Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet.Guten Tag, liebe Kolleginnen und Kollegen! Zwi-schen den Fraktionen ist verabredet, die heutige Tages-ordnung mit einer Regierungserklärung des Bundes-ministers für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung zurSicherheit im Luftverkehr zu beginnen. Außerdem sollunmittelbar im Anschluss an die Befragung der Bundes-regierung eine von der Fraktion der SPD verlangte Aktu-elle Stunde zum Thema Steuern durchgeführt werden.Die Fragestunde erfolgt danach. – Sie sind offensichtlichmit diesen Ergänzungen einverstanden. Dann ist das sobeschlossen.Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:Abgabe einer Regierungserklärung durch denBundesminister für Verkehr, Bau und Stadtent-wicklungzur Sicherheit im LuftverkehrDas Wort erhält Herr Bundesminister Ramsauer.Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister für Verkehr,Bau und Stadtentwicklung:RedeSehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Diegute Nachricht von heute vorneweg: Die Vulkanascheim deutschen Luftraum hat sich so stark verflüchtigt,dass der normale Flugbetrieb in Deutschland wieder auf-genommen werden konnte.
Das entbindet uns aber nicht davon, flugverkehrlicheVorkehrungen für das Phänomen der Vulkanasche zutreffen. Denn klar ist: Sicherheit steht weiter an allerers-ter Stelle.Die gigantische Aschewolke, die nach dausbruch auf Island am Mittwoch letzter Woden ist, stellt für den gesamten europäischenein historisch erstmaliges Phänomen undeine erstmalige Herausforderung dar. Es war deshalb ab-zungen 21. April 20103.00 Uhrsolut richtig und – ich betone das – alternativlos, beiVorliegen erster Erkenntnisse unverzüglich Vorsichts-maßnahmen zu ergreifen und am Donnerstag der vergan-genen Woche erhebliche Einschränkungen des Flugver-kehrs vorzunehmen.
– Geduld!Die von der Bundesregierung in engem Zusammen-wirken mit den europäischen Nachbarländern sowie denzuständigen Luftsicherheitsbehörden getroffenen Ent-scheidungen basieren auf zwei fundamentalen Grundla-gen:Erstens. Im Flugverkehr kann die oberste Priorität nurgrößtmögliche Sicherheit sein:
Sicherheit für die Passagiere, Sicherheit für die Besat-zungen, Sicherheit für die Menschen auch am Boden.Dies gilt für den Donnerstag der letzten Woche, und diesgilt bis heute; es wird auch in Zukunft zu gelten haben.textDie zweite Grundlage bildet das unbestrittene undglasklare internationale Regelwerk, das von allen Ver-antwortlichen einzuhalten ist.Ich selber habe nach Bekanntwerden der ersten War-nungen vor den tückischen Vulkanstaubpartikeln nachRücksprache mit den Experten meines Ministeriums un-mittelbar einen zentralen Krisenstab bei der DeutschenFlugsicherung aktiviert.
arnmeldungen erreichten mich am Don-n Mittag zum Ende der Länderverkehrs-renz in Bremen. Der zentrale Krisenstabchen Flugsicherung in Langen nahm kurzem Vulkan-che entstan- Luftverkehr damit auchDie ersten Wnerstag gegeministerkonfebei der Deutsdarauf seine Arbeit auf.
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Bundesminister Dr. Peter Ramsauer
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Die Einrichtung des Krisenstabs unter der Federfüh-rung meines Hauses bei den anerkannten Experten vorOrt war und bleibt die richtige Entscheidung.
In die Arbeit des Krisenstabes wurden – ich möchte dasdeutlich machen – der Deutsche Wetterdienst, das Bun-desaufsichtsamt für Flugsicherung, die in Maastrichtansässige europäische Luftraumbehörde Eurocontrol in-stitutionell eingebunden sowie konsultativ die Luftver-kehrsgesellschaften. Uns ging es nicht darum, ein völligneues Gremium zu schaffen, sondern uns ging es darum,schnell und pragmatisch auf den bewährten Sachver-stand der Experten und die nur vor Ort ansässigen tech-nischen Einrichtungen setzen zu können.Am vergangenen Wochenende und auch am Montagerfolgte meinerseits eine enge Abstimmung mit allen na-tionalen politischen Akteuren. Nach meinem Selbstver-ständnis gebietet ein derartig sicherheitsrelevantesThema, keinerlei unterschiedliche Kommunikation zwi-schen den Regierungsparteien und -fraktionen einerseitsund der Opposition andererseits zu betreiben.
Denn dieses Thema eignet sich nicht für parteipolitischeProfilierungen.
Ich habe unter anderem Gespräche mit den verkehrs-politischen Sprechern aller im Deutschen Bundestag ver-tretenen Parteien geführt, selbstverständlich unter Teil-nahme des Vorsitzenden des Ausschusses für Verkehr,Bau und Stadtentwicklung. Konsultiert wurden zudemdie verantwortlichen Länderverkehrsminister. In all die-sen Gesprächen herrschte völlige Einmütigkeit über dieNotwendigkeit der ergriffenen Maßnahmen. Ich bin au-ßerordentlich dankbar, dass dies von den Beteiligten inaller Einmütigkeit nach außen betont und unterstrichenworden ist. Gleiches gilt als Fazit der gestrigen Sonder-sitzung des Verkehrsausschusses des Deutschen Bun-destages. Wir alle sind uns einig, dass angesichts derhistorisch einzigartigen Herausforderungen alle zu er-greifenden Maßnahmen unter dem Gebot einer Strategiebestmöglich fundierter Sicherheit stehen müssen.Parallel zu den nationalen Abstimmungen stehen so-wohl ich persönlich als auch die Fachleute meines Hau-ses in ständigem bilateralen und multilateralen Kontaktzu den europäischen Verkehrsministerkollegen, ebensozum verantwortlichen EU-Verkehrskommissar, SiimKallas, sowie zur spanischen EU-Ratspräsidentschaftund meinem spanischen Kollegen.Am Montag haben wir im Rahmen einer EU-Sonder-konferenz der Verkehrsminister per Videoschaltung überkonkrete Wege hin zu einer verantwortbaren Schritt-für-Schritt-Rückkehr zur Aufnahme eines geordneten undnormalen Flugbetriebs beraten. Dies alles geschah unterder Prämisse größtmöglicher Sicherheit.Alle diese Abstimmungsprozesse betreffen aber – dassei betont – zunächst einmal die rein luftverkehrlichenFragen. Darüber hinaus unternimmt und unternahm dieBundesregierung intensive Anstrengungen, denen zuhelfen, die von den Flugausfällen betroffen sind. Dazuleistet mein Haus im Zusammenwirken mit dem Bundes-kanzleramt umfassende Koordinierungsarbeit mit demAuswärtigen Amt, dem Bundesinnenministerium unddem Bundeswirtschaftsministerium. Wichtige Hilfestel-lungen richten sich an diejenigen Passagiere, die etwaohne erforderliche Visa bei Zwischenlandungen aufFlughäfen festsitzen, oder besonders dringende Fällevon im Ausland gestrandeten deutschen Flugpassagie-ren. Gleiches gilt etwa auch bei Krankentransporten so-wie Organtransporten für lebensrettende Transplantatio-nen.Bei der Bewältigung der krisenhaften Folgen des Vul-kanausbruchs für die Luftfahrt im wohl am stärksten inAnspruch genommenen Luftraum der Welt betreten alleBeteiligten Neuland. Dies gilt für die Luftsicherheitsbe-hörden und für die Wissenschaftler ebenso wie für diepolitisch Verantwortlichen. Dies gilt national wie auchinternational. Sicherheit und die Befolgung klarer inter-nationaler Regeln müssen oberstes Gebot sein. Wirhalten uns bei allen ergriffenen Maßnahmen deshalb andie Vorgaben der internationalen LuftfahrtorganisationICAO, solange es keine besseren Regelungen gibt.Das internationale Regelwerk untersagt reine Instru-mentenflüge in mit Vulkanasche kontaminierten Luft-räumen. Möglich und vom internationalen Recht ge-deckt sind jedoch begründete Ausnahmen. Wir habenFlüge im Einklang mit diesem Regelwerk geduldet, dienach den Kriterien des kontrollierten Sichtfluges durch-geführt wurden, selbstverständlich unter bestmöglicherNutzung der zur Verfügung stehenden Instrumente undselbstverständlich unter Wahrung der gebotenen Sicher-heit. Kontrollierte Sichtflüge setzen gute Sichtverhält-nisse sowie eine geringe Inanspruchnahme durch dieFluggesellschaften voraus.Bereits am Samstag erfolgte auf diese Weise eineReihe von Überführungsflügen unter anderem deutscherFluglinien, um die Flugzeuge für den Normalbetrieb anihren Bedarfsstandorten positioniert zu haben. DieseFlüge erfolgten ohne Passagiere und lieferten uns in Ab-sprache mit den Luftsicherheitsinstitutionen wertvolleErkenntnisse. Am Montag folgten erste Passagierflügeunter den Bedingungen des eben beschriebenen kontrol-lierten Sichtfluges. Das war vor allem im Interesse dergestrandeten Urlauber, die seit Tagen im Ausland aufFlughäfen festsitzen und nun zurück nach Deutschlandreisen können. Wir alle müssen hierzu aber eines wissen:Ein regulärer Flugplan ist unter Sichtflugbedingungenim dicht belasteten europäischen und besonders im deut-schen Luftraum nicht möglich.Um nun schrittweise zu einem regulären Flugbetriebunter Wahrung größtmöglicher Sicherheit zurückzukeh-ren, sind vor allem zwei Voraussetzungen zu erfüllen:erstens genaue Kenntnisse über die örtliche Verbreitungder Vulkanasche in der Atmosphäre und zweitens ge-naue Kenntnisse über die Auswirkungen von Vulkan-asche auf die Triebwerke der Flugzeuge. Wir brauchenverlässliche Aussagen. Deshalb haben wir im Zusam-menwirken mit den wissenschaftlichen Fachdiensten alle
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Möglichkeiten mobilisiert, um zu möglichst vielen aktu-ellen und vor allem zu belastbaren Messdaten zu kom-men. Von zentraler Bedeutung sind die Erkundungenund Messungen des Forschungsflugzeugs des DeutschenZentrums für Luft- und Raumfahrt. Die Maschine, die„Falcon“, wie sie immer bezeichnet wird, ist auch imeuropäischen Kontext eines der wenigen technischenGeräte zur flugzeugbasierten Atmosphärenforschung.Dies zeigt, dass unser Land auf diesem Gebiet technischgut aufgestellt ist.In den vergangenen Tagen haben alle Beteiligten, ins-besondere die Mitarbeiter der Flugsicherung, die Meteo-rologen, die Triebwerksingenieure, die Piloten und diestaatlichen Stellen, erhebliche empirische Erfahrungengewonnen. Der Zugewinn an Erkenntnissen ist beträcht-lich: Erstens. Die Ergebnisse zahlreicher Erdbeobach-tungsstellen liegen vor. Zweitens. Inzwischen habenHunderte von Flugbewegungen mit anschließender Aus-wertung in Deutschland und Europa stattgefunden. Drit-tens liegt die Auswertung der mit dem DLR-Forschungs-flugzeug erhobenen Daten vor. An der Maschine istallerdings ein im Flugalltag gängiger mechanischerSchaden aufgetreten. Nach seiner Behebung wird sieihre wertvolle Arbeit wieder aufnehmen. Die aus denverschiedenen Quellen gewonnenen Erkenntnisse sindanalysiert und systematisiert worden. Die internationalgültigen ICAO-Regeln können auf Basis dieser wertvol-len Erfahrungen weiterentwickelt werden. Ich bin über-zeugt, dass wir damit unter schwierigen Bedingungen ei-nen wichtigen Beitrag zur internationalen Flugsicherheitleisten.Vorsorge treffen und ein umfassendes Maßnahmen-bündel für die Zukunft schnüren, das muss jetzt unmit-telbar folgen. Bis wissenschaftlich gesicherte und veri-fizierte Daten vorliegen, und zwar erstens für dieVerbesserung von meteorologischen Verfahren zur Be-stimmung von Flugasche und zweitens für die Heraus-bildung von Standards für technische Analysen zur Wir-kung von Vulkanasche auf Triebwerke, wird noch etwasZeit vergehen. Wir arbeiten auf europäischer und inter-nationaler Ebene mit Hochdruck zusammen, um hierbeimöglichst schnell Fortschritte zu erzielen. Damit kannauch der Beschluss der EU-Verkehrsminister auf derKonferenz am 19. April 2010 umgesetzt werden.Kurzfristig und als Zwischenschritt brauchen wir al-lerdings ein Maßnahmenbündel, um einen annähernd re-gulären Flugbetrieb bei in der Atmosphäre gegebenen-falls wieder auftretender Vulkanasche zu ermöglichen.Dazu habe ich Folgendes bereits veranlasst: erstens dieEinrichtung eines Meldezentrums beim Luftfahrtbundes-amt; es geht um die Meldung von Vorkommnissen beiFlugzeugen, insbesondere bei Triebwerken, die durchVulkanasche verursacht wurden oder verursacht wordensein könnten; zweitens eine Meldepflicht für alle Flug-gesellschaften; drittens die Meldung besonderer Vor-kommnisse während des Fluges, die durch Vulkanascheverursacht worden sein könnten, an die Flugsicherung;viertens die Verpflichtung für die Luftfahrtunternehmen,ihre eigenen Risikobewertungen fortzusetzen und dauer-haft zu aktualisieren; fünftens die Verkürzung der In-spektions- und Wartungsintervalle bei allen Flugzeugen.Mit diesen Maßnahmen besteht die verantwortbareChance auf eine geordnete Rückkehr zum normalenFlugbetrieb. Ein reibungsloser Flugverkehr ist für unsereBürgerinnen und Bürger, aber auch für unsere gesamteVolkswirtschaft inmitten einer globalisierten Welt dauer-haft von erheblicher Bedeutung.Ich möchte mich bei allen ganz herzlich für die kon-struktive Begleitung und Unterstützung in diesenschwierigen Tagen bedanken.Herzlichen Dank.
Zwischen den Fraktionen ist verabredet, zu dieser Re-
gierungserklärung eine Stunde zu debattieren. – Dazu
sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
sen.
Ich gebe das Wort dem Kollegen Florian Pronold für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kol-legen! Sehr geehrter Minister, Sie haben recht: Erstens.Wir stehen vor einer außergewöhnlichen Situation.Zweitens. In einer solchen Situation haben die Sicherheitdes Flugverkehrs und die Sicherheit der Menschen inden Flugzeugen und auf dem Boden absolute Priorität.Das wird vom ganzen Haus ungeteilt vertreten.
In einer solchen Situation sieht professionelles Kri-senmanagement aber anders aus. Seit Montag dieser Wo-che stellt sich eine Frage. Es gibt Ausnahmegenehmi-gungen für Sichtflüge von großen Passagiermaschinen.Wir haben in der gestrigen Sondersitzung des Ausschus-ses erfahren, dass diese Sichtflüge dem internationalenRegelwerk entsprechen. Wir haben auch erfahren, dasses einer Ausnahmegenehmigung bedarf, wenn großePassagiermaschinen einen Sichtflug machen wollen. Wirhaben ebenfalls erfahren, dass die Verantwortung dannauf den Piloten übergeht, der diesen Sichtflug durch-führt. Jetzt wissen wir, dass sich die Partikelbelastungdurch die Vulkanasche nicht als Wolke über Deutschlanddarstellt, die man umfliegen kann oder die man sieht,sondern dass diese Partikelbelastung in unterschiedli-chen Sphären und an unterschiedlichen Orten in unter-schiedlicher Konzentration vorliegt. Wir haben auch er-fahren, dass noch nicht geklärt ist, ab welcherKonzentration eine Gefährdung für die Technik derFlugzeuge besteht. Jetzt lauten die spannenden Fragen,die man beantworten muss und die die Menschen inte-ressieren: Warum wird, wenn Sicherheit Priorität hat,eine Ausnahmegenehmigung erteilt, bevor das Flugzeuggestartet ist, das die Belastung messen soll? WelcheGrundlagen liegen auf europäischer Ebene vor, um zusagen: „Die Sicherheit des Luftraums ist gegeben odernicht“? Die Pilotenvereinigung Cockpit hat zu Recht ge-
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Florian Pronold
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fragt – diese Frage wurde bislang nicht beantwortet –:Wann ist der Luftraum sicher? Für die Maschine machtes keinen Unterschied, ob es sich um einen Sichtflugoder einen Instrumentenflug handelt; denn in beiden Fäl-len ist die Gefährdungslage durch die Partikel gleichgroß. Diese ist bis heute nicht geklärt.
Sie waren am Anfang der Woche stolz darauf, einezentrale Rolle in der europäischen Koordinierung zuspielen. Jetzt stellt sich die Frage: Warum wird in Eu-ropa bezüglich der Freigabe des Luftraums und der Si-cherheit unterschiedlich entschieden? Der Luftraum er-streckt sich nicht nur über Deutschland, sondern überganz Europa. Deswegen muss es ein zentrales Anliegensein – dies dient der Sicherheit –, dass europäisch ein-heitlich entschieden wird. Dies findet aber nicht statt.Das führt zu zusätzlicher Verunsicherung. Die nächsteFrage – diese haben wir am Freitag letzter Woche aufge-worfen – bezieht sich auf die Passagiere: Was ist mit denNachtflugverboten? Können wir, sobald Sicherheit be-steht, das Nachtflugverbot vorübergehend aufheben, umsensible Güter zu transportieren und wartende Passa-giere schneller zurückzuholen? Die Antwort des Minis-teriums einen Tag später lautete: Das fällt in die Zustän-digkeit der Bundesländer.
Ein Verkehrsminister, der ein zentrales Krisenmanage-ment betreiben will, hätte doch sagen können: Ich habemit meinen Kollegen gesprochen. Sobald Sicherheit be-steht, werden wir alles tun und auch das Nachtflugverbotvorübergehend aufheben. – Fehlanzeige!
Bis Sonntag hat sich der Minister nicht zentral darum ge-kümmert; er hat delegiert. Dann wurde versucht, hierden starken Max zu markieren.Was ist passiert? Ein Beispiel für die angeblich guteKoordinierung in dieser Regierung ist Folgendes: HerrBrüderle hat sich am Montag zu Wort gemeldet und er-klärt, er richte jetzt zusammen mit dem BDI eineTaskforce ein, um alle Fragen der Krisenbewältigung zukoordinieren. Er hat den großen Airlines Hilfen in Aus-sicht gestellt.
Ein paar Tage später ist er zurückgerudert.
Die Frage, wie es um Hilfen für Passagiere und an-dere Personen bestellt ist, die irgendwo auf einemFlughafen gestrandet sind und nicht wissen, wie es wei-tergeht, hat niemand im Rahmen des zentralen Krisen-managements gestellt. Deswegen verwundert es nicht,dass selbst aus den Reihen der Union – ich denke bei-spielsweise an den Kollegen Lämmel – und auch vonsei-ten der FDP Kritik am Krisenmanagement laut gewor-den ist. Herr Minister, ich finde, daraus müssen Sie fürdie Zukunft lernen. Die Art und Weise, wie Sie mit die-ser Krise umgegangen sind, ist kein Grund, sich selbsteinen Lorbeerkranz aufzusetzen. Sie sollten sich lieberein bisschen Asche, vielleicht auch Vulkanasche, auf IhrHaupt streuen.Herzlichen Dank.
Der Kollege Torsten Staffeldt hat das Wort für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Der Luftverkehr ist wiederfreigegeben. Dazu kann man nur sagen: glücklicher-weise. Aber die entscheidende Frage lautet: Wie lange?Denn das Problem ist noch nicht ausgestanden. Sie se-hen mich, ich sehe Sie, und das, obwohl auch hier Staubin der Luft ist, glücklicherweise aber keine Asche, erstrecht nicht auf unseren Häuptern oder auf dem Haupt desBundesverkehrsministers.
So ist es auch mit der Staubwolke des Eyjafjallajökull.
– Ja, das habe ich auswendig gelernt. –
Man sieht die Asche nicht unbedingt. Aber sie ist gefähr-lich, und zwar für den Luftverkehr und somit für einempfindliches Transportsystem.Ich selber bin Privatpilot. Daher kann ich vielleichtein wenig zur Versachlichung der Debatte beitragen. Inmeiner Ausbildung und der fliegerischen Praxis habe ichgelernt, Verantwortung zu übernehmen: für meine Pas-sagiere, das Flugzeug und mich selber. Dazu gehörtbeispielsweise, dass ich vor Antritt eines Fluges die Wet-terbedingungen ermittle: Ist am Start- und am Zielflug-hafen alles okay, sodass ich heil herunterkomme? Gibtes während des Fluges Gebiete mit Gewitterfronten undWolkendecken, in denen ich nicht fliegen darf? Ich habegelernt, dass diese sogenannte Flugvorbereitung auchdazu führen kann, dass wichtige Flüge nicht begonnenwerden. Es ist aber die Verantwortung jedes Piloten, diesabzuwägen und zu entscheiden. Das gilt im Übrigenauch für die Vereinigung Cockpit. Die Piloten sindgrundsätzlich für die Flüge verantwortlich. Diese Ver-antwortung lässt sich nicht delegieren, weder an dieDeutsche Flugsicherung noch an den Bundesverkehrs-minister.
Wir sind durch den Vulkanausbruch in der misslichenLage, dass verantwortungsvolles Handeln zu dramati-schen Einschränkungen des Luftverkehrs führte. DieseSituation hatten wir in Europa noch nicht; sie ist neu.Die Regeln der internationalen Luftverkehrsbehörde, der
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Torsten Staffeldt
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ICAO, schreiben vor, dass in vulkanischen Aschewolkennicht geflogen werden darf. Im Gegensatz zur Opposi-tion hat die ICAO Erfahrungen aus Weltgebieten mit ak-tiven Vulkanen.
Instrumentenflug bedeutet, dass der verantwortlichePilot ohne Sicht nach außen fliegen darf, zum Beispieldurch Wolken. Aus eigener fliegerischer Erfahrung weißich, dass der Einflug in Wolken mit dem völligen Verlustder Orientierung verbunden sein kann. Daher fliegen dieAirlines nach Instrumenten. Diese geben dem Pilotenüber den künstlichen Horizont, den Kompass, die Steig-und Sinkraten des Flugzeuges sowie GPS ein Bild derUmgebung. Daneben wird er im kontrollierten Luftraumdurch die Deutsche Flugsicherung oder Eurocontrol überFunk unterstützt. Das entscheidende Wort ist „unter-stützt“, nicht „geführt“. Noch einmal: Die Verantwor-tung an Bord hat der Flugkapitän.Durch wässrige Wolken zu fliegen, ist für einen Pilo-ten mit Instrumentenflugausbildung kein Problem. DasFliegen durch vulkanische Wolken ist allerdings verbo-ten. Leider sieht man den Wolken nicht unbedingt an, obsie Regenwolken sind oder einen anderen Ursprung ha-ben. Regentropfen bilden sich an sogenannten Konden-sationskeimen, kleinen Staubbestandteilen in der Luft,an denen der Wasserdampf kondensiert. Genau der glei-che Effekt tritt übrigens ein, wenn es auf Ihr frisch gewa-schenes Auto geregnet hat. Nachdem das Auto wiedergetrocknet ist, werden Sie eine Staubschicht darauf fin-den. Aus der Atmosphäre werden die Staubbestandteileausgewaschen.Also brauchen wir Regen – den wir jetzt teilweiseschon bekommen haben –, um den Vulkanstaub aus derAtmosphäre zu entfernen.Meine Damen und Herren von der Opposition, wollenSie Bundesverkehrsminister Ramsauer für fehlenden Re-gen verantwortlich machen?
Nein, die Entscheidung des Ministers und der Behörden,kontrollierte Flüge unter Sichtbedingungen zuzulassen,war die einzig mögliche vernünftige Entscheidung.
So wird nämlich verhindert, dass Piloten in Wolken ein-fliegen, deren Ursprung sie nicht kennen können.Die Entscheidung, Instrumentenflüge jetzt wieder zu-zulassen, erfolgte verantwortungsvoll und unter Kennt-nis der sich täglich erweiternden Fakten. Nach demMessflug der DLR und dem Durchzug der Aschefrontim Norden wurden peu à peu die Flughäfen wieder frei-gegeben. Das ist das Gegenteil von Missmanagement.
Dass wir nun wieder Freigaben haben, bedeutet nochnicht, dass „business as usual“ gilt. Jetzt sitzen nochTausende von Passagieren in Wartehallen fest und war-ten darauf, dass sie nach Hause kommen. Hier muss ge-holfen werden. Die Fernverkehre der Bahn wie auch derBusunternehmen laufen auf Hochtouren. Es wird aberdauern, die Odyssee dieser Flugreisenden zu beenden.Daher muss auch die zeitlich befristete Aufhebungder Nachtlandeverbote möglich sein. Dies richtet sichganz klar an die Länderbehörden, die dafür zuständigsind.
Der Eyjafjallajökull zeigt uns die Grenzen unserertechnischen und zivilisatorischen Errungenschaften auf.Dies sollten wir ernst nehmen. Wir haben nämlich dieVerantwortung für unser Land, für den Verkehr und fürdie Bürgerinnen und Bürger.Es ist gut, dass sofort nach Beginn der Probleme einKrisenstab in der Zentrale der Deutschen Flugsicherungeingesetzt wurde. Es ist beeindruckend, wenn 70 Inge-nieure beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raum-fahrt in Nachtschichten und am Wochenende ein For-schungsflugzeug ausrüsten, um möglichst schnell belast-bare Informationen über die Aschewolke zu erhalten. Esist schnell, wenn das Luftfahrt-Bundesamt beantragen-den Airlines innerhalb von zwei Stunden Genehmigun-gen erteilt, damit diese ihre Flugzeuge unter kontrollier-ten Sichtflugbedingungen betreiben können. Es istrichtig, wenn nach fachlicher Einschätzung Teile desdeutschen Luftraums wieder für den kontrollierten Sicht-flug und jetzt für den Instrumentenflug freigegeben wer-den.
Meine Damen und Herren, das ist verantwortungs-volle Politik. Es wurde und wird sowohl fachlich alsauch politisch alles richtig gemacht.Verantwortungslos nenne ich den Versuch der Oppo-sition, die Vorgehensweise des Ministeriums politisch zuinstrumentalisieren, und das auf dem Rücken Tausendergestrandeter Passagiere.
Daher gilt mein ausdrücklicher Dank MinisterRamsauer und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern,den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der DeutschenFlugsicherung, des Deutschen Wetterdienstes sowie desDeutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt und denvielen Piloten, die in schwieriger Situation ihrer Verant-wortung gerecht werden.Vielen Dank.
Herr Kollege, das war Ihre erste Rede hier im Hause.Für die fehlerfreie Aussprache außerordentlich schwieri-ger Wörter
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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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und den Humor mussten wir Ihnen diesmal einfach et-was mehr Redezeit zugestehen. Das geht beim nächstenMal nicht mehr.Alles Gute für Ihre Arbeit hier!
Der Kollege Herbert Behrens hat das Wort für dieFraktion DIE LINKE.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Minister, zwar konnte auf Grundlage einer Untersu-chung durch die Maschine vom Typ Falcon, die Sieschon erwähnt haben und die zurzeit aufgrund einestechnisches Mangels nicht starten kann, der Flugverkehrwieder aufgenommen werden, denn die Ergebnisse derAuswertung am gestrigen Abend haben gezeigt, dass esmöglich ist, den Flugverkehr wieder aufzunehmen, ohneeine extreme Gefährdung von Maschinen und Passagie-ren zu riskieren; jedoch wurden die Fluggenehmigungenerteilt nicht nachdem, sondern bevor dies feststand.Noch am Donnerstag und am Freitag der vergangenenWoche hat es eine durchaus einheitliche Beurteilung desHauses gegeben: Wegen der schwierigen Gefährdungs-analyse wollte man auf der sicheren Seite sein und ent-schied sich, den Luftraum nicht freizugeben. Diese Maß-nahme war richtig.Gleichwohl haben vorgestern und gestern auf derGrundlage von Ausnahmegenehmigungen, die das Luft-fahrt-Bundesamt erteilt hat, erste Flüge mit Passagierenan Bord stattgefunden. Es hat keine Zwischenfälle gege-ben – das ist gut so –, obwohl vollbesetzte Flugzeuge un-terwegs gewesen sind. Die Regulierung war höchstmerkwürdig – wir haben es gestern gehört –: Herrschteklare Sicht, war Sichtflug möglich, durften Passagiere anBord genommen werden. War Sichtflug wegen Wolken-bildung nicht möglich, durften keine Flüge durchgeführtwerden.Wir wissen von den Fachleuten, dass bei Vulkanaschenicht von Wolken gesprochen werden kann, sonderneher von kontaminiertem Luftraum gesprochen werdenmuss. Diese „Wolken“ kann man nicht sehen. Das machtes für den Flugkapitän schwierig, zu entscheiden: Geheich rauf oder nicht?Sie sagen, die Flugkapitäne sind sehr verantwortungs-bewusste Menschen, denen in jedem Fall – nicht nur indieser Situation – bewusst ist, dass sie für die Sicherheitihrer Fluggäste verantwortlich sind. Man muss aber auchsehen, dass den Fluggesellschaften pro Tag, an demnicht geflogen werden darf, Verluste von 150 MillionenEuro entstehen. Daran wird deutlich, wie schwierig dieSituation ist, wenn die Flugkapitäne vor der Entschei-dung stehen: Starten wir oder starten wir nicht?Diese schwierige Situation hat dazu geführt, dassauch das Ministerium in dieser Situation nicht mehr sou-verän gehandelt hat. Andere nennen es Kritik am Krisen-management. Ich sage: Es hat etwas von Herumeierei,wenn Sie an der einen Stelle sagen: „Der Luftraum istnicht sauber und deshalb nicht unbedingt sicher“, an an-derer Stelle hingegen feststellen: „Es geht in Ordnung,es darf geflogen werden“, der Deutschen Flugsicherungaber keine Möglichkeit geben, zu sagen: „Der Luftraumwird nicht freigegeben.“Die Teilaufhebung der Sperrung des Luftraums warvoller Widersprüche: Instrumentenflüge waren unter-sagt, Sichtflüge aber erlaubt, und das bei der gleichenVulkanaschekonzentration in der Luft. Es ist für dieFluggäste, die davon betroffen gewesen sind, nicht nach-zuvollziehen, wie diese Entscheidungen zustande ge-kommen sind. Das ist, was andere mit Fehlern im Kri-senmanagement gemeint haben. Ich sage: Das ist keineeindeutige Positionierung. So etwas trägt dazu bei, dassbei den Passagieren große Verunsicherung herrscht. Wirnennen diese Haltung Herumeierei.
Es geht allein um die Zuständigkeiten und die Frage,wer später was zu verantworten hat. Wenn die DeutscheFlugsicherung sagt: „Sichtflug ist erlaubt, Instrumenten-flug aber nicht“, dann heißt das, dass sie nicht garantie-ren kann, dass es sicher ist, zu fliegen. Der Grund, dassder Sichtflug erlaubt ist, liegt darin, dass die Verantwor-tung allein beim Piloten liegt.Es gibt hier eine Regelungslücke. Wenn wir nichtwissen, ob der Luftraum sicher ist, dann müssen wir ent-sprechend entscheiden und feststellen, dass er nicht si-cher ist, unabhängig davon, ob Vulkanaschepartikel amHimmel sind oder nicht. Der Luftraum muss sicher sein.Sonst können wir nicht erlauben, dass die Piloten ihreMaschinen starten.Es gibt für Sichtflüge die etwas realitätsferne Startauf-lage, dass nicht nur am Abflugsort und während desFlugverlaufs, sondern auch am Ankunftsort klare Sichtherrschen muss. Aber Wetter kann sich ja bekanntlichändern! Ist nicht sichergestellt, dass am Landeort keineWolke am Himmel ist, muss der Kapitän einen Aus-weichflughafen suchen. An dieser Stelle sehen wir Än-derungsbedarf.In der gestrigen Sondersitzung wurde salopp gesagt,bei Glatteis auf der Autobahn müsse jeder Fahrer selbstentscheiden, ob und wie schnell er fahre, und so müsseauch der Pilot abwägen, wie er seiner Verantwortung ge-recht werden könne. Ich denke, in Bezug auf den Luft-raum darf man das nicht so salopp sehen; beim Luftver-kehr muss absolute Sicherheit gewährleistet sein. Daranmüssen sich die Empfehlungen des Bundesverkehrsmi-nisters orientieren.
Es darf nicht sein, dass allein die Haftungsgründe, dieich erwähnt habe, als Entscheidungsgrundlage für denStart von Flugzeugen dienen. Wir wollen hier eine Än-derung erreichen, um den Piloten Rechtssicherheit zu er-möglichen und damit die erwähnten Belastungen der Pi-loten zu minimieren.
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Herbert Behrens
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Ich habe kein Verständnis dafür, dass Flughafenge-sellschaften jetzt einen Ausgleich ihrer finanziellenSchäden fordern und hiermit bei Teilen der Bundesregie-rung zunächst auf offene Ohren stoßen. Wenn die Flug-gesellschaften meinen, dass sie einen Anspruch auf Ent-schädigung haben, weil es schlechtes Wetter oderschwierige Situationen gegeben hat, stellen sie das, wasbeispielsweise für die Fluggäste geregelt ist, auf denKopf. Bei den Fluggastrechten ist das nämlich nicht sogeregelt. Bei höherer Gewalt bekommen sie eben keinenAusgleich. Insofern ist es absurd, dass die wirtschaftlichmächtigen Fluggesellschaften an dieser Stelle zunächstauf offene Ohren des Wirtschaftsministers stoßen. Dasist nicht nachvollziehbar und findet auch nicht unsereZustimmung.
Wie gesagt: Anfangs gab es eine Übereinstimmung inder Einschätzung der Situation. Dies galt aber nur hin-sichtlich des Punkts, dass die Sicherheit an erster Stellesteht, was dazu geführt hat, dass Lufträume nicht freige-geben worden sind. Was danach kam, ist nicht nachzu-vollziehen. Ich glaube, das hatte auch nichts mit einemkontrollierten Sichtflug der Bundesregierung, sonderneher mit einem unkontrollierten Blindflug zu tun. Inso-fern muss hier dringend nachgearbeitet werden, um sol-che Situationen in Zukunft zu vermeiden.Danke schön.
Das Wort hat der Kollege Dirk Fischer für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Was derzeit im europäischen Luftraum passiert, ha-ben selbst erfahrene Verkehrspolitiker wie ich noch nichterlebt. Seit letzter Woche werden Tausende Flugzeuge inEuropa durch eine Aschewolke am Boden gehalten,Hunderttausende Fluggäste konnten nicht reisen, und aufden Flughäfen und Bahnhöfen herrschten teilweise chao-tische Zustände.Die Natur hat uns wieder einmal gezeigt, wie abhän-gig der Mensch in Wahrheit von ihr ist. Auf Island brichtein Vulkan aus, und schon kommt unsere perfekt organi-sierte und vernetzte Reise- und Geschäftswelt ins Tru-deln. Der Grund: Durch die feine Vulkanasche, die vomBoden mit bloßem Auge nicht erkennbar ist, können dieTriebwerke von Flugzeugen beschädigt werden.Dass die Vulkanasche da ist, auch wenn der Himmelsonnenklar ist, steht fest. Das wurde durch den Flug ei-nes NATO-Kampfjets gezeigt, der mit Glaspartikeln imTriebwerk landete, die aus Vulkanasche herrührten.Durch Messungen, beispielsweise der TechnischenHochschule Zürich und des Testflugzeuges des Deut-schen Zentrums für Luft- und Raumfahrt, wurde dieExistenz der gefährlichen Vulkanasche ebenfalls nach-gewiesen.Die vom Bundesverkehrsministerium in enger Ab-sprache mit der Deutschen Flugsicherung getroffeneEntscheidung, den Luftverkehr in Deutschland nahezuauf Null zu steuern, war daher unvermeidlich; denn so-lange nicht auszuschließen ist, dass eine Gefahr für denLuftverkehr und damit eine Gefahr für Menschen be-steht, darf gar nicht anders entschieden werden.
Die Sicherheit der Besatzungen, der Fluggäste und derMenschen am Boden muss immer Vorrang haben. DerBundesverkehrsminister steht immer in voller persönli-cher Verantwortung und hat deswegen unsere uneinge-schränkte Unterstützung in jeder Situation verdient.Der Minister hat dabei aber nicht die Möglichkeit, soflexibel zu reagieren, wie dies manche Kritiker wün-schen, die meinen, die getroffenen Sicherheitsvorkeh-rungen seien überzogen. Man stelle sich nur einmal vor,es würde auch nur ein einziges Flugzeug aufgrund dieserUrsache verunglücken! Wie groß würde der Aufschreisein: Hätte man das nicht verhindern können, sogar müs-sen? Natürlich gäbe es sofort heftigste Attacken auf denBundesminister, Rücktrittsforderungen eingeschlossen.Deswegen noch einmal: So schwer die Belastungen derFluggesellschaften, der Flughäfen und der Fluggästeauch sein mögen: Größtmögliche Sicherheit darf niemalsvernachlässigt werden.
Gestatten Sie mir an dieser Stelle noch eine Bemer-kung zum Krisenmanagement und zu den Behauptun-gen, die zum Teil nachweislich falsch sind. Denn trotzweniger Erfahrungswerte mit einem Vulkanausbruchdieses Ausmaßes hat das Krisenmanagement vorbildlichfunktioniert.
Internationale Vorschriften und Vorgaben wurden in je-der Situation strikt eingehalten. Die Krisenstäbe desBundesministeriums, der Flugsicherung und des Wetter-dienstes arbeiten eng und erfolgreich zusammen. DerBundesminister koordiniert die Arbeit der Krisenstäbeund steht in enger Abstimmung mit den anderen europäi-schen Ministerien, der EU-Kommission und Eurocon-trol. Selbstverständlich sind auch die verantwortlichenBehörden der Bundesländer stets eingebunden gewesen.Die Bundesregierung war also von Anfang an opera-tiv präsent und umfassend tätig. Nichts wurde versäumt.
Das spezielle Forschungsflugzeug des Deutschen Zen-trums für Luft- und Raumfahrt war bereits am Montageinsatzbereit. Das ist sehr bemerkenswert. Das mitLaserradar ausgestattete Flugzeug wurde am Wochen-ende unter Hochdruck ausgerüstet. Damit hat das techni-sche Personal eine grandiose Leistung vollbracht. UnterNormalbedingungen brauchen sie dafür mehrere Wo-chen, wie es heißt. Deswegen kann man diese Mitarbei-terinnen und Mitarbeiter nur loben.
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Dirk Fischer
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Im Übrigen ist die Bundesrepublik Deutschland imVergleich mit unseren Nachbarstaaten außer Großbritan-nien das einzige Land, das überhaupt über ein derartigesFlugzeug verfügt. Auch damit haben wir umfassend Vor-sorge betrieben.Wir sammeln jetzt Erfahrungen, die uns bei ähnlichenEreignissen in der Zukunft nützlich sein werden. Daherist es sehr wichtig, dass wir diese Erfahrungen möglichstgut auswerten und verwerten. Alle Messdaten müssengesammelt und ausführlich ausgewertet werden. In die-sem Zusammenhang auftauchende Fragen müssen ange-gangen und vor allem auch von der Wissenschaft mög-lichst bald beantwortet werden. Wichtig sind auchgemeinsame Standards auf europäischer und internatio-naler Ebene, damit nicht einzelne Länder unterschiedli-che Entscheidungen treffen und zur Verwirrung beitra-gen.Die International Civil Aviation Organization, ICAO,ist gefordert, ihre Regelwerke zu verfeinern. Aber alserster Schritt – das wurde bereits von meinen Vorrednernerwähnt – ist jetzt nach der begrüßenswerten Beendi-gung der Flugbeschränkungen der Stau an den Flughäfenzu beseitigen und der normale Luftverkehr in Deutsch-land und Europa schnellstmöglich wiederherzustellen.Dazu ist es sinnvoll, das Nachtflugverbot zumindest ei-nige Tage flexibel zu handhaben, vor allem, um stecken-gebliebene Fluggäste schnellstmöglich heimzubringen.
Positiv werte ich daher zum Beispiel die Entschei-dung meines Bundeslandes Hamburg, in den nächstenbeiden Nächten nach der Freigabe des deutschen Luft-raumes Starts und Landungen auf dem Hamburger Flug-hafen auch zwischen 23 und 6 Uhr zu erlauben. Fürdiese kurzfristige Maßnahme sollte, wie ich meine, auchdas solidarische Verständnis der Flughafenanwohner zugewinnen sein. Denn es geht um die Menschen, die seitTagen an ausländischen Standorten festsitzen und nichtheimkommen können. Ich glaube, das sollten wir allegemeinsam tragen.
