-
tik Schritt halten; denn es liegt auf der Hand, dass die
unzählbare Nutzung des Internets und die technischen
Besonderheiten Herausforderungen mit sich bringen.
Das erste Telemedienänderungsgesetz greift diesen
Handlungsbedarf auf. Es widmet sich der Umsetzung
der europäischen Audiovisuelle-Mediendienste-Richtli-
nie in nationales Recht. Damit werden Telemedien in die
Vorschriften der Fernsehrichtlinie aufgenommen, die in
fernsehähnlicher Form audiovisuelle Inhalte anbieten.
Man spricht in diesem Fall von audiovisuellen Medien-
diensten auf Abruf, Ondemand. Fernsehähnlich bedeu-
tet, dass sich die Abrufdienste vergleichbar mit Fernseh-
sendungen an das gleiche Publikum richten und die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3637
(A) (C)
(D)(B)
Nutzer zudem einen ähnlichen Regelungsschutz erwar-
ten können. Die Bundesländer haben hierzu den
13. Rundfunkänderungsstaatsvertrag beschlossen, der
am 1. April in Kraft getreten ist.
Damit wir in der Europäischen Union weitgehend die
gleichen Standards haben, bedurfte es einer Harmonisie-
rung innerhalb des Fernsehbinnenmarktes. Die Richtli-
nie über audiovisuelle Mediendienste folgt der Richtlinie
„Fernsehen ohne Grenzen“ aus dem Jahre 1989, die
1997 und 2007 überarbeitet worden ist. Sie führt nun
weniger detailreiche, im Gegenzug aber flexiblere Vor-
schriften ein. So werden in der neuen Fassung die Vor-
schriften für die Fernsehwerbung modernisiert. Ziel ist
es, audiovisuelle Inhalte besser zu finanzieren. Hiervon
profitieren vor allem private Anbieter, die ihre Dienste
mit Werbung finanzieren.
Mit den neuen Regelungen entstehen verbesserte
Wettbewerbsbedingungen und Rechtssicherheit für Sen-
der und Dienste der Informationsgesellschaft. Sie stär-
ken die Wirtschaft und nützen den Verbraucherinnen und
Verbrauchern. Dabei steht außer Frage, dass die Begren-
zungen beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk wie bisher
bestehen bleiben. Es wird also auch künftig keine Wer-
bung an Sonn- und Feiertagen und nach 20 Uhr geben.
Aus den genannten Gründen wird meine Fraktion
dem Gesetzentwurf zustimmen. Ich will aber nicht ver-
hehlen, dass mit Blick auf das Telemediengesetz noch
ein Stück Arbeit auf uns wartet. Die Regelungen müssen
mit Blick auf die rasanten Veränderungen im Bereich der
elektronischen Kommunikation auf der Höhe der Zeit
bleiben.
Es ist daher weitgehend unstrittig, dass es Änderungs-
und Ergänzungsbedarf am Telemediengesetz gibt. Wir
mussten seinerzeit im Januar 2007 dieses Gesetz unter
Termindruck verabschieden, damit es zeitgleich am
1. März 2007 mit dem neuen Rundfunkstaatsvertrag der
Länder in Kraft treten konnte. Damit wurden das frühere
Teledienstegesetz und der Mediendienste-Staatsvertrag
zusammengeführt. Bestimmte Fragen, wie beispiels-
weise die Anbieterhaftung, konnten wir damals nicht
mehr vollständig klären.
Hinzu kommt, dass es sich um eine komplizierte
Rechtsmaterie handelt, die nicht nur auf sich ständig ver-
ändernde Neuentwicklungen reagieren, sondern auch auf
neue Geschäftsmodelle und Missbrauchstatbestände an-
gewendet werden muss. Es besteht insbesondere Hand-
lungsbedarf im Bereich der Fragen von Verantwortung
und Haftung der Diensteanbieter. Das bezieht sich auf
die Klärung der Störerhaftung sowie Fragen, die von den
Haftungsbestimmungen der einschlägigen E-Commerce-
Richtlinie nicht erfasst werden. Diese sind daher bisher
im Telemediengesetz nicht ausdrücklich geregelt wor-
den, was insbesondere Folgen für Suchmaschinen und
Hyperlinks hat.
Die Störerhaftung ist allerdings eine entscheidende
Frage. Die Rechtsprechung beurteilt die Unterlassungs-
ansprüche nach allgemeinen Grundsätzen. Daher werden
Unterlassungsansprüche von einem bestimmten Fall auf
„kerngleiche“ Rechtsverletzungen ausgedehnt. Was
kerngleich ist, ist jedoch immer noch unklar. Daher gibt
es insbesondere für kleinere Diensteanbieter ein hohes
Haftungsrisiko. Aus unserer Sicht muss ein gerechter
und praktikabler Lösungsweg gefunden werden, der die
unterschiedlichen Interessen von Rechteinhabern, Ver-
brauchern und Internetunternehmen berücksichtigt und
in eine vernünftige Balance bringt. Auch muss geprüft
werden, ob und inwieweit es einen Handlungsbedarf für
die Speicherung und Verarbeitung von personenbezoge-
nen Daten in sozialen Netzwerken gibt. Dies gilt insbe-
sondere für Unternehmen wie Facebook, die ihren Sitz
nicht in Deutschland oder der EU haben. Hier muss
möglicherweise noch klarer formuliert werden, dass die
Verwendung und Weitergabe von personenbezogenen
Daten nur bei ausdrücklicher Einwilligung der Nutzerin-
nen und Nutzer erfolgen darf. An dieser Stelle kann ich
die Bundesregierung nur nochmals dazu auffordern,
schnellstmöglich einen weiteren Gesetzentwurf vorzule-
gen, der den hier skizzierten Handlungsbedarf aufgreift.
Wir werden auch immer ungeduldiger, wenn es da-
rum geht, die Probleme des Datenschutzes und des Ver-
braucherschutzes, gerade in der elektronischen Kommu-
nikation, zu lösen. Es reicht einfach nicht, wenn sich die
zuständige Ministerin öffentlichkeitswirksam, von der
Presseerklärung zur Talkshow und zurück, als Rächerin
der Abgezockten inszeniert. Immer lauter stellt sich
doch die Frage, wann der Gesetzgeber gegen die miesen
und unlauteren Praktiken und gegen die Gesetzeslücken,
gerade im Internet, vorgeht.
Deshalb geht der Entschließungsantrag der Grünen,
Drucksache 17/8718, in die richtige Richtung. Aller-
dings stellt er Positionen und Forderungen auf, die einer
eingehenden Beratung bedürfen. Andere Punkte fehlen.
So etwas kann man hier nicht einfach aus dem Ärmel
schütteln. Deshalb enthalten wir uns bei der Abstim-
mung über den Entschließungsantrag.
Claudia Bögel (FDP): Der vorliegende Entwurf soll
die Audiovisuelle-Mediendienste-Richtlinie umsetzen.
Das Ziel ist ein einheitlicher Rechtsrahmen für alle au-
diovisuellen Mediendienste, da ein europäischer Binnen-
markt zwingend für alle Wettbewerber gleiche Spielre-
geln erforderlich macht. Denn es ist ja unstrittig, dass
Diensteangebote über das Internet, die alle nationalen
Grenzen überschreiten, nur im europäischen oder welt-
weiten Rahmen behandelt werden können, wenn man ihr
wirtschaftliches Potenzial bestmöglich ausschöpfen will.
Das ist das Ziel, und es bedarf keiner Aufforderung
der Opposition, die Reform des TMG immer weiter vo-
ranzutreiben. Es ist unser ureigenstes Anliegen, das wir
auch wiederholt deutlich gemacht haben. Wenn Sie zum
Beispiel einmal einen Blick in den Koalitionsvertrag
werfen: Hier steht schwarz auf weiß, dass wir das TMG
fortentwickeln wollen. Und wir stehen zu unserem Wort.
Seien Sie versichert: Hier wird nichts auf die lange
Bank geschoben, sondern sorgfältig geprüft und schließ-
lich, mit dem Ziel, einen ausgewogenen Interessenaus-
gleich zu bekommen und zugleich auch mehr Rechtssi-
cherheit zu schaffen, umgesetzt.
3638 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
(A) (C)
(D)(B)
Aber genau bei diesem ausgewogenen Interessenaus-
gleich hinkt Ihr Antrag, liebe Kollegen von den Grünen.
Einerseits wollen Sie keine Vorabkontrolle und keine
Überwachung, sondern ein freies Internet. Andererseits
aber fordern Sie hohe Anforderungen an den Daten-
schutz, und die Urheberrechte sollen gewahrt werden.
Das sind alles hehre Ziele, deren gänzliche und prompte
Erfüllung ich mir auch wünschen würde; aber es gibt
eben keine eierlegende Wollmilchsau, sosehr wir uns das
vielleicht alle manchmal wünschen mögen.
Ich möchte kurz auf einige der Punkte Ihres Antrages
im Einzelnen eingehen.
Sie fordern eine Klarheit bei der Anbieterdefinition.
Warum? Es gibt hier keine Unklarheiten im TMG. Allen-
falls im Jugendmedienschutz-Staatsvertrag lässt sich
eine solche feststellen, aber das hat nichts mit dem TMG
zu tun. Der Anbieterbegriff entspricht im Übrigen den
Vorgaben der E-Commerce-Richtlinie.
Zu Ihrem zweiten Punkt. Eine verpflichtende Vorab-
kontrolle der Inhalte durch Anbieter bei Web-2.0-Ange-
boten soll definitiv ausgeschlossen werden. Hierzu
möchte ich § 7 Abs. 2 TMG zitieren:
Diensteanbieter im Sinne der §§ 8 bis 10 sind nicht
verpflichtet, die von ihnen übermittelten oder ge-
speicherten Informationen zu überwachen oder
nach Umständen zu forschen, die auf eine rechts-
widrige Tätigkeit hinweisen.
Anbieter von Web-2.0-Angeboten, die sie mit Ihrer
Forderung hier geschützt sehen wollen, sind das also be-
reits. Sie sind nach § 10 TMG als regelmäßige Hosting-
Anbieter anzusehen und fallen damit unter diese Norm.
Ihr Entschließungsantrag sieht außerdem die Schaf-
fung von Klarheit für die Haftung von Zugangsanbietern
wie Suchmaschinen vor. Das ist ganz im Sinne der FDP,
und auch wir unterstützen eine Klärung der Verantwort-
lichkeit von Suchmaschinenanbietern.
Zu den verschiedenen Punkten den Verbraucher-
schutz und den Verbraucherdatenschutz betreffend ist
von unserer Seite zu sagen, dass die Verwendung von
und der Handel mit Daten nur bei ausdrücklicher Einwil-
ligung bereits geregelt sind. Nach § 12 Abs. 1 ist dies
nur genehmigt, soweit es durch Gesetz erlaubt ist oder
der „Nutzer eingewilligt hat“.
Außerdem noch ein Wort zu der von Ihnen geforder-
ten Selbstverpflichtung sozialer Netzwerke, deutsche
Datenschutzstandards einzuhalten. Soweit es sich um die
in Deutschland niedergelassenen Anbieter handelt, ist es
gar keine Frage, dass sie das deutsche Datenschutzrecht
einhalten müssen. Natürlich müssen und werden mit den
anderen Anbietern Gespräche geführt werden, sodass
man auch hier zu einer Einigung gelangt. Doch unter-
schätzen Sie den Einfluss der Nutzer selbst hier nicht!
Schon oft war zu beobachten, dass die sozialen Netz-
werke die Anliegen ihrer Community sehr ernst nehmen
und ihr Handeln danach ausrichten.
Zusammenfassend bleibt festzustellen, dass die Bun-
desregierung sich aus meiner Sicht intensiv mit der von
Ihnen aufgeworfenen Fragestellung beschäftigt und ei-
nige Punkte auch bereits gesetzlich festgelegt hat.
Doch Sie wissen genauso gut wie wir, dass das
Thema erheblich komplexer ist als Ihr Antrag. Hier muss
daher Qualität vor Schnelligkeit gehen.
Darum, nehme ich an, haben Sie auch der Einsetzung
der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesell-
schaft“ zugestimmt. Ich bin sicher, dass in diesem Gre-
mium das Thema Rechtssicherheit und Rechtsklarheit
für Diensteanbieter bearbeitet und diskutiert werden
wird, und selbstverständlich ist auch meine Fraktion da-
für. Eines ist aber klar: Schnellschüsse sind in jedem Fall
alles andere als förderlich und ganz und gar hinderlich.
Der Entschließungsantrag von Bündnis 90/Die Grü-
nen wird von meiner Fraktion daher abgelehnt werden.
Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE): Worüber
diskutieren wir? Die Bundesregierung muss das erst vor
drei Jahren in Kraft getretene Telemediengesetz korri-
gieren, da die EU-Fernsehrichtlinie das erfordert. Inhalt-
lich geht es dabei um Änderungen im Geltungsbereich,
in den Begriffsbestimmungen und Regelungen zum Sitz-
land der audiovisuellen Mediendienste. Das ist im
Grunde relativ unproblematisch und folgt der üblichen
Gesetzgebungsroutine.
Problematisch ist aber Folgendes: Als das Teleme-
diengesetz im Februar 2007 verabschiedet wurde, gab es
bereits mehrere schwierige Punkte. Schon damals war
klar, dass in der Frage der Haftung für fremde Inhalte
nachgebessert werden muss. Bei der Haftungsfrage müs-
sen die Inhalte- und Zugangsanbieter wissen, was er-
laubt und was verboten ist. Fakt ist, dass seit Inkrafttre-
ten des Telemediengesetzes Gerichte in Deutschland in
zahlreichen Urteilen in diesen und ähnlichen Fragen völ-
lig unterschiedlich entscheiden.
Wir sagen klipp und klar: Wir brauchen eine gesetzli-
che Klarstellung, damit beispielsweise Webseitenbetrei-
ber und Inhalteanbieter künftig nicht – im vorauseilen-
den Gehorsam – Überwachungspflichten für fremde
Inhalte ausüben müssen.
Auch zu diesem Beispiel kann ich sagen: Das Tele-
mediengesetz in der aktuellen Fassung ist niederge-
schriebene Rechtsunsicherheit. Das Haus des Bundes-
wirtschaftsministers ist in der Lage, quasi über Nacht ein
Internetsperrgesetz vorzulegen, das ursprünglich eben-
falls als eine Änderung des Telemediengesetzes angelegt
war. Aber die immer wieder eingeforderte grundlegende
Novellierung des Telemediengesetzes kann dieses Haus
bis heute nicht vorlegen. Ich behaupte: Das ist ein Ar-
mutszeugnis für das Bundeswirtschaftsministerium.
Meine Fraktion hat in der letzten Legislaturperiode
Änderungsvorschläge zur Novellierung des Teleme-
diengesetzes vorgelegt. Es ist uns wichtig, rechtliche
Klarheit über die Haftung von Anbietern von Multime-
diadiensten wie Foren, Chats, Gästebücher und Blogs
zu schaffen. Wir wollen den Datenschutz stärken. Daten
dürfen nicht an eine nahezu beliebige Zahl von Interes-
senten aus Polizei, Geheimdienst und Militär herausge-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3639
(A) (C)
(D)(B)
geben werden. Wir fordern für die Herausgabe von per-
sonenbezogenen Daten einen Erlaubnisvorbehalt durch
einen Richter oder eine Richterin. Außerdem fordern
wir, dass die Erstellung von Nutzerprofilen durch
Diensteanbieter nur nach vorheriger ausdrücklicher Ein-
willigung möglich ist.
Auch die Kolleginnen und Kollegen von den Grünen
und der FDP haben damals Änderungen vorgelegt. Wir
dürfen gespannt sein, ob die FDP sich treu bleibt und als
Regierungspartei ihre Vorschläge wieder einbringt.
An dieser Stelle noch einmal zur EU-Fernsehrichtli-
nie, die ja die Grundlage für das von der Bundesregie-
rung vorgelegte 1. Telemedienänderungsgesetz bildet.
Mit der EU-Fernsehrichtlinie wurden zwei Dinge für die
Anbieter von audiovisuellen Dienstleistungen auf dem
europäischen Binnenmarkt getan: Werbebeschränkun-
gen wurden abgebaut und Bedingungen für Werbefor-
men und Produktplatzierungen neu festgelegt. Die EU-
Fernsehrichtlinie harmonisiert zuallererst Geschäftsbe-
ziehungen. Es geht ums Geldverdienen und um Rendite.
Verbraucherrechte, die Bereitstellung eines vielfältigen
kulturellen Programmangebots und die Sicherstellung
journalistisch-redaktioneller Autonomie spielen keine
Rolle.
Zum 1. April dieses Jahres ist nun der 13. Rundfunk-
änderungsstaatsvertrag in Kraft getreten. Mit ihm setzen
die Bundesländer die Deregulierungsbestimmungen der
EU für den Rundfunk in nationales Recht um. Bezahlte
Produktplatzierungen müssen nun zu Beginn und zum
Ende einer Sendung durch einen Hinweis gekennzeich-
net werden, unbezahlte nicht. Davon profitieren die pri-
vaten Fernsehsender und die werbetreibende Industrie,
nicht aber die Zuschauerinnen und Zuschauer. Die Län-
der haben es versäumt, hier ihren Ermessensspielraum
zu nutzen. Denn die Richtlinie ließ zur Umsetzung der
Werbebestimmungen für den Rundfunk ausdrücklich
Ausnahmen zu. Das ist der Unterschied zu den vorlie-
genden Änderungen im Telemediengesetz, die nach der
EU-Richtlinie tatsächlich unausweichlich sind. Aus die-
sem Grund werden wir uns den heutigen Änderungen
des Telemediengesetzes nicht verweigern. Diese Ände-
rungen sind, wie eingangs schon gesagt, rein formaler
Art.
Meine Damen und Herren von der Koalition, die Auf-
gabe einer grundlegenden Überarbeitung des Tele-
mediengesetzes bleibt bestehen. Hier müssen Sie nach-
arbeiten. Das fordert auch der heute ebenfalls zur
Diskussion und zur Abstimmung anstehende Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Die-
sem können wir ausdrücklich zustimmen.
Tabea Rößner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Das
Telemediengesetz soll Fragen des Internets regeln. Es ist
sozusagen das Internetgesetz.
Aber ganz offensichtlich ist das zur schwarz-gelben
Bundesregierung noch nicht so richtig durchgedrungen.
Denn sonst hätte sie vielleicht endlich die Notwendigkeit
gesehen, einige wichtige Problemfelder bei der Anbie-
terhaftung, dem Datenschutz und dem Verbraucher-
schutz anzugehen. Leider Fehlanzeige!
Lassen Sie mich einige Beispiele nennen:
Bei der Anbieterhaftung muss klargestellt werden, ob
Suchmaschinen etwa wie Zugangsanbieter behandelt
werden sollen. Die Anbieter von Blogs und Foren müs-
sen wissen, woran sie sind. Wenn sie verpflichtet werden
würden, die Beiträge auf ihren Seiten stündlich, ja mi-
nütlich oder sogar jede Sekunde auf mögliche rechtswid-
rige Inhalte zu prüfen, würde das diese Anbieter in ihrer
Existenz bedrohen. Damit würde man eine Szene kaputt-
machen, die für Vielfalt in öffentlichen Debatten sorgt
und eine Alternative zum Mainstream-Journalismus dar-
stellt.
Gegenwärtig liegen ziemlich divergierende Gerichts-
entscheidungen zur Reichweite der bestehenden Haf-
tungsregelungen vor. Vereinzelt wird sogar die Auffas-
sung vertreten, es bestehe eine allgemeine Verpflichtung
zur präventiven Ausforschung und Überwachung der auf
Userplattformen eigenständig generierten Inhalte. Das
schafft Rechtsunsicherheit und bestärkt diejenigen, die
in Verkennung des Mediums und seiner inzwischen ge-
wachsenen kommunikativen gesellschaftlichen Bedeu-
tung in der Tendenz einer Vorabzensur von Inhalten das
Wort reden. Diese Unklarheiten sollten gesetzlich aus
dem Weg geräumt werden.
Leider findet sich nichts davon im Gesetzentwurf –
trotz der FDP auf der Regierungsbank!
Die Bundesregierung muss sich klar positionieren,
was sie wem im Internet an Haftungspflichten auferlegen
will, und sich für einheitliche Regelungen einsetzen, denn
das Internet macht an Länder- oder Landesgrenzen nicht
halt. Sie muss das dann mit den Bundesländern verhan-
deln – beim Jugendmedienschutz-Staatsvertrag wurde
das leider versäumt –, und sie muss es bei der EU – Stich-
wort: EU-Netzsperren – durchsetzen.
Der vorliegende Gesetzentwurf ist reines Stückwerk.
Er setzt lediglich die Anforderungen der Audiovisuellen
Mediendienste-Richtlinie der EU um. Aber das genügt
nicht. Auch in Fragen des Datenschutzes geht die Bun-
desregierung mit dem Gesetzentwurf nicht die notwendi-
gen Schritte. Die bestehenden Regelungen tragen dem
Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nicht
ausreichend Rechnung. So sehen sich etwa Nutzerinnen
und Nutzer immer häufiger damit konfrontiert, dass ihre
persönlichen Daten im Internet veröffentlicht werden.
Im Telemediengesetz fehlen auch nach dieser Geset-
zesänderung effektive Regelungen für die Verwendung
und den Handel mit personenbezogenen Daten. Das Ge-
setz schützt die Nutzerinnen und Nutzer auch nicht hin-
reichend vor personalisierter Werbung. Userinnen und
User erhalten in der Regel automatisch personalisierte
Werbung, solange sie dem nicht gezielt widersprechen.
