Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz, liebe
Kolleginnen und Kollegen.
– Dafür bin ich nicht zuständig, Frau Enkelmann. Die
Fraktionen bestimmen selbst, inwieweit sie ihr Recht, an
einer Plenarsitzung des Bundestages teilzunehmen,
wahrnehmen.
Interfraktionell ist vereinbart worden, dass die unter
Tagesordnungspunkt 1 vorgesehene Befragung der Bun-
desregierung entfallen soll. Die zur Beratung am morgi-
gen Mittwoch vorgesehenen Tagesordnungspunkte 5
und 6 sollen heute beraten werden. Sie werden nach der
Aktuellen Stunde aufgerufen. Von der Frist für den Be-
ginn der Beratung soll, soweit erforderlich, abgewichen
werden. Sind Sie damit einverstanden? – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Fragestunde
Rede
– Drucksachen 17/633, 17/645 –
Zu Beginn der Fragestunde rufe ich gemäß Nr. 10
Abs. 2 der Richtlinien für die Fragestunde die dringliche
Frage auf Drucksache 17/645 auf.
Es geht um den Geschäftsbereich des Bundesministe-
riums für Gesundheit. Zur Beantwortung steht die Parla-
mentarische Staatssekretärin Annette Widmann-Mauz
zur Verfügung.
Ich rufe die dringliche Frage 1 der Kollegin Kathrin
Vogler auf:
Wie bewertet die Bundesregierung die ak
gen zu Engpässen bei zwei Impfstoffen für K
che Maßnahmen plant sie, um für dieses aku
hilfe zu schaffen?
Frau Staatssekretärin, Sie haben das Wort.
zung
n 9. Februar 2010
5.00 Uhr
A
Frau Präsidentin! Frau Abgeordnete Vogler, die aktuelle
Meldung auf der Homepage des Paul-Ehrlich-Instituts
besagt, dass – nach neuesten Informationen des Unter-
nehmens GlaxoSmithKline vom 8. Februar – der Sechs-
fachimpfstoff Infanrix Hexa ab Montag, dem
15. Februar, wieder lieferbar ist. Es handelt sich um rund
200 000 Impfstoffdosen, die etwa einem Monatsbedarf
des Sechsfachimpfstoffs entsprechen. Des Weiteren
wurde vom Paul-Ehrlich-Institut heute Mittag telefo-
nisch mitgeteilt, dass heute Vormittag eine weitere
Charge des Sechsfachimpfstoffs mit circa 215 000 Do-
sen freigegeben wurde, die dem Markt voraussichtlich
eine Woche später zur Verfügung stehen.
Die bislang nicht lieferbaren Impfstoffe sind jedoch
keineswegs so alternativlos, wie sich das in der Presse
derzeit darstellt. Der gleiche Impferfolg kann auch mit
anderen Impfstoffen in Kombination erreicht werden;
die Kinder müssen jedoch mehrfach geimpft werden.
Das war im Übrigen bis 1998 Standard, nämlich vor Be-
ginn der Zulassung von Fünf- und Sechsfachimpfstof-
fen.
Informationen zur Verfügbarkeit einiger Alternativ-
produkte – auch von anderen Impfstoffherstellern als
text
GlaxoSmithKline – werden auf der Homepage des Paul-
Ehrlich-Instituts schnellstmöglich bekannt gegeben. Sie
werden fortlaufend aktualisiert. Das Paul-Ehrlich-Insti-
tut steht zudem mit den Herstellern in Kontakt, die zuge-
sagt haben, weitere Impfstoffe nachzuliefern.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Es geht um dieaktuellen Meldungen in der Presse. Mir und auch vielen sich die Frage: Inwieweit sind die Bundes- die Landesregierungen mit ihren Bestel-mpfstoffes gegen die Schweinegrippe fürlen Engpass mitverantwortlich? Inwieweittuellen Meldun-inder, und wel-te Problem Ab-anderen stelltregierung undlungen des Idiesen aktuelwurde im Vorfeld der Massenbestellung von 50 Millio-
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1820 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. Februar 2010
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Kathrin Voglernen Dosen bei GlaxoSmithKline überhaupt in Betrachtgezogen, welche Auswirkungen das auf die Produktionvon anderen Standardimpfstoffen hat?A
Frau Abgeordnete, die Behauptung der Presse, dass
die Produktion des Pandemieimpfstoffs für den Ausfall
der Kinderimpfstoffe verantwortlich sein soll, kann nach
Ansicht des Paul-Ehrlich-Instituts so nicht nachvollzo-
gen werden. Es scheinen mehrere weitere Ursachen zum
Lieferengpass beigetragen zu haben, unter anderem eine
Umstellung von Sicherheits- und Qualitätskontrollen.
Dies wäre durch die Vertragsgestaltung im Vorfeld über-
haupt nicht beeinflussbar gewesen.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
So richtig beantwortet, finde ich, ist diese Frage damit
noch nicht.
Ich habe trotzdem noch eine weitere Nachfrage: In-
wieweit ist die Bundesregierung darüber informiert, in
welchem Maße wirtschaftliche und nicht medizinpoliti-
sche Erwägungen der Firma GlaxoSmithKline dazu bei-
getragen haben, sich voll und ganz auf die Produktion
eines Pandemieimpfstoffs für die sogenannte Schweine-
grippe zu konzentrieren? Vor dem Hintergrund der Tat-
sache, dass die Standardimpfstoffe nach einer Grundim-
munisierung in der Regel nur alle zehn Jahre neu
gegeben werden müssen, ist davon auszugehen, dass es
sehr viel lukrativer ist, wenn man einen Impfstoff ent-
wickelt, mit dem jedes Jahr neu geimpft werden muss.
Ich wüsste gerne, ob die Bundesregierung eine Position
bezüglich der Frage hat, wie man mit einer solchen Prio-
ritätensetzung in der Industrie künftig so umgehen kann,
dass derartige Engpässe bei Standardimpfstoffen nicht
mehr vorkommen.
A
Der Bundesregierung liegen keine Anhaltspunkte
über wirtschaftliche oder betriebswirtschaftliche Erwä-
gungen der Herstellerunternehmen vor. Im Übrigen
weise ich darauf hin, dass die Entwicklung eines Impf-
stoffes ein hochkomplexer biologischer Vorgang ist, der
immer gewissen Schwankungen in der Produktion unter-
worfen ist. Das gilt auch für die Produktion von solchen
Mehrfachimpfstoffen.
Zu einer Nachfrage hat die Kollegin Bunge das Wort.
Frau
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Womit denn dann? Ist der Win-
ter schuld oder was? Sie sagen jetzt, dass Sicherheits-
überprüfungen stattgefunden haben. Gibt es ähnliche Er-
scheinungen bei der Belieferung in anderen Ländern
innerhalb oder außerhalb der EU, bei denen Sie den
Überblick haben, oder betrifft das nur Deutschland?
A
Nach unserer Information betrifft das auch die Länder
Belgien und Italien. Lieferengpässe können bei der Pro-
duktion von Impfstoffen auftreten. Solche Liefereng-
pässe kommen auch bei anderen Impfstoffen unter dem
Jahr immer wieder einmal vor und werden dann auch ge-
meldet.
Danke, Frau Staatssekretärin. – Nachdem die dringli-
che Frage aufgerufen und beantwortet worden ist, rufe
ich jetzt die Fragen auf Drucksache 17/633 in der übli-
chen Reihenfolge auf.
Wir beginnen beim Geschäftsbereich des Bundesmi-
nisteriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.
Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische
Staatssekretär Dr. Hermann Kues zur Verfügung.
Die Fragen 1 und 2 der Kollegin Jelpke werden
schriftlich beantwortet.
Wir kommen zu den Fragen 3 bis 8. Sie befassen sich
alle mit den Pilotprojekten gegen Linksextremismus und
Islamismus.
Ich rufe die Frage 3 der Kollegin Cornelia Möhring
auf:
Welche beispielhaften Träger hat die Bundesregierung im
Auge, die sie für eine Beteiligung an den Pilotprojekten gegen
Linksextremismus und Islamismus gerne gewinnen würde?
Bitte, Herr Staatssekretär.
D
Frau Präsidentin, ich bitte darum, die Fragen 3 und 4
zusammen beantworten zu dürfen.
Dann rufe ich auch die Frage 4 der Kollegin Cornelia
Möhring auf:
Liegen der Bundesregierung belastbare Erkenntnisse für
den Bedarf an Projekten gegen Linksextremismus vor, und wo
ist dieser Bedarf bisher dokumentiert?
Dr
Zur Vorbereitung der beiden Pilotprojekte gegenLinksextremismus und Islamismus, die im Laufe diesesJahres gestartet werden sollen, ist zunächst eine Sondie-rungsphase vorgesehen. In dieser Phase werden möglicheForschungsthemen, Forschungsfelder, Vorgehensweisen,Zielgruppen sowie Trägerstrukturen identifiziert. Hierbeiwerden auch bereits vorliegende wissenschaftliche undbehördliche Erkenntnisse zur Ideologie, zur Entwicklungund zur Struktur des Linksextremismus sowie des Isla-
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Parl. Staatssekretär Dr. Hermann Kuesmismus einbezogen. Mit staatlichen und nichtstaatlichenAkteuren des Bundes, der Länder und der Kommunen,zum Beispiel mit Berlin und Hamburg, werden Fragender praktischen Prävention von Islamismus und Links-extremismus erörtert.Das Ziel ist es, im zweiten Quartal 2010 Ideen fürForschung, Expertisen und Modellprojekte zu entwi-ckeln und zu realisieren. Im Rahmen dieser Sondie-rungsphase werden Träger angesprochen, die die Bun-desregierung für eine Beteiligung an den Pilotprojektengewinnen möchte. Die Verfassungsschutzberichte desBundes und der Länder, die in diesem Zusammenhangveröffentlichten Zahlen zur politisch motivierten Krimi-nalität, aber auch die Aussagen des Berliner Innensena-tors und der Leiterin des Berliner Verfassungsschutzesund die von ihnen am 11. November 2009 vorgestellteStudie Linke Gewalt in Berlin belegen, dass es nebendem Rechtsextremismus auch linksextremistische Ten-denzen gibt, die undemokratisch sind und Menschen-rechte verletzen. Diese müssen beobachtet werden, undauf sie muss reagiert werden. Der Staat darf sich unsererAuffassung nach auf solche Bestrebungen nicht nur mitMitteln der Strafverfolgung einlassen, sondern er mussdiese auch präventiv und nachhaltig bekämpfen. Das istder Ansatz von Aktivitäten im Bereich des Jugendminis-teriums.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Danke, Herr Dr. Kues. – Wenn ich Sie richtig verstan-
den habe, wird die Bundesregierung direkt Träger an-
sprechen, die diese Modellprojekte mit durchführen sol-
len. Ich würde gerne von Ihnen wissen, welche Träger
Sie ins Auge gefasst haben.
D
Wir sind im Moment noch nicht so weit. Ich habe ja
gesagt, dass wir uns noch in der Sondierungsphase be-
finden. Das ist ein neuer Ansatz, eine neue Entwicklung.
Wir führen verschiedene Gespräche. Wir gehen davon
aus, dass wir dann in der Lage sind, sowohl die Frage-
stellungen, die angegangen werden können und müssen,
zu identifizieren als auch Trägerstrukturen auszuma-
chen, die dafür infrage kommen. Wir werden dabei alle
Informationen, die ich eben beschrieben habe, natürlich
auch die vom Verfassungsschutz – ich habe ja auf die
Studie Linke Gewalt in Berlin hingewiesen –, zugrunde
legen.
Wir gehen davon aus, dass wir einen eigenen Ansatz
finden. Ich glaube, dass jede Form von Extremismus ge-
sondert betrachtet werden muss; denn die Ursachen sind
unterschiedlich. Insofern müssen auch die Ansätze un-
terschiedlich sein. Das ist ein neuer Weg, den wir dort
gehen. Daher brauchen wir eine gewisse Vorbereitungs-
zeit.
Sie haben das Wort zu einer zweiten Nachfrage.
Ich gehe einmal davon aus, dass Sie Ihre Planungen
nicht nur auf die Berliner Studie beziehen. Daher würde
ich gerne von Ihnen wissen, wo Sie in der Auseinander-
setzung mit dem Linksextremismus Schwerpunktregio-
nen sehen.
D
Das kann ich jetzt nicht im Einzelnen darstellen,
weil wir dabei sind, dies zunächst zu erfassen. Berlin ist
sicherlich eine Stadt, über die man reden muss.
Der Berliner Senat sagt dies ausdrücklich. Er hat ja auch
deswegen eine Studie in Auftrag gegeben. Von daher ist
es sinnvoll, dort anzuknüpfen und sich dann Gedanken
zu machen, wie man damit umzugehen hat.
Zu einer weiteren Nachfrage hat nun der Kollege
Volker Beck das Wort.
Ursprünglich wollte ich gar nichts fragen, aber IhreAntworten haben mich stutzig gemacht. Ich habe denEindruck, das funktioniert nach dem Motto: Wir hättenda gerne einmal ein Problem.
Sie wissen nicht, wo die besondere Belastung ist, alsowo Sie eine Notwendigkeit, einen Bedarf für Projektesehen. Es ist ja nicht so, dass wir uns nicht einig sind,dass gewalttätiger Extremismus von allen hier im Hauseabgelehnt werden muss. Die Geschichte der Programmegegen den Rechtsextremismus geht ja darauf zurück,dass Gruppen in der Gesellschaft regelmäßig Opfer vonfremdenfeindlicher Gewalt, homophober Gewalt oderantisemitischer Gewalt wurden. Um die Opfer sichererzu machen, hat man gesagt, dass man Strategien undProgramme dagegen entwickeln muss. Können Sie mirsagen, welche Personenkreise besonders gefährdet sind,Opfer gruppenbezogener Gewalt linker Gruppen zu wer-den,
oder ist die Problemlage so grundverschieden, dass mansich vielleicht die Frage stellen muss, ob der neue An-
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Volker Beck
satz des Hauses angesichts der unterschiedlichen For-men von Extremismus überhaupt sachgerecht ist?D
Zunächst einmal ist es gut, dass Sie gesagt haben,
dass wir uns hinsichtlich der Notwendigkeit der Be-
kämpfung von Extremismus jeglicher Art einig sind. Ich
habe Ihnen auch zwei Standorte genannt, die ausweislich
dieser Studie, die ich eben erwähnt habe, aber auch aus-
weislich der Berichte des Verfassungsschutzes und von
Polizeiorganisationen offenkundig Zentren linksextre-
mistischer Gewalt sind. Wir werden uns damit auseinan-
derzusetzen haben, und wir werden dann zu überlegen
haben, wie wir damit umgehen.
Ich sage noch einmal ausdrücklich: Wir sind nicht für
die Sicherheitspolitik zuständig – das ist Aufgabe der In-
nenminister und der Innensenatoren –, sondern für die
Entwicklung pädagogisch-präventiver Konzepte; diese
müssen genau überlegt werden.
Ich bestreite allerdings nicht, dass auch andere Formen
des Extremismus existieren, allerdings mit anderen Ur-
sachen und Begründungen, die ebenfalls eine Herausfor-
derung darstellen; darüber haben wir bereits verschie-
dentlich gesprochen.
Da die Fragen 3 und 4 im Zusammenhang beantwor-
tet wurden, hat die Kollegin Möhring die Möglichkeit,
zwei weitere Nachfragen zu stellen. – Kollegin Möhring,
bitte.
Vielen Dank. – Da ich davon ausgehe, dass sich die
Bundesregierung, bevor sie einen Haushaltsentwurf vor-
legt, Gedanken darüber macht, welchen Bedarf sie zu-
grunde legt, möchte ich gern von Ihnen wissen, ob Sie
von einem gleichmäßigen Bedarf an Projekten gegen
Linksextremismus, Rechtsextremismus und Islamismus
ausgehen, also von ungefähr einem Drittel für jeden Be-
reich.
Dr
Nein, davon gehen wir nicht aus.
Ihre letzte Nachfrage, wenn Sie noch eine haben.
Wovon gehen Sie aus?
Dr
Wir haben gesagt – danach haben Sie auch im Aus-
schuss schon gefragt –, dass wir zunächst zwei Projekte
auf den Weg bringen. Diese werden wir zunächst identi-
fizieren. Dann werden wir Schlussfolgerungen zu ziehen
haben. Das können wir im Fachausschuss gern im Ein-
zelnen erörtern.
Da die Fragestellerin der Fragen 5 und 6 – –
– Entschuldigung, jetzt waren Sie ein bisschen spät, Kol-
legin Dittrich. Aber ich gehe davon aus, dass Sie, da die-
ser Komplex noch weiter behandelt wird, Ihre Nachfra-
gen noch unterbekommen.
Noch einmal: Da die Fragen 5 und 6 von der Abge-
ordneten Petra Pau gestellt wurden, die erkennbar anders
beschäftigt ist, werden sie schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 7 des Kollegen Jörn Wunderlich
auf:
In welcher Form und bis wann sollen die angekündigten
Pilotprojekte gegen Linksextremismus und Islamismus ausge-
schrieben werden?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Dr
Frau Präsidentin, ich würde die Fragen 7 und 8 gerne
im Zusammenhang beantworten.
Dann rufe ich auch die Frage 8 des Kollegen Jörn
Wunderlich auf:
Werden sich Vereine, Initiativen etc. für die angekündigten
Pilotprojekte gegen Linksextremismus und Islamismus be-
werben können, oder sollen vor allem staatliche Träger ange-
sprochen werden?
Dr
Übrigens würde ich auch der Präsidentin eine Fragebeantworten, wenn sie sie stellen würde. Aber ichglaube, das geht im Hinblick auf den parlamentarischenAblauf nicht.
Kollege Wunderlich, einige Inhalte meiner Antwortergeben sich aus dem, was ich bereits gesagt habe. Ichwill Ihre Fragen trotzdem wie folgt beantworten: Wirsind in der Tat dabei, im ersten Quartal dieses Jahresmögliche Felder, Vorgehensweisen, Zielgruppen undTrägerstrukturen zu identifizieren; das gilt hier in glei-cher Weise. Wir werden dabei alle Erkenntnisse, die be-reits vorliegen, einbeziehen: wissenschaftliche Untersu-
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Parl. Staatssekretär Dr. Hermann Kueschungen, das, was Behörden zusammengetragen haben,und die Erkenntnisse zur Entwicklung der Ideologie undzur Struktur des Linksextremismus sowie des Islamis-mus. Dann werden wir mit staatlichen und nichtstaatli-chen Akteuren von Bund, Ländern und Kommunen dieFragen der praktischen Prävention von Islamismus undLinksextremismus erörtern.Das Ziel ist nach wie vor, im zweiten Quartal 2010Ideen für Forschung, Expertisen und Modellprojekte zuentwickeln und zu realisieren. Im Rahmen dieser Son-dierungsphase werden wir auch festzulegen haben, wannund in welcher Form ein Auswahlverfahren durchge-führt wird. Das hängt auch von der jeweiligen Nachfrageund davon ab, was als vernünftig angesehen wird. Da-rüber kann zu gegebener Zeit im Einzelnen informiertwerden.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Herr Dr. Kues, schönen Dank erst einmal. – Da Sie
von Modell- oder Pilotprojekten sprachen und ich die
Argumentation Ihres Ministeriums im Hinblick auf Mo-
dell- und Pilotprojekte kenne, frage ich Sie: Wurde
schon darüber nachgedacht, wie lange diese Modell-
oder Pilotprojekte laufen sollen und wie die regionale
Verteilung ausgestaltet werden soll?
Dr
Da es sich nach Auskunft des Ministeriums bis jetzt
um zwei Projekte handelt, ist die Frage nach der regiona-
len Verteilung relativ einfach zu beantworten. Ich habe
eben zwei regionale Schwerpunkte genannt. Ob man im
Verlauf des Verfahrens weitere Erkenntnisse gewinnt,
bleibt abzuwarten.
Über den Zeitraum haben wir schon heute Nachmit-
tag im Ausschuss diskutiert. Diese Projekte sind immer
zeitlich befristet, in der Regel auf maximal fünf Jahre.
Die Befristung wird man im Einzelfall zu prüfen haben,
je nachdem, was notwendig ist. Auf jeden Fall sind sie
befristet. Es handelt sich nicht automatisch um eine Dau-
erförderung. Im Übrigen gilt auch für alle anderen Pro-
gramme gegen Extremismus, dass sie immer wieder eva-
luiert werden. Das tun wir auch bei den Projekten gegen
Rechtsextremismus, Antisemitismus und Fremdenfeind-
lichkeit. Hierzu gibt es ausführliche Studien von Fach-
leuten, deren Ergebnisse dazu geführt haben, dass wir
unsere Strategie in diesem Bereich völlig geändert ha-
ben.
Wir sagen: Wir müssen die Länder und die Kommu-
nen einbeziehen, weil es keinen Sinn macht, über die
ganze Bundesrepublik verstreut einzelne Projekte iso-
liert zu fördern. Wir müssen die lokale Ebene einbezie-
hen; das ist ganz wichtig. Insofern gilt generell für alle
Programme, dass sie ausgewertet werden müssen.
Im Übrigen will ich noch sagen: Sie wissen – Sie ken-
nen sich da ja aus –, wie der Kinder- und Jugendplan ge-
staltet ist, wie Verbandsjugendarbeit und politische Bil-
dungsarbeit gefördert werden. Das sind letztlich alles
Maßnahmen für Vielfalt, Toleranz und Demokratie und
damit gegen Extremismus und Fremdenfeindlichkeit.
Ihre zweite Nachfrage.
Wo die Mittel ja zum Teil gekürzt werden. – Sie sa-
gen, dass es im zweiten Quartal losgehen soll. Das
zweite Quartal beginnt am 1. April. Von wie vielen Ein-
zelprojekten geht die Regierung, das Ministerium gegen-
wärtig aus?
Dr
Ich habe nicht gesagt, dass es im zweiten Quartal los-
gehen soll, sondern ich habe gesagt, dass wir dann iden-
tifizieren wollen. Danach, hoffen wir, können wir die
Projekte irgendwann benennen. Wann es losgehen wird,
wird sich zeigen. Ich gehe davon aus, dass wir nach un-
gefähr einem halben Jahr so weit sein werden, sagen zu
können, um welche Projekte es sich handelt. Dann wird
auch feststehen, wann sie im Einzelnen beginnen.
Eine weitere Nachfrage?
Sie sprachen von zwei Schwerpunkten. Gehen Sie
von weiteren Schwerpunkten in Deutschland aus, wo
Linksextremismus, wie er sich nach Ihrer Überzeugung
darstellt, vorhanden ist?
Dr
Sie können die Berichte des Verfassungsschutzes le-
sen. Wir richten uns zunächst einmal auf Berlin und
Hamburg aus, weil wir da konkrete Anhaltspunkte ha-
ben.
Eine weitere Nachfrage? – Nein.
Dann hat die Kollegin Dittrich zu einer Nachfrage das
Wort. – Sie hat inzwischen verzichtet.
Der Kollege Liebich hat aber noch eine Frage. Bitte.
Sehr geehrter Herr Staatssekretär, Sie haben in IhrerAntwort auf die Fragen des Kollegen Wunderlich auf dieAusgaben für die Programme zur Bekämpfung des Ex-tremismus Bezug genommen. Davor haben Sie viel überdas Land Berlin gesprochen. Ist Ihnen eigentlich be-kannt, dass das Land Berlin sehr gut in der Lage ist, die
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1824 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. Februar 2010
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Stefan LiebichBekämpfung von Kriminalität – wozu das Anzündenvon Autos zweifellos gehört – selbst zu bewältigen?
Niemand im Land Berlin – schon gar nicht die zustän-dige Senatorin für Integration, Carola Bluhm – hat umpädagogische Hilfe, wie sie die Bundesregierung gerneleisten möchte, gebeten. In der Regierung des LandesBerlin herrscht vielmehr die große Sorge vor, dass diesehr wichtigen Projekte zur Bekämpfung des Rechts-extremismus gefährdet sein könnten.
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär
zur Beantwortung der Frage des Kollegen Liebich.
Dr
Ich kann zunächst einmal feststellen: Bei allen Pro-
grammen gegen Extremismus, die bisher auf Bundes-
ebene aufgelegt worden sind, ist das Land Berlin dabei
gewesen. Wir haben die Projekte immer auch mit dem
Land Berlin abgestimmt. Ich gehe davon aus, dass das
auch in diesem Fall selbstverständlich ist. Warten Sie
erst einmal ab! Der Innensenator des Landes Berlin hat
klar gesagt, dass dort Maßnahmen ergriffen werden
müssten. Wir werden uns im Einzelnen ansehen, in wel-
chem Umfang wir dort hilfreich sein können.
Ich rufe nun die Frage 9 des Kollegen Volker Beck
auf:
Welche fachlichen Kenntnisse auf dem Gebiet der Be-
der Antidiskriminierungsstelle des Bundes Martina Köppen –
in einem Artikel im Wirtschaftsmagazin brand eins wird sie
zitiert: „Mit dem deutschen Diskriminierungsgesetz hatte ich
mich bis dahin gar nicht befasst“; www.brandeins.de; Glei-
ches geht auch aus zahlreichen Presseberichten hervor:
www.handelsblatt.com; www.fr-online.de; www.taz.de – und
hat die neu ausgewählte – aber aufgrund des Beschlusses des
Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg nicht einge-
stellte – Leiterin Christine Lüders – aus der Pressemitteilung
des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und
Jugend vom 9. November 2009, www.bmfsfj.de, geht nicht
hervor, dass Christine Lüders fachliche Kenntnisse auf dem
Gebiet der Benachteiligung besitzt –, und wie – Zeitpunkt,
Person, Ausschreibung, Auswahlkriterien etc. – wird die Lei-
tung der Antidiskriminierungsstelle des Bundes nun besetzt?
Bitte, Herr Staatssekretär.
Dr
Der Kollege Volker Beck hat gefragt – ich sage daseinmal in meinen Worten –, welche fachlichen Kennt-nisse auf dem Gebiet der Benachteiligung vorhandensein müssen, um Leiterin der Antidiskriminierungsstelledes Bundes zu werden. Gleichzeitig hat er nachgefragt,welche fachlichen Kenntnisse die neu ausgewählte Lei-terin – der Vertrag der Vorgängerin war ausgelaufen –,Frau Lüders, auf dem Gebiete der Benachteiligung be-sitzt.Ich möchte jetzt nicht all das wiederholen, was imAntidiskriminierungsgesetz steht, welche Voraussetzun-gen gegeben sein müssen und was die Aufgabe der Anti-diskriminierungsstelle ist. Ich will nur einige Punktenennen: Es geht um die Beratung anderer Stellen.