– Ich hoffe, dass alle Flughäfen und Landesregierungen– die Zuständigkeit liegt bei den Ländern – sinnvolleEntscheidungen treffen. Hier ist nicht der Bundesver-kehrsminister gefordert; dafür sind die Landesbehördenzuständig.Ich hoffe, dass die jetzige Wiederfreigabe des unein-geschränkten Luftverkehrs beibehalten werden kann undnicht weitere Naturereignisse erneut zu Maßnahmenzwingen. Dann aber muss aufgearbeitet werden: Wissen-schaftliche Erkenntnisse, technische Effekte und Lö-sungen sowie die Auswirkungen der Krise auf unsereLuftverkehrswirtschaft und unsere Volkswirtschaft ins-gesamt sind zu untersuchen und zu bewerten, um dannangemessen darauf zu reagieren.Das Thema ist also mit dem heutigen Tage und derbegrüßenswerten Entscheidung unseres Bundesver-kehrsministers Peter Ramsauer keineswegs erledigt. Eswird und es muss uns weiterhin beschäftigen.Ich danke für die Aufmerksamkeit.
Winfried Hermann hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine liebe Kolleginnen und Kolle-gen! Der Ausbruch des Vulkans auf Island und die Ver-breitung der Asche über Deutschland und über Europahat uns überraschend – so muss man schon sagen – ge-zeigt, dass es noch Vulkane gibt und wir unser globalesWirtschafts-, Transport- und Mobilitätssystem ein Stückweit so organisiert und geplant haben, als gäbe es keineNaturgewalten mehr. Das war für uns, glaube ich, eineschmerzliche Erinnerung, die uns zu denken gebensollte; denn eines darf man nicht vergessen: Wir habendie Natur niemals hundertprozentig im Griff.
Respekt vor der Natur und eine Anerkennung der Gren-zen menschlichen Tuns sind angesagt.Es ist heute und auch schon in den letzten Tagen vielüber die Frage diskutiert worden, ob das Management indieser Krise richtig war. Manche haben mich persönlichangesprochen und gefragt: Warum hast du nicht kriti-siert, warum hast du den Minister nicht angegriffen, son-dern ihn sogar gerettet?
Ich glaube, so weit ging es nicht.Aber ich finde schon, dass Opposition zwar einerseitsdie Aufgabe der kritischen Begleitung der Regierunghat, andererseits aber dann, wenn es große Krisen wiediese gibt und sachliche Kritik angemessen ist, die aller-dings auch fundiert sein muss, gleichsam der Regierungzur Seite stehen kann und in der Sache denken und argu-mentieren muss. Wenn ein Minister sagt, er orientiereseine Entscheidungen an der Sicherheit als dem oberstenPrinzip und wirtschaftliche Interessen hätten nachzuste-hen, dann hat er den Respekt und die Unterstützung desParlaments verdient,
dies umso mehr, als die Flugwirtschaft offenkundig mas-siven Druck gemacht hat. Zwar reden alle davon, dass
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Sicherheit das Allerwichtigste sei, aber es wurde auchaus ökonomischen Interessen heraus gefragt: Warumnehmen wir das so scharf, die anderen sind doch auchnicht so scharf? Hier blieb der Minister bei seinem Prin-zip,
und deshalb hatte er unsere Unterstützung.Es haben auch andere viel dazu beigetragen, dass wirdiese Krise einigermaßen gut durchlaufen konnten. DieBahn hat nach meiner Auffassung beim Ersatz starkeLeistungen gezeigt; auch die Busunternehmen, die diePassagiere von weither geholt haben, haben einen Bei-trag dazu geleistet, dass die Menschen nach Hause ge-kommen sind. Der Deutschen Flugsicherung und demKrisenstab danke ich ausdrücklich.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ersteinmal einen anderen Krisenstab einzurichten, ist keinkluger Vorschlag.
Wir haben einen permanenten Krisenstab in Langen, derauch solche Krisen bewältigen kann. Aus unserer Sichtwar es absolut richtig, auf diese Profis zu setzen. Sie ha-ben richtig gehandelt und den Minister, wie ich finde,richtig beraten.
Gleichwohl sind auch einige Probleme sichtbar ge-worden. Ich teile die Ansicht all derer, die gerade ange-sprochen haben, dass es im Regelwerk der ICAO das rie-sige Problem – um nicht zu sagen: den riesigenWiderspruch – gibt, dass bei Verunreinigung der Luftdurch Vulkanasche auf der einen Seite Instrumenten-flüge aus Sicherheitsgründen nicht erlaubt sind, man aufder anderen Seite aber unter Sichtbedingungen durch-fliegen darf. Das ist widersprüchlich, das geht nicht, dashalte ich für falsch, das muss korrigiert werden.
– Der Minister hat auf dieser Grundlage gemäß den Re-geln entsprechend der Ratschläge der Fachleute ent-schieden. Ich sage Ihnen aus meiner Perspektive: ImEinzelfall kann ich das nachvollziehen; aber in den letz-ten Tagen sind zu viele Ausnahmegenehmigungen erteiltworden. Hier hat zu viel Sichtflug stattgefunden. Ichglaube, dass wir auch sehr genau überprüfen müssen, obes bei diesen vielen Sichtflügen tatsächlich zu gefährli-chen Annäherungen gekommen ist, ob es Vorfälle gibt,die gemeldet worden sind. Hier ist kritisch nachzuprü-fen, weil es sich um eine riskante Sache gehandelt hat.Das hätte ich so nicht gemacht.
Es ist auch sichtbar geworden, dass zum Teil Datenund Messinstrumente fehlen und dass wir nicht die rich-tigen Kriterien haben, um Entscheidungen zu treffen.Wir haben nicht einmal Grenzwerte für Flugasche in derLuft.Damit komme ich zu den Konsequenzen: Ich glaube,wir sind gut beraten, aus diesem Vorfall, den wir nachmeiner Auffassung Gott sei Dank bisher insgesamtglücklich überwunden haben – wir können froh sein,dass es keine Unfälle gab; ein solches Glück hat manvielleicht nicht immer –, einige Konsequenzen zu zie-hen.Erstens müssen wir die Forschungs- und Entwick-lungsarbeit unterstützen und fördern. Es steht ein For-schungspaket an, das auf der einen Seite aus Vulkanfor-schung, Atmosphärenforschung sowie Klima- undWetterforschung besteht und in dessen Rahmen man aufder anderen Seite genauer untersucht, wie sich Vulkan-aschenschläge auf Düsenflugzeuge und ihre Triebwerkeauswirken.In der Anhörung im Ausschuss ist offenkundig ge-worden, dass es darüber zu wenige Erkenntnisse gibt. Damüssen wir etwas tun.Zweitens müssen wir die Messsysteme insgesamt ver-bessern. Ich glaube, man braucht auf europäischer Ebeneeinige Messflugzeuge – vielleicht eine Flotte –, die adhoc aufsteigen und solche Messungen vornehmen kön-nen. Es war nicht die beste Lösung, dass man einigeTage gebraucht hat, bis ein solches Flugzeug ausgerüstetwerden konnte.Wir brauchen drittens und vor allen Dingen wider-spruchsfreie Regeln. Ich finde, die ICAO-Regel, die zu-gelassen hat, dass Sichtflüge unter so widersprüchlichenBedingungen möglich waren, muss geändert werden.Dazu müssen wir auf internationaler Ebene aktiv wer-den.Viertens benötigen wir – auch das ist für mich einewichtige Konsequenz – einen Plan B für mögliche Kata-strophen dieser Art. Wir haben quasi keinen Plan für denFall, dass der Luftverkehr oder der Bahnverkehr ausfällt.Man kann daraus lernen, dass ein Plan B entwickelt wer-den muss, der vorgibt, wer zuständig ist und wer zumBeispiel die Rückführung von Passagieren, die fernabsind, abwickelt. Das sollte eine Konsequenz sein.Wir müssen fünftens auch über die Verbrauchersitua-tion und die Kundenrechte nachdenken. Es hat sich ge-zeigt, dass sich manche Regeln an Einzelfällen orientie-ren und dass es keine flächendeckende Lösung gibt.Auch hier gilt es nachzuarbeiten.Fazit: Wir brauchen eine kritische Evaluation desganzen Vorgehens, auch unserer Handlungen und unse-rer Instrumente. Wir müssen dann die Konsequenzenziehen, und das sollten wir alle zusammen an einem run-den Tisch tun. Dann können wir auch Erfolg haben.Ich möchte mich am Ende sehr herzlich beim Minis-ter bedanken,
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und zwar deswegen, weil er den Ausschuss und das Par-lament sehr schnell informiert und in Entscheidungeneinbezogen hat. Das halte ich unter dem Gesichtspunktder parlamentarischen Zusammenarbeit für vorbildlich.Ich sage das auch deswegen, weil ich lange genug imParlament bin und weiß, dass nicht alle seine Vorgängerin seinem Haus so kooperativ waren.Vielen Dank.
Für die FDP hat der Kollege Patrick Döring das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zunächst ist die Debatte eine gute Gelegenheit, den vie-
len Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Deutschen
Flugsicherung, beim Deutschen Zentrum für Luft- und
Raumfahrt, bei den Airlines und an den Flughäfen sehr
herzlich dafür zu danken, dass sie sich so schnell, so fle-
xibel und rund um die Uhr bemüht haben, diese außerge-
wöhnliche Situation in den Griff zu bekommen. Deshalb
namens der FDP-Fraktion und, so denke ich, namens des
ganzen Hauses herzlichen Dank für diesen hervorragen-
den Einsatz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
Die Erfahrung lehrt – der Kollege Hermann hat es an-
gedeutet –, dass durch diesen Vulkanausbruch eine He-
rausforderung entstanden ist. Ich jedenfalls – das gebe
ich zu – hätte nie geglaubt, dass ein Vulkanausbruch auf
Island eine solche Auswirkung auf den Flugverkehr ha-
ben kann. Wenn man dann noch weiß, dass die ausgesto-
ßene Menge an Asche etwa einem Zehntel dessen ent-
spricht, was in den 80er-Jahren auf der südlichen
Halbkugel bei Vulkanausbrüchen ähnlicher Art emittiert
wurde, dann macht das deutlich, wie viel größer die Ka-
tastrophe hätte sein können. Gleichwohl spüren wir alle:
Die Unsicherheit mit dem Umgang dieser Vulkanasche-
partikel in der Luft war besonders groß.
Ich bin deshalb besonders ärgerlich über einige Zwi-
schentöne in dieser Debatte, insbesondere aber über die
mediale Berichterstattung, was den Bereich Sichtflug
angeht. Es war doch richtig, in dem Moment, in dem
man wetterbedingt Sichtflugregeln anwenden konnte,
die Erfahrungen der Piloten, die die Flugzeuge im Sicht-
flug durch die auch mit Asche kontaminierte Atmo-
sphäre geflogen haben, in die Entscheidung der DFS
einzubinden. Es war doch sinnvoll, Sichtflüge durchzu-
führen. Ich will deutlich sagen: Sichtflug findet in
Deutschland, wenn das Wetter es zulässt, täglich statt.
Das ist nichts Außergewöhnliches, und das ist kein, wie
ich es lesen musste, juristischer Winkelzug. Sichtflug
findet täglich, sicher und weitestgehend unfallfrei statt.
Deshalb war es klug und richtig, die außergewöhnliche
Hochdrucklage und die Erfahrungen der Piloten im
Sichtflug zu nutzen und die Erfahrungen der Piloten mit
den Auswirkungen auf die Maschine, auf die Scheiben
und auf die Triebwerke in die hervorragende Arbeit des
Krisenstabes bei der DFS einzuspeisen.
Ich bin dankbar dafür, dass man mit dem aufwachsen-
den Erkenntnisgewinn – alle Beteiligten sind von Stunde
zu Stunde über die Wirkung von Asche in der Atmo-
sphäre klüger geworden – eine valide Grundlage für die
Entscheidung heute Vormittag hatte. Dazu kommt, dass
sich die Wetterlage glücklicherweise verändert hat; die
Aschekonzentration hat insgesamt abgenommen.
Ich stelle fest: Das Bundesministerium, die nachge-
ordneten Behörden, die beteiligten Unternehmen haben
vorbildlich, hervorragend reagiert. Das gilt – das sage
ich ausdrücklich – auch für die anderen Verkehrsträger,
insbesondere für die Deutsche Bahn und die Flughäfen,
die zum Teil wegen besonderer Belastung der Hotelwirt-
schaft, etwa wenn vor Ort Messen stattfanden, kurzfris-
tig und schnell sichergestellt haben, dass die Menschen
unter halbwegs normalen Bedingungen zur Ruhe kom-
men konnten.
Hervorragend war der permanente Informationsfluss
an die Fraktionen, an die Entscheider, den der Minister
und sein Staatssekretär Jan Mücke sichergestellt haben.
Wir waren an dieser Stelle immerzu informiert und hat-
ten nie das Gefühl, es laufe etwas am Parlament vorbei.
Dafür möchte ich mich herzlich bedanken.
Der Kollege Hermann hat eben die Frage „Wie gehen
wir mit dem Ausfall eines Verkehrsträgers um?“ ange-
sprochen. Ich bin sehr froh, dass wir das Thema Nacht-
flugverbot behandeln und dass der Koordinator der Bun-
desregierung für den Güterverkehr, der Kollege Scheuer,
mit den Ländern heute darüber spricht, ob sich die Wir-
kungen auf die Realwirtschaft – einige von Ihnen haben
mitbekommen, dass große Automobilwerke derzeit nicht
produzieren können, weil bestimmte Teile nicht vorhan-
den sind – dadurch abmildern lassen, dass wir den Gü-
terverkehr gegebenenfalls bis zur Wiederherstellung des
regulären Flugbetriebs von einigen Ausnahmeregelun-
gen, Stichwort „Sonntagsfahrverbot“, befreien, damit in
Deutschland die Waren, die bisher nicht ausgeliefert
werden konnten, schnell verteilt werden können. Es geht
darum, dass nicht nur die Großmärkte, sondern auch un-
sere Industrieproduktion, die unter den jüngsten Ge-
schehnissen gelitten hat, wieder versorgt werden kön-
nen.
Herr Kollege!
Insgesamt ist der Bundesregierung kein Vorwurf zumachen. Ich bedanke mich für das kollegiale Miteinan-der. Dieser Dank gilt insbesondere dem Ausschussvor-sitzenden und dem Ministerium.Herzlichen Dank.
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Das Wort hat die Kollegin Ulrike Gottschalck für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Die Wahrnehmungen sind offensichtlich sehr
unterschiedlich. Als ich den Kollegen Hermann eben
gehört habe, habe ich gedacht, er habe vor, eine Antritts-
rede als Staatssekretär zu halten. Das war schon ein we-
nig verwunderlich. Außerdem wurde Herr Döring ge-
lobt. Also, nicht schlecht das Ganze.
Wir haben eine andere Wahrnehmung. Ich zitiere die
Meldung einer Agentur: „Ramsauer sitzt zwischen allen
Stühlen.“ Mein Mitleid hält sich in Grenzen; denn er hat
seine Position durch mangelhaftes Krisenmanagement
selber verschuldet. Besser wäre es gewesen, rechtzeitig
den Dialog mit allen Beteiligten zu suchen. Ich hätte mir
gewünscht, einen Minister zu haben, der mit sicherer
Hand durch die Krise führt.
Ich betone, dass wir die Mitarbeiter der Flugsicherheit,
der zahlreichen Behörden und Flughäfen ausdrücklich in
Schutz nehmen. Wir brauchten aber jemanden, der den
Hut aufhat, alles ordentlich bündelt und sagt, wo es lang-
geht.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Sicherheit
geht vor. Jawohl, Herr Minister, da haben Sie vollkom-
men recht; da stehen wir an Ihrer Seite. Wir müssen den
gestrandeten Passagieren schnell helfen. Auch hier
kommt von uns Sozialdemokraten natürlich ein klares
Ja. Aber das sind doch alles Selbstverständlichkeiten.
Wer in diesem Haus wollte denn etwas dagegen haben?
Herr Minister, Sie haben Ihren Ruf als Dampfplaude-
rer wieder einmal bestätigt: markige Worte, wenige Ent-
scheidungen.
– Sie können das alles nachlesen. – Sie legen sich mit
den Fluggesellschaften an und unterstellen ihnen, die Si-
cherheit nicht ernst genug zu nehmen. Sie gehen über die
Sicherheitsbedenken der Pilotenvereinigung Cockpit
hinweg. Gleichzeitig loben Sie sich ständig selber und
bezeichnen sich – das fand ich besonders nett – als kon-
struktiven Schrittmacher. Um in Ihrer Sprache zu blei-
ben, Herr Minister: Ich halte das für einen Schmarren,
denn die Kritik der Beteiligten ist deutlich. Auch aus den
Regierungsfraktionen war durchaus deutliche Kritik zu
vernehmen; dort war man nicht so ganz zufrieden.
Wir alle sind froh darüber, dass sich der Luftraum
nach und nach öffnet und sich die Lage hoffentlich bald
wieder normalisiert. Auch meine Fraktion ist dafür, dass
wir zum Beispiel bei Nachtflügen großzügig agieren und
sagen: Vorübergehend – die Betonung liegt auf „vo-
rübergehend“ –, um eben schnell Passagiere zurückzu-
holen, darf auch ein Nachtflugverbot ausgehebelt wer-
den.
Aber immer noch bleiben wesentliche Fragen offen.
Ich will nur einige nennen: Auf welcher Grundlage
wurde die Entscheidung für Sondergenehmigungen für
Sichtflüge großer Maschinen getroffen? Der Kollege
Pronold hat das eben schon ausgeführt. Sind solche
Sichtflüge nicht zu risikoreich?
Immerhin hat Cockpit verlautet: Unverantwortlich. –
Das ist schon eine harte Aussage. Darüber kann man
nicht so einfach hinweggehen. Das deckt sich auch mit
dem, was ich in Gesprächen mit Piloten erfahren habe.
Auch sie haben gesagt: „Das ist unverantwortlich“ und
waren eigentlich sogar geschockt.
Wurden juristische Winkelzüge gemacht – Herr
Döring hat das eben angesprochen; er hat es kritisiert;
das hat nicht irgendwer, sondern auch Cockpit verlau-
tet –,
damit die Verantwortung auf die Piloten verlagert wird?
Wussten alle Passagiere zu jeder Zeit, zu welchen Bedin-
gungen sie fliegen? Gab es zum Beispiel so etwas wie
den Beipackzettel bei Medikamenten?
Es bleiben also wesentliche Fragen offen, die wir zu
klären haben. Ich hoffe sehr, dass Minister Ramsauer zu
seinem Wort steht und einen runden Tisch einrichten
wird, an dem mit allen Beteiligten untersucht wird, wie
man in Zukunft vorgehen und solche Chaostage nach
Möglichkeit verhindern kann.
Ich danke Ihnen.
Liebe Frau Kollegin, das war Ihre erste Rede hier im
Haus, zu der wir Ihnen recht herzlich gratulieren.
Deswegen hat der Kollege Ströbele auf eine Zwischen-
frage verzichtet. Aber das wird sicherlich beim nächsten
Mal nachgeholt.
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht der Kollege Peter
Wichtel.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und liebe Kollegen! Ichmöchte zunächst einmal feststellen – das kann man amheutigen Tage gar nicht oft genug wiederholen –, dassvon allen Beteiligten und Entscheidungsträgern in dieserAusnahmesituation einer Naturkatastrophe, des Aus-bruchs eines Vulkans in Island, Recht und Ordnung, in-ternationale Vorschriften, europäische Abstimmungsre-gelungen hundertprozentig eingehalten worden sind.
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Man muss an dieser Stelle noch einmal hervorheben:Unser Bundesminister für Verkehr, Bau und Stadtent-wicklung, die Deutsche Flugsicherung, der DeutscheWetterdienst, die Entscheidungsträger in der EU, die ein-gebunden waren, aber auch diejenigen, die – wie dasKontrollzentrum in London – Daten zugeliefert haben,haben eindeutig festgestellt, dass der Luftverkehr ge-fährdet sein könnte. Deswegen ist der Luftverkehr einge-stellt worden. Das ist richtig so.Wenn wir solche Regelungen haben, dann nutzen wirsie auch. Wenn wir erfahren, dass etwa wegen der Wan-derung solcher Wolken andere Messmethoden oder an-dere Kontrollen notwendig sind, dann lernen wir darausund stellen uns für die Zukunft um.Ich habe natürlich sehr viel Verständnis für die Luft-verkehrswirtschaft, für die Damen und Herren, die Fir-men leiten müssen, für die Beschäftigten und für diePassagiere, die irgendwo festsitzen und nicht weiterkom-men. Aber viel wichtiger ist die Sicherheit der Pas-sagiere. Wenn wir nichts getan hätten und auch nur einFlieger abgestürzt wäre, hätten genau diejenigen, die ge-schrieben haben: „Übertrieben! Ist das alles überhauptrichtig? Da darf man fliegen, und da darf man nicht flie-gen!“, am nächsten Tag gefragt: Hat denn der Ministerund hat denn der Krisenstab überhaupt alles richtig ge-macht?
Ich sage sehr eindeutig: Parteipolitischer Klamaukvor dem 9. Mai, also vor Muttertag, sowie wirtschaftli-ches oder gar mediales Interesse dürfen uns in einerFrage, bei der es um Menschenleben geht – es geht näm-lich um diejenigen, die in den Flugzeugen sitzen, undauch um diejenigen, die am Boden im Falle eines Ab-sturzes betroffen wären –, nicht leiten. Hier geht die Si-cherheit der Menschen vor.
Darüber hinaus denke ich, dass die Debatte – Teileder Opposition versuchen dies heute – auf dem Rückender Passagiere und derjenigen, die in der letzten Zeit soviel an der Lösung dieses Problems gearbeitet haben,ausgetragen wird.
Das ist völlig unangemessen. Herr Kollege Beckmeyerweiß dies ebenfalls. Er ist lang genug in diesem Bereichengagiert. Der Kollege, der gerade dazwischengerufenhat, würde diesen Zwischenruf unterlassen, wenn erwüsste, was wir in den letzten Tagen zum Beispiel beider Anhörung im Verkehrsausschuss und bei sonstigenDiskussionen erfahren haben.
Lieber Kollege, ich möchte Ihnen zu Ihrer Diskussionüber das Thema Krisenstab Folgendes sagen: Was hättenSie geklagt, wenn der Krisenstab in einem Raum desBundesverkehrsministeriums ohne die notwendigentechnischen Einrichtungen seine Arbeit aufgenommenhätte. Das heißt, man hätte nicht alle Daten zusammen-fassen können und auch der Deutsche Wetterdienst wärenicht nur wenige Kilometer entfernt. In diesem Fall wür-den die Experten in Langen nicht zur Verfügung stehen.Der Minister könnte lediglich Telefonkonferenzen ab-halten. In diesem Fall hätten Sie genau das Gegenteil be-hauptet.
Sie hätten bemängelt, dass es nur einen technisch nichtadäquat ausgestatteten Raum geben würde, und Sie hät-ten der Bundesregierung vorgeworfen, dass man die vor-handenen technischen und personellen Möglichkeitennicht nutzt.
Deswegen ist das, was Sie machen, nur Theaterdonner.
– Herr Pronold, Sie haben mit Abwesenheit geglänzt. Siehaben wahrscheinlich heute als stellvertretender Frak-tionsvorsitzender gesprochen, um ein bisschen Stim-mung in den Laden zu bringen. Auch das möchte ich andieser Stelle einmal sagen.
– Ich habe Sie bei zwei sehr wichtigen Gelegenheitennicht gesehen.
Wenn ich mich irren sollte, dann können wir darüber re-den. Zumindest haben Sie bei diesen Gelegenheitennicht zugehört.
Die Mitteilung, was alles über Eurocontrol entschie-den worden ist, haben Sie nicht mitbekommen, obwohlSie vielleicht anwesend waren. Diese Entscheidungenhatten Auswirkungen auf die Arbeit der DFS-Niederlas-sungen und die Interpretation der Messwerte. StichwortMesswerte: Sie haben auch behauptet, es hätte keineMesswerte gegeben.
Es gab von Anfang an Messwerte. Es war lediglich nichtgenau bekannt – deswegen musste erst ein Messflugzeugentsprechend ausgerüstet werden –, welche Bestandteiledie Wolke aufweist und wie hoch der Grad der Kontami-nierung ist. Die potenzielle Gefahr war allerdings be-kannt. Das Krisenszenario, das Sie beschreiben, ist ausmeiner Sicht durch den Krisenstab erstklassig in dieÜberlegungen mit einbezogen worden.An dieser Stelle muss man den Beteiligten Danke sa-gen. Dazu gehören diejenigen, die das Messflugzeug so
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schnell umgerüstet haben, und auch diejenigen, die soschnell die Genehmigung erteilt haben. Ich erwähneauch die Menschen an den Flughäfen, die sich dort umdiejenigen Passagiere gekümmert haben, die beispiels-weise aus den Transitbereichen nicht herausgekommensind.Ich denke, Sie haben in Ihren Redebeiträgen einigePunkte nicht erwähnt, weil es Ihnen gar nicht um die Sa-che geht. Richtig ist – das hat auch der Ausschussvorsit-zende vorhin gesagt –: Wir müssen jetzt schauen, welcheneuen Messwerte festgestellt werden können und welcheneuen Forschungsergebnisse es gibt. Daraus kann mandann ableiten, was neu zu machen ist.Mich hat schon sehr beeindruckt, dass selbst einTriebwerkshersteller in der Anhörung des Ausschussesuns nicht sagen konnte, ab welcher Konzentration derAschepartikel ein Triebwerk beschädigt wird, sodass dieGefahr eines Unfalls besteht. Wir müssen also unbedingtmehr im Bereich der Forschung tun.Wir müssen im Nachgang dafür sorgen – und dafürwerbe ich –, dass die Menschen schnell zu ihren Heimat-flughäfen geflogen werden und die Güter, die bis jetztliegengeblieben sind, weitertransportiert werden. Wennes notwendig ist, sollten für eine begrenzte Zeit Nacht-flugbeschränkungen aufgehoben werden. Ich bitte dieBevölkerung, die rund um die Flughäfen wohnt, um Ver-ständnis, dass nachts geflogen werden kann.Ich sage deswegen sehr deutlich: Nach den Ergebnis-sen, die bis heute vorliegen, haben wir die Krise, wenndas Wetter so bleibt und keine neue Wolke kommt, in ei-nem ersten Schritt gemeistert. Der zweite Schritt ist– das habe ich gerade angedeutet –, mit Wissenschaftund Forschung über die Messergebnisse und neue Ver-fahren, falls wir solche brauchen, zu diskutieren. Ichbitte Sie alle, weiter an diesem Thema mitzuarbeiten.Zwei Dinge möchte ich in diesem Zusammenhangnoch ansprechen: Hätte der Bundesminister die anderenMinisterien nicht eingeschaltet, würden Sie heute sagen:Was ist das denn für eine Abstimmung innerhalb derBundesregierung! Alle anderen Ressorts waren nicht be-teiligt. – Es war also richtig, dass das Bundeskanzleramt,das Wirtschaftsministerium und das Innenministeriumeingeschaltet worden sind.Die Opposition muss zur Kenntnis nehmen, dass derLuftverkehr auf unterschiedlichen Ebenen reguliertwird. Ein Bundesminister kann keine Erleichterungen imHinblick auf das Nachtflugverbot beschließen. Diesmüssen die einzelnen Bundesländer tun. Wenn ich mei-nen Vorredner Dirk Fischer richtig verstanden habe, hatsogar eine Senatorin der Grünen erkannt, dass solche Er-leichterungen jetzt notwendig sind.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Der Kollege Uwe Beckmeyer hat jetzt das Wort für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Eines muss man dem Ganzen voranstellen: Nie-
mandem hier im Hause kann der Vorwurf gemacht wer-
den, dass das Thema Sicherheit in irgendeiner Weise au-
ßer Acht gelassen wird. Wir alle, die sich am Sonntag an
der Telefonschaltkonferenz mit dem Herrn Bundes-
minister beteiligt haben, haben klipp und klar gesagt:
Natürlich ist die Sicherheit das Erste, was wir zu beach-
ten haben. – Insofern wurde das nie in Zweifel gezogen.
Es geht auch nicht um parteipolitische Profilierung,
sondern es gibt Widersprüche, Herr Hermann. Als Mit-
glied des Verkehrsausschusses haben Sie genauso wie
ich eine Pressemitteilung des Bundesverkehrsministers
von Sonntag, dem 18. April 2010, vorliegen. Da lesen
Sie auf Seite 2:
Wegen der außergewöhnlichen Lage in Europa sind
bei DFS, DWD und bei BMVBS Krisenstäbe im
Einsatz. Das BMVBS koordiniert die Arbeit der
Krisenstäbe und steht dabei in enger Abstimmung
mit anderen europäischen Ministerien.
Ich habe den Bundesminister anlässlich seines Be-
richts am gestrigen Tage gefragt, ob er oder die Spitze
seines Hauses den Krisenstab leitet. Die Antwort war: Es
gibt einen zentralen Krisenstab bei der Deutschen Flug-
sicherung. Da frage ich mich: Was ist nun eigentlich?
Kann das die Antwort auf diese außergewöhnliche Situa-
tion sein? Ich denke, nein.
– Frau Raab, Sie können sich ja zu einer Zwischenfrage
melden.
In einer für die Bundesrepublik Deutschland bzw. für
die Bundesregierung außergewöhnlichen Situation muss
es meiner Meinung nach darum gehen, dass die Krisen-
bewältigung in ihrer Gesamtheit vom Verkehrsminister
– es ist ausdrücklich betont worden, dass er dafür die
Verantwortung hat – übernommen wird.
Herr Kollege, möchten Sie die Zwischenfrage von
Frau Raab zulassen?
Nein, jetzt nicht. – Diese Verantwortung muss der Mi-nister notwendigerweise insgesamt übernehmen.Mich haben bereits am Sonntagabend Hinweise er-reicht, die den Tenor hatten: Da passiert irgendetwas; daläuft etwas nicht. – Die Konsequenz war, dass vom Bun-deswirtschaftsministerium am Montag um 11 Uhr ver-kündet wurde, es gebe eine Taskforce mit den Airlines.Nicht nur die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der
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Luftverkehrswirtschaft sollten erörtert werden, sondernauch andere Dinge. Das machte deutlich, dass es eineHandlungslücke, eine Regulierungslücke und eine Kri-senbewältigungslücke gab.Der Vorschlag, der gestern zur Zulassung des kontrol-lierten Sichtfluges geführt hat, ist nicht im BMVBS ent-wickelt worden, sondern in irgendwelchen Gremien, diediesen Vorschlag erst anschließend dem BMVBS nahe-gebracht haben. Das BMVBS hat daraufhin entspre-chende weitere Schritte unternommen, damit die Geneh-migung erteilt wird; denn zum Beispiel das Luftfahrt-Bundesamt war an den Diskussionen zur Krisenbewälti-gung gar nicht beteiligt.
Herr Kollege.
Nein, Frau Raab, ich möchte den Gedanken gern zu
Ende führen.
Jetzt geht es darum, nicht alles schönzumalen, son-
dern die Konsequenz zu ziehen. Die Konsequenz lautet:
Weil niemand ausschließen kann, dass übermorgen auch
der Nachbarvulkan Katla ausbricht und wir uns dann in
einer genauso schlimmen, vielleicht sogar in einer
schlimmeren Situation befinden, kommt es darauf an,
dass wir in Deutschland ein ordentliches, ganzheitliches
Krisenmanagement für diese Fälle einrichten.
Da gehören alle an den Tisch: das Luftfahrt-Bundesamt,
der Deutsche Wetterdienst, das BAF, das Deutsche Zen-
trum für Luft- und Raumfahrt. Das BMVBS hat den Hut
auf, aber auch die anderen Ministerien gehören an den
Tisch.
Jetzt hat Herr Wichtel den Wunsch nach einer Zwi-
schenfrage. Wollen Sie sie zulassen?
Bitte, Herr Wichtel.
Sehr geehrter Herr Kollege Beckmeyer, ist Ihnen be-
kannt oder ist Ihnen entgangen, dass federführende Mit-
arbeiter des Berliner Ministeriums selbst beim Krisen-
stab in Langen tätig waren, dass also die Behauptung
nicht stimmt, die Bundesregierung sei überhaupt nicht
eingebunden gewesen?
Darum geht es doch gar nicht.
Es geht um Folgendes: Wer ist in dieser Situation verant-wortlich, wer hat das Sagen? In einer solchen Situationkann nicht delegiert werden, sondern geht es darum, dieVerantwortung wahrzunehmen. Diese Frage war und istnicht eindeutig geklärt. Die verschiedenen Krisenstäbe,die es hier gegeben haben soll – möglicherweise hat essie gegeben –, sind nicht vom Minister und von derSpitze seines Hauses koordiniert worden.
Das ist die Erkenntnis der letzten Tage. Das ist nicht nurmeine Erkenntnis, sondern die Erkenntnis der Airlinesund beteiligter Dritter. Darum ging es mir bei dieserFrage.
Nach all dem, was gesagt wurde, ist jetzt ein Strich zuziehen. Ich glaube, es geht nicht nur darum, die atmo-sphärischen Belange usw. zu regeln. Vielmehr geht esdarum, dass in Deutschland an einem runden oder vier-eckigen Tisch – das ist mir egal – klare Regeln festgelegtwerden müssen, die in Zukunft für das Verkehrsministe-rium und alle beteiligten Institutionen und Ämter gelten.Es muss also eine klare Struktur geben, die besagt, dassdie Experten der Deutschen Flugsicherung, des Luft-fahrt-Bundesamtes und des Deutschen Wetterdiensteszukünftig einbezogen werden und der Bundesverkehrs-minister – momentan und zukünftig – den Hut aufhat,nicht irgendjemand anders.
Hinsichtlich des Dankes will ich eines hinzufügen:Natürlich haben sehr viele gut gearbeitet. Der Haupt-dank gilt aber den Piloten, die das Risiko auf sich ge-nommen haben, in dieser Situation für ihre Airlines imSichtflug zu fliegen. Die Piloten haben die Verantwor-tung, die andere nicht übernommen haben, wahrgenom-men und haben den Flugverkehr auf diese Art und Weiseüberhaupt erst wieder in Gang gebracht.
Auch das muss man in dieser Situation deutlich sa-gen. Insofern ist die Bemerkung der Vereinigung Cock-pit nicht kleinzureden. Das sind Kolleginnen und Kolle-gen der Piloten, die schon genau wissen, worüber siereden und was sie anzumerken haben. Dazu eine Fest-stellung: Ein Pilot, der sich in einer solchen Situationverweigert, ist möglicherweise seinen Job los.
Nicht der Pilot weist darauf hin, sondern seine Vereini-gung spricht für ihn. Ich nehme das sehr ernst.Insgesamt haben wir schwierige Tage hinter uns. Ei-nes müssen wir daraus lernen: Der Minister muss bei derAufarbeitung, die er vor sich hat, eines beherzigen: Ermuss dafür sorgen, dass es in dieser Frage klare Kom-mandostrukturen gibt. Es hat sie nicht gegeben; sie müs-sen hergestellt werden.Herzlichen Dank.
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Marlene Mortler hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Als letzte Rednerin stelle ich fest: Alle sindzufrieden und glücklich,
nur die SPD befindet sich offensichtlich noch in derKrise. Sie stehen mit Ihren Ausführungen alleine da.
Ein Dank tut immer gut und Lob allemal. Sehr geehrterHerr Verkehrsminister, von mir persönlich, aber auchvom Tourismusausschuss des Deutschen Bundestagesein großes Dankeschön.Ich möchte auf eine TED-Umfrage von n-tv eingehen.Die Frage lautete: Hat der Bundesverkehrsminister beimKrisenmanagement eine gute Figur gemacht?
Die Antwort: 83 Prozent der Befragten haben Ja gesagt,und 17 Prozent haben Nein gesagt.
83 Prozent haben gesagt, er macht als Krisenmanagereine gute Figur und
er hat einen klaren Kopf bewahrt!
Unser Minister hat nicht im luftleeren Raum entschie-den. Er ist immer auf Sicht gefahren.
Heute wurde der Luftraum wieder geöffnet.Wäre es anders gelaufen, hätte er nicht so verantwor-tungsvoll gehandelt, dann wären Sie doch die ersten ge-wesen, die sich darüber beschwert hätten, dass der Mi-nister unverantwortlich handelt. Das, was Sie heute vonsich geben, ist teilweise abenteuerlich.
Ich erinnere an letzten Freitag, an dem es ein absolu-tes Flugverbot gab. Als wirtschaftlich denkenderMensch erinnere ich auch daran, dass gemessen am Wertimmerhin 40 Prozent unserer Warenlieferungen über denFlugverkehr abgewickelt werden. Das zeigt: Sicherheithat einen hohen Preis. Zeitweise sind 250 000 Touristen,die eine Pauschalreise gebucht hatten, gestrandet.Ich möchte darauf hinweisen, dass unsere deutschenReiseveranstalter vorbildlich gearbeitet haben. Sie habensich um die Menschen, die nicht direkt nach Hause ge-langen konnten oder nicht direkt zu ihren Urlaubsortengebracht werden konnten, gekümmert. Sie haben sie mitHotelzimmern, Essen und Trinken versorgt. All das istnicht selbstverständlich.Wir alle brauchen Urlaub. Ich versetze mich einmal indie Stimmung eines Urlaubers. Der eine sagt: Mein Ur-laub war schön, aber ich freue mich, wieder zu meinerFamilie oder in meinen Betrieb zurückzukehren.
Ein anderer sagt: Mein Urlaub wird schön, ich habe ihnverdient, aber leider hat es nicht funktioniert.
In dieser beispiellosen Ausnahmesituation ist von derTourismuswirtschaft Bemerkenswertes geleistet worden.Es gab eine einzigartige Rückholaktion. Ich wiederholegern das Lob und den Dank an alle Behörden im Land,die sich durch ihre Bemühungen im In- und Ausland ver-dient gemacht haben. Warum? Weil die Hilfe meist überdie gesetzlichen und vertraglichen Verpflichtungen hin-ausgegangen ist.Ich möchte an dieser Stelle eines klarstellen. Reisever-anstalter sind im Falle höherer Gewalt nicht verpflichtet,höhere Übernachtungs- oder Beförderungskosten alleinzu übernehmen. Trotzdem haben sie mit ihrem Personalvor Ort so gut es ging geholfen.Gleich im Anschluss an diese Aussprache, um15 Uhr, werden wir uns aus aktuellem Anlass im Touris-musausschuss mit allen wichtigen Akteuren der Touris-musbranche, der Fluggesellschaften, der Flughäfen– auch der Verbraucherzentrale Bundesverband wird da-bei sein –, mit Vertretern der Bundesregierung, der Rei-severanstalter und der Reisebüros zusammensetzen, umintensiv darüber zu beraten, was ist bzw. was kommenmuss.Noch ein Punkt. Ich nutze die Gelegenheit, kurz zumThema Pauschalreise und Pauschalreiserichtlinie zusprechen. Lange Zeit galt die Pauschalreise als Auslauf-modell. Aber gerade jetzt haben unsere Urlauber er-kannt, wie wichtig es ist, dass man einen deutschsprachi-gen Ansprechpartner in dem jeweiligen Reiseland hat,dass man rund um die Uhr immer wieder über die aktu-elle Situation informiert wird und dass die eigene Reisevon anderen im wahrsten Sinne des Wortes neu organi-siert wird.
Es war teilweise ein Wettlauf mit der Zeit, als unsereleidgeplagten deutschen Touristen über noch offeneFlughäfen oder teilweise per Schiff von Inseln im Mittel-meer oder im Atlantik aufs südeuropäische Festland ge-
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Marlene Mortler
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bracht und anschließend mit Bussen nach Deutschlandzurückgebracht wurden.Noch einmal zur Pauschalreiserichtlinie. Diese EU-Richtlinie wird im Moment überarbeitet. Über sie wirdheftig diskutiert. Ich sage aus deutscher Sicht ganz klar:Wir brauchen keine Überarbeitung. Wir brauchen auchkeine Vollharmonisierung. Diese Richtlinie muss weiter-hin von den Mitgliedstaaten in nationales Recht umge-setzt werden. Warum? Weil das deutsche Schutzniveauwesentlich höher ist als das europäische Schutzniveau.Wir wollen dieses hohe Niveau beibehalten. Hier habenwir den Verbraucherzentrale Bundesverband und anderewichtige Akteure an unserer Seite.Ich komme zum Schluss.
Es ist wichtig, noch einmal festzuhalten, dass wir höchs-tes Interesse an einer schnellen Normalisierung im Be-reich der fluggebundenen Reisen und im Bereich desfluggebundenen Urlaubsverkehrs haben. Wir kennen diewirtschaftlichen Folgen. Der Schaden – das wissen wir –ist schon groß genug. Deshalb wünsche ich mir von gan-zem Herzen, dass der Tourismus schnell wieder auf Tou-ren kommt.Ich danke Ihnen.