Auch fehlt noch immer eine Verpflichtung für die Be-
treiber der Plattformen, darüber aufzuklären, wofür die
von Nutzerinnen und Nutzern bereitgestellten Daten ver-
wendet werden sollen. Kundenprofile werden so, ohne
Transparenz gegenüber den Kunden, an die Werbewirt-
3640 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
(A) (C)
(D)(B)
schaft verkauft. Eine Nichteinwilligung in die Weitergabe
personenbezogener Daten darf auch bei nicht marktbe-
herrschenden Unternehmen nicht zum Ausschluss aus
dem Angebot führen.
Wir Grüne wollen mehr Daten- und Verbraucher-
schutz im Telemediengesetz, so wie wir es in unserem
Entschließungsantrag formuliert haben. Kundinnen und
Kunden müssen durch Opt-in darüber entscheiden kön-
nen, ob sie eine Weitergabe ihrer Daten möchten. Künf-
tig muss der Grundsatz gelten, dass Werbung nur mit
ausdrücklicher Einwilligung der Betroffenen erfolgen
darf.
Die Forschung im Bereich von sogenannten Privacy
Enhancing Technologies, also datenschutzspezifischen
Produkten, muss gefördert werden. Neue Produkte und
Verfahren sollten zudem umfassend auf ihre Daten-
schutzfreundlichkeit und Datensicherheit geprüft werden
können. Hier ist die Vorlage des längst überfälligen Au-
ditierungsgesetzes dringend nötig.
Außerdem wollen wir die Verfolgung und Vermeidung
von Spam verbessern. Bislang sind die Schutzmöglich-
keiten gegen ungewollt zugesandte Spam-Mails für Ver-
braucherinnen und Verbraucher überaus schwierig. Für
die Verfolgung von Ordnungswidrigkeiten wie Spam-
Mails muss eine zuständige Verwaltungsbehörde konkret
benannt werden. Aus Sicht unserer Fraktion sollte die
Bundesnetzagentur für Elektrizität, Gas, Telekommuni-
kation, Post und Eisenbahnen diese Zuständigkeit erhal-
ten. Die Bundesnetzagentur könnte zumindest eine bun-
deslandübergreifende Verfolgung gewährleisten.
Sie sehen anhand meiner Beispiele: Das Gesetz ist
völlig unzureichend.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalition, ich
fordere Sie auf, uns so schnell wie möglich ein an die
Realitäten des Internets angepasstes Telemediengesetz
vorzulegen. Wir brauchen klare Definitionen von Anbie-
tern, klare und einheitliche Regelungen zu Haftungsfra-
gen, wir brauchen einen effektiveren Verbraucherschutz,
der die Verfolgung und Unterlassung von ungewollten
Spam-Mails ermöglicht, und wir brauchen ein Gesetz,
das die persönlichen Daten der Nutzerinnen und Nutzer
wirksam schützt.
Anlage 4
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Zweiten Ge-
setzes zur Änderung des Vorläufigen Tabakge-
setzes (Tagesordnungspunkt 15)
Elvira Drobinski-Weiß (SPD): Eine weltweite Stu-
die der Weltgesundheitsorganisation aus dem Jahr 2008
berichtet, dass alle sechs Sekunden ein Raucher stirbt.
Tabak steht demzufolge an erster Stelle der vermeidba-
ren Todesursachen. Deutschland zählt zu den zehn Län-
dern, wo es die meisten Raucher weltweit gibt, einer von
zehn Todesfällen gehe auf Tabak zurück, weltweit insge-
samt 5,4 Millionen pro Jahr.
Der aktuellen GEDA-Studie des Robert Koch-Instituts
zufolge rauchten im Jahr 2009 in Deutschland 33,9 Pro-
zent der Erwachsenen. Im Drogen- und Suchtbericht aus
dem Jahr 2009 lesen wir, dass etwa 140 000 Menschen
jedes Jahr vorzeitig an den direkten Folgen des Rau-
chens sterben, etwa 3 300 Menschen an Folgen des Pas-
sivrauchens. Die volkswirtschaftlichen Kosten des Rau-
chens für die Gesellschaft werden auf 18,8 Milliarden
Euro pro Jahr geschätzt. Besonders alarmierend: Das
durchschnittliche Einstiegsalter in den Zigarettenkon-
sum liegt bei etwa 13 Jahren. Das sind Zahlen, die auf-
schrecken!
Wir kämpften deshalb die letzten elf Jahre gemeinsam
mit der Bundesregierung und der Drogenbeauftragten
Frau Bätzing mit aufeinander abgestimmten präventi-
ven, gesetzlichen und strukturellen Maßnahmen gegen
den hohen Tabakkonsum, aber auch um Regulierung und
Angebotsreduzierung. Stellvertretend seien hier die kon-
tinuierliche Tabaksteuererhöhung, die Einführung von
Warnhinweisen auf Zigarettenpackungen oder auch die
Aufnahme eines Paragrafen zum Nichtraucherschutz in
die Arbeitsstättenverordnung genannt. Jugendlichen dür-
fen Tabakwaren in Automaten seit dem 1. Januar 2009
nur noch dann angeboten werden, wenn durch Aufsicht
bzw. technische Vorrichtung sichergestellt ist, dass der
Bezug von Zigaretten für Personen unter 18 Jahren an
Zigarettenautomaten nicht möglich ist.
Zusätzlich verstärkten wir die Suchtprävention und
Suchtberatung und Behandlung. „Be Smart – Don‘t
Start“- oder „Rauchfrei“-Wettbewerbe sprachen zum
Beispiel direkt Jugendliche an, den Einstieg in das Rau-
chen zu verzögern bzw. mindestens vier Wochen nicht
zu rauchen.
Langfristig gesehen ist in der deutschen Erwachse-
nenbevölkerung nur ein geringfügiger Rückgang des Ni-
kotinkonsums erkennbar. Jedoch Dank der Programme
und Förderungen des Nichtrauchens in Schulen ist ein
Rückgang der Raucherquote unter Kindern und Jugend-
lichen offensichtlich. Und es findet – langsam – ein ge-
sellschaftlicher Bewusstseinswandel statt, Nichtrauchen
wird immer stärker zur sozialen Norm. Diese kleinen Er-
folge dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass noch
viel zu tun ist.
Heute beschließen wir die Umsetzung der sogenann-
ten Audiovisuelle-Mediendienste-Richtlinie. In Anbe-
tracht der neuen Übertragungstechniken ist es notwen-
dig, nicht nur wie bisher für das Fernsehen als das
traditionelle audiovisuelle Medium Regeln zu schaffen.
Für „Audiovisuelle Medien auf Abruf“ oder einfacher
gesagt Videos, egal ob mit oder ohne Ton, wird heute mit
der Umsetzung der Richtlinie Rechtssicherheit in
Deutschland geschaffen. Danach ist jede Form der au-
diovisuellen kommerziellen Kommunikation für Ziga-
retten und andere Tabakerzeugnisse, die Produktplatzie-
rung sowie das Sponsoring von Sendungen durch
Unternehmen, deren Haupttätigkeit die Herstellung oder
der Verkauf dieser Produkte ist, untersagt.
Uns ist bewusst: Alle Formen der Werbung für Tabak-
erzeugnisse sind noch immer nicht erfasst. Diesem
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3641
(A) (C)
(D)(B)
Schritt müssen weitere folgen, damit insbesondere Ju-
gendliche so wenig wie möglich in Kontakt mit Tabak-
werbung kommen. Ich denke da insbesondere an das
Verbot von Tabakwerbung auf Plakaten und Postern.
Große Teile der Industrie sind mit uns in dieser Forde-
rung auf einer Linie. Sollte eine wirksame Selbstregulie-
rung nicht erfolgen, fordern wir hier dringend gesetzli-
che Regelungen.
Das Generaldirektorat der Europäischen Kommission
für Gesundheit und Verbraucherschutz berät zurzeit Über-
arbeitungen der Tabakproduktrichtlinie. Fünf Schwer-
punkte kristallisieren sich dabei heraus: die Anpassung
des Geltungsbereiches, die Änderung der Kennzeich-
nungsanforderungen – einschließlich Warnhinweise –, die
Einführung von Berichterstattungs- und Registrierungs-
vorhaben, die Überarbeitung der Regulierung der In-
haltsstoffe sowie die Einführung einer Regulierung der
Verkaufs- und Vertriebsformen.
Wir wollen den Diskussionsprozess eines stärkeren
Nichtraucherschutzes aktiv begleiten.
Dr. Erik Schweickert (FDP): Mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf zur Änderung des vorläufigen Tabakge-
setzes setzen wir eine Europäische Richtlinie aus dem
Jahr 2007 um. Ja, Sie hören richtig, eine Richtlinie aus
dem Jahr 2007. Denn die große Koalition hat es inner-
halb von zwei Jahren nicht fertiggebracht, für eine
Umsetzung zu sorgen. Aber wie in den anderen Politik-
bereichen auch wird deutlich: Die FDP steht für Verläss-
lichkeit. Wir bringen voran, wir setzen um.
Aber, und das gestehe ich der großen Koalition ja zu,
es gäbe durchaus auch gute sachliche Gründe gegen das
Gesetz. Wie Sie sicherlich wissen, stehen wir Liberale
einer Einschränkung von Werbeverboten sehr kritisch
gegenüber. Verbote bevormunden den Verbraucher. Was
frei verkäuflich ist, soll auch beworben werden dürfen.
Statt auf dirigistische Eingriffe wie Werbeverbote haben
wir Liberale immer auf Selbstverpflichtungen gesetzt,
die häufig genauso erfolgreich wirken.
Durch Verbote den Konsum steuern zu wollen, ist ein
staatsdirigistischer Trugschluss – das betrifft alle Instru-
mente der Kommunikationspolitik, also Werbung ge-
nauso wie Sponsoring und Product Placement. Bislang
hat mir auch noch keiner überzeugende Studien zeigen
können, in denen ein Zusammenhang von Product Place-
ment und Konsumverhalten bewiesen wird. Außerdem
zementieren Sponsoringverbote nur Markenbilder und
fördern dadurch die Großen der Branche.
Nun also setzen wir eine Richtlinie der Europäischen
Union um, weil wir die rechtliche Bindung der Entschei-
dungen auf europäischer Ebene anerkennen und respek-
tieren. Denn wir kommen unserer Regierungsverantwor-
tung nach – anders als die Große Koalition.
Der Gesetzentwurf ist Teil der EU-Richtlinie für soge-
nannte audiovisuelle Mediendienste. Die Vorgaben der
Europäischen Kommission setzen wir eins zu eins in na-
tionales Recht um und kommen somit unseren Verpflich-
tungen nach. Künftig wird das Sponsoring von Fernseh-
sendungen durch Tabakunternehmen und das Product
Placement von Tabakerzeugnissen und Tabakunterneh-
men verboten sein.
Unter Product Placement ist die gezielte Darstellung
eines Kommunikationsobjektes als dramaturgischer Be-
standteil einer Video- oder Filmproduktion gegen finan-
zielle oder sachliche Zuwendungen zu verstehen. Man
kann darüber streiten, ob es unbedingt ein Tabakunter-
nehmen sein muss, das mit Geld sein Produkt in audiovi-
suellen Medien platziert. Insofern kann man der Richtli-
nie ja auch durchaus positive Aspekte abgewinnen.
Eins-zu-eins-Umsetzung bedeutet, dass wir vom Be-
griff des Product Placements im engeren Sinne ausge-
hen. Dieses meint die Platzierung von Markenartikeln,
nicht jedoch die Platzierung unmarkierter Produkte.
Auch die Sozialdemokraten sollten im Übrigen ein gro-
ßes Eigeninteresse an dieser Form der Umsetzung ha-
ben. Denn ansonsten wäre die SPD ja bald gar nicht
mehr positiv im Fernsehen präsent. Interviews mit der
letzten SPD-Ikone Helmut Schmidt dürften dann ja gar
nicht mehr ausgestrahlt werden.
Jeglichen Rufen aus den linken Reihen, die über eine
Eins-zu-eins-Umsetzung der Richtlinie hinausgehen, er-
teilen wir eine klare Absage. Eine Ausweitung des Tabak-
werbeverbots auf Plakatwerbung und andere Werbefor-
men ist aus bereits genannten Gründen unangemessen.
Werbung ist integraler Bestandteil der Marktwirtschaft.
Sie basiert auf einem freien und fairen Wettbewerb. Die
legale Herstellung und der legale Vertrieb eines Produk-
tes bedürfen der Möglichkeit der legalen Bewerbung.
Wir setzen nicht auf Verbote, sondern auf Informatio-
nen und Aufklärung über gesundheitliche Folgewirkun-
gen des Tabakkonsums. Ein Werbeverbot halten wir als
Präventionsmaßnahme für nicht geeignet. Stattdessen
brauchen wir eine gesellschaftliche Sensibilisierung, die
in der Schule beginnt, über den Freundeskreis und die
Familie.
Und mit Verlaub, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen: Ihre These, dass
Tabakwerbung dazu führe, dass Jugendlichen der Aus-
stieg aus dem Rauchen erschwert werde, ist doch nun
wirklich an den Haaren herbeigezogen. Das wäre ja so,
als wenn überzeugte Liberale durch Parteiwerbung dazu
gebracht würden, zukünftig die Grünen zu wählen. Auch
das wird nicht passieren, das sage ich Ihnen.
Auch der von Ihnen aufgemachte Zusammenhang von
Tabakwerbung und Zigarettenkonsum lässt sich bei ge-
nauerem Hinsehen nicht halten. Denn der Zigarettenkon-
sum ist bereits vor der Einführung des Tabakwerbever-
bots in Zeitungen, Zeitschriften und im Internet im Jahr
2007 deutlich rückläufig gewesen.
Der Argumentation zu folgen, dass Werbung Verbrau-
cher geradezu zwanghaft zu einem Fehlverhalten ver-
leite, entmündigt die Bürgerinnen und Bürger, statt auf
Aufklärung und Verbraucherbildung zu setzen und so die
Mündigkeit zu stärken. Ein über die Eins-zu-eins-Um-
setzung hi-nausgehendes Tabakwerbeverbot ist Aus-
druck eines Staatsverständnisses, das die Verantwortung
des Einzelnen zugunsten einer Staatsverantwortung ab-
gibt. SPD, Linke und Grüne begegnen jeder verbrau-
3642 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
(A) (C)
(D)(B)
cherpolitischen Herausforderung mit einem Verbot. Als
FDP nehmen wir die Gesundheitsgefahren des Rauchens
und damit den Gesundheits- und Verbraucherschutz sehr
ernst. Aber die übliche Verbots- und Symbolpolitik à la
Künast oder Höhn hilft dabei nicht weiter. Das kann
keine liberale Politik sein. Deshalb werden wir eins zu
eins umsetzen.
Karin Binder (DIE LINKE): Die Linke fordert ein
generelles Werbeverbot für Tabakwaren, um Jugendliche
und Heranwachsende vor den gesundheitlichen Gefah-
ren des Rauchens besser zu schützen. Rauchen schadet
der Gesundheit. Das ist allgemein bekannt. Jedem Er-
wachsenen steht es dennoch frei, zur Zigarette zu grei-
fen. Es geht hier auch nicht darum, das Rauchen zu ver-
bieten. Etwas anderes ist es aber, wenn Tabakkonzerne
mit Werbung gezielt Jugendliche und Heranwachsende
ansprechen, um sie zum Rauchen zu verleiten. Die Aus-
wirkungen des Nikotingenusses sind bei dieser Gruppe
besonders gesundheitsschädlich. Die Folgen zeigen sich
aber erst viele Jahre später.
Aus diesem Grund ist die Tabakwerbung im Fernse-
hen verboten. Mit ihren Marketingmethoden haben die
Zigarettenhersteller diese Einschränkung jedoch ge-
schickt umschifft. Sie werben indirekt durch Produktpla-
zierung und im Internet. Die EU hat darauf reagiert und
verbietet nun das Sponsering von Sendungen und die
Produktplazierung in TV und Internet. Die Ausweitung
auf weitere Medien war also auf jeden Fall nötig, und die
vorliegende Regelung stellt eine Verbesserung dar.
Natürlich hinkt Deutschland aber auch hier wieder
einmal hinterher. Schon Ende letzten Jahres hätte die
EU-Richtlinie hierzulande umgesetzt werden müssen.
Aber der Druck der Tabaklobby bremst ein schnelles
Vorgehen zugunsten des Gesundheitsschutzes bei Ju-
gendlichen. Noch viel schlimmer: Das Werbeverbot wird
nur halbherzig umgesetzt. Denn auch nach der neuen
Regelung bleiben den Zigarettenherstellern ausreichend
Lücken, um Jugendliche erfolgreich anzusprechen: Wer-
bung im Kino, Direktwerbung vor Kneipen und Online-
shops im Internet, um nur einige Beispiele zu nennen.
Das Verbot der Produktplatzierung und des Sponso-
rings bei Tabakwaren ist also ein Schritt in die richtige
Richtung, greift aber deutlich zu kurz. Die Bundesregie-
rung setzt nur die Minimalstandards um, statt die Chance
zu nutzen, ein einheitliches Werbeverbot zum Schutz der
Gesundheit zu schaffen. Die Verhinderung einer klaren
Regelung hat bei der christlich-sozialen Union aber Tra-
dition: Schon der Vorgänger der heutigen Verbraucher-
schutzministerin, Herr Seehofer, hatte seine Probleme
mit dem Nichtraucherschutz. Nach seiner Auffassung
hat die Einschränkung des Nikotingenusses „die bayri-
sche Volksseele verletzt“. Schon 2006 wurde die Bun-
desregierung in Sachen Werbeverbot erst auf Druck der
EU-Kommission mit Androhung von Strafzahlungen tä-
tig. Auch jetzt musste Brüssel erst mit den Säbeln ras-
seln.
Fazit: Wieder einmal gehen bei Schwarz-Gelb Wirt-
schaftsinteresse vor Verbraucherschutz. Das ist für die
Linksfraktion nicht hinnehmbar. Wir fordern die Bun-
desregierung auf: Nehmen sie die Gesundheitsvorsorge
endlich ernst! Setzen sie ein umfassendes Werbeverbot
für Tabakwaren durch!
Ulrike Höfken (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
140 000 Menschen sterben nach Angaben der Deutschen
Krebshilfe in Deutschland jährlich an den Folgen des
Rauchens. Nach Schätzungen des Deutschen Krebsfor-
schungsinstitutes verursacht das Rauchen Gesamtkosten
von über 33 Milliarden Euro für unsere Volkswirtschaft
und das Gesundheitswesen.
Angesichts dieser Zahlen ist der Regierungsentwurf
zur Änderung des Tabakgesetzes eine armselige Mini-
mallösung, welche vor allem die Interessen der Tabak-
industrie im Blick hat.
Die vorgelegte Eins-zu-eins-Umsetzung der EU-
Richtlinie verbietet nur den eng begrenzten Bereich der
Werbung in „audiovisuellen Medien auf Abruf“. Damit
bleibt Deutschland ein Tabakwerbeparadies in der EU.
Bei der Plakatwerbung, die nur noch in Deutschland und
Griechenland erlaubt ist, sind wir Schlusslicht in Europa.
Auch in der Kinowerbung schon ab 18 Uhr darf munter
weitergequalmt werden. Die Werbung in Tankstellen
und Kiosken, wo neben Postern und anderen Werbemit-
teln zunehmend Werbefilmchen in Endlosschleife lau-
fen, soll auch mit dem neuen Gesetz bestehen bleiben.
Der Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft,
ZAW, jubelt bereits, weil die audiovisuelle Werbung in
Verkaufsstellen und im Rahmen des Internetversandhan-
dels nicht von der Gesetzesänderung betroffen sei.
Solange die Tabakindustrie die bestehenden Werbe-
verbote durch solche Schlupflöcher umgehen kann, wird
die Tabakprävention geschwächt statt gestärkt. Bereits
1997 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass
Werbeverbote ein wichtiges Instrument gegen bedenken-
losen Tabakkonsum sind.
Unser Fokus ist der Kinder- und Jugendschutz. Trotz
der positiven Entwicklung in den letzten Jahren rauchen
immer noch 15 Prozent aller minderjährigen Jugendli-
chen gelegentlich bis regelmäßig. Laut Deutscher Lun-
genstiftung sind Schüler und Schülerinnen im Alter von
11 bis 14 Jahren besonders gefährdet, das Rauchen anzu-
fangen. Fast zwei Drittel aller rauchenden Kinder und
Jugendlichen wollen mit dem Rauchen aufhören oder
haben dies schon einmal vergeblich versucht. Tabakwer-
bung macht es den Jugendlichen doppelt schwer, vom
Glimmstängel loszukommen.
Studien belegen immer wieder, dass Zigarettenwer-
bung besonders stark das Rauchverhalten von Kindern
und Jugendlichen beeinflusst. Die Imagestrategien der
Tabakindustrie mit Bildern von Freiheit, Spaß, Erfolg
und Sexappeal zielen nach wie vor besonders auf Ju-
gendliche und junge Erwachsene. Nicht Figuren wie der
Marlboro-Mann, sondern jugendlich wirkende Partygän-
ger spielen die Hauptrollen in den Werbekampagnen.
Die Selbstverpflichtungserklärung der Tabakindus-
trie zum Jugendschutz läuft daher selbst dann ins Leere,
wenn alle Vorschriften formal eingehalten werden. Ent-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3643
(A) (C)
(D)(B)
scheidend ist nicht das tatsächliche Alter der Models,
sondern der dargestellte Lebensstil, der oft dem Wunsch-
bild von Jugendlichen entspricht. Dieser Zusammenhang
wurde erst kürzlich wieder vom Kommunikationswis-
senschaftler Patrick Rössler sowie der Fachstelle für
Suchtprävention bestätigt. Zudem haben Nichtraucher-
schutzorganisationen in den letzten Jahren zahlreiche
klare Verstöße gegen die Selbstverpflichtungsgrundsätze
dokumentiert.