Es geht um die gütliche Beilegung von Konflikten. Esgeht um Öffentlichkeitsarbeit, Verhinderung von Be-nachteiligung, Durchführung wissenschaftlicher Unter-suchungen usw.Die bisherige Leiterin war viele Jahre im Kommissa-riat der deutschen Bischöfe tätig. Es hat die Aufgabe, inpolitischen Fragen gegenüber Organen des Bundes, ge-meinsamen Einrichtungen der Länder, den Landesvertre-tungen usw., gegenüber Parteien und auf Bundesebenevertretenen gesellschaftlichen Kräften und auch interna-tional Stellung zu nehmen. Das Kommissariat hat dieAufgabe, die gesamte Entwicklung im politisch-gesell-schaftlichen Bereich zu beobachten, politische Entschei-dungen zu begleiten usw. Insofern glaube ich, wer dortarbeitet, bringt Voraussetzungen in dem umfassendenSinne mit, wie ich es eben beschrieben habe und wiedies für die Leitung der Antidiskriminierungsstelle not-wendig ist.Jetzt ist mit Frau Christine Lüders die neue Leitungder Antidiskriminierungsstelle des Bundes bestellt wor-den. Es hat – das wissen auch Sie; sonst hätten Sie wahr-scheinlich diese Frage nicht gestellt – eine gerichtlicheAuseinandersetzung gegeben, weil noch jemand anderesdiese Stelle gerne innegehabt hätte.Ich sage zur Qualifikation von Frau Lüders: Sie istExpertin für Integration, Öffentlichkeitsarbeit und Kom-munikation. Sie verfügt über langjährige Verbindungenin Politik und Wirtschaft. Sie war im Bereich der Luft-hansa tätig. Später hat sie das Referat „Presse- und Öf-fentlichkeitsarbeit, Kommunikation“ im Ministerium fürGenerationen, Familie, Frauen und Integration in Nord-rhein-Westfalen geleitet.Wir sind davon überzeugt, dass sie über Kenntnisse,Erfahrungen und Kommunikationsfähigkeit verfügt undFührungs- und Verwaltungserfahrung usw. besitzt, so-dass die fachliche Ausrichtung der ADS damit gewähr-leistet ist. Sie war schon bislang mit Benachteiligungs-fragen befasst, und sie hat praktische Erfahrungen aufdem Gebiet der Integration und Chancengleichheit. Sie
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. Februar 2010 1825
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Parl. Staatssekretär Dr. Hermann Kuesist zum Beispiel in einem Brennpunkt in Frankfurt, dervon einem hohen Migrationsanteil geprägt ist, tätig ge-wesen.Das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg hatim November 2009 die Aussage getroffen, dass die Be-setzung der Leitung dieses öffentlich-rechtlichen Amtesnicht im weiten politischen Ermessen der Bundesregie-rung steht und somit eine Auseinandersetzung mit allenetwaigen Bewerbungen erforderlich ist. Es hatte sichebenfalls eine Beschäftigte des Ministeriums um dieStelle beworben. Der Bewerbung lagen jahrelange undzum Teil gerichtliche Auseinandersetzungen zugrunde.Dieser Konflikt ist jetzt beigelegt worden, und deswegenist Frau Lüders ernannt worden.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage, Kollege
Beck.
Ich möchte zu dem nachfragen, worauf Sie eigentlich
hätten antworten sollen – das haben Sie ausschweifend
vermieden –, nämlich zu den Qualifikationen sowohl
von Frau Lüders als auch von Frau Köppen. Sie haben
mir in der letzten Sitzungswoche auf eine Frage schrift-
lich geantwortet:
Vor diesem Hintergrund benötigt die künftige Lei-
tung der ADS neben fachlichen Kenntnissen auf
dem Gebiet der Benachteiligungen ausgeprägte
Kommunikationsfähigkeit und Kenntnisse und Er-
fahrungen im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit. Um
die Arbeit der ADS den fachlichen Zielen entspre-
chend ausrichten zu können, ist außerdem eine
langjährige Führungs- und Verwaltungserfahrung
erforderlich.
Nun hat Frau Köppen – dies ist der erste Fall – frei-
mütig bekannt, dass sie über keine dieser Qualifikations-
merkmale verfügt hat. In brand eins heißt es:
Warum man ausgerechnet sie gefragt hat, kann sie
nicht erklären. Sie sagt: „Mit dem deutschen Dis-
kriminierungsgesetz
– eigentlich müsste es „Antidiskriminierungsgesetz“ hei-
ßen; aber da weiß sie ja nicht so Bescheid –
hatte ich mich bis dahin gar nicht befasst. Ich
kannte das nur auf europäischer Ebene.“
Ich vermute, sie kannte das nur aus der Zeitung.
Im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend hat sie zu dem anderen Qualifikationsmerkmal, das
Sie benannt haben, freimütig bekannt, dass sie, als sie
ihre Stelle angetreten habe, keine Erfahrung mit der
Presse gehabt habe. Das war die Begründung für ein
Presse-Coaching, verbunden mit einem sechsstelligen
bzw. fünfstelligen Betrag für den deutschen Steuerzah-
ler.
Bei dem, was Sie hier zu Frau Lüders vorgetragen ha-
ben, zeigt sich der gleiche Befund. Sie behaupten, sie sei
Integrationsexpertin. Abgesehen davon, dass man des-
halb, weil man Deutschkurse konzipiert, noch kein Ex-
perte für das Thema Benachteiligungen ist, ist die ein-
zige Qualifikation, die mir bekannt ist und die übrigens
Ihr Pressereferat gegenüber meinen Mitarbeitern bestä-
tigt hat und die auch auf der Internetseite Ihres Ministe-
riums steht, die, dass sie einmal Pressesprecherin im nord-
rhein-westfälischen Familienministerium war. Der Titel
dieses Ministeriums beinhaltet neben vielen anderen Be-
griffen das Wort „Integration“. Das macht sie aber noch
lange nicht zu einer Integrationsexpertin und schon gar
nicht zu einer Antidiskriminierungsexpertin.
Deshalb frage ich Sie: Spielen Kenntnisse im Bereich
der Antidiskriminierungsarbeit und der Antidiskriminie-
rungspolitik bei der Besetzung der Leitung der Antidis-
kriminierungsstelle des Bundes eine Rolle, und, wenn
nein, welche Qualifikationsmerkmale sind dann erheb-
lich? Denn alle von Ihnen benannten haben bei den letz-
ten beiden Besetzungen keine Rolle gespielt.
Sie haben das Wort für eine Antwort, Herr Staatsse-
kretär.
Dr
Herr Kollege Beck, da Ihre Frage lang war, antworte
ich kurz: Sie spielen eine Rolle.
Damit hat der Kollege Beck das Wort zu einer zwei-
ten Nachfrage.
Welche Qualifikation auf dem Gebiet der Benachteili-
gungen bzw. welche konkrete Erfahrung mit der Be-
kämpfung von Diskriminierung hat die neue Stelleninha-
berin tatsächlich gehabt, oder können Sie das nicht
nennen?
Dr
Ich habe Ihnen den Ansatz bezogen auf die Antidis-
kriminierungsstelle erläutert. Er ist wesentlich breiter,
als Sie das eben in Ihrer Frage zugrunde gelegt haben.
Daraus habe ich die Schlussfolgerung gezogen, dass
Frau Lüders die notwendige Qualifikation dafür hat. Sie
sollten jetzt vielleicht einmal abwarten. Wenn sie arbei-
tet, dann werden Sie sicherlich auch davon überzeugt
sein.
Zu einer weiteren Nachfrage hat der Kollege Seifertdas Wort.
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1826 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. Februar 2010
(C)
(D)
Herr Staatssekretär, da Sie sehr ausschweifend nichts
gesagt haben,
darf ich jetzt zumindest einmal die Meinung aus dem
Kreis der Betroffenen zur Kenntnis geben. Man hat den
Eindruck, dass es besonders wichtig ist, eine besondere
Nähe zur CDU zu haben, um als für diese Stelle qualifi-
ziert zu gelten.
Ich darf diesbezüglich fragen, ob es hier irgendeinen
Zusammenhang damit gibt, dass Deutschland neben der
Tschechischen Republik der einzige Staat ist, der auf der
europäischen Ebene bei der Einführung einer allgemei-
nen Antidiskriminierungsrichtlinie besonders bremst. Ist
es eine Voraussetzung für die Berufung in dieses Amt,
hier möglichst viel zu bremsen? Diesen Eindruck hat
man jedenfalls in den Gruppen, die diskriminiert wer-
den.
Dr
Herr Abgeordneter, Sie können das aus Ihrer Sicht so
sehen und so darstellen,
aber ich glaube, das ist nicht die einzige Interpretation
der Einschätzung der Betroffenen.
Ich sage ausdrücklich: Ich weiß nicht einmal, ob Frau
Lüders einer politischen Partei angehört.
Wenn sie einer politischen Partei angehört, dann darf sie
deswegen zumindest nicht benachteiligt werden. Ich
glaube, an der Stelle sind wir uns einig.
Danke, Herr Staatssekretär. Wir sind damit am Ende
Ihres Geschäftsbereichs.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Gesundheit.
Die Fragen 10 und 11 des Kollegen Harald Weinberg
werden schriftlich beantwortet.
Wir kommen damit zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.
Zur Beantwortung der Fragen steht der Parlamentarische
Staatssekretär Enak Ferlemann zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 12 der Kollegin Dr. Valerie Wilms
auf:
Wie kommt das Bundesministerium für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung in seiner Antwort auf meine schriftliche
Frage 61 auf Bundestagsdrucksache 17/494 zu der Erkennt-
nis, dass es keinerlei Hinweise auf mangelnde Objektivität
der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft PricewaterhouseCoopers
gebe, obwohl der Bundesrechnungshof festgestellt hat, dass
Interessenkonflikte nicht ausgeschlossen werden können und
dass sich außerdem verschiedene Stellen innerhalb der Wirt-
schaftsprüfungsgesellschaft gegenseitig zum wirtschaftli-
chen Vorteil beeinflussen, bevor die interne Prüfung abge-
schlossen ist?
Bitte, Herr Staatssekretär.
E
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Die Frage be-
antworte ich wie folgt: Der Bundesrechnungshof hat bei
seiner Prüfung keine Anhaltspunkte dafür gefunden,
dass es bei der von ihm dargestellten Verflechtung tat-
sächlich zu Fehlbeurteilungen oder sachfremden Erwä-
gungen zulasten des Bundes gekommen ist.
Konkrete Hinweise hat der Bundesrechnungshof in
dem Bericht an den Haushaltsausschuss des Deutschen
Bundestages nach § 88 Abs. 2 Bundeshaushaltsordnung
über die Einbindung einer Wirtschaftsprüfungsgesell-
schaft in die Schifffahrtsförderpolitik vom 29. Dezember
2009 nicht dokumentiert. Die Wirtschaftsprüfungsge-
sellschaft PricewaterhouseCoopers hat gegenüber dem
Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwick-
lung bestätigt, dass die gesetzlichen Regelungen zur
Überprüfung der Unabhängigkeit eingehalten werden
und dass insbesondere kein interner Informationsaus-
tausch stattfindet.
Derzeit wird der Bericht des Bundesrechnungshofes
durch das Bundesministerium für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung intensiv geprüft. Entsprechend den
Anmerkungen des Bundesrechnungshofes werden die
verschiedenen Varianten für die zukünftige Aufgaben-
wahrnehmung im Bereich der Förderprogramme für die
Seeschifffahrt untersucht und nach Abschluss der Prü-
fung gewertet.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Ich habe noch
eine Nachfrage: Welche Teile des Bundesministeriums
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung werden zukünf-
tig im Zusammenhang mit der Schifffahrtsförderpolitik
geprüft, wie wird diese Prüfung ausgestaltet, und wann
und in welcher Form werden der Bundestag und die Öf-
fentlichkeit über die Ergebnisse informiert?
E
Derzeit kann ich noch nicht genau sagen, wie wir dasorganisieren, weil wir noch in der Prüfung sind. Sonstkönnten wir uns die Prüfung schenken, wenn uns das Er-gebnis schon vorher bekannt wäre.Wir werden dann ausführlich gegenüber dem Bundes-rechnungshof und den zuständigen Ausschüssen dazuStellung nehmen, also etwa die Mitglieder des Verkehrs-ausschusses darüber informieren.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. Februar 2010 1827
(C)
(D)
Sie haben das Wort zu einer zweiten Nachfrage.
Vielen Dank. – Herr Staatssekretär, es laufen sicher-
lich noch weiterhin Anträge auf Schiffsbauförderung.
Wann und von wem werden die nächsten Anträge zur
Schifffahrtsförderung bearbeitet, und wann werden im
Bereich der Schifffahrtsförderpolitik die neuen Berater-
verträge vergeben?
E
Derzeit bestehen noch rechtliche Verpflichtungen.
Das heißt, 2010 gilt noch das bisherige Verfahren. Ab
1. Januar 2011 müssen wir ein neues Verfahren anwen-
den. Dazu liegen verschiedene Vorschläge vor, wie das
Verfahren künftig organisiert werden kann. Das Jahr
2010 wird noch wie bisher abgewickelt.
Die Fragen 13 und 14 des Kollegen Markus Kurth zur
Barrierefreiheit in den neuen ICx-Zügen sowie zu Pro-
grammen zur Herstellung der Barrierefreiheit von Bahn-
anlagen und Fahrzeugen werden ebenso wie die Frage 15
der Kollegin Dr. Gesine Lötzsch zur Wahrnehmung der
Kontrollpflichten im Aufsichtsrat der Deutschen Bahn
durch die Vertreter der Bundesregierung schriftlich be-
antwortet.
Ich rufe die Frage 16 der Kollegin Silvia Schmidt auf:
Wird die Bundesregierung den Grundsatz der Barrierefrei-
heit in Verkehr, Bau, Wohnungswesen und Kommunikation
mit einer Gesetzesinitiative fördern, und wie soll insbeson-
dere die umfassende Barrierefreiheit im Bereich der Liegen-
schaften und Züge der Deutschen Bahn AG gewährleistet
werden?
Bitte, Herr Staatssekretär.
E
Sehr geehrte Frau Präsidentin, ich beantworte die
Frage wie folgt: Die Herstellung von Barrierefreiheit für
Ältere sowie für behinderte und in ihrer Mobilität einge-
schränkte Menschen hat für die Bundesregierung eine
hohe Bedeutung, die vor dem Hintergrund des demogra-
fischen Wandels künftig noch wachsen wird. Die ausrei-
chende Gewährleistung von Barrierefreiheit im Ver-
kehrs-, Bau- und Wohnungswesen sowie in der
Kommunikation ist ein wichtiger Faktor für eine selbst-
bestimmte und gleichberechtigte Teilhabe am gesell-
schaftlichen Leben.
Die Herstellung der Barrierefreiheit ist ein dynami-
scher Prozess, der nur schrittweise und unter Berück-
sichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes vollzo-
gen werden kann. Da aufgrund der langen Lebensdauer
vorhandener, noch nicht barrierefrei konzipierter Infra-
struktureinrichtungen und Fahrzeuge der Nachholbedarf
nur nach und nach erfüllt werden kann, werden sukzes-
sive bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, Sys-
teme der Informationsverarbeitung und Kommunika-
tionseinrichtungen so gestaltet, dass sie für ältere,
behinderte und in ihrer Mobilität eingeschränkte Men-
schen ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich
ohne fremde Hilfe nutzbar sind.
Politische Entscheidungen, die Menschen mit Behin-
derungen direkt oder indirekt betreffen, müssen sich au-
ßerdem am Übereinkommen der Vereinten Nationen
über die Rechte von Menschen mit Behinderungen mes-
sen lassen. Zur Umsetzung des Übereinkommens wird
die Bundesregierung einen Aktionsplan entwickeln.
Die Zielbestimmung zur Barrierefreiheit im Bereich
der Eisenbahnen ist durch Art. 52 des Gesetzes zur
Gleichstellung behinderter Menschen und zur Änderung
anderer Gesetze konkretisiert worden. Der dadurch ge-
änderte § 2 Abs. 3 Eisenbahn-Bau- und Betriebsordnung
verpflichtet die Eisenbahnen, Programme für die Gestal-
tung von Bahnanlagen und Fahrzeuge mit dem Ziel zu
erstellen, eine möglichst weitreichende Barrierefreiheit
für deren Nutzung zu erreichen.
Die im Wettbewerb am Verkehrsmarkt operierenden
Eisenbahnunternehmen haben die Bedingungen für die
Herstellung der Barrierefreiheit im Einzelnen in eigener
unternehmerischer Verantwortung zu regeln und darüber
zu entscheiden, welche Art von Maßnahmen zur Herstel-
lung der Barrierefreiheit ergriffen werden und zu wel-
chem Zeitpunkt Investitionen von ihnen aufzubringen
sind.
So können die Aufwendungen für die betreffenden
Verbesserungen mit den wirtschaftlichen Belangen der
Eisenbahnen in Einklang gebracht und nach Prioritäten
geordnet werden – das sind die sogenannten Bedarfs-
schwerpunkte –, damit möglichst viele Bahnreisende
von den Verbesserungsmaßnahmen profitieren. Sofern
eine Maßnahme zur Herstellung der Barrierefreiheit in
einem Programm festgeschrieben ist, muss das betref-
fende Eisenbahnunternehmen diese verpflichtend umset-
zen. Die Verpflichtung wird aber von der zuständigen
Eisenbahnaufsichtsbehörde überwacht.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Ich habe eineNachfrage; Ihre Antwort war sehr allgemein gehalten.Ich verweise auf die Verordnung der EU über dieRechte und Pflichten der Fahrgäste im grenzüberschrei-tenden Eisenbahnverkehr. In Art. 19 dieser Verordnungwird eindeutig festgestellt, dass die Eisenbahnunterneh-men und die Bahnhofsbetreiber unter Beteiligung derVertretungsorganisationen, also nach dem Motto „Nichtsohne uns über uns“ zusammen mit den Betroffenen, dis-kriminierungsfreie Zugangsregeln zu schaffen haben.Dazu sollen entsprechende Zielvereinbarungen getroffenwerden.Meine Frage ist: Ist das bereits geschehen? Erfolgtdas nur bei der Bahn AG, oder ist der Bund involviert?Das müsste schließlich der Fall sein. Welchen Zeitplangibt es in diesem Zusammenhang?
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1828 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. Februar 2010
(C)
(D)
E
Grundsätzlich ist für die Ausgestaltung ausschließlich
die Deutsche Bahn zuständig, weil das in die Zuständig-
keit der DB Station & Service AG fällt. Natürlich bera-
ten wir als Bund mit, vor allem dann, wenn Infrastruk-
turmittel aus dem Bundeshaushalt für Baumaßnahmen
zur Verfügung gestellt werden müssen. In diesen Fällen
wird auch im Vorfeld einer solchen Maßnahme mit den
entsprechenden Verbänden und Organisationen intensiv
beraten. Das läuft sukzessive. Man kann nicht alles
gleichzeitig machen. Das kommt Projekt für Projekt
voran.
Ich habe noch eine Nachfrage. Können Sie mir einen
Zeitplan nennen? Gibt es schon eine gemeinsame Ar-
beitsgruppe mit dem Bund bei der Bahn, in der eine Ziel-
vereinbarung erarbeitet wird, wann in den nächsten zehn
Jahren eine barrierefreie Bahn entstehen soll, oder wird
darüber noch philosophiert?
E
Darüber wird nicht philosophiert, sondern daran wird
konkret gearbeitet. Aber einen konkreten Zeitplan für
alle Maßnahmen in ganz Deutschland kann es nicht ge-
ben.
Zu einer weiteren Nachfrage hat der Kollege Ilja
Seifert das Wort.
Herr Staatssekretär, mir ist nicht ganz klar, warum Sie
sagen, dass ausschließlich die DB Station & Service AG
dafür zuständig sei. Wir sind doch der Gesetzgeber. Es
gibt die Möglichkeit, allen Bahnunternehmen, die in
Deutschland aktiv sind, gesetzliche Vorgaben zu ma-
chen. Es wäre daher durchaus sinnvoll, zu sagen: Bis
zum Tag X haben alle Bahnen und rollenden Gegen-
stände barrierefrei zu sein, und bis zum Tag Y haben alle
Stationen und Bahnhöfe barrierefrei zu sein. Solche Fris-
ten könnten wir hier doch gesetzlich festlegen, wenn die
Regierung einen entsprechenden Gesetzentwurf vor-
legte. Warum kommen Sie nicht auf die Idee, so etwas
vorzuschlagen?
E
So etwas kann man gar nicht vorschlagen; denn man
müsste unendlich viel Geld bereitstellen, wenn man
sofort die vielen Anlagen, die es in Deutschland gibt,
barrierefrei machen wollte.
Deswegen ist kein konkreter Zeitpunkt zu benennen.
Was man machen kann, ist, nach Prioritäten vorzugehen
und dort, wo es besonders viele Fahrgäste gibt, zu begin-
nen und den weiteren Bedarf sukzessive zu decken. Aber
dafür einen konkreten Zeitpunkt zu benennen, würde die
Bundesregierung völlig überfordern.
Danke, Herr Staatssekretär.
Die weiteren Fragen zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
beantwortet der Parlamentarische Staatssekretär Jan
Mücke.
Ich rufe die Frage 17 der Kollegin Silvia Schmidt auf:
Wie plant die Bundesregierung den im demografischen
Wandel steigenden Bedarf an barrierefreien Wohnungen zu
decken, und wann wird das Förderprogramm der KfW Ban-
kengruppe zur Zinsvergünstigung von altersgerechtem Woh-
nungsumbau neu aufgelegt?
Bitte, Herr Staatssekretär.
J
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Frau Kollegin
Schmidt, die Bundesregierung unterstützt die Woh-
nungswirtschaft und Einzeleigentümer bei der alters-
und behindertengerechten Anpassung von bestehenden
vermieteten und selbst genutzten Wohngebäuden mit
dem zum 1. April 2009 gestarteten KfW-Programm
„Wohnraum Modernisieren – Altersgerecht Umbauen“.
Hierfür wurden im Jahr 2009 im Rahmen des Konjunk-
turpaketes I im Bundeshaushalt, in Einzelplan 12, Pro-
grammmittel in Höhe von 80 Millionen Euro zur Ge-
währung zinsverbilligter Darlehen bereitgestellt. Ebenso
sind im Entwurf der Bundesregierung zum Haushalt
2010 erneut 80 Millionen Euro vorgesehen, um eine
Zinsverbilligung über die KfW zu ermöglichen.
Ferner enthält der Ihnen vorgelegte Regierungsent-
wurf zusätzlich eine neue Zuschusskomponente in Höhe
von 20 Millionen Euro insbesondere für die Förderung
selbst nutzender Wohnungseigentümer. Dies trägt der
Tatsache Rechnung, dass gerade ältere Menschen oft
keine Finanzierung mehr bei einer Bank bekommen
bzw. keine Finanzierung mehr wünschen. Deshalb hat
die Bundesregierung beschlossen, einen Zuschuss zu
zahlen. Darüber hinaus fördern wir mit dem Programm
Baumodelle der Altenhilfe und der Behindertenhilfe so-
wie mit der aktuellen Initiative „Wohnen für Ge-
nerationen – Gemeinschaft stärken, Quartier beleben“
die Schaffung beispielgebender Wohnprojekte, die sich
unter anderem durch besonders barrierefreie Lösungen
auszeichnen.
Sie haben das Wort zu Ihrer ersten Nachfrage.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Mir sind die Mo-delle natürlich bekannt. Vor allem der ehemalige Minis-ter Herr Tiefensee hat die 80 Millionen Euro auf denWeg gebracht. Ist Ihnen aber bekannt, dass deutschland-weit gerade einmal 300 000 barrierefreie Wohnungen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. Februar 2010 1829
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(D)
Silvia Schmidt
existieren, dass wir aber laut Aussage der KfW und an-derer Institute in den nächsten Jahren ungefähr13 Millionen Wohnungen brauchen, um Barrierefreiheitzu gewährleisten und sicherzustellen, dass ältere Men-schen nicht in ein Heim gebracht werden müssen? Ange-sichts dessen sind Summen wie 80 Millionen oder20 Millionen Euro ausgesprochen gering. Mit der Förde-rung der Schaffung von barrierefreiem Wohnraum sollzudem die mittelständische Bauwirtschaft unterstütztwerden.J
Frau Kollegin, die Bundesregierung ist sich der Be-
deutung der Barrierefreiheit gerade für die ältere Gene-
ration vollständig bewusst. Die Vorgängerregierung und
auch die jetzige Regierung haben sich extrem stark dafür
engagiert, dass diesem Aspekt eine größere Bedeutung
zukommt. Das sehen Sie schon allein daran, dass wir
eine Aufstockung dieses Programms um 20 Millionen
Euro vorgenommen haben. Ich glaube, dass wir mit den
jetzigen Ansätzen sehr gut vorankommen. Sie sollten
aber andere KfW-Programme nicht außer Acht lassen,
beispielsweise das Wohneigentumsprogramm. Bei diesen
Programmen wird ebenfalls großer Wert auf barriere-
freies Bauen in Deutschland gelegt. Es ist sicher wün-
schenswert, noch mehr Geld dafür auszugeben. Wir sind
aber zuversichtlich, dass wir mit dieser Steigerung der
Programmmittel um immerhin 25 Prozent dem steigen-
den Bedarf Rechnung tragen. Sie haben absolut recht
– das möchte ich ausdrücklich unterstreichen –, dass es
sowohl im Interesse der älteren Menschen als auch im
volkswirtschaftlichen Interesse ist, dass ältere Men-
schen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, mög-
lichst lange in ihrer Wohnung bleiben können. Deshalb
wird diese Politik weiter von uns fortgeführt werden.
Sie haben das Wort zu einer zweiten Nachfrage.
Vielen Dank. – Herr Staatssekretär, ist Ihnen bekannt,
dass die EU eine Richtlinie vorbereitet, wonach alle
Wohnungen, auch die bereits bestehenden, barrierefrei
bzw. altengerecht oder behindertengerecht umgebaut
werden sollen? Die Wohnungswirtschaft hat sich dazu
deutlich positioniert und gefordert, dass die Bundesre-
gierung, wenn die Richtlinie verabschiedet wird, Förder-
programme auflegt.
J
Frau Kollegin, dieser Verordnungsentwurf ist mir be-
kannt. Die Bundesregierung hat aus grundsätzlichen Er-
wägungen Probleme mit diesem Entwurf. Wir sind der
festen Überzeugung, dass hier der Subsidiaritätsgrund-
satz greift. Die Städtebaufördermaßnahmen im Woh-
nungsbereich sind ausdrücklich eine Angelegenheit der
Nationalstaaten. Deshalb setzen wir darauf, dass wir in
Deutschland die besten Lösungen dafür finden und keine
Verordnungen der Europäischen Union benötigen.
Zu einer weiteren Nachfrage hat der Kollege Ilja
Seifert das Wort.
Herr Staatssekretär, Sie haben gerade zum wiederhol-
ten Male gesagt, dass sich die Bundesregierung der Be-
deutung der Barrierefreiheit in allen Bereichen sehr be-
wusst ist. Das freut mich sehr. Mich wundert daher
schon ein bisschen, dass Sie diesbezügliche europäische
Initiativen eher ablehnen. Meine Frage geht in folgende
Richtung: Dass Sie eine Menge Sonderprogramme ha-
ben, ist schön und gut, aber wäre es nicht sinnvoll, um
Barrierefreiheit in allen Bereichen herzustellen, dann
auch allgemeingültige, dauerhafte Regelungen zu fin-
den, zum Beispiel steuerliche Erleichterungen wie beim
Umbau von denkmalgeschützten Wohnungen oder bei
der energetischen Gebäudesanierung? So könnten dieje-
nigen, die die Baumaßnahmen vornehmen, egal ob die
Wohnungen gewerblich oder selbst genutzt werden,
langfristig steuerliche Erleichterungen erhalten.
Bitte, Herr Staatssekretär.
J
Sehr geehrter Herr Kollege Seifert, ich tue es nur sehrungern, aber ich möchte Sie korrigieren. Es gibt keinesteuerlichen Sonderabschreibungsmöglichkeiten für dieCO2-Gebäudesanierung, sondern dafür gibt es ebenfallsein KfW-Förderprogramm. Dieses CO2-Gebäudesanie-rungsprogramm der KfW ist extrem erfolgreich. Deshalbdenken wir, dass wir mit dem KfW-Förderprogramm fürbarrierefreies Bauen den richtigen Schritt gegangen sind.Die Bundesregierung plant keine steuerliche Abschrei-bungsmöglichkeit. Insofern muss ich Sie auf die KfW-Programme verweisen.Wichtig ist uns vor allen Dingen, dass wir mit diesemKfW-Programm einen Anreiz setzen, privates Geld zuinvestieren. Sie dürfen nicht vergessen, dass das Verhält-nis von öffentlicher Förderung und privater Finanzie-rung ungefähr bei 1 : 7 liegt. Das kommt auf das Pro-gramm an. Das heißt, dass 1 Euro staatlicher Förderungprivate Investitionen in Höhe von 7 bis 8 Euro nach sichzieht. Das ist ein sehr erfolgreiches Programm. Außer-dem möchte ich Sie auf die diversen Programme derLänder verweisen. Auch die Länder haben einzelne Pro-gramme aufgelegt, gerade in dem Bereich von Heimen,aber auch in anderen Wohnungsbereichen. Die Pro-gramme sind in den Ländern sehr unterschiedlich ausge-stattet. Das ist mir bewusst. Das, was wir auf Bundes-ebene tun, ist aus meiner Sicht außerordentlichvorzeigenswert, insbesondere im europäischen Ver-gleich.