Damit schließe ich die Aussprache.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:Befragung der BundesregierungDie Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-binettssitzung mitgeteilt: Gesetzentwürfe zur Ände-rung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes undzur Schaffung eines nationalen Stipendienpro-gramms.Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Berichthat die Bundesministerin für Bildung und Forschung,Frau Dr. Annette Schavan.Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-dung und Forschung:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das Kabinett hat in seiner heutigen Sitzung einige Maß-nahmen zur Weiterentwicklung und Stärkung der Bil-dungs- bzw. Studienfinanzierung verabschiedet.Eine dieser Maßnahmen ist: Nachdem viele Jahre da-rüber diskutiert worden ist, wollen wir in Deutschlandeine dritte Säule der Studienfinanzierung ermöglichenund so eine Stipendienkultur in Deutschland aufbauen.Das ist im Koalitionsvertrag vereinbart und basiert aufErfahrungen, die damit an Hochschulen in Nordrhein-Westfalen gemacht wurden.Es geht um eine Stipendienkultur, die das Zusammen-spiel öffentlicher und privater Investitionen ermöglicht.Jeder Euro, der von einer Hochschule für Stipendien ein-gesammelt wird, wird durch einen zweiten Euro der öf-fentlichen Hand ergänzt, hälftig vom Bund und dem je-weiligen Land finanziert. Erstmals werden Stipendien inDeutschland eltern- und überhaupt einkommensunab-hängig vergeben: 300 Euro pro Monat. Es geht um Sti-pendien, die mit ins Ausland genommen werden können.Diese Stipendien werden an jene vergeben, die von ihrerLeistung her dafür infrage kommen. Wir haben dies sehrbewusst mit einem Leistungsbegriff verbunden, dernicht an Noten gekoppelt ist, sondern weit gefasst ist,wie wir das auch aus der Begabtenförderung in Deutsch-land kennen.Wir wollen mit dem Aufbau dieser dritten Säule – ne-ben BAföG und Bildungskrediten – erreichen, dass Bil-dungsbarrieren weiter abgebaut werden und die finan-zielle Ausstattung der Studierenden besser wird. Wirhaben über einen langen Zeitraum hinweg die Erfahrunggemacht – das ist der Hintergrund –, dass lediglich 2 bis3 Prozent der Studierenden in Deutschland über einesder zwölf Begabtenförderungswerke ein Stipendium be-kommen. Das ist international gesehen eine weit unter-durchschnittliche Größe. Die zweite relevante Größe ist,dass der Anteil der privaten Investitionen im BereichBildung in Deutschland mit 15 Prozent weit unter demOECD-Schnitt liegt, der bei 27 Prozent liegt. Alle gro-ßen Forschungs- und Wissenschaftsnationen haben deut-lich höhere Anteile: über 60 Prozent.Das Stipendium – ich habe es schon gesagt – kann mitins Ausland genommen werden. Wenn es um Leistunggeht, kann eine Hochschule entscheiden, besondereLeistungen, die zum Studium hingeführt haben, zu be-rücksichtigen. Wir wünschen uns, durch diese gezielteMaßnahme den Anteil der Studierenden aus Migrations-familien zu erhöhen.Ein letzter Satz zum Stipendienprogramm: Es wirdimmer wieder gefragt, warum Stipendien für eineGruppe gegeben werden sollen, die eigentlich sowiesoschon gut gestellt ist, weil sie im Zweifelsfall aus ein-kommensstarken oder bildungsnahen Familien kommt.Ich glaube, dass wir drei verschiedene Tatsachen aus-einanderhalten müssen:Die erste Tatsache: Wir haben in Deutschland seitJahrzehnten einen zu geringen Anteil Studierender auseinkommensschwachen und bildungsfernen Familien.Die Begabtenförderungswerke verzeichnen einen ent-sprechend niedrigen Anteil, der sich analog zu dieserEntwicklung verhält. Was wir brauchen, sind Anreize,auch im Bereich der Bildungsfinanzierung, um weitereHürden abzubauen. Die Erfahrungen, die man zum Bei-spiel an den Universitäten in Duisburg und Bochum ge-macht hat, also in strukturschwachen Regionen, zeigen,dass das gelingt und dass dadurch der Anteil derer, diebislang keinen Zugang zur Hochschule gefunden haben,erhöht werden kann.Der zweite Punkt ist die Weiterentwicklung desBAföG. 2008 haben wir nach einer Reihe von Jahreneine kräftige Erhöhung vorgenommen. Damit sind wirwieder in einen Prozess eingestiegen, den ich für ganzbedeutsam halte. Das Bundesausbildungsförderungsge-
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Bundesministerin Dr. Annette Schavan
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setz lebt von der kontinuierlichen Weiterentwicklungentsprechend der Entwicklung der Lebenshaltungskos-ten einerseits und der Nettoeinkommen andererseits. Siewird festgemacht an den Indikatoren, die hierfür bedeut-sam sind. Wir wollen erstens den Kreis derer, die mitBAföG gefördert werden, erweitern, deshalb die Erhö-hung des Freibetrages um 3 Prozent. Wir haben jetzt imJahresdurchschnitt rund 330 000 Studierende und200 000 Schüler, die BAföG bekommen. Wir können da-von ausgehen, dass sich mit dieser Erhöhung der Freibe-träge der Kreis derer, die gefördert werden, bis zumEnde des nächsten Jahres um – geschätzt –60 000 Personen erhöhen wird. Damit sind wir an der600 000er-Grenze, was das BAföG angeht. Zweitenswerden wir den Fördersatz um 2 Prozent erhöhen. Dasbedeutet, dass der Höchstfördersatz künftig bei 670 Euroim Monat liegen wird.Ein dritter Punkt ist wichtig – das ist ein ganzes Paketweiterer Modernisierungsmaßnahmen –: Wir passenkonkrete Regelungen an konkrete Veränderungen vonStudienverläufen, Studienstrukturen und Lebensverläu-fen an. Dazu gehört die Anhebung der Altersgrenze von30 auf 35 Jahre für das Masterstudium. Dazu gehörtauch – das ist ein ganz wichtiger Punkt – der Wegfall derDreijahresgrenze zwischen Abitur und Studiumsauf-nahme oder Einsetzen einer Familienphase, die einge-halten werden musste, um später bei Überschreitung derAltersgrenze wegen Kinderbetreuung trotzdem nochBAföG-berechtigt zu sein. Eine Frau, die erst nach vieroder fünf Jahren nach dem Abitur Kinder bekommenund betreut und dann erst nach Überschreiten der Alters-grenze mit dem Studium begonnen hat, konnte bislangnicht durch BAföG gefördert werden. Dieser Punkt be-trifft also unmittelbar die Vereinbarkeit von Familie undStudium. Schließlich gehört die Möglichkeit dazu, dassAuszubildende BAföG erhalten können, wenn sie imAusland sind. Wir wollen ja, dass nicht nur Studierendeins Ausland gehen, sondern auch andere Auszubildende.Dies sind ein paar Änderungen, die der konkreten Ent-wicklung von Lebensentwürfen und Studienstrukturengerecht werden.Das sind die wesentlichen Aspekte. Es handelt sichum Maßnahmen, die es insbesondere den Studierendenermöglichen, ihre Studien besser zu finanzieren.Vielen Dank.
Die erste Frage ist die des Kollegen Kai Gehring.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Ministerin, ich
möchte eingangs darauf hinweisen, dass wir Grüne nicht
Nein zu Stipendien sagen, aber wir sagen klar Nein zu
diesem nationalen Stipendienprogramm, da es die fal-
sche Priorität setzt und ungerecht ist.
Ich wüsste von Ihnen gerne – Sie haben davon ge-
sprochen, eine Stipendienkultur schaffen zu wollen –,
wie es dazu kommt, dass diese Stipendienkultur schon
zum Erliegen kommt, noch bevor sie geschaffen wird.
Die vorgesehenen Mittel für dieses Programm sind of-
fenbar halbiert worden. Dies sieht man, wenn man den
Referentenentwurf, der wenige Wochen alt ist, mit dem,
was heute im Kabinett beschlossen worden ist, ver-
gleicht. Wie kann es sein, dass im Entwurf des Stipen-
dienprogramm-Gesetzes vorgesehene Mehrausgaben in
2013 in Höhe von 160 Millionen Euro angesetzt werden,
während es im Referentenentwurf noch 300 Millionen
Euro waren, und dass Bund und Länder nicht jeweils
150 Millionen Euro, sondern 80 Millionen Euro in die
Hand nehmen? Wie kommt es zu dieser Halbierung der
Mittel und zu diesem deutlich langsameren Aufbau? Hat
das zum Beispiel damit zu tun, dass die Wirtschaft Ihr
nationales Stipendienprogramm offensichtlich gar nicht
unterstützen will?
Es wäre mir auch wichtig, dass Sie zur Absage der
Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände
Stellung beziehen, die die Finanzierung von Stipendien
nicht als originäre Aufgabe der Unternehmen ansieht.
Könnten Sie bitte erläutern, weshalb die Wirtschaft hier
nicht mitmachen will? Ist Ihr Stipendienprogramm nicht
völlig auf Sand gebaut, wenn die Arbeitgeberverbände
sagen, dass dies nicht ihre originäre Aufgabe ist und dass
sie nicht mit im Boot sind?
Frau Ministerin.Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-dung und Forschung:Sie haben gesagt, das Programm setze die falschePriorität und sei ungerecht. Dass ich da anderer Meinungbin, versteht sich von selbst.
Nachdem seit so langer Zeit nur 2 bis 3 Prozent ein Sti-pendium bekommen, sind wir fest entschlossen, dafür zusorgen, dass langfristig 10 Prozent ein Stipendium erhal-ten. Es gibt Debatten über das Tempo und über dieFrage, wer den Hochschulen die entsprechende Admi-nistration zahlt. Es gibt auch Stellungnahmen aus derWirtschaft, die sagen, es sei nicht deren primäre Auf-gabe. Der Wirtschaft sage ich: Jahrelang ist in Deutsch-land über Stipendien diskutiert worden, auch in der Wirt-schaft.Ich bin allerdings der Meinung: Die erste Gruppe, diewir ansprechen sollten, sind nicht Unternehmen, sonderndie Ehemaligen. In erfolgreichen Wissenschaftsnationengehört es zum Verhalten der Ehemaligen, der AlumniClubs, zu helfen. Die Solidarität der Ehemaligen mit denheute Studierenden ist ein ganz wichtiger Punkt, ist einSignal der Zivilgesellschaft. Deshalb ist das die ersteGruppe, die wir ansprechen werden. Sie können schonheute in Bonn oder Aachen feststellen, dass man sich andie Ehemaligen, an den Verein der Ehemaligen, wendet;darüber kommen Stipendien.Bezüglich des Tempos sage ich: Auch wenn es jähr-lich nur 0,5 Prozent mehr sind, ist dieser vergleichsweise
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Bundesministerin Dr. Annette Schavan
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bescheidene Aufwuchs angesichts der Tatsache, dassman 60 Jahre lang in Deutschland bei 2 Prozent gelegenhat, zu begrüßen.Die Vergabe der Stipendien erfolgt, glaube ich, sehrgerecht. Ich weiß nicht, was ungerecht daran sein soll,dass Stipendien möglich werden, die mit Leistung undnicht mit Herkunft, nicht mit elterlichem Einkommenverbunden sind und die die Selbstständigkeit des Studie-renden akzeptieren.
Ich bin davon überzeugt, dass das für die Universitäten,für die Hochschulen insgesamt ein interessanter Impulsist, sich gerade für solche Studierende zu interessieren,die sich hinsichtlich ihrer Finanzsituation und Herkunftschwertun.
Der Kollege Kretschmer.
Frau Bundesministerin, Sie haben die Erhöhung der
Bedarfssätze bzw. der Regelsätze und der Freibeträge
beim BAföG angesprochen, die deutlich über das hi-
nausgeht, was dem BAföG-Bericht zufolge als notwen-
dig erachtet wird. Vielleicht können Sie einmal darstel-
len, warum dieser Schritt notwendig ist und aus welchen
Gründen die Bundesregierung deutlich über die Forde-
rungen des BAföG-Berichts hinausgeht, wodurch sie in
Zukunft viel mehr jungen Leuten die Chance eröffnet,
BAföG zu beziehen.
Das Zweite. In der Diskussion über das Stipendienmo-
dell, das ich für richtig halte, ist davon die Rede, dass es
an den Hochschulen ganz unterschiedliche Voraussetzun-
gen gibt und dass vor allen Dingen Hochschulen in wirt-
schaftlich schwierigen Regionen Probleme befürchten.
Vielleicht können Sie einmal deutlich machen, welche
Maßnahmen geplant sind, um eine Unwucht zugunsten
wirtschaftlich starker Regionen und zulasten wirtschaft-
lich schwacher Regionen zu verhindern.
Frau Ministerin, bitte.
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-
dung und Forschung:
Zu Ihrer ersten Frage. In der Tat weisen die maßgebli-
chen statistischen Daten und Prognosen im BAföG-Be-
richt rechnerisch den Bedarf nur für eine etwas geringere
Erhöhung aus. Wir haben gesagt: Die jetzige Erhöhung
muss eine Zeit lang halten. Das heißt, sie greift der Wei-
terentwicklung, die im nächsten Jahr ansteht, vor. Ange-
sichts der erfreulichen Entwicklung, dass im Studien-
jahr 2009 43,3 Prozent eines Jahrgangs ein Studium
begonnen haben, war uns auch wichtig, ein starkes Zei-
chen zu setzen, dass wir die Studierbereitschaft positiv
zur Kenntnis nehmen und diesen positiven Trend stabili-
sieren wollen.
Zu Ihrer Frage nach den strukturschwachen Regionen.
Sobald der Gesetzentwurf verabschiedet ist, werden wir
uns mit den konkreten nächsten Schritten befassen. Im
Gesetz ist schon jetzt geregelt, dass wir uns die Situation
nach drei Jahren anschauen werden; auf Neudeutsch
nennt man dies Evaluation. Dann werden wir überprüfen:
Ist das Erreichte ausreichend? Sind strukturfördernde
Maßnahmen notwendig? Ich glaube, es wäre nicht gut,
schon jetzt von einem Finanzausgleich zu sprechen, weil
diese Maßnahmen nicht länderspezifisch, sondern hoch-
schulspezifisch sind.
Wenn es gelingt, im Hinblick auf das Sponsoring von
Stipendien zuerst die Gruppe der Ehemaligen anzuspre-
chen, dann werden auch die Unternehmen vor Ort keine
so relevante Rolle mehr spielen. Hier müssen wir zuerst
Erfahrungen sammeln und dann überprüfen, wie sich die
Dinge entwickelt haben. Zeigt sich in den ersten Jahren
eine offenkundige Benachteiligung strukturschwacher
Regionen, müssen wir uns erneut mit diesem Thema be-
schäftigen.
Die nächste Frage stellt der Kollege Rossmann.
Frau Ministerin, ich möchte an die Ausführungen des
Kollegen Gehring anknüpfen. Ich habe den Eindruck,
dass in Bezug auf das Stipendiensystem sehr viele Frage-
zeichen von Ihnen selbst in den Raum gestellt werden,
von der Evaluation nach drei Jahren bis hin zum Wechsel
der Zielgruppe von Unternehmen zu Alumni. Sie haben
sich positiv dahin gehend geäußert, dass man mithilfe ei-
nes Leistungsgesetzes BAföG rund 60 000 zusätzliche
Studierende aus der unteren Mittelschicht bzw. der Mit-
telschicht insgesamt gewinnen kann.
Vor diesem Hintergrund frage ich Sie: Weshalb mei-
nen Sie, dass es wichtiger ist, an der Entwicklung eines
Stipendiensystems zu arbeiten, statt deutlich mehr Geld
in die Förderung der Studierenden aus der unteren Mit-
telschicht bzw. der Mittelschicht insgesamt durch eine
viel stärkere Erhöhung der Freibeträge zu investieren?
Dies ließe sich gesetzlich klar und ohne großen Verwal-
tungsaufwand regeln, und das Geld käme bei der Ziel-
gruppe, die wir für ein Studium zusätzlich materiell absi-
chern wollen, sicher an. Stattdessen wollen Sie sich aber
lieber auf ein sehr unsicheres Stipendiensystem einlas-
sen, das mit vielen Fragezeichen, die Sie sogar selbst set-
zen, verbunden ist.
Frau Ministerin.Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-dung und Forschung:Ich setze keine Fragezeichen. Ich sage: Wer eine völ-lig neue Entwicklung in Gang setzt, der muss – eine Re-form lediglich durchzuführen, reicht nämlich nicht –auch wissen, wie er den Prozess der Umsetzung beglei-tet, wie ein Reformprozess organisiert ist. Dazu gehört,nach einigen Jahren zu überprüfen: Sind die Erwartun-
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Bundesministerin Dr. Annette Schavan
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gen erfüllt? Wo tauchen Schwierigkeiten auf? Was mussim Zweifelsfall korrigiert werden?Hätte man das bei jeder bildungspolitischen Reformin Deutschland berücksichtigt, wäre manche Reform an-ders gelaufen. Ich sage nur: Bologna-Prozess.Jetzt bestehe ich auf Folgendem: Wir entschließenuns nicht nur, das zu tun, sondern begleiten diesen Pro-zess so, dass unser Ziel auch erreicht wird.Die zweite Frage bezog sich darauf, warum ich nichtnur auf das BAföG setze. Das tue ich deshalb nicht, weiles ziemlich altmodisch ist, ausschließlich auf das BAföGabzustellen. An den interessanten Universitäten umDeutschland herum bewerben sich junge Leute – übri-gens auch aus Deutschland – um ein Stipendium. Das istdoch Ausdruck ihres Selbstbewusstseins. Dort werdensie unabhängig vom Einkommen der Eltern behandelt.Außerdem gibt es in dem Ganzen einen zutiefst sozia-len Aspekt. Ich möchte einmal die Erhöhung von Freibe-trägen und Förderbeträgen sehen, die notwendig wäre,um zu einem Plus von 300 Euro im Monat zu kommen.Das ist eine völlig illusorische Vorstellung. Mit dem zu-sätzlichen Stipendium gibt es aber die Möglichkeit,selbst beim Bezug des BAföG-Höchstsatzes in Höhe vonkünftig 670 Euro noch einmal 300 Euro dazuzubekom-men. Das ist die beste Studienfinanzierung gerade fürStudierende aus einkommensschwachen Familien, die esin Deutschland je gegeben hat.Deshalb ist dies nicht nur ein interessantes Projekt imHinblick auf Leistungsförderung, sondern vor allen Din-gen auch ein sozial zutiefst gerechtes und interessantesProjekt, das mit keiner Erhöhung des BAföG hätte reali-siert werden können.Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Wissenschafts-standort Deutschland sonst bald der einzige in der Weltist, in dem es keine Hochschulen gibt, die auch Stipen-dien vergeben können, und zwar – das sage ich aus-drücklich – eben nicht nur an Angehörige bestimmterBerufsgruppen, also nicht nur an angehende Ingenieureoder Physiker, und nicht nur von einem Unternehmen,von dem zur Bedingung gemacht wird, dass der Absol-vent dann aber auch zu ihm kommt, sondern in der gan-zen Breite der Fächer.
Kollege Meinhardt, Sie haben eine Frage.
Frau Ministerin, in Ergänzung dessen, was Sie gerade
angesprochen haben – ein ganz bewusstes Ziel der
BAföG-Modernisierung verbunden mit dem nationalen
Stipendienprogramm ist die soziale Dimension, Stich-
wort: Schließen einer Gerechtigkeitslücke –, frage ich
Sie erstens: Stimmen Sie an dieser Stelle mit der Formu-
lierung überein, dass wir hier durchaus von einer Trend-
wende sprechen können? Statt derzeit 1,9 Prozent der
Studierenden sollen künftig 10 Prozent der Studierenden
mit einem Stipendium ausgestattet sein.
Zweitens erscheint mir an dieser Stelle auch Folgen-
des wichtig: Würden Sie in diesem Zusammenhang bitte
noch einmal darstellen, wie der Begabungsbegriff bzw.
der Förderbegriff gerade bei diesem nationalen Stipen-
dienprogramm auszulegen ist, damit von der Zielrich-
tung her auch klar wird, dass es sich um ein sozial funda-
mentiertes System handelt?
Frau Ministerin, bitte.Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-dung und Forschung:Das ist in der Tat eine Trendwende oder jedenfalls dieChance bzw. der Impuls zu einem ganz neuen Instru-ment der Studienfinanzierung, das es in 60 Jahren Bun-desrepublik Deutschland nicht gegeben hat und mit demwir etwas ermöglichen, was in vielen anderen Wissen-schaftsgesellschaften üblich ist, nämlich dass die Zivil-gesellschaft Hochschulen und Studierende unterstützt.Die großen Universitäten, von denen wir immer schwär-men, leben allesamt einschließlich der Stipendien nichtzu 100 Prozent vom Staat, sondern sind finanziell sostark, weil sie einen Mix aus Zuwendungen des Staatesund der Zivilgesellschaft erhalten.Meines Erachtens gibt es keinen Grund, in Deutsch-land immer noch zu sagen: Aber die Zivilgesellschaftdarf auf gar keinen Fall irgendetwas geben wollen, weildas ja zu einem Rückzug des Staats führt. – Nein! DieInvestition des Staates soll so erfolgen, dass sie weitereInvestitionen der Zivilgesellschaft mobilisiert. Das halteich für den Clou. Hierbei handelt es sich um das Neue.Das Ganze ist natürlich auch – da komme ich nocheinmal auf die Opposition zu sprechen – wie bei jedemThema in Deutschland willkommener Anlass, zu sagen:Das haben wir ja noch nie gehabt. Weil wir das noch niegehabt haben, kann es überhaupt nicht klappen. Undwieso komme ich dazu, irgendeinem Studenten ein Sti-pendium zu geben?Bildungsrepublik Deutschland heißt dann irgendwannauch, dass derjenige, der studiert hat und heute gut ver-dient, die 150 Euro abführt. Das ist die beste Wertschät-zung von Studierenden und jungen Akademikern, diewir uns denken können.Ihr zweiter Punkt war der Begabungsbegriff. Im Ge-setzentwurf ist die Rede von Begabung und Leistung. Inmehreren Zeilen ist eigens beschrieben, dass damit keineGleichsetzung mit den Noten gemeint ist, sondern dassder Begabungsbegriff breit angelegt ist, bis hin zur Wür-digung der Lebensleistung. Natürlich kann eine Univer-sität sagen: Wir haben das Ziel, den Anteil derer, die ausFamilien mit Migrationshintergrund kommen, deutlichzu erhöhen, wir setzen hier einen Schwerpunkt, wir su-chen junge Leute, die, auch wenn sie vielleicht ausschwierigen Verhältnissen kommen, den Sprung zumStudium anstreben, und wollen ihnen ein klares Signalgeben, dass wir sie bei diesen Bemühungen über die bis-herigen Möglichkeiten hinaus unterstützen.
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3402 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 36. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. April 2010
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Die nächste Frage stellt Kollegin Hein. So lange, bis
ihr Mikro angeht, möchte ich – nur dass keine Nervosität
aufkommt – sagen: Wir haben eine Liste von Fragenden,
die wahrscheinlich für zwei Stunden reichen würde. Wir
haben versucht, darüber nach Gerechtigkeit, nach der
Reihenfolge der Meldungen und nach anderen Kriterien
zu entscheiden.
Vielen Dank. – Frau Ministerin, was wir heute zum
nationalen Stipendienprogramm zu hören bekommen ha-
ben, hat dazu beigetragen, dass ich noch mehr verunsi-
chert bin, als ich schon vorher war. Ich habe das Gefühl
bekommen, dass Sie nicht wirklich wissen, wovon Sie
reden, und auch nicht wirklich daran glauben, dass die-
ses Stipendienprogramm funktioniert.
Wenn Sie jetzt – anders als in der Vergangenheit – sa-
gen, dass die Ehemaligen bitte schön den privaten Anteil
stellen möchten, muss ich sagen: Ich finde das einiger-
maßen seltsam, und das steht auch im Widerspruch zu
dem, was Sie bisher angekündigt haben. Ich denke, Sie
betreiben Schönrederei. Man braucht, um studieren zu
können, erst ein Stipendium. Heutzutage funktioniert die
Studienfinanzierung hauptsächlich über BAföG. Genau
da kommt das Leistungsstipendium gar nicht an, es
kommt ja erst hinten drauf.
Meine Frage betrifft aber noch etwas anderes. Sie ha-
ben angedeutet – ich würde Sie bitten, darauf noch ein-
mal genauer einzugehen –, dass Sie anknüpfen wollen an
das Stipendienprogramm, das es in NRW schon gibt. Es
ist allerdings nachgewiesen, dass dieses Stipendienpro-
gramm vor allem diejenigen erreicht, die Mathematik,
Naturwissenschaften und Ingenieurwissenschaften stu-
dieren. Ich würde gerne wissen, wie Sie es erreichen
wollen, dass diese Stipendien – wenn sie denn überhaupt
gezahlt werden und wenn sie denn von jemandem entge-
gengenommen werden können – auch denjenigen zugu-
tekommen, die Fächer studieren, die keine solchen Fi-
nanziers hinter sich haben.
Frau Ministerin, bitte.
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-
dung und Forschung:
Ich möchte zunächst zu Ihrer Behauptung, dass ich
anders rede als am Anfang der Überlegungen zu diesem
Stipendienprogramm, sagen, dass das nicht meiner Erin-
nerung entspricht.
Für mich ist immer klar gewesen: Zur Zivilgesellschaft
können Unternehmen gehören, zur Zivilgesellschaft kön-
nen Vereine gehören, zur Zivilgesellschaft können Rotary
Clubs gehören. Ich sage ausdrücklich: Zur Zivilgesell-
schaft gehören auch die Ehemaligen. Dass ich das schon
immer gedacht habe, können Sie daran sehen, dass ich
schon ganz zu Beginn des Programms in NRW ein Sti-
pendium gespendet habe. Wenn ich die Ehemaligen nicht
im Blick gehabt hätte, wäre ich doch nicht auf diese Idee
gekommen. Wir wissen alle, dass wir Akademiker brau-
chen. Das wird aber nur dann etwas, wenn diejenigen, die
über entsprechende Möglichkeiten verfügen, dazu etwas
beisteuern.
Das hängt im Übrigen auch von der einzelnen Hoch-
schule ab. Ich weiß, dass in NRW die RWTH Aachen
eine besonders hohe Anzahl von Stipendiaten hat; ich
habe letzte Woche mit dem Rektor darüber gesprochen.
Dass die Stipendiaten Mathematik und Ingenieurswis-
senschaften studieren, ist wohl wahr. Die Vergabe der
Stipendien erfolgt aber nicht zentral, und der Fokus liegt
nicht nur darauf, dass Unternehmen künftige Mitarbeiter
kennenlernen. Damit ist die Möglichkeit gegeben, dass
Studenten aller Fächergruppen tatsächlich eine Chance
bekommen. Wer ein Stipendium bekommt, entscheidet
sich aber vor Ort, und darauf nehmen wir keinen Ein-
fluss. Ich bin davon überzeugt, das wird ähnlich sein wie
bei den 13 Begabtenförderungswerken: Da gibt es kein
Schwergewicht bei dieser oder jener Gruppe, sondern
Studenten aller Fachbereiche haben die Chance, in die
Begabtenförderung zu kommen.
Krista Sager.
Frau Ministerin, wenn die Hochschulen private Mitteljetzt bei ihren Alumni eintreiben sollen, dann kommt aufdie Hochschulen erheblicher Aufwand zu. Es stellt sichdie Frage, wie dieser Verwaltungsaufwand kompensiertwerden soll.Zu meiner zweiten Frage. Die meisten Hochschulenhaben heute sehr gute Kontakte zu ihren Alumni. Dasgilt aber in Bezug auf ihre eigenen Vorhaben, die für siePriorität haben. Da ja nicht zu erwarten ist, dass dieAlumni jetzt einfach etwas obendrauf legen, entziehensich die Hochschulen durch diese Aktivitäten im Grundeselber Mittel, die sie für etwas anderes eingeplant haben,nämlich das Geld von ihren Alumni für eigene Zwecke.Auf der anderen Seite ist zu bedenken: Die Anzahl ver-mögensstarker Alumni in Hamburg und in Cottbus istmit Sicherheit sehr unterschiedlich.In diesem Kontext frage ich: Wieso glauben Sie ei-gentlich, dass Sie die Hochschulen dazu bewegen kön-nen, das Ganze mitzumachen? Wie wollen Sie damitumgehen, dass möglicherweise gerade dort Mittel einge-trieben werden, wo sie gar nicht am nötigsten sind? Amnötigsten sind sie doch wahrscheinlich dort, wo es vieleStudierende aus strukturschwachen Gebieten gibt, diekaum die Möglichkeit haben, dort Stipendien zu bekom-men.Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-dung und Forschung:Zu Ihrer ersten Frage. In dem Maße, wie dieses Sys-tem angenommen wird, werden wir auch über die Kos-ten für die Hochschulen sprechen müssen. Das wirdbeim Gespräch mit den Ländern jetzt ein Thema sein.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 36. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. April 2010 3403
Bundesministerin Dr. Annette Schavan
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Ich habe einzelnen Rektoren gegenüber auch schon ge-sagt, dass wir dort einen Weg finden werden. Das gehtnicht zum Nulltarif.Zweitens. Denjenigen, die jetzt so argumentieren,dass sich eine Universität, die Stipendien einwirbt, jaGeld für anderes wegnimmt, sage ich aber auch – dassage ich jetzt etwas lapidar –: Dann soll diese Universitätentscheiden, dass sie das nicht mitmacht. – Es wird nie-mand gezwungen; keine Universität wird gezwungen,sich daran zu beteiligen. Es ist eine Möglichkeit, es istein Angebot, es ist ein Anreiz. Es ist eine Chance, Geldfür Bildung und Studium zu mobilisieren.Ich kann gut verstehen, dass sich bei etwas, das esnoch nicht gibt, erst einmal viele Fragen stellen. Ich rate,die Entscheidung innerhalb einer Hochschule zu treffen:Beteiligen wir uns sofort? Warten wir ab? Schauen wir,wie die Erfahrungen anderer sind? – Am 11. Mai 2010werde ich die Hochschulrektorenkonferenz besuchenund dann auch all diese Detailfragen mit den Präsidentenund Rektoren diskutieren.
Frau Kollegin Burchardt.
Frau Ministerin, anknüpfend an Ihre Aussage, das Sti-
pendienprogramm sei das große bildungspolitische Re-
formprogramm, möchte ich sagen: Man hat auf der Basis
der Fakten sowohl in Nordrhein-Westfalen als auch im
Ausland eher den Eindruck: Das hat die Ansätze eines
Bürokratieaufbauprogramms, sodass die Frage danach
gestellt wird, wer für die Kosten aufkommt.
Sie haben geraten, den Blick nach Großbritannien zu
richten. Ist Ihnen bekannt, dass in Großbritannien die
Akquisitionskosten ein Drittel der eingeworbenen Mittel
betragen? Hier in Deutschland würden bei den vorgese-
henen 300 Millionen Euro von privaten Stipendienge-
bern diese Akquisitionskosten 100 Millionen Euro betra-
gen. Sie haben aber nur 30 Millionen Euro angesetzt –
basierend auf den Erfahrungen der Begabtenförderungs-
werke. Dort muss aber keine Akquise betrieben werden.
Diejenigen, die in den nordrhein-westfälischen Uni-
versitäten für die Stipendien verantwortlich sind, sagen
mir, dass hier laufend große Verwaltungsaufgaben auf
die Universitäten zukommen. Es geht dabei um Umzüge,
es geht darum, dass sich Konten ändern, usw. Das ist
kein einmaliger Aufwand, sondern ein dauerhafter Auf-
wand.
Ob ich die Zahlen von Großbritannien übertrage oder
die von der Universität Duisburg-Essen hochrechne, die
beim Einwerben von Stipendien sehr erfolgreich war:
Man kommt zu dem Ergebnis, dass über 2 000 volle
Stellen zusätzlich notwendig wären. Das würde, egal wie
und von welcher Basis aus man rechnet, einen Ge-
samtaufwand von 100 Millionen Euro bedeuten. Das
sind 70 Millionen Euro mehr als das, was Sie in dem Ge-
setzentwurf veranschlagt haben.
Können Sie mehr dazu sagen, außer dass Sie Gesprä-
che führen werden? Das spielt nämlich für die Frage, ob
es sich die Universitäten leisten können, in diesen Büro-
kratieaufbau einzusteigen, schon eine ganz wesentliche
Rolle.
Frau Ministerin, bitte.
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-
dung und Forschung:
Die nordrhein-westfälischen Universitäten haben ja in
der Tat Erfahrungen. Diese Erfahrungen werden einflie-
ßen. Ich sage zunächst einmal: Die Erstattung von Ver-
waltungskosten ist in allererster Linie Sache des betref-
fenden Landes und nicht des Bundes. Wenn eine völlig
neue Initiative gemeinsam auf den Weg gebracht wird
und sich herausstellen sollte, dass der Verwaltungsauf-
wand höher ist als geplant, dann muss man darüber spre-
chen, wie das finanziert werden soll.
Ich finde das interessant: Erst wird gesagt: „Dabei
kommt ja gar nichts herum“, und dann wird gesagt: Wir
brauchen 100 Millionen Euro, um das Ganze zu verwal-
ten. – Mein Rat lautet, erst einmal zu beginnen. Dann
werden sich mit dem Maß der Attraktivität bzw. mit der
Zahl der Stipendien, die eine Universität zur Verfügung
stellen kann, auch andere Fragen beantworten. Der Bund
hat seine Bereitschaft signalisiert, zusätzliche Investitio-
nen bereitzustellen. Aber dazu müssen zunächst einmal
Erfahrungen gesammelt werden. Wie Sie wissen, hat das
Stipendiensystem in Großbritannien einen ganz anderen
Umfang als alles, worüber wir hier sprechen.
Daniela Kolbe, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Ministerin, ichmöchte an einen Punkt anknüpfen, den Herr Kretschmervon der Union schon angesprochen hat, nämlich diemutmaßliche regionale Ungerechtigkeit, die aus meinerSicht im Stipendiensystem angelegt ist. Ich frage Siekonkret: Stimmen Sie mit mir überein, dass der Ver-dienst von Alumni von der Hochschule bzw. der Art undLage der Hochschule, die sie besucht haben, abhängtund dass auch die Frage, ob eine Universität in einerwirtschaftlich starken oder schwachen Region liegt, Ein-fluss darauf haben wird, inwiefern das Stipendiensystemdort funktioniert und Verwaltungskosten anfallen?Auf gut Deutsch: Ist es nicht so, dass in der RWTHAachen ohne Weiteres ein solches Stipendiensystem im-plementiert werden kann, während die FH in Zittau bei-spielsweise mit viel höheren Kosten zu rechnen hat undviel weniger Geld zur Verfügung haben wird? Ist dieseUnwucht nicht schon im System angelegt? Aus meinerSicht müssen wir nicht drei Jahre warten und evaluieren,um das herauszufinden, was ich gerade beschriebenhabe.
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3404 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 36. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. April 2010
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Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-dung und Forschung:Frau Burchardt hat gerade das erfolgreiche Beispielder Universität Duisburg-Essen genannt. Das ist einklassisches Beispiel erstens für eine junge Universität,die zweitens in einer strukturschwachen Gegend liegt.
Sie ist keine Technische Universität und hat es leichterals viele andere. Das ist keine Frage.Ich weiß nicht, ob ich Sie richtig verstanden habe. Ichglaube nicht, dass es einen Zusammenhang zwischendem Einkommen eines Akademikers und der Hoch-schule gibt, an der er studiert hat. Ob jemand an der TUin Ilmenau oder in Aachen studiert hat, hat keinen Ein-fluss auf den Verdienst. Der Verdienst eines Ingenieursbeispielsweise reduziert sich nicht, wenn er in Ilmenaustudiert hat. Diesen Zusammenhang gibt es nicht.Sie haben die Alumni angesprochen. Alumni leben inder Regel nicht im Umfeld ihrer Universität. So leben inAachen durchaus auch ehemalige Studierende der Hoch-schule in Dresden. Zunächst einmal müssen, wie ich be-reits gesagt habe, Erfahrungen gesammelt werden. Wennder Eindruck entsteht, dass das System völlig ungleich-gewichtig ist, kann überlegt werden, an welcher StelleKorrekturen möglich sind. Vorstellbar ist zum Beispielein zentraler Fonds, aus dem ein Ausgleich erfolgt.Ich rate auch aufgrund der Erkenntnisse aus anderenLändern, zunächst einmal Erfahrungen zu sammeln, umzu erkennen, woher der größte Teil der Stipendienkommt, die eine Hochschule anbietet. Auch das ist eineinteressante Entwicklung. Wir müssen herausfinden, auswelchen Quellen die Stipendien finanziert werden. Dannkönnen wir weitersehen.
Frau Kollegin Alpers, bitte.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Ministerin, ichhabe zwei konkrete Fragen: Sie haben gesagt, durch dasStipendium erfahren wir soziale Gerechtigkeit; Stipen-dien sind genau der Indikator dafür, dass das nicht vonsozialer Herkunft abhängig ist. – Darüber können wirnun politisch streiten. Deshalb meine erste Frage: HabenSie vorgesehen, dass Sie uns jährlich vorlegen, wer Sti-pendien bekommen hat und wie die soziale Herkunftdieser Stipendiaten ist, um tatsächlich einmal belegen zukönnen, wie das mit diesen Stipendien sozial strukturiertist? Meine Bitte ist also, dass wir das nicht erst nach dreibis fünf Jahren erhalten, sondern tatsächlich jährlich.Dann haben Sie gesagt, dass die Ehemaligen die Sti-pendiaten unterstützen sollten, gar nicht so sehr die In-dustrie, die Betriebe. Da hätten wir schon soziale Unge-rechtigkeit; denn in strukturschwachen Regionen bestehteinfach ein Ungleichgewicht. Meine zweite konkreteFrage: Wen genau wollen Sie ansprechen, und wie wol-len Sie diese Ehemaligen ansprechen? Ich frage Sie, obauch vorgesehen ist, dass diese Liste auch dem Bundes-tag vorgelegt wird, sodass Ihr Vorgehen transparentwird.Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-dung und Forschung:Es ist nicht vorgesehen, dass dem Bundestag jährlichein Bericht vorgelegt wird, an welcher Universität wermit welchem sozialen Hintergrund ein Stipendium be-kommen hat. Wir diskutieren hier manchmal über Büro-kratieabbau, und ich rate im Sinne des Bürokratieabbaussehr, jetzt nicht eine solche Vorstellung zu entwickeln.
– Ja, nach drei Jahren, aber nicht durch einen jährlichenBericht.
Zweitens. Wir reden hier nicht über ein Stipendien-system der Bundesregierung,
sondern über ein nationales Stipendiensystem der Uni-versitäten, der Hochschulen in Deutschland, für das wirmit diesem Gesetzentwurf einen Vorschlag machen, dereine Verbindung von Investition aus öffentlichen Mittelnund privaten Investitionen vorsieht. Nach meiner Auf-fassung sollten wir hier nicht ein planwirtschaftlichesVerfahren mit ständiger Kontrolle durch Regierung undParlament vornehmen;
vielmehr geben wir dies in die Selbstständigkeit derHochschulen. Wir brauchen in diesem Zusammenhanglediglich die Informationen, die notwendig sind, um fürdie weitere Entwicklung dieses Stipendiensystems dieWeichen richtig stellen zu können. Das ist vorgesehen.Ich halte es auch nicht für richtig, wenn wir nach mei-ner Rede über die Ehemaligen sie als Alternative zu denUnternehmen ansehen.
Der Begriff, der im Zusammenhang mit dem Engage-ment Privater verwendet werden sollte, lautet „Zivilge-sellschaft“. Dazu gehören Einzelne, Verbände, Klubs,Unternehmen,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 36. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. April 2010 3405
Bundesministerin Dr. Annette Schavan
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wie auch immer, wie es auch in der Vergangenheit Mä-zenatentum und Sponsoring für Hochschulen gegebenhat.
Damit haben wir den zeitlichen Rahmen für die Re-
gierungsbefragung voll ausgeschöpft. – Frau Bundes-
ministerin, ich danke Ihnen für die Beantwortung der
Fragen.
Nun rufe ich den Zusatzpunkt 2 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Haltung der Bundesregierung zur Finanzier-
barkeit der FDP-Steuerpläne
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin für die SPD-Fraktion der Kollegin Nicolette Kressl
das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir diskutieren heute über Vorschläge derFDP zu einem weiteren Steuermodell. Unsere Bewer-tung ist sehr eindeutig: Die Vorschläge der FDP sindeine fatale Mischung aus Wählertäuschung und Selbst-betrug.