Wir fordern die Bundesregierung aus diesen Gründen
in unserem Entschließungsantrag auf, Tabakwerbung
deutlich über die Umsetzung der EU-Richtlinie hinaus
einzuschränken. Das heißt:
Erstens. Jegliche audiovisuelle Werbung in Verkaufs-
stellen und im Internetversandhandel muss gesetzlich
verboten werden.
Zweitens. Auch die Außenwerbung muss in Deutsch-
land wie in fast der gesamten EU verboten werden.
Drittens. Auch die Kinowerbung und die massive
Werbung in Verkaufsstellen muss weiter eingeschränkt
werden, um dem Jugendschutz gerecht zu werden.
Statt wirkungsloser freiwilliger Selbstverpflichtungen
brauchen wir klare gesetzliche Regelungen und wirk-
same Sanktionen bei Verstößen gegen diese Regeln.
Ohne diese Maßnahmen sind Fortschritte bei der Ta-
bakprävention kaum zu erreichen.
Julia Klöckner (Parl. Staatssekretärin bei der Bun-
desministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Ver-
braucherschutz): Der vorliegende Gesetzentwurf nimmt
eine Eins-zu-eins-Umsetzung der Audiovisuelle-Me-
diendienste-Richtlinie für den Bereich der Tabakwer-
bung vor. Die weiteren Vorgaben der Richtlinie werden
von den Ländern im Rahmen des 13. Änderungsvertra-
ges zum Rundfunkstaatsvertrag sowie bundesrechtlich
mit einem Änderungsgesetz zum Telemediengesetz um-
gesetzt. Bekanntermaßen besteht in Deutschland bereits
eine Reihe von medienspezifischen Verboten. Seit 1975
ist Tabakwerbung im Hörfunk und Fernsehen verboten.
Aufgrund der Vorgaben der Tabakwerberichtlinie der
Europäischen Union aus dem Jahr 2003 wurden 2006 die
Tabakwerbung in der Presse und gedruckten Veröffentli-
chungen grundsätzlich verboten. Ferner ist die Werbung
in Diensten der Informationsgesellschaft wie dem Inter-
net bereits seit 2006 entsprechend verboten. Wie Sie alle
wissen, ist dies in § 21 a Abs. 4 des Vorläufigen Tabak-
gesetzes geregelt. Genau das sollten auch die Kollegin-
nen und Kollegen berücksichtigen, die hier kurzfristig
noch einen Entschließungsantrag zum Gesetz einge-
bracht haben. Daneben besteht ebenfalls seit 2006 ein
Sponsoringverbot für den Hörfunk. Die Umsetzung der
Tabakwerberichtlinie erfolgte ebenfalls eins zu eins.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird nunmehr
auch ein Sponsoringverbot für audiovisuelle Medien-
dienste und Sendungen geregelt. Wir erfassen damit Bil-
der mit oder ohne Ton, die vom klassischen Fernsehen
ausgestrahlt werden, aber auch Mediendienste auf Ab-
ruf, wie zum Beispiel Video-on-demand. Beim Sponso-
ring handelt es sich vereinfacht gesprochen um einen
Beitrag von privaten Unternehmen oder natürlichen Per-
sonen zur Finanzierung von audiovisuellen Medien-
diensten oder Sendungen mit dem Ziel, zum Beispiel ih-
ren Namen oder ihre Marke zu fördern. Zudem sieht das
Gesetz ein Verbot der Produktplatzierung von Tabak-
erzeugnissen oder Tabakunternehmen in audiovisuellen
Sendungen vor. Eine Produktplatzierung liegt vor, wenn
zum Beispiel gegen Entgelt oder eine ähnliche Gegen-
leistung auf eine Marke Bezug genommen wird, sodass
diese innerhalb einer Sendung erscheint. Zukünftig ist
damit ausdrücklich geregelt, dass ein Tabakerzeugnis
etwa im Rahmen einer Fernsehsendung nicht platziert
werden darf.
Neben diesen Verboten ist es mir wichtig, zu betonen,
dass wir selbstverständlich den Verbraucher gesetzlich
vor irreführender Werbung schützen. So ist es beispiels-
weise untersagt, den Tabakkonsum zu verharmlosen,
seine gesundheitliche Unbedenklichkeit zu suggerieren.
Auch ist es verboten, Jugendliche durch zielgerichtete
Darstellungen und Aussagen zum Rauchen zu veranlas-
sen. Eine weitere Ausweitung des Verbots der Tabak-
werbung über den vorliegenden Entwurf hinaus steht
derzeit für die Bundesregierung nicht an. Mir ist es auch
ein besonderes Anliegen, dass wir das Gesetzgebungs-
verfahren nun zügig abschließen. Auch gegenüber Brüs-
sel wäre es ein verfehltes Signal, die Umsetzung weiter
zu verzögern. Wie gesagt, nimmt der Gesetzentwurf eine
Eins-zu-eins-Umsetzung der Richtlinie über audiovi-
suelle Mediendienste vor – und das ist gut so. Dies ent-
spricht der allgemeinen Haltung der Bundesregierung
zur Umsetzung von EU-Recht.
Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass die bestehenden
Verbote durch die Länder effektiv durchgesetzt werden.
Dies gilt insbesondere auch für den Bereich des Inter-
nets. Nichtsdestotrotz ist festzuhalten, dass der Verkauf
von Tabakerzeugnissen auch über das Internet grund-
sätzlich legal ist. Über das Angebot der Tabakerzeug-
nisse hinausgehende Werbemaßnahmen und demnächst
auch die Produktplatzierung in audiovisuellen Medien-
diensten sind hingegen verboten.
Aus der Sicht unseres Bundesministeriums für Ernäh-
rung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz ist der
Schutz der Verbraucher vor Schäden ein zentrales Anlie-
gen. Daher besteht eine wesentliche Aufgabe im Rah-
men der Tabakprävention auch darin, den Einstieg in das
Rauchen zu verhindern, den Ausstieg aus dem Tabak-
konsum zu fördern und den Schutz vor Passivrauchen zu
stärken. So ist es Ziel, den Verbraucherinnen und Ver-
brauchern die gesundheitlichen Gefahren des Rauchens
nachdrücklich vor Augen zu führen und insgesamt auf
eine Einschränkung des Tabakkonsums hinzuwirken.
Hierbei sind die zwingend vorgeschriebenen Warnhin-
weise auf den Tabakerzeugnissen ein wichtiges Element.
Die Kennzeichnung von Tabakerzeugnissen ist auf
EU-Ebene im Rahmen der Tabakprodukt-Richtlinie ge-
regelt. Danach sind entsprechende Textwarnhinweise auf
Tabakerzeugnissen europaweit verbindlich vorgeschrie-
ben und wurden national mit der Tabakprodukt-Verord-
nung umgesetzt. Des Weiteren eröffnet eine Entschei-
3644 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
(A) (C)
(D)(B)
dung der Kommission von 2003 den Mitgliedstaaten die
Möglichkeit, diese Textwarnhinweise national durch
kombinierte Warnhinweise zu ergänzen. Dabei sind aus-
schließlich die in einer Bibliothek der Kommission hin-
terlegten kombinierten Warnhinweise zu verwenden.
Gegenwärtig werden von der Europäischen Kommis-
sion Aktivitäten eingeleitet mit der Zielsetzung, neue
kombinierte Warnhinweise zu entwickeln, die im Hin-
blick auf die Bereitstellung von Informationen über die
gesundheitlichen Wirkungen des Tabaks, die Motivation
des Aufhörens mit dem Rauchen und die Abschreckung
vor dem Rauchen geprüft sind. Das Ergebnis dieser
Überprüfung sollte abgewartet werden.
Ein weiterer Baustein zur Senkung des Tabakkon-
sums ist die nationale Dachkampagne „rauchfrei“ der
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA).
„rauchfrei“ ist längst zu einer bekannten und geschätz-
ten Marke rund um das Nichtrauchen geworden. Die
„rauchfrei“-Kampagne der BZgA setzt sich aus zwei gro-
ßen Teilkampagnen zusammen: Ein Kampagnenteil kon-
zentriert sich auf die Zielgruppe der Kinder und Jugend-
lichen im Alter zwischen 12 und 17 Jahren, ein zweiter
Teil richtet sich an die Zielgruppe der Erwachsenen. Die
bisher durchgeführten Maßnahmen zur Förderung des
Nichtrauchens bei Jugendlichen haben sich als erfolg-
reich erwiesen: Nach einem Anstieg beim Rauchen in den
neunziger Jahren ist – parallel zur Durchführung der
„rauchfrei“-Jugendkampagne – seit 2001 ein kontinuier-
licher Rückgang im Rauchverhalten Jugendlicher zu ver-
zeichnen. Im Jahr 2001 rauchten noch 28 Prozent der Ju-
gendlichen im Alter zwischen 12 und 17 Jahren, 2008
waren es nur noch 15 Prozent. Damit hat das Rauchver-
halten in dieser Altersgruppe einen historischen Tiefstand
erreicht. Um diesen Trend zu halten und vor allem auf alle
Gruppen von Jugendlichen auszudehnen, bedarf es un-
verminderter Anstrengungen und einer kontinuierlichen
Weiterentwicklung der Kampagne. Die BZgA wird die
„rauchfrei“-Jugendkampagne im Jahr 2010 weiterführen
und vor allem an das „Web 2.0“ anpassen. Damit wird
dem Bedürfnis der Zielgruppe nach Interaktivität und
Kommunikation stärker Rechnung getragen.
Wie in vielen Industrienationen ist auch in Deutsch-
land eine stark ausgeprägte Polarisierung des Rauchver-
haltens zu beobachten. Vor allem unter Jugendlichen aus
Familien mit geringer Bildung, geringem Einkommen
und niedrigem beruflichen Status ist der Anteil der Rau-
cherinnen und Raucher viel höher als in anderen Bevöl-
kerungsschichten. Gerade diese Jugendlichen werden
außerdem schwerer mit Maßnahmen zur Förderung des
Nichtrauchens erreicht. Über zielgerichtete Maßnahmen
in der Schule wird dies versucht auszugleichen. Dort
können Schülerinnen und Schüler aller sozialen Schich-
ten erreicht werden, und es ist auch eine Kopplung von
Strukturmaßnahmen mit verhaltensbezogenen Maßnah-
men möglich. Deshalb haben sich die Maßnahmen und
Aktivitäten in den Vorjahren bereits schwerpunktmäßig
auf das Setting Schule mit einem Schwerpunkt in den
Haupt-, Real- und berufsbildenden Schulen konzentriert.
Leider ist in der Erwachsenenbevölkerung nur ein ge-
ringfügiger Rückgang des Nikotinkonsums festzustellen.
Daher sind weiterhin Maßnahmen notwendig, die den
Rauchverzicht in der Erwachsenenbevölkerung zum Ziel
haben. Von einem deutlichen Signal zum Verzicht auf
Tabakprodukte bei Erwachsenen wird auch ein positiver
Effekt für die Senkung des Rauchens bei Kindern und
Jugendlichen erwartet. Mit einer zunehmenden Reduzie-
rung des Rauchens in der Erwachsenenbevölkerung wird
Nichtrauchen mehr und mehr die soziale Norm. Die
BZgA wird deshalb auch 2010 die „rauchfrei“-Erwach-
senenkampagne fortführen und weiterentwickeln. In Er-
gänzung zu den bisherigen Maßnahmen liegt die
Schwerpunktsetzung auf der Aktualisierung und Weiter-
entwicklung der Beratungsangebote sowohl im Bereich
des internetbasierten Ausstiegsprogramms als auch der
Telefonberatung zum Nichtrauchen. 2010 wird die
BZgA das neue Pilotprojekt „Fax to quit“ starten. Ziel ist
es, aufhörwilligen Rauchenden ein niedrigschwelliges,
kostenneutrales Angebot der telefonischen Unterstüt-
zung beim Rauchstopp zu unterbreiten.
All diese Maßnahmen belegen, dass die Bundesregie-
rung den Schutz der Bevölkerung vor den Gefahren des
Rauchens sehr ernst nimmt. Der von der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen eingebrachte Entschließungsantrag
wird von mir aus den angeführten Gründen abgelehnt.
Das nunmehr zur Abstimmung vorliegende Zweite Ge-
setz zur Änderung des Vorläufigen Tabakgesetzes bildet
einen weiteren wichtigen Baustein in dem dargestellten
Gesamtkonzept. Ich bitte Sie deshalb um Zustimmung
zum vorliegenden Gesetzentwurf.
Anlage 5
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Europäische Antidis-
kriminierungspolitik unterstützen – 5. Gleichbe-
handlungsrichtlinie der EU nicht länger blockie-
ren (Tagesordnungspunkt 16)
Norbert Geis (CDU/CSU): Der neue Vorschlag für
eine Richtlinie des Rates zur Anwendung des Grundsat-
zes zur Gleichbehandlung ungeachtet der Religion oder
der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder
der sexuellen Ausrichtung, bezogen nicht nur auf den
Arbeitsmarkt, sondern auf den gesamten zivilrechtlichen
Bereich, stößt nicht nur in Deutschland auf Ablehnung.
Dabei lassen die Bundesregierung, der Bundesrat und
die CDU/CSU-Fraktion keinen Zweifel daran, dass die
Bekämpfung von Diskriminierung aller Art eine wich-
tige Aufgabe darstellt. Durch das AGG wurde diese Auf-
gabe für den Arbeitsmarkt erfüllt. Diese Aufgabe gilt je-
doch auch außerhalb des Arbeitsmarktes. In einer freien,
zivilisierten Gesellschaft ist für Diskriminierung kein
Platz. Es muss Übereinstimmung herrschen, dass ein sol-
ches Verhalten scharf zu verurteilen ist.
Die EU hat aber bereits jetzt den weltweit fortschritt-
lichsten Rechtsrahmen im Bereich der Nichtdiskriminie-
rung. Das Schutzniveau geht in der Bundesrepublik
Deutschland und in vielen anderen Mitgliedstaaten sogar
noch über die europäischen Vorgaben hinaus. Deutsch-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3645
(A) (C)
(D)(B)
land liegt in der EU an der Spitze. Der Schutz vor Dis-
kriminierung ist bei uns und in vielen anderen EU-Staa-
ten weltweit am besten gewährleistet.
Deshalb ist es nicht so sehr erforderlich, uns Gedan-
ken darüber zu machen, wie wir uns von dem Standard
der EU und in der Welt noch weiter absetzen können.
Wichtiger ist es, den jetzigen Stand zu konsolidieren.
Neue Anforderungen, wie sie die Richtlinie vorsieht,
würden neue Anpassungen notwendig machen und da-
mit neue Unsicherheiten und neue Unruhe bringen.
Bevor die EU neue Rechtsakte gegen die Diskrimi-
nierung erlässt, müssen erst einmal die Erfahrungen der
Mitgliedstaaten mit der Umsetzung der bisherigen Anti-
diskriminierungsgesetze abgewartet werden.
Im Übrigen sind wir mit der Bundesregierung und
dem Bundesrat der Auffassung, dass anstatt neuer Rege-
lungen andere Maßnahmen zielführender sind.
Um den Konsens in der Gesellschaft zu stärken, geht
es zum Beispiel um eine entsprechende Bildungspolitik
in den Schulen. Das ist aber nicht Sache der EU und
kann nicht durch eine entsprechende Richtlinie erreicht
werden. Die Verantwortung für die Bildungspolitik
bleibt den Mitgliedstaaten vorbehalten.
Es geht um eine entsprechende Initiative aus der
Mitte der Gesellschaft heraus, insbesondere von den In-
stitutionen innerhalb der Gesellschaft, um das Ziel, Dis-
kriminierung zu ächten, und um das Ziel, einen Konsens
zu erreichen, dass Diskriminierung in einer freien Ge-
sellschaft nicht möglich sein darf. Es ist aber wiederum
nicht Sache der EU, den einzelnen Staaten vorzuschrei-
ben, wie sie dieses Ziel erreichen.
Schon gar nicht kann dieser Konsens durch Umge-
staltung unseres Zivilrechtes erreicht werden. Ein erheb-
licher Eingriff wäre notwendig, der zu neuen Unsicher-
heiten und zu neuen Rechtsstreitigkeiten führen würde.
Es käme zu einer völligen Überregulierung des täglichen
Lebens.
Diese völlige Überforderung wird bei dem Diskrimi-
nierungsverbot für Behinderte deutlich. Für sie soll ein
diskriminierungsfreier Zugang zu Gütern und Dienstleis-
tungen, die allen zur Verfügung stehen, gewährleistet
werden. Wie aber soll das möglich sein? Muss dann je-
der Wirt, um nicht gegen das Diskriminierungsverbot zu
verstoßen, eine Toilette für Behinderte vorsehen?
Müsste jeder Tante-Emma-Laden einen behindertenge-
rechten Aufgang haben? Muss jede Mietwohnung, so-
weit der Vermieter bei der Vermietung gewerblich tätig
wird, einen behindertengerechten Zugang haben? Dies
kann doch nicht wahr sein. So viele Behinderte gibt es
doch gar nicht, die eine Wohnung suchen.
Dies zeigt, wie unpraktikabel der Richtlinienvor-
schlag ist und wie sehr er Rechtsunsicherheit schaffen
würde. Deshalb kann man vernünftigerweise diesem
Vorschlag der Kommission nicht zustimmen.
Unsere Bedenken fassen wir in drei Punkten zusam-
men: Erstens würde der Richtlinienvorschlag in erhebli-
chem Maße in die Vertragsfreiheit eingreifen. Zweitens
käme es erneut zu einer Beweislastumkehr. Drittens er-
gibt sich daraus ein Verstoß gegen das Grundgesetz.
Im Privatrecht herrscht der Grundsatz der Privatauto-
nomie. Jede Bürgerin und jeder Bürger ist frei, Verträge
ab- oder nicht abzuschließen. Nur dann, wenn diese Ver-
tragsfreiheit besteht, hat unsere freiheitliche Wirtschafts-
ordnung Bestand. Durch staatliche Lenkungsmaßnah-
men würde diese Ordnung in einem erheblichen Maße
gestört. Unsere Privatrechtsordnung setzt die Vertrags-
freiheit voraus. Sie ist der innerste Kern der freien
Marktwirtschaft. Sie muss unantastbar bleiben.
Durch das Diskriminierungsverbot käme ein völlig
fremder Aspekt in unsere Zivilrechtsordnung. Es müsste
nämlich nach der Gesinnung des Vertragspartners ge-
fragt werden, weil ja die Ablehnung eines Vertragsange-
botes ein subjektiver Vorgang ist. Damit aber hätten wir
es mit einer Art Gesinnungszivilrecht zu tun, das, um
seine Ziele durchzusetzen, auch Sanktionen verhängen
müsste. Der Betroffene müsste nämlich mit Schadenser-
satzansprüchen rechnen. Die Kultur unseres Zivilrechtes
hatte es aber in ihrer Entwicklung über Jahrhunderte hin-
weg sorgsam vermieden, Sanktionen an subjektive
Merkmale zu knüpfen. Das BGB kennt nur zwei selten
genutzte Ausnahmen: Schikane nach § 226 BGB und sit-
tenwidrige Schädigung nach § 826 BGB. Für Sanktionen
aus Gesinnungsdelikten ist ausschließlich das Strafrecht
zuständig. Dort gilt aber der Grundsatz, dass dem Be-
troffenen das Verschulden nachgewiesen werden muss.
Nach den Vorstellungen der geplanten Richtlinie aber
müsste der ablehnende Vertragspartner selbst beweisen,
dass die Ablehnung eines Vertrages nichts mit Diskrimi-
nierung zu tun hat. Im Zivilrecht gilt der Grundsatz, dass
der, der einen Anspruch geltend macht, auch die Voraus-
setzung des Anspruches zu beweisen hat. Durch die
Richtlinie aber würde dieser Grundsatz auf den Kopf ge-
stellt: Der Ablehnende müsste beweisen, dass er nicht
wegen der sexuellen Ausrichtung oder wegen des Alters
oder der Behinderung den Vertragsabschluss ablehnt,
sondern aus anderen, nicht diskriminierenden Gründen.
Der Grundsatz „in dubio pro reo“ würde dann im Zivil-
recht, wenn es um den Nachweis der Diskriminierungs-
absicht geht, in sein Gegenteil verkehrt. Es gilt in diesen
Fällen nicht „in dubio pro reo“, sondern „in dubio contra
reum“.
Diese Umkehrung der Beweislast widerspricht aber
unserer Verfassung. Darin sehen wir die Verletzung des
Grundgesetzes.
Nun ist uns natürlich klar, dass das europäische Recht
Vorrang hat vor unserer Verfassung und vor dem unter-
geordneten Recht. Gerade deshalb müssen wir ja auch
den Versuch unternehmen, zu verhindern, dass die euro-
päische Richtlinie erlassen wird. Wir lehnen sie ab und
bitten die Bundesregierung, ihr „Veto“ weiterhin geltend
zu machen.
Markus Grübel (CDU/CSU): Die CDU/CSU-Frak-
tion setzt sich aktiv gegen alle Formen von Diskriminie-
rung ein. Bereits in der vergangenen Wahlperiode hat die
unionsgeführte Bundesregierung vier Richtlinien der Eu-
3646 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
(A) (C)
(D)(B)
ropäischen Union zum Schutz vor Diskriminierung in
deutsches Recht umgesetzt. Im Allgemeinen Gleichbe-
handlungsgesetz haben wir im Jahre 2006 sehr weitrei-
chende Regelungen festgeschrieben, die deutlich über
das bisherige europäische Recht hinausgehen. Dies be-
scheinigen uns übrigens auch die Grünen in ihrem heute
zur Diskussion gestellten Antrag.