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1830 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. Februar 2010
(C)
(D)
Danke, Herr Staatssekretär. – Wir sind damit am Ende
Ihres Geschäftsbereichs.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmi-
nisteriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit. Zur Beantwortung der Fragen steht die Parlamenta-
rische Staatssekretärin Katherina Reiche zur Verfügung.
Ich rufe Frage 18 der Kollegin Cornelia Behm auf:
Wie bewertet die Bundesregierung die Rechtssicherheit ei-
nes Genehmigungsverfahrens für die Ausrüstung eines der
sechs Kraftwerksblöcke des Kraftwerkes Jänschwalde in
Brandenburg mit einer CO2-Abscheidungsanlage durch das
Unternehmen Vattenfall nach dem Bundes-Immissionsschutz-
gesetz, obwohl es sich hierbei um eine ganz neue, bisher nicht
erprobte Technologie handelt und noch keine gesetzliche
Grundlage für die Schaffung von CO2-Lagerstätten beschlos-
sen wurde, geschweige denn diese Lagerstätten gefunden und
genehmigt sind?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Ka
Frau Präsidentin! Frau Kollegin Behm, ich beant-
worte Ihre Frage wie folgt: Nach Auskunft des Landes
Brandenburg liegt bislang kein Antrag der Firma Vatten-
fall zu dem geplanten Vorhaben vor. Über Einzelheiten
des Antragsgegenstandes und deren rechtlicher Bewer-
tung können daher noch keine belastbaren Aussagen ge-
troffen werden. Die Antragsunterlagen sollen vom Un-
ternehmen derzeit vorbereitet werden. Vorgesehen sei,
Ende Februar 2010 mittels eines sogenannten Scoping-
Termins den Untersuchungsrahmen für die Umweltver-
träglichkeitsprüfung zu ermitteln.
Parallel zu der dann vorgesehenen Umweltverträg-
lichkeitsuntersuchung sollen von dem Unternehmen die
Antragsunterlagen für das Vorhaben erstellt werden. Die
Antragstellung für die Genehmigung nach dem Bundes-
Immissionsschutzgesetz sei nach derzeitigem Planungs-
stand für das Frühjahr 2011 geplant. Sie sei abhängig
von den Erkenntnissen im Rahmen der Umweltverträg-
lichkeitsuntersuchung und der Fertigstellung notwendiger
Gutachten. Das immissionsschutzrechtliche Genehmi-
gungsverfahren ist auf der Grundlage des konkreten Ge-
nehmigungsantrags durchzuführen. Die Genehmigungs-
behörde des Landes Brandenburg wird auf der
Grundlage der geltenden Vorschriften des Bundes-Im-
missionsschutzgesetzes entscheiden, ob die Genehmi-
gungsvoraussetzungen vorliegen. Soweit die Abschei-
dungsanlage Teil des Kraftwerks sein soll, ist diese
bereits nach dem geltenden Bundes-Immissionsschutz-
gesetz genehmigungspflichtig. Für die Genehmigungs-
erteilung ist es nicht ausschlaggebend, ob es für die Ein-
lagerung von CO2 bereits einen gesetzlichen Rahmen
gibt.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Vielen Dank für die Beantwortung meiner Frage, Frau
Staatssekretärin. – Nehmen wir an, diese Anlage zur Ab-
scheidung von CO2 wird nach Bundes-Immissions-
schutzgesetz genehmigt, obwohl es kein CCS-Gesetz
gibt und obwohl es kein Lagerstättenkonzept gibt. Dann
stellt sich natürlich die Frage: Wohin mit dem CO2? – Es
geht um abgeschiedenes Kohlendioxid in einer nicht ge-
ringen Größenordnung. Plant die Bundesregierung, für
diesen Fall Zwischenlager für das CO2 einzurichten,
oder wie darf man sich das vorstellen?
Ka
Nach Auskunft von Vattenfall ist bislang vorgesehen,
in den Demonstrationsblöcken die CO2-Abscheidung zu
testen und zu demonstrieren und das CO2 gegebenenfalls
wieder in den Abgasstrom zurückzuführen, falls noch
keine Verbringungsstätten verfügbar sind. Das immis-
sionsschutzrechtliche Genehmigungsverfahren ist zu-
sammen mit der Durchführung einer Umweltverträglich-
keitsprüfung geeignet, auch neue und bislang nicht
erprobte Technologien zu beurteilen. Bei einer neuen
Technologie wird die zuständige Landesbehörde die Ein-
haltung der einschlägigen rechtlichen Anforderungen
sehr eingehend prüfen.
Sie haben das Wort zu einer zweiten Nachfrage.
Das ist eine spannende Geschichte. Das CO2 wird
zwar abgeschieden, dann aber wieder auf die Mensch-
heit bzw. auf die Umwelt losgelassen. Wie darf man sich
diese Technologie vorstellen? Wenn das CO2 einmal ab-
gefangen und möglicherweise komprimiert worden ist,
wie soll es dann schad- und störungsfrei wieder in die
Umwelt entlassen werden?
Ka
Es handelt sich um Demonstrationsanlagen. Demons-
trationsanlagen dienen dazu, technische Prozesse zu eva-
luieren und zu erforschen. Parallel sollen das Oxyfuel-
Verfahren und eine nachgeschaltete CO2-Rauchgas-
wäsche erprobt und demonstriert werden. Da es sich um
Erprobung und Demonstration der Abscheidung in einer
Nebenanlage eines Kraftwerks handelt, reicht die beste-
hende gesetzliche Grundlage.
Zu einer weiteren Nachfrage zur Frage 18 hat die
Kollegin Bärbel Höhn das Wort.
Frau Staatssekretärin, eine mit viel EU-Geld subven-tionierte Pilotanlage fängt zwar CO2 ab, fügt es aber demAbgasstrom zu, sodass am Ende genauso viel CO2 wievorher in der Luft ist. De facto wird damit das Ziel dieser
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. Februar 2010 1831
(C)
(D)
Bärbel HöhnPilotanlage, nämlich CO2 abzufangen, verfehlt. CCS be-deutet „Carbon Dioxide Capture and Storage“. Dasheißt, „Capture“ findet zwar statt; „Storage“ geschiehtallerdings im Abgasstrom und damit in der Atmosphäre.Verstehe ich Sie richtig?Ka
Frau Abgeordnete Höhn, in die konkrete Projektent-
wicklung ist die Bundesregierung nicht einbezogen. Das
ist eine Aufgabe der Unternehmen und der dort stattfin-
denden Forschung.
Unsere Aufgabe ist es, die EU-Richtlinie in nationales
Recht umzusetzen, also einen gesetzlichen Rahmen zu
schaffen.
Herr Krischer, Sie haben das Wort zu einer weiteren
Nachfrage.
Wenn ich richtig informiert bin, wird dieses Projekt
öffentlich gefördert. Das CO2 wird jedoch nicht in den
Untergrund verpresst; stattdessen wird es über einen län-
geren Zeitraum dem Abgasstrom zugeführt. Dafür gibt
es keine Rechtsgrundlage. Wird die öffentliche Förde-
rung angesichts dessen zurückgefordert, oder läuft sie
immer weiter? Wie habe ich mir das vorzustellen?
Ka
Die Verantwortung für den Vollzug des Bundes-Im-
missionsschutzgesetzes – darauf zielt Ihre Frage – liegt
beim Land Brandenburg. Es gibt nach dem Bundes-Im-
missionsschutzgesetz keine Abhängigkeit zwischen der
Genehmigung der Anlage und der Genehmigung der
Möglichkeit der Einlagerung von CO2. Die Emission
von CO2 ist im TEHG geregelt. Alles andere, was sich
dazu aus § 5 Abs. 1 Satz 3 Bundes-Immissionsschutzge-
setz ergibt, kann durch die Anlagengenehmigung nicht
begrenzt werden. Der gesetzliche Rahmen für die ge-
samte CCS-Kette wird vorbereitet. Wir sind dazu durch
eine EU-Richtlinie verpflichtet.
Zu einer weiteren Nachfrage hat der Kollege Ott das
Wort.
Frau Staatssekretärin, die Frage der Kollegin Behm
bezog sich nicht darauf, wer die Hoheit in dem Verfah-
ren hat, sondern darauf, wie die Bundesregierung diese
Vorgänge bewertet. Da würde ich gern nachhaken: Wie
bewerten Sie, dass hier anscheinend mit Genehmigun-
gen gearbeitet wird, die mehr oder weniger hinfällig
sind?
Ka
Ich teile Ihre Einschätzung nicht. Sobald ein gesetzli-
cher Rahmen vorliegt, der es erlaubt, auch Lagerstätten
auszuweisen und abgeschiedenes CO2 diesen Lagerstät-
ten zuzuführen, wird der Prozess entsprechend eröffnet.
Bis dahin reicht für Abscheidung in einer Nebenanlage
eines Kraftwerks der durch das Bundes-Immissions-
schutzgesetz vorgegebene rechtliche Rahmen.
Wir kommen damit zur Frage 19 der Kollegin Behm:
Welchen Zeitpunkt hat die Bundesregierung für das Inkraft-
treten eines CCS-Gesetzes – CCS: Carbon Dioxide Capture
and Storage –, welches Transport und Lagerung des in deut-
schen Kraftwerken abgeschiedenen CO2 regelt und dabei alle
Beeinträchtigungen, Risiken und Gefahren für Mensch und
Umwelt langfristig auszuschließen in der Lage ist?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Ka
Frau Präsidentin! Frau Kollegin Behm, die Bundes-
regierung wird rechtzeitig die Voraussetzungen dafür
schaffen, dass die gesamte Kette der CCS-Technologien
nach den Vorgaben der Richtlinie über die Abscheidung,
den Transport und geologische Speicherungen von Koh-
lendioxid geregelt wird. Die Verabschiedung eines natio-
nalen CCS-Gesetzes noch im Laufe des Jahres 2010
wird angestrebt. Die Frist zur Umsetzung der CCS-
Richtlinie endet am 25. Juni 2011.
Frau Behm, Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, Sie haben soeben etwas zumzeitlichen Rahmen und zu dem, was die Bundesregie-rung anstrebt, gesagt. In meiner Frage bin ich ziemlichdeutlich darauf eingegangen, dass mit diesem Gesetzalle Risiken, alle Besorgnisse, alle Gefahren für Menschund Umwelt wirklich auszuschließen sind. Bereits dieVorgängerregierung hat einen entsprechenden Gesetz-entwurf ausgearbeitet, der zurückgezogen werdenmusste, weil es aus betroffenen Regionen massive Pro-teste gab, insbesondere aus Schleswig-Holstein und ausBrandenburg. Diese Proteste basierten insbesondere da-rauf, dass die vielen Fragen, die die Betroffenen in denRegionen hatten, nicht beantwortet werden konnten.Nachdem Sie den von Ihnen gewünschten Zeitplangenannt haben, frage ich Sie jetzt: Wird die Bundes-regierung dieses Gesetz erst dann auf den Weg bringen,wenn alle Fragen der Betroffenen – ich könnte Ihnenganze Fragenkataloge zuleiten, aber ich gehe davon aus,dass Sie sie haben – wirklich schlüssig beantwortet sind?
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1832 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. Februar 2010
(C)
(D)
Ka
In einem Gesetzgebungsverfahren sind alle Betroffe-
nen anzuhören. Das werden wir tun. Erfahrungen liegen
in der Tat aus der letzten Legislaturperiode vor. Sorgen,
Ängste, Nöte und auch Widerstände muss man in einem
Gesetzgebungsprozess einbeziehen; darüber kann man
nicht hinweggehen.
Ich will auch nicht verhehlen, dass das Auftreten von
Vertretern einzelner Unternehmen in manchen Regionen
verbesserungsfähig ist. Aber darum geht es hier nicht.
Hier geht es darum, ein Gesetz zu schaffen, das den
höchstmöglichen Schutz von Mensch und Umwelt ge-
währleistet, gleichzeitig aber sicherstellt, dass wir in
Deutschland Kohle möglichst CO2-frei nutzen können.
Die CCS-Richtlinie zielt ja darauf ab, dass die große Be-
lastung durch den CO2-Ausstoß bei der Kohlenutzung
gemindert wird. Dafür sind verschiedene Arbeiten not-
wendig. Forschungsarbeiten laufen. Der gesetzliche
Rahmen muss diesem Ziel entsprechen.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Der zweite Teil Ihrer Antwort entsetzt mich ein biss-
chen. Sie sind als Staatssekretärin im Umweltministe-
rium in die Entwicklung involviert. Sie wissen genauso
gut wie ich, dass die Kohleverstromung eine sterbende
Technologie ist und dass die CCS-Technologie bei der
Kohleverstromung in Deutschland auf keinen Fall mehr
eingesetzt werden wird. Deswegen frage ich Sie: Inwie-
weit zielt das Gesetz auf die Abscheidung von CO2 aus
Kohlekraftwerken, und welchen Raum nimmt die Ab-
scheidung von CO2 beispielsweise aus Biomassekraft-
werken, aus Anlagen zur Zementherstellung oder zur
Metallverhüttung ein? Solche Anlagen werden wir in
Zukunft noch haben, und man könnte vermuten, dass der
Einsatz der CCS-Technologie dort sogar sinnvoll ist.
Ka
Die Richtlinie und ein entsprechendes Gesetz dienen
dem Klimaschutz. Das Gesetz wird sich in unsere Kli-
maschutzstrategie, die wir fortschreiben und weiterent-
wickeln, einpassen. Im Koalitionsvertrag haben wir am-
bitionierte Ziele festgelegt. Dass CCS keineswegs nur
geeignet sein kann, CO2 aus Kraftwerken abzufangen,
sondern auch in der Metallindustrie oder in der chemi-
schen Industrie – Sie haben Beispiele aufgezählt – eine
Option sein kann, muss man in die Betrachtungen einbe-
ziehen. Uns geht es darum, den Klimaschutz in Deutsch-
land weiterzuentwickeln und zu stärken, um unsere CO2-
Minderungsziele zu erfüllen.
Zu einer weiteren Nachfrage hat der Kollege Oliver
Krischer das Wort.
Frau Staatssekretärin, ich habe an einer Veranstaltung
des Vereins „IZ Klima“ teilgenommen, der sich – ich
glaube, das kann man so sagen – sehr für den Einsatz der
CCS-Technologie engagiert. Dort hat Herr Staatssekretär
Homann aus dem Wirtschaftsministerium ein Grußwort
gesprochen. Er hat dargelegt: Ginge es nach dem Wirt-
schaftsministerium, dann würde man sofort einen Ge-
setzentwurf in das übliche Verfahren – Kabinett und Par-
lament – geben. Er hat ferner gesagt, das scheitere im
Moment daran, dass das Umweltministerium in einem
internen Findungsprozess sei. Könnten Sie mir erläutern,
worin dieser interne Findungsprozess im Umweltminis-
terium besteht, und könnten Sie mir darlegen, wie die
Ergebnisse dieses Prozesses voraussichtlich sein wer-
den?
Ka
Bei der Veranstaltung war ich nicht anwesend. Inso-
fern habe ich jetzt nur über Dritte, nämlich über Sie, ver-
nommen, was Herr Staatssekretär Homann gesagt haben
soll. Fakt ist, dass schon in der vergangenen Legislatur-
periode die Federführung für den Gesetzentwurf sowohl
beim BMU als auch beim BMWi lag. Die gemeinsame
Federführung wurde auch unter der neuen Regierung
aufrechterhalten. Es wird also einen gemeinsamen Ge-
setzentwurf geben.
Wir kommen damit zur Frage 20 des Kollegen
Dr. Hermann Ott:
In welcher Weise setzt die Bundesregierung die in der letz-
ten Sitzung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und
Reaktorsicherheit des Deutschen Bundestages gemachte Aus-
sage der Parlamentarischen Staatssekretärin beim Bundes-
minister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Katherina Reiche um, innerhalb der EU für ein 30-prozentiges
CO2-Reduktionsziel zu werben, und wie war die Positionie-
rung Deutschlands in der EU in Bezug auf die unübliche
Übermittlung eines konditionierten Reduktionsziels – 20/30
Prozent – an das Klimasekretariat der Vereinten Nationen?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Ka
Frau Präsidentin! Herr Kollege Ott, die Bundesregie-rung hat sich hinsichtlich der Meldung des EU-Emis-sionsreduktionsziels für 2020 an das Klimasekretariatder Vereinten Nationen entsprechend der Beschlusslagedes Europäischen Rates vom 10. und 11. Dezember desJahres 2009 für ein konditioniertes EU-Emissionsreduk-tionsziel bis 2020 in Höhe von 30 Prozent gegenüberdem Niveau von 1990 ausgesprochen. Diese Haltungvertritt die Bundesregierung im Kreise der EU-Umwelt-minister. Hierfür hat sich die Bundeskanzlerin in Kopen-hagen eingesetzt. Dafür werden wir auch weiterhin ein-treten.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. Februar 2010 1833
(C)
(D)
Sie haben das Wort zu Ihrer ersten Nachfrage.
Vielen Dank. – Das höre ich ungern. Ich würde aber
dennoch gerne wissen, warum Bundesminister Röttgen
nach außen eine andere Ansicht vertritt. So hat er zum
Beispiel in einem Interview mit der Financial Times
vom 25. Januar dieses Jahres versprochen, dass sich die
Bundesregierung für ein 30-Prozent-Ziel innerhalb der
Europäischen Union einsetzt. So vermittelt er nach au-
ßen den Eindruck, dass die Bundesregierung fortschritt-
lich sei, was sie ja tatsächlich gar nicht ist, wie Sie hier
ja gerade bestätigt haben; denn auch Deutschland kämpft
nicht mehr dafür, dass sich die Europäische Union ein
unkonditioniertes 30-Prozent-Ziel setzt.
Ka
Deutschland ist ambitioniert, die Regierung ist ambi-
tionierter als es die Vorgängerregierung und auch die
beiden weiteren Vorgängerregierungen je waren.
Ich wiederhole mich ungern, tue es aber zum besseren
Verständnis: Es gibt ein gemeinsames Schreiben der spa-
nischen EU-Ratspräsidentschaft und der EU-Kommis-
sion an das UN-Klimasekretariat vom 28. Januar 2010.
Darin haben sich die EU und die EU-Mitgliedstaaten
formal der Kopenhagen-Vereinbarung angeschlossen so-
wie ein EU-Emissionsreduktionsziel für 2020 von 20 re-
spektive 30 Prozent gegenüber dem Niveau von 1990
mitgeteilt. In der Fußnote wird die Konditionierung des
30-Prozent-Ziels auf Grundlage der Schlussfolgerungen
des Europäischen Rates, wie gerade ausgeführt, erläu-
tert. Im Anhang der Kopenhagen-Vereinbarung werden
auch alle EU-Mitgliedstaaten namentlich aufgeführt.
Sie erwecken den Eindruck, als sei das Aufstellen
bzw. die Übermittlung eines konditionierten Ziels ein
vollkommen unüblicher Vorgang. Das ist es nicht. Ne-
ben der EU haben zahlreiche weitere Industrieländer
ebenfalls ambitionierte Zielsetzungen davon abhängig
gemacht, dass es eine umfassende internationale Verein-
barung gibt, zum Beispiel Japan oder Australien. Eine
andere Haltung vertritt auch der Bundesminister nicht.
Sie haben das Wort zu Ihrer zweiten Nachfrage.
Es entschuldigt natürlich nicht, dass auch andere eine
solche defizitäre Haltung einnehmen. Es ist allerdings
im internationalen Bereich unüblich – darauf zielt die
Frage ab –, ein solches konditioniertes Angebot zu ma-
chen.
Dessen ungeachtet bestätigen Sie hier also, dass
sich die Bundesregierung nicht für ein unkonditioniertes
30-Prozent-Ziel einsetzt. Wenn es so ist, würde ich Sie
darum bitten, Ihrem Chef zu sagen, er solle das auch
nach außen nicht mehr so vertreten.
Ka
Die Bundesregierung hat sich für Deutschland ein
sehr ambitioniertes Ziel gesetzt. Das gibt mir die Gele-
genheit, hier noch einmal darauf hinzuweisen, dass
Deutschland eine Reduktion in Höhe von 40 Prozent als
Ziel, und das unkonditioniert, beschlossen hat und daran
arbeitet, dies umzusetzen.
Noch einmal: Für die EU gilt ein konditioniertes
30-Prozent-Ziel. Entgegen Ihrer Behauptung, ein solches
Vorgehen sei unüblich, kann ich Ihnen mitteilen, dass es
durchaus üblich ist, mit konditionierten Zielen zu arbei-
ten.
Zu einer weiteren Nachfrage hat die Kollegin Bärbel
Höhn das Wort.
Frau Staatssekretärin, die EU hat bei den Verhandlun-
gen in Kopenhagen am Ende keine Rolle mehr gespielt.
Die USA haben Verabredungen mit China, Indien, Süd-
afrika und Brasilien getroffen. Alle Experten sagen, dass
die EU auch deshalb keine Rolle gespielt habe, weil sie
darauf beharrt habe, das konditionierte Reduktionsziel
aufrechtzuerhalten, und den Entwicklungsländern nicht
mit einem unkonditionierten 30-Prozent-Reduktionsziel
entgegengekommen ist.
Nach unseren Informationen ist es so gewesen, dass
Frankreich und Großbritannien ein unkonditioniertes
und Deutschland ein konditioniertes 30-Prozent-Ziel an-
gestrebt haben. Können Sie bitte hier einmal darlegen,
wie die interne Position von Frankreich und Großbritan-
nien an dieser Stelle war?
Ka
Frau Kollegin Höhn, Sie haben schon in der letzten
Fragestunde des Deutschen Bundestages am 27. Januar
Fragen zum 20- respektive 30-Prozent-Ziel bzw. zur un-
konditionierten oder konditionierten Anhebung des EU-
Klimaschutzzieles gestellt. Ich kann zu der Frage, wann
und an welcher Stelle welches Land welche Position ein-
genommen hat, nichts sagen. Ich trage Ihnen hier erneut
die Position der EU vor, der sich die Bundesregierung
angeschlossen hat. Gleichwohl bleibt es dabei, dass wir
in Deutschland ambitionierter vorgehen werden, um den
Beweis anzutreten, dass Wohlstandsgewinn und CO2-
Reduktion zwei Seiten einer Medaille sind.
Zu einer weiteren Nachfrage zur Frage 20 hat der
Kollege Ulrich Kelber das Wort.
Frau Staatssekretärin, ich möchte an die Frage derKollegin Höhn anschließen. Als die Staats- und Regie-rungschefs von Spanien, Frankreich, Großbritannien und
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1834 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. Februar 2010
(C)
Ulrich KelberSchweden in Kopenhagen vorgeschlagen hatten, dass dieEuropäische Union mit einem 30-Prozent-Ziel ohne Vor-bedingungen in die Verhandlungen gehen sollte, hat diedeutsche Delegation, an diesem Tag sogar unter der Lei-tung der Bundeskanzlerin, dem widersprochen und eine20-prozentige Reduktion ohne Vorbedingungen und eine30-prozentige Reduktion mit Vorbedingungen vorge-schlagen. Können Sie das bestätigen?Ka
Ich kann das nicht bestätigen und verweise an dieser
Stelle auf die Rede, die die Bundeskanzlerin im Rahmen
der Haushaltsdebatte gehalten hat. Zu diesem Punkt hat
sie ganz klar gesagt:
Ich bin sehr dafür, dass die Europäische Union auf
30 Prozent geht. Das kann nur passieren, wenn an-
dere europäische Mitgliedstaaten das 30-Prozent-
Ziel genauso unterstützen, wie die Bundesrepublik
Deutschland das tut.
Das war die Haltung, die wir in Kopenhagen vertreten
haben.
Die letzte Nachfrage zu dieser Frage stellt der Kol-
lege Oliver Krischer.
Frau Staatssekretärin, könnten Sie mir bitte erläutern,
wie die Bundesregierung bei den jetzt anstehenden Kon-
ferenzen und Klimaverhandlungen mit einem abge-
speckten, also mit einem konditionierten, 30-Prozent-
Ziel die internationalen Verhandlungen voranbringen
und dafür sorgen will, dass wir im internationalen Kli-
maschutz tatsächlich vorankommen?
Ka
Deutschland wird seine Ziele erreichen. Wir haben
sowohl gesetzliche Grundlagen geschaffen als auch vie-
lerlei Maßnahmen ergriffen, um mit Investitionen und
mit Anreizen den Klimaschutz in Deutschland voranzu-
bringen. Wir sind überzeugt, dass dies beispielgebend
ist.
Ich sage noch einmal: Auch wenn das Ziel konditio-
niert ist, arbeitet die Bundesregierung daran, wie von der
Bundeskanzlerin angekündigt, die EU von einem 30-Pro-
zent-Ziel zu überzeugen. Gleichwohl bleibt es bei dem
Beschluss, der für die Europäische Union und damit
auch für die Bundesregierung gilt.
Wir bleiben im Geschäftsbereich des Bundesministe-
riums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
Die Fragen 21 und 22 der Kollegin Sylvia Kotting-Uhl
zur Zuordnung der Kernfusion zu den erneuerbaren
Energien trotz radioaktiven Abfalls werden schriftlich
beantwortet.
Ich rufe die Frage 23 des Kollegen Hans-Josef Fell
auf:
Bis wann rechnet die Bundesregierung damit, dass in
Deutschland Kernfusionskraftwerke einen relevanten Anteil
an der Energieversorgung einnehmen, und auf welche Ener-
gieträger setzt die Bundesregierung bis dahin?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Ka
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege Fell,
ich beantworte Ihre Frage wie folgt: Die Kernfusionsfor-
schung ist derzeit noch Grundlagenforschung. Es kann
im Moment kein verlässliches Datum genannt werden,
ab wann die Kernfusion einen relevanten Anteil an der
Energieversorgung einnehmen könnte. Ziel der Bundes-
regierung ist es, dass die erneuerbaren Energien den
Hauptanteil an der Energieversorgung übernehmen. Wir
werden bis Herbst dazu ein Energiekonzept vorlegen,
welches das Zusammenwirken der verschiedenen erneu-
erbaren und konventionellen, sprich fossilen und nicht
erneuerbaren, Energieträger bis 2050 beschreiben wird.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. Können Sie mir
hier bestätigen, dass – wie von Minister Röttgen am letz-
ten Wochenende in einem Interview mit der Süddeut-
schen Zeitung ausgeführt wurde – bei einem Anteil der
erneuerbaren Energien an der Stromerzeugung von
40 Prozent Atomkraft – das ist Kernspaltung und Kern-
fusion zusammen – vollständig verzichtbar ist?
Ich würde gerne wissen, wie viele Atomreaktoren die
Bundesregierung abzuschalten gedenkt, wenn das ange-
strebte Ziel eines Anteils der erneuerbaren Energien an
der Stromerzeugung von 30 Prozent 2020 tatsächlich er-
reicht wird.
Ka
Wie Sie wissen, Herr Kollege Fell, haben wir die
Kernenergie im Koalitionsvertrag als Brückentechnolo-
gie – als Technologie, bis die herkömmlichen Energien
verlässlich durch erneuerbare Energien ersetzt werden
können – bezeichnet. Unser Ziel ist es, den erfolgreichen
Ausbau der erneuerbaren Energien weiter voranzutrei-
ben. Auch dafür haben wir uns konkrete, ambitionierte
Ziele gesetzt. Dass die Kernenergie eine Brückentechno-
logie ist, wird Bestandteil des auszuarbeitenden Energie-
konzeptes sein.