Der Selbstbetrug wird gerade in den letzten Tagenganz besonders deutlich. Sowohl der Finanzminister alsauch Einzelne aus der Union lassen die FDP am ausge-streckten Arm regelrecht vertrocknen. Ich will einigeZitate nennen: Es wird darauf verwiesen, dass es fürSteuersenkungen Spielräume geben muss, und der CDU-Finanzminister sagt, die vorhandenen Steuerpläne seiennachrangig. Insofern könnten wir eigentlich diesem ka-barettreifen Stück auf der Bühne gemütlich zuschauen;ich will Ihnen aber deutlich sagen: Für dieses Verwirr-spiel haben wir wenig Verständnis; denn jetzt ist es wirk-lich Zeit für eine klare Ansage.
Die klare Ansage brauchen wir deshalb, weil wir unshier nicht auf einer Schaustellerbühne befinden, sondernweil wir über Maßnahmen reden, die die Menschen ganzkonkret betreffen würden. Deshalb muss auf den Tisch,was sich hinter den FDP-Vorschlägen tatsächlich ver-steckt. Ich will zwei entscheidende Punkte ansprechen.Erstens. In diesem Konzept steht, dass die FDP dieGewerbesteuer streichen will. Stattdessen sollen dieKommunen einen höheren Anteil an der Umsatzsteuererhalten. Es gab dazu die nette Äußerung von HerrnWesterwelle, den Kommunen das Recht einzuräumen,einen Hebesatz auf die Umsatzsteuer festzulegen. Dazumuss ich Ihnen ehrlich sagen: Es kann doch nicht ernstgemeint sein, lauter kleine Mehrwertsteuerinseln zuschaffen. Ich finde, es ist an der Zeit, diesen Vorschlagzurückzunehmen. Das kann eigentlich nur ein größererIrrtum gewesen sein.
Aber selbst wenn es nicht darum geht, einen Hebesatzauf die Mehrwertsteuer festzulegen, kann das nur zwei-erlei bedeuten. Die erste Variante ist: Die Kommunenbekommen einen geringeren Teil an der Umsatzsteuer,als ihre Einnahmen aus der Gewerbesteuer bisher aus-machten; das sind pro Jahr mindestens 30 MilliardenEuro Gewerbesteuer. Das bedeutet, dass sie wenigerGeld haben. Also zahlen die Bürgerinnen und Bürgerdort beispielsweise mehr Abgaben. Das wäre eine Belas-tung, obwohl Sie eine Entlastung versprechen. Deshalbnenne ich das Wählertäuschung.
Die zweite Variante ist: Sie brauchen insgesamt höhereUmsatzsteuereinnahmen. Dann müssen Sie aber dieMehrwertsteuer anheben, und auch dieses würde dieMenschen belasten. Das ist wieder Wählertäuschung;denn Sie müssen das den Menschen sagen und dürfennicht behaupten, ohne Belastung der Leute könnten Siehöhere Umsatzsteueranteile an die Kommunen verteilen.
Der zweite Teil der Wählertäuschung ist, dass es zurFinanzierung äußerst vage Formulierungen gibt. Ichnenne eine: Steuervergünstigungen werden abgebaut. –Was heißt das? Auf Nachfrage, auch von Journalisten,hat der FDP-Chefwahlkämpfer Pinkwart deutlich ge-macht, dass die Steuerfreiheit der Zuschläge für Nacht-,Schicht- und Feiertagsarbeit zum Abriss freigegeben ist.Es ist nicht in Ordnung, dass das hinter anderen Vor-schlägen versteckt wird.
Sie versprechen Entlastungen, belasten aber die Bürger,wenn Sie die Steuerfreiheit der Zuschläge für Nacht-,Schicht- und Feiertagsarbeit abschaffen. Damit belastenSie in Wirklichkeit weiterhin die Leistungsträger in derGesellschaft; denn ohne Belastung dieser Menschenwerden Sie Ihr Konzept nicht umsetzen können. Das istdoch völlig klar.
Deshalb müssen Ihre Vorschläge klar auf den Tisch. Mitder Sozialdemokratie wird es eine Abschaffung oderauch eine Einschränkung der Steuerfreiheit für Nacht-,Schicht- und Feiertagszuschläge nicht geben.
– Herr Pinkwart hat ausdrücklich bestätigt, dass das zurDebatte steht. Das sollten Sie einmal nachlesen. – Mituns wird es das auf keinen Fall geben. Die Leistungsträ-ger, die nachts und an Sonn- und Feiertagen für diese
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3406 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 36. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. April 2010
Nicolette Kressl
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Gesellschaft unter erheblichen Einschränkungen arbei-ten, werden mit unserer Zustimmung auf keinen Fall be-lastet. Das kann so nicht gehen.
Ich will Ihnen sagen: Das ist eine Mischung ausSelbstbetrug und Wählertäuschung. Was die Steuerfrei-heit der Nacht-, Schicht- und Feiertagszuschläge betrifft,werden Sie alle morgen die Möglichkeit bekommen,sich im Rahmen der namentlichen Abstimmung dazu zubekennen, dass die Steuerfreiheit der Zuschläge für diesewichtigen Menschen erhalten bleibt.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Leo Dautzenberg für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Frau Kollegin Kressl, ichfrage mich, was die SPD mit dieser Aktuellen Stunde be-zwecken will; schließlich entbehrt all Ihre Kritik, die Siebis jetzt geäußert haben, jeglicher Grundlage. Es gehtvielmehr um Themen, über die schon seit Monaten, seiteinem halben Jahr und noch länger, diskutiert wird. An-scheinend suchen Sie lediglich Anlässe, um etwas an dieWand malen zu können, was gar nicht beabsichtigt ist.Über die Steuerfreiheit von Zuschlägen werden wir mor-gen debattieren.
Sie können davon ausgehen: Die Steuerfreiheit von Zu-schlägen wird auch dann nicht eingeschränkt werden,wenn es zu den von uns geplanten Steuerentlastungenund Steuerstrukturreformen kommt.Sie haben hier behauptet, wir wollten die Gewerbe-steuer abschaffen. Das stimmt nicht.
– Ich rede hier für die CDU/CSU-Fraktion. Ich bitte Sie,zuzuhören, Herr Kollege Poß. –
Die Regierung hat mittlerweile eine Gemeindefinanz-reformkommission ins Leben gerufen. Sie besteht ausVertretern von drei Ministerien der Bundesebene, ausVertretern der Landesebene und aus Vertretern der kom-munalen Ebene. Diese Kommission hat die Zielsetzung,die Einnahmen der Kommunen verlässlicher und stetigerzu machen. Deshalb geht es hier auch um einen Ersatzfür die Gewerbesteuer und nicht um ihren Wegfall.
Es geht darum, den Kommunen vom Volumen her eineverlässlichere Einnahmebasis zur Verfügung zu stellen.
Wir müssen feststellen: Aufgrund der konjunkturellenEntwicklung stiegen die Gewerbesteuereinnahmen bis2008, und durch die dann eingetretene Wirtschaftskrisesind sie stark zurückgegangen.Natürlich können Sie die Forderung stellen: Lasst unsdoch die Gewerbesteuer so verstetigen, dass die Hinzu-rechnungen erhöht werden. – Das würde zu Substanzbe-steuerungen der Unternehmen, gerade im Handel, füh-ren; das haben wir erlebt. Es war deshalb richtig, dieHinzurechnungen mit dem Wachstumsbeschleunigungs-gesetz abzumildern. Dadurch wurde die Steuerbasis derkommunalen Ebenen erhalten. Das wäre nicht der Fallgewesen, wenn diese Unternehmen pleitegegangen wä-ren.
Diese Differenzierung müssen Sie einmal auf sich wir-ken lassen. Das Bild, das Sie hier malen, entbehrt jegli-cher Grundlage.Wir wollen die Fortsetzung von Maßnahmen, die wei-terhin Wachstum generieren und zur Haushaltskonsoli-dierung, verbunden mit steuerlichen Entlastungen, füh-ren. Das ist kein Gegensatz, sondern ergänzt sich, weilsteuerliche Entlastung zu mehr Wachstum führen kann,und Wachstum wiederum würde zu einer Verbesserungder Einnahmesituation der Haushalte aller Ebenen füh-ren.Schon zu Beginn des Jahres haben wir Entlastungs-maßnahmen, gerade für Familien mit Kindern,
in Höhe von 25 Milliarden Euro beschlossen. Wir war-ten die Steuerschätzung ab, weil diese Daten eine wich-tige Rahmenbedingung für weitere Maßnahmen im Ein-kommensteuerbereich sind. Es ist kein Geheimnis,sondern im Koalitionsvertrag nachzulesen, wo dieSchwerpunkte der Entlastungen liegen werden, nämlichbei denjenigen Leistungsträgern unserer Gesellschaft,die im unteren und mittleren Einkommensteuerbereichliegen.
Wir wollen im Grunde die kalte Progression abbauen.Daher sind das alles keine überraschenden Elemente,sondern es ist klar, was wir wollen. Was wir vorhaben,wollen wir von verlässlichen Rahmenbedingungen ab-hängig machen. Wir dürfen nicht nur die Einnahmesitua-tion des Staates sehen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 36. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. April 2010 3407
Leo Dautzenberg
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Wenn die Ausgaben im Bundeshaushalt bis Ende Maigeringer ausfallen, weil sich der Arbeitsmarkt stabilisierthat und die Bundesagentur für Arbeit dadurch wenigerausgeben muss, dann ist das Potenzial für Entlastungengrößer. Es ist eben so: Alles hängt mit allem zusammen.
Was Sie hier heute veranstalten wollen, geht fehl. Wirwerden unser Ziel gemeinsam mit dem Koalitionspartnerdurchsetzen.Vielen Dank.
Die Kollegin Dr. Barbara Höll von der Fraktion Die
Linke ist nun die nächste Rednerin.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Steuer- und Finanzpolitik der schwarz-gelben Koalition ist eine Zumutung. Führen wir uns ein-mal vor Augen, was Sie getan haben: Mitten in derschwersten Wirtschafts-, Finanz- und Demokratiekriseseit 60 Jahren
schließen Sie einen Koalitionsvertrag, in dem Sie einenStufentarif versprechen. Vor kurzem haben wir denHaushalt für dieses Jahr mit einer Rekordverschuldungverabschiedet. Nun sagt der kleine Koalitionspartner:Jetzt machen wir mal ein bisschen Nägel mit Köpfen undverraten etwas genauer, wie wir uns das eigentlich vor-stellen; Steuerentlastung haben wir ja groß versprochen.Sie rennen weiter Ihrer Fata Morgana hinterher, als obmilliardenschwere Steuersenkungen einfach mal so lo-cker möglich wären. Was sagt die Bundeskanzlerindazu? Was sagt der Finanzminister dazu?
Nichts! Schweigen im Walde! Es ist berechtigt, zu sagen– nicht nur vonseiten der SPD, sondern insbesondereauch von Bürgerinnen und Bürgern in diesem Land –:Wir wollen vor der NRW-Wahl wissen, was Sie tun, wieSie sich verhalten werden.
Wenn man sich anschaut, wie das Steuerkonzept derFDP aussieht, dann kann man nur feststellen: Es ist eineMogelpackung. Sie rennen durchs Land und erzählenerstens, dass Sie vor allem untere und mittlere Einkom-men entlasten wollen.
Dazu möchte ich Ihnen einmal sagen: Viele Bürgerinnenund Bürger in diesem Land würden gern Steuern zahlen,wenn sie denn für die von ihnen geleistete Arbeit endlichordentlich bezahlt würden. Das ist der große Skandal.Dem müssten Sie sich als Erstes widmen.
Zweitens tun Sie so, als ob die hohen Einkommennicht entlastet würden. Das stimmt aber nicht. Nach Ih-rem Tarifvorschlag beträgt die Höchstentlastung1 534 Euro.
Die greift natürlich bei jedem, also auch bei dem, der einzu versteuerndes Einkommen von über 53 000 Euro hat.Nach Ihrem Konzept wird also auch jeder Millionär jähr-lich um 1 534 Euro entlastet. Das ist die Realität.
Schauen wir mal weiter! Der Vorschlag beinhaltet janicht nur einen Einkommensteuertarif, sondern da gibtes noch ein paar kleinere Striche untendrunter. Da findetsich zum Beispiel der Punkt: Arbeitnehmerpauschbe-trag. Derzeit beträgt er 920 Euro. Den wollen Sie durcheine Werbungskostenpauschale in Höhe von 2 Prozentder Einkünfte ersetzen. Dabei kommt für die Bezieherin-nen und Bezieher niedriger Einkommen, die aber schonSteuern zahlen müssen, eine Mehrbelastung heraus. Fürdie heißt das also weniger Netto vom Brutto. So viel zuIhren Wahlversprechen und den Umsetzungen!
Wenn wir beim Thema „Entlastung und Belastung“sind, noch Folgendes: Es ist doch einfach ein Skandal,dass Sie weiter Ihr Spiel spielen: mit der rechten Handgeben, mit der linken Hand nehmen. Denn das tun Sie.Welche Entwicklung gibt es bei der Krankenversiche-rung? Wie viele Kassen haben denn jetzt schon einenmonatlichen Zusatzbeitrag von 8 Euro eingeführt? WennSie dann auch noch an Ihrer Kopfpauschale festhalten,bedeutet das eine weitere Verschärfung der Ungerechtig-keit. Das heißt, dass insbesondere die Bezieherinnen undBezieher niedriger Einkommen massiv belastet werden.Man muss natürlich feststellen, dass das eine gewisseLogik hat. Die CDU/CSU regiert ja nun schon die zweiteLegislaturperiode.
Vorher hatten wir Rot-Grün. Seit dem Jahr 2000 gibt esmassive Steuerentlastungen für die Bezieher und Bezie-herinnen hoher Einkommen und im Unternehmensbe-reich. Die Steuerfreiheit der Veräußerungsgewinne
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3408 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 36. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. April 2010
Dr. Barbara Höll
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führte zu einem massiven Einbruch der Steuereinnah-men und als Erstes zu einer ziemlich katastrophalen Si-tuation vieler Kommunen. Zu nennen sind ferner dieSenkung des Spitzensteuersatzes, die Sie vorgenommenhaben, die Absenkung des Körperschaftsteuersatzes auf15 Prozent, die Eröffnung von neuen Möglichkeiten desKleinrechnens der Steuern durch großzügige Regelun-gen zur Bemessungsgrundlage, sodass Unternehmen ef-fektiv nur die Hälfte der Steuern zahlen, die sie eigent-lich zahlen müssten. Dies alles hat dazu geführt, dasssich die öffentliche Hand in einer katastrophalen Situa-tion befindet.Heute sind aber insbesondere die Bezieherinnen undBezieher niedriger und mittlerer Einkommen darauf an-gewiesen, dass die öffentliche Infrastruktur funktioniert.Sie werden am stärksten von dem betroffen, was imLande losgeht. So wird bei Bibliotheken gestrichen, wer-den bei Schwimmbädern Öffnungszeiten verändert oderwerden solche Einrichtungen gleich ganz geschlossen.Dazu gehören auch Gebührenerhöhungen im kommuna-len Bereich. Ich nenne beispielsweise die Erhöhung derAbfallgebühren. Vielen Bürgerinnen und Bürgern würdees wesentlich mehr nutzen, wenn Sie endlich etwas dafürtäten, dass die Kommunen eine verlässliche Finan-zierungsgrundlage bekommen. Das erreichen Sie abernicht mit der Umsetzung des Vorschlags, den HerrDautzenberg hier dankenswerterweise noch einmal er-wähnt hat: im Prinzip weg mit der Gewerbesteuer.
Sie sind überhaupt nicht gewillt – das wurde in den ers-ten Sitzungen Ihrer Kommission zu den Kommunalfi-nanzen deutlich –, die Finanzsituation der Kommunenzu verbessern,
sondern wälzen die Folgen Ihrer katastrophalen Finanz-und Steuerpolitik auf die Bürgerinnen und Bürger diesesLandes und auf die Kommunen ab.Das ist mit uns nicht zu machen. Wir sind die Parteider Steuergerechtigkeit.
Wir schlagen Ihnen vor: Belastung der hohen Einkom-men – unter anderem soll der Spitzensteuersatz wie beiHelmut Kohl 53 Prozent betragen –, einen linear-pro-gressiven Tarif und eine Millionärsteuer.
Frau Kollegin, denken Sie bitte an die Redezeit.
Diese Punkte sind umzusetzen. Dann hätten wir Geld,
um dort Steuerentlastungen vorzunehmen, wo sie not-
wendig sind, nämlich bei den Bezieherinnen und Bezie-
hern niedriger und mittlerer Einkommen.
Ich danke Ihnen.
Nun hat das Wort der Kollege Dr. Hermann Otto
Solms für die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Der Kern des Problems
der Einkommensbesteuerung in Deutschland ist die zuhohe Belastung, der zu steile Tarifanstieg im unteren undmittleren Bereich; das ist völlig unbestritten. Das führtdazu, dass ein ganztägig beschäftigter durchschnittlichverdienender Arbeitnehmer in Deutschland von jedemzusätzlich verdienten Euro weniger als 50 Prozent, alsoweniger als 50 Cent, ausgezahlt bekommt. Das ist natür-lich leistungslähmend.
– Durchschnittlicher Verdienst heißt: ein Einkommenvon circa 36 000 bis 37 000 Euro im Jahr. – Ein Fachar-beiter mit einem Jahreseinkommen von 50 000 Euro be-kommt sogar weniger als 40 Prozent von jedem zusätz-lich verdienten Euro ausgezahlt. Der Kern unsererSteuerreformvorschläge ist, diese Ungerechtigkeit zu be-seitigen.Es ist ja bezeichnend, dass die Kollegin Kressl auf daseigentliche Thema gar nicht eingegangen ist.
Ich kann Ihnen auch sagen, warum sie das nicht getanhat. Sie hat es nicht getan, weil im Wahlprogramm derSPD genau das Gleiche steht, was wir jetzt vorschlagen.Da steht nämlich:Wir wollen die Entlastungen daher auf die Bezieherniedriger und mittlerer Einkommen sowie die Fa-milien konzentrieren.
Die Familien haben wir schon entlastet. – Zur Tarifre-form sagen Sie:Wir wollen den Tarifverlauf so gestalten, dass esEntlastungen bis zu einem zu versteuernden Ein-kommen von 52 882 Euro … gibt. Hiervon werdenim Vergleich mit dem Tarifverlauf 2010 über24,6 Millionen Menschen profitieren.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 36. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. April 2010 3409
Dr. Hermann Otto Solms
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Auch wir wollen bis zu einem Jahreseinkommen von53 000 Euro Entlastungen vornehmen. Unsere Vor-schläge sind also fast identisch.
Interessant in diesem Zusammenhang ist auch dasWahlprogramm der CDU/CSU. Dort steht nichts ande-res:Die aus Wachstum folgenden Steuermehreinnah-men wollen wir in etwa gleichen Teilen für Haus-haltskonsolidierung, Zukunftsinvestitionen undEntlastung der Bürger verwenden.
Darauf komme ich gleich zurück. – An anderer Stelle sa-gen Sie:Leistung und Einsatzbereitschaft müssen sich wie-der mehr lohnen.
nerhöhungen auch wirklich bei denjenigen ankom-men, die sie erarbeitet haben.An einer weiteren Stelle sagen Sie, dass Sie diese Entlas-tung in einer ersten Stufe bis zu einem Einkommen von55 000 und in einer späteren Stufe bis zu einem Einkom-men von 60 000 Euro möglich machen wollen.Die drei klassischen Parteien in diesem Hause wollengenau das Gleiche. Es gibt also überhaupt keinen Grund,über dieses Thema zu streiten. Was wir wollen, ist rich-tig. Jetzt geht es um die Frage, ob wir uns das aus staatli-cher Sicht leisten können. Ich sage: Wir müssen uns dasleisten, weil es um Steuergerechtigkeit für die Leutegeht, die die Steuern aufbringen und den Staat durch ihreArbeit finanzieren.
Lassen Sie mich dieses Thema erweitern: Die letzteSteuerschätzung vom Mai des vorherigen Jahres – eswird bald eine neue Steuerschätzung geben –, die bisjetzt Grundlage aller Berechnungen ist, kommt zu demErgebnis, dass wir im Jahre 2010 ein Gesamtsteuerauf-kommen – Bund, Länder und Gemeinden zusammen –von 510,4 Milliarden Euro haben werden. Das wird bis2013 auf 575 Milliarden Euro ansteigen.
Wir werden in dieser Zeit also einen Zuwachs an Steuer-einnahmen in Höhe von 65 Milliarden Euro haben. Ichsage Ihnen voraus, dass die neue Steuerschätzung für dienächsten Jahre – für 2010 vermutlich nicht mehr – sogareinen höheren Zuwachs prognostizieren wird.
Wenn man dann der Strategie der CDU/CSU folgt undsagt: „Wir wollen das auf drei Jahre aufteilen“, dann sindwir genau bei den Steuerentlastungen von 22 bis24 Milliarden Euro, auf die wir uns im Koalitionsvertraggeeinigt haben.
Wir sollten uns einig sein, dass wir das auch so umset-zen. Wir sollten darüber nicht mehr streiten, sondernüberlegen, wie wir das machen. Machbar ist das. Das hatDr. Boss aus Kiel gerade bestätigt. Steuerentlastungen,so hat er gesagt, sind nicht nur möglich, sondern geradein diesem Bereich auch notwendig,
damit das Wachstum gestärkt wird, sich Arbeit wiedermehr als bisher lohnt und dadurch die Arbeitslosigkeiteffizient bekämpft wird. Die Strategie der Koalition istrichtig angelegt. Sie wird zu diesen positiven Ergebnis-sen führen; das kann ich Ihnen versichern.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Gerhard Schick
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Ti-tel dieser Aktuellen Stunde lautet ja: „Haltung der Bun-desregierung zur Finanzierbarkeit der FDP-Steuer-pläne“. Ich möchte – denn Herr Dautzenberg hat dazunichts gesagt –
Sie, Herr Koschyk, vorsichtshalber darum bitten, dassSie nachher etwas zum Thema Finanzierbarkeit sagen.
Denn genau dies ist das Thema, und am Thema vorbeire-den sollte man nicht.Herr Solms, wir haben eine Antwort auf die Frage derFinanzierbarkeit gehört. Das ist das Prinzip Hoffnung infolgendem Sinne: Die Steuerpläne werden sich schon ir-
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3410 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 36. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. April 2010
Dr. Gerhard Schick
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gendwie selbst finanzieren. – Sie wissen genau, dass dasin der gegenwärtigen wirtschaftlichen Lage nicht funk-tionieren wird.
Sie wissen auch, dass das Prinzip Hoffnung bei dem der-zeitigen Zustand der öffentlichen Finanzen absolut un-verantwortlich wäre.
Bisher haben wir immer gedacht, die FDP-Positionsei populistisch, weil die FDP den Leuten etwas ver-spricht und damit Wahlen gewinnen will.
Inzwischen stellen wir aber fest: Die Leute sind schlauerals Sie.
Die breite Mehrheit der Menschen weiß, dass Ihr Vorha-ben unverantwortlich ist. Sie will, dass Regierung undParlament verantwortlich mit den öffentlichen Finanzenumgehen, weil man so nicht weiter wirtschaften kann.Der gegenwärtige Bundeshaushalt ist zu einem Drittelüber Schulden finanziert. Viele Kommunen sind nichtmehr in der Lage, selber aus ihrer Verschuldungssitua-tion herauszukommen.
Die Einnahmeausfälle in Höhe von 16 Milliarden Eurobei der Einkommensteuer, auf die Sie sich jetzt habenherunterhandeln lassen, bedeuten immer noch bei denkommunalen Einnahmen Ausfälle in Höhe von2,4 Milliarden Euro. Das ist definitiv zu viel. Den Ruinder Kommunalfinanzen machen wir nicht mit.
Was sagt eigentlich die Bundesregierung dazu? BeimFinanzminister, bei der Kanzlerin und auch bei HerrnPofalla hört sich das alles sehr ruhig und seriös an:Schauen wir mal. Vielleicht machen wir das in zwei Jah-ren. Die Priorität liegt bei den Kommunen. – In Wirk-lichkeit haben Sie aber bisher die Antwort darauf ver-weigert, wie all das, worüber in der Koalition diskutiertwird, finanziert werden soll. Denn hinter all den schönenSprüchen stehen nicht nur die geschätzten Einnahmeaus-fälle von 16 Milliarden Euro bei der Einkommensteuer,sondern auch Einnahmeausfälle von 30 Milliarden Euro,falls Sie die Gewerbesteuer ersetzen wollen. Irgendwo-her muss das Geld ja kommen.
Es stehen bei der Kopfprämie bzw. dem Sozialausgleichin der Krankenversicherung noch einmal 30 MilliardenEuro zur Disposition. Durch die Schuldenbremse sindEinsparungen von 10 Milliarden Euro erforderlich.Wenn Sie darunter einen Strich machen, kommen Sie aufein Loch von über 80 Milliarden Euro.
Darüber sagen Sie nichts. Das ist genauso unseriös wiedas Vorgehen mancher Banker, die noch zwei Tage vorder Bankrotterklärung gesagt haben, sie hätten ihre Fi-nanzen im Griff. Sie müssten einmal sagen, wie Sie dasfinanzieren wollen.Wir haben inzwischen, in den paar Monaten, die Siean der Regierung sind, unsere Erfahrungen gemacht.Beim Thema Griechenland sagte die Kanzlerin erst, dasLand werde keine Hilfen brauchen. Inzwischen wird dieKreditvergabe vorbereitet. Bei der Bankenabgabe sagteder Finanzminister: Wir werden die Branche an denKosten der aktuellen Krise beteiligen. Heute will ernichts mehr davon wissen.
Vor der Wahl machte die Kanzlerin den Kommunen dieZusage, man werde nicht an die Gewerbesteuer herange-hen. Jetzt reden Sie über den Ersatz der Gewerbesteuerund wissen gar nicht, wie die Gegenfinanzierung ausse-hen soll. Genauso wird es auch bei der Steuersenkungs-politik sein:
Jetzt reden Sie sozial und tun so, als werde nicht weiteran die Einnahmen der Kommunen herangegangen. Nachder Wahl in Nordrhein-Westfalen werden Sie die Wahr-heit sagen, und das wird eine bittere Wahrheit sein.Wir fordern Sie deswegen heute auf: Sagen Sie denBürgerinnen und Bürgern klar, wo das Geld herkommensoll! Hören Sie auf, sozial und kommunenfreundlich zureden und nachher doch etwas anderes zu machen!
Diese Serie von falschen Aussagen darf nicht fortgesetztwerden. So sieht seriöse Finanzpolitik nicht aus.
Nächster Redner ist der Kollege Peter Aumer für dieCDU/CSU-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 36. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. April 2010 3411
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damenund Herren! Wir dürfen heute über die Haltung der Bun-desregierung zur Finanzierbarkeit der FDP-Steuerplänediskutieren. Es stellt sich die Frage, warum die SPD da-rüber diskutieren möchte.
Es wäre doch schön, wenn es zum Vergleich Steuerpläneder SPD gäbe. Ich habe nachgeschaut: Es gibt keine.
– Die Opposition soll Alternativen aufzeigen; aber dastut sie nicht. Das kann man, glaube ich, für die ganzelinke Hälfte des Hauses sagen.Wir brauchen tragfähige Konzepte, um unser Landaus dieser Krise zu führen. Wir Deutschen haben dieWirtschafts- und Finanzkrise bisher gut überstanden,dank eines Kraftakts aller, dank der Menschen, die mitTatkraft angepackt haben, unser Land aus dieser schwie-rigen Situation zu führen. Das SPD-Konzept, das helfenkönnte, sucht man jedoch vergeblich.Im März dieses Jahres nahm die SPD-Arbeitsgruppe„Steuern und Abgaben“ ihre Arbeit auf. Auftrag der Ar-beitsgruppe ist es, erst einmal Teile der Maßnahmen zu-rückzunehmen, die die SPD in Regierungsverantwor-tung ausgearbeitet und eingeführt hat.
– Ich spreche nicht für die Regierung, sondern für eineFraktion. Die Regierung ist nachher dran. – Meine sehrgeehrten Damen und Herren von der SPD, all das, wasfür die Zukunftsfähigkeit unseres Landes richtig undwichtig war, stellen Sie wieder infrage. Das kann dochnicht der richtige Weg sein.
Deutschland ist kein Land der Beliebigkeit,
das je nach Belieben der innerparteilichen Strömungender SPD einmal so und einmal anders regiert werdenkann.
Deutschland ist ein Land mit Zukunft, das genau deswe-gen eine verlässliche Politik braucht. Darum haben dieMenschen die christlich-liberale Koalition gewählt, eineKoalition, die ergebnisorientiert arbeitet, die das Wohldes Ganzen und die Nachhaltigkeit des politischen Han-delns im Blick hat.
Insofern ist es gut und wichtig, dass man Positionenüberarbeitet und Überlegungen auf den Prüfstand stellt.Das hat die FDP gemacht. Es ist sehr zu begrüßen, dassdie FDP Anpassungen an die aktuelle Situation vorge-nommen hat.
Um den bayerischen Ministerpräsidenten zu zitieren:Das, was die FDP jetzt vorlegt, geht in die richtigeRichtung.Bereits der Koalitionsvertrag der christlich-liberalenKoalition zeigt auf, dass diese Regierung für Wachstumund Aufschwung steht, dass aber eine nachhaltige undverfassungskonforme Haushaltspolitik im Vordergrundder Arbeit stehen muss. Mit dem Wachstumsbeschleuni-gungsgesetz, das Anfang des Jahres in Kraft getreten ist,wurde eine erste Weichenstellung vorgenommen. Fürweitere Schritte muss allerdings die SteuerschätzungAnfang Mai abgewartet werden.
Danach kann über konkrete und zielführende Maßnah-men entschieden und eine feste Positionierung vorge-nommen werden.
Nur mit den Zahlen der Steuerschätzung können realisti-sche Entscheidungen getroffen werden, die den Zielendes Koalitionsvertrages gerecht werden.Selbstverständlich darf nicht vergessen werden, dassdie Schuldenbremse zu wirken beginnt. Das ist wahr-scheinlich auch das, was Sie mit Ihrem Antrag beabsich-tigen.
Wir haben es gehört: Die Einnahmen und die Ausgabensind das Entscheidende. Man muss immer beide Seitenbetrachten. Ich glaube, das können Sie nicht. Man darfnicht nur auf Steuererhöhungen setzen, sondern manmuss auch Impulse für die wirtschaftliche Entwicklungunseres Landes geben.Es gab und wird eine steuerliche Entlastung geben,insbesondere für die unteren und mittleren Einkommens-bereiche sowie für Familien mit Kindern.
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Peter Aumer
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Ebenso wird es eine spürbare Vereinfachung des Steuer-rechts geben. Auch dafür wurden wir gewählt, und auchdafür steht die Koalition der CDU/CSU und der FDP.
Wir brauchen eine Finanzpolitik aus einem Guss,
die die Lage der Sozialversicherungen ebenso berück-sichtigt wie die Lage der Kommunen. Die Finanzpolitikder Bundesregierung hat dieses Ziel vor Augen, und diediese Regierung tragende christlich-liberale Koalitionebenso.
Meine sehr geehrten Damen und Herren von der Op-position, wir sollten nicht über Anträge in AktuellenStunden streiten,
sondern handeln, und zwar für unser Land.Danke für die Aufmerksamkeit.
Für die SPD-Fraktion hat nun das Wort die Kollegin
Petra Hinz.
Frau Präsidentin! Liebe Kollegen und Kolleginnen!Herr Aumer, um hier Zahlen auf den Tisch zu legen undkeine nebulösen Reden zu schwingen – das gilt auch fürHerrn Solms –: Verstehen Sie unter „sozial“, dass nachdem Modell der FDP Familien oder Alleinerziehendemit einem Jahreseinkommen von 12 000 Euro lediglich146 Euro Steuerersparnisse haben, im Gegensatz dazuaber Familien oder Alleinerziehende mit einem Jahres-einkommen von 54 000 Euro eine Entlastung von1 534 Euro zu verzeichnen haben? Ich muss feststellen:Das ist weder sozial noch gerecht. Im Gegenteil: Dasmacht deutlich, wohin die Regierung in dieser Legisla-turperiode will.
Sie macht Klientelpolitik. Diejenigen, denen es bessergeht, werden durch Steuervergünstigungen entlastet.
Bevor Sie sich jetzt aufregen, möchte ich Ihnen sagen,dass das nicht mein Rechenmodell ist, sondern dass esvom Bund der Steuerzahler im Handelsblatt veröffent-licht worden ist. Es wurde seriös anhand der Zahlen, dievon der FDP genannt wurden, nachgerechnet. Das wol-len Sie doch wohl nicht bestreiten.
Herr Dautzenberg, Sie haben im Parlament immerwiederholt, dass die Gewerbesteuer nicht abgeschafftwird. Nun erklären Sie in drei Sätzen, dass sie doch ab-geschafft werden soll.
– Natürlich soll sie abgeschafft werden. Das können Siein der Financial Times Deutschland nachlesen:Schäuble stellt Gewerbesteuer infrage. Dieschwarz-gelbe Koalition nimmt einen neuen An-lauf, die Gewerbesteuer abzuschaffen.Genau das ist Ihr Ziel.
Sie führen immer wieder – quasi als Kronzeuge – aus,wie sozial und gut das Wachstumsbeschleunigungsge-setz ist. Ich will anhand meiner Heimatstadt Essen inNordrhein-Westfalen einmal deutlich machen, zu wel-chen Steuermindereinnahmen das Wachstumsbeschleu-nigungsgesetz dort führt: Für das laufende Haushaltsjahrin Essen bedeutet das Steuermindereinnahmen von8,28 Millionen Euro, für das Jahr 2012 Steuerminderein-nahmen von 17,05 Millionen Euro. Sie wollen trotz die-ser Zahlen behaupten, dass Sie den Kommunen mit demWachstumsbeschleunigungsgesetz geholfen hätten?Meine Stadt wird in den nächsten Jahren nichts davonspüren. – Da die Kolleginnen und Kollegen auf der rech-ten Seite des Hauses den Kopf schütteln: Diese Zahlenhat der Stadtkämmerer, Herr Klieve von der CDU, aufden Tisch gelegt. Sie sind öffentlich nachzulesen. Das,was ich vortrage, hat Substanz und stimmt.
Die Kanzlerin ist auf dem Weg zum Wortbruch; daswurde bereits mehrfach angesprochen. Im letzten Maihat sie sich dafür ausgesprochen, dass es keine Abschaf-fung der Gewerbesteuer geben soll. Es wurden aberKommissionen mit dem Ziel eingesetzt, genau das zu er-reichen. Im März dieses Jahres, auf dem Landesparteitagder CDU in Münster, hat Frau Merkel – auf dem Weg zuWortbruch Nummer zwei, liebe Kolleginnen und Kolle-gen von der FDP – vollmundig angekündigt, dass es mitder CDU/CSU keine Steuersenkungen geben wird. „Wirdürfen die Kommunen nicht ausbluten“, war der Wort-laut der Kanzlerin. Bisher habe ich kein Dementi von ihrgehört, dass sie die Steuerkonzepte der FDP vom Tischfegt. Nein, ich habe dazu von ihr bisher noch gar nichtsgehört. Nur auf Parteitagen oder im Rahmen eines Städ-tetages spricht sie sich für die Kommunen aus.
Guido Westerwelle hat deutlich gemacht – ich mussschon sagen: So stellt sich Klein-Lieschen Finanz- undHaushaltspolitik vor –, dass die Kommunen über die
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Petra Hinz
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Mehrwertsteuer oder wie auch immer mal so eben ihrenHaushalt sanieren können. Nein, liebe Kolleginnen undKollegen, da kann ich nur sagen: Die Fachleute sprecheneine ganz andere Sprache. Sie erklären ganz klar: Händeweg von der Gewerbesteuer! Es gibt keine Alternativezur Gewerbesteuer.
– Wenn Sie den Fachleuten nicht glauben, dann lesen Siedoch in den Protokollen nach, als über die zurücklie-gende Unternehmensteuerreform beraten wurde. DieSachverständigen haben eindeutig gesagt, dass es derzeitkeine Alternative zu der Gewerbesteuer gibt. Ich gebeIhnen recht, dass die Gewerbesteuer angepasst werdenmuss. Ich gebe Ihnen auch recht, dass wir dafür sorgenmüssen, dass sie nicht mehr so konjunkturanfällig ist.
Aber die Umsatzsteuer ist doch genauso anfällig.
– Zu der Frage der Mehrwertsteuererhöhung kann ichnur sagen: Wer zahlt denn die Zeche in den Kommunen?Das sind doch immer die Bürger. Als Erstes müssen dieBürger die Steuermindereinnahmen kompensieren. Dernächste Punkt ist, dass die Gewerbesteuer, die von denGewerbetreibenden gezahlt wird, nun durch eine Ver-brauchsteuer ersetzt werden soll. Ich kann dazu nur sa-gen: Pfui! Das ist in keiner Weise bürgernah. Das ist inkeiner Weise sozial. Das ist nicht akzeptabel.
Herzlichen Glückwunsch, wenn Sie dies in dieser Formumsetzen. Ich kann nur sagen: Wir werden nicht müde,deutlich zu machen, dass Sie diejenigen sind, die Klien-telpolitik betreiben.Um zu meinem Anfang zurückzukommen: Rüttgers,CDU-Ministerpräsident von NRW,
sagt – jetzt spreche ich zu den Freunden der FDP –:Ich bin dagegen, wenn das auf Kosten der Kommu-nen geht.
Niedrige Steuern könne es nur geben, wenn man das be-zahlen könne. Dies sage er auch „an die Freunde von derFDP“ gerichtet.Herr Schäuble ist heute im Ausschuss auf Nachfragemeiner Kollegin –
Frau Kollegin, bitte kommen Sie zum Schluss.
– danke für den Hinweis – gar nicht auf den Wegfall
der Gewerbesteuer oder auf die sogenannten Steuerpläne
der FDP eingegangen. Er hat geschwiegen. Das Einzige,
das er gesagt hat, ist: Wir halten an der Entschuldung
fest. Wir müssen dafür sorgen, dass die Finanzen wieder
auf den Weg gebracht werden.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nehmen Sie Ihr
Steuerkonzept und werfen Sie es in die Rundablage. Es
ist weder sozial noch kommunenfreundlich.
Das Wort hat nun der Kollege Dr. Volker Wissing für
die FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Kollegin Kressl, liebe Kollegen der SPD, Sie habendiese Aktuelle Stunde beantragt, weil Sie den Wählerin-nen und Wählern in Nordrhein-Westfalen zeigen wollen,woran sie sind, wenn sie eine bestimmte Partei wählen.Darum geht es Ihnen.Jetzt wollen wir doch einmal etwas Ihre Finanzpolitikbeleuchten.
2005 sind Sie angetreten und haben den Menschen ge-sagt: Wählt uns, dann gibt es keine Mehrwertsteuererhö-hung. – Danach haben Sie die Menschen hereingelegtund die Mehrwertsteuer um 3 Prozentpunkte erhöht.
2009 sind Sie angetreten und haben den Menschen ge-sagt: Wählt uns, dann entlasten wir die unteren und mitt-leren Einkommensbezieher durch Abbau der kalten Pro-gression und durch Abbau des Mittelstandsbauchs. –Hinterher haben Sie den Menschen gesagt: Nein, dasgeht wegen der wirtschaftlichen Situation gar nicht.
Sie haben elf Jahre lang den Finanzminister gestellt undwollen den Menschen nach der Wahl ernsthaft erzählen,dass Sie die Haushaltssituation erst nach der Bundes-tagswahl zur Kenntnis genommen haben. Was Sie betrei-ben, ist permanenter Wählerbetrug.
Sie sind doch nicht ein einziges Mal bereit gewesen, IhrWahlprogramm umzusetzen.
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Dr. Volker Wissing
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Der Unterschied zwischen Ihnen und dieser Koalitionbesteht doch darin, dass Sie permanent Gründe suchen,weshalb Sie nach der Wahl die Steuern erhöhen müssen,wir aber Wege suchen, wie wir die Bürgerinnen und Bür-ger steuerlich entlasten können. Das ist der Unterschied.
Deswegen sind wir dankbar, dass Sie diese AktuelleStunde beantragt haben. Das gibt uns noch einmal dieMöglichkeit, den Menschen klar zu sagen: Das, was wirvor der Wahl angekündigt haben, nämlich dass wir dieBezieher von unteren und mittleren Einkommen entlas-ten wollen, setzen wir in dieser Legislaturperiode mitunserem Koalitionspartner um.
Das war der Grund, warum die Menschen gesagt ha-ben: Wir glauben den Versprechen der SPD nicht mehr. –Die SPD hatte elf Jahre lang die Verantwortung im Fi-nanzressort. Die Steuern wurden immer weiter erhöht,aber für die Menschen in diesem Land wurde nichts ge-tan. Auch mit dem Haushalt ging es immer weiterbergab. Da haben die Menschen gesagt: „Wir wolleneine andere Politik“, und haben die christlich-liberaleKoalition gewählt. Das ist, Frau Kollegin Höll, keine„Demokratiekrise“. Das ist ein Glück für unser Land.