Die Union hält daher weitere rechtliche Regelungen
zum gegenwärtigen Zeitpunkt für unnötig. Insbesondere
halten wir den Entwurf der Europäischen Kommission
zur 5. Antidiskriminierungsrichtlinie für ungeeignet und
lehnen ihn daher ab. Bereits die Umsetzung der bisheri-
gen Antidiskriminierungsrichtlinien hat zu einer großen
Rechtsunsicherheit in den Mitgliedstaaten geführt. Trotz
des weitreichenden Diskriminierungsschutzes im AGG
hat die EU-Kommission mehrere Vertragsverletzungs-
verfahren gegen Deutschland angestrengt. Insgesamt
laufen seit dem zweiten Halbjahr 2008 31 Vertragsver-
letzungsverfahren gegen 18 Mitgliedstaaten. Der vorlie-
gende Entwurf der 5. Antidiskriminierungsrichtlinie ent-
hält eine Vielzahl von unklaren Begrifflichkeiten, die bei
einer Verabschiedung ähnliche Probleme für die Zukunft
befürchten lassen. Auch die finanziellen Folgewirkun-
gen des Richtlinienvorschlags sind nicht geklärt, obwohl
doch eine plausible Kostenabschätzung und eine konti-
nuierliche Folgenbewertung die Voraussetzung eines je-
den gesetzgeberischen Aktes sein sollten. Ich befürchte
erhebliche Belastungen für unsere mittelständischen Un-
ternehmen, sollte der vorliegende Entwurf Gesetzeskraft
erlangen. Auch in diesem Punkt ist uns die EU-Kommis-
sion noch eine Antwort schuldig. Eine Prüfung der Aus-
wirkungen hinsichtlich der Selbstverpflichtung nach
dem „Small Business Act“ steht weiterhin aus. Mit die-
sen Befürchtungen ist Deutschland übrigens nicht al-
leine. Wir wissen, dass zahlreiche andere Mitgliedstaa-
ten ähnliche Bedenken haben, auch wenn sie diese nicht
so deutlich äußern wie wir. Insofern kann keine Rede da-
von sein, dass lediglich Deutschland auf die Bremse
trete und die Richtlinie allein aufgrund der ablehnenden
Haltung Deutschlands nicht zustande komme.
Lassen Sie mich noch auf einen grundsätzlichen As-
pekt hinweisen. Ich bin ein Anhänger des Subsidiaritäts-
prinzips: Probleme sollten möglichst dort gelöst werden,
wo sie entstehen. Dieser Ansatz ist sowohl im europäi-
schen als auch im deutschen Recht verankert. Der Richt-
linienvorschlag geht jedoch aufgrund der Breite seines
Geltungsbereichs über die Zuständigkeit der Europäi-
schen Union hinaus und verstößt gegen das Subsidiari-
tätsprinzip, da weitestgehend keine grenzüberschreiten-
den Regelungen verfolgt werden.
Der Schutz vor Diskriminierung sollte auf der Ebene
der Mitgliedstaaten geregelt werden. Deutschlands An-
strengungen im Bereich von Gleichstellung und Diskri-
minierungsschutz können sich international sehen las-
sen. Wir haben in Deutschland ein engmaschiges Netz
von Gesetzen und Regelungen geknüpft, das Betroffene
effektiv schützt. Neben dem Allgemeinen Gleichbehand-
lungsgesetz sind beispielhaft das Behindertengleichstel-
lungsgesetz, das IX. Buch Sozialgesetzbuch sowie der
Nationale Aktionsplan der Bundesregierung zur Umset-
zung der VN-Behindertenrechtskonvention zu nennen.
Die Betroffenen benötigen nicht ständig neue Regelun-
gen. Das AGG ist gerade einmal vier Jahre alt.
Uns geht es darum, im Rahmen des bestehenden
Rechts die konkrete Situation von diskriminierten Men-
schen in Deutschland weiter zu verbessern und ihnen
noch schnellere und passgenauere Hilfe anzubieten. Die
unionsgeführte Bundesregierung hat zu diesem Zweck
die Antidiskriminierungsstelle des Bundes, ADS, ins Le-
ben gerufen. Die Antidiskriminierungsstelle entwickelt
sich immer mehr zu dem starken Akteur im Dienste der
Betroffenen, den wir uns von Anfang an gewünscht ha-
ben. Ich würde es jedenfalls begrüßen, wenn die ADS
ähnlich dem Datenschutzbeauftragten zu einer kraftvol-
len Stimme in der gesellschaftlichen Debatte in Deutsch-
land wird. Die neue Leiterin, Frau Christine Lüders, hat
in der gestrigen Sitzung des Ausschusses für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend unterstrichen, dass sie die
ADS energisch in diesem Sinne weiterentwickeln will.
Dazu möchte sie ein deutschlandweites Netzwerk gegen
Diskriminierung schaffen. Die verschiedenen bereits
existierenden Akteure, die sich in der Regel einzelnen
Aspekten des Diskriminierungsschutzes widmen und oft
nur lokal oder regional aktiv sind, sollen so miteinander
ins Gespräch kommen und ihre Arbeit verzahnen.
Zukünftig will die Antidiskriminierungsstelle von Dis-
kriminierung betroffenen Personen umgehend einen ge-
eigneten Ansprechpartner vor Ort benennen können.
Diese Anstrengung verdient unser aller Unterstützung.
Sie zeigt uns zugleich, dass wir keine neue EU-Antidis-
kriminierungsrichtlinie benötigen. Deutschland ist beim
Diskriminierungsschutz bereits auf einem sehr guten
Weg.
Christel Humme (SPD): Wer glaubt, mit dem Allge-
meinen Gleichbehandlungsgesetz, AGG, hätten wir
schon alles gegen Diskriminierung getan, der irrt. Von
einer diskriminierungsfreien Gesellschaft sind wir leider
noch immer weit entfernt! Jedes Jahr wird uns der Spie-
gel vorgehalten. Die jährlich durchgeführten repräsen-
tativen Studien „Deutsche Zustände“ von Professor
Heitmeyer decken jedes Mal aufs Neue auf, welche Vor-
urteile und Ressentiments gegenüber Frauen, Muslimen,
Juden, Obdachlosen, Behinderten, Ausländern oder Ho-
mosexuellen nach wie vor bestehen. Diskriminierung ist
bedauerlicherweise immer noch alltäglich. So hat die ka-
tholische Bischofskonferenz festgelegt, dass katholische
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu entlassen sind,
wenn sie eine eingetragene Lebenspartnerschaft einge-
hen. „Homosexualität ist widernatürlich und eine
menschliche Fehlentwicklung“, so Bischof Overbeck in
der TV-Sendung Anne Will. Neben diesen unmittelbaren
Diskriminierungen, die klar erkannt werden können, gibt
es nach wie vor eine Vielzahl mittelbarer, verdeckter
Diskriminierungen, die sich zum Beispiel in geringeren
Löhnen für Frauen bei gleicher und gleichwertiger Ar-
beit niederschlagen. Der Zugang zu Bildung und berufli-
cher Ausbildung hängt in Deutschland immer noch von
der Herkunft ab, und ein ausländisch klingender Name
lässt die Erfolgschancen bei einer Bewerbung nicht sel-
ten sinken. Wenn es um Behinderung geht, streitet
Deutschland über Begriffe der Inklusion und Integration
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3647
(A) (C)
(D)(B)
und erschwert damit die gemeinsame Erziehung von
Kindern mit und ohne Behinderung in der Kita oder
Grundschule. Diese wenigen Beispiele zeigen: Nach wie
vor fehlt es an einer Antidiskriminierungskultur in
Deutschland. Nach wie vor fehlt es an selbstverständli-
cher Toleranz gegenüber Minderheiten. Mit dem AGG
aus dem Jahre 2006 und mit der Schaffung einer Antidis-
kriminierungsstelle haben wir vier europäische Antidis-
kriminierungsrichtlinien in nationales Recht umgesetzt.
Das waren wichtige Schritte. Sie haben erst die Voraus-
setzungen dafür geschaffen, dass sich Diskriminierte
heute mit rechtlichen Instrumenten wehren können. Die-
ser Erfolg darf uns aber nicht daran hindern, noch besser
zu werden; denn es gibt Kritik am AGG, Kritik von der
Europäischen Kommission, die schon vor längerer Zeit
Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet hat, Kritik von
Organisationen wie dem Deutschen Juristinnenbund,
dem DGB und dem Institut für Menschenrechte. Sie for-
dern, das Gesetz im Sinne eines effektiven Diskriminie-
rungsschutzes noch besser auszugestalten.
Vor 13 Jahren hat die damalige schwarz-gelbe Regie-
rung unter Altkanzler Kohl den Amsterdamer Vertrag ra-
tifiziert. Sie hat Deutschland damit verpflichtet, Diskri-
minierung aufgrund des Geschlechts, der ethnischen
Herkunft, der Religion oder Weltanschauung, einer Be-
hinderung, des Alters oder der sexuellen Orientierung zu
bekämpfen. Jeder würde sagen, das sei eine Selbstver-
ständlichkeit, denn schließlich habe der Staat mit dem
Grundgesetz seit 60 Jahren den Schutz der Bürgerinnen
und Bürger vor Diskriminierung festgeschrieben. Diskri-
minierungsschutz ist ein grundlegendes Menschenrecht,
darin sind wir uns doch wohl alle einig. Was macht die
heutige schwarz-gelbe Regierung? Was machen Sie,
Frau Schröder? Sie wollen die 5. europäische Richtlinie,
die seit zwei Jahren auf europäischer Ebene diskutiert
wird, verhindern. Sie wollen zusammen mit Malta und
Litauen gegen die umfassende Diskriminierungsrichtli-
nie stimmen. Mit Ihrem Veto stellen Sie sich gegen das
berechtigte Anliegen, in allen Mitgliedsländern der
Europäischen Union einen einheitlichen Standard für
wirksamen Antidiskriminierungsschutz zu schaffen! Das
ist ein Armutszeugnis für Deutschland! Frau von der
Leyen hatte sich bereits in der letzten Legislatur gegen
die Verabschiedung eingesetzt, Frau Schröder setzt diese
traurige Tradition fort. Sie nimmt damit billigend in
Kauf, dass in den Staaten der EU, in denen noch keine
umfassende Antidiskriminierungsgesetzgebung existiert,
entsprechende Regelungen auf Jahre hinaus verhindert
werden. Sie suggerieren damit, für den Schutz vor Dis-
kriminierung sei bereits genug getan und alle weiteren
Initiativen seien überflüssig. Diese Botschaft, die
Deutschland aussendet, ist verheerend und ein Schlag in
das Gesicht aller diskriminierten Menschen! Das hat
Amnesty International in einem offenen Brief an die Mi-
nisterin Kristina Schröder sehr deutlich gemacht und sie
aufgefordert, ihre Fundamentalopposition aufzugeben.
Dieser Aufforderung möchte ich mich im Namen der
SPD-Fraktion ausdrücklich anschließen. Geben Sie Ihre
Blockadehaltung auf!
Was sind die Argumente der Bundesregierung? Sie
befürchtet weitere Rechtsunsicherheit und kritisiert, die
EU mische sich unzulässig in nationale Zuständigkeiten
ein. So ist es der Pressemitteilung von Frau Schröder am
25. Februar 2010 zu entnehmen. Der Beweis dafür seien
die zahlreichen Vertragsverletzungsverfahren. Ja, es
stimmt. Es laufen derzeit Vertragsverletzungsverfahren
gegen Deutschland im Zusammenhang mit der Umset-
zung der vier EU-Richtlinien im AGG. Diese Verfahren
sind, soweit mir bekannt, bisher auch noch nicht abge-
schlossen. Welche Konsequenz zieht die Bundesregie-
rung daraus? Sie schlussfolgert: Es darf keine weiteren
Richtlinien geben, damit solche Vertragsverletzungsver-
fahren nicht mehr stattfinden. Richtig wäre: Unsere Ge-
setzgebung muss besser werden, damit solche Vertrags-
verletzungsverfahren künftig gar nicht erst eingeleitet
werden müssen! Woher kommt denn die Rechtsunsi-
cherheit, wie Sie sie nennen? Waren es nicht die CDU
und CSU, die durchgesetzt haben, dass das von Rot-
Grün 2005 vorgelegte gute Antidiskriminierungsgesetz
entschärft werden musste? Sonst hätten Sie von der
Union in der Großen Koalition Ihre Stimme verweigert.
Die FDP hat damals gar nicht erst zugestimmt. Wäre es
also nach der FDP gegangen, hätte Deutschland lieber
eine hohe Bußgeldzahlung billigend in Kauf nehmen
sollen, anstatt seinen Bürgerinnen und Bürgern wirksa-
men Schutz vor Diskriminierung zu bieten. Müssen wir
nicht gerade die Chance der 5. Gleichbehandlungsricht-
linie der EU nutzen, um unsere Gesetzgebung zu über-
prüfen und zielgenauer zu formulieren? Das wäre die
richtige Schlussfolgerung, die aus den Vertragsverlet-
zungsverfahren zu ziehen wäre. Die Blockadehaltung
gegen einheitliche europäische Standards beim Diskri-
minierungsschutz ist eindeutig der falsche Weg. In der
Vergangenheit und auch heute sind die Vertreter der
Wirtschaft die heftigsten Kritiker von Antidiskriminie-
rungsregelungen. Sie verkennen noch immer, dass Viel-
falt auch in einem Unternehmen Gewinn bringt. Auch
wenn sich Ihr Koalitionsvertrag gegen die 5. Gleichbe-
handlungsrichtlinie wendet: Geben Sie Ihre Klientelpoli-
tik im Interesse der Millionen betroffenen Bürgerinnen
und Bürger auf! Blockieren Sie die 5. Richtlinie nicht
weiter und machen Sie den Weg frei für ein soziales und
gerechtes Europa!
Florian Bernschneider (FDP): Die FDP versteht
die Vielfalt von Menschen und Kulturen als Chance.
Menschen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen
und verschiedener Herkunft, mit und ohne Handicap,
Jung und Alt, mit unterschiedlichen Glaubenshintergrün-
den und sexueller Orientierung bereichern unsere Ge-
sellschaft. Diese Unterschiedlichkeit macht unsere Ge-
sellschaft bunt und lebenswert, fördert Innovationen und
Kreativität.
Deswegen geht es in dieser Frage um weit mehr als
Antidiskriminierung. Es geht darum, diese Chance der
Vielfältigkeit zu nutzen und in soziale, gesellschaftliche
und wirtschaftliche Potenziale umzusetzen.
Es geht auch darum, Unterschiedlichkeiten nicht nur
zu akzeptieren oder zu tolerieren, sondern sie zu fördern.
Vielfalt wertzuschätzen heißt allerdings nicht, alle Men-
schen einfach gleich zu behandeln. Gleichmacherei wird
den unterschiedlichen Talenten und Bedürfnissen von
3648 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
(A) (C)
(D)(B)
Individuen in keiner Weise gerecht, sondern verhindert
die gezielte bedarfsgenaue Förderung.
Meine Fraktion hat sich in der Vergangenheit intensiv
mit diesem Thema beschäftigt. Auch in unserem Wahl-
programm zur Bundestagswahl 2009 findet sich an meh-
reren Stellen das klare Bekenntnis zu einer Kultur der
Vielfalt. Dabei haben wir uns beispielsweise für die För-
derung betrieblicher Diversity-Strategien und die Veran-
kerung dieser in den Leitbildern öffentlicher Unterneh-
men ausgesprochen.
Es besteht hier wohl Einigkeit darüber, dass niemand
aufgrund der genannten Charakteristika diskriminiert
werden darf. Es geht hier also nicht darum, ob wir eine
vielfältige, weltoffene Gesellschaft haben wollen, son-
dern vielmehr um die Frage, wie wir dieses Ziel am bes-
ten erreichen. An diesem Punkt jedoch unterscheiden
wir uns deutlich.
Gerade als Liberaler möchte ich hier festhalten: Wir
können eine Kultur der Vielfalt und Toleranz politisch
fördern, unterstützen, flankieren. Aber wir werden – und
das ist entscheidend – einen gesellschaftlichen Wandel
nicht mit Gesetzen und Richtlinien erzwingen können.
Vielleicht würde dieser Antrag, wenn er denn eine
Mehrheit in diesem Hohen Hause erhielte, dazu beitra-
gen, das Gewissen einiger Kolleginnen und Kollegen zu
beruhigen. Aber den Menschen, den Betroffenen, wür-
den wir mit diesem Antrag relativ wenig helfen, und
zwar deshalb, weil diese Richtlinie an den Lebenswirk-
lichkeiten der Menschen vorbeizielt.
Wir reden doch gerade über eine Vielfältigkeit im un-
mittelbaren Lebensumfeld der Menschen. Die Chancen
von beispielsweise kultureller Vielfältigkeit sind schon
jetzt in unser aller Alltag greifbar. Deswegen ist es genau
der falsche Weg, politische Entscheidungen auf diesem
Gebiet nach Brüssel oder Straßburg zu verlagern.
Denn nicht zuletzt diese Nähe zur Lebenswirklichkeit
der Menschen entscheidet über die Akzeptanz solcher
Regelungen. Genau diese Akzeptanz in der Bevölkerung
ist es, die wir bei den bisherigen vier EU-Richtlinien zur
Gleichstellung so häufig vermissen. Mit dieser neuen,
fünften, Richtlinie, die vor inhaltlichen Fehlern nur so
strotzt, riskieren wir, diese Akzeptanz noch weiter zu
verspielen.
Ich will Ihnen dafür gerne einige Beispiele nennen:
Erstens. Die Richtlinie sieht unter anderem die Be-
weislastumkehr vor. Wir warnen dringend davor, die in
Deutschland schon bestehenden Regelungen des Allge-
meinen Gleichbehandlungsgesetzes, AGG, auf andere
Rechtsbereiche auszudehnen. Denn was bedeutet das in
der Praxis? Es muss zukünftig noch mehr dokumentiert
und archiviert werden, um im Streitfall abgesichert zu
sein.
Zweitens. Die Richtlinie enthält eine Fülle an unbe-
stimmten Rechtsbegriffen. So ist im Text von „einer we-
niger günstigen Behandlung“, „unverhältnismäßigen Be-
lastungen“, „grundlegenden Veränderungen“ oder von
„angemessenen Vorkehrungen“ die Rede. Dies fördert
die Rechtsunsicherheit bei den Unternehmen, da für sie
nicht absehbar ist, welche Art von Maßnahmen von ih-
nen konkret verlangt werden. Die Maßnahmen müssen
von den Unternehmen bereits „im Voraus vorgesehen“
werden, unabhängig davon, ob zum Beispiel eine Nach-
frage von Kunden mit Behinderung überhaupt vorliegt.
Von diesen Regelungen wären insbesondere kleine mit-
telständische Unternehmen betroffen, für die die gefor-
derten Maßnahmen einen erheblichen finanziellen und
bürokratischen Aufwand darstellen. Damit vergrätzen
Sie diejenigen, die wir noch stärker als bisher für Diver-
sity-Strategien begeistern wollen: die Unternehmen in
unserem Land.
Drittens. Auch das in der Richtlinie enthaltene Diskri-
minierungsmerkmal „Weltanschauung“ sehen wir sehr
kritisch, gerade in Bezug auf den Missbrauch durch radi-
kale Gruppierungen. Zur Erinnerung: Als das AGG ver-
abschiedet wurde, hat man sich bewusst dafür entschie-
den, auf das Merkmal „Weltanschauung“ zu verzichten.
Den Grund für diese Entscheidung will ich Ihnen gerne
noch einmal nennen: Man sah die Gefahr, dass zum Bei-
spiel Anhänger rechtsradikalen Gedankenguts versuchen
könnten, sich Zugang zu Geschäften zu verschaffen, der
ihnen aus anerkennenswerten Gründen verweigert wird.
Würde diese neue Richtlinie, wie Sie von Bündnis 90/
Die Grünen es fordern, verabschiedet, könnte genau die-
ses Problem erneut auftreten. Wollen Sie das?
Viertens. Der Richtlinienentwurf der Kommission
greift schwerwiegend in die Abschluss- und Gestaltungs-
aspekte der Vertragsfreiheit ein. Die Vertragsfreiheit
gehört zu den Grundpfeilern unserer sozialen Marktwirt-
schaft und damit unserer Wirtschaftsordnung. Im Zivil-
recht gilt grundsätzlich Vertrags- und Wahlfreiheit und
damit das Recht, keine Gründe dafür benennen zu müs-
sen, einen Vertrag abzuschließen oder zu verweigern.
Würde man jede Bevorzugung als Diskriminierung anse-
hen, so stünde der gesamte Zivilrechtsverkehr unter ge-
nerellem Diskriminierungsverdacht. Auch das kann man
nicht wirklich wollen. Es ist der Vertragsfreiheit fremd,
dem Einzelnen vorzuschreiben, welche Gesichtspunkte
für den Abschluss oder die Gestaltung eines Vertrages
maßgeblich sein dürfen.
Es gäbe noch etliche weitere Punkte. Um es kurz zu
machen: Für uns Liberale ist dieser Entwurf insgesamt
nicht geeignet, die Freiheit des Einzelnen mit den be-
rechtigten Anliegen von Gesellschaft und Wirtschaft zu
einem vernünftigen Ausgleich zu bringen.
Es wäre ärgerlich, wenn das Ziel, Gerechtigkeit durch
Gleichbehandlung zu schaffen und Diskriminierung
auch im Privatrecht zu vermeiden, wegen mangelnder
Akzeptanz einer unnötig ausufernden Regelung verfehlt
würde. Ich glaube nicht, dass es uns gelingen kann, den
Menschen die Vorteile von Vielfalt und Toleranz quasi
am Aktenschrank zu vermitteln.