Sie haben das Wort zu einer zweiten Nachfrage.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. Februar 2010 1835
(C)
(D)
Frau Staatssekretärin, Ihnen sind sicherlich die Leit-
szenarien des Umweltministeriums für den Ausbau er-
neuerbarer Energien bekannt. Nach diesen Szenarien
beträgt der Anteil erneuerbarer Energien bis 2021 etwa
40 Prozent. Mit dem Abschalten des letzten Atomreak-
tors nach dem bestehenden Atomausstiegsgesetz ist also
bereits der angepeilte Korridor eines Anteils der erneuer-
baren Energien von 40 Prozent erreicht. Warum hält die
Bundesregierung dann noch an der Laufzeitverlängerung
für Atomreaktoren fest?
Ka
Wir halten uns an den Koalitionsvertrag und realisti-
sche Ziele in der Energiepolitik. Noch einmal: Die Bun-
desregierung, das BMU ist sehr froh über den schneller
als erwartet vorankommenden Ausbau der erneuerbaren
Energien. Wir haben ein unglaubliches Entwicklungs-
potenzial und große Exportchancen; die Erneuerbaren
waren auch ein stabiler Faktor während der Wirtschafts-
krise.
Dennoch bleibt es dabei, dass wir die Kernenergie als
Brückentechnologie brauchen. In welchem Umfang und
wie lange, das wird in dem Energiekonzept, das wir der-
zeit erarbeiten und im Herbst vorstellen wollen, zu be-
schreiben und zu bestimmen sein.
Zu einer weiteren Nachfrage hat die Kollegin Höhn
das Wort.
Frau Staatssekretärin, in dem Interview der Süddeut-
schen Zeitung mit Minister Röttgen ist ein Punkt er-
wähnt worden, der in der öffentlichen Debatte bisher
noch nicht so viel Aufmerksamkeit erfahren hat. Herr
Röttgen hat gesagt, dass man, wenn die Laufzeitverlän-
gerungen durchkommen, von den Energiekonzernen gar
nicht verlangen kann, dass sie einen Teil der Gewinne,
die sie daraus ziehen, abgeben, denn das sei – so sagt
er – verfassungsmäßig fragwürdig.
Das würde die Vorstellung, dass die Verbraucher auch
etwas von den Laufzeitverlängerungen hätten, weil die
Gewinne abgeschöpft werden, vollkommen konterkarie-
ren. Welche Konsequenzen ziehen Sie aus dieser Auffas-
sung von Herrn Röttgen?
Ka
Zunächst geht es darum, die hohen Sicherheitsstan-
dards der deutschen Kernkraftwerke beizubehalten und
auszubauen. In unserem Koalitionsvertrag steht, Frau
Kollegin Höhn, dass nähere Regelungen zu treffen sind,
wenn es um die Verlängerung von Laufzeiten geht. Sie
haben jetzt auf eine rekurriert. Es geht um die Betriebs-
zeiten der Kraftwerke, um das Sicherheitsniveau, die
Höhe und den Zeitpunkt eines Vorteilsausgleichs sowie
die Verwendung der Mittel für die Forschung, und zwar
vor allen Dingen auf dem Gebiet der erneuerbaren Ener-
gien und der Speichertechnologien. Ich möchte noch
einmal darauf hinweisen, dass wir im Rahmen des Ener-
giekonzeptes alle Einzelheiten dazu nicht nur ausführ-
lich besprechen, sondern auch festlegen werden.
Die nächste Nachfrage stellt der Kollege Ott. Bitte
schön.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Frau Staatssekretä-
rin, ich beziehe mich auf die Frage des Kollegen Fell,
was nach Ansicht der Bundesregierung der Anteil der
Kernfusion zu einem bestimmten Datum sein wird. Ich
beziehe mich außerdem auf das wirklich sehr bemer-
kenswerte Interview mit Herrn Minister Röttgen, in dem
er gesagt hat, dass wir überhaupt keine Kernenergie
mehr brauchen, wenn wir einen Anteil der erneuerbaren
Energien an der Stromerzeugung von 40 Prozent erreicht
haben. Wie Herr Kollege Fell gerade ausgeführt hat, ge-
hört die Kernfusion natürlich auch zur Kernenergie.
Setzt sich das Ministerium innerhalb der Bundes-
regierung dafür ein, die Forschungsmittel für die Kern-
fusion zurückzufahren bzw. ganz aufzugeben, da die
Kernfusion überhaupt nicht mehr benötigt wird, selbst
dann nicht, wenn wir annehmen würden, dass sie irgend-
wann einmal in 50 Jahren doch funktionieren sollte?
Durch die erneuerbaren Energien haben wir die Mög-
lichkeit, die nötige Energie völlig ohne Gefahr für
Mensch und Umwelt zu erzeugen. Inwieweit setzt sich
Ihr Ministerium dafür ein?
Ka
Erstens. Die Kernfusion ist in der Tat eine sehr lang-fristige Option, wenn man bedenkt, seit wann Forschungbetrieben wird. Den Zeitraum könnte man auch nochverlängern. Es bleibt aber eine Option.Zweitens. Sie haben suggeriert, dass Kernfusion dasGleiche wie Kernspaltung wäre. Ich möchte die Gele-genheit nutzen, das richtigzustellen. Es handelt sichnicht nur um zwei physikalisch völlig unterschiedlicheProzesse, sondern auch um technisch unterschiedlicheProzesse. Sie ist eine Technologie, die kein CO2 erzeugt.Durch sie könnte Energie in beträchtlichen Mengen zurVerfügung gestellt werden.Ich finde es richtig, dass wir an Optionen forschen.Ich finde es richtig, dass die Bundesregierung verlässlichMittel zur Verfügung stellt, um Projekte zur Erforschungder Kernfusion in Deutschland zu halten. Viele Länderforschen an diesem Projekt, manchmal mit sehr viel am-bitionierteren Zielen, als es in Deutschland, insbeson-dere unter Rot-Grün, bislang der Fall war. Meiner Auf-fassung nach kann man Japan, Frankreich oder den USAdiese Technologie nicht allein überlassen. Ich bin beein-druckt, welchen Beitrag deutsche Wissenschaftler zurErforschung dieser Technologie bislang leisten konnten.
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1836 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. Februar 2010
(C)
(D)
P
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es ist eine Option für die Zukunft. Wir
befinden uns in einem Stadium, in welchem die Grund-
lagen erforscht werden.
Ich habe noch drei Wortmeldungen für Nachfragen
zur Frage 23. Ich habe vor, sie alle drei zuzulassen. Ich
bitte die betreffenden Kolleginnen und Kollegen im Inte-
resse der nachfolgenden Fragestellerinnen und Frage-
steller um Fragestellungen, die zügig beantwortet wer-
den können, damit möglichst viele der angemeldeten
Fragen beantwortet werden können.
Die nächste Frage stellt die Kollegin Dorothée
Menzner.
Frau Staatssekretärin, Sie haben eben ausgeführt, dass
die Bundesregierung, was den Anteil erneuerbarer Ener-
gien angeht, ambitionierte Ziele verfolgt. Was sagen Sie
dazu, dass sich Repräsentanten eines Bereiches, die in
den letzten Jahren sehr engagiert waren, nämlich Stadt-
werke, kommunale Energieversorger und die dazugehö-
rigen Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, vehement
gegen eine Laufzeitverlängerung von AKWs ausspre-
chen, und zwar unabhängig von ihrer Parteizugehörig-
keit? Sie sehen sie nämlich als eine Bedrohung für die
kommunale Energieversorgung und deren Investitionen
an, die in dem Glauben getätigt wurden, dass die AKWs
begrenzte Laufzeiten haben.
Ka
Zunächst einmal bin ich froh, dass viele Stadtwerke
die Chancen, die sich aus der Nutzung erneuerbarer
Energien ergeben, erkannt und beherzt ergriffen haben
und entsprechende Investitionen in ihren Kommunen ge-
tätigt haben. Wir werden die Positionen der Stadtwerke
ebenso wie die Interessen aller anderen Marktteilnehmer
im Energie- und Industriebereich in den Diskussionspro-
zess einbeziehen.
Die nächste Nachfrage stellt die Kollegin Behm.
Ich beziehe mich auf Ihre Antwort auf die Frage von
Frau Höhn. Frau Höhn hat eine Aussage von Minister
Röttgen angesprochen, der erhebliche verfassungsrecht-
liche Bedenken gegen die Abschöpfung von Einnahmen,
die sich aus der Verlängerung der Laufzeiten ergeben,
hat. Ich konnte Ihrer Antwort nicht entnehmen, inwie-
weit Sie sich auf die Frage bezogen haben. Deswegen
muss ich nachfragen: Wird Ihr Haus weiter am Atom-
fonds festhalten, obwohl er als verfassungsrechtlich be-
denklich eingeschätzt wird? Wie werden Sie sich verhal-
ten?
Ka
Im Rahmen des Energiekonzeptes ist zu prüfen, ob
und in welchem Maße Laufzeitverlängerungen möglich
sind und ob Windfall-Profits genutzt werden können, um
zum Beispiel in die Forschung erneuerbarer Energien zu
investieren. Allerdings ist es in Deutschland noch immer
so, dass es per se nicht verboten ist, Gewinne zu machen,
und man vor allem rechtsfeste Konstruktionen braucht,
um mit Geld verantwortungsvoll umzugehen.
Die letzte Nachfrage zur Frage 23 stellt der Kollege
Krischer.
Frau Staatssekretärin, Ihre Antwort auf eine Nach-
frage des Kollegen Fell habe ich so verstanden, dass das
40-Prozent-Ziel – 40 Prozent aus erneuerbaren Energien
bis 2020 – nicht mehr gilt. Das ist im Leitszenario 2009
des BMU – 40 Prozent bis 2021 – festgelegt. Deshalb
meine Nachfrage: Verfolgt das BMU weiterhin das im
Leitszenario 2009 festgelegte Ziel: 40 Prozent aus er-
neuerbaren Energien bis 2021?
Ka
Herr Kollege Krischer, ich bitte Sie, mich nicht frei zu
interpretieren.
Es gibt ein gemeinsames Ziel dieser Bundesregie-
rung, nach dem wir im Strombereich bis 2020 einen An-
teil der erneuerbaren Energien von 30 Prozent erreichen
wollen. Wir fühlen uns auch allen anderen EU-Zielen
– im Wärmebereich, im Bereich der Biokraftstoffe, aber
auch im Effizienzbereich – verpflichtet. Alles zusammen
ergibt ein schlüssiges Energiekonzept, weil CO2-Minde-
rungsziele und Klimaschutz sich nicht nur auf den
Stromsektor beziehen können. Insofern werden wir auf
allen anderen Sektoren ebenso engagiert arbeiten.
Ich rufe die Frage 24 der Kollegin Dorothée Menzner
auf:
Welche Anträge auf Beförderung von Mischoxid--
Brennelementen, die sich auf Transporte ab dem 1. Januar
2010 beziehen, liegen der Bundesregierung vor?
Ka
Frau Präsidentin! Frau Kollegin Menzner, dem für dieErteilung von Genehmigungen nach § 4 des Atomgeset-zes zuständigen Bundesamt für Strahlenschutz liegt einAntrag der Firma Nuclear Cargo + Service GmbH vom29. Juni 2006 für den Transport von maximal 16 Misch-oxid--Brennelementen von der Anlage Sellafieldin Großbritannien zum Kernkraftwerk Grohnde vor. MitÄnderungsantrag vom 11. August 2009 wurde die Zahlder MOX-Brennelemente auf acht reduziert.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. Februar 2010 1837
(C)
(D)
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. In der Vergangen-
heit wurden in solchen Fällen sicherlich auch Straßen-
transporte vorgenommen. Ist das in diesem Fall wieder
geplant? Wenn ja, welche Sicherheitsauflagen bestehen
zum Beispiel bezüglich der Höchstgeschwindigkeit? Ist
an eine Geschwindigkeitsbegrenzung für diese Trans-
porte gedacht? Wenn ja, wie sieht diese aus?
Ka
Früher war es so, dass Seetransporte von MOX-Ele-
menten aus Großbritannien bzw. damals noch nach
Großbritannien jeweils über Bremerhaven abgewickelt
wurden. Der ursprünglich für Oktober 2009 vorgesehene
Seetransport von MOX-Brennelementen aus Großbritan-
nien in das KKW Grohnde musste aufgrund von Wider-
ständen in den Seehäfen Cuxhaven und Bremerhaven
auf unbestimmte Zeit verschoben werden. Insofern kann
ich Ihnen zu Geschwindigkeiten und dergleichen kon-
kret nichts sagen.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, es ist durchaus richtig, dass
man von Großbritannien bis Grohnde nicht auf der
Straße transportieren kann. Sie sind auf den Teil des
Transportes eingegangen, der auf dem Seeweg stattfin-
det. Ich habe aber explizit nach der Strecke zwischen ei-
nem Hafen, welchem auch immer, und der Anlage in
Grohnde, die per Schiff wohl eher nicht zu erreichen ist,
gefragt. Deswegen noch einmal meine Nachfrage: Wie
ist der Transport auf der Strecke dazwischen geplant?
Gibt es seitens der Bundesregierung hierfür Auflagen?
Gehen die Transporte auf die Straße oder auf die
Schiene? Wenn ja, mit welchen konkreten Sicherheits-
vorgaben?
Ka
Wie Sie treffend beschrieben haben, muss das Ganze
erst einmal in einem Hafen landen. Wie ich gerade aus-
geführt habe, wissen wir nicht, in welchem Hafen, weil
der Transport auf unbestimmte Zeit verschoben wurde.
Wenn klar ist, wo die Elemente ankommen, wird man in
die Planung eintreten und den Transport, ob auf der
Straße oder auf der Schiene, sicherlich wie in der Ver-
gangenheit sehr sorgfältig vornehmen. Planungen dazu
liegen jetzt nicht vor.
Ich rufe Frage 25 der Kollegin Dorothée Menzner
auf:
Welche Genehmigungen für Anträge auf Beförderung von
MOX-Brennelementen, die sich auf Transporte ab dem 1. Ja-
nuar 2010 beziehen, wurden erteilt?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Ka
Frau Präsidentin, Frau Kollegin Menzner, nach An-
gabe des Bundesamtes für Strahlenschutz existieren zur-
zeit keine Genehmigungen für den Transport von MOX-
Brennelementen.
Ihre erste Nachfrage, bitte.
Frau Staatssekretärin, Sie haben eben ausgeführt, dass
die Anträge schon geraume Zeit vorliegen. Wann ist
nach Ihrem Kenntnisstand mit einem Bescheid für diese
Anträge, ob positiv oder negativ, zu rechnen?
Ka
Noch einmal: Derzeit liegen keine Genehmigungen
für den Transport vor.
Ich kann deshalb keine Aussagen dazu machen, wann
möglicherweise eine Genehmigung vorliegen könnte.
Ich kann Ihnen keinen Zeitrahmen nennen.
Sie verzichten auf weitere Nachfragen.
Die Frage 26 der Kollegin Kathrin Vogler wirdschriftlich beantwortet.Ich danke Ihnen, Frau Staatssekretärin.Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmi-nisteriums für Bildung und Forschung. Zur Beantwor-tung der Fragen stehen die Parlamentarischen Staatsse-kretäre Thomas Rachel und Dr. Helge Braun zurVerfügung.Die Fragen 27 und 28 des Kollegen Kai Gehring zurWirkung der Internet-Studienplatzbörse im Winterse-mester 2009/2010 werden schriftlich beantwortet.Ebenso schriftlich beantwortet werden die Fragen 29und 30 der Kollegin Nicole Gohlke zu Konsequenzenaus den aktuellen Problemen bei der Studienplatzbeset-zung.Ich rufe Frage 31 der Kollegin Dagmar Ziegler auf:Ist die weitere Förderung des Programms AQUA mit Mit-teln aus dem Europäischen Sozialfonds durch die Verabschie-dung entsprechender Richtlinien geplant, und, wenn dies nicht
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1838 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. Februar 2010
(C)
(D)
Vizepräsidentin Petra Pauder Fall ist, werden Bundesmittel in ausreichendem Umfangzur Durchführung des Programms AQUA bereitgestellt?Bitte, Herr Staatssekretär.D
Sehr geehrte Frau Präsidentin, sehr geehrte Frau Kol-
legin Ziegler, es ist beabsichtigt, nach vorheriger Aus-
schreibung eine Programmstelle mit der Durchführung
des Programms zu beauftragen und danach Förderbe-
kanntmachungen zu veröffentlichen. In dieser neuen
Struktur des Programms AQUA sollen Qualifizierungs-
maßnahmen mit ESF-Kofinanzierung ab dem Jahre 2011
durchgeführt werden. Für den Zeitraum bis 2011 sind
Bundesmittel im Rahmen des bestehenden Programms
AQUA zur Durchführung von Qualifizierungsmaßnah-
men bis einschließlich Wintersemester 2010/2011 in be-
darfsangemessenem Umfang bewilligt worden.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage. – Sie ver-
zichten auf Nachfragen.
Dann kommen wir zur Frage 32 des Kollegen Volker
Beck:
Welche konkreten Schritte plant die Bundesregierung an-
gesichts der Unzufriedenheit der Muslime in Deutschland mit
den in der Türkei ausgebildeten Imamen – Studie des Osna-
brücker Religionswissenschaftlers Dr. Rauf Ceylan –, um die
Religionslehrer- und Imamausbildung an Universitäten in
Deutschland auf den Weg zu bringen, und welchen Zeitplan
gibt es?
Bitte, Herr Staatssekretär.
T
Herr Kollege Beck, am 29. Januar dieses Jahres hat es
eine sehr interessante Empfehlung des Wissenschaftsra-
tes zur Weiterentwicklung von Theologien und religi-
onsbezogenen Wissenschaften an deutschen Hochschu-
len gegeben. Darin wird auch die Etablierung
theologisch orientierter islamischer Studien an den deut-
schen Hochschulen empfohlen. Die Bundesregierung
begrüßt diese Empfehlung des Wissenschaftsrates. Ich
denke, angesichts der großen Anzahl islamischer Kinder
in der Bundesrepublik Deutschland gehört die Ausbil-
dung von Religionslehrern und Islamwissenschaftlern zu
einer überzeugenden Integrationspolitik in einer moder-
nen Gesellschaft.
Die Bundesministerin für Bildung und Forschung hat
ihre Zustimmung zu dieser Überlegung des Wissen-
schaftsrates mit der Ankündigung verbunden, dass der
Bund bereit sei, sich bei entsprechenden Initiativen der
Länder und der Hochschulen, die hier naturgemäß zu-
nächst gefordert sind, an der Umsetzung der Empfehlun-
gen zu beteiligen. Wir erwarten nun, dass aus den Län-
dern und Hochschulen konkrete Vorschläge gemacht
werden. Wir haben bei den öffentlichen Reaktionen
wahrgenommen, dass es ein starkes Interesse und auch
eine Bereitschaft gibt, solche Institute einzurichten.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Ich würde gerne von Ihnen wissen, ob Sie konkrete
Vorstellungen haben, wie es jetzt weitergehen soll, und
vor allen Dingen wie die Bundesregierung plant, auf
Dauer mit den religionsverfassungsrechtlichen Proble-
men der vom Wissenschaftsrat vorgeschlagenen Kon-
struktion umzugehen.
Der Wissenschaftsrat schlägt vor, für die islamischen
Studien bzw. die entsprechenden Fakultäten Beiräte ein-
zurichten, die in dieser Funktion anerkannte Religions-
gemeinschaften, die im Bereich des Islam bislang völlig
fehlen, sozusagen ersetzen sollen. Die Bundesregierung
hat mit der Islam-Konferenz ein Forum geschaffen, auf
dem man darüber sprechen könnte, wie all diese Pro-
visorien irgendwann einmal aufgelöst und auf eine reli-
gionsverfassungsrechtlich solide Grundlage gestellt
werden können. Welche Überlegungen stellt die Bundes-
regierung insgesamt – Sie antworten ja immer für die
Regierung und nicht nur für Ihr Haus – dazu an, wie
diese Probleme aufgearbeitet werden können, und wel-
che Rückwirkungen hat das auf Ihre Überlegungen, wie
es mit dem Terminplan zum Thema „islamische Stu-
dien“ jetzt weitergeht?
T
Vielen Dank, Herr Kollege Beck. – Die Bundesregie-rung hat aufmerksam registriert, dass die islamischenVerbände, die sich bislang artikuliert haben, ihre grund-sätzliche Bereitschaft zur Mitwirkung deutlich gemachthaben. Die Bundesregierung ist sehr wohl der Auffas-sung, dass die Deutsche Islam-Konferenz als Forum desgesamtstaatlichen Dialogs mit den Muslimen inDeutschland in den Prozess der Etablierung theologischorientierter islamischer Lehr- und Forschungsangebotean den deutschen Hochschulen einbezogen werden kann,indem sie diese Prozesse begleitet und unterstützt.Darüber hinaus haben Sie gefragt: Welche Vorausset-zungen werden aus Sicht der Bundesregierung im Ein-zelnen zu erfüllen sein? Ich glaube, es ist wichtig, dasswir uns die Stellungnahme des Wissenschaftsrates ge-nauer anschauen. Denn er nennt sehr konkrete Voraus-setzungen, deren Grundsubstanz aus unserer Sicht sehrwohl überzeugend ist.Der Wissenschaftsrat hat darauf hingewiesen, dass einmöglicher Standort ein geeignetes universitäres Umfeldaufweisen muss, um für eine solche Lösung überhauptinfrage zu kommen. Dazu gehören leistungsstarkeIslamwissenschaften, die Präsenz der christlichen Theo-logien und eine entwickelte Religionswissenschaft. Aberauch die Hochschulen sind gefordert. Denn sie müssenKonzepte zum Aufbau und zur Arbeitsweise eines sol-chen Institutes und Konzepte für die geplanten theolo-gisch kompetenten Beiräte entwickeln.Schließlich – auch das sollte man nicht verschweigen –werden wir auch die Bundesländer brauchen, da in ersterLinie sie für die Hochschulen zuständig sind und sie zu-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. Februar 2010 1839
(C)
(D)
Parl. Staatssekretär Thomas Rachelsammen mit den Universitäten eigene finanzielle Res-sourcen mobilisieren müssen. Wenn wir diesen gemein-schaftlichen Prozess auf den Weg bringen und in einenintensiven Dialog mit den Ländern eintreten, dann, soglaube ich, haben wir eine gute Chance, wesentlich vo-ranzukommen.
Ihre zweite Nachfrage, bitte.
Ich glaube, Sie haben meine Nachfrage entweder
nicht ganz verstanden, oder man hat Sie dafür nicht mit
Sprechzetteln präpariert. Deshalb möchte ich eine Nach-
frage stellen. Es gibt ein grundsätzliches Problem, das
auch der Wissenschaftsrat angesprochen hat. Er schlägt
vor, die Religionsgemeinschaften in Bezug auf die geist-
liche Ausbildung an den Universitäten durch einen Bei-
rat zu substituieren. Das wäre natürlich eine verfas-
sungsrechtlich windige Konstruktion, wenn man sie auf
Dauer vorsehen würde. Als Provisorium mag sie geeig-
net sein. In diesem Fall wäre ich durchaus bereit, zu sa-
gen: Das soll man ruhig einmal versuchen.
An der Universität Münster haben wir aber gesehen,
dass solche Konstruktionen nur so lange halten, wie
Konsens besteht. Entsteht aber Streit darüber, ob jemand
die religiöse Lehrbefugnis hat, stellt sich die Frage, wer
darüber entscheidet. Denn in diesem Fall ist der Partner
des Staates nicht die Religionsgemeinschaft, sondern ein
Beirat, der schlechterdings nicht die Rolle einer Reli-
gionsgemeinschaft im weltanschaulich neutralen Staat
wahrnehmen kann.
Vor diesem Hintergrund würde mich interessieren, ob
die Bundesregierung eine Idee hat, wie wir im Bereich
des Islam zu anerkannten Religionsgemeinschaften
kommen können, da ja die muslimischen Verbände, die
sich nach politischen, sprachlichen oder staatlichen
Grenzen definieren, die Voraussetzungen hierfür nicht
erfüllen.
Bitte, Herr Staatssekretär.
T
Herr Kollege Beck, ich glaube, wir haben ein unter-
schiedliches Grundverständnis. Ich glaube nicht, dass es
Aufgabe der Bundesregierung sein kann, islamische
kirchliche Organisationen zu organisieren, ins Leben zu
rufen oder institutionell zu verankern. Das ist sicherlich
eine wichtige Frage; aber das muss aus dem islamischen
Bereich in der Bundesrepublik Deutschland entwickelt
werden.
Wichtig ist, dass es in der Politik – auch in der Bun-
desregierung – Offenheit gibt dafür, die islamischen
Kräfte, die wir in Deutschland haben, einzubeziehen.
Sie haben in Ihrer Frage konkret nach der Beteiligung
der Deutschen Islam-Konferenz gefragt. Deswegen wie-
derhole ich meine Antwort: Die Deutsche Islam-Konfe-
renz kann in diesem Prozess nach unserer Auffassung
konstruktiv beteiligt werden.
Ich rufe die Frage 33 des Kollegen Fell auf. Der Kol-
lege Fell ist zurzeit nicht im Plenarsaal. Wir verfahren
also, wie in der Geschäftsordnung vorgesehen.
Damit danke ich den beiden Staatssekretären.
Dann kommen wir zum Geschäftsbereich des Bun-
desministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung. Die Frage 34 des Kollegen Uwe
Kekeritz wird schriftlich beantwortet.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich der Bundes-
kanzlerin und des Bundeskanzleramtes. Zur Beantwor-
tung der Fragen steht Staatsministerin Professor
Dr. Maria Böhmer zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 35 des Kollegen Memet Kilic auf:
Was versteht die Staatsministerin im Bundeskanzleramt
und Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flücht-
linge und Integration, Dr. Maria Böhmer, unter einem „verein-
fachten Verfahren“ zur Regelung des Optionszwangs im
Staatsangehörigkeitsrecht, da sie die jetzige Regelung für zu
komplex für die Jugendlichen hält, und zu wann soll diese
„Vereinfachung“ in Kraft treten?
Bitte, Frau Staatsministerin.
D
Frau Präsidentin! Herr Kollege Kilic, ich darf Ihnenwie folgt antworten: Mit dem Gesetz zur Reform desStaatsangehörigkeitsrechts aus dem Jahre 1999 wurdedas Staatsangehörigkeitsrecht um den Jus-Soli-Erwerbfür in Deutschland geborene Kinder ausländischer Elternergänzt.Im Rahmen einer damit zusammenhängenden Über-gangsregelung konnten auch Kinder, die zwischen 1990und 2000 geboren wurden, auf Antrag die deutscheStaatsangehörigkeit erwerben. 50 000 Kinder haben aufdiese Art und Weise die deutsche Staatsangehörigkeitbekommen.2008 haben die ersten dieser Kinder das18. Lebensjahr vollendet und sind damit grundsätzlichoptionspflichtig geworden. Sie haben nun, wie wir wis-sen, fünf Jahre Zeit, sich zwischen ihrer deutschen undihrer ausländischen Staatsangehörigkeit zu entscheiden.Sollten sie neben ihrer deutschen ihre ausländischeStaatsangehörigkeit beibehalten wollen – etwa weil derandere Staat sie nicht aus seiner Staatsangehörigkeit ent-lässt –, müssen sie bereits bis zur Vollendung des21. Lebensjahres eine Beibehaltungsgenehmigung bean-tragen. Für den ersten Jahrgang der Optionskinder endetdiese Frist im nächsten Jahr.Derzeit werden Erfahrungen mit den ersten Options-verfahren gesammelt und auf möglichen Verbesserungs-bedarf – sowohl in verfahrens- als auch in materiell-rechtlicher Hinsicht – hin überprüft. Schwierigkeiten,die im Zusammenhang mit der Regelung auftreten, neh-men wir im Interesse der jungen Leute sehr ernst. Gege-benenfalls werden Verbesserungsvorschläge erarbeitet.