Das ist ein Glück für unser Land, weil sich daraus neueChancen ergeben.
Frau Kressl, Sie stellen sich hier hin und sagen: DenKommunen geht es schlecht. – Wer hat denn elf Jahrelang die Verantwortung für dieses Steuersystem gehabt?Die SPD.
Die Kommunen leiden und zahlen jetzt die Zeche fürIhre verfehlte Politik. Das ist doch die Wahrheit.
Das werden wir nicht fortsetzen.
Dafür sind wir nicht gewählt worden.Herr Kollege Schick, Sie fragen, was die Auffassungder Bundesregierung ist. Heute Morgen war der Bundes-finanzminister im Finanzausschuss. Er hat es Ihnen klargesagt: Aufgabe dieser Bundesregierung ist, die Schul-denbremse einzuhalten und die Haushaltskonsolidierungin Angriff zu nehmen. Mit Ihrem Rezept hat das nichtgeklappt. Wir haben ein anderes. Wir wollen unser Steu-ersystem reformieren. Wir wollen mehr Wachstums-kräfte für dieses Land freisetzen.
Mit den Erträgen wollen wir Haushaltskonsolidierungbetreiben. Ihr Plan ist schiefgegangen. Wir haben einenneuen Auftrag. Den erfüllen wir gemeinsam mit unse-rem Koalitionspartner.
Es mag für Sie unerfreulich sein, dass diese Regierungjetzt das in Angriff nimmt, was Sie nicht geschafft ha-ben. Aber es ist notwendig; daran führt kein Weg vorbei.
Während Sie sich hier hinstellen und den Menschen,die uns an den Bildschirmen oder auch hier im Saal zu-sehen, erklären, man dürfe auf keinen Fall die Mitte ent-lasten, erklärt Ihr Herr Gabriel draußen – er ist ja inzwi-schen das Wetterfähnchen der Nation; er dreht es mal sound mal so –: Der Mittelstand muss entlastet werden. –Herr Gabriel, Sie können sich auf diese Koalition verlas-sen. Wir machen das. Sie haben es nicht hinbekommen,aber die christlich-liberale Koalition schafft das.
Das ist ein gutes Zeichen. Dadurch entstehen neueChancen. Dadurch schaffen wir auch die Haushaltskon-solidierung. Wenn es einfach wäre, dann hätten Sie IhrePolitik nach elf Jahren des Scheiterns fortsetzen können.Aber es ist eine große Aufgabe. Das ist eine Herkules-aufgabe. Selbstverständlich ist auch die Gegenfinanzie-rung eine große Herausforderung, der man sich stellenmuss und der wir uns auch stellen werden. Das hat derFinanzminister deutlich gemacht. Dabei hat er die Libe-ralen an seiner Seite.Ihre Aussagen sind doch total widersprüchlich. Ein-mal sagen Sie: Wir wissen ja gar nicht, was diese Regie-rung in der Steuer- und Finanzpolitik will. Auf der ande-ren Seite kritisieren Sie, dass wir als Teil dieserKoalition unsere Ziele ganz präzise auf den Tisch legen,unseren Weg ganz konkret aufzeigen. Der Unterschiedzwischen Ihnen und uns ist, dass wir uns präzise an dashalten, was wir vor der Wahl versprochen haben, wäh-rend Sie immer das Gegenteil getan haben.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 36. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. April 2010 3415
Dr. Volker Wissing
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Das sollte das Signal und die Botschaft sein, die von die-ser Aktuellen Stunde ausgehen. Dann hat sie sich ge-lohnt, und dann sind wir außerordentlich dankbar dafür,dass Sie sie beantragt haben.
Nächster Redner ist der Kollege Lothar Binding für
die SPD-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Die Frage nach der Finanzierbarkeit desFDP-Modells ist eine Frage, die in die Zukunft gerichtetist. Herr Wissing hat diese Frage mit einem Blick in dieVergangenheit beantwortet. Wie das zusammenpassensoll, ist mir unklar.
Das FDP-Modell für die Zukunft lässt sich natürlichnicht mit der Politik der SPD in der Vergangenheit erklä-ren. Außerdem ist es anders: Der Blick in die Vergan-genheit zeigt, dass die Große Koalition mit dem Bürger-entlastungsgesetz die Bürger, wie der Name es sehrschön beschreibt, sehr stark entlastet hat, sogar mit einerEinkommensteuersenkung. Wir haben über das Kon-junkturprogramm II die Bürger nochmals entlastet undsehr erfolgreich gegen die Krise gewirkt. Ich glaube,dass man daran erkennt, wie wir arbeiten.
Sie haben etwas von Wahlversprechen gesagt. Dazuwill ich sagen: Wir haben vor der Wahl etwas verspro-chen. Nach der Wahl haben wir einen Kompromiss be-schlossen. Ich glaube, dass Sie die Logik „Versprechenvor der Wahl – Kompromiss nach der Wahl“ möglicher-weise auch noch in Anspruch nehmen müssen.Sie sagenimmer: Wir halten uns präzise an unsere Versprechen. Esgab das Versprechen von 35 Milliarden Euro Entlastung,dann gab es das Versprechen von 24 Milliarden EuroEntlastung, jetzt gibt es das Versprechen von 16 Milliar-den Euro Entlastung. Es ist klar: Wenn man so viel ver-spricht, eines davon könnte man vielleicht halten.Aber es ist noch viel schlimmer. Die Idee, die dieseFDP-Modellierung des Steuersystems gegenwärtig ver-folgt, ist absolut unabwägbar. Es ist eine Blackbox imSteuersystem. Wir lesen: Es soll die betriebswirtschaft-lich sinnvollste Organisationsstruktur gewählt werdenkönnen, und da sollen gerade kleine und mittlere Unter-nehmen entlastet werden. Die Antwort auf kleine undmittlere Unternehmen ist das Wort „Gruppenbesteue-rung“. Jetzt frage ich mich: Können kleine und mittlereUnternehmen mit der Gruppenbesteuerung tatsächlichdie Lösung ihrer Probleme verfolgen? Die Antwort ist:Nein. Sie verweisen sogar auf Österreich und sagen, dieGruppenbesteuerung würde die Attraktivität des Hol-dingstandortes Deutschland verstärken. Die Antwort ist:Möglicherweise gibt es dann in Deutschland sehr vielmehr Holdings, die hier aber alle keine Steuern zahlenund somit den Staat exorbitant schwächen. Man brauchtsich nur die Bank Austria anzuschauen. Sie macht Mil-liardengewinne und zahlt null Steuern in Österreich.Deshalb überlegen die Österreicher gerade, dieses Mo-dell abzuschaffen.Das heißt, Sie wollen ein Instrument schaffen, durchdas die Gewinne so weit gesenkt werden können, dasswir über die Körperschaftsteuer, die Gewerbesteuer unddie Einkommensteuer gar nicht mehr zu diskutierenbrauchen. Denn wer keine Gewinne macht, braucht auchkeine Steuern zu zahlen. Das ist natürlich ein riesengro-ßes Problem. Das läuft in Ihrem Modell so nebenher alsAnsatz einer Unternehmensteuerreform, und keinermerkt so richtig, was passiert. Sie wollen die Erschwer-nisse, die in Deutschland existieren, um seine Steuern zusenken, komplett abschaffen.Ich möchte ein Beispiel nennen. Sie haben eine Ak-tiengesellschaft, die Gewinne macht, und eine Aktien-gesellschaft, die Verluste macht. Es wäre fair, zu sagen:Diese Verluste tragen wir für die eine Aktiengesellschaftvor. Wenn sie nächstes Jahr Gewinne macht, darf sie dasverrechnen. Das ist gut. Wir haben sogar eine Organ-schaft geschaffen. Da kann die eine Kapitalgesellschaftmit der anderen einen Organträger bilden und Verlusteund Gewinne verrechnen; das war gut. So können zumBeispiel die Stadtwerke die Verkehrsbetriebe querfinan-zieren.Es gab früher eine Mehrmütterorganschaft. Das be-deutete, dass sich zwei Aktiengesellschaften zu einer Or-ganschaft verbündet haben. Diese Organschaften habensich dann zu Mehrmütterorganschaften verbunden. Aufdiesem Weg konnte man sämtliche Gewinne und Ver-luste, die irgendwo anfielen, verrechnen. Das zerstörtedie Unternehmensteuerbasis in Deutschland. Diese Re-gelung war auf Deutschland bezogen. Wir haben dieMehrmütterorganschaft 2002 abgeschafft.Was machen Sie jetzt mit der Gruppenbesteuerung?Sie machen eine Art Mehrmütterorganschaft weltweit.Das heißt, dass die Unternehmen alle Verluste, die ir-gendwo existieren, nach Deutschland holen können, undalle Gewinne, die irgendwo existieren, in die Welt ex-portieren können. Das ist ein gigantisches Problem.
Sie stellen sich damit auf die Seite der Steueroasen.
Sie stellen sich auf die Seite der Schönwettermanager.Sie stellen sich auf die Seite einer aggressiven Staatsver-armung, und das bei 100 Milliarden Euro Neuverschul-dung in diesem Jahr.
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3416 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 36. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. April 2010
Lothar Binding
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Ich frage: Wie wollen Sie dieses Steuermodell, das abso-lut im Blindflug die Gruppenbesteuerung durch Ab-schaffung des Ergebnisabführungsvertrags befürwortet,vertreten?Sie schütteln jetzt den Kopf; es ist ein kompliziertesGebiet.
Sie wissen genau, dass es so ist. Sie haben auf Österreichverwiesen, und ich schaue – da sage ich nichts Falsches –nach Österreich
und sehe, wie es dort wirkt. Es wirkt verheerend. Das istein ganz großes Problem.Ich habe eine Frage, die das Verhältnis von Staat undPrivat betrifft: An welchen Abgrund will die FDP diesenStaat eigentlich noch führen?
Für die Bundesregierung spricht nun der Parlamenta-
rische Staatssekretär Hartmut Koschyk.
H
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die christlich-liberale Bundesregierung sieht es alsHauptziel ihrer finanzpolitischen Strategie an,
die Wirtschafts- und Finanzkrise durch wachstumsför-dernde Ausgestaltung öffentlicher Ausgaben und Ein-nahmen schneller zu überwinden und so für einen selbst-tragenden Aufschwung zu sorgen.
Dabei muss eine wachstumsorientierte Steuerpolitikeine entscheidende Rolle spielen.
Denn sie stärkt durch zielgerichtete steuerliche Entlas-tungen die produktiven Kräfte in unserer Gesellschaftund eröffnet zusätzliche finanzielle Spielräume, damitdie Selbstheilungskräfte der Wirtschaft auch greifenkönnen.
Deshalb setzt die Bundesregierung auf eine Doppelstra-tegie, die beides im Blick behält: die Stärkung derWachstumskräfte durch steuerliche Entlastung ebensowie eine klare regelgebundene Konsolidierungsstrategie,die das Vertrauen in eine langfristig tragfähige Haus-haltsentwicklung erhöht.Ich verstehe wirklich nicht – da kann ich Herrn Solmsnur recht geben –, dass sich die SPD von ihrer eigenenPolitik verabschiedet.
Sie haben unter Herrn Beck und dem damaligen Finanz-minister Steinbrück in der letzten Legislaturperiode einSPD-Steuerkonzept entwickelt,
in dem Sie das Problem der kalten Progression stark pro-blematisiert und eine Abflachung gefordert haben.
Sie haben gemeinsam mit uns in der Großen Koalitionim Rahmen des Konjunkturpaketes II den Einstieg beider kalten Progression vorgenommen
und dies den Wählerinnen und Wählern in Ihrem Wahl-programm versprochen.
Jetzt, wo Union und FDP dort, wo die Große Koalitionangefangen hat, weitermachen und diese Maßnahme indie Tat umsetzen wollen, soll die notwendige Entlastungunterer und mittlerer Einkommen aber auf einmal nichtmehr gelten und nicht mehr finanzierbar sein.
Ich sage Ihnen sehr deutlich: Immer dann, wenn dieUnion in diesem Land regiert hat, waren Steuerentlas-tung, wachstumsorientierte Steuerpolitik und Konsoli-dierung miteinander vereinbar.
Wir haben das von 1990 bis 1998 durch mutige Steuer-reformen von Gerhard Stoltenberg und Theo Waigelpraktiziert,
und wir hätten ohne das von uns allen gewünschte Ereig-nis der nationalen Wiedervereinigung im Jahre 1990 ei-nen ausgeglichenen Haushalt gehabt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 36. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. April 2010 3417
Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk
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Auch Sie sollten ein Stück weit stolz darauf sein, dasswir die wachstumsorientierte Politik der Großen Koali-tion ab 2005 auch für Fortschritte bei der Konsolidierunggenutzt haben. Ohne das Hereinbrechen der Finanz-marktkrise und ihre Auswirkungen auf die Realwirt-schaft wären wir in den Jahren 2011 und 2012 einemausgeglichenen Haushalt sehr nahe gekommen.
Das zeigt doch, dass wachstumsorientierte Steuerpolitikund Haushaltskonsolidierung in Einklang zu bringensind.Selbstverständlich – da gibt es überhaupt keinen Wi-derspruch – werden wir alle weiteren Steuererleichterun-gen und Steuervereinfachungen, die wir im Koalitions-vertrag vereinbart haben und umsetzen wollen, ganzgezielt auf ihre Auswirkungen im Hinblick auf die Fi-nanzsituation der Kommunen überprüfen und damit inEinklang bringen. Wir sind doch diejenigen, die jetzterstmals zielführend eine Gemeindefinanzreform ange-packt haben.
Sie haben immer nur davon geredet. Wir haben dieseKommission eingesetzt, und wir werden zeitnah Ergeb-nisse vorlegen.
Jetzt will ich Ihnen etwas zu der Geisterdebatte überAlternativmodelle zur Gewerbesteuer sagen, die Sie an-gestoßen haben. Wir haben im Rahmen dieser Gemein-definanzreform zugesichert, alle Vorschläge ohne Tabuszu prüfen und zu rechnen. Die kommunalen Spitzenver-bände haben zugesagt, ein Modell zur Revitalisierungder Gewerbesteuer vorzulegen; auch dieses Modell wirdgeprüft und gerechnet.Ich will Sie aber darauf hinweisen, dass ein anderesModell, das in dieser Kommission geprüft und gerechnetwird, nämlich der Ersatz der Gewerbesteuer durch einehöhere Beteiligung der Kommunen an der Umsatzsteuermit einem Hebesatzrecht bei der Einkommensteuer undder Körperschaftsteuer
– liebe Frau Kollegin Kressl, wenn Sie das Handelsblattvon gestern gelesen hätten, wüssten Sie das –, zurzeit inBaden-Württemberg mithilfe des Finanzministeriumsgerechnet wird.
Der Stadtkämmerer von Stuttgart hat laut Handels-blatt vom gestrigen Tage dargelegt, dass sich für eineStadt, für eine Metropole wie Stuttgart die Alternative„höherer Anteil an der Umsatzsteuer und Hebesatzrechtbei der Körperschaftsteuer und der Einkommensteuer“gerade in einer Krisensituation, in der die Konjunkturan-fälligkeit der Gewerbesteuer in jedem kommunalenHaushalt deutlich wird, rechnen würde.
Deshalb rate ich Ihnen: Rüsten Sie ideologisch ab!Sorgen Sie endlich einmal dafür, dass wir die Schaffungverlässlicher Kommunalfinanzen, aber auch die Entlas-tung der Kommunen bei den Ausgaben durch Absen-kung bundesgesetzlicher Standards in Angriff nehmen.
Das ist nämlich ebenfalls ein Hauptwunsch der Kommu-nen.Wir werden sehr gespannt verfolgen können, ob Sievon der SPD es auch mittragen werden, wenn wir dieAbsenkung von bundesgesetzlich vorgegebenen Stan-dards zur Entlastung der Kommunen bei den Ausgabenvornehmen werden, oder ob Sie dort immer nur denMund spitzen und auch nicht richtig pfeifen werden.
Jetzt will ich Ihnen noch etwas sagen, weil Sie schonwieder – verbunden mit einer namentlichen Abstim-mung am morgigen Tag – den Popanz der Abschaffungder Steuerfreiheit für Feiertags- und Nachtarbeitszu-schläge aufbauen.
Liebe Frau Kollegin Kressl, Sie müssten doch wissen,dass das diesbezügliche Gutachten unter sozialdemokra-tischer Leitung im Finanzministerium in Auftrag gege-ben worden ist.
Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Der Zufall hat es gefügt,dass das Gutachten zwar 2007 unter Herrn Steinbrück inAuftrag gegeben worden ist, dass das Ergebnis aber erstquasi mit Ende des Wahlkampfs nach der Bundestags-wahl bekannt geworden ist. Wir machen uns dieses Gut-achten, das Sie in Auftrag gegen haben, inhaltlich nichtzu eigen.
Bauen Sie deshalb hier keinen Popanz auf.Wir werden als christlich-liberale Koalition beweisen,dass unser Weg richtig ist, der ja Früchte trägt undDeutschland wieder in eine Wachstumsphase bringt. Fürdieses Jahr sind 1,4 Prozent und für das nächste Jahr1,6 Prozent Wirtschaftswachstum prognostiziert – wo-mit wir uns an der unteren Schwelle der Schätzungen be-wegen. Das zeigt, dass auch noch das, was wir gemein-sam in der Großen Koalition beschlossen haben, vorallem aber das, was wir jetzt als Push für die Wirtschaftin der Krise durch die christlich-liberale Koalition einge-bracht haben, seine Wirkung am Arbeitsmarkt entfaltet.
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3418 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 36. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. April 2010
Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk
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Niemand hat vorausgesehen, dass der deutsche Ar-beitsmarkt – auch durch die Maßnahmen, die diesechristlich-liberale Koalition seit Amtsantritt umgesetzthat – so schnell wieder in Schwung kommt und Fahrtaufnimmt.
Das ist doch Ihr Dilemma. Sie hätten es gern, dassdiese Regierung keinen Erfolg hat. Sie hätten es gern,dass unsere wachstumsgeleitete Politik – die Sie ja be-kämpft haben; ich erinnere mich an all das, was Sie imHerbst zum Wachstumsbeschleunigungsgesetz gesagthaben – keine entsprechenden Wirkungen hat. Jetzt trägtdiese Politik Früchte. Jetzt gibt es wieder Wachstum inDeutschland. Jetzt stabilisieren wir den Arbeitsmarkt.Dort werden wir weitermachen: durch Steuererleich-terung, durch Steuervereinfachung, durch verantwort-bare Konsolidierung. Wir werden zeigen, dass sich allesdas zum Wohle der Menschen in unserem Land verant-wortungsbewusst zur Deckung bringen lassen wird.Herzlichen Dank.
Nun hat der Kollege Klaus Brandner für die SPD-
Fraktion das Wort.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Staatssekretär Koschyk hat gerade viel er-zählt, aber inhaltlich gar nichts gesagt.
Am Ende kann man ganz deutlich feststellen: Die GroßeKoalition hat die Schulden abgebaut. Schwarz-Gelb hatden höchsten Schuldenstand zu verantworten, den wirjemals in der Bundesrepublik Deutschland hatten.
Das ist die Ausgangssituation, über die wir uns zu unter-halten haben.Herr Koschyk, Sie haben hier erklärt, die Wachstums-kräfte seien gestärkt. Sie brauchen sich doch nur einmaldie Prognosen anzuschauen, die die wirtschaftswissen-schaftlichen Institute für dieses Jahr, für nächstes Jahrund die Zeit danach vorlegen. Vor diesem Hintergrundist viel Pfeifen im Walde und bisher wenig Inhalt zu ver-zeichnen.Mittlerweile – das kann man deutlich sagen – ist der9. Mai immer stärker in das öffentliche Bewusstsein ge-rückt. In Nordrhein-Westfalen stehen Landtagswahlenan. Der Muttertag kann zu einem bedeutenden politi-schen Tag in Deutschland werden. Die Regierung isthektisch geworden. In dieser Woche werden drei Regie-rungserklärungen abgegeben. Ich kann mich nicht daranerinnern, dass es das jemals gegeben hat. Wäre es nachFrau von der Leyen gegangen, hätten wir diese Wochesogar noch eine vierte Regierungserklärung bekommen.
Es scheint vieles nachzuholen zu sein, was man bisherversäumt hat.Kollege Dautzenberg, ich glaube, Schwarz-Gelbmöchte noch einmal glänzen, insbesondere die FDP mitihren vergifteten Wohltaten, nämlich Steuersenkungen.Bisher ist es doch so, dass die FDP, wenn irgendein Pro-blem auftaucht, wie ein Mantra „Steuersenkungen“ for-dert.
Die FDP ist im Bundestagswahlkampf mit dem Verspre-chen angetreten, die Steuerzahler um 35 Milliarden Eurozu entlasten. Wir haben gerade gehört, wie die Entwick-lung war: Beim Koalitionsvertrag hat sich die FDP auf24 Milliarden Euro herunterhandeln lassen, und selbstdiese stehen unter Finanzierungsvorbehalt. Mittlerweileist nur noch von 16 Milliarden Euro die Rede. Und danntritt Herr Wissing hier auf und sagt, bei der FDP gilt:Was wir versprechen, das halten wir auch. – Nein, dieFDP hat bewiesen: Sie ist die Umfallerpartei Nummereins. Sie hat ihre Wahlversprechen nicht eingehalten, siehat die Wähler getäuscht. Die Umfrageergebnisse, diewir zurzeit verfolgen können, zeigen, dass die FDP dieQuittung dafür bekommen wird.
Die FDP sagt, dass sie ein Steuersystem will, das ein-fach und gerecht ist. Da haben Sie mit dem sogenanntenWachstumsbeschleunigungsgesetz und der ermäßigtenBesteuerung des Beherbergungsgewerbes nun wirklichIhr Meisterstück abgeliefert. Sie haben Komplizierungeneingeführt – von Steuervereinfachung kann keine Redesein.Aber zurück zu der Frage: Bei wem kommen dieWohltaten an, und wer sie soll bezahlen? 40 Prozent derBevölkerung haben nichts von einer Senkung der Ein-kommensteuer; denn das Einkommen dieser Leute ist soniedrig, dass sie überhaupt keine Steuern zahlen. Damüsste man den Hebel ansetzen: Man müsste zum Bei-spiel dafür sorgen, dass der Missbrauch bei der Leihar-beit eingeschränkt wird. Man müsste Mindestlöhne ein-führen, und man müsste verhindern, dass prekäreBeschäftigungsverhältnisse auch noch ausgebaut wer-den.Das RWI, ein unabhängiges Institut, hat gerade bestä-tigt, dass von den Steuersenkungen, die Sie planen,60 Prozent bei den wohlhabendsten Bevölkerungsgrup-pen ankommen. Diese profitieren, nicht die Bezieher un-terer und mittlerer Einkommen. Das RWI hat vorgerech-net, dass von den 16 Milliarden Euro 10 Milliarden Eurobei Haushalten mit einem zu versteuernden Einkommenvon über 55 000 Euro ankommen. Fast zwei Drittel dergesamten Steuerentlastung kommen also bei den Besser-verdienenden an, und das nennen Sie eine Steuerreform
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 36. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. April 2010 3419
Klaus Brandner
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für die unteren und mittleren Einkommen! Das ist unge-recht, meine Damen und Herren, und es kann keiner er-warten, dass wir so etwas mitmachen.
Was Kollege Solms, unterstützt von NRW-WahlkämpferPinkwart, vorgetragen hat, ist Täuschung. Bei den unte-ren und mittleren Einkommen kommt nämlich so gutwie gar nichts an. Wer bis 12 033 Euro verdient, würdenach den Steuerplänen der FDP im Jahr um gerade ein-mal 11 Euro entlastet, so das RWI.
Ich will deutlich sagen: Wer behauptet, KollegeDautzenberg, dass die Entlastung insbesondere bei denunteren und mittleren Einkommen ankommt, hat entwe-der keine Ahnung, oder er redet aus Koalitionstreue derFDP etwas nach.
– Schauen Sie sich das Gutachten des RWI an! Bei derFDP dementiert keiner, dass die Verteilungswirkung dervon Ihnen vorgestellten Steuerreform so ausfällt, wie iches gerade vorgetragen habe.Meine Damen und Herren, wir müssen uns fragen:Wie soll dieser Prozess weitergehen? Ich muss feststel-len: Trotz der Rekordverschuldung, die wir in Deutsch-land haben, beabsichtigen Sie, die Einkommensteuer umweitere 16 Milliarden Euro abzusenken. Bei den unterenEinkommen träte fast keine, bei den mittleren Einkom-men nur eine spärliche, bei den oberen Einkommen abereine erhebliche Entlastung ein. Auf das wirtschaftlicheWachstum wird das keine Wirkung haben.
Herr Kollege, denken Sie bitte an die Redezeit!
Die Öffentlichkeit hat einen Anspruch darauf, zu er-
fahren, wer die Zeche zahlen soll: Das ist der Stahlarbei-
ter, der Rettungssanitäter, die Krankenschwester, der
Busfahrer, all die, die in Wechselschicht, in Spätschicht
und an Feiertagen arbeiten und dafür Zulagen bekom-
men, die steuerbegünstigt sind.
Im Koalitionsvertrag mit Ihnen, Herr Dautzenberg, vor
fünf Jahren, haben wir geregelt, dass genau hier die Be-
steuerung nicht verändert wird.
Deshalb fragen wir zu Recht, wie Sie sich morgen in die-
ser Frage verhalten werden.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss!
Stehen Sie zu dem Wort von vor vier Jahren, oder ha-
ben Sie zwischenzeitlich – der FDP zuliebe – eine Kehrt-
wendung vorgenommen? Leistung soll sich lohnen,
sagen Sie. Tatsächlich wollen Sie die Werbungskosten-
pauschale verändern
und die Steuerfreiheit der genannten Zuschläge aufhe-
ben. Dadurch werden Sie für eine ungerechte Schieflage
sorgen. Das wird mit der SPD nicht zu machen sein.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Olav
Gutting das Wort.
Frau Präsidentin! Werte Kolleginnen und Kollegen!Wenn in diesem Land ein durchschnittlicher Arbeitneh-mer mit einem monatlichen Verdienst von 3 100 EuroBrutto von jedem zusätzlich verdienten Euro nur noch42 Prozent übrig hat, dann ist das, darüber sind wir unsin der Regierungskoalition einig, ungerecht und leis-tungsfeindlich.
Wir sind uns in der Koalition auch einig darüber, dasswir für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in die-sem Land mehr Netto vom Brutto wollen. Wir wollenden Mittelstandsbauch und die kalte Progression im Ein-kommensteuertarif abschaffen, weil die leistungsbereiteMitte dadurch übermäßig belastet wird. Wir haben indieser Koalition ebenfalls Einigkeit darüber, dass unsergesamtes Einkommensteuerrecht durch das Bemühenum Einzelfallgerechtigkeit und durch den Versuch bzw.Missbrauch, immer wieder Lenkungseffekte im Einkom-mensteuerrecht zu erfinden, über Jahrzehnte hinweg eineKomplexität entwickelt hat, die viele in diesem Land zuRecht als unerträglich empfinden.
Ein unverständliches Steuerrecht ist eben ein ungerech-tes Steuerrecht.Das Zusammenwirken eines komplizierten Steuersys-tems mit leistungsfeindlichen Besteuerungsmerkmalenist ein Grund dafür – ein Grund, nicht der einzige –, dassdie Schwarzarbeit in Deutschland ein Umsatzvolumenvon geschätzten 360 Milliarden Euro hat. Wenn es miteinem leistungsgerechteren und einfacheren Steuerrechtgelänge, nur 10 Prozent von dieser Schwarzarbeit wieder
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3420 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 36. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. April 2010
Olav Gutting
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in den legalen Bereich zurückzuführen, dann wären al-leine das schon Mehreinnahmen bei den Steuern und So-zialabgaben in Höhe von 16 Milliarden Euro.
Bei den im Raum stehenden Zahlen, die wir hier dis-kutieren, lohnt es sich auch immer wieder einmal, an den1. Januar dieses Jahres zu erinnern; denn wir haben dieBürgerinnen und Bürger in diesem Land bereits zum1. Januar dieses Jahres mit weit über 20 Milliarden Euroentlastet. Über 10 Milliarden Euro davon haben wir übri-gens mit Ihnen von der SPD beschlossen, und das trotzeiner schwierigen Finanzlage.Ich muss auch noch einmal darauf hinweisen, dass diechristlich-liberale Koalition ebenfalls mit Wirkung vom1. Januar dieses Jahres an fast 5 Milliarden Euro zusätz-lich für die Familien bereitgestellt hat:
mit der Erhöhung des Kindergeldes und der Erhöhungdes Kinderfreibetrages. Das bedeutet die im Wahlkampfversprochene Stärkung der Keimzelle unserer Gesell-schaft, das bedeutet die Stärkung der Leistungsträger un-serer Gesellschaft.
Wir stärken damit die Kaufkraft der Bürgerinnen undBürger in diesem Land. Im Übrigen: Dazu hat FrauKraft, die Vorsitzende der SPD in Nordrhein-Westfalen,wortwörtlich gesagt, das wäre eine unsägliche Steuer-senkungspolitik.
Wir sind uns in der Regierungskoalition jedenfalls da-rüber einig, dass wir in den nächsten Jahren eine großeKonsolidierungsaufgabe vor uns haben. Die Schulden-bremse, im Grundgesetz vereinbart, gibt uns vor, ab2016 quasi keine neuen Schulden mehr zu machen. Esist im Übrigen nicht nur der Schuldenbremse geschuldet,sondern es ist auch eine Selbstverständlichkeit und eineFrage der Generationengerechtigkeit und der Nachhal-tigkeit, dass wir in den nächsten Jahren einen ausgegli-chenen Haushalt schaffen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das kann aber dochkeine Rechtfertigung dafür sein, dass wir in den steuer-politischen Stillstand übergehen.
Die Konsolidierung der Haushalte ist ein Projekt fürmehr als eine Legislaturperiode. Niemand erwartet oderverlangt von uns, dass wir schon zu Weihnachten in die-sem Jahr einen ausgeglichenen Haushalt haben.Bewusst haben wir auch die Schuldenbremse so ver-einbart und im Grundgesetz angelegt, dass sich ihrevolle Bremswirkung über ein Jahrzehnt hinweg aufbaut.
Niemand in diesem Haus behauptet, man könnte bereitsin diesem Jahr die Steuern um weitere 16 MilliardenEuro senken und dies noch im selben Jahr durch höheresWachstum ausgleichen.Wir sind uns in der Regierungskoalition einig: DieAufgabe der Glättung des Einkommensteuertarifs, desAusstiegs aus der kalten Progression und der Vereinfa-chung des Einkommensteuerrechts ist lösbar, aber siebraucht Zeit. Steuerentlastungen gehören in ein haus-haltspolitisches Gesamtkonzept.
Ich darf abschließend festhalten: Wir sind uns einig,dass sich dieses Gesamtkonzept erst nach Vorlage derZahlen der nächsten Steuerschätzung fundiert entwi-ckeln lässt.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Klaus-Peter Flosbach für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Heute wird deutlich, was Müntefering immer gesagt hat:Opposition ist Mist. Ich kann verstehen, dass Sie mit ei-nem Koalitionsvertrag Schwierigkeiten haben,
an dem Sie erstmals nach elf Jahren nicht beteiligt wa-ren. Wir aber haben im Koalitionsvertrag gesagt, waswir tun, und jetzt tun wir, was wir gesagt haben.
Wir haben in diesem Jahr voraussichtlich Steuerein-nahmen in Höhe von 510 Milliarden Euro. Im Jahr 2012werden es voraussichtlich 552 Milliarden Euro und 2013575 Milliarden Euro sein. Das sind also 63 MilliardenEuro mehr als nach der alten Steuerschätzung vom Endedes letzten Jahres.Selbstverständlich prüfen wir jetzt erst einmal genau:Wo können wir das Steuersystem vereinfachen, undwann setzen wir die Entlastung in Höhe von 16 Milliar-den Euro um?. Wir sind schließlich in der größten Kriseseit 60 Jahren. Das hat auch die Opposition nie bestrit-ten. Deswegen und weil wir bis zum Jahr 2016 die ver-einbarte Schuldengrenze einhalten wollen, müssen wirZug um Zug vorgehen.Wir brauchen aber finanziellen Spielraum, der die Vo-raussetzung für Wachstum, Konsum und Investitionenist. Das ist die Voraussetzung für alles.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 36. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. April 2010 3421
Klaus-Peter Flosbach
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Über die SPD bin ich sehr stark verwundert. HerrBinding hat das Bürgerentlastungsgesetz angesprochen.In der Tat haben wir damit eine Entlastung in Höhe von14 Milliarden Euro auf den Weg gebracht.
In den Reden der SPD-Redner zu diesem Thema – wirhaben gerade Mitte des letzten Jahres darüber diskutiert –ist im Protokoll das Wort „konjunkturfördernd“ zu lesen.Das Vorhaben wurde als gezielt und angemessen be-zeichnet.Wir haben in unserer Koalition mit unserem erstenGesetz das Kindergeld erhöht und die Sanierung vonUnternehmen erleichtert, um Arbeitsplätze zu retten.Das ist offensichtlich nicht mehr angemessen. Das Ein-zige, das nicht angemessen ist, ist, dass Sie dagegenge-stimmt haben, und damit gegen die Sicherung von Ar-beitsplätzen und die Erhöhung des Kindergeldes.
Wir haben im Koalitionsvertrag deutlich formuliert,was wir wollen: Wir wollen die Entlastung der kleinenund mittleren Einkommen. Die Entlastung der Leis-tungsträger ist wichtig für die Zukunft unseres Steuer-systems.
Herr Poß hat eben deutlich gemacht, dass er gar nichtgenau weiß, wann die Entlastung erfolgt und wie ein-zelne Beispiele dazu aussehen. Er kennt also offensicht-lich die Beispiele nicht. Bei einem zu versteuernden Ein-kommen von 25 000 Euro erreicht eine Einzelperson beiden Sozialabgaben eine Abgabenquote von 50 Prozent.Das sind also 50 Cent pro Euro. Bei einem Gehaltszu-wachs von 100 Euro werden 50 Euro abgezogen. Bei ei-nem zu versteuernden Einkommen von 35 000 Euro sindes bereits 56 Prozent. Bitte sagen Sie das dem KollegenPoß, damit er als finanzpolitischer Sprecher Ihrer Frak-tion das auch weiß.
Wir wollen eine echte Entlastung. Das ist etwas ande-res, als Rot und Grün mit ihren Steuergesetzen 1998 aufden Weg gebracht haben.
– Sehr gut, dass Sie das ansprechen, Frau Hendricks. Siewaren damals Staatssekretärin, und Sie sind noch heutestolz darauf, dass Sie den Spitzensteuersatz von53 Prozent auf 42 Prozent gesenkt haben. Aber hat esdenn Steuerentlastungen gegeben? Mitnichten. Es hatkeine Steuerentlastung gegeben, weil gleichzeitig dieBemessungsgrundlage verbreitert wurde.
Der Mittelstand hat dies immer als Giftliste für ihn be-zeichnet. Das war etwas anderes als das, was wir ma-chen. Wir entlasten die Bürgerinnen und Bürger wirk-lich.
Das Stärkste ist das gewesen, was Sie, Herr Schick,angesprochen haben, als Sie sich als Anwalt der Kom-munen aufgespielt haben.
Das war wirklich ein starkes Stück. Die Kommunal-finanzen – das sage ich einmal als Kommunalpolitiker –sind eines der wichtigsten Themen, denen wir uns jetztstellen müssen. Dies tun wir in dieser Koalition auch.Wir haben jetzt eine Kommission eingesetzt, die nichtnur die Einnahmen, sondern auch die Ausgaben prüft.Wir alle haben es in den Kommunen erlebt, dass die Ge-werbesteuer als zentrale Einnahmeposition nicht dierichtige Steuer ist. Wir müssen an dieses Thema heran,damit die Kommunen stabile Einnahmen haben.
– Herr Scheelen, die Kommunalpolitiker der SPD undder Grünen müssten ja rote Ohren, rot-grüne Ohren,kriegen, wenn sie an die Themen denken, die Sie umge-setzt haben. Eines der ersten Themen war, als Sie vonRot-Grün an der Regierung waren, die Erhöhung der Ge-werbesteuer, die zum Schluss nahezu 30 Prozent betra-gen hat.
Das stärkste Stück aber war Ihr letzter rot-grüner Akt.Im Jahre 2005, kurz vor den Bundestagswahlen, wolltenSie den Kommunen den Beitrag zu den Kosten der Un-terkunft streichen. Ihr Minister hat damals den Vorschlaggemacht, den Satz für die Kommunen auf null zu sen-ken. Das war eine Enteignung der Kommunen; denn hierging es um Milliardenbeträge. Spielen Sie sich heutenicht als Vertreter der Kommunen auf!
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, wir arbeitenden Koalitionsvertrag Zug um Zug ab. Das Steuerrechtist undurchsichtig, unvernünftig und ungerecht. Wir ge-hen an diese unendliche Geschichte heran, wir vereinfa-chen und entlasten. Wir brauchen Stabilität; aber wirbrauchen auch Freiraum für Investitionen.Vielen Dank.
Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 2 auf:Fragestunde– Drucksachen 17/1388, 17/1402 –Zu Beginn der Fragestunde kommen wir gemäß Nr. 10Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde zunächst zuden dringlichen Fragen auf Drucksache 17/1402. Sie be-treffen den Geschäftsbereich des Bundesministeriumsder Finanzen.
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3422 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 36. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. April 2010
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
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Für die Beantwortung der Fragen steht Herr Parla-mentarischer Staatssekretär Steffen Kampeter zur Verfü-gung. Es geht bei diesen dringlichen Fragen um diePläne der Bundesregierung zur Ausgestaltung der Hilfenfür Griechenland und mögliche Konsequenzen für denBundeshaushalt.Ich rufe zunächst die dringliche Frage 1 des KollegenVolker Beck auf:Wie stellt sich die Bundesregierung zu den Äußerungenvom Bundesminister der Finanzen, Dr. Wolfgang Schäuble,im Spiegel vom 19. April 2010, einen im Rahmen des Ret-tungspakets für Griechenland zu gewährenden Milliardenkre-dit nicht im Bundeshaushalt über einen Nachtragshaushaltaufzuführen, und auf Grundlage welcher Bestimmungen imHaushaltsrecht sieht sie sich zu einer solchen Vorgehensweiseberechtigt?Herr Staatssekretär, bitte.S
Frau Präsidentin! Die Antwort auf Ihre Frage, lieber
Herr Kollege Beck, lautet wie folgt: In der Bundesrepu-
blik Deutschland ist vorgesehen, dass im Bedarfsfall die
Kreditanstalt für Wiederaufbau im Rahmen eines Zuwei-
sungsgeschäfts für den Bund tätig wird und Kredite für
Griechenland vergibt. Die Kreditanstalt für Wiederauf-
bau würde für ihre Beteiligung am Hilfsprogramm für
Griechenland eine Gewährleistung des Bundes benöti-
gen, soweit es zu einem solchen Programm kommt.
Die Übernahme von Gewährleistungen erfordert nach
Art. 115 Abs. 1 des Grundgesetzes eine der Höhe nach
bestimmbare oder bestimmte Ermächtigung durch ein
vom Deutschen Bundestag formell beschlossenes Ge-
setz. Nach Auffassung der Bundesregierung ist die
Schaffung eines expliziten eigenen Ermächtigungstatbe-
stands zur Absicherung von Krediten geboten. In der Re-
gel sind Gewährleistungsermächtigungen im Haushalts-
gesetz enthalten; das ist zutreffend. Dies ist aber nicht
zwingend, wie etwa ein Blick auf die vergleichbaren Er-
mächtigungen in § 6 des Finanzmarktstabilisierungs-
fondsgesetzes zeigt. Art. 115 Abs. 1 des Grundgesetzes
erfordert ein formelles Bundesgesetz, aber kein speziel-
les Haushaltsgesetz.
Ihre Nachfrage, bitte.
Die Frage wurde gestern formuliert und eingereicht.
Mittlerweile gibt es die widersprüchlichsten Agentur-
meldungen über die Haltung der Koalition zu dieser
Frage. Offensichtlich hat der Bundesfinanzminister ges-
tern bei der Union vorgesprochen und wollte ein Gesetz
an das Gesetz zur Abschaffung des Finanzplanungsrates,
das wir morgen im Plenum behandeln werden, ankop-
peln. Damit ist er abgeblitzt. Können Sie mir jetzt sagen,
in welcher Form und wann die Bundesregierung dem
Deutschen Bundestag die rechtlichen Grundlagen vorle-
gen wird, um die entsprechenden Gewährleistungen und
Kreditzusagen an Griechenland auf den Weg zu bringen?