Deswegen ist es so wichtig, dass wir klar formulieren,
wofür wir sind, und endlich damit beginnen, die Men-
schen auf die Chancen der Vielfalt hinzuweisen, ohne
zusätzliche Ängste und Unsicherheit durch die Umset-
zung überflüssiger Richtlinien zu verursachen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3649
(A) (C)
(D)(B)
Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang im Üb-
rigen eine Pressemitteilung des Büros gegen Altersdis-
kriminierung, das, wie die Grünen, zwar die ablehnende
Haltung der Bundesregierung zur Richtlinie kritisiert,
aber gleichzeitig feststellt:
… im April 2009 stimmten sie
– die Abgeordneten des EP –
mit immerhin 363 zu 226 Stimmen für die neue An-
tidiskriminierungsrichtlinie. Das war möglich, weil
die 5. Antidiskriminierungsrichtlinie so viele Aus-
nahmen von der Regel enthält, so offen für juristi-
sche Interpretationen ist, wie keine ihrer Vorgänge-
rinnen.
Es sind genau diese juristisch offenen Fragen und die
vielen Ausnahmen von der Regel, die bei den Menschen
die angesprochenen Ängste verursachen und Verwirrung
stiften.
Auch die letzte Bundesregierung stand dieser neuen
Antidiskriminierungsinitiative der EU-Kommission ab-
lehnend gegenüber. Damals wurde darauf verwiesen,
dass zunächst die Erfahrungen mit dem in Kraft getrete-
nen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz abgewartet
werden sollen.
Ich möchte Ihnen auch eine interessante Feststellung
der Antragsteller in ihrer eigenen Antragsbegründung
nicht vorenthalten. Dort heißt es:
Das deutsche Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz
… mit seinem horizontalen Ansatz geht – bei allen
Mängeln bei den Instrumenten – in diesem Punkt
bereits über das … europäische Recht hinaus …
Wofür brauchen wir in Deutschland dann überhaupt
eine weitere Richtlinie, wenn wir deren Inhalt mit dem
AGG bereits umgesetzt haben? Sie entgegnen: Um ein
positives Zeichen in der EU für Gleichstellung und Anti-
diskriminierung zu setzen. Ich bin der Meinung, bevor
wir anderen Ländern gute Ratschläge zur Antidiskrimi-
nierung geben, sollten wir zunächst unsere eigene Ge-
setzgebung ordentlich prüfen und gegebenenfalls auftre-
tende Mängel beseitigen. Schließlich würde das den
Menschen in unserem Land tatsächlich helfen.
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Eines der Hauptargu-
mente der Gegner der Antidiskriminierungsrichtlinie ist,
dass es – angeblich – kaum Diskriminierungstatbestände
gäbe. Ein Blick ins „richtige Leben“ genügt, dies ad ab-
surdum zu führen. Menschen, die anderer ethnischer
Herkunft oder homosexuell sind, die mit Behinderungen
leben oder ein höheres Alter haben, erleben praktisch
täglich Benachteiligungen bzw. Herabwürdigungen. Oft
sind diese sehr subtil. Häufig ist den Diskriminierenden
nicht einmal bewusst, dass sie mit ihren – üblen – Scher-
zen, Gesten oder Haltungen Menschen verletzen. Das zu
ändern ist eine Herkules-Aufgabe.
Der Gesetzgeber, also wir, kann dazu seinen Teil bei-
tragen, indem er Diskriminierungen jeglicher Art ächtet
und Zuwiderhandlungen mit spürbaren Sanktionen be-
legt. Damit sind längst nicht alle Diskriminierungen be-
seitigt, aber es ist ein wichtiger Schritt in die richtige
Richtung.
Derzeit ist der Antidiskriminierungsschutz EU-weit
äußerst uneinheitlich geregelt. Einen gemeinsamen Stan-
dard gibt es nur beim Schutz vor Diskriminierung am
Arbeitsplatz. Ausformuliert sind auch die Rechte in Be-
zug auf Geschlecht und ethnische Zugehörigkeit.
Ich betone – denn mir scheint das immer wieder not-
wendig zu sein –: Die Rechte sind ausformuliert. Die
Realität sieht noch immer anders aus; Ungleichbehand-
lung und Ungerechtigkeiten sind Alltag, auch in
Deutschland.
Die neue Richtlinie von 2008 soll europaweit einheit-
liche Standards in Bezug auf Gleichbehandlung unge-
achtet der Religion oder der Weltanschauung, einer Be-
hinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung
schaffen. Was ist daran verwerflich? Damit die Richtli-
nie gelten kann, bedarf es der Zustimmung aller im Eu-
roparat vertretenen Länder.
Und nun wird es spannend, bzw. hier beginnt unsere
konkrete Verantwortung: Deutschland blockiert. Die Ko-
alition hält den Richtlinienentwurf für ungeeignet. Allen
voran „argumentiert“ die FDP mit der Gefahr der Überre-
gulierung. „Die Freiheit des Einzelnen“, so die FDP in ih-
rem Antrag zur Fortsetzung der Blockadehaltung
Deutschlands vom Februar 2009 (Drucksache 16/11682),
sei nicht „mit berechtigtem Anliegen von Wirtschaft und
Gesellschaft zu einem vernünftigen Ausgleich zu brin-
gen“. Die unternehmerische Freiheit werde gefährdet.
Zur unternehmerischen Freiheit gehört jedoch keines-
falls das Recht, irgendjemanden diskriminierend zu be-
handeln.
Und nun wird es noch spannender: Die Richtlinie, der
die Koalition nicht zustimmen will, geht kaum über die
Bestimmungen des Allgemein Gleichbehandlungsgeset-
zes, AGG, von 2006 hinaus. Der Geltungsbereich des
AGG bezieht sich, wie in der Richtlinie gefordert, auf
den Sozialschutz, soziale Vergünstigungen, die Bildung
und den Zugang zu und die Versorgung mit Gütern und
Dienstleistungen einschließlich Wohnraum und Verkehr.
In Hinblick auf Menschen mit Behinderungen geht
der Richtlinienentwurf auch nicht weit über die Bestim-
mungen der UN-Konvention zu den Rechten von Men-
schen mit Behinderungen – von Deutschland ratifiziert –
hinaus.
Die Verpflichtung zur Schaffung diskriminierungs-
freier Zugänge zu Sozialschutz, sozialen Vergünstigun-
gen, Gesundheitsdiensten und Bildung besteht also be-
reits. Die Koalition verhindert also, dass europaweit gilt,
was in Deutschland schon seit 2006 im Gesetzblatt steht.
Um es ausnahmsweise einmal mit den Worten meines
Kollegen und Fraktionsvorsitzenden Gregor Gysi auszu-
drücken: „Ja, wo leben wir denn?!“ Können Sie mir bitte
nachvollziehbar erklären, weshalb Sie in Deutschland
alte Menschen vor Diskriminierung schützen wollen,
aber in anderen EU-Ländern nicht? Was spricht ernsthaft
gegen ein europaweites Engagement für Gleichbehand-
lung?
Die Regierung, agierend als Interessensvertreter der
Wirtschaft, hat Angst vor Verbandsklagerechten, Be-
3650 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
(A) (C)
(D)(B)
weislastumkehr, vor hohen Schadensersatzforderungen,
die nach dem neuen Richtlinienentwurf nicht mehr nach
oben hin begrenzt werden dürfen.
Aber da kann ich Sie – als Linker und Interessenver-
treter der Betroffenen – dreifach beruhigen.
Erstens. Wenn nicht diskriminiert wird, wird nicht
massenhaft geklagt.
Zweitens. Wenn nicht diskriminiert wird, ist die Höhe
der Schadensersatzforderungen egal.
Drittens. Die Bestimmungen der Richtlinie in Bezug
auf die barrierefreie Zugänglichkeit insbesondere für
Menschen mit Behinderungen zu öffentlichen Gütern,
Gebäuden und Wohnraum enthalten viele weit ausleg-
bare Ausnahmeregelungen.
Die EU schützt mit ihrem Richtlinienentwurf vor „un-
verhältnismäßige[n] Belastungen“, Art. 4 Ziff. 2 RLE.
Unternehmen müssen nur dann für Umbauten oder Ähn-
liches zahlen, wenn es sie nicht ruiniert.
Die von Ihnen befürchtete Rechtsunsicherheit ist ei-
gentlich in Ihrem Sinne. Das bedauere ich wiederum;
denn die vielen Ausnahmeregelungen schwächen den
Schutz vor Verstößen gegen elementare Menschen-
rechte.
Mit ihrem Blockadeverhalten zeigt die Bundesregie-
rung: Eine Kultur der Teilhabe und Antidiskriminierung
ist ihr nicht wichtig. Vielfalt gilt nur dann als schützens-
wert, wenn sie der Nutzung von Arbeitskräftepotenzial
dient, wenn sie den Wirtschaftsstandort Deutschland
aufwertet. Die „Antidiskriminierungspolitik“ der Koali-
tion soll nicht Chancengleichheit und Solidarität europa-
weit fördern, sondern lediglich das reibungslose Zusam-
menarbeiten von Beschäftigten, die immer heterogener
werden, organisieren.
Ich möchte zum Schluss darauf hinweisen, dass es die
Koalition selbst war, die zu Beginn ihrer Regierungszeit,
im Dezember 2009, mit einem eigenen Antrag, Drucksa-
che 17/257, mit dem Titel „Menschenrechte weltweit
schützen“ bekannte:
Angehörige von Minderheiten bedürfen eines um-
fassenden staatlich gewährleisteten Schutzes, um
ihr Recht auf Selbstbestimmung ausüben zu kön-
nen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, nehmen Sie
sich eigentlich selbst ernst?
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit
dem Lissabon-Vertrag ist der Prozess der europäischen
Integration auf eine neue Stufe gehoben worden. Die
Werte, auf die sich die Union gründet, zeichnen sich in
Art. 2 des Vertrags über die Europäische Union, EUV,
ausdrücklich auch durch Nichtdiskriminierung aus.
Demzufolge kämpft die Union gegen soziale Ausgren-
zungen und Diskriminierungen, wie Art. 3 Abs. 3 EUV
festhält.
Der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen
Union, AEUV, benennt in Art. 19 Diskriminierungen aus
Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen
Herkunft, der Religion und Weltanschauung, einer Be-
hinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung als
solche, die von der Union in allen Bereichen ihrer Zu-
ständigkeit zu bekämpfen sind.
Hierzu kann der Rat nach Zustimmung des Europäi-
schen Parlaments einstimmig geeignete Vorkehrungen
treffen. Die Mitgliedstaaten sind verpflichtet, solche
Maßnahmen in ihren jeweiligen nationalen Rechtsord-
nungen zu verankern.
Im Jahre 2000 entstanden die beiden Richtlinien zur
Gleichbehandlung ohne Unterschied der Rasse und eth-
nischen Herkunft sowie zur Verwirklichung der Gleich-
behandlung in Beschäftigung und Beruf. 2004 und 2006
folgten die Richtlinien zur Gleichbehandlung von Män-
nern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung
mit Gütern und Dienstleistungen und zur Verwirklichung
des Grundsatzes der Chancengleichheit und Gleichbe-
handlung von Männern und Frauen in Arbeits- und Be-
schäftigungsfragen.
Nach dem damit erreichten Niveau des europäischen
Diskriminierungsschutzes ist festzuhalten, dass für die
unterschiedlichen Diskriminierungsmerkmale – leider –
unterschiedliche Schutzstandards gelten. Manche Richt-
linien gelten nur für bestimmte Merkmale, manche an-
dere gelten für alle Merkmale, aber nur für bestimmte
Lebensbereiche.
Wir sind in Deutschland einen konsequenteren Weg
gegangen. Mit dem allgemeinen Antidiskriminierungs-
gesetz hat Rot-Grün einen Vorschlag eines vollwertigen
Diskriminierungsschutzes in allen Lebensbereichen und
unter Bezugnahme auf alle Diskriminierungsmerkmale
gemacht. Die Große Koalition, also auch die Union, hat
diesen Vorschlag übernommen und nur unwesentlich ab-
geändert Gesetz werden lassen. Uns ist damit – ich sage
dies bei aller fortbestehenden Kritik an den gewählten
Instrumenten und einzelnen Regelungen – mit dem All-
gemeinen Gleichbehandlungsgesetz ein Diskriminie-
rungsschutz gelungen, der dem europäischen Geist
entspricht, dabei aber über die bisher zustande gekom-
menen europäischen Richtlinien hinausgeht.
Nunmehr hat die EU-Kommission im Sommer 2008
einen Richtlinienvorschlag zur Anwendung des Grund-
satzes der Gleichbehandlung ungeachtet der Religion
oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters
oder der sexuellen Ausrichtung vorgelegt. Die Richtlinie
soll auch außerhalb der Bereiche der Beschäftigung und
des Berufs für die Bereiche Sozialschutz, soziale Ver-
günstigungen, Bildung sowie Zugang zu Gütern und
Dienstleistungen gelten. Mit ihr sollen die bestehende
Hierarchie der Diskriminierungsmerkmale und ihre nur
sektorale Bekämpfung überwunden werden. Das Euro-
päische Parlament hat im April 2009 diese Initiative un-
terstützt und eigene Vorschläge zum Diskriminierungs-
schutz gemacht.
Aus unserer Sicht sind dies Selbstverständlichkeiten;
jedenfalls sind es Regelungen, die bereits Bestandteil des
deutschen nationalen Rechts sind. Umso unverständlicher
ist, dass sich die Bundesregierung darauf festgelegt hat,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3651
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das Zustandekommen dieser Richtlinie zu sabotieren. Da-
mit bezieht die Bundesregierung offen Front gegen die
spanische Präsidentschaft, die die Gleichstellungspolitik
zu einer ihrer wichtigsten Aufgaben erklärt hat. Aber auch
für Belgien und Ungarn ist das Vorgehen der Bundes-
regierung wie ein Schlag ins Gesicht, haben doch diese
Mitgliedstaaten in ihrem Triopräsidentschaftsprogramm
erklärt, alle Formen der Diskriminierung in Europa be-
kämpfen und im Bereich der Nichtdiskriminierung neue
Akzente setzen zu wollen. Ausdrücklich zählt dazu die
Verabschiedung der 5. Gleichstellungsrichtlinie.
Mit ihrem Verhalten sabotiert die Bundesregierung
Regelungen in den anderen Mitgliedstaaten, die in
Deutschland längst Gesetz sind. Diese irrationale Politik
ist nur mit der Aversion der FDP und von Teilen der
Union gegen jede Bekämpfung von Diskriminierungen
durch staatliche Regelungen zu erklären. Denn sie sehen
Antidiskriminierungsanstrengungen nur als finanzielle
Belastungen der Wirtschaft, und sie sind eher bereit, der
deutschen Wirtschaft ökonomische Nachteile gegenüber
der europäischen Konkurrenz zuzufügen, indem sie die
deutsche Wirtschaft mit den Kosten der Beachtung des
AGG belasten, die europäischen Konkurrenten aber von
diesen Kosten freihalten wollen, als sich zu einer kohä-
renten Diskriminierungsbekämpfung auf europäischer
Ebene zu bekennen.
Wir Grünen fordern mit unserem Antrag die Koalition
auf, ihren irrationalen und für das Ansehen Deutschlands
in Europa schädlichen Kurs aufzugeben und die spani-
sche Präsidentschaft zu unterstützen.
Ich will mit den Worten von Amnesty International
schließen, die diese Menschenrechtsorganisation an die
Bundesregierung gerichtet hat:
Vor allem aber sendet Deutschland
– mit dem Verhalten der Bundesregierung –
ein verheerendes Signal aus: Dass die EU nicht tä-
tig werden müsse, um eine Diskriminierung auf-
grund sexueller Orientierung, Religionszugehörig-
keit, Alter oder Behinderung zu bekämpfen, die zur
Wirklichkeit in Europa gehört, und dies nicht nur
auf dem Arbeitsmarkt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition,
gestern wurden im Rechtsausschuss Sachverständige zu
dem Vorschlag der SPD, der Linken und von uns Grünen
gehört, das Merkmal der sexuellen Identität in den Dis-
kriminierungsschutz des Grundrechts aus Art. 3 Abs. 3
unserer Verfassung aufzunehmen. Ein von der Union be-
nannter Sachverständiger verstieg sich zu der Behaup-
tung, die Integration von Migranten muslimischen Glau-
bens erlaube einen solchen Schutz vor Diskriminierung
in der Verfassung nicht, weil er von diesen Menschen
abgelehnt werde. Niemand von Ihnen hat im Ausschuss
widersprochen. Es war beklemmend zu sehen und zu hö-
ren, dass Ihnen selbst solche unglaublichen „Argu-
mente“ recht sind, um sich gegen jeden weiteren Diskri-
minierungsschutz zu wehren.
Heute haben Sie eine Gelegenheit, Ihre Position noch-
mals zu überdenken. Dazu fordern wir Sie ganz aus-
drücklich auf.
Anlage 6
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines … Gesetzes
zur Änderung der Abgabenordnung (Abschaf-
fung der strafbefreienden Selbstanzeige bei
Steuerhinterziehung) (Tagesordnungspunkt 19)
Manfred Kolbe (CDU/CSU): Lassen sie mich zu-
nächst vorausschicken, dass meine Fraktion, die CDU/
CSU, die Steuerhinterziehung energisch bekämpft. Wäh-
rend bis 2005 unter Rot-Grün in dieser Richtung wenig
passiert ist, hat die unionsgeführte Große Koalition seit
2005 zahlreiche gesetzgeberische Maßnahmen zur Be-
kämpfung der Steuerhinterziehung auf den Weg ge-
bracht.
Der verfassungsrechtlich problematische § 370 a Ab-
gabenordnung, gewerbsmäßige oder bandenmäßige
Steuerhinterziehung, wurde gestrichen und die entspre-
chende Qualifizierung als neuer § 370 Abs. 3 Satz 2
Nr. 5 AO neu gefasst. Damit ist eine wirksamere Straf-
verfolgung der bandenmäßigen Hinterziehung von Um-
satz- oder Verbrauchsteuern möglich.
Das Gesetz zur Neuregelung der Telekommunika-
tionsüberwachung vom 21. Dezember 2007 nimmt erst-
mals mit diesem § 370 Abs. 3 Satz 2 Nr. 5 AO einen
qualifizierten Steuerhinterziehungstatbestand in den
Katalog des § 100 a StPO auf, der ohne Wissen der Be-
troffenen eine Telekommunikationsüberwachung und
Aufzeichnung ermöglicht. Damit wird erstmalig eine Te-
lekommunikationsüberwachung für schwere Steuerhin-
terziehungstatbestände ermöglicht.
Das Jahressteuergesetz 2009 vom 19. Dezember 2008
verlängert in § 376 AO die Verjährungsfrist für beson-
ders schwere Fälle der Steuerhinterziehung auf zehn
Jahre.
Auch die Steuerfahndung in Deutschland war grund-
sätzlich erfolgreich. Jahr für Jahr haben wir rund 40 000
Verfahren, 17 000 Strafverfahren und Mehreinnahmen in
Milliardenhöhe.
Zu begrüßen ist auch, dass der Bundesgerichtshof die
Strafzumessungsregeln bei Steuerhinterziehung präzi-
siert hat. Der Strafrahmen von bis zu zehn Jahren Frei-
heitsstrafe ist durchaus ausreichend, als problematisch
empfunden wurde aber mitunter dessen mangelnde Aus-
schöpfung durch einzelne Urteile.
Der Bundesgerichtshof hat jetzt entschieden, dass
Freiheitsstrafen künftig schon bei einem Steuerschaden
von mehr als 50 000 Euro möglich und ab 100 000 Euro
unerlässlich sind, allerdings bei Ersttätern noch zur Be-
währung ausgesetzt werden können. Bei Hinterziehung
in Millionenhöhe schließt der Bundesgerichtshof die
Möglichkeit einer Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Be-
3652 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
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währung grundsätzlich aus. Wer künftig Steuern in Mil-
lionenhöhe hinterzieht, sitzt tatsächlich im Gefängnis.
Schließlich haben wir im Mai 2009 den Koalitionsan-
trag „Steuerhinterziehung bekämpfen“ beschlossen, der
eine weitere Vielzahl von zu ergreifenden Maßnahmen
enthält. Insbesondere fordert er im internationalen Be-
reich eine Überarbeitung und umfassende Erweiterung
der Europäischen Richtlinien zur Zinsbesteuerung und
einen verbesserten Informationsaustausch auf internatio-
naler Ebene.
Besonders im internationalen Bereich sind wir durch
Anstrengungen aller großen Industriestaaten deutlich
weitergekommen und haben jetzt weitgehend einen In-
formationsaustausch nach Art. 26 des OECD-Musterab-
kommens durchgesetzt. Derzeit laufen zahlreiche Ver-
handlungen mit Staaten, die dazu bisher nicht bereit
waren.
Der heute in erster Lesung von der Fraktion der SPD
eingebrachte Entwurf eines Gesetzes zur Abschaffung
der strafbefreienden Selbstanzeige bei Steuerhinterzie-
hung macht gleich zu Beginn durch dreierlei erstaunli-
che Umstände auf sich aufmerksam:
Erstens liegt dieser seit langem angekündigte Gesetz-
entwurf erst seit gestern ausformuliert dem Hause vor.