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1840 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. Februar 2010
(C)
(D)
Staatsministerin Dr. Maria BöhmerIch darf Ihnen aber sagen – wir stehen noch am Anfang –:Für eine fundierte Bewertung ist es jetzt noch zu früh.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage. Bitte.
Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Staatsministerin, es
ist Ihnen bestimmt bekannt, dass seit 28. August 2007
bei allen EU-Staatsangehörigen, aber zum Beispiel auch
bei Schweizer Staatsbürgern die doppelte Staatsbürger-
schaft hingenommen wird. Dieser Personenkreis ist von
dem Optionszwang praktisch nicht betroffen.
Wäre es nicht gerecht – auch im Sinne von Art. 3 un-
seres Grundgesetzes –, den Optionszwang abzuschaffen,
damit Jugendliche, deren Eltern keine EU-Staatsbürger-
schaft haben, wegen der Herkunft ihrer Eltern nicht be-
nachteiligt werden?
D
Herr Kollege Kilic, ich hatte gerade gestern eine Dis-
kussion zu diesem Punkt. Ich merke, es geht Ihnen ähn-
lich wie vielen; deshalb weise ich noch einmal darauf
hin: Auch Kinder, die eine Staatsangehörigkeit eines
EU-Staates haben, fallen unter die Optionsregelung.
Ihre zweite Nachfrage.
Ich möchte noch fragen, ob diese EU-Bürgerinnen
und EU-Bürger ausgebürgert werden, falls sie sich bis
zum 23. Lebensjahr für keine der Staatsbürgerschaften
entscheiden wollen.
D
Es gelten selbstverständlich für die beiden Gruppen
die gleichen Regelungen.
Danke, Frau Staatsministerin.
Wir kommen nun zum Geschäftsbereich des Auswär-
tigen Amtes. Zur Beantwortung der Fragen steht die
Staatsministerin Cornelia Pieper zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 36 der Kollegin Viola von Cramon-
Taubadel auf:
Wie beurteilt die Bundesregierung den Ablauf der EU-
Koordinierung bei der Katastrophenhilfe für Haiti – entspre-
chend den Vorgaben des gemeinsamen europäischen Konsenses
von Rat, Mitgliedstaaten, Europaparlament und Kommission
über die humanitäre Hilfe, 2008/C25/01 –, und wie verhält sie
sich gegenüber dem belgischen Vorschlag, eine europäische
Bitte, Frau Staatsministerin.
C
Die EU und ihre Mitgliedstaaten haben gut und
schnell Hilfe geleistet. Die Bestimmungen des Europäi-
schen Konsens über die Humanitäre Hilfe sind in Haiti
voll zur Anwendung gekommen.
Am 18. Januar 2010 nahm ein Sonderrat für Auswär-
tige Beziehungen Schlussfolgerungen an. Darin sagten
die EU-Mitgliedstaaten 122 Millionen Euro für die hu-
manitäre Soforthilfe zu. Inzwischen ist dieser Betrag auf
über 212 Millionen Euro gestiegen. In den Schlussfolge-
rungen werden darüber hinaus die Ankündigungen der
Kommission zur Kenntnis genommen, aus EU-Haus-
haltsmitteln für die Wiederherstellung staatlicher Struk-
turen in Haiti 100 Millionen Euro und für längerfristige
Hilfe 200 Millionen Euro zur Verfügung zu stellen.
Der Rat für Auswärtige Beziehungen am 25. Januar
2010 beschloss auf Anfrage der Vereinten Nationen die
Entsendung nationaler Gendarmeriepolizeikräfte und lo-
gistische Unterstützung als EU-Beitrag zur Unterstüt-
zung der VN-Mission MINUSTAH. Ergänzend wurde in
Brüssel eine Koordinierungszelle für diese Unterstüt-
zung eingerichtet.
Vor Ort in Haiti unterstützen Vertreter der Generaldi-
rektion für humanitäre Hilfe und ein EU-Katastrophen-
schutzteam die VN in ihrer Koordinierungsrolle. Im
Rahmen des EU-Gemeinschaftsverfahrens haben Kata-
strophenschutzeinheiten der Mitgliedstaaten wertvolle
Hilfe geleistet, unter anderem in den Bereichen Rettung
und Bergung sowie Trinkwasseraufbereitung.
Das Zusammenspiel von EU und Mitgliedstaaten in
der Reaktion auf die Haiti-Katastrophe hat also gut funk-
tioniert. Die Bundesregierung sieht vor diesem Hinter-
grund keine Notwendigkeit, auf EU-Ebene neue Struktu-
ren wie eine Katastrophenschutz- oder humanitäre
Eingreiftruppe zu schaffen, was die Gefahr mit sich brin-
gen könnte, bestehende Aufgaben und Strukturen der
VN und der Mitgliedstaaten zu duplizieren.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage, bitte.
Frau Staatsministerin Pieper, wir hatten eben im EU-
Ausschuss das Vergnügen, Herrn Außenminister
Westerwelle dazu befragen zu können. Er sagte, dass
Lady Ashton die volle Unterstützung der Bundesregie-
rung auch bei der Koordinierung der Hilfe für Haiti er-
halte. Dazu meine Nachfrage: Ist es nicht doch im Sinne
der Bundesregierung, eine stärkere Koordinierung mit
einem höheren personellen und finanziellen Einsatz im
Hinblick auf die von der belgischen Regierung vorge-
schlagene sogenannte EU-Weißhelmtruppe vorzusehen?
C
Wir haben deutlich gemacht, dass wir unsere Rollebei der Bewältigung der Haiti-Katastrophe voll wahr-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. Februar 2010 1841
(C)
(D)
Staatsministerin Cornelia Piepergenommen haben. Aus der Haiti-Krise lässt sich ausunserer Sicht nicht die Notwendigkeit ableiten, zusätz-liche EU-Strukturen wie einen EU-Katastrophenschutzoder eine humanitäre Eingreiftruppe aufzubauen. DieBundesregierung steht der Schaffung zusätzlicher EU-Strukturen auch unter dem Gesichtspunkt des Subsidiari-tätsprinzips, das in unserer Verfassung als eine Rahmen-bedingung enthalten ist, kritisch gegenüber. Ich glaube,dass Deutschland innerhalb der EU all das, was möglichist, gemacht hat, um Haiti zu helfen. Ich denke, das hatder Außenminister in seinen Bemerkungen im Aus-schuss deutlich gemacht. Ich konnte leider nicht dabeisein, weil ich hier bzw. im Kulturausschuss war. Deswe-gen bitte ich um Nachsicht.
Sie haben das Wort zu einer zweiten Nachfrage.
Das klang eben in der Tat ein bisschen anders; aber
das ist kein Problem.
Wie steht denn die Bundesregierung zu einer kurzfris-
tigen oder mittelfristigen Ausweitung des UN-Mandats
MINUSTAH in Bezug auf Haiti?
C
Ich habe deutlich gemacht, dass wir unsere Verant-
wortung im Rahmen der VN-Mission MINUSTAH
wahrgenommen haben. Ich denke, das wird Deutschland
auch weiterhin tun.
Damit kommen wir zur Frage 37 der Kollegin
Cramon-Taubadel:
Inwiefern setzt sich die Bundesregierung vor dem Hinter-
grund der ukrainischen Präsidentschaftswahlen am 7. Februar
2010 dafür ein, dass die Ukraine eine klare Beitrittsperspek-
tive zur Europäischen Union erhält?
Bitte, Frau Staatsministerin.
C
Die Bundesregierung hat ein großes Interesse an einer
stärkeren politischen und wirtschaftlichen Annäherung
der Ukraine an die Europäische Union. Wie Sie wissen,
wird das Assoziierungsabkommen, das derzeit verhan-
delt wird, eine breite und tragfähige Grundlage dafür
sein.
Die Bundesregierung würde es begrüßen, wenn die
Verhandlungen zum Assoziierungsabkommen bald ab-
geschlossen werden könnten. Es geht jetzt um Teil zwei,
um das Freihandelsabkommen. Dies zieht sich noch et-
was hin. Für uns, die Bundesregierung, gilt allerdings:
Sorgfalt vor Eile.
Die Ukraine ist ferner ein wichtiger Partner in der im
Mai 2009 lancierten Östlichen Partnerschaft der EU als
einer spezifisch östlichen Dimension der europäischen
Nachbarschaftspolitik. Die Östliche Partnerschaft ent-
hält, wie Sie wissen, keine Aussage zu einer EU-Beitritts-
perspektive.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Welche konkreten Maßnahmen sind innerhalb des
Assoziierungsabkommens geplant, um vor allem jetzt,
nach der gerade abgeschlossenen Präsidentschaftswahl
in der Ukraine, den Menschen dort eine ganz konkrete
Perspektive dafür aufzuzeigen, sich enger an den Westen
zu binden?
C
Die Bundesregierung strebt nach den Wahlen natür-
lich an, ihre guten und intensiven Beziehungen mit der
Ukraine weiter zu verstärken. Vor dem durch freie und
demokratische Wahlen gewählten neuen Präsidenten lie-
gen große Reformanstrengungen im Inneren und im
wirtschaftlichen Bereich; das werden wir genau verfol-
gen.
Ich glaube, dass die Wahl auch eine Chance zur Über-
windung der innenpolitischen Krise bietet. Deutschlands
Interesse an einer unabhängigen, stabilen, demokrati-
schen und marktwirtschaftlich prosperierenden Ukraine
– die Ukraine ist ja in unmittelbarer Nachbarschaft der
EU – ist vom Außenminister ganz eindeutig immer wie-
der herausgestellt worden.
Ich sage noch einmal: Im Gegensatz zur Verhandlung
über ein EU-Assoziierungsabkommen steht die Beitritts-
perspektive nicht auf der Tagesordnung. Wir werden al-
les daransetzen, dass es nach der Wahl des neuen Präsi-
denten zu einer Stabilisierung im Inneren des Landes
kommt. Wir werden die Reformen, die ich bereits
nannte, mit vorantreiben: auf wirtschaftlichem, auf de-
mokratischem und insbesondere auch auf rechtsstaatli-
chem Gebiet. Das wird die Bundesregierung weiterhin
unterstützen.
Ihre zweite Nachfrage, bitte.
Zu den Leuchtturmprojekten. Es gibt schon einiges,
was die Vorgängerregierung in Gang gesetzt hat, sprich:
die Förderung regionaler Energienetze, aber auch die
Entwicklung des südlichen Energiesektors etc. Sind da-
rüber hinaus noch weitere Projekte geplant, und, wenn
ja, in welcher Form? Sie haben gesagt, dass Sie die
rechtsstaatlichen Reformen unterstützen werden. Gibt es
hier noch andere, konkretere Ansätze?
Ich bitte um Verständnis dafür, dass sich die Bundes-regierung nach der jüngsten Wahl des Präsidenten natür-
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1842 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. Februar 2010
(C)
(D)
Staatsministerin Cornelia Pieperlich weitere Gespräche mit der ukrainischen Regierungvorbehält. Natürlich werden wir alles daransetzen – dassage ich noch einmal –, dass konkrete Maßnahmen un-terstützt werden, nicht nur im Energiebereich, sondernauch im rechtsstaatlichen und im marktwirtschaftlichenBereich. Gehen Sie davon aus, dass wir das sehr wohl-wollend begleiten werden.
Danke, Frau Staatsministerin. – Die Frage 38 der Kol-
legin Dağdelen zur EU-Repräsentanz bei der Regie-
rungsübernahme in Honduras wird schriftlich beantwor-
tet.
Dies gilt auch für die Fragen 39 und 40 der Kollegin
Agnes Malczak zur Reaktion auf die Erklärung des irani-
schen Präsidenten zur Urananreicherung und zu Maß-
nahmen zum Abzug der in Deutschland verbliebenen
Atomwaffen.
Die Fragen 41 und 42 der Abgeordnete Katja Keul
werden ebenfalls schriftlich beantwortet, allerdings auf
der Grundlage von Nr. 2 Abs. 2 unserer Richtlinien für
die Fragestunde und für die schriftlichen Einzelfragen.
Das heißt – für diejenigen, die das nicht so genau wis-
sen –, dass wir uns mit den Gegenständen dieser Fragen
noch in dieser Sitzungswoche befassen und sie deshalb
heute in der Fragestunde keine Rolle spielen.
Die Frage 43 des Kollegen Tom Koenigs zu Förder-
maßnahmen im tertiären Bildungssektor in Afghanistan
soll ebenfalls schriftlich beantwortet werden.
Damit sind wir am Ende des Geschäftsbereiches des
Auswärtigen Amtes. Herzlichen Dank, Frau Staatsminis-
terin.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundesmi-
nisteriums des Innern. Ich rufe die Frage 44 des Abge-
ordneten Dr. Ilja Seifert auf:
Inwiefern wird die Bundeszentrale für politische Bildung
in ihrer Eigenschaft als Bundesanstalt im Geschäftsbereich
des Bundesministeriums des Innern und im Hinblick auf ak-
tuelle behindertenpolitische Belange ihrer Aufgabe gerecht,
durch Maßnahmen der politischen Bildung Verständnis für
dertenrechtskonvention formulierten Verpflichtung für die
Vertragsstaaten, das gesellschaftliche Bewusstsein für Men-
schen mit Behinderungen zu schärfen?
Zur Beantwortung der Frage steht der Parlamentari-
sche Staatssekretär Dr. Ole Schröder zur Verfügung.
Bitte, Herr Staatssekretär.
D
Die Bundeszentrale für politische Bildung hat die
Aufgabe, durch Maßnahmen der politischen Bildung
Verständnis für politische Sachverhalte zu fördern, das
demokratische Bewusstsein zu festigen und die Bereit-
schaft zur politischen Mitarbeit zu stärken. Politische
Bildung fußt auf der normativen Grundlage von Demo-
kratie, Toleranz und Menschenrechten und fördert auf
diese Weise das Bewusstsein für Vielfalt und die Tole-
ranz gegenüber jeglichen gesellschaftlichen Gruppen
und Minderheiten.
Eine Grundlage der Entwicklung von Bildungsange-
boten in der Bundeszentrale für politische Bildung ist
der sogenannte Diversity-Ansatz, also Diversitätsansatz,
der die Vielfalt von Identitäten, Unterschieden und Zu-
gehörigkeiten beschreibt, die den Menschen zu eigen
sind und die naturgegebene, in der Regel nicht veränder-
bare Faktoren oder Merkmale wie etwa Alter, Ethnizität,
Geschlecht, sexuelle Orientierung, Behinderung oder
Religion umfassen.
Zu diesen Kerndimensionen von Diversität und den
Themenfeldern und Grundfragen der Demokratie und
Menschenrechte im engeren Sinne stellt die Bundeszen-
trale für politische Bildung umfangreiche Basismateria-
lien und didaktische Handreichungen zur Verfügung.
Hierzu gehören Publikationen wie Zivilcourage lernen,
ein Lehr- und Arbeitsbuch, das unter anderem Lehrein-
heiten enthält, in denen die Bereitschaft, sich in Kon-
fliktfällen für Benachteiligte oder Bedrohte erfolgreich
einzusetzen, gefördert wird.
Durch entsprechende Fortbildungen und Trainings
der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundeszentrale
für politische Bildung werden zusätzlich die Vorausset-
zungen dafür geschaffen, dass der Diversitätsansatz mit-
telbar und unmittelbar in den Bildungsangeboten zum
Ausdruck kommt. Maßnahmen, durch die gezielt und
unmittelbar das gesellschaftliche Bewusstsein für Men-
schen mit Behinderung geschärft wird, hat die Bundes-
zentrale für politische Bildung bislang nicht ergriffen.
Im Rahmen der konzeptionellen Überlegungen der
Bundesregierung zur Umsetzung der Behindertenrechts-
konvention konzipiert das hierfür zuständige Bundesmi-
nisterium für Arbeit und Soziales einen Aktionsplan, der
unter anderem das Anliegen verfolgt, eine übergreifende
gesellschaftspolitische Diskussion über die Botschaft
des Übereinkommens anzustoßen.
Ziel ist es, alle Bevölkerungsgruppen für das Thema
Behinderung zu sensibilisieren, zu verdeutlichen, dass
Behinderung jeden treffen kann, und Behinderung mit
positiven Attributen zu besetzen. Die Bundeszentrale für
politische Bildung wird in diesen Zusammenhang einge-
bunden.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär, dass Sie uns vor-gelesen haben, welche Aufgabe die Bundeszentrale fürpolitische Bildung hat, und dass Sie uns beigebracht ha-ben, wie man das Wort „diversity“ ausspricht. Das istimmerhin etwas. Es geht mir aber nicht um die Vielfaltim Allgemeinen, sondern darum, dass die Bundesrepu-blik der UNO-Konvention beigetreten ist und sie ratifi-ziert hat und dass es einen Wandel von der sozialen Aus-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. Februar 2010 1843
(C)
(D)
Dr. Ilja Seifertrichtung gegenüber Menschen mit Behinderungen hinauf den Menschenrechtscharakter der Teilhabe von Men-schen mit Behinderungen gibt. Ich finde, das ist ein ge-waltiger Unterschied. Es wäre doch Aufgabe auch genaudieser Bundeszentrale und nicht nur des BMAS, für einebreite Aufklärungskampagne in der Bevölkerung undauch bei den Behörden und Beamten, die die Bestim-mungen ausführen sollen, zu sorgen, damit deutlich ge-macht wird, dass es ein Unterschied ist, ob man jeman-dem Hilfe leistet, der schwächer ist, oder ob diesemMenschen ermöglicht wird, die Menschenrechte, die ihmoder ihr zustehen, wahrzunehmen. Ich finde, hier hat dieBundeszentrale für politische Bildung eine große Auf-gabe; das haben Sie jetzt überhaupt nicht dargestellt.Was macht sie jetzt also diesbezüglich?D
Wie ich bereits vorgelesen habe, wird das Bundesmi-
nisterium für Arbeit und Soziales ein Konzept erarbei-
ten, um diesen Aktionsplan umzusetzen und auch um die
von Ihnen angesprochenen Ziele zu erreichen; das be-
ginnt ab Februar 2010. Dabei wird natürlich die Bundes-
zentrale für politische Bildung einbezogen.
Zweite Nachfrage, Dr. Seifert.
Ich hätte beinahe eine unanständige Bemerkung ge-
macht. Ich verkneife sie mir. – Entschuldigung, Herr
Staatssekretär, aber ich kann Sie beim besten Willen
nicht verstehen. Dass das Bundesministerium für Arbeit
und Soziales den Auftrag hat, im Namen der gesamten
Bundesregierung ein Umsetzungskonzept zu erarbeiten,
ist seit einem Jahr hinreichend bekannt. Ein Jahr wurde
verplempert, nichts wurde getan. Ich habe Sie aber da-
nach gefragt, was die Bundeszentrale für politische Bil-
dung dafür tut, dass die Bevölkerung überhaupt erfährt,
dass es ein Menschenrechtsabkommen gibt, das Men-
schen mit Behinderung als Bestandteil der Gesellschaft
begreift und Vielfalt als Gewinn ansieht. Das ist doch
eine Aufgabe, die die Bundeszentrale für politische Bil-
dung, eine Ihnen unterstellte Behörde, erfüllen kann,
ohne darauf zu warten, was sich das Bundesministerium
für Arbeit und Soziales irgendwann einmal ausdenkt.
Bitte schön.
D
Sicherlich kann die Bundeszentrale für politische Bil-
dung hier einen Beitrag leisten; das ist selbstverständ-
lich.
Wir haben entschieden, dass das BMAS zunächst ein
Konzept erstellt. Ich finde es durchaus vernünftig, dass
hier ein Ministerium federführend ist und nicht alle Mi-
nisterien völlig unabhängig voneinander und völlig un-
abgestimmt eigene Maßnahmen ergreifen. Insofern sehe
ich keinen Widerspruch zu Ihrer Zielsetzung, den neuen
Ansatz nach vorne zu bringen.
Die Zeit für die Fragestunde ist in wenigen Sekunden
abgelaufen. Deswegen beende ich die Fragestunde.
Wir kommen zum Zusatzpunkt 1:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Was folgt aus dem Urteil des Bundesverfas-
sungsgerichts zu den Regelsätzen bei Hartz IV?
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin das Wort der Kollegin Katja Kipping von der Frak-
tion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute hatdas Bundesverfassungsgericht zu den Hartz-IV-Regel-leistungen geurteilt. In diesem Urteil heißt es: DasArbeitslosengeld II für Erwachsene sowie das Sozial-geld für Kinder genügen nicht dem Grundrecht auf Ge-währleistung eines menschenwürdigen Existenzmini-mums. Im Klartext heißt das: Die Kernnormen vonHartz IV sind verfassungswidrig. Ich finde, das ist eineschallende Ohrfeige für alle Parteien, die Hartz IV mitzu verantworten haben.
Nach diesem Urteil gibt es nun einen Überbietungswett-bewerb. Die FDP meint, das Urteil sei eine Ohrfeige al-lein für Rot-Grün. Die Ministerin mit CDU-Parteibuchtut so, als ob sie dieses Urteil geradezu herbeigesehntbzw. herbeigebetet hätte. Kurzum: Man hat das Gefühl,dass es keiner so recht gewesen sein will, wenn es umHartz IV geht. Da wundert man sich doch, wie dasGanze überhaupt auf die Welt gekommen ist.Vor diesem Hintergrund sollten wir in Erinnerung ru-fen: Den Grundsatz von Hartz IV haben vier Fraktionendes Bundestages mitgetragen, nämlich die von FDP,CDU/CSU, SPD und Grünen. Da die Sozialministerinnun so tut, als hätte sie dieses Urteil gewollt, wollen wirdeutlich machen, dass es Betroffene waren, die diesesUrteil erkämpft haben. Wir wollen auch daran erinnern,dass die Union Hartz IV nicht nur mitgetragen hat, son-dern sich noch in der letzten Wahlperiode dafür einge-setzt hat, dass das Sanktionsregime verschärft wird.
Lassen Sie uns festhalten: Die Hartz-IV-Parteien ha-ben nicht nur Millionen Menschen in Armut und Aus-grenzung per Gesetz getrieben. Nein, sie sind offensicht-lich noch nicht einmal in der Lage, verfassungskonformeGesetze zu verabschieden. Es handelt sich immerhin umdas zweite Urteil in höchster Instanz, das ihren GesetzenVerfassungswidrigkeit bescheinigt. Bei diesem Tatbe-stand ist man geneigt, dem Verfassungsschutz zuzuru-
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1844 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. Februar 2010
(C)
(D)
Katja Kippingfen: Kümmert euch doch einmal ein bisschen um dieseBundesregierung. Ganz offensichtlich hat sie Probleme,die Bestimmungen des Grundgesetzes einzuhalten.
Das Bundesverfassungsgericht hat heute nur über dasVerfahren entschieden. Das Existenzminimum stellt dieunterste Grenze dar, die nicht unterschritten werden soll.Das Gericht hat aber auch deutlich gemacht, dass ober-halb dieser untersten Grenze ein Gestaltungsspielraumbesteht. Diesen sollten wir als Bundestag nutzen; denndas verfassungswidrige Sanktionsregime Hartz IV istnicht alternativlos. Die Linksfraktion hat gestern einenAntrag formuliert, mit dem wir uns klar dafür einsetzen,dass der Regelsatz auf 500 Euro erhöht wird, dass dieSanktionsparagrafen ebenso wie das Konstrukt der Be-darfsgemeinschaft gestrichen werden, und mit dem wiruns für einen Mindestlohn einsetzen. Kurzum, wir for-dern Sie auf: Sagen Sie Ja zu einer sanktionsfreien, ar-mutsfesten Mindestsicherung! Sagen Sie Ja zu unsererAlternative zu Hartz IV!
Auf einen Kritikpunkt des Bundesverfassungsgerichtswill ich im Detail eingehen, und zwar auf folgenden:Noch folgt die jährliche Anpassung der Regelsätze demaktuellen Rentenwert. Das heißt, wenn die Rente steigt,steigt prozentual auch das Arbeitslosengeld II. Die Linkehat schon immer darauf hingewiesen, dass nicht derRentenwert das entscheidende Kriterium sein sollte, son-dern die Lebenshaltungskosten. Im Klartext: Wenn diePreise für Brot, für Strom oder für den Bus steigen, dannmuss im selben Maße die Grenze des Existenzminimumsangehoben werden. Das Bundesverfassungsgericht gibtes Ihnen heute schwarz auf weiß, indem es sagt, dass derRentenwert der falsche Bezugspunkt für die Berechnungdes Existenzminimums ist. Diese Blamage hätte Ihnenerspart bleiben können, wenn Sie eher Anträgen derLinksfraktion zugestimmt hätten.
Heute ist ein guter Tag; denn Betroffene haben sichzur Wehr gesetzt und gezeigt, dass es sich lohnt, fürseine Rechte zu kämpfen.
Heute ist ein guter Tag; denn der heutige Tag ist auch einFesttag für die Idee der sozialen Teilhabe. Das Bundes-verfassungsgericht hat eindeutig klargestellt: Die Ge-währleistung des Grundrechts auf ein menschenwürdi-ges Existenzminimum ist nicht eine Frage derMildtätigkeit oder Großzügigkeit des Parlaments, son-dern ein Verfassungsgebot. Wenn man manch einenWirtschaftslobbyisten oder den hessischen Ministerprä-sidenten mit CDU-Parteibuch in den letzten Tagen ge-hört hat, dann hatte man das Gefühl, vom Sozialstaatsge-bot könne beliebig abgewichen werden. Als ob diePrinzipien unserer Verfassung Rezepte wären, von denenman beliebig abweichen kann! Unsere Verfassung istkein Kochbuch, sondern unsere Verfassung schreibt dasSozialstaatsprinzip fest, und das ist nicht verhandelbar.Die Gewährleistung des Existenzminimums ist einePflicht, die nicht zur Verhandlung steht.
Dabei geht es nicht nur – auch das hat das Bundesverfas-sungsgericht unterstrichen – um das physische Existenz-minimum, sondern es geht auch um Teilhabe am kultu-rellen und politischen Leben. Kurzum, es geht nicht nurum Essen, Strom und Seife, sondern es geht auch um denTelefonanschluss, die Zeitung und den Besuch beiFreunden; denn – so wortwörtlich das Bundesverfas-sungsgericht – „der Mensch … existiert notwendig in so-zialen Bezügen …“. Meine Damen und Herren, ich for-dere Sie auf: Nehmen Sie dieses Urteil ernst!Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Parlamentarische Staatssekretär
Dr. Ralf Brauksiepe.
D
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Mit seinem Urteil zu den Regelsätzen imSozialgesetzbuch II hat das Bundesverfassungsgerichtheute Morgen erstmals zu einigen zentralen Grundfragender Sozialpolitik Stellung bezogen. Eines dazu gleichvorweg: Die Bundesregierung begrüßt diese klarstel-lende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.
Das Urteil aus Karlsruhe ist keine Schwarz-Weiß-Ent-scheidung, gibt uns aber die Leitplanken vor, die wirbrauchen, um zu einer allgemein akzeptierten Leistungs-bemessung zu kommen.
Das Bundesverfassungsgericht hat die Höhe der Regel-sätze und die Berechnungsmethode im Grundsatz nichtinfrage gestellt.
Aber künftig muss besser und nachvollziehbarer begrün-det werden, wie die Regelsätze im Einzelnen zustandekommen. Das werden wir machen. Ich sage das auch inRichtung auf die Fraktion Die Linke. Ihr Hinweis, dassdiese frei gewählte Regierung vom Verfassungsschutzbeobachtet werden soll, zeigt, wes Geistes Kind sie ist.Das hat mit dem, worum es hier geht, nichts zu tun.