S
Herr Kollege Beck, zuerst einmal will ich darauf hin-
weisen, dass der Bundesminister der Finanzen heute in
drei Parlamentsausschüssen Rede und Antwort zu den
Details der Überlegungen der Bundesregierung in der
Causa Griechenland gestanden hat. Er hat heute Vormit-
tag im Finanzausschuss begonnen, er war im Anschluss
daran im Haushaltsausschuss, und er dürfte in diesen
Minuten im Europaausschuss Stellung nehmen. Die Be-
ratungen haben sich unter anderem auf die von Ihnen er-
wähnten Pressemeldungen kapriziert.
Ich kann Ihnen bestätigen, dass wir im Bundesfinanz-
ministerium überlegt haben, ob es sinnvoll und richtig
ist, auch zur Wahrung von zeitlichen Abläufen, ein Ge-
setzgebungsverfahren, das sich im parlamentarischen
Bereich befindet und für das der Haushaltsausschuss, der
für die Griechenlandhilfe zuständig ist, die Federführung
hat, aufzuhalten und für den möglicherweise in den
nächsten Wochen eintretenden Fall einer griechischen
Hilfsanfrage und einer Freischaltung durch den Europäi-
schen Rat auf dieses Gesetzgebungsverfahren aufzuset-
zen. Ich kann Ihnen darüber hinaus bestätigen, dass wir
diese Überlegung nicht mehr weiterverfolgen, weil ins-
besondere im parlamentarischen Bereich gemeinsam mit
dem Bundesfinanzminister entschieden worden ist, dass
wir wegen der Grundsätzlichkeit des Anliegens nicht auf
ein bestehendes, im parlamentarischen Verfahren befind-
liches Gesetzgebungsverfahren aufsetzen, sondern ein
gesondertes, isoliertes Gesetzgebungsverfahren einleiten
werden, für das die Bundesregierung gegebenenfalls,
falls es erforderlich ist, den Koalitionsfraktionen per Be-
schluss im Bundeskabinett oder anders formalisiert ei-
nen Formulierungsvorschlag unterbreiten würde.
Herr Kollege Beck, haben Sie eine weitere Nach-
frage?
Ja. – Eigentlich habe ich die gleiche Frage noch ein-
mal, weil sie im Kern nicht beantwortet ist. Ich habe ge-
fragt: Wann wird die Bundesregierung in welcher Form
dem Deutschen Bundestag eine Initiative vorlegen oder
den Koalitionsfraktionen eine Formulierungshilfe an die
Hand geben, damit wir wissen, wann wir hier darüber
beraten müssen? Es mag sein, dass der Bundesfinanz-
minister das in den Ausschüssen gesagt hat. Wir haben
aber hier im Deutschen Bundestag die Möglichkeit, Sie
als Bundesregierung zu befragen. Sie müssen dann hier
nicht als Ministerium, sondern als Regierung antworten.
Gleichzeitig gilt, anders als in den Ausschüssen, im Ple-
num das Öffentlichkeitsprinzip. Deshalb wäre es schön,
wenn Sie uns vor der deutschen Öffentlichkeit diese
Frage beantworten könnten.
S
Herr Kollege Beck, es ist mir selbstverständlich eineFreude, diese Nachfrage zu beantworten.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 36. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. April 2010 3423
Parl. Staatssekretär Steffen Kampeter
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Der erste Teil bezog sich auf das Wann. Die Fragenach dem Wann kann ich Ihnen nicht beantworten, wennSie heute ein konkretes Datum erfragen. Ich kann Ihnenaber prinzipiell erläutern, welche Vorgehensweise zurAuslösung einer solchen gesetzlichen Initiative führenwürde. Wir als Bundesregierung gehen davon aus, dasswir keine gesetzgeberischen Aktivitäten unternehmensollten, bevor die Griechen nicht einen Antrag auf Hilfegestellt haben. Ein solcher Antrag liegt zum gegenwärti-gen Zeitpunkt nicht vor. Was zum gegenwärtigen Zeit-punkt verbindlich erklärt werden kann, ist, dass – nachFlugverzögerungen durch die Aschewolke – heute eineIWF-Mission in Griechenland eingetroffen ist. Nach Ab-schluss dieser Mission werden wir ein entsprechendesprozedurales Vorgehen erkennen können, beispielsweiseob Griechenland überhaupt einen Antrag stellt. Dazuwerden dann die zuständigen Stellen, beispielsweise dieEuropäische Kommission oder die Europäische Zentral-bank, optieren. Dann ist vorgesehen – das ist Bestandteilder technischen Einigung auf der Ebene der Finanz-minister der Euro-Zone –, dass ein Europäischer Ratüber die mögliche Gewährung von Hilfen für Griechen-land entscheidet. In diesem Kontext muss eine parla-mentarische Ermächtigungsgrundlage in dem von mirhier beschriebenen Rahmen geschaffen werden.Sie haben auch nach der Form gefragt. Es wird einisoliertes Gesetzgebungsverfahren sein, durch das derGrößenordnung nach bestimmbare oder bestimmte Ga-rantieoptionen beschrieben sind, die für eine mögliche,derzeit noch nicht beschlossene Griechenlandhilfe ge-währt werden könnten.
Herr Kollege Dr. Schick.
Herr Staatssekretär, ich habe zwei Teilfragen.
Meine erste Teilfrage bezieht sich auf das Verfahren.
Kann man, wenn man das von Ihnen avisierte Verfahren
wählt, sicherstellen, dass man ausreichend Zeit zur Bera-
tung hat, oder gibt es ein Kurzverfahren, in dem man
kaum die Zeit hat, sich die Details anzuschauen? Über
diese Details kann uns die Bundesregierung heute noch
nicht viel sagen. Deshalb würde manches dafürsprechen,
das parlamentarische Verfahren zwar vor einer konkre-
ten Anfrage, aber nachdem die Rahmenbedingungen in
der Europäischen Union verhandelt sind, durchzuführen.
Meine zweite Teilfrage bezieht sich auf einen inhalt-
lichen Punkt. Ist es ein zentrales Anliegen der Bundes-
regierung, bei den Verhandlungen zu den Griechenland-
hilfen sicherzustellen, dass ein staatlicher Kredit
Deutschlands an Griechenland vom Rang her vor einem
Kredit privater Gläubiger liegt, oder ist das nicht ein
zentrales Anliegen der Bundesregierung?
S
Ihre erste Frage bezieht sich auf die parlamentari-
schen Mitwirkungsrechte. Der Bundesfinanzminister hat
heute für die Bundesregierung vor den Ausschüssen
noch einmal deutlich gemacht, dass wir für den Fall ei-
nes griechischen Hilfebegehrens eine rasche parlamenta-
rische Beratung unter umfassender Gewährung von par-
lamentarischen Mitwirkungsrechten anstreben. „Rasch“
heißt in diesem Kontext, dass wir das nicht über Monate
beraten wollen. „Umfassende Gewährung von parlamen-
tarischen Mitwirkungsrechten“ heißt, dass wir Ihnen
selbstverständlich in jeder Form über den materiellen
Gehalt der bis dahin getroffenen Vereinbarungen gerne
Auskunft geben wollen. Wir als Bundesregierung lassen
aber keinen Zweifel daran, dass wir für den Fall eines
griechischen Hilfsbegehrens rasch zu Entscheidungen
im parlamentarischen Bereich kommen wollen. Wir ha-
ben die Leistungsfähigkeit des deutschen Parlamentaris-
mus auch im Zusammenhang mit dem gerade von mir
angesprochenen Finanzmarktstabilisierungsfondsgesetz
nachgewiesen.
Ihre zweite Frage bezog sich auf eine Festlegung der
Bundesregierung innerhalb von Rangfragen. Soweit mir
bekannt ist, hat der Bundesfinanzminister dazu im Fi-
nanzausschuss wie im Haushaltsausschuss festgestellt,
dazu gebe es noch keinerlei Festlegungen. Ich will Ihnen
versichern, dass wir im Rahmen eines möglichen ge-
poolten Kredits alles daransetzen werden, um sowohl die
Eigeninitiative und Eigenverantwortung Griechenlands
zu stärken als auch die Interessen der deutschen Steuer-
zahlerinnen und Steuerzahler umfassend zu wahren.
Herr Kollege Zöllmer.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Der Finanzaus-
schuss hatte heute ein Gespräch mit dem Bundesfinanz-
minister, auch zu diesem Thema. Der Minister hat deut-
lich gemacht, dass die Obergrenze für eine mögliche
Griechenlandhilfe im ersten Jahr bei insgesamt 30 Mil-
liarden Euro liegt, was Deutschland angeht, bei 8,4 Mil-
liarden Euro. Wir erleben also vielleicht, dass aus
Deutschland Geld nach Griechenland fließt, obwohl die
Bundeskanzlerin die ganze Zeit einen völlig anderen
Eindruck in der Öffentlichkeit erweckt hat.
Meine Frage teilt sich in zwei Punkte:
Wenn, was Deutschland angeht, die Obergrenze für
eine mögliche Griechenlandhilfe bei 8,4 Milliarden Euro
liegt, wie sieht es dann in einem Worst-Case-Szenario
für die folgenden Jahre aus? Welche Risiken kommen
auf den Haushalt der Bundesrepublik Deutschland zu?
Eine Ergänzungsfrage: Sehen Sie dieses Modell auch
als Muster für den Umgang mit den anderen Ländern an,
denen möglicherweise ähnliche Schwierigkeiten wie
Griechenland drohen?
S
Herr Kollege Zöllmer, mit Respekt: Durch einenGroßteil Ihrer Frage wird die Bundesregierung zu Spe-
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3424 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 36. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. April 2010
Parl. Staatssekretär Steffen Kampeter
(C)
(B)
kulationen aufgefordert. Die Bundesregierung ist durchdas Parlament beauftragt, bestimmte Handlungen durch-zuführen; sie ist nicht beauftragt, sich an Spekulationenzu beteiligen. Wenn Sie sozusagen eine nichtspekulativeNachfrage stellen, ist die Präsidentin sicherlich bereit,mir die Möglichkeit zu geben, dann auch präzise zu ant-worten. Aber so verlangen Sie von mir Spekulationenüber zukünftige Entwicklungen. Solche Spekulationenanzustellen, ist nicht Aufgabe der Bundesregierung.
– Dazu will ich dann Folgendes sagen: Was die zukünf-tige institutionelle Fortentwicklung der EuropäischenUnion, des Rechtsrahmens des Stabilitätspakts und deseuropäischen Währungsverbundes angeht, sind für dieBundesregierung durch den Bundesfinanzminister in ei-nem Namensbeitrag Vorschläge unterbreitet worden. De-ren Kern ist ein abgestufter Sanktionsmechanismus fürpotenzielle zukünftige Sünder unter dem Stichwort„Europäischer Währungsfonds“. Dies ist von manchenBeteiligten im ersten Schritt als eine Transferunion miss-verstanden worden. Im Kern geht es aber um einenSanktionsmechanismus, der Anreize zu wirtschaftlichvernünftigem Verhalten in der Budgetpolitik bieten soll,der aber darüber hinaus den Spekulanten das Signal ge-ben soll: Wir sind nicht einfach bereit, im Rahmen einerstaatlichen Garantie jede Form der Spekulation gegenein Land zu akzeptieren.Auf dem letzten europäischen Treffen ist eine Ar-beitsgruppe zur institutionellen Fortentwicklung dieseseuropäischen Rechtsrahmens eingesetzt worden. DieBundesregierung hat entschieden, dort nicht auf Be-amtenebene, sondern durch den Bundesfinanzminister inpersona vertreten zu sein. Wir wollen dadurch deutlichmachen, wie wichtig uns dieses Anliegen ist. In diesemKontext wollen wir die jetzt gefundenen Verfahren fürGriechenland als Einzelfallverfahren interpretieren. Per-spektivisch – perspektivisch! – strebt die Bundesregie-rung an, zu anderen Ergebnissen zu kommen.Zum ersten Teil Ihrer Spekulationen will ich ein paarHinweise geben. Wir gehen davon aus, dass sowohl diejetzt getroffenen Maßnahmen der griechischen Regie-rung wie auch das klare Signal innerhalb der Euro-Zonezu einer Stabilisierung der Märkte beitragen werden. Diegriechische Regierung hat ja Maßnahmen verkündet,die, übertragen auf die Bundesrepublik Deutschland, si-cherlich zu breiten gesellschaftlichen Diskussionen füh-ren würden. Die Glaubwürdigkeit dieser Maßnahmengilt es in den nächsten Wochen und Monaten von grie-chischer Seite zu unterstützen. Wir flankieren diesenProzess durch eine mögliche Entscheidung der europäi-schen Staats- und Regierungschefs. Von daher glaubeich, dass alle Spekulationen über größere Beträge, diederzeit hier angestellt werden, durch das Wirksamwer-den sowohl der griechischen wie auch der europäischenMaßnahmen gegenstandslos sind.
Wir kommen nun zur dringlichen Frage 2 der Kolle-
gin Priska Hinz:
Wie soll das vom Bundesminister der Finanzen,
Dr. Wolfgang Schäuble, im Spiegel vom 19. April 2010 ange-
kündigte Bundesgesetz, das die Kredite der Kreditanstalt für
Wiederaufbau Bankengruppe, KfW, und die dafür ausgespro-
chenen Garantien der Bundesregierung begleiten soll, ausge-
staltet werden, und warum werden die darin enthaltenen fi-
nanziellen Verpflichtungen für die Bundesregierung, die laut
Vereinbarungen der EU-Finanzminister vom 10./11. April
2010 nach dem jederzeit möglichen Antrag Griechenlands so-
fort fällig werden würden, nicht in den Bundeshaushalt in
Form eines Nachtragshaushalts einbezogen?
Gleichzeitig rufe ich die dringliche Frage 3 der Kolle-
gin Priska Hinz zum selben Themenkreis auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung das finanzielle Risiko,
das durch die im Zuge der Vereinbarungen der EU-Finanz-
minister vom 10./11. April 2010 nach einem entsprechenden
Antrag Griechenlands sofort fällig werdende Bundesgarantie
für Kredite der KfW für den Bundeshaushalt entstehen könnte
Maßnahmen plant die Bundesregierung auf diese Risiken zu
reagieren?
S
Sehr geehrte Frau Kollegin Hinz, Ihre Fragen möchteich wie folgt beantworten:Die Bundesregierung beabsichtigt, vor einer gesetz-geberischen Initiative erst die Fertigstellung des IWF-Programms abzuwarten und vor Aktivierung die not-wendige Bewertung der Finanzstabilität in der Euro-Zone und des Kapitalmarktzugangs Griechenlands durchdie EU-Kommission und die EZB einzubeziehen. BeiBedarf wird ein passender Ermächtigungstatbestand zurAbsicherung von Garantien der Kreditanstalt für Wie-deraufbau dem Deutschen Bundestag sehr kurzfristig inGesetzesform zur Entscheidung vorgelegt. Darüber hinauswird der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundesta-ges vor der tatsächlichen Übernahme der Gewährleis-tung entsprechend den üblichen Verfahren unterrichtet.In Deutschland ist vorgesehen, dass im Bedarfsfalldie Kreditanstalt für Wiederaufbau im Rahmen eines so-genannten Zuweisungsgeschäfts für den Bund tätig wirdund mögliche Kredite für Griechenland vergibt. DieKreditanstalt für Wiederaufbau würde für ihre Beteili-gung am Hilfsprogramm für Griechenland eine Gewähr-leistung des Bundes benötigen. Die Übernahme von Ge-währleistungen erfordert nach Art. 115 Abs. 1 unseresGrundgesetzes eine der Höhe nach bestimmte oder be-stimmbare Ermächtigung durch ein vom DeutschenBundestag formell beschlossenes Gesetz. Nach Auffas-sung der Bundesregierung ist vorliegend die Schaffungeines expliziten eigenen Ermächtigungstatbestands zurAbsicherung von Krediten geboten. In der Regel – dashatte ich schon vorhin ausgeführt – hat der Gesetzgeberdas bisher im Rahmen des Haushaltsgesetzes gemacht.Aber wie das Finanzmarktstabilisierungsfondsgesetzzeigt, reicht hierzu ein formelles Bundesgesetz aus.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 36. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. April 2010 3425
Parl. Staatssekretär Steffen Kampeter
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(B)
Die Bundesregierung schätzt das Ausfallrisiko einereventuellen Garantie für Darlehen der Kreditanstalt fürWiederaufbau als gering ein.
Frau Kollegin, haben Sie eine Nachfrage? – Bitte.
Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Herr Kollege Kampeter, ich möchte trotz Ihrer Ant-
wort gerne von Ihnen wissen, warum sich die Bundes-
regierung gegen ein Nachtragshaushaltsgesetz entschei-
den will. Ich habe Ihren Worten entnommen, dass das so
ist. Für den möglichen Fall, dass der Bund einspringen
muss – es geht ja um viel Geld –, gibt es einen Ermächti-
gungsrahmen im Bundeshaushaltsgesetz. Ich frage Sie
daher, warum die Bundesregierung meint, hierbei auf ei-
nen Nachtragshaushalt verzichten zu können.
Da Sie vorhin mitgeteilt haben, dass der Bundesge-
setzgeber nichtsdestotrotz umfänglich in ein solches Ge-
setzgebungsverfahren eingebunden wird, möchte ich Sie
ferner fragen: Können Sie mir mitteilen, ob die Bundes-
regierung plant, dieses Gesetz in einem Eilverfahren
oder im Rahmen des üblichen Gesetzgebungsverfahrens
durch den Bundestag zu bringen?
S
Frau Kollegin Hinz, wir glauben, dass der übliche Ge-
währleistungsrahmen im Haushaltsgesetz keine ein-
schlägige und verfassungsrechtlich abgesicherte Grund-
lage für den Sonderfall einer möglichen Hilfe innerhalb
der Euro-Zone ist. Deswegen werden wir zur Sicherstel-
lung der Transparenz des Entscheidungsprozesses mit
Blick auf ein gesondertes Gesetz die Abwägungsgründe
ausführlich darlegen und erläutern, warum wir glauben,
dass diese gesetzliche Ermächtigungsnorm sowohl in der
Sache zweckdienlich ist wie auch die parlamentarischen
Mitwirkungsrechte umfassend gewährleistet. Da wir uns
für diesen Weg entschieden haben, erschien uns die Ent-
scheidung für eine rechtliche Alternative – in welcher
Form auch immer – entbehrlich.
Frau Kollegin Hinz, Ihre zweite Frage nach einem
möglichen Eilverfahren könnte dahin gehend missge-
deutet werden, dass wir in irgendeiner Form die parla-
mentarischen Mitwirkungsrechte nicht umfassend ge-
währleisten wollen. Diesem Eindruck würde ich namens
der Bundesregierung entgegentreten wollen. Ich will al-
lerdings keinen Zweifel daran lassen, dass wir für den
Fall eines griechischen Hilfsantrags, den wir nicht an-
streben, eine rasche parlamentarische Beratung, gege-
benenfalls verbunden mit der Bitte um Fristverzicht,
anstreben. Uns schiene das im Hinblick auf die außen-
politische Wirksamkeit unseres Vorgehens geboten zu
sein.
Ein sogenanntes Eilverfahren sieht, glaube ich, die
Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages explizit
nicht vor.
Ihre weitere Nachfrage.
Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Danke, Herr Kampeter. – Sie haben mich schon sehr
gut verstanden. Das wollen wir doch einmal festhalten.
S
Frau Kollegin Hinz, bisher hatten wir keine Verstän-
digungsprobleme. Das bestätige ich nachdrücklich für
die Bundesregierung.
Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Danke schön. – Trotzdem meine Nachfrage: Da Sie
sich schon jetzt für einen bestimmten Weg entschieden
haben, da Sie wissen, dass die KfW das Programm ab-
wickeln soll, und da es gleichzeitig eine Verfassungs-
gerichtsentscheidung zum Lissabon-Vertrag gibt, in der
dem Bundestag umfängliche parlamentarische Bera-
tungsrechte zugesichert wurden, frage ich Sie, warum
Sie nicht bereits jetzt das Gesetzgebungsverfahren ein-
geleitet haben, damit der Bundestag nicht am Ende mit
verkürzten Fristen und unter Umgehung des Haushalts-
rechtes Entscheidungen treffen muss. Sie hätten ja be-
reits ab dem 14. März 2010, nachdem die Regierungs-
chefs entschieden hatten, mit der Erarbeitung eines
Nachtragshaushalts beginnen können und hätten uns
jetzt einen solchen Nachtragshaushalt vorlegen können,
der dann ordnungsgemäß hätte behandelt werden kön-
nen. Meine Frage lautet also: Wann beginnen Sie endlich
mit dem Gesetzgebungsverfahren, damit wir eine or-
dentliche parlamentarische Beratung zu einem Nach-
tragshaushaltsplan durchführen können?
S
Frau Kollegin Hinz, entgegen meiner vorhin geäußer-ten Vermutung, dass wir keinerlei Verständigungspro-bleme haben, scheint sich die Bewertung der Sachlagejetzt etwas anders darzustellen. Ich hoffte, Ihnen eigent-lich verständlich gemacht zu haben, warum wir nachAbwägung von durchaus möglichen und von Ihnen teil-weise beschriebenen rechtlichen Alternativen den vonmir dargelegten Weg eines isolierten, nach dem Grund-gesetz möglichen und die parlamentarischen Mitwir-kungsrechte umfassend sichernden Einzelgesetzesver-fahrens gewählt haben.Insgesamt war bei diesem Abwägungsprozess natür-lich auch wichtig, dass wir im Interesse der Steuerzahle-rinnen und Steuerzahler nicht frühzeitig ein Signal zurKonditionalität einer möglichen deutschen Beteiligungan freiwilligen bilateralen, gegebenenfalls europäischgepoolten Hilfen geben. Ein solches frühzeitiges Signalhätte von der griechischen Seite missverstanden werdenkönnen und hätte dazu führen können, dass sie in ihrenBemühungen um eine eigenverantwortliche Lösung dergriechischen Finanzprobleme ein Stück weit nachlässt.Infolge der zeitlichen Abläufe, infolgedessen, dass wir
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3426 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 36. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. April 2010
Parl. Staatssekretär Steffen Kampeter
(C)
(B)
nicht frühzeitig eine gesetzliche Grundlage geschaffenhaben, hat die griechische Regierung in Abstimmungmit der Europäischen Kommission, aber auch in Abstim-mung mit den Finanzministern innerhalb der Euro-Zoneund des Ecofin zusätzliche, die Glaubwürdigkeit dergriechischen Konsolidierungsanstrengungen untermau-ernde gesetzgeberische Maßnahmen ergriffen, sodassdiese von der Bundesregierung gewählte Strategie dieInteressen der deutschen Steuerzahlerinnen und Steuer-zahler nachdrücklich besser gewahrt hat als alle Alterna-tiven im Hinblick auf frühzeitige gesetzliche Ermächti-gungsgrundlagen.
Die dringliche Frage 3 wurde schon vorhin vom
Staatssekretär mitbeantwortet. Sie haben keine Zusatz-
frage dazu.
Nach den dringlichen Fragen rufe ich jetzt zum selben
Fragenkreis die Fragen 48 bis 50 aus dem Geschäftsbe-
reich des Bundesministeriums der Finanzen, Druck-
sache 17/1388, auf, da diese nach Nr. 10 Abs. 2 der
Richtlinien für die Fragestunde vorgezogen werden.
Ich rufe die Frage 48 des Kollegen Dr. Gerhard
Schick auf:
Gab es seit Anfang des Jahres 2010 ein Angebot einer
oder mehrerer privater Banken oder einer Gruppe von Gläubi-
gern griechischer Staatsanleihen an die Bundesregierung,
beim sogenannten Roll-over von fällig werdenden Griechen-
land-Anleihen zu helfen, und, falls ja, aus welchen Gründen
ist die Bundesregierung auf das Angebot nicht eingegangen?
Herr Staatssekretär, bitte.
S
Die Antwort auf die von Ihnen gestellte Frage lautet:
Die Bundesregierung hat zu keinem Zeitpunkt erwogen,
eine eventuelle Finanzhilfe für Griechenland durch pri-
vate Banken durchführen zu lassen.
Ihre Nachfrage.
Meine Frage ist damit nicht wirklich beantwortet, wie
Sie, Herr Kampeter, leicht selber feststellen können,
wenn Sie das überdenken. Ich hatte gefragt, ob sich je-
mand vonseiten privater Gläubiger an die Bundesregie-
rung gewandt hat. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie
diese Frage beantworten würden.
Sie können gerne auch die Frage beantworten, ob sich
die Bundesregierung in irgendeiner Form in Richtung
privater Gläubiger initiativ gezeigt hat. Es gibt nämlich
seit 2004 eine Vereinbarung in Bezug auf Schwellenlän-
der, in der sich die internationalen Großbanken bereit er-
klärt haben, in solchen Fällen eine Umschuldung vorzu-
nehmen. Eine Umschuldung unter Beteiligung privater
Gläubiger hätte vielleicht die Einbeziehung deutscher
Steuerzahler überflüssig oder zumindest weniger wahr-
scheinlich gemacht.
S
Herr Kollege Dr. Schick, zunächst einmal will ich
deutlich machen, dass kein Geld des Steuerzahlers nach
Griechenland fließt. Der Kredit der Kreditanstalt für
Wiederaufbau an Griechenland wird in dem von uns ge-
wählten Verfahren lediglich mit einer Garantie des deut-
schen Steuerzahlers abgesichert.
Ich habe ergänzend erklärt, dass wir das Ausfallrisiko
für gering halten. Der tatsächliche Geldfluss wird von
den Kapitalmärkten, nicht vom Steuerzahler organisiert.
Die Refinanzierung des Kredites erfolgt über die Kapi-
talmärkte, die derzeit – an manchen Stellen vielleicht so-
gar überfließend – über Liquidität verfügen.
Es liegt der Bundesregierung daran, klarzustellen,
dass wir keine Steuergelder nach Griechenland verschie-
ben, sondern lediglich mit der staatlichen Garantie einen
Bonitätsvorteil schaffen, den die Kreditanstalt für Wie-
deraufbau im Fall einer möglichen Krise in Griechen-
land zum Zweck der Stabilisierung nutzt. Ich glaube, das
ist in diesem Kontext das Mittel der Wahl; so sollte sich
die Bundesregierung nach dem gegenwärtigen Stand der
Dinge engagieren.
Die Frage, ob darüber hinaus in dem von Ihnen be-
schriebenen Maße über ergänzende Maßnahmen, etwa
über den Forderungsverzicht privater Gläubiger, zu ent-
scheiden ist, wird nach meiner Einschätzung und nach
Kenntnis der Bundesregierung Gegenstand des Pro-
gramms sein, das der IWF in den nächsten ein bis zwei
Wochen vorlegen wird.
Herr Kollege Dr. Schick, haben Sie eine weitere Zu-
satzfrage? – Bitte.
Ich kann jetzt also festhalten, dass Sie nicht ausge-
schlossen haben, dass es ein solches Ansinnen von pri-
vater Seite gegenüber der Bundesregierung gab.
S
Herr Kollege Schick, ich kann viele Dinge im Leben
nicht ausschließen. Aber ich empfehle Ihnen, hier nicht
die falschen Schlussfolgerungen aus den Einlassungen
der Bundesregierung zu ziehen.
Die Fragen 49 und 50 des Kollegen Manuel Sarrazinzu diesem Themenkreis werden schriftlich beantwortet.Herr Staatssekretär, ich danke Ihnen für die Beant-wortung der dringlichen Fragen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 36. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. April 2010 3427
Vizepräsidentin Gerda Hasselfeldt
(C)
(B)
Nachdem alle dringlichen Fragen und alle anderenFragen zu diesem Themenkreis aufgerufen und beant-wortet wurden, kommen wir nun zu den übrigen Fragen aufder Drucksache 17/1388 in der üblichen Reihenfolge.Wir kommen zunächst zum Geschäftsbereich desBundesministeriums für Bildung und Forschung. Hiersteht für die Beantwortung der Fragen Herr Parlamenta-rischer Staatssekretär Dr. Helge Braun zur Verfügung.Die Fragen 1 und 2 des Kollegen René Röspel werdenschriftlich beantwortet.Ich rufe die Frage 3 der Kollegin Daniela Kolbe auf:Wie bewertet die Bundesregierung die verfassungsrechtli-che Umsetzbarkeit der vorgesehenen Bildungsschecks für lo-kale Bildungsbündnisse, in denen unter anderem SchulträgerMittel direkt an allgemeinbildende Schulen weitergeben kön-nen sollen?Herr Staatssekretär, bitte.D
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Liebe Frau Kollegin
Kolbe, ich möchte Ihre Fragen 3 und 4 im Zusammen-
hang beantworten.
Frau Kolbe, sind Sie damit einverstanden? – Das
scheint der Fall zu sein. Dann rufe ich die Frage 4 der
Kollegin Kolbe auf:
Wie will die Bundesregierung sicherstellen, dass die För-
dermittel für lokale Bildungsbündnisse für die Bekämpfung
der Bildungsarmut genutzt werden, das heißt, diese sowohl
bei den Bedürftigen zielgerichtet ankommen als auch für sinn-
volle Bildungsangebote genutzt werden?
Herr Staatssekretär, bitte.
D
Frau Kollegin, die lokalen Bildungsbündnisse sind im
Koalitionsvertrag von CDU/CSU und FDP verankert.
Dort ist bereits vorgesehen, dass unter Einbeziehung al-
ler relevanten Akteure – Fördervereine, Kinder- und Ju-
gendhilfe, Eltern, Schulen, Träger der Arbeitsförderung
sowie Gruppen der Zivilgesellschaft – eine gezielte, in-
dividuelle Förderung von Kindern im Grundschulalter,
die von Bildungsarmut bedroht sind, ermöglicht werden
soll, um ihnen zusätzliche Bildungschancen zu eröffnen.
Diese Bundesregierung ist 175 Tage im Amt und hat
somit gerade einmal ein Achtel ihrer Amtszeit hinter
sich. Insofern kann ich Ihnen die Details des Programms
leider noch nicht vorstellen, weil wir uns momentan in
der Erarbeitungsphase befinden.
Ihre Nachfrage bitte.
Ich gehe davon aus, dass das auch schon die Antwort
auf die Frage 4 war. Ist das richtig? – Dann komme ich
zu meinen Nachfragen.
Frau Ministerin Schavan hat bereits einige Details ge-
nannt. Wenn ich es richtig verstanden habe, dann ist vor-
gesehen, dass Grundschulen eine Einmalzahlung von bis
zu 40 000 Euro erhalten können, um im Rahmen der lo-
kalen Bildungsbündnisse nachhaltig gegen Bildungsar-
mut agieren zu können. Auch wenn Ihre Regierung noch
nicht lange im Amt ist, bitte ich Sie darum, mir eine Vor-
stellung davon zu geben, welche Art von Aktionsplänen
oder Aktivitäten mit einer Einmalzahlung von
40 000 Euro finanziert werden könnten.
D
Sehr geehrte Frau Kollegin, die lokalen Bündnisse für
Bildung sollen keine Eintagsfliege sein, sondern ent-
springen der Tatsache – das hat die PISA-Studie gezeigt –,
dass ungefähr 20 Prozent der 15-jährigen Schüler in
Deutschland droht, keinen Ausbildungsplatz zu erhalten,
weil sie ausbildungsunfähig bzw. nicht arbeitsmarktfä-
hig sind. Deshalb ist es eine Daueraufgabe, dass wir uns
an dieser Stelle bemühen, zu verhindern, dass junge
Menschen keine Chance erhalten. Wir wollen diesen Ju-
gendlichen mit gezielten und sehr individuellen Maß-
nahmen helfen.
Es ist klar, dass es ein breites Spektrum unterschiedli-
cher Maßnahmen geben muss. Es ist weder Wunsch
noch Wille noch Aufgabe der Bundesregierung, die Art
und Weise der Unterstützung vorzugeben. Die lokalen
Bildungsbündnisse sind – wie der Name schon sagt –
eng mit dem lokalen Gedanken verbunden. Wir wollen
es in die Hände der Akteure vor Ort geben, gezielte
Maßnahmen gegen die bestehenden Probleme zu ergrei-
fen, weil wir es in den Bildungsbiografien mit den unter-
schiedlichsten Defiziten zu tun haben.
Gibt es eine weitere Zusatzfrage? – Bitte schön.
Ich stimme Ihnen zu: Es gibt viele junge Leute mit
Bildungsdefiziten, die mit 15 Jahren ohne Schulab-
schluss dastehen. Ich stimme Ihnen auch zu, dass man
schon in der Kita, der Grundschule und den weiterbil-
denden Schulen gezielt fördern muss. Wie verhält sich
die Bundesregierung zu der Aussage, dass es vielleicht
sinnvoller wäre, die bestehenden Maßnahmen, die in öf-
fentlichen Kitas und Schulen – Stichwort „Ganztags-
schulprogramm“ – durchgeführt werden, stärker zu fi-
nanzieren? Ist es nicht sinnvoll, dort, wo mit Kindern ab
drei Jahren oder noch jüngeren Kindern nachhaltig gear-
beitet wird, zielgerichtet zu investieren, um allen Kin-
dern gute Lebenschancen zu ermöglichen?
D
Sehr geehrte Frau Kollegin, klar ist: Die Bundesregie-rung hat – darauf spielen Sie in Ihrer Frage an – verfas-sungsrechtlich gesehen keine Kompetenz im Bereich deroriginären Schulbildung. Darüber hinaus glauben wiraber, dass es nicht zwingend ist, den Schulen die indivi-duelle Förderung alleine aufzubürden. Die Schule hat in
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3428 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 36. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. April 2010
Parl. Staatssekretär Dr. Helge Braun
(C)
(B)
den vergangenen Jahren und Jahrzehnten im Zuge dergesellschaftlichen Veränderungen immer mehr Aufga-ben übernommen und sich neuen Herausforderungenstellen müssen. Deshalb ist es der Kerngedanke der loka-len Bündnisse für Bildung, den Schulen noch mehr Ver-antwortung und die Beantwortung der sich neu stellen-den Fragen nicht alleine aufzubürden. Vielmehr wollenwir Mittel für ergänzende Maßnahmen zur Verfügungstellen, die zusätzliche Hilfen für die betroffene Klientelermöglichen.
Die nächste Zusatzfrage stellt der Kollege Röspel.
Vielen Dank. – Als Mitglied eines Fördervereins einer
Grundschule möchte ich fragen, ob die Bundesregierung
tatsächlich beabsichtigt, erstens einer solch ehrenamtli-
chen Struktur die Verantwortung für Finanzmittel in
Höhe von bis zu 40 000 Euro und zweitens den Schulen
für die Identifizierung möglicherweise benachteiligter
Schüler die entsprechenden Kompetenzen zu geben. Wie
soll die fachliche Begleitung aussehen?
D
Sehr geehrter Herr Kollege Röspel, die Einbeziehung
der Fördervereine ist ein Weg, um sehr nah an die Schu-
len heranzukommen und eine sehr enge und vertrauens-
volle Kooperationsstruktur zwischen Schulen und Zivil-
gesellschaft zu nutzen. Deshalb ist das eine der
Möglichkeiten, die die Bundesregierung derzeit intensiv
prüft. Klar ist, dass die Schulfördervereine diese Auf-
gabe nicht alleine schultern können. Deshalb ist im Ko-
alitionsvertrag deutlich gemacht worden, dass die För-
dervereine ein, wenn auch wesentlicher Partner sein
sollen. Insgesamt ist es aber eine zivilgesellschaftliche
Aufgabe, bei deren Erfüllung die verschiedenen Träger
– zum Beispiel die Kommunen, die Bildungsträger und
die verschiedenen karitativen Organisationen, die in die-
sem Bereich Kompetenzen haben – mithelfen. Von einer
alleinigen Übertragung der Aufgaben, einer Kontroll-
funktion oder einer Auswahlfunktion der Fördervereine
kann hier keine Rede sein.
Herr Kollege Schulz stellt die nächste Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, Sie haben gerade auf Nachfrage
gesagt, dass Sie den lokalen Bildungsbündnissen keine
Vorgaben machen möchten, wie mit den Mitteln konkret
verfahren werden soll und wie die Schülerinnen und
Schüler gefördert werden sollen. Meine Nachfrage lau-
tet: Steht es den Verantwortlichen vor Ort vollkommen
frei, was mit dem Geld gemacht wird – sei es die An-
schaffung von Sportgeräten, sei es die Finanzierung von
Auslandsreisen –, oder wird es doch einen bestimmten
Rahmen geben, und, wenn ja, wie sähe er aus?
D
Lieber Herr Kollege Schulz, wie ich eingangs gesagt
habe, befindet sich die Bundesregierung derzeit in der
Konzeptionsphase. Insofern kann ich Ihnen zu solchen
Details noch keine konkreten Auskünfte geben. Klar ist,
dass immer, wenn die Bundesregierung Geld ausgibt,
dies nicht in völlig freihändiger Art und Weise passiert.
Einen gewissen Rahmen muss es immer geben. Sehr
wohl wird man dem Thema der lokalen Bildungsbünd-
nisse nur dann gerecht, wenn man individuelle Lösungen
für individuelle Bildungsprobleme zulässt. In diesem
Spannungsfeld wird sich die Erarbeitung dieses Kon-
zepts bewegen. Wir sind ganz zuversichtlich, dass wir
Ihnen in Kürze kluge Lösungen vorlegen können.
Kollege Rossmann.
Herr Staatssekretär, stellt die Bundesregierung in-
frage, dass es verfassungsrechtlich zulässig ist, dass der
Bund Schulsozialarbeit an Ganztagsschulen fördert?
Wie bewerten Sie die Aussage des FDP-Schulministers
Klug aus Schleswig-Holstein, der sagt, ihm wäre viel lie-
ber, der Bund würde Schulsozialarbeit und nicht die lo-
kalen Bündnisse fördern? Dies ist in einer Ausgabe der
Schleswig-Holsteinischen Zeitung der letzten Tage nach-
zulesen.
D
Lieber Herr Kollege Rossmann, die lokalen Bildungs-
bündnisse sind dezidiert etwas anderes als Schulsozialar-
beit; denn sie sollen für Bildung im engeren Sinne sor-
gen. Sie sollen helfen, zum Teil leider brüchige
Bildungsbiografien gradlinig zu gestalten. Unsere Mi-
nisterin sagt immer: Wir wollen niemanden zurücklas-
sen. Auch wer bildungsbenachteiligt ist, soll alle Chan-
cen haben. – Die lokalen Bildungsbündnisse sollen sich
insbesondere an die Grundschulen richten, damit jegli-
che Defizite und Brüche, die in einer Bildungsbiografie
auftreten können, schon sehr früh vermieden werden.
Auf diese Weise sollen junge Menschen alle Chancen im
Leben haben. Die Sozialarbeit ist ein weiterer Ansatz.
Sie ist aber kein Bildungs- und Fürsorgeansatz im enge-
ren Sinne. Deshalb bitte ich darum, Fragen der Sozial-
politik und Bildungspolitik in ihrer Notwendigkeit ne-
beneinander zu akzeptieren und nicht gegeneinander
auszuspielen. Zu dem von Ihnen angesprochenen Zitat
kann ich nichts sagen, da es mir nicht bekannt ist.
Frau Kollegin Burchardt.
Herr Kollege Braun, wir haben zur Kenntnis genom-men, dass Sie sich noch in der konzeptionellen Phase be-finden und von daher natürlich keine Detailfragen beant-worten können. Aber auch in der konzeptionellen Phasekönnen Sie sicherlich Auskunft darüber geben, ob auch
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 36. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. April 2010 3429
Ulla Burchardt
(C)
(B)
die vielen gut funktionierenden lokalen Bildungsbünd-nisse – beispielsweise in Dortmund und in Bochum –,die aus gut interagierenden Netzwerken von Akteurenbestehen, im Fokus Ihres Förderkonzepts stehen, oderrichtet sich Ihre Förderung ausschließlich an diejenigen,die bislang nicht oder nur sehr rudimentär in diesem Be-reich tätig gewesen sind? Wie wollen Sie in dem Fall,dass auch die gut funktionierenden lokalen Netzwerke indie Förderung einbezogen werden, gewährleisten, dassdie Vorgaben des Ministeriums, die nicht so detailliertsind – in Dortmund hat man entsprechende Erfahrungenmit dem Konzept zur Berufseinstiegsbegleitung gemacht –,völlig an den Bedarfen vor Ort vorbeigehen?D
Liebe Frau Kollegin Burchardt, in der Konzeptions-
phase, die wir gerade anstreben, ist es in der Tat von Vor-
teil, dass es in vielen Regionen in Deutschland schon
profilierte Programme und Projekte für diese Zielgruppe
gibt. Die Notwendigkeit der lokalen Bildungsbündnisse
ergibt sich daraus, dass es sich um punktuelle Pilotpro-
jekte handelt und noch nicht davon die Rede sein kann,
dass wir der Zielgruppe in Deutschland flächendeckend
Hilfe zur Verfügung stellen. Insofern ist es uns sehr
wichtig, dass wir aus den vorhandenen Projekten lernen
und die positiven Erfahrungen als Best-Practice-Bei-
spiele in die Konzeption einbeziehen. Ganz klar ist, dass
es auf gar keinen Fall Absicht der Bundesregierung ist,
bestehende erfolgreiche Strukturen durch eine neue
Struktur zu beeinträchtigen. Aufgabe ist es vielmehr, die
Erfolge, die vor Ort mit positiven Einzelmaßnahmen er-
zielt werden, mit einem solchen Programm in die Fläche
zu tragen.