Diese lange Reife ist offenbar auf heftige Geburtswehen
zurückzuführen. Offenbar war man sich auch unter So-
zialdemokraten nicht ganz einig, ob es tatsächlich sinn-
voll ist, die seit über 100 Jahren in der deutschen Steuer-
rechtsordnung verankerte Möglichkeit der
strafbefreienden Selbstanzeige abzuschaffen. Jedenfalls
dort, wo die Sozialdemokraten noch regieren und den Fi-
nanzminister stellen, herrscht eine etwas realitätsbezoge-
nere Sichtweise. So verteidigte der rheinland-pfälzische
Finanzminister Carsten Kühl, SPD, die Strafbefreiung
durch Selbstanzeige bei Steuerdelikten gegen Kritik aus
seiner Partei mit den Worten:
Ich bin dafür, dass wir die Möglichkeit der Strafbe-
freiung durch Selbstanzeige beibehalten. Letztlich
profitiert der Staat davon, denn wer sich selbst an-
zeigt, muss alles offenlegen. Das ist viel effektiver
als der Einsatz von Ermittlern.
Zweitens fällt auf, dass die Sozialdemokraten ihren
Gesetzentwurf nicht mit übertriebender Energie einbrin-
gen, wenn sie heute auf die mündliche Erörterung im
Plenum verzichten und alle Reden zu Protokoll gegeben
werden.
Drittens schließlich ist der Gesetzentwurf denkbar
einfach gestrickt und fordert die völlige Abschaffung der
strafbefreienden Selbstanzeige. Anstatt sich differen-
zierte Gedanken zu machen, wie dieses Instrument fort-
entwickelt werden kann und kriminalpolitische Zielset-
zungen einerseits und fiskalpolitische Zielsetzungen
andererseits besser vereinbart werden können, heißt es
nur: Weg damit! Dies ist zu einfach gestrickt und wird
der Bekämpfung der Steuerhinterziehung nicht gerecht.
Meine Fraktion tritt einerseits für die Beibehaltung
der strafbefreienden Selbstanzeige gemäß § 371 Abga-
benordnung ein, möchte aber andererseits dort, wo die
Selbstanzeige mit krimineller Energie bereits von An-
fang an in die Steuerhinterziehungsplanung mit einbezo-
gen wird, engere Schranken ziehen.
Die „strafbefreiende Selbstanzeige“ ist der verfas-
sungsrechtlich anerkannte Weg zurück in die Steuer-
ehrlichkeit. Den Regelungen der strafbefreienden Selbst-
anzeige nach § 371 AO liegen dabei fiskal- und
kriminalpolitische Zielsetzungen zugrunde: Aus fiskal-
politischer Sicht ist § 371 AO ein Instrument zur „Er-
schließung bisher verheimlichter Steuerquellen“. Dem
an einer Steuerhinterziehung Beteiligten soll mit der in
Aussicht gestellten Straffreiheit ein attraktiver Anreiz
zur Berichtigung vormals unzutreffender oder unvoll-
ständiger Angaben gegeben werden, um im Interesse des
Fiskus eine diesem bislang verborgene und ohne die Be-
richtigung möglicherweise auch künftig unentdeckt blei-
bende Steuerquelle zu erschließen. Daneben kommt in
§ 371 AO auch das strafrechtliche Prinzip zum Aus-
druck, dass eine „tätige Reue“ – mit der die Wirkungen
einer Tat rückgängig gemacht werden – dem Täter zugu-
tekommen soll. Änderungen in Bezug auf § 371 AO
müssten daher sowohl auf die fiskalpolitischen als auch
auf die kriminalpolitischen Belange abgestimmt werden.
Weiter ist die strafbefreiende Selbstanzeige auch kein
deutsches Sonderrecht, sondern sie gibt es in der einen
oder anderen Form auch in den meisten anderen europäi-
schen Ländern und in den USA.
Schließlich ist die strafbefreiende Selbstanzeige der-
zeit ein besonders wirkungsvolles Instrument im Kampf
gegen die Steuerhinterziehung.
Seit dem Ankauf der sogenannten Steuersünder-CD
in diesem Winter haben sich bisher circa 16 000 Steuer-
pflichtige auf Grundlage des § 371 Abgabenordnung
selbst angezeigt. Experten rechnen mit wöchentlich
1 000 neuen Anzeigen, wobei mit jeder neuen angekauf-
ten Steuersünder-CD auch die Zahl der Selbstanzeiger
höher werden wird. Die Finanzministerien von Bund
und Ländern rechnen mit Steuernachzahlungen von
mehr als 1 bis zu 3 Milliarden Euro. Genauere Schätzun-
gen wird es beim Bericht der Steuerschätzung im Mai
geben. Ohne das Instrument der Selbstanzeige würden
diese Beträge niemals vereinnahmt werden können.
Auch bei einer Verdoppelung oder Verdreifachung der
Zahl der Steuerfahnder könnten die Tausenden von Fäl-
len niemals ausermittelt werden. Aber: Die Flut der
Selbstanzeigen zeigt aber eben auch, dass vielfach nicht
ehrliche Reue der ausschlaggebende Grund für die
Rückkehr zur Steuerehrlichkeit ist, sondern vielmehr die
Angst vor Entdeckung oder das Nichtaufgehen einer
kühl kalkulierten Hinterziehungsstrategie. Wir werden
deshalb die Erkenntnisse aus dem Ankauf der Steuerhin-
terzieher-CDs zum Anlass nehmen, die strafbefreiende
Selbstanzeige mit dem Ziel zu überprüfen, dass dieses
Instrument zwar notwendigerweise erhalten bleibt, aber
nicht mehr als Gegenstand einer Hinterziehungsstrategie
missbraucht werden kann. Folgende Änderungen wären
zielführend:
Erstens: Vorverlegung des Zeitpunktes der Tatent-
deckung, damit für die Inanspruchnahme der strafbefrei-
enden Selbstanzeige der Spielraum für Hinterziehungs-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3653
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strategien genommen wird. Es sollte schon auf einen
tatsachengestützten Anfangsverdacht abgestellt werden
und nicht mehr wie bisher auf eine konkrete Tatent-
deckung – Wahrscheinlichkeit der Verurteilung. Außer-
dem sollte schon der Zeitpunkt des Zugangs der Betriebs-
prüfungsanordnung und nicht mehr erst das Erscheinen
des Amtsträgers zur steuerlichen Prüfung maßgeblich
sein.
Zweitens: Ausschluss der sogenannten Teilselbst-
anzeige, mit der sich Steuerhinterzieher häufig nur
scheibchenweise je nach aktuellem Entdeckungsrisiko
erklären. Steuerhinterzieher sollen nur noch durch eine
umfassende Selbstanzeige die Strafbefreiung in An-
spruch nehmen können. Damit würde verhindert, dass
sich Steuerhinterzieher etwa nur im Hinblick auf die
Schweiz anzeigen, verstecktes Geld in anderen Ländern
jedoch weiter verschweigen. Sämtliches auf der Welt
verstecktes Geld muss künftig offengelegt werden, damit
die Strafbefreiung gewährt wird.
Drittens: Einführung eines Zinszuschlages, damit
Steuerhinterzieher bei Inanspruchnahme einer strafbe-
freienden Selbstanzeige am Ende wirtschaftlich auch
spürbar stärker belastet sind als ehrliche Steuerzahler,
die lediglich zu spät zahlen – zum Beispiel Stundungs-
fälle. Derzeit gilt ein Zinssatz von 6 Prozent sowohl für
ehrliche Steuerzahler als auch für Steuerhinterzieher.
Eine Abschaffung des § 371 Abgabenordnung wird es
mit den Koalitionsfraktionen nicht geben. Wir sind für
eine sachgerechte Reform dieser Vorschrift. Ziehen Sie
besser Ihren Gesetzentwurf zurück, und lassen sie uns
gemeinsam überlegen, wie wir Steuerhinterziehung ef-
fektiver bekämpfen können – unter fiskalischen und kri-
minalpolitischen Aspekten.
Martin Gerster (SPD): Steuerhinterziehung war nie
ein Kavaliersdelikt. Sie ist es nicht und wird es niemals
sein. So weit, so gut. Das Bekenntnis zu einem ent-
schlossenen Kampf gegen alle Formen von Steuerkrimi-
nalität hört man in diesem Haus gegenwärtig aus allen
Richtungen. Wir dürfen nicht zulassen, dass es zum Lip-
penbekenntnis verkommt. Wo andere Leerformeln da-
herbeten, wollen wir Sozialdemokraten Steuerhinterzie-
hung wirksam bekämpfen. Der von uns eingebrachte
Gesetzentwurf führt deshalb den unter Finanzminister
Peer Steinbrück mutig beschrittenen Erfolgsweg fort.
Seinem Einsatz ist zu verdanken, dass sich das Ge-
schäftsmodell „Steueroase“ international auf dem Rück-
zug befindet. Das Steuerhinterziehungsbekämpfungsge-
setz hat Wirkung gezeigt. Seit Herbst 2008 haben
zahlreiche Länder den OECD-Standard zu Bankauskünf-
ten akzeptiert. Damit haben sich auch die Chancen, deut-
schen Steuerkriminellen auf die Schliche zu kommen,
deutlich verbessert.
Angesichts dieser erfreulichen Entwicklung ist es
jetzt an der Zeit, den Umgang mit der strafbefreienden
Wirkung von Selbstanzeigen zu überdenken. Wir wollen
Steuerhinterziehern in Zukunft die Möglichkeit nehmen,
sich auf diesem Wege ihrer gerechten Strafe zu entzie-
hen; denn wir sind überzeugt, dass die bisherige Rege-
lung ihren ursprünglichen Sinn verloren hat und zu ei-
nem Instrument im strategischen Werkzeugkasten von
Tätern verkommen ist, die ihre baldige Überführung
fürchten müssen. Wir gehen diesen Schritt im Interesse
der überwiegenden Mehrheit unserer Bürgerinnen und
Bürger, die ehrlich ihre Steuern zahlen, damit unser Ge-
meinwesen seine Leistungen erbringen kann. Deren Ge-
rechtigkeitsempfinden wird durch die strafbefreiende
Selbstanzeige in empfindlichem Maße verletzt.
Umso enttäuschender ist es, dass Schwarz-Gelb – trotz
vieler Sonntagsreden – bei der Bekämpfung von Steuer-
hinterziehung kaum wahrnehmbares Engagement an den
Tag legt. In manchen Bundesländern drängt sich sogar
der Eindruck auf, dass CDU und vor allem FDP mehr
am aktiven Täterschutz Interesse haben als an der Auf-
klärung von Steuerstraftaten. Wie kann es sein, dass sich
diese Bundesregierung noch immer nicht auf einen ein-
deutigen Kurs im Umgang mit Steuerdaten, die ihr zum
Kauf angeboten werden, hat einigen können? Wie kann es
sein, dass ein baden-württembergischer FDP-Justizminis-
ter sich dem Ankauf entsprechender Datenträger verwei-
gert und dafür Bedenken vorschiebt, die sein nordrhein-
westfälischer Kollege und Parteifreund offensichtlich in
keinem Punkt teilt. Statt solcher taktischer Spielchen
wären CDU und FDP besser beraten, ein klares Signal
zu setzen: Steuerehrlichkeit ist eine Bürgerpflicht, die
sich unser Staat nicht abhandeln lässt. Es darf nicht sein,
dass Menschen unser Gemeinwesen über Jahre hinweg
und systematisch betrügen – mit dem klaren Kalkül, sich
in letzter Sekunde mit einer Selbstanzeige aus dem
Sumpf der Kriminalität zu ziehen. Wir beobachten: Das
Verhalten der Steuerhinterzieher wird vor allem von der
Angst vor Entdeckung geleitet. Mit jeder CD mit Steuer-
daten, die den Steuerbehörden einen Ankauf wert er-
scheint, rollte eine neue Welle von Selbstanzeigen an.
Mittlerweile sind es mehr als 16 000, davon allein 4 300
aus meinem Heimatland Baden-Württemberg.
Die Selbstanzeigen kommen und gehen – das Phäno-
men der Steuerflucht bleibt bestehen; denn offensicht-
lich erscheint vielen Steuerkriminellen das Risiko, er-
wischt zu werden, noch zu gering. Deshalb streben wir
einen Strategiewechsel an, der das uralte Gezeitenspiel
von Steuerflucht und Selbstanzeige neuen Regeln unter-
wirft. Wir müssen klare Kante ziehen: Der § 371 der Ab-
gabenordnung ist ersatzlos zu streichen. Ab dem 1. Ja-
nuar 2011 muss die Tür zur Flucht in die Selbstanzeige
geschlossen sein. Bis dahin bleibt jenen, die den Rück-
weg in die Steuerehrlichkeit suchen, eine letzte Frist.
Um wirksam zu werden, muss diese Maßnahme jedoch
durch weitere Anstrengungen flankiert werden. Das
heißt, wir müssen unseren Finanzbehörden bereits im
Besteuerungsverfahren die notwendigen Mittel an die
Hand geben, um auf nationaler, europäischer und inter-
nationaler Ebene erfolgreich und effizient zusammenzu-
arbeiten. Gleichzeitig muss uns daran gelegen sein, das
Schwert der Steuerfahndung so scharf zu halten, dass
potenziellen Steuerhinterziehern das Entdeckungsrisiko
jederzeit klar vor Augen steht. Deshalb müssen wir den
Finanzbehörden die notwendigen Mittel in die Hand ge-
ben, um im In- und Ausland effizient zu ermitteln.
Der ein oder andere mag nun argumentieren, durch
eine Streichung von § 371 AO würde das Element der
3654 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
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„tätigen Reue“ zu kurz kommen. Darüber können wir
diskutieren. Ich gebe aber zu bedenken: Das Prinzip
wird weiterhin im Steuerstrafverfahren berücksichtigt
werden. Insofern bieten sich auch ohne die völlige Straf-
freiheit bei Selbstanzeige hinreichende Anreize für Steu-
erkriminelle, mit den Behörden zusammenzuarbeiten.
Wir Sozialdemokraten im Deutschen Bundestag stre-
ben mit dem vorliegenden Gesetzentwurf einen Paradig-
menwechsel im Umgang mit Steuerhinterziehung an.
Nicht mehr und nicht weniger. Auch aufseiten unseres
früheren Koalitionspartners gab es ja noch vor kurzem
Anzeichen, uns auf diesem Weg zu folgen. Ich denke da
nicht nur an den Kollegen Hans Michelbach, sondern
vor allem an den saarländischen Ministerpräsidenten
Peter Müller, der sich in dieser Frage ganz in unserem
Sinne geäußert hat. Ich darf ihn aus der Frankfurter
Rundschau vom 22. Februar zitieren:
Steuerhinterziehung ist soziales Schmarotzertum.
Sie muss konsequent verfolgt werden. … Steuer-
hinterzieher dürfen künftig nicht mehr generell
straffrei davonkommen, wenn sie sich selbst anzei-
gen. … Der Staat kann sich doch nicht seinen An-
spruch, Unrecht zu bestrafen, abkaufen lassen. Wer
Unrecht begeht, muss dafür geradestehen, egal, ob
es Körperverletzung oder ein Steuerdelikt ist, und
egal, ob es sich um einen armen Schlucker oder ei-
nen Millionär handelt.
Leider ist bis auf Ankündigungen nicht viel von Ih-
rem Elan übrig geblieben, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen von der Union. Als es vor der Osterpause um das
Thema Steuerkriminalität ging, haben Sie von uns kon-
krete Vorschläge eingefordert. Wir legen hier einen kon-
kreten Vorschlag vor. Zwischenzeitlich hatten Sie ja mit
einem eigenen Gesetzentwurf geliebäugelt. Gestern im
Finanzausschuss war nur noch von einem Antrag die
Rede. Schlagen Sie sich nicht zu ihrem Koalitionspart-
ner ins gelbe Gebüsch! Verpassen Sie nicht die Chance,
hier gesetzliche Fakten zu schaffen!
Ich lade Sie herzlich ein, sich aus ihrer Koalition der
Unwilligen zu lösen und gemeinsam mit uns die mittler-
weile überkommene Regelung zur Straffreiheit bei
Selbstanzeige aus der Welt zu schaffen. Stimmen Sie un-
serem Gesetzentwurf zu, und setzen Sie ein Zeichen,
dass es Ihnen mit dem Kampf gegen Steuerkriminalität
ernst ist!
Frank Schäffler (FDP): „Die Strafe tritt nicht ein,
falls der Schuldige, bevor die Sache zur Untersuchung
an das Gericht abgegeben ist, seine Angaben an der zu-
ständigen Stelle berichtigt oder vervollständigt.“ – Diese
Regelung stand im Sächsischen Einkommensteuergesetz
vom Dezember 1874. 126 Jahre Rechtsgeschichte wol-
len Sie seitens der SPD-Fraktion nun einfach in den
Wind schlagen. Und auch auf diesem Gebiet ist es so,
wie wir es schon kennen: Die SPD hat elf Jahre den Fi-
nanzminister gestellt und blieb in vielen Feldern untätig.
Nun, da sie das Ministerium nicht mehr führt, bricht der
Aktionismus aus. Sie hätten die strafbefreiende Selbst-
anzeige ja längst abschaffen können, wenn Sie denn
wirklich davon überzeugt wären. Sie können sich seitens
der SPD-Fraktion auch nicht mit Hinweis auf den Koali-
tionspartner herausreden. Denn Sie schreiben ja in dem
Antrag mehrfach, was die SPD alles gegen die Union
durchgesetzt habe. Nach Ihrer eigenen Darstellung hät-
ten Sie es dann auch hier schaffen müssen.
Aber wahrscheinlich wissen Sie selbst, dass es nicht
sinnvoll ist, die strafbefreiende Selbstanzeige abzuschaf-
fen.
Seit Jahresbeginn haben sich 13 000 Steuerpflichtige
selbst angezeigt. Ihre Nachzahlungen summieren sich
auf 1,1 Milliarden Euro. Hätte es die strafbefreiende
Wirkung der Selbstanzeige nicht gegeben, hätten es viele
Steuerpflichtige sicherlich darauf ankommen lassen und
sich nicht bei ihrem Finanzamt gemeldet. Der Staat ist
bei der Besteuerung auf die Mitwirkung des Steuer-
pflichtigen angewiesen. Wenn jedoch ein Strafverfahren
läuft, wird die steuerliche Mitwirkungspflicht verdrängt.
Dann gilt der Grundsatz, dass sich niemand selbst belas-
ten muss. Das Ermittlungsverfahren und das Gerichts-
verfahren werden entsprechend aufwendiger und am
Ende besteht die Gefahr, dass doch nicht alles aufge-
deckt wird.
Dies macht deutlich, dass der Zweck der strafbefrei-
enden Wirkung der Selbstanzeige ja gerade darin be-
steht, die Gleichmäßigkeit der Besteuerung sicherzustel-
len. Es ist gerade auch im Interesse der ehrlichen
Steuerzahler, dass Steuerhinterzieher sich offenbaren
und damit ihrer Steuerpflicht nachkommen. Dadurch
können sie umfassend nachbesteuert und auch Mittäter
und Gehilfen verfolgt werden. Durch eine Selbstanzeige
werden dem Staat auch Steuerquellen für die Zukunft er-
schlossen. Hat der Steuerpflichtige die verborgene Steu-
erquelle aufgedeckt, so ist es ihm in der Zukunft nicht
mehr möglich, diese Quelle nicht mehr anzugeben. Der
Staat wird deshalb auch in Zukunft von dieser Steuer-
quelle profitieren.
Eine Möglichkeit, das Besteuerungsrecht des Staates
durchzusetzen, besteht auch in der derzeit stockenden
Überarbeitung der EU-Zinsrichtlinie. Dadurch kann eine
Quellenbesteuerung im Ausland ermöglicht werden, die
höher ist als die deutsche Abgeltungsteuer.
Die Bundesregierung ist dabei, den Informationsaus-
tausch mit ausländischen Staaten zu verbessern. Wir ma-
chen das übrigens, anders als Herr Steinbrück, auch ohne
befreundete Staaten zu beschimpfen. Dadurch steigen
die Erfolgsaussichten deutlich.
Wir werden als Koalition die Einzelheiten der Rege-
lung der strafbefreienden Selbstanzeige genau prüfen
und sie auch entsprechend ändern. Eine pauschale Strei-
chung, wie sie die SPD vorschlägt, lehnen wir ab.
Vor allem werden wir aber das Steuersystem einfa-
cher und gerechter machen. Laut einer Umfrage der Stif-
tung Marktwirtschaft halten rund 50 Prozent der Deut-
schen Steuerhinterziehung für vertretbar. Wir werden
mit einer Steuerreform dazu beitragen, dass diese Zahl
deutlich sinkt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3655
(A) (C)
(D)(B)
Richard Pitterle (DIE LINKE): In meiner Nachbar-
stadt Leonberg hat die Stadtverwaltung vorgeschlagen,
alle fünf Jugendhäuser zu schließen und die Sozialarbei-
ter zu entlassen. In meiner Gemeinde Sindelfingen, einst
eine der reichsten Städte, wurde beschlossen, eine
Schule, die hervorragende Sozialarbeit betreibt, zu
schließen. Eine Hortgruppe soll trotz einer langen Warte-
liste aufgelöst werden. Menschen, die Kinder in Musik
unterrichten, sollen aus einem sozialversicherungs-
pflichtigen Arbeitsverhältnis in ein Honorarverhältnis
gezwungen werden, wodurch sie ein Stück Lebenssi-
cherheit verlieren. Viele Gemeinden reduzieren ihre so-
zialen und kulturellen Angebote. Und das alles mit dem
Argument, es sei kein Geld da. Aber das Geld ist da. Es
liegt bei den Banken in der Schweiz, in Liechtenstein
oder auf einer exotischen Insel, weil „ehrenwerte“ Bür-
ger dieser Gesellschaft das Geld, das wir dringend zur
Finanzierung von wichtigen Aufgaben benötigen, der
Besteuerung entziehen wollen.