Die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe ist eineverfassungsrechtlich zulässige und vertretbare Basis zurBestimmung des Existenzminimums; das geht aus dem
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. Februar 2010 1845
(C)
(D)
Parl. Staatssekretär Dr. Ralf BrauksiepeUrteil klar hervor. Ebenso klar hat das Gericht allerdingsKorrekturen und Konkretisierungen angemahnt. Vor al-lem in drei Punkten sieht das Bundesverfassungsgerichtden Grundsatz eines transparenten, folgerichtigen, sach-und realitätsgerechten Verfahrens zur Ermittlung des tat-sächlichen Bedarfs verletzt. Das betrifft erstens die, wiees heißt, freihändige Setzung der Kinderregelsätze ohneempirische und methodische Fundierung. Das betrifftzweitens die bisher fehlende Berücksichtigung der be-sonderen Bedarfe zum Beispiel für Schulkinder. Drittensbetrifft es die Fortschreibung nach dem aktuellen Ren-tenwert.Außerdem verlangt das Gericht eine Härtefallklausel.Sie greift aber nur, wenn Hilfebedürftige einen unab-weisbaren, laufenden und nicht nur einmaligen besonde-ren Bedarf haben. Es wird sich dabei um seltene Einzel-fälle handeln. Darauf hat auch die Bundesagentur fürArbeit heute in einer öffentlichen Stellungnahme, wieich finde, zu Recht hingewiesen. Auch das Prinzip derPauschalierungen steht nicht infrage. Dort, wo Härtefällevorliegen, wo etwas geschehen muss, ist dies ab sofortmöglich.Entscheidend ist außerdem, dass sich das Bundesver-fassungsgericht ausdrücklich nicht befugt sieht, eine Be-wertung über die Höhe der ermittelten Regelsätze abzu-geben. Das Bundesverfassungsgericht stellt klar: Ausder Verfassung ist die Höhe der Regelsätze nicht direktableitbar, und die Regelsätze sind von ihrer Höhe hernicht offensichtlich unzureichend. Auch das gehört zuden Feststellungen in diesem Urteil.
Es ist Sache des Gesetzgebers, die Regelsätze festzule-gen. Er hat hier einen Spielraum. Diesen muss er trans-parent und konsequent auf fundierter empirischerGrundlage nutzen.Im Urteil heißt es eben nicht, dass die Regelsätze jetztautomatisch höher – und damit für den Staat teurer –werden. Ich finde es wichtig, dass hier jetzt keine fal-schen Hoffnungen geweckt werden. Das Bundesverfas-sungsgericht hat das Lohnabstandsgebot mit seinem heu-tigen Urteil nicht außer Kraft gesetzt.
Wir als Bundesregierung werden Vorschläge machen,wie der Gesetzgeber seinen Gestaltungsspielraum nutzensollte. Das heißt auch, das Lohnabstandsgebot zu be-rücksichtigen und dafür zu sorgen, dass diejenigen, dieder Hilfe bedürfen, die Hilfe bekommen, die sie brau-chen, aber dass auch diejenigen, die jeden Morgen auf-stehen und zur Arbeit gehen
und diesen Sozialstaat mit ihren Steuern und Sozialabga-ben finanzieren, sich nicht als die Dummen fühlen. Dasist auch unsere politische Aufgabe.
Bei der Bekämpfung von Armut sind und bleiben diedirekten materiellen Leistungen unverzichtbar. Das istkeine Frage, aber es geht um mehr. Arbeit und Einkom-men spielen eine entscheidende Rolle. Das zeigt sich be-sonders bei der Lebenssituation von Kindern. Wenn dieEltern Arbeit haben, sinkt das Armutsrisiko der Kindermassiv. Das ist es, was im Mittelpunkt steht: dafür zusorgen, dass Menschen wieder in Arbeit kommen. In ei-nem Haushalt, in dem kein Elternteil erwerbstätig ist,liegt das Risiko eines Kindes, arm zu werden, bei48 Prozent; bei einer Vollbeschäftigung beider Eltern-teile liegt es bei 4 Prozent. Das heißt, der Weg raus ausdem Armutsrisiko, raus aus der Abhängigkeit und rausaus der Hilfebedürftigkeit führt über Arbeit. Dafür müs-sen wir die Rahmenbedingungen schaffen.
Das heißt, es geht um maßgeschneiderte Leistungenfür Kinder und Jugendliche, die unter schwierigen Be-dingungen aufwachsen. Es geht um maßgeschneiderteLösungen für Menschen mit Migrationshintergrund, dieindividuelle Angebote brauchen, für Frauen, die nach ei-ner längeren Familienphase wieder ins Berufsleben ein-steigen wollen, und nicht zuletzt auch für Ältere, die denAnschluss nicht verpassen dürfen und deren Erfahrun-gen in dieser Gesellschaft gebraucht werden. Es ist we-der Absicht noch Ziel der Grundsicherung für Arbeitsu-chende, eine dauerhafte Abhängigkeit von staatlichenLeistungen zu erzeugen. Fördern und Fordern gehörenzusammen. Dafür steht auch diese christlich-liberaleBundesregierung.
Es geht uns um ein Gesamtkonzept, wie wir bessereTeilhabechancen und faire Aufstiegsmöglichkeiten füralle schaffen, also unabhängig vom Geldbeutel und un-abhängig von der Herkunft.Armut hat viele Gesichter; eines ist die Bildungsar-mut. Umgekehrt gilt: Bildung eröffnet Teilhabechancenein Leben lang. Für Bildung ist niemand zu jung undkeiner zu alt. Deswegen begrüßt es die Bundesregierung,dass uns das Bundesverfassungsgericht aufgegeben hat,insbesondere Bildungsausgaben und Bildungsbedarfeneu einzubeziehen. Das werden wir tun; dem werden wirgerecht werden.
Heute ist nicht der Zeitpunkt, um Schuldzuweisungenvorzunehmen.
Es macht Sinn, dass jeder dieses Urteil ernst nimmt unddass wir gemeinsam die notwendigen Konsequenzen da-raus ziehen. Für die Bundesregierung steht das außerFrage. Auch wenn es nicht um Schuldzuweisungen geht,stelle ich fest: Keinen einzigen der Punkte, die das Bun-desverfassungsgericht vor allem kritisiert – die Art undWeise der Festsetzung der Kinderregelsätze, die Nicht-berücksichtigung besonderer Bedarfe für Schulkinderund die Fortschreibung nach dem aktuellen Rentenwert –,hat die christlich-liberale Koalition erfunden; nichts von
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Parl. Staatssekretär Dr. Ralf Brauksiepedem, was kritisiert worden ist, hat diese Regierung zuverantworten.
Ich will deutlich sagen: Das, was hier kritisiert wordenist, stammt aus der Zeit, als das Sozialgesetzbuch II inder heutigen Form geschaffen worden ist. Die rot-grüneVorgängerregierung hat genau die Regelungen einge-führt, die das Bundesverfassungsgericht heute kritisierthat. Ich sage das ohne Schuldzuweisung. Es ist einfacheine Tatsachenfeststellung. Auch darüber muss man indiesen Tagen reden können.
Mit der ersten Bundesregierung Merkel ist vieles bes-ser geworden.
Wir haben für die Schulkinder das Schulbedarfspaketeingeführt. Wir haben einen dritten Kinderregelsatz von70 Prozent für die 6- bis 13-Jährigen eingeführt. Dasmag verfassungsrechtlich nicht besonders elegant er-scheinen. Die erste Regierung Merkel hat aber eine rot-grüne Hinterlassenschaft beseitigt; sie hat dafür gesorgt,dass es den Kindern, die von der Hilfsbereitschaft ande-rer leben müssen, deutlich besser geht. Das ist ein Fort-schritt, den die erste Regierung Merkel erzielt hat.Die zweite Regierung Merkel, die christlich-liberaleKoalition, wird daran anknüpfen. Wir werden dafür sor-gen, dass es den Menschen in diesem Land besser gehtund dass Kinder bessere Teilhabechancen haben. Daswerden wir aber nicht tun, indem wir Reichtum für allepropagieren, sondern dadurch, dass wir Chancen aufTeilhabe durch Bildung und durch Arbeit schaffen, in-dem wir die Rahmenbedingungen für mehr Arbeit undBeschäftigung in diesem Land herstellen.
Das ist unser Auftrag, und dem werden wir gerecht wer-den.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Elke Ferner von der SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Nachdem Frau von der Leyen heute Morgen in Karls-ruhe war und auch dem Ausschuss für Arbeit und Sozia-les Rede und Antwort stand, hätte ich mir gewünscht,dass sie auch dem Plenum des Deutschen Bundestages inder Aktuellen Stunde Rede und Antwort steht.
Herr Brauksiepe, es hilft nichts, zu sagen, wir solltenjetzt keine rückwärtsgewandte Debatte führen und keineSchuldzuweisungen vornehmen, wenn Sie selbst imnächsten Atemzug mit Schuldzuweisungen anfangen.Ich möchte nur einmal daran erinnern, dass es unter derersten Regierung Merkel die SPD war, die das Schulbe-darfspaket durchgesetzt hat, und dass es die CDU/CSU-Bundestagsfraktion gewesen ist, die dieses Paket zu-nächst einmal nur bis zum zehnten Schuljahr gewährenwollte. Das gehört zur Wahrheit dazu, Herr Brauksiepe.
Ich möchte an ein paar Punkte erinnern, die die Rich-ter und die Richterin heute Morgen in Karlsruhe deutlichgemacht haben.Das soziokulturelle Existenzminimum muss immergewährleistet sein; das steht nicht zur Disposition. Mankann nicht nach dem Motto vorgehen: Wir schaffen jetzteinfach neue Berechnungsgrundlagen, und im Ergebniskommt das Gleiche wie bisher heraus. Das, was HerrBrauksiepe eben gesagt hat, hörte sich ein bisschen soan, als hoffe man, nicht mehr Geld ausgeben zu müssen.Den Tickermeldungen habe ich eben entnommen, dassHerr Kolb von der FDP gesagt hat: Die Mehrausgabensparen wir an anderer Stelle ein.
Wo denn? Bei der aktiven Arbeitsmarktpolitik, wo dochgerade die aktive Arbeitsmarktpolitik der beste Schutzvor Armut ist?
Der beste Schutz vor Armut ist eine existenzsicherndeErwerbsarbeit. So brauchen Erwachsene keine Sozial-hilfe und keine Grundsicherung, und so sind vor allenDingen Kinder nicht auf Grundsicherungsleistungen an-gewiesen. Der beste Schutz vor Kinderarmut ist die Er-werbstätigkeit der Eltern.
Karlsruhe hat auch gesagt: Die Ermittlung des Exis-tenzminimums muss transparent und nachvollziehbargeregelt werden, und zwar in einem Gesetz. Es wird einheißer Ritt sein, bis zum Ende des Jahres ein Gesetzge-bungsverfahren zu diesem nicht ganz unkomplexenThema durchzuführen. Aber der Aufgabe werden wiruns stellen. Außerdem müssen wiederkehrende Sonder-belastungen, die bisher nicht im Existenzminimum be-rücksichtigt sind, auch gesondert gedeckt werden. Vorallen Dingen müssen kindspezifische Bedarfe bei derBildung gesondert und altersgerecht ermittelt und vor al-len Dingen auch vollständig gedeckt werden. Das bedeu-tet: Wir brauchen einen eigenen Kinderregelsatz – dasunterstützen wir sehr –, in dem die kindspezifischen Be-darfe abgebildet sind.
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Elke FernerDas Bemerkenswerteste an dem heutigen Urteil ist,dass Karlsruhe das Sozialstaatsgebot ganz deutlich ge-stärkt hat. Durch diese Entscheidung ist klar geworden:Der Sozialstaat ist keine disponible Masse. Er steht nichtzur Disposition. Er steht vor allen Dingen nicht zur Dis-position derer, die sich in ihrem Koalitionsvertrag daran-machen, elementare Grundfesten des Sozialstaats anzu-gehen.
Deshalb müssen die staatlichen Ebenen, die die neuenRegelsätze und die Sicherung des Existenzminimumsnachher zu finanzieren haben, über die entsprechendenfinanziellen Grundlagen verfügen. Das schließt nach un-serer Auffassung eine Steuerreform aus, bei der diejeni-gen, die schon ein x-faches des Existenzminimums ha-ben, noch entlastet werden sollen. Diese Masse ist nichtverfügbar. Wie ich den Tickermeldungen entnehmenkonnte, sieht das im Übrigen auch die CSU so. Ich bineinmal gespannt, wie Sie an der Stelle weiterkommen.Das schließt im Übrigen genauso die Einführung einerKopfprämie aus, die einen Sozialausgleich von fast40 Milliarden Euro erfordert; das Geld steht nicht zurVerfügung.
Ich kann Ihnen nur raten: Schaffen Sie auch die Vo-raussetzungen dafür, dass Menschen, die arbeiten, vonihrem Lohn leben können! Das Verfassungsgericht hatnämlich auf die Menschenwürde abgestellt. Das Lohn-abstandsgebot definiert sich seit heute nicht mehr nachdem Motto: „Der unterste Hungerlohn ist der Maßstab,um die Grundsicherung festzusetzen“, sondern danach:Das soziokulturelle Existenzminimum plus X muss amMonatsende bei denen in der Lohntüte vorhanden sein,die acht Stunden am Tag und fünf Tage die Woche arbei-ten.
Deshalb ist Ihre Verweigerungshaltung beim ThemaMindestlöhne überhaupt nicht mehr nachvollziehbar –genauso wenig wie die Ausweitung der Regelungen zumKombilohn und zu den Minijobs, die Sie in Ihrem Koali-tionsvertrag vereinbart haben.
Wir haben in den nächsten Wochen und Monatennoch vieles zu tun. Ich hoffe, dass wir eine offene De-batte darüber bekommen, was das soziokulturelle Exis-tenzminimum ist und was dazu gebraucht wird, undnicht eine Debatte darüber führen, welches soziokultu-relle Existenzminimum wir uns leisten können; denn dashaben diejenigen, die auf Grundsicherung angewiesensind, nicht verdient.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Pascal Kober von der FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dasheutige Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Re-gelleistungen nach SGB II, den sogenannten Hartz-IV-Regelsätzen, ist sicherlich kein Ruhmesblatt für die rot-grüne Sozialpolitik der Vergangenheit,
aber wir wollen uns nicht zu lange damit aufhalten, Ver-gangenheitsschau zu betreiben und Schuldige zu suchen.Wir als christlich-liberale Regierungskoalition sehenin dem Urteil zunächst einmal eine Herausforderung – esist ein ehrgeiziges Ziel, die Zeitvorgabe „bis zum Endedes Jahres“ einzuhalten –; vor allen Dingen sehen wirdarin aber eine Chance für die betroffenen Menschen,
die wir gern nutzen, und daran machen wir uns ab sofort.
Wir begrüßen dieses Urteil als FDP insbesondere auchdeshalb, weil es in seinem Kern von Staat und PolitikTransparenz und Rechtfertigung des eigenen Handelnseinfordert – ein urliberaler politischer Gedanke der FDP.
Wenn man sich konkret ansieht, welche Kritikpunktedas Bundesverfassungsgericht an der rot-grünen Hartz-IV-Politik formuliert hat, dann sieht man, dass es demBundesverfassungsgericht im Grundsatz nicht um dieBerechnungsmethode ging, sondern, zugespitzt, ummangelnde Transparenz und fehlende Wertungsentschei-dungen, allerdings nicht bei der Frage nach dem physi-schen Existenzminimum. Nein, es ging dem Bundesver-fassungsgericht um fehlende Wertungsentscheidungenbei der Frage, was die Menschen über das reine physi-sche Existenzminimum hinaus an Unterstützung für diegesellschaftliche Teilhabe benötigen. So werden wir alschristlich-liberale Regierungskoalition die Frage beant-worten, die Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, damalsbewusst oder vielleicht auch unbewusst offengelassenhaben. Das ist vertrauenswürdige Politik und Politik, diesich vor Verantwortung nicht scheut.
Zum jetzigen Zeitpunkt ist es auch völlig unange-bracht, über die Höhe der Regelsätze zu diskutieren;denn noch einmal: Darüber hat das Bundesverfassungs-gericht keine Aussage getroffen.
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Pascal Kober
Angesichts des Tenors des Urteils ist wohl davon auszu-gehen, dass, wenn die Höhe der Regelsätze unangemes-sen wäre, das Bundesverfassungsgericht dies auch expli-zit moniert hätte.
Liebe Kolleginnen und Kollegen insbesondere derSPD, ich habe ein gewisses Verständnis dafür, dass Sievon Ihren Versäumnissen aus dem Jahr 2005 jetzt ablen-ken wollen,
indem Sie Ihre altbekannten Themen, Frau Ferner, wieMindestlohn oder die intellektuell etwas unambitioniertePauschalkritik am Steuerkonzept der FDP unsachgemäßin diese Debatte einführen.
Wir haben ja schon darüber gesprochen, dass beispiels-weise eine alleinerziehende Mutter, die, weil sie keineBetreuung für ihr Kind findet, nur 15 Stunden die Wochearbeiten kann, auch durch einen Mindestlohn von7,50 Euro, 8 Euro oder 10 Euro nicht von staatlicher Un-terstützung unabhängig wird.Wenn Sie, Frau Ferner, meinen, heute schon wissenzu können, was dieses Urteil für den Bundeshaushalt be-deuten wird, muss ich Ihren Eifer entschieden zurück-weisen. Noch einmal: Das Bundesverfassungsgericht hatkeine Aussage über die Höhe der Regelsätze getroffen.
Außerdem sind wir, die christlich-liberale Regierungs-koalition, mit dem Anspruch angetreten, durch eine effi-zientere und wirksamere Arbeitsvermittlung, durch effi-zientere und wirksamere Arbeitsmarktinstrumente unddurch eine effizientere und wirksamere Wirtschafts-, Fi-nanz- und Bildungspolitik immer mehr Menschen denWeg aus dem SGB-II-Rechtskreis hinaus und in sozial-versicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse und damit inein weitestgehend selbstbestimmtes Leben hinein zu eb-nen.
Von daher sind am heutigen Tag zu den Auswirkungendieses Urteils auf den Bundeshaushalt, Frau Ferner,schlicht noch keine Aussagen möglich.Wir werden die Sätze für Kinder wirklich kindspezi-fisch ausgestalten.
Wir als christlich-liberale Koalition denken nämlich vorallen Dingen zunächst an die, die von Hartz IV am här-testen betroffen sind.
In dieser Hinsicht bietet das Urteil viele Chancen, diewir ergreifen und umsetzen werden. Das Urteil hat eineklare Botschaft: Bildung ist der beste Schutz vor Armut.
Nur durch gute Bildung besteht die Chance zur selbstbe-stimmten gesellschaftlichen Teilhabe. Das ist im Übri-gen eine Position, die wir als FDP-Bundestagsfraktionschon lange vertreten und die sich auch im Koalitions-vertrag wiederfindet.Von daher sehen wir dieses Urteil als Chance und alsHerausforderung. Wir freuen uns auf die nächsten Mo-nate.
Die höchstrichterliche Entscheidung manifestiert die Be-deutung von Bildung in unserem Land. Diese Chancewerden wir für die Menschen ergreifen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Markus Kurth von Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichglaube, man muss hier doch einmal einiges klarstellen.Frau Kipping, das Bundesverfassungsgericht hat heutenicht insgesamt über das Sozialgesetzbuch II oder überdie Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfegeurteilt, sondern über den Kern der Regelsatzverord-nung, nämlich die Höhe der Regelsätze.
Diese Regelsatzverordnung – Herr Brauksiepe, dieseWorte richte ich an die Bundesregierung – ist von der da-maligen Bundesregierung im Jahre 2003 verabschiedetworden. Dem haben aber im Bundesrat die Landesregie-rungen,
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Markus Kurthan denen zum Teil die CDU und die SPD und teilweiseauch die FDP beteiligt waren, zugestimmt.Wenn wir uns das Urteil und die dazugehörenden Be-wertungen in Ruhe anschauen, dann kommen wir zudem Schluss, dass wir uns in der Tat kritisch fragen müs-sen, ob die Bestimmung der Regelsatzhöhe durch dieBundesregierung und durch die Landesregierungen imRahmen einer Verordnung bei diesen richtig aufgehobenist oder ob wir nicht besser darüber im Parlament disku-tieren sollten.
Das Bundesverfassungsgericht spricht von Schätzun-gen ins Blaue hinein, die keine realitätsgerechte Ermitt-lung darstellten. Es führt weiterhin aus, die Bestimmungdes regelleistungsrelevanten Verbrauchs beruhe nicht aufeiner tragfähigen Auswertung der Einkommens- undVerbrauchsstichprobe, und die Kinderregelsätze beruh-ten auf einer freihändigen Setzung ohne empirische undmethodische Fundierung. Auch die 100 Euro für das vonIhnen eben so gepriesene Schulstarterpaket – HerrBrauksiepe, hören Sie genau zu! – seien, so das Bundes-verfassungsgericht, freihändig geschätzt. Das ist natür-lich absolut dramatisch.
Jetzt höre ich die Zurufe „Das war Rot-Grün! Sie wa-ren damals dabei!“ und dergleichen mehr.
Ich möchte hier einmal feststellen, dass das von unsnicht infrage gestellt wird. Aber selbstverständlich ha-ben wir die Entwicklung in den Jahren nach 2003 genaubeobachtet und bewertet. In dem Familienbericht derBundesregierung aus dem Jahre 2006 steht, dass man mitdem für Ernährung vorgesehenen Anteil des Hartz-IV-Re-gelsatz nur bis zum 24. Tag eines Monats eine gesundeErnährung für Kinder sicherstellen kann. Das war einFamilienbericht der Großen Koalition.
Das Statistische Bundesamt hat eine Untersuchungüber das Ausgabeverhalten von Niedrigeinkommenshaus-halten durchgeführt, in der festgestellt wird, dass auch dieeinkommensschwächsten Haushalte 60 bis 70 Euro mehrfür Kinder ausgeben, als im Regelsatz vorgesehen ist.Daraus haben wir im Gegensatz zu Ihnen von der FDP,die Sie jetzt von einer Ohrfeige für Rot-Grün sprechen,unsere Schlüsse gezogen.
Wir haben in den Jahren 2007, 2008 und 2009 An-träge zu diesem Thema gestellt, denen Sie, wenn Sie denbestehenden Zustand als so skandalös empfunden hätten,hätten zustimmen können. Wir haben noch vor dem heu-tigen Urteil die Situation genau analysiert und haben inunserer heutigen Fraktionssitzung einen Beschluss ge-fasst, den wir in der nächsten Sitzungswoche des Deut-schen Bundestages als Antrag einbringen werden. Daringehen wir genau auf die Punkte ein, die das Bundesver-fassungsgericht inkriminiert.
Wir fordern, dass jetzt schnell gehandelt wird. Wirsind der Auffassung, dass sofort gehandelt werden mussund dass es nicht falsch wäre, eine sofortige Erhöhungder Regelsätze für Erwachsene und Kinder vorzunehmenund unverzüglich eine Kommission aus unabhängigenExperten einzuberufen, die dem Parlament Vorschlägemacht, wie man zukünftig mit der Regelsatzfestsetzungverfahren soll.Wenn Sie, Herr Brauksiepe, jetzt sagen, niemandsolle sich Hoffnungen auf höhere Regelsätze machen,dann laufen Sie Gefahr, den Fehler aus dem Jahr 2003 zuwiederholen, nämlich vorab fiskalisch das Ausgabevolu-men festzusetzen und dann den Regelsatz auf dieseGröße passend zu rechnen. Das würde uns umgehendwieder vor das Verfassungsgericht führen.
Ich möchte abschließend sagen: Bei der ganzen Argu-mentation um das Lohnabstandsgebot ist die Menschen-würde, also der Bezug auf Art. 1 des Grundgesetzes,entscheidend. Das hat seinen Niederschlag in § 1 desdamaligen Bundessozialhilfegesetzes gefunden, wo eshieß, dass die Sozialhilfe den Menschen ein Leben inWürde ermöglichen soll. Das muss der erste Maßstabsein.
Es geht natürlich darum, den bereits angesprochenenMindestlohn einzuführen, um damit das Prinzip derMenschenwürde sozusagen zu flankieren.
Da, wo der Mindestlohn nicht ausreicht, gilt es, die vor-gelagerten Systeme wie beispielsweise Wohngeld undSteuerzuschuss zu den Sozialversicherungsabgaben imunteren Einkommensbereich zu stärken. Das ist wesent-lich sinnvoller als Ihre Steuersenkungspläne, die sich mitdem heutigen Urteil ein weiteres Mal, wenn nicht garvollständig, erledigt haben dürften.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Carsten
Linnemann von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Ich kann javerstehen, dass das Urteil von heute Emotionen weckt.
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Dr. Carsten Linnemann
Aber bei allen Emotionen sollten wir die Kirche im Dorflassen. Ich habe Ihnen einmal Tickermeldungen vonheute mitgebracht. Die stellvertretende Vorsitzende derPartei Die Linke, Katja Kipping, sagte heute:Der heutige Tag ist ein Festtag …Das haben Sie auch eben noch einmal gesagt. Ich zitiereweiter:Die Partei DIE LINKE fordert … die Erhöhung derRegelsätze für Erwachsene auf 500 Euro …
Gregor Gysi sagte, dass das ganze System „ein Angriffauf den Sozialstaat“ Deutschlands ist.
So treten wir im Ausland auf.
Jetzt kommen die Fakten: Erstens. Der Bereich Arbeitund Soziales macht den größten Ausgabenblock imHaushalt aus.Zweitens. Der Bereich Arbeit und Soziales wächst indiesem Jahr auf knapp 150 Milliarden Euro an; das istein Plus von 15 Prozent.Drittens. 43 Prozent der wahlberechtigten Bevölke-rung in Deutschland bekommen Sozialleistungen. AllenUnkenrufen von Ihnen zum Trotz: Dieses Land ist einsozialer Staat, und wir können uns mit allen anderenStaaten auf diesem Globus messen.
Wir blicken jetzt zurück auf sieben Stunden seit Ver-kündung des Urteils um 10 Uhr. Wir freuen uns über dieKlarheit – auch das sagen wir offen –, und wir werdenTransparenz und Stringenz schaffen. Aber zwei Punktekann ich Ihnen heute schon sagen: Wer dieses Urteil aus-nutzt, um einen Wettlauf um die höchsten Regelsätzevom Zaun zu brechen und, wie Sie, einen Regelsatz von500 Euro fordert,
der streut den Menschen Sand in die Augen. Dann wer-den nämlich Millionen von Menschen in das SGB II rut-schen,
und dann wird der Grundsatz, dass Arbeit sich lohnenmuss, in Deutschland mit Füßen getreten.
Über den zweiten und letzten Punkt habe ich mich ge-rade noch mit Frau Fischbach unterhalten; dieser ist ganzwichtig. Wir reden hier über Regelsätze. Aber bei allenEmotionen und bei allem Eifer dürfen wir das Grundpro-blem nicht aus den Augen verlieren: Das Ziel muss essein, die Menschen in Beschäftigung zu bringen.
Nehmen Sie doch nur das Beispiel der Kinderregel-sätze – ich zitiere Herrn Brauksiepe –: 50 Prozent derKinder, deren Eltern von Leistungen nach dem SGB IIleben, sind von Armut bedroht, aber nur – in Anfüh-rungsstrichen – 8 Prozent der Kinder von Eltern, die Ar-beit haben. Mit anderen Worten: Der Schlüssel ist, dassdie Eltern wieder in Beschäftigung kommen. Die Politikkann zwar keine Beschäftigung schaffen, aber sie kannden Rahmen dafür setzen. Die Union wird dies verläss-lich und entschlossen tun.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Gabriele Hiller-Ohm von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ichkomme wieder zum Thema zurück.