Ich rufe jetzt die Frage 5 des Kollegen Gerdes auf:
Mit welchen Maßnahmen will die Bundesregierung beim
angekündigten sogenannten Bildungssparen sicherstellen,
dass die tatsächlich bedürftigen Familien auch in den Genuss
der staatlichen Prämien gelangen, und wann kann mit Eck-
punkten hierzu gerechnet werden?
Zur Beantwortung steht der Parlamentarische Staats-
sekretär Thomas Rachel zur Verfügung.
D
Nein, auch diese Fragen beantworte ich.
Schau an! Ich nehme einmal an, dass es dem Kollegen
fast egal ist, wenn die Frage nur vernünftig beantwortet
wird.
– Das halten wir im Protokoll fest, Frau Burchardt.
Bitte schön, Herr Kollege Braun.
D
Vielen Dank, Herr Präsident. – Ein konkretes Kon-
zept zur Einführung des Bildungssparens hat die Bun-
desregierung noch nicht entwickelt. Fragen zu Einzel-
heiten sowie zu den Eckpunkten können wir Ihnen
deshalb zum jetzigen Zeitpunkt leider noch nicht beant-
worten.
Bitte schön, eine Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, dann werden Sie sicherlich auch
meine Anschlussfrage nicht beantworten können. Ich
hätte gerne gefragt, mit welchen Maßnahmen die Bun-
desregierung in der Zwischenzeit ein angemessenes För-
derangebot sicherstellen will, da die Nutzbarkeit der
Spareinlagen für Bildungszwecke erst in 10 oder 20 Jah-
ren greifen wird.
D
Lieber Herr Kollege, es ist ganz klar, dass es sich
hierbei um ein zusätzliches Angebot handeln soll. Das
Bildungssparen hat die Aufgabe, Menschen in ihrer Sub-
sidiarität und bei ihrer Eigenvorsorge zu unterstützen.
Ganz klar ist, dass Sparen grundsätzlich eine Aufgabe
ist, für die mindestens ein Zeitraum von 16 bis 18 Jahren
erforderlich ist, damit eine entsprechende Summe, die
zur Unterstützung des Aufbaus einer Bildungsbiografie
wirklich geeignet ist, angespart werden kann. Was die
Bundesregierung jetzt bedauerlicherweise nicht tun
kann, ist, ein Konzept zu entwickeln, das 18 Jahre rück-
wirkend greift. Wir müssen also proaktiv für die Zukunft
arbeiten. Das soll ein zusätzliches Angebot im Sinne der
Fortentwicklung unserer Bildungsrepublik sein. Insofern
werden wir uns bemühen, zeitnah ein solches Konzept
vorzulegen. Da das Bildungssparen ein zusätzliches,
neues Angebot darstellt und nicht Teil der elementaren
Fürsorge ist, ist eine Zwischenfinanzierungsmaßnahme
aus unserer Sicht nicht erforderlich.
Weitere Zusatzfrage? – Nein.
Dann kommt der Kollege Schulz dran. Wir gehen in
der Reihenfolge der hier erfassten Wortmeldungen vor.
Herr Staatssekretär, bei den Bildungsbündnissen ha-ben Sie zuerst von einer Konzeptionsphase und dann voneiner angestrebten Konzeptionsphase gesprochen. ZumBildungssparen haben Sie sich noch keine Gedanken ge-macht. Ich möchte zum Bildungssparen ebenso wie zuden Bildungsbündnissen fragen: Wann gedenken Siedenn, die Konzeptionsphase abzuschließen und demDeutschen Bundestag Eckpunkte vorzulegen?
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3430 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 36. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. April 2010
(C)
(B)
D
Sehr geehrter Herr Kollege Schulz, die Bundesregie-
rung freut sich sehr, dass Sie die Koalitionsvereinbarung
von CDU/CSU und FDP intensiv lesen und es kaum er-
warten können, dass wir alles, was darin steht, umsetzen.
Das Problem ist, dass unser Ministerium und die Bun-
desregierung insgesamt mit Kapazitäten ausgestattet
sind, die es nur ermöglichen, eine Konzeption nach der
anderen auf den Weg zu bringen. Heute hat die Bundes-
regierung im Kabinett einen Entwurf vorgelegt, in dem
eine Erhöhung der BAföG-Mittel und eine Entbürokrati-
sierung des BAföG vorgesehen sind. Heute hat die Bun-
desregierung auch ein nationales Stipendienprogramm
auf den Weg gebracht.
Ich denke, wir sind an der Stelle sehr erfolgreich. Wir
arbeiten ein Projekt nach dem anderen ab. Wir legen der
Opposition keine konkreten Zeitpläne vor; denn wie Sie
wissen, sind manche Projekte in der Abstimmung
schnell umzusetzen, während es bei anderen Projekten
länger dauert. Alle Projekte im Koalitionsvertrag sind so
wichtig und so gut, dass wir sie am liebsten schon ges-
tern umgesetzt hätten. Im Rahmen der Arbeitskapazitä-
ten arbeiten wir so schnell, wie wir können.
Frau Kollegin Schieder.
Herr Staatssekretär, wir machen in jeder Sitzung des
Bildungsausschusses dieselbe Erfahrung wie jetzt. Sie
reden von „zeitnah“, aber keiner weiß, was damit ge-
meint ist. Es kann sein, dass Ihre Kapazitäten beschränkt
sind. Aber angesichts dessen, was Sie vorwärtsbringen,
sieht es so aus, als hätten Sie gar keine Kapazitäten. Ich
frage konkret: Was heißt „zeitnah“? Was können wir uns
darunter vorstellen?
D
Zeitnah heißt „sobald wie möglich“. Ein Datum kann
ich Ihnen heute noch nicht nennen.
Diese Definition wird vermutlich Eingang in die Le-
xika finden.
Ich rufe jetzt die Frage 6 des Kollegen Gerdes auf:
Wie bewertet die Bundesregierung Vorschläge zur Konfe-
renz der Regierungschefs von Bund und Ländern am 10. Juni
2010, die Fortsetzung des Ganztagsschulprogramms sowie ei-
nen Ausbau der Schulsozialarbeit zu vereinbaren?
Herr Kolleg Schulz, hier können Sie einen neuen An-
lauf zu einer Zusatzfrage unternehmen.
Bitte, Herr Staatssekretär.
D
Sehr geehrter Herr Kollege Gerdes, ich beantworte
Ihre Frage wie folgt: Das Investitionsprogramm „Zu-
kunft Bildung und Betreuung“, IZBB, bekannt als Ganz-
tagsschulprogramm, zum Aus- und Aufbau von Ganz-
tagsschulen wurde mit einer Laufzeit von 2003 bis 2007
vereinbart. Dabei bestand die Möglichkeit, die Mittel bis
Ende 2008 zu verausgaben. Auf Wunsch aller Länder
wurde der Verausgabezeitraum bis Ende 2009 verlän-
gert. Insgesamt wurden damit deutschlandweit 4 Milliar-
den Euro verausgabt und 7 200 Schulen gefördert.
Eine Neuauflage dieses Bundesprogramms ist nach
der Föderalismusreform I mangels Zuständigkeit nicht
mehr möglich. In enger Abstimmung mit den Ländern
führt der Bund die Förderung des Begleitprogramms
„Ideen für mehr! Ganztägig Lernen“ der Deutschen Kin-
der- und Jugendstiftung, DKJS, um weitere fünf Jahre
von 2010 bis 2014 fort. Darüber hinaus fördert das
BMBF mit Unterstützung der Länder Begleitforschung,
in deren Mittelpunkt die empirische Längsschnittunter-
suchung „Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen“
steht. Diese Förderung wird ebenfalls fortgeführt.
Gemäß dem Auftrag der Bundeskanzlerin und der Re-
gierungschefs der Länder vom 16. Dezember 2009 erar-
beiten derzeit die zuständigen Fachminister von Bund
und Ländern unter Einbeziehung der Finanzseite kon-
krete Vorschläge für die Maßnahmen zur finanziellen
Absicherung des 10-Prozent-Ziels. Nach den Vorstellun-
gen der Länder gehören unter anderem der Ausbau des
Ganztagsangebots an Schulen und die Schulsozialarbeit
an Ganztagsschulen im Rahmen der Kinder- und Ju-
gendhilfe zum Bündel der Maßnahmen, die sie in eige-
ner Zuständigkeit umsetzen wollen.
Am 10. Juni 2010 wird die Bundeskanzlerin mit den
Regierungschefs der Länder über sämtliche der vorlie-
genden Vorschläge ergebnisoffen beraten. Deshalb kann
dem hier nicht vorgegriffen werden.
Keine weitere Zusatzfrage? – Kollege Rossmann hat
um das Wort gebeten.
Herr Staatssekretär, das, was die Regierung jetzt wei-
terführt, ist im Vergleich zu den 4 Milliarden Euro, die
unter Gerhard Schröder und Edelgard Bulmahn in die
deutsche Schullandschaft investiert worden sind, wenig.
Deshalb frage ich Sie als Vertreter der Bundesregierung:
Geben Sie sich mit dem bisher erreichten Stand beim
Ausbauprogramm für Ganztagsschulen zufrieden? Wel-
che besonderen Anstrengungen wollen Sie unternehmen,
um das Ausbauprogramm und die Förderung der Quali-
tät von Ganztagsschulen deutlich zu verstärken, oder
will die Bundesregierung kein besonderes bundespoliti-
sche Interesse und Engagement bei dieser Frage zeigen?
D
Lieber Herr Kollege Rossmann, von den verausgab-ten 4 Milliarden Euro haben 7 200 Schulen profitiert.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 36. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. April 2010 3431
Parl. Staatssekretär Dr. Helge Braun
(C)
(B)
Mit dem Ganztagsschulprogramm wurde in die Bau-substanz der Schulen investiert, und dies wirkt fort. Dassdarüber auf der Konferenz am 10. Juni dieses Jahres dis-kutiert wird, macht deutlich, dass dieses Thema durch-aus wichtig ist. Die Ganztagsschulen in Deutschlandmüssen weiter ausgebaut werden. Die Frage, wer sichdabei in welchem Rahmen engagiert, ist Gegenstand die-ses Gipfels, dessen Ergebnissen ich nicht vorgreifenmöchte.
Wie ich sehe, hat Kollege Schulz meine Anregung
aufgegriffen, sich zu dieser Frage zu Wort zu melden. –
Bitte schön.
Dabei hätte ich zu dem anderen Thema vorhin auch
noch Fragen gehabt.
Ich glaube es Ihnen aufs Wort.
Herr Staatssekretär, Sie sagten, Sie wollten den Er-
gebnissen der Konferenz der Regierungschefs der Län-
der am 10. Juni nicht vorgreifen. Gehe ich denn recht in
der Annahme, dass die Bundesregierung anstrebt, mit
den Ländern konkrete Bund-Länder-Programme für eine
bessere Bildung zu vereinbaren und durchzuführen, an-
statt einfach nur der Forderung der Länder nach höheren
Umsatzsteueranteilen nachzukommen?
D
Lieber Herr Kollege, die Bundesregierung wird auf
dieser Konferenz selbstverständlich eigene Vorschläge
zur Verbesserung des Bildungssystems in Deutschland
zur Beratung vorlegen.
Die Fachminister befinden sich darüber gerade in der
Abstimmung.
Ich rufe nun die Frage 7 der Kollegin Burchardt auf:
Auf welche Weise bzw. aus welchem Titel in welcher
Höhe will die Bundesregierung ihre Finanzzusagen von der
Gemeinsamen Wissenschaftskonferenz vom 22. März 2010
einlösen, in den Jahren 2011 bis 2013 den Mehrbedarf für zu-
sätzliche Studienanfänger aus dem Hochschulpakt I zu de-
cken?
Nun erhebt sich tatsächlich der Kollege Rachel, der
diese Frage vermutlich für die Bundesregierung beant-
wortet. – Bitte schön.
T
Herr Präsident! Sehr geehrte Frau Kollegin
Burchardt, laut den uns vorliegenden Zahlen sind im
Vergleich zum Jahr 2005 in den Jahren 2007 bis 2009
bereits rund 102 000 zusätzliche Studienanfänger zu ver-
zeichnen. Damit ist die angepeilte Zielmarke für diesen
Zeitraum bereits um 37 600 übertroffen. Ich denke, man
darf sagen: Dieser Zuwachs ist ein großer Erfolg des
Hochschulpaktes; darüber freuen wir uns sehr.
Bund und Länder haben sich in der Vereinbarung über
die zweite Programmphase verpflichtet, auch die Zahl
der zusätzlichen Studienanfänger, die die für die erste
Programmphase ursprünglich angenommene Gesamt-
zahl von damals 91 370 überschreitet, in die Abrechnung
einzubeziehen. Über die Ausgestaltung wird in weiteren
Erörterungen zwischen Bund und Ländern sowie in den
Verhandlungen zur Aufstellung des Bundeshaushaltes
2011 zu befinden sein.
Bitte schön.
Herr Kollege, wir freuen uns natürlich alle gemein-
sam – ich denke: fraktionsübergreifend – über diesen
wirklich großen Erfolg des Hochschulpaktes, der durch
das Engagement der SPD-Bundestagsfraktion im Rah-
men der Föderalismusreform I ermöglicht wurde. Da-
mals haben wir durch die Änderung des Art. 91 b des
Grundgesetzes dafür gesorgt, dass sich der Bund erst-
mals an der Finanzierung der Lehre beteiligen kann. In-
sofern begrüßen wir, dass die Große Koalition die Akti-
vitäten der rot-grünen Koalition fortgesetzt hat und auch
diese Bundesregierung dies tun will.
Angesichts des Umstandes, den Sie gerade beschrieben
haben, dass der Mehrbedarf aus dem Hochschulpakt I ver-
mutlich durch Mittel aus dem Hochschulpakt II zu de-
cken sein wird, frage ich Sie, ob die Mittel aus dem
Hochschulpakt I auf die mit den Ländern verabredeten
Mittel aus dem Hochschulpakt II angerechnet werden.
Sehen Sie sich in der Lage, heute die Zusage zu geben,
dass die auf Basis der bisherigen Finanzierungsplanung
zugesicherte Anzahl neu einzurichtender Studienplätze
aus dem Hochschulpakt II eingehalten wird?
T
Frau Kollegin Burchardt, in meiner Antwort habe ichgerade schon deutlich gemacht, dass wir zwischen Bundund Ländern bereits Gespräche über die Aufwüchse füh-ren, die noch über die Zielmarke hinausgegangen sind,und dass es das Ziel ist, in den Verhandlungen zur Auf-stellung des Bundeshaushalts 2011 hier eine entspre-chende Umsetzung sicherzustellen.Die Mittel für den Hochschulpakt werden im Haus-halt in Kap. 3003 Tit. 685 05, Hochschulpakt 2020, ver-anschlagt.
Metadaten/Kopzeile:
3432 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 36. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. April 2010
Parl. Staatssekretär Thomas Rachel
(C)
(B)
Wir gehen davon aus, dass wir das Gesamtziel beimHochschulpakt II mit der Zahlenvorgabe von 275 000neuen Studienplätzen in der nächsten Phase umsetzen.Wir werden uns in einer kollegialen Art darum bemühen,mit den Ländern hier zu einer entsprechenden Verständi-gung zu kommen; denn wir sind durchaus der Auffas-sung, dass der gerade von Frau Bundesbildungsministe-rin Professor Schavan stark geprägte Hochschulpakt I imSinne eines gemeinsamen nationalen Zusammenwirkenszwischen Bund und Ländern in Deutschland insgesamtein großer Erfolg ist.
Wir gehen offensichtlich gemeinsam davon aus, dass
noch ein Mehrbedarf für den Hochschulpakt II gegeben
sein wird.
Wie bewertet die Bundesregierung vor diesem Hinter-
grund die Ankündigung der hessischen Landesregie-
rung, die von dieser Landesregierung den eigenen Hoch-
schulen zugesagten Mittel für den zusätzlichen Ausbau
der Studienplätze entgegen den Versprechungen um
30 Millionen Euro kürzen zu wollen?
T
Die von Ihnen angesprochene Äußerung aus Hessen
ist mir nicht bekannt. Deswegen kann ich sie auch nicht
kommentieren.
Was die Frage eines Mehrbedarfs betrifft, ist Folgen-
des festzustellen: Wir werden dies zeitig Stück für Stück
betrachten. Insofern nehmen wir jetzt auch keine Pro-
gnosen für die Jahre 2016/2017 vor. Vielmehr haben wir
einen Zeitplan, der sich auf den Hochschulpakt I bezieht.
Diesen haben wir mit bereits umgesetzten neuen Stu-
dienplätzen erfreulicherweise übererfüllt. Für die sich
daran anschließenden Jahre haben wir einen Zeitplan
und einen Mengenbedarf, der auf der KMK-Prognose
basiert. Das ist die Grundlage. Alles andere wird sich in
den nächsten Jahren zeigen.
Ich rufe die Frage 8, ebenfalls von der Kollegin
Burchardt, auf:
Welchen Beitrag soll nach Auffassung der Bundesregie-
rung das nationale Stipendienprogramm zur Überwindung der
sozialen Benachteiligung von Studierenden aus bildungsfer-
nen Familien leisten?
D
Liebe Frau Kollegin Burchardt, die Stipendien des na-
tionalen Stipendienprogramms sollen dezentral und
gleichmäßig über alle Hochschulen vergeben werden. In
der Endausbaustufe sollen 8 Prozent der Studierenden
jeder Hochschule ein Stipendium erhalten, also auch der
Fachhochschulen, die bei den Begabtenförderungswer-
ken bisher ja unterrepräsentiert sind und deren Studie-
rende überproportional häufig einen nichtakademischen
familiären Hintergrund haben.
Bei der Auswahl der Stipendiatinnen und Stipendia-
ten sollen neben den bisher erbrachten Leistungen und
dem persönlichen Werdegang auch das gesellschaftliche
Engagement, die Bereitschaft, Verantwortung zu über-
nehmen, oder besondere soziale, familiäre oder persönli-
che Umstände berücksichtigt werden können, die sich
beispielsweise aus der familiären Herkunft oder einem
Migrationshintergrund ergeben. Dies ist in § 3 des von
der Bundesregierung vorgelegten Gesetzentwurfs ent-
halten.
Da die Stipendien des nationalen Stipendienpro-
gramms nicht auf das BAföG angerechnet werden, kön-
nen begabte Studierende aus einkommensschwachen Fa-
milien das Stipendium zusätzlich zu einer bestehenden
BAföG-Unterstützung erhalten. Insofern ist es mithilfe
des Stipendienprogramms möglich, dass zusätzlich zu
einer Vollförderung mit BAföG von 670 Euro für be-
nachteiligte Studierende bei entsprechender Stipendien-
vergabe noch eine Förderung von 300 Euro erfolgt. Da-
mit ergeben sich 970 Euro, ein in der Tat sehr hoher
Förderbetrag, wie es ihn bisher in der Bundesrepublik
noch nicht gegeben hat.
Ist der Bundesregierung, speziell dem BMBF, die ei-
gene Widersprüchlichkeit bekannt, die in der aktuellen
Debatte an zwei Punkten deutlich wird? Erstens sagen
Sie, die Stipendien sollten unter verschiedenen Kriterien
gleichmäßig verteilt werden. Die Ministerin hat heute im
Rahmen der Befragung der Bundesregierung erklärt,
dass die Bundesregierung darauf überhaupt keinen Ein-
fluss hat, weil die Hochschulen selbst die Stipendien an-
werben. Insofern scheint dort ein gewisser Widerspruch
zu bestehen.
Zweitens – darum ging es in meiner ursprünglichen
Frage, und ich sehe diesen Punkt noch nicht beantwortet –:
Die Ministerin und auch Sie haben gesagt, dass das Sti-
pendienprogramm zum Abbau von Bildungsbarrieren
beitragen soll. Wir wissen – wir haben uns im Ausschuss
intensiv mit den entsprechenden Studien befasst –, dass
diejenigen, die zwar eine Hochschulzugangsberech-
tigung erworben haben, sich aber dagegen entschieden
haben, ein Studium aufzunehmen, als größte Hürde fi-
nanzielle Gründe, die Angst vor einer übergroßen Ver-
schuldung angegeben haben. Wie kann diesen jungen
Menschen durch das nationale Stipendienprogramm ge-
holfen werden, bei dem die Beantragung eines Stipendi-
ums erst dann möglich ist, wenn man bereits im ersten
Semester eingeschrieben ist?
D
Liebe Frau Kollegin Burchardt, das nationale Stipen-dienprogramm bietet an dieser Stelle ganz hervorra-gende Möglichkeiten. Die Aussicht darauf, im Rahmendes Studiums zusätzlich ein Stipendium erwerben zukönnen, mindert die Ängste, ein Studium aufzunehmenoder sich zum Studium in eine Stadt zu begeben, in derdie Lebenshaltungskosten höher sind. Mit Blick auf diefinanziellen Sorgen von BAföG-Beziehern oder Nicht-BAföG-Beziehern kann man doch auf jeden Fall sagen:
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 36. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. April 2010 3433
Parl. Staatssekretär Dr. Helge Braun
(C)
(B)
Stipendien sind eine Chance, zusätzliche Unterstützungzu bekommen. Stipendien erlauben es, davon abzusehen,parallel zum Studium einer Berufstätigkeit nachzugehen,und die Energie voll auf das Studium zu verwenden.Diese Stipendien haben zusätzlich den Effekt, dass wirprivates Kapital in die Bildungsfinanzierung einbezie-hen.Bei der Förderung von Studierenden, die aus sozialbenachteiligten Schichten kommen, sind wir schon aus-gesprochen erfolgreich: Während die Anzahl der Studie-renden in Deutschland allgemein zunimmt, steigt derAnteil der Studierenden, die aus einkommensschwachenSchichten kommen, sogar überproportional. Die Bun-desregierung hat sich des von Ihnen angesprochenenProblems mit dem Stipendienprogramm, aber auch mitvielen anderen Maßnahmen angenommen und ist dabei,es in eine positive Richtung zu verändern.
Ich komme zurück auf meine eigentliche Frage: In-
wieweit hilft dieses Programm jemandem, der sich aus
Sorge vor übermäßiger Verschuldung, aus Sorge, ein
Studium finanziell nicht stemmen zu können, dagegen
entscheidet, ein Studium aufzunehmen? Wenn man, um
ein Stipendium beantragen zu können, bereits im ersten
Semester eingeschrieben sein muss, ist das dann nicht
eine Art Lotteriespiel? Es wird doch nur für einen mini-
malen Prozentsatz der Studierenden ein Stipendium zur
Verfügung stehen. Dieser Prozentsatz ist noch nicht ein-
mal berechenbar; denn ein potenzieller Studienbewerber
kann überhaupt nicht wissen, in welchen Bereichen die
Hochschule Mittel einwirbt, sprich: für welche Fächer
Stipendiengeber auftreten. Das hat nicht den Hauch von
Verlässlichkeit, ist also nicht geeignet, die Barrieren, die
ich beschrieben habe und die wissenschaftlich belegt
sind, abzubauen.
D
Sehr geehrte Frau Kollegin, ich könnte Ihre Argu-
mentation nachvollziehen, wenn im Gegenzug zum Auf-
bau des nationalen Stipendienprogramms das BAföG ab-
geschafft würde. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die
Bundesregierung hat beschlossen, die Höhe des BAföG
und die Höhe der Freibeträge anzuheben. Jemand, dem
überhaupt keine finanzielle Unterstützung zur Verfügung
steht, bekommt in Zukunft monatlich 670 Euro BAföG.
Eine substanzielle materielle Hürde für die Aufnahme
eines Studiums ist daher aus unserer Sicht nicht gege-
ben. Bei dem Stipendienprogramm geht es um ergän-
zende finanzielle Leistungen.
Die SPD war längere Zeit Teil der Bundesregierung
und hat an mehreren BAföG-Erhöhungen mitgewirkt.
Ich hatte nicht den Eindruck, dass die SPD in der Ver-
gangenheit davon ausgegangen ist, dass die Höhe des
BAföG nicht ausreicht, um ein Studium aufzunehmen.
Das BAföG ermöglicht das sehr wohl. Das nationale Sti-
pendienprogramm ergänzt die Studienfinanzierung in
Deutschland um die von mir umrissenen Punkte.
Kollege Röspel.
Lieber Kollege Braun, wie bewertet die Bundesre-
gierung die allgemeine Lebenserfahrung, dass – die
Ergebnisse wissenschaftlicher Studien belegen dies –
Stipendien gerade denen zugutekommen, die aus Akade-
mikerfamilien kommen, weniger aber denen, die aus Ar-
beiterfamilien kommen und über weniger Einkommen
verfügen als ein Staatssekretär oder ein Bundestagsabge-
ordneter? Wie stellen Sie tatsächlich und konkret sicher,
dass diese soziale Ungerechtigkeit in unserem Land über
das Stipendiensystem, das Sie planen, nicht noch weiter
verfestigt wird?
D
Lieber Herr Kollege Röspel, ich glaube, durch den
von mir zitierten § 3 des Gesetzentwurfes wird klar, dass
bei der Vergabe von Stipendien neben der Leistung und
Begabung gerade auch die Aspekte Migrationshinter-
grund, familiärer Hintergrund, besondere Situationen
und soziale Lage berücksichtigt werden sollen. Ich
glaube, durch dieses Stipendienprogramm, das in seiner
Art neu ist, sind wir sehr gut in der Lage, gezielt Ange-
bote gerade für diese Klientel zu machen.
Das Stipendienprogramm soll einer Evaluationsphase
von drei Jahren unterliegen. Ich denke in der Vorabein-
schätzung, dass wir mit diesem Stipendienprogramm,
das den dezidierten Ansatz hat, dass auch Benachteili-
gungen, familiäre Probleme und ein etwaiger Migra-
tionshintergrund explizit berücksichtigt werden, in der
Lage sind, das Problem eben nicht zu verfestigen, son-
dern möglicherweise sogar aufzulösen.
Wenn sich im Rahmen der Evaluation etwas anderes
herausstellt, dann muss politisch darauf reagiert werden.
Ich glaube aber nicht, dass das, was Sie hier sagen, in der
Konzeption unseres Stipendienprogramms angelegt ist.
Insofern plädiere ich eindringlich dafür, es in der jetzi-
gen Form in die Realität umzusetzen und dann zu
schauen, welche Wirkungen sich hinsichtlich der Stipen-
dien entfalten.
Klar ist, dass wir uns mit diesem Stipendienpro-
gramm hinsichtlich der Frage, wer die Stipendiengeber
sind, an die gesamte Zivilgesellschaft richten, also nicht
nur zum Beispiel an Stipendiengeber aus der Wirtschaft;
vielmehr haben auch und gerade karitative Organisatio-
nen, Stiftungen und andere Institutionen, die sich mit der
Überwindung von Bildungsbenachteiligungen beschäfti-
gen, die Chance, als Stipendiengeber aufzutreten und da-
mit einen aktiven Beitrag – ergänzt um die Finanzierung
von Bund und Ländern – zur Beseitigung von Bildungs-
benachteiligungen zu leisten.
Kollege Schulz.
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3434 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 36. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. April 2010
(C)
(B)
Herr Staatssekretär, Sie sind in Ihrer Beantwortung
von kritischen Fragen jetzt mehrfach auf den § 3 des Ge-
setzentwurfs zu sprechen gekommen. Dort stehen die
Auswahlkriterien. Danach werden die Stipendien nach
Begabung und Leistung vergeben. Daneben sollen Kri-
terien wie gesellschaftliches Engagement, soziale, fami-
liäre, persönliche Umstände, familiäre Herkunft oder
Migrationshintergrund in die Entscheidung, wer ein Sti-
pendium erhält, mit einbezogen werden. Damit wollen
Sie sagen, dass das Ganze sozial ausgewogen ist und
dass der soziale Aspekt berücksichtigt wird.
Ich frage deswegen: Wie verbindlich ist denn diese
Vorschrift, die von der Bundesregierung in dem Gesetz-
entwurf vorgeschlagen wird, und wie stellt die Bundes-
regierung sicher, dass die einzelnen Hochschulen tat-
sächlich anhand solcher Auswahlkriterien auswählen?
D
Lieber Herr Kollege Schulz, ein Ziel, das mit diesem
Stipendienprogramm verbunden ist, besteht darin, die
Eigenständigkeit der Hochschulen sehr stark zu unter-
stützen. Deshalb ist dies nicht das Stipendienprogramm
der Bundesregierung, sondern es ist ein nationales Sti-
pendienprogramm, bei dem der Bund, die Länder und
die Zivilgesellschaft anteilig finanzieren.
Es ist auch vorgesehen, dass die Stipendiengeber und
die Hochschulen, die die Auswahl zu treffen haben, die
Kompetenzen bekommen, die sie benötigen, um das ent-
scheiden zu können. Leistung und Begabung sind bei
diesem Stipendienprogramm sozusagen die Grundvo-
raussetzung. Dies ist in § 3 Satz 1 des Gesetzentwurfs
verankert. Die weiteren Kriterien, die Sie eben richtig zi-
tiert haben, stehen in § 3 Satz 2 des Gesetzentwurfs. Da-
mit sollen darüber hinaus die sozialen Aspekte gemäß
dem Wunsch des Gesetzgebers berücksichtigt werden.
In welchem Umfang das geschieht, hängt sehr stark
mit der Rolle der Hochschulen und deren eigenver-
antwortlicher Entscheidung und mit der Rolle der Sti-
pendiengeber zusammen. Dort, wo es solche Stipendien-
programme schon gibt, zum Beispiel in Nordrhein-
Westfalen, sieht man, dass ein ganz erheblicher Anteil
der Stipendien gar nicht aus dem Bereich der Wirtschaft,
sondern aus dem Bereich der Verbände und Stiftungen
und aus dem sozial engagierten Teil der Zivilgesellschaft
kommt. Insofern bin ich sehr zuversichtlich, dass das ge-
lingt und durch die Freiheit, die dieses Stipendienpro-
gramm bietet, realisiert werden kann.
Kollege Rossmann.
Herr Staatssekretär, in welcher Weise identifizieren
Sie das Hauptproblem in der Ansprache von Familien in
finanziellen Grenzbereichen, das wir über eine moderne
und rechtssichere Förderung erfassen müssten? Ist es
nicht so, dass vor allen Dingen Familien der unteren und
mittleren Mittelschicht, die nicht über zwei volle Ein-
kommen verfügen, in denen es mehrere Kinder gibt, die
studieren wollen, erleben, dass die Kinder nicht in die
BAföG-Förderung fallen, die sie aber bräuchten, um
eine sichere Entscheidung für ein Studium treffen zu
können? Liegt es nicht viel näher, sich diesen Familien
mit Blick auf ihre Bildungsentscheidung mit einem kla-
ren Rechtsanspruch innerhalb eines modernen BAföG-
Systems zuzuwenden, als zu dem System des 19. Jahr-
hunderts mit seinem Lotterieprinzip – früher hieß es Do-
tationssystem – zurückzukehren? Weshalb versagt sich
die Bundesregierung diesem modernen Ansatz, die un-
tere und mittlere Mittelschicht rechtlich klar zu fördern
und damit Bildungssicherheit zu bieten?
D
Sehr geehrter Herr Kollege Rossmann, genau das tut
die Bundesregierung nicht; denn sie versetzt mit der Er-
höhung des BAföG und der Anhebung der Freigrenzen
eine sehr breite Bevölkerungsschicht in die Lage, ein
Studium aufzunehmen. Ich habe schon darauf hingewie-
sen, dass der Anteil derjenigen aus bildungsfernen
Schichten, die ein Studium aufnehmen, deutlich ange-
stiegen ist. Das ist ein Erfolg der vergangenen BAföG-
Novelle, aber auch der Hochschulpolitik der Bundesre-
gierung. Wir sind damit auf einem guten Weg.
Auch Sie argumentieren so, als wäre das nationale
Stipendienprogramm ein Ersatz für das BAföG, und las-
sen dabei außer Acht, dass die Bundesregierung vorwei-
sen kann, dass der Anteil Bildungsbenachteiligter an den
Hochschulen gegenwärtig steigt. Wir sind also bei der
Bewältigung des Problems mit den Instrumenten, die
uns zur Verfügung stehen, auf einem sehr guten Weg.
Das nationale Stipendienprogramm ist ein neuer Weg
in der Bildungsfinanzierung, der eine gezielte Förderung
vorsieht, die unabhängig vom Elternhaus erfolgt. Er be-
rücksichtigt die besonderen Lebenslagen, in denen sich
Studierende jeweils befinden. Damit ist es ein Finanzie-
rungsprogramm, das sich sehr individuell auf die Lage
des Studierenden bezieht statt wie die bisherigen Sys-
teme allein auf die finanzielle Lage des Elternhauses.
Frau Kollegin Alpers.
Herr Staatssekretär, ich verstehe einen Punkt nicht.Heute Nachmittag haben wir schon von der Bildungs-ministerin gehört, dass das Stipendienprogramm nicht andie soziale Herkunft gekoppelt ist. Sie hat zweimal be-tont, dass sich das neue Stipendienprogramm für sozialeGerechtigkeit einsetzt. Dafür machen Sie Werbung, auchheute Abend. Sie führen immer wieder aus – das ist auchsinnvoll –, dass Sie einen vorhandenen Migrationshin-tergrund, die persönlichen Umstände, soziale Aktivitätenund vielfältige Punkte berücksichtigen und mit einbezie-hen werden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 36. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. April 2010 3435
Agnes Alpers
(C)
(B)
Wenn es aber darum geht, welchen Einfluss die Bun-desregierung darauf hat, dass dies mit einem großen Pro-zentsatz umgesetzt wird, sagen Sie, dass es kein Pro-gramm der Bundesregierung ist und dass Sie keinenEinfluss darauf haben. Das verstehe ich nicht. Sie benut-zen es als Werbung, haben aber keinen Einfluss darauf.Sie haben gesagt, dass die Stipendiengeber in Nord-rhein-Westfalen schon auf entsprechende Auswahlkrite-rien achten werden. Ich kenne etliche Stipendiengeberund weiß, dass es sich tatsächlich eingebürgert hat, daszu machen, aber nur zu höchstens 5 Prozent.
Frau Kollegin.
Noch einen Satz. Ich komme sofort zum Schluss.
Keine Regierungserklärung.
Nein.
Die Frage ist, wie es dazu kommt. Wenn Sie dafür
Werbung machen, dann haben Sie als Regierung auch
dafür zu sorgen, dass die sozialen Punkte tatsächlich in
den Vordergrund treten. Wie wollen Sie dabei Ihre Ver-
antwortung durchsetzen?
D
Sehr geehrte Frau Kollegin, ich glaube, Sie unter-
schätzen die Hochschulen und diese Zivilgesellschaft.
Ich bin fest davon überzeugt, dass ein solches Instrument
in der Breite der Gesellschaft ankommen wird und dass
wir ein vielfältiges Portfolio an verschiedenen Stipen-
diengrundlagen bekommen werden. Die kategorische
Angst von Ihrer Seite, die sozialen Belange, die ja im
Gesetz explizit erwünscht werden, würden am Ende ver-
nachlässigt werden, kann ich nicht nachvollziehen.
Gleichwohl beinhaltet dieses Gesetz zwei Dinge, die
ich zu Ihrer Beruhigung noch anfügen möchte: Das Erste
ist die Evaluationsphase von drei Jahren. Das Zweite ist
die Möglichkeit, die sich die Bundesregierung für den
Fall vorbehält, dass es bei diesem Stipendienprogramm
im Vollzug zu Ungleichgewichten kommen sollte, näm-
lich in einer Rechtsverordnung noch weitere Details über
das hinaus zu regeln, was momentan im Gesetz steht.
Klar ist aber, dass wir – das ist die Absicht dieser Bun-
desregierung – nach Möglichkeit zunächst nicht ein Re-
gelwerk aufstellen wollen, das die Hochschulen sehr
stark in ihrer Freiheit und ihren Möglichkeiten, dieses
Stipendienprogramm inhaltlich auszufüllen, beschnei-
det. Vielmehr wollen wir zunächst in Freiheit und Eigen-
verantwortung ein solches Stipendienprogramm auf den
Weg bringen, weil die Menschen und diejenigen, die
sich in dieser Zivilgesellschaft für Bildung engagieren
und ein solches Stipendiensystem an den Hochschulen
aufbauen oder als Stipendiengeber auftreten, sehr wohl
wissen und entscheiden können, was gesellschaftliche
Notwendigkeiten sind.
Ich rufe nun die Frage 9 der Kollegin Marianne
Schieder auf:
Wie bewertet die Bundesregierung die wachsende Kritik
an dem geplanten Stipendiengesetz von Studierenden, Hoch-
schulen und aus der Wirtschaft gerade im Hinblick darauf, das
diese drei Gruppen die Träger des Stipendiensystems darstel-
len sollen?
Darf ich vielleicht darauf aufmerksam machen, dass
mit Blick auf andere Geschäftsbereiche vielleicht auch
Berücksichtigung finden sollte, dass die hier diskutierten
Fragen vorhin schon einmal Gegenstand einer ähnlichen
Befragung im Rahmen der Berichterstattung der Bun-
desregierung waren?
D
Herr Präsident, vielleicht kommt es Ihnen entgegen,
wenn ich die Fragen 9 und 10 im Zusammenhang beant-
worte.
Dann rufe ich auch gleich noch die Frage 10 auf:
Wie will die Bundesregierung sicherstellen, dass die Sti-
pendienvergabe regional, fachlich und sozial ausgewogen er-
folgt und die empirisch zuletzt von der Hochschul-Informa-
tions-System GmbH bestätigte soziale Selektivität bisheriger
Stipendienangebote nicht reproduziert?
D
Von den Studierenden, Frau Kollegin, wird das Sti-pendienprogramm teilweise begrüßt. Andere sprechensich dagegen für einen weiteren Ausbau des BAföG aus.Wie ich heute schon betont habe, macht die Bundesre-gierung genau beides: Wir führen ein Stipendiensystemein und weiten die Freibeträge und Bedarfssätze desBAföG aus. Insofern haben wir etwas getan, was, denkeich, die Interessen beider Gruppierungen der Studieren-den trifft.Dass es Kritik aus den Hochschulen geben soll, kanndie Bundesregierung so nicht nachvollziehen. Wir habenim Rahmen der Entwicklung dieses nationalen Stipen-dienprogramms viele Gespräche geführt, und seitens derHochschulen werden nach dem, was wir gesehen haben,solche neuen Möglichkeiten dezidiert begrüßt. Insbeson-dere die Fachhochschulen haben ein sehr großes Inte-resse an dem geäußert, was wir hier tun, weil sie sich er-hoffen, dass sie in diesem Zusammenhang einen höherenAnteil an Stipendien durch ihre Nähe zu möglichen Sti-pendiengebern haben werden, da sie bei den bisherigen
Metadaten/Kopzeile:
3436 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 36. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. April 2010
Parl. Staatssekretär Dr. Helge Braun
(C)
(B)
Begabtenförderungswerken nicht so stark repräsentiertsind. Der anfänglichen Sorge mancher Hochschulen,möglicherweise nur einen geringeren Anteil an Stipen-dien generieren zu können, ist in dem Gesetzentwurf da-durch Rechnung getragen worden, dass wir die Quotevon 8 Prozent der Studierenden hochschulbezogen fest-gelegt haben.Auch sind wir mit den Verbänden der Wirtschaft imVorfeld der Errichtung dieses Stipendienprogramms sehrintensiv im Gespräch gewesen. Hier war von vielen Sei-ten die Frage aufgeworfen worden, inwiefern diesesneue Stipendienprogramm eine Konkurrenzsituation zubestehenden Initiativen der Wirtschaft darstellen werde.Nach Vorlage unserer Gedanken haben wir auch aus derWirtschaft durch die Bank positive Reaktionen auf dieseneue Form der Studienfinanzierung erhalten.
Bitte schön, eine weitere Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, ist Ihnen denn bekannt, dass sich
zu diesen Kritikern auch ganz prominente Vertreter Ihrer
eigenen Regierungsfraktion gesellen, zum Beispiel der
bildungspolitische Sprecher der CDU/CSU, Albert
Rupprecht? Das ist in der Berichterstattung des Neuen
Tags, Weiden, vor einigen Wochen über eine bildungs-
politische Veranstaltung nachzulesen, in der ganz deut-
lich steht, dass er dieses Stipendienprogramm ablehnt.
Haben Sie intern schon darüber gesprochen, oder wollen
Sie uns das nicht sagen?
D
Sehr geehrte Frau Kollegin, mit dem bildungs- und
forschungspolitischen Sprecher der CDU/CSU-Bundes-
tagsfraktion Albert Rupprecht sind wir über dieses natio-
nale Stipendienprogramm selbstverständlich im ständi-
gen Gespräch. Den Eindruck, den Sie hier vermitteln,
nämlich dass er es ablehnen würde, kann ich aufgrund
der zahlreichen Gespräche, die ich mit ihm geführt habe,
nicht bestätigen.