Die genaue Höhe der jährlichen Steuerhinterziehung
lässt sich bekanntermaßen nicht genau beziffern. Wenn
jedoch durch die Arbeit von Steuerfahndern, trotz des
Personalmangels bei den Finanzämtern, im Jahr 2004
1,6 Milliarden Euro zusätzlich eingenommen wurden,
kann man sich vorstellen, welche Reserven hier stecken.
Der jüngste Fall des Steuer-CD-Ankaufs aus der
Schweiz hat die Höhe der Steuerhinterziehungen eben-
falls deutlich bewiesen: Bei den bundesdeutschen Fi-
nanzämtern sind nach einer Medienmeldung bis heute
rund 16 000 Selbstanzeigen mit einer durchschnittlichen
Rückzahlung von 60 000 Euro pro Anzeige, also insge-
samt circa 1 Milliarde Euro, eingegangen. Da kann man
schon eine ziemliche Wut bekommen. Und ganz neben-
bei: Steuersünder-CD, das klingt so verharmlosend, ein
wenig nach dem Motto: wir sind doch alle Sünder vor
dem Herrn. Daher spreche ich lieber von einer Steuerkri-
minellen-CD. Laut Medienberichten sollten sogar bis zu
100 000 Deutsche 23 Milliarden Euro an der Steuer vor-
bei auf Schweizer Konten deponiert haben und die
Schweiz ist ja auch nur eine der sogenannten Steuer-
oasen. Das ist doch ein Skandal.
Daher habe ich großes Verständnis für den Antrag der
SPD, die Straffreiheit bei Selbstanzeigen abzuschaffen.
Dieses Anliegen findet auch die Unterstützung meiner
Fraktion. Nun lese ich Vorschläge von einigen Finanzpo-
litikern der Regierungsparteien, wie die Möglichkeit für
eine straflose Selbstanzeige eingeschränkt werden
könnte, darunter einige Vorschläge, mit denen ich per-
sönlich auch mitgehen könnte. Aber die Frage ist doch,
Herr Dautzenberg: Warum entfalten Sie Ihre Fantasie
auf diesem Gebiet, nachdem die SPD den Antrag gestellt
hatte, die strafbefreiende Selbstanzeige zu streichen? Da
kommt doch der Verdacht auf, dass es Ihnen darum geht,
den Antrag der SPD aufzuweichen und sich schützend
vor die Steuerhinterzieher zu stellen. Wir brauchen jetzt
von der Regierung Taten und nicht nur Ankündigungs-
politik, die davon ablenkt, dass die Koalition zugelassen
hat, dass sich Vermögende legal oder auch illegal der
Steuerzahlung entziehen können. Ich appelliere an die
Bundesregierung: Sorgen Sie auch durch konsequente
Bekämpfung der Steuerhinterziehung dafür, dass die
Kommunen wieder ihren Pflichtaufgaben nachkommen
können! Sorgen Sie endlich für Steuergerechtigkeit bei
uns im Land!
Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir
diskutieren heute den Gesetzentwurf der SPD zur Ab-
schaffung der strafbefreienden Selbstanzeige bei Steuer-
hinterziehung. Ich sage es ganz offen: Mich überzeugt
weder der Zeitpunkt der Einbringung noch der Inhalt des
Vorschlags der SPD.
Vor zwei Tagen kannten wir noch nicht mal den Text
des Gesetzentwurfs. Auf Biegen und Brechen muss er
heute, in der letzten Sitzungswoche des Bundestages vor
der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, diskutiert
werden. Die SPD-Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfer
wollen ab morgen im Land ausschwärmen und sich mit
dieser Initiative schmücken.
Die Begründung des Gesetzes ist außerordentlich
dürftig und kümmerlich. Eigentlich habe ich nur ein
„Argument“ in Ihrem Entwurf gelesen: „Erfahrungen
der vergangenen Jahrzehnte haben gezeigt, dass die
Möglichkeit zur Selbstanzeige mit Straffreiheit keinen
Rückgang der Steuerhinterziehung bewirkt, sondern nur
den Täter vor Bestrafung bewahrt.“
Im Jahre 2001 hat die damalige Bundesregierung
– zuständig waren der sozialdemokratische Finanzminis-
ter Eichel und die sozialdemokratische Justizministerin
Däubler-Gmelin – auf Anfrage der PDS erklärt: „Bei der
Selbstanzeige handelt es sich um ein Rechtsinstrument,
das sich über Jahrzehnte hervorragend bewährt hat“ –
Bundestagsdrucksache 14/6723.
Ein Jahr später hat der stellvertretende Vorsitzende
der SPD-Bundestagsfraktion und einer ihrer Finanzex-
perten, der Kollege Poß, erklärt, die Selbstanzeige sei
eine „goldene Brücke“, die nicht infrage gestellt werden
dürfe – siehe Handelsblatt vom 5. April 2002.
Ich frage Sie deshalb angesichts ihres heutigen Geset-
zesvorschlags: Was ist nun richtig: Hat sich die Selbst-
anzeige im Steuerrecht jahrzehntelang hervorragend
bewährt oder ist sie seit Jahrzehnten nutzlos und kontra-
produktiv?
Die strafbefreiende Selbstanzeige bei Steuerhinterzie-
hung gibt es in Deutschland durchgehend seit 1874. So
hieß es in Art. 30 des Badischen Kapitalrentensteuerge-
setzes vom 29. Juni 1874: „Wird die unterbliebene oder
zu niedrig abgegebene Erklärung späterhin nachgetragen
oder berichtigt, bevor das Vergehen … angezeigt worden
ist, so fällt jede Strafe weg.“
Eine Vorschrift, die es seit 140 Jahren ununterbrochen
– wenn auch in verschiedenen Gesetzen und Formulie-
rungen – gibt, kippt man nicht so mir nichts, dir nichts
wegen eines laufenden Wahlkampfs in Nordrhein-West-
falen über den Haufen; und das auch noch ohne jede
überzeugende Begründung.
Wenn die Behauptung der SPD richtig wäre, dass die
Selbstanzeige über Jahrzehnte zum Rückgang der Steu-
erhinterziehung nichts beigetragen habe, müsste sie we-
nigstens verlässliche Zahlen zum Umfang der Steuerhin-
3656 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
(A) (C)
(D)(B)
terziehung und ihrer Entwicklung über Jahrzehnte
vorlegen. Nichts davon können wir in der Begründung
lesen, dafür aber mehr vom angeblichen „Rechtsempfin-
den der Bevölkerung“. Das Bundesministerium der Fi-
nanzen hat auf seiner Homepage die Ergebnisse der
Steuerfahndung 2008 zusammengefasst. Dort können
wir die Aussage lesen: „Das tatsächliche Ausmaß der
Steuerhinterziehung ist nicht messbar.“
Auch zu Ausmaß und Entwicklung der Selbstanzei-
gen sind verlässliche Zahlen schwer zu bekommen.
Gestern konnten wir im Stern von rund 16 000 Selbst-
anzeigen seit Kenntnis vom drohenden Ankauf der Da-
ten aus der Schweiz lesen. Das erscheint ein rasanter An-
stieg, der uns sowohl fiskalisch als auch rechtspolitisch
freuen könnte.
Im Jahre 2001 hat die Bundesregierung auf eine An-
frage der FDP folgende Zahlen bekannt gegeben: Im
Jahr 1998 gab es 10 400, im Jahr 1999 26 365 und im
Jahr 2000 27 334 Selbstanzeigen.
Es liegt auf der Hand und ist unmittelbar einleuch-
tend: Nicht alle, die zur Selbstanzeige greifen, tun dies
aus Gründen der moralischen Läuterung. Das wäre auch
sehr verwunderlich: Wir verlangen ja nicht mal von den
Bürgerinnen und Bürgern insgesamt, dass sie gerne
Steuern zahlen. Es reicht in einem Rechtsstaat völlig,
wenn sie es tun, weil sie dazu verpflichtet sind.
Damit komme ich zum Kernpunkt des Problems, wie
wir Grüne ihn sehen: Steuerhinterziehung ist eindeutig
eine kriminelle Handlung und kein Kavaliersdelikt. Die
wirksamste Bekämpfung – im Sinne der SPD gespro-
chen: „der Rückgang der Steuerhinterziehung“ – ist nur
zu erreichen durch erhöhten Verfolgungsdruck, ein ho-
hes Entdeckungsrisiko, durch eine schnelle und schuld-
angemessene Bestrafung, vollständige Nachzahlung der
Steuern und Abschöpfung aller Vorteile aus der Straftat.
Was ist also zu fordern, welche Maßnahmen sind not-
wendig und überfällig? – Wir brauchen die Austrock-
nung der Steueroasen, keine Duldsamkeit mehr mit Staa-
ten, die steuerrechtlich unkooperativ sind – niemand will
ernsthaft, wie es aber der letzte sozialdemokratische
Bundesfinanzminister halb im Scherz, aber mit drohen-
dem Unterton vorschlug, mit der Kavallerie einmar-
schieren; es würde reichen, die Mechanismen der
OECD-Standards konsequent anzuwenden –, eine kon-
sequente Verfolgung der professionellen Anstifter und
Helfershelfer – seien es auch honorige Banken oder Frei-
berufler –, eine Aufstockung und Ausrüstung der Steuer-
fahndung und nicht zuletzt eine Bundessteuerverwal-
tung. Das sind die Kernaufgaben. Der Streit um die
Selbstanzeige ist ein populistischer Nebenkriegsschau-
platz.
Die Selbstanzeige ist eine Rückkehr zu Steuerehrlich-
keit und Rechtstreue – aus welchen Motiven auch im-
mer. Sie völlig abzuschaffen ist kontraproduktiv und
rechtspolitisch verfehlt. Wir Grünen sind überzeugt vom
Grundgedanken der Zurückdrängung des Strafrechts auf
einen Kernbereich unerträglichen, verwerflichen Verhal-
tens und wollen einen Ausbau des Grundgedankens der
Straffreiheit bei tätiger Reue und nicht seine völlige Be-
seitigung im Steuerstrafrecht.
Das bedeutet nicht, dass die Regeln zur Selbstanzeige
nicht zu verbessern wären. Wir können Wiederholungs-
tätern die rote Karte zeigen. Wir können die Bedingun-
gen der Freiwilligkeitsschwelle schärfer fassen, und wir
können die Rückkehr zur Steuerehrlichkeit auch teurer
als bisher machen: Wenn schon – siehe die „goldene
Brücke“ des Kollegen Poß –, dann wollen wir den Brü-
ckenzoll erhöhen. Dazu werden wir konkrete und kon-
struktive Vorschläge machen. Dem Populismus der SPD
werden wir aber nicht folgen.
Anlage 7
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Umgang mit
Guantánamo-Häftlingen (Zusatztagesordnungs-
punkt 5)
Rüdiger Veit (SPD): Mit dem vorliegenden Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen soll die Bundesre-
gierung aufgefordert werden, die Bitte der USA, Häft-
linge aus Guantánamo in Deutschland aufzunehmen, so-
lidarisch zu prüfen.
Worum geht es hier im Kern?
Am 11. Januar 2002 wurden die ersten Gefangenen auf
den US-Militärstützpunkt Guantánamo Bay in Kuba ge-
bracht. Seither ist das Lager zusammen mit dem Gefängnis
Abu-Ghraib zum Synonym für den Exzess im Kampf ge-
gen den Terror und zum Sündenfall der USA und damit der
westlichen Welt und ihrer Werte, allen voran dem absolu-
ten Schutz der Menschenrechte und -würde geworden:
Seit sage und schreibe acht Jahren werden in Guan-
tánamo nunmehr Menschen ohne Anklage, Anrufung ei-
nes Gerichts und ohne anwaltliche Verteidigung ihrer
Freiheit beraubt. Unbestritten wurden die Gefangenen
Verhörmethoden unterzogen, die Folter und grausamer,
unmenschlicher und erniedrigender Behandlung gleich-
kommen.
Insgesamt wurden in Guantánamo rund 800 Männer
interniert. Ende 2009 saßen in Guantánamo immer noch
198 Gefangene. 103 Gefangene sollen in ihre Heimat-
länder oder Drittstaaten gebracht werden, weil gegen sie
offenbar nichts vorliegt; eine Reihe von Gefangenen will
die US-Regierung in den USA vor Zivilgerichten ankla-
gen.
45 Gefangene können nicht in ihre Heimat zurückkeh-
ren, weil ihnen dort Gefahren für Leib und Leben drohen;
zum Teil sogar deshalb, weil sie als Guantánamo-Häft-
linge stigmatisiert sind. Bei diesen 45 Personen handelt es
sich um Gefangene, die bereits unter der Bush-Regierung
befragt und überprüft worden sind und dann noch einmal
unter der Obama-Administration und bei denen beide Un-
tersuchungen zweifelsfrei ergeben haben, dass gegen sie
nichts vorliegt und keine Anklage vor einem US-Gericht
erhoben wird. Dieser Sachverhalt wurde mir und weite-
ren Kollegen der SPD-Fraktion anlässlich eines Treffens
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3657
(A) (C)
(D)(B)
am 10. Februar 2010 von Vertretern von ai und von
Rechtsanwälten, die Guantánamo-Häftlinge vertreten ha-
ben, dargelegt. Darunter war RA Zachary Katznelson,
US-amerikanischer Rechtsanwalt und Chefberater für
„Reprieve“, einer in London ansässigen Organisation, der
sich für unrechtmäßig Inhaftierte sowie zum Tode Verur-
teilte einsetzt. RA Katznelson hat 40 Gefangene in
Guantánamo vertreten und berichtete glaubwürdig, dass
gegen die oben genannten 45 Personen nichts, aber auch
gar nichts, vorliegen würde.
Ich möchte noch einmal wiederholen: Gegen insge-
samt 103 Gefangene wurden keine Verfahren eröffnet.
Sie wurden acht Jahre unschuldig und willkürlich in
Guantánamo festgehalten und mussten Unvorstellbares
erleiden.
So steht Guantánamo heute in aller Welt für einen to-
talen, verabscheuungswürdigen Bruch mit den Grundla-
gen aller demokratischen Rechtsstaaten der westlichen
Welt, in deren Reihen sich nach eigenem Selbstverständ-
nis sicherlich auch die USA sieht, so dass sie – die inter-
nationale Gemeinschaft demokratischer Staaten – ihren
Beitrag dazu leisten sollte, dass dieses menschenverach-
tende Lager schnellstens aufgelöst wird.
Man kann es vereinfacht auch so auf den Punkt brin-
gen: Wer Guantánamo kritisiert und zugleich Mitglied
dieser westlichen Wertegemeinschaft ist, muss letztlich
selbst einen Beitrag leisten wollen, um in seiner Kritik
glaubwürdig zu bleiben.
Ich darf erinnern: Bereits vor eineinhalb Jahren, im
November 2008, fand ein erstes Treffen von ai und An-
wälten des US-amerikanischen Center for Constitutional
Rights und Innnenpolitikern aller im Bundestag vertrete-
nen Fraktionen statt, bei dem die Anwälte auf die
schreckliche Lage der Inhaftierten hinwiesen und im
Vorfeld der Wahl von Barack Obama die Situation und
Bereitschaft europäischer Staaten zur Aufnahme von
ehemaligen Guantánamo-Häftlingen sondierten. Im An-
schluss an dieses Treffen habe ich je ein Schreiben an
den Bundesminister des Auswärtigen Amts und an den
Bundesinnenminister geschrieben, in dem ich um die
Aufnahme überprüfter und zu unrecht inhaftierter Häft-
linge gebeten habe. In den diesbezüglich gleichlauten-
den Antworten aus beiden Ministerien wurde ich darauf
verwiesen, dass abzuwarten sei, was die „künftige US-
Regierung nach ihrem Amtsantritt am 20. Januar 2009
unternehmen wird, um dieses Vorhaben – die Schließung
des Gefangenenlagers Guantánamo – umzusetzen“.
Heute ist die neue US-Regierung bekanntermaßen
seit über einem Jahr im Amt und Guantánamo Bay ist
immer noch nicht geschlossen. Allerdings hat die US-
Regierung inzwischen offiziell Deutschland um Hilfe
bei der Aufnahme von ehemaligen Häftlingen gebeten,
die – aus welchen Gründen auch immer – nicht in ihre
Heimat zurückkönnen.
Die SPD unterstützt ausdrücklich die Ankündigung
von Bundesinnenminister Thomas de Maizière, nunmehr
nach Vorliegen entsprechender konkreter Anfragen der
USA auch in Deutschland einige Gefangene aufnehmen
zu wollen und somit die im Antrag von Bündnis 90/Die
Grünen enthaltene Forderung an die ganze Bundesregie-
rung, in eben dieser Weise tätig zu werden.
Solche Herangehensweise steht in Kontinuität zur
Auffassung unseres Fraktionsvorsitzenden und damali-
gen Bundesaußenministers Dr. Frank-Walter Steinmeier
und der SPD-Fraktion.
Dagegen vorgebrachte Sicherheitsbedenken einiger
CDU-Bundestagskollegen und einiger der CDU angehö-
renden Länderinnenminister sind abwegig: Bei den in-
frage kommenden Menschen handelt es sich ja gerade
um solche, die eben nicht wegen des Verdachts terroristi-
scher Aktivitäten in den Vereinigten Staaten vor Gericht
gestellt werden – gegen die möglicherweise niemals
wirklich konkrete Verdachtsmomente vorgelegen haben,
sondern von dritter Seite gegen entsprechende „Kopfprä-
mien“ an die Vereinigten Staaten „verkauft“ wurden.
Allenfalls verständlich ist in diesem Zusammenhang
noch die Haltung, vielmehr seien es die USA selbst so-
zusagen als Verursacher, die zu einer menschenwürdigen
Behandlung dieser gequälten Menschen und damit zu ih-
rer Aufnahme in ihren Staat aufgerufen seien. In der Tat,
die USA hätte wohl alle Veranlassung zu wahrhaft groß-
herziger Wiedergutmachung. Dass dies nicht geschieht,
muss man auch gegenüber unserem Verbündeten politisch
scharf kritisieren. Jedenfalls darf es die internationale
Völkergemeinschaft nicht hinnehmen, dass Gefangene
aus Guantánamo in Heimat- und/oder Herkunftsstaaten
gebracht werden, in denen ihnen aus welchen Gründen
auch immer Gefahren für Leib, Leben oder ihre Freiheit
drohen.
Daneben gibt es aber auch noch eine ganz andere Pro-
blematik zu berücksichtigen, die meines Erachtens bis-
her nicht ausreichend beleuchtet wurde: Selbst in Fällen,
in denen die USA ihrerseits bereit sein sollten, ehemali-
gen Häftlingen die Einreise zu erlauben, ist ja wohl auch
die Gefühlslage der Betroffenen zu berücksichtigen.
Wem will man es verdenken, dass er sich nicht in die
Obhut eben desjenigen Staates begeben will, der ihn wo-
möglich jahrelang gequält und mindestens seiner Frei-
heit grundlos beraubt hat? Schließlich kann man vom
Opfer einer schweren Straftat schlecht verlangen, dass er
nach der Tat ins Haus des Täters sozusagen zur Unter-
miete einzieht.
Dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist
zu entnehmen, dass von den europäischen Staaten der-
zeit Frankreich, Italien, Ungarn, Albanien, die Schweiz
und die Slowakei der Bitte der USA nachgekommen
sind und bereits ehemalige Häftlinge aufgenommen bzw.
zugesagt haben, dies zu tun.
Die Bundesregierung hat jahrelang verlangt, Guan-
tánamo zu schließen. Wenn sie nun durch die Aufnahme
einiger weniger von Sicherheitsbehörden wiederholt
überprüfter ehemaliger Inhaftierter – und meinetwegen
auch nach einer nochmaligen eigenständig durchgeführ-
ten Überprüfung – die Schließung dieses fürchterlichen
Camps beschleunigen kann, dann sollte sie nicht mehr
lange zögern. Auch dies ist eine Frage der Glaubwürdig-
keit.
3658 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
(A) (C)
(D)(B)
Ich schlage vor, aus all den vorher genannten Grün-
den den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zu unter-
stützen.
Serkan Tören (FDP): Wie nicht anders zu erwarten,
lehnen wir den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen ab.
Der Antrag ist weder substanziiert, noch bietet er in-
haltlich etwas Neues. Er greift in ein laufendes Prü-
fungsverfahren ein, dessen Ausgang noch völlig offen
ist.
Da dieses Thema allerdings für die FDP besonders es-
senziell ist, möchte ich ausführlich darauf eingehen.
Auf dem US-amerikanischen Militärstützpunkt Guan-
tánamo Bay werden von den USA bis heute circa 180 Ter-
rorverdächtige unter rechtsstaatlich zweifelhaften Bedin-
gungen gefangen gehalten. Aus Sicht der FDP ist die
Schließung des Gefängnisses in Guantánamo ohne
Zweifel überfällig. Dieses Lager hätte niemals gegründet
werden dürfen.
Die Obama-Administration hat mit der erklärten Ab-
sicht zur Schließung des Gefangenenlagers Guantánamo
einen wesentlichen Politikwechsel bei der Terrorismus-
bekämpfung eingeleitet, der sehr im europäischen Inte-
resse liegt. Die US-Regierung hat zahlreiche Schritte un-
ternommen, um Lösungen für die noch verbliebenen
Häftlinge zu finden, etwa eine Freilassung oder fortge-
setzte Inhaftierung im Hinblick auf Gerichtsverfahren
vor zivilen Straf- oder Militärgerichten.
Unsere Position als FDP-Bundestagsfraktion war und
ist, dass ehemalige Guantánamo-Häftlinge zunächst von
ihren Heimatländern aufgenommen werden müssen.
Wenn dies nicht möglich ist, zum Beispiel wegen dro-
hender Folter, dann stehen die Vereinigten Staaten in der
Pflicht, das von ihnen geschaffene Unrecht zu beseiti-
gen. Dazu gehört neben der Frage des Aufenthaltes auch
die Beantwortung der Frage der Entschädigung der un-
schuldig einsitzenden Häftlinge.