Das Bundesverfassungsgericht hat heute über eine derwichtigsten Fragen überhaupt geurteilt: Wie soll dieGrundsicherung, also das letzte soziale Auffangnetz inunserer Gesellschaft, aussehen?Wir haben uns seit der Zusammenlegung von Arbeits-losenhilfe und Sozialhilfe im Jahr 2005 immer wiedermit diesem Thema befasst; auch Vereine und Verbändehaben intensiv über die Grundsicherung diskutiert. Dasist auch gut so. Ich hätte mir diese Diskussion übrigensschon viel früher zur Sozialhilfe gewünscht. Denn esgeht um nicht weniger als um die Absicherung der Exis-tenz von Menschen, die auf einen intakten Sozialstaatangewiesen sind. Das gilt ganz besonders für die über2 Millionen armutsgefährdeten Kinder in unserem Land.Das Bundesverfassungsgericht bemängelt, dass kinder-spezifische Bedarfe überhaupt nicht eigens ermittelt,sondern lediglich vom Erwachsenenregelsatz abgeleitetwerden.Bedarfsgerechte und differenzierte Kinderregelsätzesind eine zentrale Forderung der SPD.
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Gabriele Hiller-OhmDie Schwachstelle in der Regelsatzbewertung haben wirerkannt und deshalb in der letzten Legislaturperiode eineSonderauswertung der Einkommens- und Verbrauchs-stichprobe zur Ermittlung eigenständiger Kinderbedarfeauf den Weg gebracht. Dies hatte eine Erhöhung der Re-gelsätze, die Einführung der dritten Altersstufe und dasSchulbedarfspaket zur Folge.Ich hätte mich gefreut, wenn wir damals mehr Unter-stützung von unserem Koalitionspartner, der CDU/CSU,gehabt hätten.
Aber die mussten wir zum Jagen tragen, wir mussten sieregelrecht schieben. Es ist kein Wunder, dass die Regie-rungsbank jetzt praktisch leer ist. Keiner ist da, keinFachpolitiker sitzt hier.
Wo ist die Ministerin? So wichtig ist der neuen Regie-rung dieses Thema. Das ist bezeichnend. Das wirft einschlechtes Licht auf die schwarz-gelbe Bundesregie-rung.Das Bundesverfassungsgericht hat die Einkommens-und Verbrauchsstichprobe als Grundlage für die Regel-satzberechnung nicht infrage gestellt. Ich finde das gut.Ich begrüße das; denn auch hier im Bundestag bestand indieser Frage überwiegend Einigkeit. Schwierig wird esbei der Auswertung der Einkommens- und Verbrauchs-stichprobe und bei den Festsetzungen der einzelnen Aus-gabepositionen. Hier zeigt das Bundesverfassungsge-richt ganz klar die rote Karte, verurteilt die bisherigeMethodik und fordert Transparenz.Ich bin gespannt, was die schwarz-gelbe Bundes-regierung vorlegen wird. Viel Zeit bleibt nicht. Die Fristist bis 1. Januar 2011 gesetzt. Herr Kuhn, natürlich wer-den auch wir, die SPD-Fraktion, Hilfestellung leisten,damit die Bundesregierung zu einer guten Reform kom-men wird.
Die Verfassungsrichter haben sich auch mit der An-passung der Regelsätze an die Preissteigerung befasst.Wir fordern schon seit längerem, den Zeitraum der Ein-kommens- und Verbrauchsstichprobe zu verkürzen. Sokönnte auf Preisveränderungen und veränderte Konsum-strukturen angemessener reagiert werden als mit derheute beanstandeten Koppelung an die Rentenentwick-lung.Das Bundesverfassungsgericht hat auch zu den soge-nannten atypischen Bedarfslagen Stellung bezogen unddie derzeitige Regelung verurteilt. Das ist aus meinerSicht richtig; denn sowohl die Sozialhilfe als auch dasArbeitslosengeld II dienen der Grundsicherung. Deshalbmuss es in beiden Rechtskreisen möglich sein, beson-dere individuelle Bedarfslagen adäquat abzusichern. ImSGB II, also der Grundsicherung für die Langzeitarbeits-losen und deren Kinder, war dies bisher nicht möglich.Das war ein Fehler.
Bedarfsgerechte Kinderregelsätze sind ein ganz wich-tiger Baustein zur Vermeidung von Kinderarmut und zurHerstellung gerechter Chancen vor allem in der Bildung.Doch das allein reicht nicht aus. Bund, Länder und Kom-munen sind gemeinsam gefordert, ihren Verpflichtungengegenüber den Kindern nachzukommen, gerade jetztnach dem erfolgten Urteil. Wir brauchen deshalb einekonzertierte Aktion gegen Kinderarmut.Die SPD hat schon 2008 in ihrem Zehnpunktepro-gramm aufgezeigt, was vor allem in den Ländern und inden Kommunen getan werden muss. Die Herstellung ei-ner intakten Infrastruktur für Kinder und Jugendlichekostet natürlich Geld; Geld, das die Länder und Kommu-nen gerade jetzt in der Konjunkturkrise nicht haben unddas ihnen besonders durch das von Schwarz-Gelb be-schlossene sogenannte Wachstumsbeschleunigungsge-setz noch weiter entzogen wird. Ich bin gespannt, wiedie schwarz-gelbe Bundesregierung die finanzielle Aus-stattung der Kommunen sicherstellen will,
und ich bin gespannt, woher sie die Mittel für die Umset-zung des Karlsruher Urteils nehmen will. Durch Steuer-geschenke und Steuersenkungen kommt man jedenfallsnicht weiter. Auch hier muss eine Umkehr erfolgen, undzwar schnell.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich komme zum Schluss. – Natürlich ist die Bekämp-
fung von Kinderarmut nur durch die Bekämpfung von
Arbeitslosigkeit möglich. Deshalb war dies in der letzten
Legislaturperiode und unter Rot-Grün ein Schwerpunkt
unserer Politik. Diesen Weg müssen wir weitergehen.
Meine Kollegin Elke Ferner hat schon darauf hingewie-
sen, dass wir endlich einen flächendeckenden gesetzli-
chen Mindestlohn durchsetzen müssen,
um die Chancen der Menschen, die wenig verdienen,
und damit auch die Chancen der Kinder zu verbessern.
Frau Kollegin, bitte.
So können wir Kinderarmut in unserem Land am bes-ten und effektivsten bekämpfen.Danke schön.
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Gabriele Hiller-Ohm
Das Wort hat der Kollege Dr. Heinrich Kolb von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dasheutige Urteil aus Karlsruhe ist ein wichtiges Urteil,schon deswegen, weil es um 40 Milliarden Euro Steuer-mittel im Bundeshaushalt und weitere circa 10 Milliar-den Euro Steuermittel in den Haushalten der Kommunengeht. Das macht die ganze Dimension des Problemsdeutlich.Frau Kollegin Kipping, Sie haben gesagt: Wir neh-men das Urteil ernst. Liebe Kolleginnen und Kollegenvon der Linken, ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen:Dazu passt die gespielte Empörung, die künstliche Auf-regung, die Sie hier an den Tag legen, nicht.
Das wirkt alles sehr bemüht, Frau Enkelmann. Auf michmacht das den Eindruck, Sie hatten Ihre Rede schon vorTagen formuliert. Es ist ja schon länger bekannt, dassdiese Aktuelle Stunde stattfinden wird. Das, was wirheute aus Karlsruhe gehört haben, ist aber nicht so rechtWasser auf Ihre Mühlen. Sie haben sich offensichtlichein bisschen mehr erhofft.
– Wir sind auch permanent vor Ort. Das kann ich Ihnensagen. Nicht ablenken, Frau Kollegin!Ich will beim Thema bleiben. Karlsruhe hat sehr deut-lich gesagt: Nicht der Regelsatz als solcher ist nicht ver-fassungsgemäß. Im Gegenteil, das Verfassungsgerichtsagt: Das, was für den Alleinstehenden, für den Partnerin der Bedarfsgemeinschaft, für das Kind gezahlt wird,ist nicht evident unzureichend.
Karlsruhe sagt: Die Ermittlung des Regelsatzes ist nichtverfassungsgemäß erfolgt. Man muss den Kollegen vonden Grünen, Herr Kurth, aber auch von der SPD, die sichhier heute reinwaschen wollen, sagen: Das ist die Haupt-kritik aus Karlsruhe. Karlsruhe sagt, es hätten wertendeEntscheidungen getroffen werden müssen, was über dasphysische Existenzminimum hinaus für die gesellschaft-liche, politische und kulturelle Teilhabe notwendig ist.
Diese Entscheidung haben Sie, Frau Ferner, in der Ver-gangenheit verweigert,
und deswegen sind Sie durch Karlsruhe heute zu Rechtabgewatscht worden. Das muss man hier einmal deutlichsagen.
Für mich macht das Urteil noch einmal deutlich, wa-rum es so wichtig ist, Steuersenkungen für Familien,Entlastungen für Familien vorzunehmen, wie es diechristlich-liberale Koalition und vor allen Dingen dieFDP schon seit langem fordert.
Bei allem darf man das Lohnabstandsgebot nicht außerAcht lassen. Das will ich hier sehr deutlich sagen.
Wer sagt: „Regelsätze auf 500 Euro erhöhen“, der löstsich vollkommen von dieser Systematik und überdehntunser Wirtschafts- und Lohnsystem. Das kann nicht ge-leistet werden.
Frau Ferner und Frau Kollegin Kipping, deswegen istes falsch, zu sagen: Wir kriegen das mit Mindestlöhnenin den Griff. Das wird nicht der Fall sein. Der KollegeKober hat zu Recht darauf hingewiesen, dass das zum ei-nen eine Frage der Arbeitszeit ist. Wie lange kann ich alsAlleinerziehende, auch mit einem Mindestlohn, arbei-ten? Die Zeit wird nicht immer reichen, um einen Betragoberhalb des Regelsatzes zu erwirtschaften. Zum ande-ren ist das aber auch eine Frage des Familienstandes. Siesagen: Ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohnmüsste für Verheiratete mit zwei Kindern bei mindestens12,50 Euro liegen, damit man transferbezugsfrei wird.
Das kann doch nicht allen Ernstes Ihre Auffassung sein;denn damit würden flächendeckend und reihenweise Ar-beitsplätze besonders in den neuen Bundesländern verlo-ren gehen.
Frau Kollegin Ferner, weil wir hier auch über dieMenschenwürde reden: Für mich ist es auch eine Frageder Menschenwürde, ob ich als Mensch mit einer gerin-geren Qualifikation eine Chance auf einen Arbeitsplatzhabe. In diesem Zusammenhang muss man sehr deutlichsagen, dass Mindestlöhne, wenn sie zu hoch sind, geradeMenschen mit einer geringen Qualifikation aus dem Ar-beitsmarkt aussperren. Das ist eine Null-oder-eins-Ent-
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Dr. Heinrich L. Kolbscheidung. Entweder du bringst das, was gefordert wird,oder du bist vollkommen raus.
Frau Kollegin Ferner, das ist am Ende nicht angemessen.Das muss man deutlich sagen.Der Zeitplan, der uns aus Karlsruhe vorgegeben wor-den ist, ist sehr eng. Er ist auch deswegen eng, weil wirnoch einen zweiten Restanten aus rot-grüner Zeit zu be-arbeiten haben, nämlich die Organisationsreform.
– Sie waren auf jeden Fall dabei, Frau Ferner, da könnenSie sagen, was Sie wollen. Sie haben in den letzten elfJahren regiert. Sie haben auch den Arbeitsminister ge-stellt.
Für mich haben Sie auch die Verantwortung dafür, dassdie Frage der Organisationsreform in der letzten Legisla-turperiode nicht gelöst werden konnte;denn natürlich muss der federführende Minister Lösun-gen vorlegen, die am Ende eine breite Mehrheit finden.
Ich will noch eines sagen. Frau Kollegin Ferner, Siehaben gesagt: Wir wollten da etwas mit Einsparungenmachen. Ich will nur sagen: Dieser Auffangtatbestand,diese besondere Härte, die zu regeln uns das Bundesver-fassungsgericht angemahnt hat, wird – das sagt Karls-ruhe selbst – aufgrund der tatbestandlichen Vorausset-zungen in der Tat nur in sehr wenigen Fällen greifen.Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir im Zuge der Orga-nisationsreform die Effizienz der Vermittlung steigernkönnen, also eine schnellere Vermittlung in ein neuesArbeitsverhältnis erreichen können, und dass wir aufdiesem Wege Einsparungen erreichen, die wir an andererStelle den Bedürftigen zugutekommen lassen werden.Auf diesem Kurs bewegen wir uns. Zur gespieltenEmpörung, wie wir sie bei der Linken erleben, bestehtüberhaupt kein Anlass.
Wir werden das, was uns aufgegeben ist, in Ruhe regeln.Die Zeit ist knapp; aber man kann das schaffen. Wennalle sich beteiligen, wird es umso besser gelingen.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Diana Golze von der Frak-
tion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! „Kinder sind keine kleinen Erwach-senen.“ Dieser Satz ist nunmehr nicht nur eine Feststel-lung von Sozialverbänden und der Fraktion Die Linke,sondern er ist Bestandteil der Urteilsbegründung derheutigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerich-tes, und das ist gut so.
Hartz IV ist Armut per Gesetz, und dieses Gesetzwurde heute zum zweiten Mal für verfassungswidrig er-klärt; denn es widerspricht der Würde des Menschen unddem Sozialstaatsprinzip.
Sehr geehrte Kollegen Kurth und Kolb, es ging ebennicht nur um die Regelsatzverordnung, sondern sehrwohl um die §§ 20 und 28 SGB II. Im Gegensatz zu Ih-nen waren mein Kollege Ernst, meine Kollegin Kippingund ich heute dort und haben die Urteilsbegründung ge-hört. Wir haben das Urteil dabei und wissen sehr wohl,wovon wir reden.
Ich möchte mich bei den vielen Menschen bedanken,die in den vergangenen Jahren an unterschiedlichstenOrten gegen diese gerade bei den Kindern an den Haarenherbeigezogenen Regelsätze gekämpft haben. Ich be-danke mich bei den Sozialverbänden und Initiativen, dienach Lösungsvorschlägen gesucht und Alternativen an-geboten haben. Ich bedanke mich nicht zuletzt rechtherzlich bei den Familien, die den langen Weg bis zumheutigen Tag durch die Instanzen gegangen sind und unsdieses Urteil beschert haben.
Das heutige Urteil des Bundesverfassungsgerichtesmacht deutlich: Die Regelsätze für Kinder im ALG IImüssen grundsätzlich neu und eigenständig berechnetwerden. Das Bundesverfassungsgericht zwingt die Re-gierung nun, das zu tun, was seit Jahren überfällig ist:Das Existenzminimum von Kindern muss anhand ihrereigenen Bedürfnisse gesichert werden. Hier bescheinigtdas Gericht den verantwortlichen Bundesregierungenvon Rot, Grün, Schwarz und Gelb einen „völligen Er-mittlungsausfall“.Die Regelsätze für Kinder sind in zweifacher Hinsichtnicht mit der Verfassung vereinbar und verstoßen gegendie Menschenwürde und das Sozialstaatsgebot. Zum ei-nen sind sie prozentual vom Regelsatz der Erwachsenenabgeleitet, was nicht sein darf, wie wir seit heute wissen.
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Diana GolzeZum anderen ist schon der Regelsatz für Erwachsene ansich verfassungswidrig. Daran haben Rot-Grün undSchwarz-Rot unter freundlicher Genehmigung der FDP,Herr Kolb, gearbeitet. Insofern tragen Sie alle hier dieVerantwortung.
Sie haben sich an die von Ihnen selbst gesetzten Regelnnicht gehalten. Sie haben ganze Ausgabenblöcke bei derBerechnung des Regelsatzes nicht einbezogen, zum Bei-spiel Ausgaben für Bildung.Zu diesem Punkt möchte ich noch detailliertere Aus-führungen machen. Gerade hier sind die Kinder in ganzbesonderer Art und Weise betroffen.Ich bin dankbar für die Klarstellung des Gerichts,dass erstens alle Menschen ein Recht auf Teilhabe auchan Bildung haben, dass zweitens dieser Anspruch insbe-sondere für die Kinder gilt und dass drittens dafür nicht,wie bisher, die Bundesländer weiter verantwortlich ge-macht werden können. Das Bundesverfassungsgerichthat ganz klar festgestellt: Die Bundesländer sind verant-wortlich für die Institution Schule, nicht aber dafür, denZugang aller Menschen zu diesen Bildungseinrichtungenzu sichern. Das ist Bundesaufgabe. Dieser sind Sie bis-her nicht nachgekommen. Dazu werden Sie nun vomBundesverfassungsgericht gezwungen.
Sehr geehrte Damen und Herren, bisher, auch heutewieder, haben Sie unsere Forderungen als Populismus,als Wünsch-dir-was-Programm oder Ähnliches bezeich-net. Ich sage nur: Nichts sehen, nichts hören, nichts sa-gen.
Herr Brauksiepe, wenn Sie ein Problem nicht wahrneh-men wollen, dann wollen Sie es auch nicht lösen. Aberdas Bundesverfassungsgericht gibt Ihnen auf, diesesProblem zu lösen. Deshalb kann ich Ihnen nur empfeh-len, mir erstens zuzuhören
und zweitens das Bundesverfassungsgerichtsurteil zurKenntnis zu nehmen und endlich entsprechend zu han-deln.
Für uns als Linke kann die Lösung nur sein: Die Re-gelsätze gerade für Menschen unter 18 Jahren müssenspürbar angehoben werden, um endlich kindgemäß zusein. Sie müssen sich an dem Bedarf der Kinder ausrich-ten, wie es die Linke schon seit langem gefordert hat.
Die Frist, die das Bundesverfassungsgericht gesetzthat, läuft bis Jahresende. Auch dies macht deutlich, dassdas Gericht einen großen und dringenden Handlungsbe-darf sieht. In anderen Urteilen wurde der Bundesregie-rung mehr Zeit als in diesem Urteil eingeräumt.Aber die Bundesregierung hat Glück im Unglück. Siemüssen nicht warten, auf neue Zahlen hoffen oder biszum Sankt-Nimmerleins-Tag irgendwelche Recherchendurchführen. Nein, es gibt belastbares Zahlenmaterial.Der Paritätische Wohlfahrtsverband hat eine ausführli-che Expertise vorgelegt, auf die Sie sich stützen können.Ich fordere Sie auf, die Regelsätze für Kinder sofort undunverzüglich auf mindestens die Höhe der Regelsätzedes Paritätischen Wohlfahrtsverbandes anzuheben.
Sichern Sie den bedürftigen Kindern nicht nur, wie esdas Bundesverfassungsgericht auch gefordert hat, umge-hend die physische Existenz, sondern sichern Sie ihnenauch die Teilhabe am sozialen, gesellschaftlichen, politi-schen und kulturellen Leben! Die Würde des Menschenist unantastbar. Handeln Sie endlich danach!Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Mechthild Heil von der
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Vor uns liegt die Aufgabe der Feinjustierungder Regelleistungen des SGB II
in einem transparenten, verfassungskonformen Verfah-ren. Das ist bei der CDU und unserer Ministerin Ursulavon der Leyen in guten Händen.
Wir löffeln hier eine Suppe aus, die uns die rot-grüneRegierung eingebrockt hat.Eines ist uns allen klar – darüber sollten wir nichtstreiten –: Es geht um die Schwächsten der Schwachen,es geht um die Menschen, die ihren eigenen Lebensun-terhalt nicht bestreiten können, und es geht um derenKinder und ihren eigenständigen Anspruch nach Maß-gabe ihrer spezifischen Bedürfnisse. Für sich selbst nichtsorgen zu können, das ist schon hart. Nicht für seineKinder sorgen zu können, ist für Eltern – das wäre esauch für mich als Elternteil – unerträglich.
Es ist wichtig und richtig, dass die Solidargemein-schaft in einer solchen Notlage helfend einspringt. Daranzeigt sich die Qualität unseres Sozialstaates. Wir inDeutschland haben hier eine hohe Qualität. Wir leben ineinem Land mit einem der ausdifferenziertesten Sozial-
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Mechthild Heilsysteme der Welt, mit zwölf Sozialgesetzbüchern, demBehindertengleichstellungsgesetz, dem Pflegezeitgesetzund dem Wohngeldgesetz oder dem Grundsicherungsge-setz. Unser Bestreben ist es, soziale Gerechtigkeit zuschaffen, Hilfe in Not und gegen Armut zu gewährenund für jedermann ein menschenwürdiges Existenzmini-mum bereitzustellen.Ich will heute besonders die Frage: „Was braucht einKind zur Sicherung seiner Grundbedürfnisse?“ in denMittelpunkt stellen, weil diese Frage der Ausgangspunktdes Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht war.Für die Grundbedürfnisse der Kinder – Liebe, Gebor-genheit, soziale Kontakte, Versorgung – sind und bleibendie Eltern verantwortlich.
Dem Staat fallen andere Aufgaben zu, um die Grundbe-dürfnisse von Kindern zu sichern: Der Staat sorgt fürfreien Zugang zu Bildung. Bildungsarmut darf nicht ver-erbt werden. Der Staat sorgt für umfassende Gesund-heitsvorsorge, von einer geeigneten Ernährung über me-dizinische Versorgung bis hin zu Bewegungsförderung,aber natürlich auch für finanzielle Unterstützung, wenndie eigenen Mittel der Familie nicht ausreichen.Deswegen werbe ich mit Nachdruck dafür, dieGrundbedürfnisse der Kinder als Ganzes in den Blick zunehmen und sie nicht rein materiell zu betrachten, wiemanche Kollegen uns das in ihrem Beitrag wieder nahe-gelegt haben. Sogar die Würde der Menschen hängt fürSie von den Linken am Geldbeutel. Mit Geld allein istnicht jedes Problem zu lösen. Bargeld stellt weder Erzie-hungskompetenz noch Verantwortungsbewusstsein her.Geld allein eröffnet auch nicht die richtigen, langfristi-gen Perspektiven.
Gute langfristige Perspektiven erreichen wir nur durchgezielte Bildung. So erhöhen wir die Chancen unseresNachwuchses auf gesellschaftliche Teilhabe.Ich werbe auch dafür, die Familien mehr als Ganzeszu sehen. Der Zusammenhang ist einfach: Geht es denEltern gut, haben die Eltern Arbeit und Auskommen,geht es in den allermeisten Fällen auch den Kindern gut.Sind die Eltern aber missmutig, gestresst, leiden sie un-ter den täglichen Belastungen und sehen sie vor allemkeine Aussicht auf Besserung, können die Kinder mitnoch so viel Geld vom Staat nicht wirklich gesund undglücklich heranwachsen.
Eine Chance für Eltern und Kinder, aus dieser Spiraleherauszukommen, ist Arbeit. 3,6 Millionen Arbeitslosewaren es im Januar dieses Jahres, zugleich gab es aberknapp eine halbe Million offene Stellen. Vor allem quali-fizierte Arbeitnehmer fehlen den Unternehmen. Fürschlecht qualifizierte bleiben nur prekäre Arbeitsverhält-nisse.Ich werbe auch dafür, bei der Diskussion über dieHöhe der Regelsätze die soziale Gerechtigkeit nicht ausdem Blick zu verlieren: Das Lohnabstandsgebot mussgewährleistet bleiben.
Es darf nicht rentabler sein, von staatlichen Leistungenzu leben, als arbeiten zu gehen.
Ebenso darf unser Sozialstaat die Schwachen nicht aus-grenzen. Lassen Sie uns richtig fördern: mit Geld-, Sach-und Dienstleistungen, aber auch durch konsequentes undnachhaltiges Einfordern von Eigenverantwortung. Dannkommen wir ein gutes Stück weiter auf dem Weg derchristlich-liberalen Solidargemeinschaft.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Gabriele Lösekrug-Möller
von der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen!Meine Damen und Herren – gleich, ob Sie auf die Tribü-nen des Saales kommen oder uns vor dem Fernseher zu-sehen –, worum geht es heute? Ich bin in den 80er-Jah-ren Sozialarbeiterin gewesen. Ich kann Ihnen sagen: Ichhätte mir damals eine Debatte über die Regelsätze derSozialhilfe gewünscht. Es gab diese Debatte nicht; jahr-zehntelang hat das niemanden in der Politik interessiert.Jetzt haben wir eine andere Situation, und auf einmalsind die einen die Guten und die anderen die Schlechten.
Schwarz-weiß können wir eine so komplexe Frage nichtannähernd richtig behandeln.Ich denke, dass wir heute aus Karlsruhe ein klugesUrteil bekommen haben. Ich sage als Sozialdemokratin„klug“, weil dieses Urteil bedeutet, dass man auch unsins Stammbuch geschrieben hat, dass wir nicht allesrichtig gemacht haben. Das gehört zur Wahrheit.
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Gabriele Lösekrug-Möller
Allerdings sage ich: Wir haben das Wesentliche getan;dies wurde nicht beanstandet.Herr Kolb, Sie sprachen von Restanten. Können Siesich noch an 1998 erinnern? Da gab es Restanten überRestanten.
Die lagen wie ein Mehltau über Deutschland. Hätte esdamals nicht Rot-Grün gegeben, würden wir noch heutedarunter schlummern. – So viel zu den Restanten.
Das Urteil ist meiner Ansicht nach klug; denn es hatGrundsätzliches bestätigt und nimmt uns viel stärker indie Pflicht. Uns nimmt es aus gutem Grund stärker in diePflicht; denn wir können es in Zukunft nicht einfach ei-nem Ministerium überlassen, eine entsprechende Regel-satzverordnung festzulegen. Das ist gut so. Ich denke,dass es richtig ist, dass wir darüber reden, dass – ich zi-tiere – „alle existenznotwendigen Aufwendungen folge-richtig in einem transparenten … Verfahren nach demtatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht“, bemessenwerden. Das ist zum Beispiel an Sie, HerrDr. Linnemann, die Einladung, einmal in Familien zugehen, die im Augenblick von Grundsicherung leben. InIhrer Rede kamen die gar nicht vor. Es wäre sehr schön,Sie würden sich diesem Alltag ein bisschen stärker wid-men.
– Herr Kurth, ich war ziemlich viel unterwegs; daranlasse ich nicht rütteln. Sie können mich gerne zukünftigbegleiten.Dieses Urteil hat uns gezeigt, an welchen Stellen wirnachbessern müssen. Die sind nicht gerade klein odergar billig. Ich denke, dass wir im Laufe dieses Jahresnoch enormen Gesprächs- und Debattenbedarf dazu ha-ben werden. Ich bin mir nämlich sicher, dass wir unsüber das, was uns ins Stammbuch geschrieben wurde,nicht leicht einigen können. Wenn ich mir anschaue, wieSchwarz-Gelb Kinder in letzter Zeit behandelt hat, dannkomme ich zu dem Ergebnis: Von Gleichbehandlungkonnte da keine Rede sein.
Ich sage: 0 Euro, 20 Euro, 40 Euro, und alle wissen, wasich damit meine. Insofern glaube ich, dass wir das unbe-dingt angehen müssen.Herr Kolb, ich kann mich überhaupt nicht erinnern,
dass es einen Antrag der FDP gab, aus der Regelsatzver-ordnung ein Gesetz zu machen. Insofern sage ich jenen,die mit im Boot sitzen und jetzt besser werden müssen:Willkommen an Bord! Sie waren immer dabei. Sie kön-nen sich nicht herausschummeln.