Dann muss das ja ein falscher Fuffziger sein.
Nächste Zusatzfrage.
Dann sollte er vor Ort etwas anderes sagen.
Ich habe eine Frage zum Thema Hochschulen. Wir
haben heute schon einmal darüber gesprochen, aber
keine befriedigenden Antworten bekommen. Die Hoch-
schulen befürchten, dass ihnen durch das Verwaltungs-
verfahren, das für die Umsetzung des nationalen Stipen-
dienprogramms notwendig ist, erhebliche Kosten
entstehen werden. Wie soll dabei eine Entlastung heraus-
kommen?
D
Liebe Frau Kollegin, die Durchführung des Stipen-
dienprogramms obliegt den Hochschulen. Insofern sind
die administrativen Aufgaben dort angesiedelt. Natürlich
haben wir ein großes Interesse daran, dass dieses natio-
nale Stipendienprogramm ein Erfolg wird. Die Kritik ist
an dieser Stelle teilweise etwas schwer nachzuvollzie-
hen. Auf der einen Seite wird gesagt, wir würden es nie
schaffen, eine so große Zahl von Stipendien zu gewin-
nen; auf der anderen Seite macht man sich aber, schon
bevor das erste Stipendium überhaupt vergeben ist, Ge-
danken darüber, einen vollflächigen Verwaltungsapparat
organisieren zu müssen.
Ich denke, man muss erst einmal beginnen. Die Bun-
desregierung gibt das klare Signal, dass sie die Stipen-
dienvergabe selbstverständlich im Blick behält. Wir wol-
len, dass das ein Erfolg wird. Wir wollen, dass die
Administration gut und erfolgreich ist und dass die Sti-
pendienvergabe sowohl für die Stipendiennehmer als
auch für die Stipendiengeber und die Hochschulen leicht
und unbürokratisch durchführbar wird. Wenn es zu er-
höhten Aufwendungen kommt, dann ist die Bundesre-
gierung zu Gesprächen darüber bereit. Da primär die
Länder Ansprechpartner sind, kann so ein Thema auch
Gegenstand zum Beispiel des Gipfels sein, der im Juni
stattfinden wird.
Haben Sie noch weitere Zusatzfragen?
Ich habe eine Zusatzfrage zur Frage 10. – Herr Staats-
sekretär, ich finde, dass Sie nicht beantwortet haben, wie
Sie sicherstellen wollen, dass die Stipendienvergabe re-
gional, fachlich und sozial ausgewogen erfolgt und sich
eben nicht die hohe soziale Selektivität fortsetzt.
D
Frau Kollegin, sehen Sie mir nach, dass ich den Ein-druck habe, dass wir schon eine ganze Weile über diemögliche bzw. nichtvorhandene soziale Selektivität desProgramms gesprochen haben. Was die regionale Vertei-lung angeht, habe ich deutlich gemacht, dass wir einehochschulbezogene Quote festgelegt haben. Das heißt,es ist nicht möglich, dass sich alle Stipendien dieses na-tionalen Stipendienprogramms in irgendeiner RegionDeutschlands ballen; denn jede Hochschule soll in dieLage versetzt werden, 8 Prozent ihrer Studierenden einsolches Stipendium zu ermöglichen. Eine absolute regio-nale Gleichverteilung ist im Grunde genommen sicher-gestellt.Was die soziale Selektivität betrifft, so verweise ichnoch einmal auf den von mir mehrfach zitierten § 3, indem die Vorgabe enthalten ist, dass neben den KriterienLeistung und Begabung, die dezidiert nicht nur an Noten
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 36. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. April 2010 3437
Parl. Staatssekretär Dr. Helge Braun
(C)
(B)
festgemacht werden sollen, auch die weiteren sozialen,familiären und migrationsbedingten Faktoren Berück-sichtigung finden sollen.
Das heißt, ich interpretiere Sie richtig, wenn ich sage,
dass Sie nicht sicherstellen, sondern nach der Devise
„Schauen wir einmal, dann sehen wir schon“ handeln?
D
Nein, ich glaube, dass dieser § 3 das sicherstellt.
Nun hat die Kollegin Burchardt das Wort.
Herr Kollege, wir können dem Kabinettsbeschluss
entnehmen, dass das Projekt des nationalen Stipendien-
programms die Konzeptionsphase schon verlassen hat.
D
Das kann ich bestätigen.
Das müssen wir doch einmal würdigen. – In die Vor-
lage haben auch kalkulatorische Überlegungen Eingang
gefunden. Gehen Sie nicht mit mir davon aus, dass die
Zahlen, die auf dem Papier stehen, möglicherweise nicht
ganz real sind, sowohl was die veranschlagten Kosten,
den Mittelaufwand, für die Stipendien als auch was den
Anteil der öffentlichen und privaten Finanzierung eines
Stipendiums angeht? Das sage ich vor dem Hintergrund,
dass die Stipendien – ich gehe davon aus, das ist ähnlich
wie in Nordrhein-Westfalen – steuerlich absetzbar sind.
Das verändert zum einen die Anteile öffentlicher und
privater Stipendiengeber; denn wenn man die Finanzie-
rung von Stipendien steuerlich absetzen kann, bekom-
men Stipendiengeber sozusagen noch etwas heraus oder
zahlen zumindest weniger Steuern; für den Bundeshaus-
halt ist das letztendlich aber das Gleiche. Wie hoch ver-
anschlagen Sie die Steuerausfälle – Sie haben das sicher-
lich durchgerechnet –, die dem Bundeshaushalt durch
die steuerlichen Absetzbarkeit erwachsen?
D
Liebe Frau Kollegin, die Zahlen, die wir da zugrunde
legen, halten wir schon für realistisch.
Zur Frage, wie hoch der Aufwuchs durch dieses Sti-
pendienprogramm sowohl in finanzieller Hinsicht als
auch in Bezug auf die Anzahl der Stipendien ist: Wir ha-
ben festgelegt, dass die Obergrenze bei 8 Prozent liegt.
Wir möchten diese Grenze gerne schnell erreichen. Klar
ist aber auch: Wir haben momentan eine Quote, die unter
2 Prozent liegt; das hängt mit den Begabtenförderungs-
werken zusammen. Insofern werden wir schauen müs-
sen, wie schnell sich eine viermal so hohe Quote errei-
chen lässt. Was die Stipendien kosten, kann man selber
ausrechnen. Im Gesetzentwurf ist ausgewiesen, wie sich
die Anteile der Finanzierung zusammensetzen. Der von
Ihnen angesprochene Steuertatbestand ist im Gesetzent-
wurf nicht ausgewiesen. Ich kann Ihnen dazu gerne eine
schriftliche Unterlage zukommen lassen.
Kollege Rossmann.
Herr Staatssekretär, im Gesetzentwurf und in der Be-
gründung zum Gesetzentwurf ist wegen der Absetzbar-
keit sehr wohl von steuerlichen Mehraufwendungen in
Höhe von 100 Millionen Euro die Rede. Diese Ausgaben
kommen auf den Bund und die Länder zu. Damit sollen
insgesamt 300 Millionen Euro aus öffentlichen Haushal-
ten bereitgestellt werden. Faktisch wird damit nur ein
Sechstel privat finanziert, während drei Sechstel direkt
von Bund und Ländern und zwei Sechstel durch Steuer-
verluste der Bundes- und der Länderseite aufgebracht
werden, was entsprechend zu Buche schlägt. Halten Sie
das Verhältnis für angemessen, dass die privaten Geldge-
ber, die nur ein Sechstel finanzieren, faktisch über zwei
Drittel des von Ihnen ausgewiesenen Volumens mit ver-
fügen können? Die öffentliche Hand gibt hingegen fünf
Sechstel der Mittel, belässt den Hochschulen aber nur
ein Drittel, mit dem sie selber über die Stipendien verfü-
gen können. Der Staat zahlt und Private legen fest: Ist
das Ihre neue Form der modernen Zivilgesellschaft?
D
Sehr geehrter Herr Kollege, die von Ihnen vorgenom-mene Rechnung kann ich jetzt nicht umfassend bestäti-gen. Sie gehen nämlich davon aus, dass bei jedem mögli-chen Stipendiengeber die steuerliche Absetzbarkeit ingleichem Umfang gegeben ist.
Ich habe bereits deutlich gemacht, dass die Gruppe derStipendiengeber sehr heterogen sein wird, dass es sichhierbei nicht ausschließlich um Wirtschaftsvertreter oderum steuerpflichtige Privatpersonen handelt, sonderndass das Spektrum sehr breit sein wird. Insofern kannman das Ganze sowieso nicht exakt beziffern, sondernman kann es nur fallbezogen darstellen.Was die Verfügungsgewalt über das Stipendium an-geht, möchte ich deutlich machen: Natürlich liegt dieVerfügungsgewalt insgesamt bei der Hochschule. Derje-nige, der quasi Stipendiengeber ist, hat keine Möglich-keit, über das Geld zu verfügen oder den Stipendiatenauszuwählen. Nach unserem Gesetzentwurf ist es so,dass der Stipendiengeber zwar die Möglichkeit hat, Kri-terien festzulegen, aber nicht, den Stipendiaten auszu-wählen. Das heißt, die Verfügenden über die Mittel sinddie Hochschulen.
Metadaten/Kopzeile:
3438 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 36. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. April 2010
(C)
(B)
Ich dachte, dass ich diese Wortmeldung zu dem Zeit-
punkt, wo sie noch hätte notiert werden können, nicht
gesehen habe.
Ich verweise auf meine bereits vorhin vorgetragene
Empfehlung, zumal es einzelne Kollegen gibt, die mög-
licherweise noch die Hoffnung auf Auskünfte zu ande-
ren Bereichen haben. Deswegen bitte ich um Nachsicht,
dass ich jetzt weiteren Zusatzfragen mit etwas größerer
Zurückhaltung als den Fragestellungen gegenübertrete.
Ich rufe jetzt die Frage 11 des Kollegen Rossmann
auf:
Welche Überlegungen haben die Bundesregierung gelei-
tet, von den Berechnungen des Wissenschaftsrates, die für die
Verbesserung der Lehre an den Hochschulen mindestens
1 Milliarde Euro zusätzlich im Jahr ausweisen, abzusehen und
lediglich ein Fünftel des Volumens vorzusehen?
Herr Staatssekretär Rachel, bitte.
T
Herr Präsident, vielen Dank. – Lieber Herr Kollege
Dr. Rossmann, der Wissenschaftsrat weist in seinen
Empfehlungen zur Qualitätsverbesserung von Lehre und
Studium aus dem Juli 2008, auf die Sie sich beziehen,
darauf hin, dass die föderale Struktur der Bundesrepu-
blik Deutschland die Verantwortung für eine substan-
zielle Verbesserung der Lehrsituation und der Studiensi-
tuation den Bundesländern zuweist. Zugleich empfiehlt
der Wissenschaftsrat, diese Aufgabe in gesamtstaatlicher
Verantwortung zu lösen.
Entsprechend dieser beschriebenen Verantwortung
hat die Bundesministerin, Frau Professor Schavan, den
Ländern ein gemeinsames Programm für bessere Stu-
dienbedingungen und mehr Qualität in der Lehre als
quasi dritte Säule des Hochschulpakts angeboten. Es
baut auf den bestehenden Maßnahmen von Ländern und
Hochschulen einerseits sowie auf dem Beitrag der ersten
Säule des Hochschulpakts für bessere Studienbedingun-
gen andererseits auf.
Herr Staatssekretär, es ist ja bemerkenswert, dass der
Wissenschaftsrat einen Bedarf von rund 1 Milliarde
Euro jährlich vorgestellt hat – gut begründet – und auch
die Ministerin auf Milliarden Euro kommt. Aber die Mi-
nisterin kommt darauf, indem sie 200 Millionen Euro
mal zehn nimmt, während der Wissenschaftsrat „1 Mil-
liarde Euro in einem Jahr“ sagt. Darf ich dem, was Sie
ausgeführt haben, entnehmen, dass die Bundesregierung
erwartet, dass die Länder auf die 200 Millionen Euro,
die der Bund jährlich einbringt, 800 Millionen Euro
obendrauf legen? Oder: Mit welcher Quote, was die
Bund-Länder-Finanzierung angeht, gehen Sie in die Ver-
handlungen auf der großen Bildungsratschlagsrunde am
10. Juni?
T
Diese Schlussfolgerung können Sie für sich persön-
lich ziehen, allerdings nicht für die Bundesregierung.
Wir haben vor, über die nähere Ausgestaltung der dritten
Säule des Hochschulpakts zwischen Bund und Ländern
intensiv zu verhandeln. Dabei ist klar, was auch der Wis-
senschaftsrat deutlich beschrieben hat, nämlich dass die
Verantwortung für die Lehrsituation an den Hochschulen
bei den Ländern liegt. Insofern ist es bemerkenswert,
dass sich der Bund hierbei trotzdem zusätzlich einbringt.
Wir werden das Gespräch mit den Ländern in der dafür
eigens vorgesehenen Gemeinsamen Wissenschaftskon-
ferenz suchen, um zu erreichen, dass die Lehrsituation
an den Hochschulen deutlich verbessert werden kann.
Dabei ist klar, dass sich die Länder hier in ganz erhebli-
chem Maß einbringen müssen.
Herr Staatssekretär, wenn das nur eine private
Schlussfolgerung ist, die ich daraus ziehen darf, muss
nach dem, was Sie gesagt haben, die Bundesregierung
die Schlussfolgerung ziehen, dass sie, wenn sie von den
Ländern nicht 800 Millionen Euro erwartet, selbst aber
nur 200 Millionen Euro geben will, den Betrag von
1 Milliarde Euro, den der Wissenschaftsrat jährlich für
notwendig hält, reduzieren muss. Meine Frage ist: Auf
welches Volumen reduzieren Sie den Bedarf? Bei dem,
was Sie bisher gesagt haben, gibt es ja nur die folgenden
Möglichkeiten: Entweder Sie müssen den Betrag von
200 Millionen Euro erhöhen, oder Sie müssen 800 Mil-
lionen Euro von den Ländern erwarten, oder Sie müssen
dem Wissenschaftsrat sagen, dass der Betrag von
1 Milliarde Euro, den er für notwendig hält, zu hoch be-
messen ist und sachlich geboten nur 400 oder 500 Mil-
lionen Euro sind. Deshalb meine Frage, was sich die
Bundesregierung an der Stelle bei dem, was Sie für die
Bundesregierung bisher erklärt haben, gedacht hat oder
denkt.
T
Herr Kollege Dr. Rossmann, die Frage der finanziel-
len Volumina wird Gegenstand der Besprechungen zwi-
schen Bund und Ländern in der Gemeinsamen Wissen-
schaftskonferenz sein. Die Bundesregierung ist initiativ
geworden und hat Vorschläge für eine dritte Säule des
Hochschulpakts zum Bereich der Lehre gemacht. Klar
ist, dass nach der föderalen Zuständigkeit hier vor allem
die Länder gefordert sind. Dies wird Gegenstand der
weiteren Besprechungen sein.
Ich rufe die Frage 12 auf, ebenfalls vom KollegenDr. Rossmann:Mit welchen konkreten Vorschlägen geht die Bundesregie-rung in die Beratungen mit den Ländern zur Konferenz derRegierungschefs von Bund und Ländern am 10. Juni 2010,um die notwendigen Nachbesserungen der Bologna-Reformim Sinne besserer Studienbedingungen, einer besseren Stu-dierbarkeit sowie einer einfacheren nationalen wie europäi-schen Mobilität zu unterstützen?Es antwortet Herr Kollege Braun.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 36. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. April 2010 3439
(C)
(B)
D
Lieber Herr Kollege Rossmann, die Bundesregierung
geht selbstverständlich mit konkreten Vorschlägen in die
Beratungen mit den Ländern zur Konferenz der Regie-
rungschefs von Bund und Ländern am 10. Juni. Der vom
Kollegen Rachel eben schon angesprochene „Qualitäts-
pakt Lehre“ ist ein Gegenstand. Darüber hinaus ist es na-
türlich die 23. BAföG-Novelle, in der auch auf die Be-
sonderheiten des Bologna-Prozesses eingegangen wird.
Zum Beispiel sind wir dazu übergegangen, vorzuschla-
gen, dass im Interesse der Master-Studierenden in Zu-
kunft eine Bezugsdauer bis zum 35. Lebensjahr ermög-
licht wird. Ebenso ist Teil des Verhandlungspakets des
Bundes das nationale Stipendienprogramm.
Ich weiß Ihre Antwort zwar zu schätzen. Aber ich
glaube, dass auch bei weiteren Nachfragen nicht viel
mehr herauskommen wird. Mit Blick auf die noch ver-
bleibende Zeit verzichte ich auf weitere Nachfragen, so-
dass der Kollege Brase noch die Chance hat, seine Fra-
gen zur beruflichen Bildung zu stellen.
Wie schön.
– Ich mache darauf aufmerksam, dass Lust keine Kate-
gorie in unserer Geschäftsordnung ist. Das kann ich al-
lenfalls subjektiven Präferenzen zuordnen, die ich nicht
weiter kommentieren möchte.
Ich rufe die Frage 13 des Kollegen Brase auf:
Welche Konsequenzen zieht die Bundesregierung aus der
Tatsache, dass beim Hochschulpakt I allein Nordrhein-West-
falen die Zahl der zugesagten zusätzlichen Studierenden bis-
her bei weitem nicht erreicht hat, wohingegen andere Länder
ihre Zusagen sogar übererfüllt haben?
Bitte, Herr Kollege Rachel.
T
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Kollege Brase, in
Nordrhein-Westfalen wurden allein im Jahr 2009 über
10 000 zusätzliche Studienmöglichkeiten geschaffen.
Die Bundesregierung sieht angesichts der Tatsache, dass
der Hochschulpakt jetzt auch in Nordrhein-Westfalen
deutliche Wirkungen entfaltet und dass die bundesweit
angestrebten Ziele zudem bereits deutlich übererfüllt
worden sind, dass wir insgesamt auf einem guten Wege
sind.
Herr Staatssekretär, nach den Unterlagen, die uns in
den letzten Monaten von Ihrem Hause zugeleitet wur-
den, kann ich den Aufwuchs von 10 000 Plätzen in
Nordrhein-Westfalen nicht ganz nachvollziehen. Weil
wir also keine ausreichende schriftliche Erläuterung be-
kommen haben, wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir
das jetzt einmal genauer erklären könnten. Für Nord-
rhein-Westfalen, dieses schöne und wichtige Bundes-
land, ist das mit Blick auf die Bildungspolitik ein ganz
wesentlicher Punkt.
T
Sehr geehrter Herr Kollege Brase, es ist tatsächlich
so. Um es präzise zu sagen: Allein im Jahr 2009 sind
10 717 neue Studienanfänger in Nordrhein-Westfalen zu
verzeichnen. Nordrhein-Westfalen hat erhebliche An-
strengungen unternommen, um zusätzliche Studien-
plätze zur Verfügung zu stellen. Wie Ihnen vielleicht be-
kannt ist, werden in Nordrhein-Westfalen drei neue
Fachhochschulen gebaut. Acht bestehende Fachhoch-
schulen werden ausgebaut. Dies sind wichtige Maßnah-
men, die zur Schaffung von Tausenden zusätzlicher Stu-
dienplätze führen. Wir begrüßen diese Anstrengungen
außerordentlich. Man kann daran sehen, dass sich in der
Breite in Nordrhein-Westfalen Erhebliches bewegt.
Weitere Zusatzfrage? – Nein. Kollege Rossmann,
bitte.
Herr
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Im
Falle Nordrhein-Westfalens entsprechen 1 000 Plätze ei-
nem Anteil von 0,2 Prozent.
Können Sie uns die Prozentzahlen bezogen auf die
Studienanfängerplätze nennen? Denn die 10 000 zusätz-
lichen Studienplätze für Nordrhein-Westfalen, die Sie
hier ankündigen, sind in Relation zu den 91 000 insge-
samt geplanten Plätzen ein Neuntel. Aber Nordrhein-
Westfalen hat mehr als ein Neuntel aller Studienplätze in
Deutschland. Daher ist das, was Sie uns hier eben vorge-
fügt haben, eine besonders elegante Form der Nichtdar-
legung von wahren Sachverhalten. Nennen Sie also bitte
die Prozentzahlen für die einzelnen Bundesländer, damit
wir sehen können, was Sie bis jetzt in Bezug auf den
Hochschulpakt I umgesetzt haben.
T
Herr Kollege Rossmann, die Umrechnung überlasseich Ihren mathematischen Fähigkeiten. Das Land Nord-rhein-Westfalen hat im vergangenen Jahr 10 717 zusätzli-che Studienanfängerplätze geschaffen. Es ist im Rahmendes Hochschulpaktes vereinbart worden, dass, bezogenauf das Vergleichsjahr 2005, in Nordrhein-Westfalen ins-gesamt 26 000 zusätzliche Studienanfängerplätze ge-schaffen werden.
Jetzt im Jahr 2010 sehen wir, dass in erheblichem Maßeausgebaut wird.
Metadaten/Kopzeile:
3440 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 36. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. April 2010
Parl. Staatssekretär Thomas Rachel
(C)
(B)
Es gibt in Nordrhein-Westfalen drei neue Fachhoch-schulen, die am 1. Mai 2009, also Mitte letzten Jahres,gegründet worden sind. Es ist natürlich klar: Bevor derStudienbetrieb aufgenommen werden kann, müssendiese Fachhochschulen erst einmal errichtet werden. Dasist die Fachhochschule Hamm-Lippstadt, das ist dieFachhochschule Rhein-Waal, und das ist die Fachhoch-schule Ruhr West. Das sind drei ganz neue Fachhoch-schulen.Dazu kommt, dass die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen beschlossen hat, in Bochum die bundesweiterste Hochschule für Gesundheit zu errichten. Hier wer-den 1 000 neue Studienplätze zu einem gesellschaftlichsehr wichtigen Thema entstehen. Davon werden wir alleprofitieren. Darüber hinaus sind neben den Aktivitätenan den verschiedenen Universitäten umfangreiche Aus-baumaßnahmen in acht weiteren Fachhochschulen vor-gesehen.
Ich rufe die Frage 14 des Kollegen Brase auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung die Auffassung des
Deutschen Industrie- und Handelskammertages, dass nicht ein
zu geringes Ausbildungsplatzangebot, sondern eine man-
gelnde Ausbildungsreife das Hauptproblem auf dem Ausbil-
dungsmarkt ist?
D
Sehr geehrter Herr Kollege Brase, im Hinblick auf die
Ausbildungsplatzsituation geht die Bundesregierung da-
von aus, dass man nicht ein Hauptproblem definieren
kann. Es gibt sowohl das Problem mangelnder Ausbil-
dungsreife als auch das Problem fehlender Ausbildungs-
plätze. Zum Teil sind das regionale Probleme. Es gibt
auch ein globales Problem; das hat mit Mobilität zu tun.
Wir haben natürlich die Aufgabe, die Wünsche von Be-
werbern um Ausbildungsplätze nach gewissen Ausbil-
dungsberufen mit den Belangen der Wirtschaft zusam-
menzubringen.
Die Bundesregierung ist hier auf einem guten Weg.
Wir fördern die Berufsorientierung junger Menschen.
Wir fördern die Bereitschaft zur Mobilität, und wir wol-
len uns – das haben wir heute in einem anderen Zusam-
menhang besprochen – intensiv darum kümmern, Brü-
che in Bildungsbiografien zu vermeiden, um bei allen
Jugendlichen Ausbildungsreife zu erzielen. In diesem
Dreiklang der unterschiedlichen Probleme, die wir ha-
ben, betrachtet die Bundesregierung die Ausbildungs-
platzsituation in Deutschland.
Herr Staatssekretär Braun, wir haben heute eine Pres-
senotiz des Statistischen Bundesamtes über die Zahl der
neu eingetragenen Ausbildungsverhältnisse, bezogen auf
2009, erhalten. Es gibt bundesweit ein Minus von über
7 Prozent. – Das als Eingangsbemerkung.
Im Rahmen einer Umfrage der IHK – darauf bezieht
sich meine Frage – wurde von vielen – nicht von allen –
befragten Unternehmen zum Ausdruck gebracht, dass
dieses Minus an eingetragenen Ausbildungsverhältnis-
sen daran liegt, dass ein Großteil der Jugendlichen offen-
sichtlich nicht ausbildungsreif sei. Ich kann diese These
nicht nachvollziehen und frage Sie, ob Sie nicht mit mir
der Auffassung sind, dass immer dann, wenn von den
Unternehmen nicht genügend Ausbildungsplätze zur
Verfügung gestellt werden, das Argument kommt, es
gebe nicht genügend ausbildungsfähige junge Leute. Ich
halte es für nicht richtig, so mit Menschen umzugehen.
Mich würde interessieren, ob das zuständige Haus,
sprich: die zuständige Ministerin und ihr Haus, das ähn-
lich sieht oder ob man der Industrie und den Unterneh-
men angesichts dessen, dass das Statistische Bundesamt,
bezogen auf 2009, ein Minus von 7,9 Prozent gegenüber
2008 errechnet hat, nicht deutlich sagen muss: „So ein-
fach lassen wir das nicht durchgehen.“
D
Sehr geehrter Herr Kollege Brase, zunächst zum Jahr2009. Infolge der Wirtschaftskrise muss man die statisti-schen Zahlen für dieses Jahr mit sehr gemischten Gefüh-len betrachten. Auf der einen Seite gibt es in der Tateinen erheblichen Rückgang der Zahl neuer Ausbil-dungsverhältnisse. Auf der anderen Seite gibt es, bedingtdurch die demografische Situation, einen deutlichenRückgang der Zahl der Ausbildungsplatzbewerber, so-dass sich das Verhältnis insgesamt sogar verbessert hat.Sie wissen auch, dass sich im Jahr 2009 zum Beispiel dieJugendarbeitslosigkeit in Deutschland trotz der Kriseverringert hat.Ich denke, es existiert aufgrund des Ausbildungspaktes,den wir in Deutschland vereinbart haben, der insgesamtgute Konsens zwischen Wirtschaft und allen beteiligtenPartnern, dass es eine wichtige gesamtgesellschaftlicheAufgabe ist, Jugendlichen Ausbildungsplätze zur Verfü-gung zu stellen. Wenn Einzelne, wie Sie es eben ange-sprochen haben, sozusagen um Ausreden ringen, warumsie keine Ausbildungsplätze schaffen können, ist dasbetrüblich. Ich habe nicht den Eindruck, dass der DIHK– Sie haben ihn genannt – und andere große Verbände,die im Ausbildungspakt mit uns eng zusammenarbeiten,das tun.Es ist unsere Aufgabe, individuell zu schauen, welcheverschiedenen Hindernisse es gibt, dass Jugendliche ver-geblich einen Ausbildungsplatz suchen, obwohl es nochoffene Stellen gibt. Die Frage ist: Wie können wir dieseLücke schließen? Hier tritt zum einen das Problem auf,dass es Jugendliche gibt, die eine mangelnde Ausbil-dungsreife haben. Ein anderes Problem sind regionaleoder andere Mobilitätsfaktoren. Ein drittes Problem habeich schon angesprochen. Es gibt also verschiedene Vari-anten. Ich denke, es wird dem wichtigen Anliegen, Aus-bildungsplätze zu schaffen, nicht gerecht, bei diesemThema eine Monokausalisierung vorzunehmen.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 36. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. April 2010 3441
(C)
(B)
Ihre Zusatzfrage, bitte.
Herr Staatssekretär, bei der Frage, ob hier tatsächlich
verallgemeinert wird, wäre ich zurückhaltend. Der
DIHK hat, wenn ich das richtig mitbekommen habe,
diese Zahlen an uns alle versandt. Der Hauptgeschäfts-
führer hat das in der Presse entsprechend gewürdigt. Das
ist ein erster Punkt, der feststeht. Der Präsident des Zen-
tralverbands des Deutschen Handwerks, Otto Kentzler,
hat dies nicht getan. Er hat gesagt, dass die Vorausset-
zungen der Auszubildenden heute im Wesentlichen nicht
schlechter als früher bzw. teilweise genauso gut wie frü-
her sind. Beide arbeiten nach meinem Kenntnisstand als
Mitglieder des Komitees am Ausbildungspakt mit.
Meine Frage ist: Sind Sie bereit, im Zusammenhang
mit dem Ausbildungspakt intensiv über die unterschied-
lichen Auffassungen hinsichtlich der Beurteilung von
jungen Leuten zu debattieren? Können Sie, wenn Sie
meine Einschätzung teilen – man kann nicht allein die
jungen Menschen dafür verantwortlich machen, wenn es
nicht genügend Ausbildungsplätze gibt –, dies themati-
sieren? Können Sie mit den Verbänden überlegen, wie
man zusätzliche und bessere Maßnahmen – von der alten
Regierung und von Ihrem Hause wurden schon Maßnah-
men angestoßen – verstärkt auf den Weg bringen kann,
damit die jungen Leute nicht mit solch einer negativen
Zuschreibung versehen werden?
D
Sehr geehrter Herr Brase, um es deutlich zu sagen:
Die Bundesregierung wird sich gegen die einseitige ne-
gative Zuschreibung verwahren, nach der allein die man-
gelnde Qualifikation der Jugendlichen Ursache dafür ist,
dass nicht genügend Ausbildungsplätze gewonnen wer-
den können. Wir haben allerdings nicht den Eindruck,
dass Sie die Positionen, die Sie angesprochen haben,
vollinhaltlich wiedergegeben haben. Beim Ausbildungs-
pakt hat sich aber mehrfach offenbart, dass es bei der
Bewertung des Problems – offene Stellen auf der einen
Seite, Ausbildungsplatzsuchende auf der anderen Seite –
unterschiedliche Schwerpunktsetzungen gibt.
Die Bundesregierung wirbt dafür, sich im Interesse
einer entspannten und sachorientierten gesamtgesell-
schaftlichen Diskussion im Vorfeld des nächsten Ausbil-
dungspakts allen drei Ursachen zu widmen, anstatt sie
im Sinne einer Schwerpunktsetzung zu gewichten. Es
geht darum, an allen drei Punkten zu arbeiten. Ich denke,
das wird der Ausbildungspakt auch dieses Mal tun, um
der Situation der Jugendlichen gerecht zu werden. Der
Ausbildungspakt ist in der Vergangenheit in der Tat im-
mer sehr erfolgreich gewesen, und zwar in Zusammenar-
beit mit den Beteiligten, die Sie hier angesprochen ha-
ben.
Ich rufe auf die Frage 15 der Kollegin Alpers:
Wann will die Bundesregierung den Berufsbildungsbericht
2010, der bereits vor einiger Zeit von den Autorinnen und Au-
toren vorgelegt und über den bereits Anfang März 2010 in den
stellen, und mit welchen Akteuren wie etwa Lobbyvertreterin-
nen oder -vertretern bzw. Vertreterinnen oder Vertretern von
Verbänden steht sie in Bezug auf die Freigabe des Berichtes in
Kontakt?
Bitte, Herr Staatssekretär.
D
Sehr geehrte Frau Kollegin Alpers, der Entwurf des
Berufsbildungsberichts ist der Bundesregierung zuge-
gangen. Derzeit ist es beabsichtigt, ihn in der Kabinetts-
sitzung am 28. April 2010 zu beraten. Wenn er dort ver-
abschiedet wird, wird er dem Bundestag und dem
Bundesrat unmittelbar zugeleitet und zeitgleich auf der
Homepage des Bundesministeriums für Bildung und
Forschung online gestellt.
Frau Kollegin, Ihre Zusatzfrage.
Herr Staatssekretär, es wundert mich, dass seit sechs
Wochen über einen unveröffentlichten Bericht gespro-
chen wird. Als ausbildungspolitische Sprecherin erhalte
ich von der Presse, von Verbänden usw. Nachfragen.
Wie kann es sein, dass die festgesetzte Frist für die Ver-
öffentlichung des Berichts – nämlich die Sitzung am
Freitag – nicht eingehalten wird, dass wir die Unterlagen
nicht rechtzeitig erhalten, obwohl die Öffentlichkeit
schon seit dem 3. März über den Vorabentwurf disku-
tiert? Es gibt offenbar ein Missverständnis in der berufs-
politischen Debatte. Ich frage mich, woran es liegt und
welche Ergebnisse vorliegen.
D
Sehr geehrte Frau Kollegin, dieses Missverständnis
kann man aufklären. Im Rahmen der Erstellung des Be-
rufsbildungsberichtes gibt es verschiedene Ausschüsse,
die sich mit dem Entwurf beschäftigen und Stellung-
nahmen abgeben. Diese Stellungnahmen sind Teil des
Berufsbildungsberichts. Sofern Personen in dieses Gre-
mium berufen sind, haben sie den Entwurf zwecks Er-
stellung einer Stellungnahme erhalten. Erst wenn der
Entwurf seitens des BIBB fertiggestellt ist, wird er uns
zugeleitet und von uns nach der Ressortabstimmung im
Kabinett beschlossen. Dann wird er dem Bundestag zur
Verfügung gestellt. Die Personen, die in dem Gremium
für die Erstellung des Berichts sowie für andere Aufga-
ben zuständig sind, gehören keinen Verbänden an.
Herr Braun, habe ich es richtig verstanden, dass Sie inkeinerlei Verbindung zu Verbänden stehen? Sie stehenbezüglich der Freigabe des Berichts auch nicht mit denentsprechenden Stellen in Kontakt, stimmt das?
Metadaten/Kopzeile:
3442 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 36. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. April 2010
(C)
(B)
D
Nach der Zuleitung wird die Bundesregierung im
Rahmen ihrer eigenen Kompetenzen, aber auch ihrer ei-
genen Ressorts eine Abstimmung herbeiführen, darüber
hinaus nicht.
Ich rufe die Frage 16 der Kollegin Agnes Alpers auf:
Teilt die Bundesregierung die von der Gruppe der Arbeit-
geberinnen und Arbeitgeber im Hauptausschuss des Bundes-
instituts für Berusbildung, BIBB, in ihrer Stellungnahme zum
begründen –, dass der Berufsbildungsbericht auf die Angabe
einer sogenannten Erweiterten Angebots-Nachfrage-Relation
auf dem Ausbildungsmarkt verzichten sollte?
D
Sehr geehrte Frau Kollegin Alpers, Sie wollen wis-
sen, ob es auch in Zukunft im Rahmen des Berichtes die
Erweiterte Angebots-Nachfrage-Relation gibt. Ich kann
Ihnen das bejahen. Die Bundesregierung beabsichtigt,
diesen Indikator auch in Zukunft zu erheben.
Es gibt keine weitere Zusatzfrage.
Dann sind wir am Ende dieses Geschäftsbereichs. Ich
bedanke mich bei den Kollegen, die für die Bundesregie-
rung geantwortet haben.
Ich rufe den Geschäftsbereich des Bundesministe-
riums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-
lung auf. Zur Beantwortung der Fragen steht die Parla-
mentarische Staatssekretärin Frau Kopp zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 17 des Kollegen Lischka auf:
Wie soll die vom Bundesminister Dirk Niebel beabsich-
tigte „Verzahnung“ von Bundeswehr und Entwicklungshilfe
konkret umgesetzt werden, insbesondere hinsichtlich des Ab-
schlusses von Vereinbarungen mit Hilfsorganisationen und
Vorgaben durch die Bundeswehr unter anderem?
Gu
Vielen Dank, Herr Präsident! – Die Entwicklung in
den Bereichen Sicherheit, Regierungsführung und zivi-
ler Aufbau steht in Afghanistan in einem Wechselver-
hältnis. Die deshalb angestrebte bessere Verzahnung des
zivilen und militärischen Engagements Deutschlands er-
folgt über eine intensive Abstimmung zwischen den zi-
vilen und den militärischen Akteuren. Die Koordination
der zivilen Beiträge der Bundesregierung, die teils über
staatliche und teils über nichtstaatliche Durchführungs-
organisationen umgesetzt werden, erfolgt über die Ver-
treter der zivilen Ressorts vor Ort. Die Abstimmung zwi-
schen den zivilen Ressortvertretern und der Bundeswehr
erfolgt im Rahmen des vernetzten Ansatzes und gemäß
den jeweiligen Zuständigkeiten.
Die Bundesregierung stärkt das zivilgesellschaftliche
Engagement in Afghanistan mit zusätzlich bereitgestellten
Mitteln in Höhe von 10 Millionen Euro im Jahr 2010,
die über den aktuellen Haushalt des Bundesministeriums
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
bereitgestellt werden. Diese Mittel sollen entwicklungs-
politischen Maßnahmen deutscher Nichtregierungsorga-
nisationen insbesondere in der Schwerpunktregion des
deutschen Engagements in Nordafghanistan zugutekom-
men.
Frau Staatssekretärin, zu der von Ihnen angesproche-
nen Verzahnung zwischen der Bundeswehr im Norden
und deutscher Entwicklungshilfe. Bedeutet das, dass
künftig Entwicklungshilfegelder in erster Linie nur noch
in den Norden Afghanistans fließen?
Gu
Nein, sehr geehrter Herr Kollege Lischka, das bedeu-
tet es nicht. Die Bundesregierung ist der Auffassung,
dass Sicherheit die grundsätzliche Voraussetzung für den
zivilen Aufbau ist. Ohne Sicherheit kein Aufbau. Eine
relative Sicherheit gibt es im Norden des Landes, wo wir
die Bundeswehr stationiert haben. Dort sehen wir in al-
lererster Linie die Möglichkeit, den zivilen Aufbau zu
verstärken. Aber wir beschränken uns nicht nur auf den
Norden, sondern es gibt auch Projekte zum Beispiel im
Süden und im Grenzbereich zu Pakistan.
Haben Sie eine weitere Zusatzfrage?
Das ist gut zu hören. Meine Zusatzfrage lautet: Sind
Ihnen Zahlen bekannt, die besagen, wie viele deutsche
Hilfsorganisationen derzeit in Afghanistan tätig sind und
wie viele von ihnen eine Förderung durch Bundesmittel
erhalten?
Gu
Die Anzahl der in Afghanistan tätigen Organisationenhabe ich nicht präsent. Ich kann Ihnen aber Zahlen nen-nen, die bereits Ihre nächste Frage betreffen: Im Jahre2009 wurden 2,3 Millionen Euro der vom BMZ bereit-gestellten Mittel in Höhe von 252 Millionen Euro sowie6,1 Millionen Euro der vom Auswärtigen Amt bereitge-stellten rund 108 Millionen Euro aus dem Stabilitätspaktden deutschen Nichtregierungsorganisationen zur Verfü-gung gestellt.Es handelt sich um einen kleinen Betrag, wenn manbedenkt, dass das Gros der zivilen Beiträge der Bundes-regierung für Afghanistan über die staatlichen Durchfüh-rungsorganisationen finanziert und durchgeführt wird.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 36. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 21. April 2010 3443
Parl. Staatssekretärin Gudrun Kopp
(C)
(B)
Es liegt in der Entscheidung der zivilen Organisationen,sich um diese Mittel zu bewerben. Das impliziert natür-lich folgende Frage: Wollen die privaten Durchführungs-organisationen diese Projekte unter Begleitung der Bun-deswehr als Sicherheitsfaktor durchführen? Ich denke,dass das ein guter Ansatz ist. Die Bundesregierung legtWert darauf, im neuen Afghanistankonzept einenSchwerpunkt auf den zivilen Aufbau zu legen. Das istdurch die Verdoppelung der Mittel zum Ausdruck ge-kommen. Wir befinden uns jetzt in der Phase der Umset-zung und sind zuversichtlich, dass sie erfolgreich seinwird.
Wenn Sie sich beeilen, Frau Kopp, haben Sie jetzt
noch 40 Sekunden für die Beantwortung der Frage 18
des Kollegen Lischka.
Gu
Gerne.
Dann rufe ich jetzt die Frage 18 des Kollegen Lischka
auf:
Wie will die Bundesregierung für einen vollständigen Mit-
telabfluss der auf 430 Millionen Euro aufgestockten Gelder
für den zivilen Wiederaufbau sorgen, vorausgesetzt, die in
Afghanistan tätigen Hilfsorganisationen bleiben bei ihrer Ab-
lehnung einer derartigen Verzahnung?
Gu
Vielen Dank, Herr Präsident. – Diese Frage habe ich
eben zum Teil bereits beantwortet. Ich möchte noch er-
gänzen, dass die Bundesregierung davon ausgeht, dass
weiterhin zahlreiche deutsche Nichtregierungsorganisa-
tionen Projekte in Nordafghanistan umsetzen wollen.
Die Bundesregierung beabsichtigt daher, diese mit zu-
sätzlichen Mitteln zu unterstützen.
Wir sind damit am Ende der Fragestunde und damit
auch am Schluss der heutigen Tagesordnung angelangt.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Donnerstag, den 22. April 2010,
9 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen und inte-
ressanten Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.