Falls eine Aufnahme in den USA nicht möglich oder
zumutbar ist, dann sollte sich die Bundesrepublik
Deutschland einer Aufnahme nicht grundsätzlich ver-
schließen. Es gibt seit Monaten intensive Gespräche
zwischen dem Bundesinnenministerium und den ameri-
kanischen Behörden. Wir Liberalen begrüßen ausdrück-
lich, dass der Bundesinnenminister über konkrete Fälle
verhandelt, die für eine Ausreise nach Deutschland in-
frage kommen.
Es geht hierbei ausdrücklich um „einzelfallbezogene
Prüfungen“. Demnach ist zunächst zu prüfen, ob von
dem betreffenden Häftling eine Gefahr für die innere Si-
cherheit in Deutschland ausgeht. Falls dies nicht der Fall
ist, ist zu prüfen, weshalb die jeweilige Person nicht in
den Vereinigten Staaten verbleiben oder in ihr Heimat-
land reisen kann.
Für die FDP-Bundestagsfraktion steht fest, dass wir
grundsätzliche Sicherheitsrisiken schon im Vorfeld aus-
schließen wollen. Falls wir aus humanitären Gründen
ehemalige Häftlinge aufnehmen, müssen alle Sicher-
heitsbedenken bei jedem einzelnen Exhäftling geprüft
und ausgeräumt werden. Die FDP unterstützt daher un-
eingeschränkt das Vorgehen von Bundesinnenminister
Dr. Thomas de Maizière. Der Minister agiert aus unserer
Sicht sehr vorsichtig und verantwortungsbewusst.
Wir teilen in der christlich-liberalen Koalition die
Auffassung, dass wir weder Straftäter noch potenzielle
Gefährder nach Deutschland holen wollen. Es muss um
diejenigen Häftlinge gehen, die selbst nach Einschät-
zung der USA jahrelang unschuldig und unrechtmäßig in
dem umstrittenen Lager festgehalten worden sind. Auf
keinen Fall darf auf Deutschland ein nicht kalkulierbares
Sicherheitsrisiko zukommen. Wir gehen davon aus, dass
die amerikanische Seite dies genauso gewissenhaft und
gründlich prüft, wie unser Bundesinnenminister.
Gemeinsam mit unserem Koalitionspartner sind wir
uns allerdings auch darüber einig, dass die Prüfung noch
nicht abgeschlossen ist. Worum es letztlich auch geht,
ist, ob und wie wir der USA als unserem wichtigsten
Bündnispartner Hilfeleistung geben können. Daher dür-
fen wir uns in dieser Frage nicht verbarrikadieren.
Den Antrag der Grünen lehnen wir allerdings schon
allein deshalb ab, da er mit der Aufforderung an die Bun-
desregierung, solidarisch die Aufnahme von Guan-
tánamo-Häftlingen zu prüfen, nichts wesentlich Neues
bringt, sondern eine Tatsache beschreibt, welche zurzeit
ein Prüfverfahren durchläuft.
Ulla Jelpke (DIE LINKE): Die Linke plädiert ent-
schieden dafür, Häftlinge aus Guantánamo aufzuneh-
men. Diese Forderung richten wir schon seit langem an
die Bundesregierung. Der hauptsächliche Grund hierfür
ist ein humanitärer: Die Gefangenen, über die wir hier
sprechen, werden keinerlei Straftat beschuldigt. Nicht
einmal die USA, die bekanntlich jahrelang Foltermetho-
den angewandt haben, können diesen Häftlingen auch
nur die geringste Straftat anhängen. Es sind Unschul-
dige, die seit Jahren illegal, in völlig unzumutbarer und
unmenschlicher Haft gehalten werden, was jedem demo-
kratischen Anspruch spottet.
Die Frage, die sich stellt, ist natürlich: Was hat
Deutschland damit zu tun? Ist das nicht ein Problem der
USA, die das Folterlager ja selbst geschaffen haben und
jetzt auch selbst damit zurande kommen sollen? Nein, so
einfach ist es nicht. Zunächst ist da die humanitäre Seite,
die ich gerade angesprochen habe. In den USA können
diese Menschen schließlich nicht bleiben, das könnte ih-
nen auch keiner zumuten. Die Aufnahmebereitschaft der
BRD würde ihnen dagegen endlich die Freiheit bringen,
und wir würden damit dem Beispiel anderer Staaten fol-
gen. Es gibt aber auch eine politische Begründung: Die
Bundesrepublik steckt selbst bis zum Hals im
Guantánamo-Sumpf, sie hat sich selbst mitschuldig ge-
macht und muss wenigstens ansatzweise Wiedergutma-
chung leisten.
Das ist übrigens ein Thema, über das die Grünen in
ihrem Antrag wohlweislich nicht reden. Schließlich wa-
ren sie selbst in jener Regierung, die den USA im Jahr
2001 „unbedingte Solidarität“ gelobt hat und sich dem
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3659
(A) (C)
(D)(B)
schmutzigen Krieg gegen Afghanistan angeschlossen
hat. Schließlich waren die Grünen Teil jener Regierung,
die den US-Geheimdiensten beim weltweiten Entführen
und Foltern geholfen hat. Ich erinnere an Murat Kurnaz
aus Bremen, der vier Jahre in Guantánamo inhaftiert
war, ohne dass Rot-Grün auch nur einen kleinen Finger
für seine Freilassung bewegt hätte. Ich erinnere an den
Ulmer Khaled el-Masri, der nach allem, was wir wissen,
von den deutschen Behörden regelrecht an die CIA ver-
kauft worden ist und der von den Folgen seiner Haft bis
heute schwerst traumatisiert ist. Ich erinnere an den in
Italien lebenden Imam Abu Omar, der von US-Diensten
illegal festgenommen und über den deutschen Flughafen
Ramstein verschleppt wurde.
Der Sonderbeauftragte des Europarates, Dick Marty,
hat in jahrelanger Kleinarbeit das globale Entführungs-
netzwerk der CIA aufgedeckt und dabei auch eindeutig
festgestellt, dass etliche europäische Regierungen mas-
sive Beihilfe dazu geleistet haben. Auch die Bundesre-
gierung hat beide Augen zugedrückt, wenn US-Flug-
zeuge durch den deutschen Luftraum, über deutsche
Flughäfen Menschen verschleppt haben, die ohne Haft-
befehl, ohne Anklage und ohne jegliche Verteidigungs-
möglichkeit nach Guantánamo und in andere Folterlager
verbracht wurden. Sie hat nichts dagegen getan, stattdes-
sen hat sie hinterher jeglichen Aufklärungsversuch nach
Kräften vereitelt. Ich erinnere darüber hinaus daran, dass
auch deutsche Geheimdienste nach Guantánamo in der
Hoffnung gereist sind, aus diesen verschleppten, gefol-
terten, traumatisierten Gefangenen noch Informationen
herauszulocken und vom Foltersystem der USA zu pro-
fitieren. An all diesen Menschenrechtsverbrechen hat
sich die damalige Grünen-SPD-Regierung beteiligt, und
ich finde es nahezu beschämend, dass die Grünen dazu
bis heute nicht stehen wollen und sich hier als unschul-
dige Lämmer darstellen. Und dann legen sie einen voll-
kommen nichtssagenden Schaufensterantrag vor, in dem
die Bundesregierung zu etwas aufgefordert wird, was sie
ohnehin tut, nämlich Aufnahmegesuche der USA zu prü-
fen. Dieser Antrag bringt uns also in der Debatte über-
haupt nicht weiter!
Beschämend ist auch das Gebaren vor allem der CSU,
deren Vertreter sich in der bisherigen Debatte hinstellen
und so tun, als ginge sie das Ganze nichts an. So etwa
der bayerische Innenminister Joachim Herrmann, der
vor wenigen Wochen barsch erklärte: „Nach Bayern
kommt mir keiner rein.“ Hermann vertritt die Logik, die
voriges Jahr auch der alte Innenminister Wolfgang
Schäuble verfolgt hat: Wer in Guantánamo inhaftiert war,
wird schon irgendwie Dreck am Stecken gehabt haben,
sonst hätten die USA ihn ja nicht inhaftiert. – Mit dieser
Logik lässt sich nun wirklich jedes Willkürregime recht-
fertigen. Aus Sicht der Linksfraktion ist es also ein Akt
der Wiedergutmachung, wenigstens einigen der Häft-
linge eine Zukunftsperspektive in Deutschland zu bieten.
Ich will allerdings ausdrücklich betonen, dass es uns
hier, anders als im Grünen-Antrag formuliert, nicht um
Solidarität mit den USA geht. Es geht uns einzig und al-
lein um Solidarität mit den unschuldigen, widerrechtlich
eingesperrten Menschen. Es geht uns darum, den Men-
schenrechten wieder Geltung zu verschaffen.
Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Die Bundesrepublik Deutschland ist in der humanitären
Pflicht, Gefangene aus Guantánamo aufzunehmen. Die
Menschenrechte sowie die Achtung und der Respekt vor
der Würde eines jeden Menschen lassen der Bundesre-
publik Deutschland in dieser Frage überhaupt keine an-
dere Wahl.
Guantánamo ist das Kainsmal und der Schandfleck
der westlichen Demokratien in ihrem Kampf um Men-
schenrechte. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat dies
bereits im Jahre 2006 erkannt, als sie dem Spiegel sagte:
Eine Institution wie Guantánamo kann und darf auf
Dauer so nicht existieren. Es müssen Mittel und
Wege für einen anderen Umgang mit den Gefange-
nen gefunden werden.
Diese Haltung verdient aktive Unterstützung.
Vollkommen zu Recht sagte deshalb Bundesinnen-
minister Thomas de Maizière am 8. April 2010 im ZDF-
Morgenmagazin:
Wenn unser wichtigster Bündnispartner uns um
Hilfe bittet, dann ist das allemal eine solidarische
Prüfung wert.
Und genau dies fordert nun unser Antrag. Wir unter-
stützen die Bundeskanzlerin und den Bundesinnenminis-
ter damit gegen ihre eigene Fraktion.
Denn große Teile der Union sind in der Frage, ob die
Aufnahme von Häftlingen aus Guantánamo solidarisch
geprüft werden solle, ganz anderer Auffassung als die
Bundeskanzlerin und der Bundesinnenminister. Der
Fraktionschef der Union hier im Bundestag, Volker
Kauder, machte deutlich, dass die Bundestagsabgeord-
neten von CDU und CSU die Pläne geschlossen ableh-
nen. Der bayerische Innenminister Herrmann, CSU,
sagte: „Nach Bayern kommt mir keiner rein.“ Der Vor-
sitzende des Innenausschusses des Bundestages,
Bosbach, CDU, äußerte, „Es muss ja Gründe geben, wa-
rum diese Menschen noch inhaftiert sind, und deshalb
gibt es nur zwei Möglichkeiten: Rückkehr in die Heimat-
länder oder Aufnahme in den Vereinigten Staaten.“
Erika Steinbach, CDU, meint, es könne nicht sein, dass
amerikanische Gerichte den Guantánamo-Häftlingen ein
Bleiberecht verweigerten „und als Konsequenz daraus
andere Länder Hilfestellung geben sollen“. Der sächsi-
sche Ministerpräsident Tillich, CDU, sagte: „Wir sehen
uns nicht in der Pflicht. Wir haben sie schließlich auch
nicht gefangen genommen.“ Der niedersächsische In-
nenminister Schünemann, CDU, schloss für sein Bun-
desland die Aufnahme von Häftlingen ebenfalls aus. „Es
hat sich gezeigt, dass freigelassene Häftlinge Straftaten
begangen haben“, sagte er.
Offensichtlich weiß also in der Union die linke Hand
nicht, was die rechte tut. Dies wäre nicht weiter neu und
auch nicht weiter bemerkenswert, wenn die Leidtragen-
den dieser Querelen nicht unschuldige Menschen wären.
Doch leider trägt die Union in der Guantánamo-Debatte
ihre internen Streitigkeiten auf den Rücken von Gefan-
genen aus, die ohne Grund und ohne Anklage seit Jahren
eingesperrt sind. Das zeigt einmal mehr, dass es der
3660 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
(A) (C)
(D)(B)
Union an einem Kompass in der Menschenrechtspolitik
fehlt.
Menschenrechtspolitik ist nicht nur das Zeigen mit
dem Finger auf ferne Länder und das Schwingen von
Sonntagsreden. Menschenrechtspolitik bedeutet, auch
die Innenpolitik und das eigene konkrete Handeln nach
menschenrechtlichen Standards auszurichten. Das haben
die CDU-Landesinnenminister offensichtlich vergessen.
Dabei müssten sie doch nur dem Bundesinnenminister
zuhören: Solidarische Prüfung bedeutet nämlich nichts
weiter, als sich für unschuldige Menschen einzusetzen
und damit einen Beitrag zur Stärkung der Menschen-
rechte und des Völkerrechts zu leisten. Prüfung heißt
auch, zu klären, welches Bundesland wie viele Häftlinge
aufnimmt. Wenn es am Ende der Prüfung keine Auf-
nahme gäbe, wäre dies unsolidarisch.
Doch nicht nur unter humanitären Gesichtspunkten ist
die Bundesrepublik Deutschland in der Pflicht, Guan-
tánamo-Häftlinge aufzunehmen. Auch die transatlanti-
sche Partnerschaft mit den USA gebietet eine koopera-
tive Grundhaltung der Bundesrepublik Deutschland. Die
Schutzbehauptung, wir hätten keine Verantwortung für
die Gefangennahme der Häftlinge, ignoriert die still-
schweigende Arbeitsteilung im Bündnis. Zu Beginn des
Einsatzes hat Deutschland die schwierigeren Aspekte gern
seinen Bündnispartnern überlassen, jetzt will die Union
nicht einmal ansatzweise dabei helfen, die schlimmen
Folgen zu beseitigen. Doch nur weil Deutschland im Ge-
gensatz zu den USA in Afghanistan merkwürdigerweise
nie Gefangene gemacht hat, sind wir an der Situation der
Guantánamo-Häftlinge nicht unschuldig. Wir können
nicht einfach so tun, als seien wir nie dabei gewesen. Ge-
nau jetzt ist die Zeit gekommen, den USA im Rahmen
unseres Bündnisses zur Seite zu stehen.
Als Bundeskanzlerin Angela Merkel in der vergange-
nen Woche in die USA reisen wollte, hatte sie für Präsi-
dent Obama eigentlich bereits ein Geschenk in ihren
Koffer gepackt: die Zusage, die Aufnahme von Häftlin-
gen aus Guantánamo solidarisch prüfen zu wollen. Die-
ses Geschenk musste sie infolge des unionsinternen
Wirrwarrs wieder auspacken und wurde so von ihren ei-
genen Leuten ohne echte Verhandlungsmöglichkeiten
nach Washington D. C. geschickt. Das war die peinliche
außenpolitische Auswirkung dieses Hickhacks. Das ist
einer Regierungspartei absolut unwürdig und schadet
dem Ansehen der Bundesrepublik Deutschland.
Unsere Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen macht
sich schon seit Jahren für eine Aufnahme unschuldiger
Häftlinge aus Guantánamo stark. Denn für uns ist eines
ganz klar: Ein Gefangenenlager, wie Guantánamo es war
und heute immer noch ist, hätte in dieser Form und unter
diesen Umständen bereits gar nicht eröffnet werden dür-
fen.
Rasch wurde der ganzen Welt klar, dass in Guan-
tánamo Menschenrechte und Grundfreiheiten auf das
Schlimmste verletzt werden. Das Lager besteht jedoch
unter anderem weiterhin fort, weil sich auch für diejeni-
gen Inhaftierten, gegen die selbst die USA keine straf-
rechtlichen Vorwürfe erheben und die aus Gründen ihrer
Sicherheit nicht in ihre Heimatstaaten zurückgeschickt
werden können, nicht genügend Drittstaaten für ihre
Aufnahme finden. Warum die Bundesrepublik hier nicht
Hilfe anbietet, ist mir unbegreiflich. Viele unserer euro-
päischen Partner haben es vorgemacht: Frankreich, Ita-
lien, Ungarn, Albanien, Portugal, die Schweiz oder die
Slowakei. Warum nicht wir?
Die Unions-Kakophonie muss jetzt endlich ein Ende
haben, damit die Bundesregierung ihren humanitären
Verpflichtungen endlich nachkommen kann. Dazu
braucht es nicht viel: Wir bitten die Koalitionsfraktionen
aus CDU/CSU und FDP nur darum, einem wörtlichen
Zitat des von ihnen gewählten Bundesinnenministers zu-
zustimmen. Bitte stimmen Sie daher unserem Antrag zu:
„Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung
auf, die Bitte der USA, Häftlinge aus Guantánamo zu
übernehmen, solidarisch zu prüfen.“
Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister des Innern: Der Präsident der Vereinigten
Staaten von Amerika, Barack Obama, hat von seiner
Vorgängerregierung als Erbe das Gefangenlager in
Guantánamo übernehmen müssen, ein Erbe, das das An-
sehen der USA bis heute belastet. Präsident Obama hat
am 22. Januar 2009 angeordnet, alle Insassen des Ge-
fängnisses auf Guantánamo überprüfen zu lassen, um
eine zeitnahe Schließung zu erreichen. Hinsichtlich der
Personen, gegen die die USA strafrechtliche Vorwürfe
erheben wollen, bemüht sich die US-Administration in
Zusammenarbeit mit dem US-Kongress um die Schaf-
fung einer eigenen Bundeshaftanstalt in Illinois (Thom-
son Correctional Center). Hinsichtlich der Personen, bei
denen die Überprüfung der US-Behörden keinen straf-
rechtlichen Vorwurf ergeben hat (cleared for release),
bittet die US-Administration befreundete Staaten um
Prüfung einer Übernahme. Unter diesen Staaten befin-
den sich viele Mitgliedstaaten der Europäischen Union
und auch Deutschland.
Auch der Rat der Europäischen Union hat sich in sei-
ner Schlussfolgerung vom 4. Juni 2009 aus rechtsstaatli-
chen und humanitären Erwägungen dafür ausgespro-
chen, Präsident Obama bei der Schließung des
Gefangenenlagers Guantánamo zu unterstützen und sich
in der Folge auf gemeinsame Regeln für die Aufnahme
von ehemaligen Insassen geeinigt. Verschiedene euro-
päische Staaten haben seitdem bereits Personen aus
Guantánamo aufgenommen, bei denen die USA und die
Aufnahmeländer keinen Anlass für eine strafrechtliche
Verfolgung sahen.
Der Guantánamo-Sondergesandte der USA hat im
Dezember 2009 erneut an das Bundesministerium des
Innern die Bitte gerichtet, bestimmte Personen für eine
Übernahme nach Deutschland zu überprüfen. Der in-
frage kommende Personenkreis wurde zunächst durch
die Bundessicherheitsbehörden anhand eigener und von
den US-Behörden übermittelter Erkenntnisse sowie an-
hand von Informationen der Sicherheitsbehörden der
EU-Mitgliedstaaten überprüft. Zudem reiste Ende März
dieses Jahres eine deutsche Delegation, bestehend aus
Mitarbeitern des Bundesministeriums des Innern, des
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 37. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010 3661
(A) (C)
(D)(B)
Bundeskriminalamtes und des Bundesamtes für Migra-
tion und Flüchtlinge, nach Guantánamo.
Derzeit erfolgt eine Auswertung dieser Dienstreise
und weiterer Sicherheitserwägungen, auf deren Grund-
lage der hierfür nach dem Aufenthaltsgesetz zuständige
Bundesminister des Innern seine Entscheidung treffen
wird. Diese Prüfung umfasst vor allem die Auswirkun-
gen auf die Sicherheitslage in Deutschland, die Abwä-
gung humanitärer Aspekte sowie möglicher ausländer-
rechtlicher und sicherheitsbehördlicher Begleitmaß-
nahmen. Ich bitte um Verständnis, wenn die Bundes-
regierung während eines laufenden Prüfverfahrens
hierzu keine weiteren Einzelheiten erläutern kann.
Deutschland hat bereits in der letzten Legislaturperio-
de im August 2006 den türkischen Staatsangehörigen
Murat K. aus Guantánamo aufgenommen. Die vormalige
rot-grüne Koalition hatte sich aus Sicherheitserwägun-
gen gegen eine Aufnahme von Murat K. entschieden.
Erst mit der Regierungsübernahme durch Bundeskanzle-
rin Merkel erfolgte eine Neubewertung, bei der am Ende
humanitäre Erwägungen den entscheidenden Ausschlag
gegeben haben.
Die Bundesregierung bleibt, in Kontinuität mit der
Vorgängerregierung, bei ihrer Haltung, die Vereinigten
Staaten von Amerika bei ihren Bemühungen zur Auflö-
sung des Gefangenlagers zu unterstützen. Wir wollen
unseren selbst gesetzten humanitären Verpflichtungen
gerecht werden, ohne dabei die Sicherheit zu vernachläs-
sigen. Dies im Einzelfall umzusetzen, erfordert schwie-
rige Abwägungen, die zurzeit ergebnisoffen laufen.
Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat beantragt,
der Deutsche Bundestag möge die Bundesregierung auf-
fordern, die Bitte der USA, Häftlinge aus Guantánamo
zu übernehmen, solidarisch prüfen. Dieser Antrag ist ab-
zulehnen, weil dies – im Gegensatz zur rot-grünen Ko-
alition – durch die jetzige Bundesregierung längst ge-
schieht.
37. Sitzung
Berlin, Donnerstag, den 22. April 2010
Inhalt:
Redetext
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Anlage 2
Anlage 3
Anlage 4
Anlage 5
Anlage 6
Anlage 7