Mit Blick auf die Kinder, um die es uns geht, stelleich fest: Alle Kinder und alle Jugendlichen haben einRecht auf gute Bildung, Teilhabe und Gesundheit. Ichbin davon überzeugt, dass wir das nicht allein mit einemstichhaltig entwickelten höheren Regelsatz erreichen.Dieser ist zwar notwendig, den wollen wir herbeiführen;aber es muss mehr folgen. Für uns von der SPD gilt: Je-des Kind ist uns gleich viel wert. Ich will Frau Kippinggerne Nachhilfe geben: Beschlusslage unserer Partei ist,dass wir eine eigenständige Grundsicherung für Kinderentwickeln wollen. Sie können sicher sein: Das wirdauch so kommen; wir legen dies vor.Ich befinde mich in guter Gesellschaft. Frau Heil, ichhatte den Eindruck, dass vielleicht auch Sie zu jenen ge-hören, die wie der Deutsche Kinderschutzbund, dieAWO, die GEW und das Zukunftsforum Familie sagen:Wir brauchen eine Kindergrundsicherung zur Gleichbe-handlung aller Kinder. Diese haben nämlich einen Vor-schlag auf den Tisch gelegt, bei dem nicht unterschiedenwird, wie wohlhabend oder nicht wohlhabend die Elternsind. Meines Erachtens brauchen wir den Mut, eine bes-sere Struktur bei den familienfördernden Leistungen, fürdie wir in diesem Land Jahr für Jahr viel Geld ausgeben,einzuziehen. Wir haben im Augenblick ein großes Un-gleichgewicht: Es gibt Steuererleichterungen und Kin-derfreibeträge für Kinder in den Familien, die es sowiesodicke haben. Bei den anderen gibt es wirklich allenGrund nachzubessern. Wenn uns das gelingt, dann wer-den wir – da bin ich mir sicher – verfassungskonformeLösungen entwickeln können. Die Kinder, die dies dannbetrifft, haben es verdient, dass wir uns kümmern. DieSPD bietet Schwarz-Gelb tatkräftige Unterstützung an.Ich glaube, die haben Sie nötig.Danke schön.
Das Wort hat jetzt der Kollege Paul Lehrieder von der
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Werte Kolleginnen!Werte Kollegen! Frau Kollegin Kipping, Frau KolleginGolze und Herr Kollege Ernst, Sie waren in Karlsruhe.Es ist gut, wenn man sich zu einem Gericht begibt, um
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Paul Lehriedersein Wissen zu mehren. Man muss sich dann aber natür-lich auch anhören, was das Gericht insgesamt gesagt hat,liebe Frau Kipping.
Sie haben in Ihr Täschchen gegriffen und das Urteil he-rausgezogen. Mir liegt das Urteil auch vor. Es ist geradefür einen Juristen immer wertvoll, in ein Urteil zuschauen. Dadurch wird das Wissen enorm gemehrt,wenn man das Urteil versteht.
Meine Damen und Herren, das Bundesverfassungsge-richt hat uns heute aufgegeben, die Hartz-IV-Regelsätzeneu zu berechnen. Frau Bundesministerin von der Leyenhat ja schon im Vorfeld angekündigt, dass wir jetzt ge-nau definieren und auch genau definieren müssen – auchdas steht im Urteil –, was der Kinderbedarfssatz für diesoziale Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist. Dabeiist der Blick auch stärker auf Sachleistungen wie bei-spielsweise Nachhilfe, Sportunterricht, Ausstattung fürden Schulunterricht und warmes Schulessen zu richten.In dem Urteil steht auch, dass die 100 Euro im Rahmenunseres Schulstarterpakets ein willkürlich gegriffenerBetrag ist. Wir müssen begründen, warum wir 100 Euround nicht 105 Euro oder 95 Euro gewählt haben.Wie alle Entscheidungen des Bundesverfassungs-gerichts nehmen wir auch dieses selbstverständlich sehrernst. Der Zeitpunkt, zu handeln, ist jetzt gekommen.Wir werden uns die Zeit nehmen, die Regelsätze so an-zupassen und deren Berechnung so zu gestalten, dass sieverfassungsfest sind und dass wir den Bedürfnissen derBetroffenen damit möglichst entgegengekommen.Aus Ihrer Richtung kam hier die Kritik auf, dass wiruns zu viel Zeit gelassen haben. Jawohl, es stimmt: Siehaben im letzten Quartal des Jahres 2009 – auch schonim Sommer 2009 – ein paar Anträge in dieser Richtungvorgelegt und darauf hingewiesen, dass hier eine Schief-lage ist. Es ist aber auch richtig, dass im Oktober diemündliche Verhandlung war und dass es uns gut ansteht,die Weisheit unserer Bundesverfassungsrichter bei einerNeuregelung mit zu berücksichtigen.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem heutigenUrteil expressis verbis bestätigt, dass der Gesetzgeberbei Einführung der SGB-II-Regelungen in den Jahren2004 und 2005 zur Sicherung eines menschenwürdigenExistenzminimums feste Regelsätze schaffen durfte.Frau Kollegin Enkelmann – sie ist gegangen; ichfrage mich, wo die Frau Kollegin Enkelmann ist; geradewar sie noch da und hat geschimpft –
hat geschimpft und gesagt, dass sie das Urteil empörthat. Man muss sagen: Das Urteil hat natürlich eine ge-wisse wissenschaftliche Tiefe. Mit geneigter Erlaubnisdes Herrn Präsidenten möchte ich ein paar Sätze aus demUrteil zitieren:Aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem So-zialstaatsprinzip folge die verfassungsrechtlichePflicht zur Gewährleistung des Existenzmini-mums, welches sich nicht auf das „nackte Überle-ben“ beschränken dürfe, sondern auch die Teilhabeam gesellschaftlichen Leben ermöglichen müsse.Die Entwicklung des Leistungskonzeptes sei dabeiAufgabe des Gesetzgebers, dem weite Gestaltungs-möglichkeiten eingeräumt seien. Von Verfassungswegen geboten sei zwar eine dem Leistungskonzept– wohlgemerkt: auch das schreibt das Bundesverfas-sungsgericht –adäquate, realitätsgerechte Bedarfsbemessung, derGesetzgeber unterliege jedoch keiner Begründungs-pflicht. Bei der Bestimmung des Existenzmini-mums sei der Gesetzgeber an Art. 3 Abs. 1 GG inseiner Ausprägung als Gebot der System- undSachgerechtigkeit gebunden. Schließlich treffe denGesetzgeber entsprechend dem Gedanken eines„lernenden Systems“– man beachte –eine Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht.Ich kann mich an die Diskussionen in den letzten Wo-chen hier erinnern. Wir haben regelmäßig darauf hinge-wiesen: Hartz IV ist ein lernendes System. Hartz IV hatnoch Kinderkrankheiten.
Hartz IV ist nach vier Jahren noch nicht perfekt, aber wirarbeiten gemeinsam mit unseren Kollegen von der FDPdaran, es zu optimieren. Herr Kollege Kolb hat bereitseiniges dazu sehr treffend ausgeführt.
– Bevor sich die SPD zu arg echauffiert, darf ich nochzwei Sätze zitieren:Diesen Anforderungen genügten sowohl die Regel-leistung nach § 20 Abs. 1 bis 3 SGB II als auch dasSozialgeld nach § 28 Abs. 1 Satz 3 Nr. 1 SGB II.Das Leistungskonzept des Sozialgesetzbuchs Zwei-tes Buch sei in Übereinstimmung mit Art. 1 Abs. 1GG auf Eigenverantwortung – auch das schreibt das Bundesverfassungsgericht –
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Paul Lehriederdurch Einsatz der Erwerbsfähigkeit orientiert mitdem Ziel, dem Hilfebedürftigen schnell zur Siche-rung seiner eigenen Existenz zu verhelfen.Auch das – Fordern und Fördern – steht expressis ver-bis in dem Urteil. Das Urteil umfasst leider 40 Seiten,die man innerhalb von wenigen Stunden nicht im Detaildurcharbeiten kann. Ich kann aber jeder Kollegin und je-dem Kollegen – insbesondere von der Linkspartei – nurempfehlen, das Urteil einmal in Gänze zu lesen. Sie wer-den Ihr Wissen dadurch tatsächlich mehren.
Die Art und Weise der Berechnung mit Pauschalab-schlägen auf den Regelsatz eines Erwachsenen – das istrichtig und wurde bereits von den Vorrednern ausgeführt –entspricht nach Ansicht der Bundesverfassungsrichternicht einer transparenten und sachgerechten Berech-nungsweise. Bei der Ermittlung des Bedarfs muss mansich demnach stärker an dem tatsächlichen Bedarf als anprozentualen Berechnungen ausrichten, mit denen mansich am Haushalt eines alleinstehenden erwachsenenSingles orientiert. Es wurde bereits darauf hingewiesen:Ja, wir haben in den Regelsätzen für den Bereich Bil-dung keinen Prozentsatz eigens für Kinder berücksich-tigt. Das ist der größte Mangel. Wir haben den Single-haushalt mit berücksichtigt.Es war für uns nicht völlig überraschend, dass die Be-rechnungsweise vom Verfassungsgericht kritisiert wird.Das Verfassungsgericht hat aber an keiner Stelle des Ur-teils, soweit ich es bisher durcharbeiten konnte, die Höheder Bedarfssätze per se infrage gestellt.Wir werden überprüfen, was die Familien bzw. dieKinder brauchen. Dann werden wir sine ira et studio,ohne Zorn und Aufgeregtheit, die neuen Bedarfssätzefestlegen. Ich bitte alle Wohlmeinenden, entsprechenddaran mitzuwirken.Herr Präsident, ich bedanke mich, dass Sie mir 40 Se-kunden mehr Redezeit gewährt haben.Danke schön.
Das Wort hat die Kollegin Heike Brehmer von der
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Das heutige Urteil des Bundesverfas-sungsgerichts hat uns als Gesetzgeber aufgetragen, dieBerechnungsgrundlage für die Kinderregelsätze anzu-passen und Härtefallregelungen für atypische Bedarfe indas SGB II aufzunehmen. Wir nehmen dieses Urteil alsGrundlage und werden in den nächsten Wochen und Mo-naten sorgfältig und so schnell wie möglich die von denVerfassungsrichtern geforderten Konkretisierungen um-setzen und dabei ein transparentes und realitätsgerechtesVerfahren zur Berechnung der Regelsätze gesetzlich fi-xieren.
Das Gericht hat das Statistikmodell, das für die Be-messung der Regelsätze gilt, als im Grundsatz tauglichesBerechnungsverfahren bestätigt. Die Richter sahen aberin der Kopplung an den Rentenwert einen Maßstabs-wechsel, der einen Verfassungsverstoß darstellt. Jetztwird es darum gehen, diese Berechnungsgrundlagegrundgesetzfest und transparent zu gestalten.Für die christlich-liberale Koalition steht fest, dass beiden gesetzlichen Änderungen vor allem die Belange derKinder im Mittelpunkt stehen werden.
Kinder müssen am gesellschaftlichen Leben teilhabenkönnen und die materiellen Grundlagen für eine umfas-sende Bildung erhalten.
Wir werden deshalb beim Bemessungsgrundsatz fürKinder den Schwerpunkt auf eine ausreichende Ausstat-tung mit Geld-, Sach- und Dienstleistungen für die Bil-dung legen.Das heutige Urteil hält vor allem die Abschläge vomRegelsatz beim Sozialgeld für Kinder für empirisch undmethodisch nicht fundiert und beanstandet auch die Aus-wertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobenbeim Regelsatz für Erwachsene als nicht tragfähig. Ichbin mir sicher, dass das zuständige Bundesministeriumder Vorgabe des Gerichts nachkommen und zügig einensachgerechteren Anpassungsmechanismus erarbeiten wird.Liebe Kolleginnen und Kollegen, seien Sie versichert,dass wir in der christlich-liberalen Koalition uns dieserAufgabe in verantwortungsvoller Weise stellen werden.Das Bundesverfassungsgericht hat uns als Gesetzgeberdazu einen straffen Zeitplan vorgegeben.Wir haben in den zurückliegenden Wochen und Mo-naten an dieser Stelle immer wieder gesagt, dass wir imRahmen verschiedener Neuregelungen im SGB II dasheutige Urteil des Bundesverfassungsgerichts abwartenund entsprechend umsetzen werden. Selbstverständlichwerden darin auch verfassungskonforme gesetzliche Re-gelungen zur Berechnung des Bedarfs bei Kindern unddie Berechnungsgrundlage für atypische Ausgaben ent-halten sein.Die Bundesverfassungsrichter haben ein Urteil mitAugenmaß gefällt, welches nun sachgerecht von unsumgesetzt werden muss. Zu dieser Reform gehört aberauch die Neuorganisation im SGB II. Um es noch einmalganz deutlich zu sagen: Die Union hat die Erhöhung derRegelsätze für Kinder als Einzelmaßnahme abgelehntund immer darauf verwiesen, dass wir das heutige Urteildes Bundesverfassungsgerichts abwarten.Abschließend möchte ich feststellen, dass es die ele-mentare Aufgabe der Politik bleibt, die wirtschafts- und
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Heike Brehmersozialpolitischen Weichen so zu stellen, dass wirtschaft-liches Wachstum und sozialer Ausgleich kein Wider-spruch sind.
Maßnahmen wie die anstehende Strukturreform imSGB II, die im Koalitionsvertrag festgelegte Pauschali-sierung der Kosten der Unterkunft und die Anhebungdes Schonvermögens sind dazu wichtige Bausteine. Diessind allesamt Regelungen, die die Leistungsbereitschafterhöhen und neue Perspektiven für hilfsbedürftige Fami-lien mit Kindern in unserem Land eröffnen.Wir sollten nicht lange zögern und die Umsetzungdieses Urteils anpacken. Es gilt, transparente und nach-vollziehbare Berechnungen vorzulegen. Es wäre im Inte-resse aller Betroffenen und besonders der Kinder sehrhilfreich, wenn wir gemeinsam diese Aufgabe lösen unduns nicht um des Kaisers Bart streiten würden. Wirkönnten so ein großes Stück Vertrauen in unsere politi-sche Arbeit hier im Deutschen Bundestag gewinnen.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Frau Kollegin Brehmer, ich gratuliere Ihnen im Na-
men des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deut-
schen Bundestag.
Damit ist die Aktuelle Stunde beendet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 5 auf:
Unterrichtung durch die Bundesregierung
Bericht zur Strategie der Bundesregierung zur
Internationalisierung von Wissenschaft und
Forschung
– Drucksache 16/13852 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Wenn die Kolleginnen und Kollegen, die an dieser
Debatte nicht teilnehmen wollen, den Saal verlassen ha-
ben, kann ich die Aussprache eröffnen. – Das tue ich
hiermit und erteile als erstem Redner das Wort dem Par-
lamentarischen Staatssekretär Dr. Helge Braun.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Strategiezur Internationalisierung von Wissenschaft und For-schung hat das Bundeskabinett am 20. Februar 2008,also etwa vor zwei Jahren beschlossen. Deutschlandmuss sich – das ist die Grundüberzeugung – auf den Wegbegeben, einer der dynamischsten, wissensbasiertestenRäume in Europa zu werden, und Europa muss der dyna-mischste, wissensbasierteste Raum der Welt werden. EinMangel an Rohstoffen macht diesen Weg für uns alterna-tivlos. Aber gleichzeitig ist auch klar, dass wir diesenWeg nicht allein mit nationalen Strategien gehen kön-nen.Man sieht in dieser Zeit noch etwas anderes: Die Dy-namik in anderen Regionen der Welt ist ebenfalls groß.Die UNESCO hat die Zahl der Wissenschaftlerinnen undWissenschaftler im Zeitraum von 2002 bis 2007 welt-weit beobachtet und hat die positive Entwicklung festge-stellt, dass die Zahl der wissenschaftlich tätigen Men-schen in den Entwicklungsländern in diesem Zeitraumum sage und schreibe 56 Prozent angewachsen ist. Wennman das in Beziehung zu dem etwa 10-prozentigen An-wachsen in Deutschland setzt, ist klar, dass wir im inter-nationalen Vergleich einen geringeren Anteil an Wissen-schaftlern in Europa und in Amerika haben: Heute sindetwa 20 Prozent der Wissenschaftlerinnen und Wissen-schaftler in China tätig, 28 Prozent in Amerika und26 Prozent in Europa. Deshalb ist es eine Aufgabe dernationalen Politik, Wissenschaft und Forschung in einenInternationalisierungsprozess zu bringen, um langfristigdie Erfolge gemeinsam mit anderen zu mehren.Im Kabinettsbeschluss von 2008 hat die Bundesregie-rung daher vier Ziele festgelegt. Das erste Ziel ist die In-tensivierung der Forschungszusammenarbeit mit denweltweit Besten. Das zweite Ziel ist das Erschließen in-ternationaler Innovationspotenziale. Das dritte Ziel istdie deutliche Stärkung der Zusammenarbeit mit den Ent-wicklungsländern. Das vierte Ziel ist die Übernahmeglobaler Verantwortung bei der Bekämpfung und Beant-wortung globaler Herausforderungen.Zwei Jahre nach diesem allerersten Beschluss hat jetztdie Bundesregierung einen ersten Bericht vorgelegt. Die-ser zeichnet eine alles in allem ausgesprochen positiveEntwicklung. Wir können nämlich sagen, dass nahezualle Beteiligten in Deutschland die Internationalisie-rungsstrategie der Bundesregierung aufgegriffen habenund jetzt mit eigenen Initiativen dabei sind, diese mit Le-ben zu erfüllen. Dazu gehören nicht nur die Bundesres-sorts und die Länder, also der politische Teil Deutsch-lands, sondern dazu gehören auch die Wirtschaft, dieHochschulen, die Wissenschaftsorganisationen und un-sere Mittlerorganisationen. Alle haben mit eigenen Ini-tiativen die Internationalisierungsstrategie in den letztenzwei Jahren mit Leben erfüllt.Ich will dazu einige Beispiele erwähnen. Wir haben dieAlexander-von-Humboldt-Professuren ausgebaut undwerden sie weiter ausbauen. Sie sind ein geeignetes Mit-tel, um Wissenschaftler, und zwar die besten der Welt,nach Deutschland zu holen, damit sie hier ihre Expertiseeinbringen. Das Interessante ist, dass in den letzten zweiJahren, nämlich von 2008 bis 2009, 10 der 16 Preisträgerder Alexander-von-Humboldt-Professur gar keine Bil-dungsaus-, sondern ursprüngliche Bildungsinländer wa-
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1860 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. Februar 2010
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Parl. Staatssekretär Dr. Helge Braunren, die wir wieder nach Deutschland zurückholen konn-ten. Somit ist das eine Maßnahme, die dem Braindrain inDeutschland sehr wirksam entgegenwirkt.Das Bundesministerium für Bildung und Forschunghat im zweiten Halbjahr 2009 mit einer Pilotmaßnahmedie Kontakte deutscher Netzwerke aus Wirtschaft undWissenschaft mit den fachlich relevanten Netzwerkenund Clustern weltweit gefördert. Wir sind heute froh, zusehen, dass sich viele kleine und mittelständische Unter-nehmen daran beteiligen.Das nächste Zielfeld, die Zusammenarbeit mit denEntwicklungsländern, ist ein Feld, das gut gedeiht. Es istuns wichtig, dass wir mit den Schwellen- und Entwick-lungsländern auf Augenhöhe handeln und uns etwa inden Kompetenzzentren in Afrika gemeinsam mit denHerausforderungen von Hunger, Dürre oder vernachläs-sigten Erkrankungen anwendungsnah auseinanderset-zen.Zusammen mit unseren Partnern in der EU, in denVereinten Nationen, in der OECD, den G-8-Staaten undzunehmend auch den G-20-Staaten wollen wir wissen-schaftliche Lösungsbeiträge für die globalen Klima-,Ressourcen-, Gesundheits- und Sicherheitsproblemeleisten. Gerade zu diesem Zweck hat das BMBF einemultinationale Initiative bei der OECD angeschoben, dienoch in dieser Legislaturperiode Empfehlungen für eineverbesserte multilaterale Zusammenarbeit entwickelnsoll.Ein weiterer Vorstoß des BMBF im Rahmen der G 8war gerade erst in der letzten Woche von einem schönenErfolg gekrönt. Unter der Federführung der DeutschenForschungsgemeinschaft, DFG, haben die Förderorgani-sationen der G 8 ein multilaterales Pilotprogramm einge-richtet. Künftig müssen Forschungsteams ihre Förder-gelder nicht mehr einzeln in jedem G-8-Staat bei einerVielzahl von Organisationen, sondern nur noch einmalgemeinsam bei einer federführenden Förderorganisationbeantragen.
Wer das Verfahren in der Vergangenheit kennt, der müsstejetzt genauso begeistert wie die CDU/CSU-Fraktion sein.
Meine Damen und Herren, die Internationalisierungs-strategie der Bundesregierung hat eine ungeheure Dyna-mik in Gang gesetzt. Viele unserer Allianzinstitutionenhaben eigene Internationalisierungsstrategien auf denWeg gebracht. Mit dem Vorsitz des europäischen Strate-gischen Forums für Internationale Kooperation bei derEU hat das BMBF eine Schlüsselposition neu besetzt.Ich hoffe, dass der Bundestag die Internationalisierungs-strategie der Bundesregierung in den kommenden Jahrenso unterstützt, dass wir diese mit Mitteln und Expertisenfortsetzen können, und zwar im Interesse von Wissen-schaft und Forschung in Deutschland, aber auch welt-weit.Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Ulla Burchardt von der
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wissenschaft ist per se international, und schonimmer wirken die Wissenschaftlerinnen und Wissen-schaftler in den großen deutschen Wissenschafts- undForschungsorganisationen an internationalen Austausch-prozessen mit. In besonderer Weise tragen dazu seitJahrzehnten der DAAD durch die Förderung des Wis-senschaftleraustauschs und die Alexander-von-Hum-boldt-Stiftung mit einem weltweiten Netzwerk von23 000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern bei.Auch die gezielte politische Förderung der Internatio-nalisierung des Hochschul- und Forschungsstandorts istnicht neu. Ministerin Edelgard Bulmahn und die rot-grüne Koalition haben 1998 damit begonnen und wich-tige Weichen gestellt. Ich nenne nur die Einführung desprofessionellen internationalen Hochschulmarketings,das Schaffen attraktiverer Karrierewege durch die Ju-niorprofessur, die Exzellenzinitiative mit internationalsichtbaren Leuchttürmen, die Gründung der deutschenUniversitäten in Kairo und Amman, die Preise zur Ge-winnung internationaler Spitzenwissenschaftlerinnenund -wissenschaftler und nicht zuletzt den Pakt für For-schung und Innovation.
Nach Jahren der Stagnation war dieser Aufbruchüberfällig, und er war erfolgreich. Der Braindrain wurdegestoppt, es gibt schon seit Jahren mehr ausländischeStudierende als je zuvor. Es gibt 18 000 Hochschulpart-nerschaften und internationale Forschungscluster. Dassind die Erfolge, die wir geschaffen haben und auf diewir stolz sind.
An sie kann die aktuelle Internationalisierungsstrategieanknüpfen, über die wir heute debattieren.
Wenn man sich den Bericht anguckt, dann sieht man,dass er ein Ausdruck von Kontinuität ist, und das istauch gut so.
Es ist aber keine Frage: Was gut ist, das kann undmuss besser werden. Als SPD-Bundestagsfraktion habenwir deshalb die strategischen Initiativen der letzten Bun-desregierung, die Außenwissenschaftsinitiative und dieInternationalisierungsstrategie, ausdrücklich begrüßt.Insbesondere mit der Außenwissenschaftsinitiative istein Paradigmenwechsel in der Außenpolitik vollzogenworden, und auch da sind die Erfolge sichtbar. Das Netzder Wissenschaftsreferenten an den Botschaften wurdeendlich ausgeweitet. Es wurden attraktive internationale
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Ulla BurchardtStipendienprogramme eingerichtet. Die Goethe-Institutewurden reformiert und auch finanziell gestärkt, das warüberfällig. Germanistik und Deutsch als Fremdsprachewurden gefördert.
Wenn man sich international gut positionieren und dasAnsehen fördern will, dann sind das ganz wichtige Bei-träge.An der Internationalisierungsstrategie ist positiv, dasserstmals die Gestaltung der Internationalisierung vonWissenschaft und Forschung als Komplexität in denBlick genommen wird. Besonders gut finde ich auch denAnsatz, dieses Konzept als lernendes, sich dynamischentwickelndes und kontinuierlich zu überprüfendes zusehen. Das ist ein gutes Anliegen. Schauen wir einmal,ob wir auch wirklich Fortschrittsberichte im Sinne derNachvollziehbarkeit dessen, was wirklich passiert ist,bekommen können. Der jetzige Bericht ist leider nochnicht so.Positiv würde ich auch das Vorhaben nennen, mehrTransparenz und Synergieeffekte zu schaffen sowie dievielfältigen Akteure und Aktivitäten besser zu koordi-nieren. Das ist wirklich sinnvoll.
Allerdings lässt der Bericht offen, ob und wie dies fak-tisch passiert. Dem Bericht ist das wirklich nicht zu ent-nehmen. Kollege Braun, ich höre es mit großem Inte-resse, wenn Sie sagen, wie lebendig das alles passiere.
Gemessen an dem, was Sie hier erzählen, wirkt der Be-richt jedoch relativ leblos. Vielleicht können Sie in derDebatte im Ausschuss noch ein bisschen nachlegen undein wenig konkreter werden, statt in Schlagworten undSchlagzeilen zu sprechen.Vor allem wird mit dem vorliegenden Bericht nichterkennbar, ob es wirklich eine neue Dynamik im Sinneeines mentalen Aufbruchs gibt. Der wäre notwendig, umden Herausforderungen der globalen Wissensgesell-schaft tatsächlich gerecht zu werden und eine globaleGestaltungsperspektive zu entwickeln. Um es in ein Bildzu fassen: Notwendig wäre der Wechsel von der Frosch-perspektive zur Adlerperspektive. Das heißt, nicht nur zufragen: Wie lassen sich der Standort und das Standort-marketing verbessern? Wie können wir das Schaufensterbesser gestalten? Vielmehr gilt es, zu fragen: Was kannunser spezifischer deutscher Beitrag sein, um den globa-len Strukturwandel mit Wissenschaft und Forschung sozu gestalten, dass die Kluft zwischen Arm und Reichwenn nicht überwunden, so doch zumindest kleinerwird, sodass Wohlstandsgewinne für alle dabei herum-kommen?
Nun nennt der Bericht die Millenniumsziele. Das isterfreulich. Wir lesen, dass es Bemühungen und Sondie-rungen in der Frage gibt, wie die Ziele erreicht werdensollen. Das alles hat aber nichts mit einem kohärentenAnsatz zu tun, der notwendig wäre. Notwendig wäre einganzheitlicher Ansatz von Capacity-Bildung. Das be-deutet eben nicht nur, die strategische Kooperation mitden Besten auszubauen, sondern auch, die Forschungs-und Wissenschaftsstrukturen in denjenigen Ländern auf-zubauen und zu stärken, die starke Partner brauchen.
Wir haben zwar gehört, dass das in der nächsten Etappeansteht – das hört sich gut an –; spannend wird es aber,wenn wir Konkreteres erfahren. Dann werden wir in diePrüfung einsteigen.Nötig ist in einer Internationalisierungsstrategie auchdas stärkere Engagement in den UN-Institutionen, ins-besondere in der UNESCO; denn sie ist die globaleScience-Policy-Agentur. Was dort passiert, gibt der Be-richt leider ebenfalls nicht wieder. Dabei ist eines völligklar – wer sich ein bisschen mit Weltpolitik und den UN-Institutionen befasst hat, weiß das –, dass die Lösung derglobalen Probleme nicht nur davon abhängig ist, ob manmit Wissenschaft und Forschung gute Beiträge liefert,sondern auch davon, ob man mit der UNESCO eng ko-operiert; sie ist nämlich der neutrale Mittler zwischenden Staaten ist. Diese Kooperation ist – ich will es ein-mal vorsichtig sagen – sehr ausbaufähig. Ohne dieUNESCO hätte es beispielsweise nicht die Installationdes in Deutschland entwickelten Tsunami-Frühwarnsys-tems gegeben. Die UNESCO hat nämlich dafür gesorgt,dass Staaten, die an sich nicht gut miteinander können,sich auf dieses System eingelassen haben.Da wir gerade bei den internationalen Organisationenund ihrer Bedeutung sind: Ich glaube, wir sind an sich inder Auffassung einig, dass eine starke Präsenz von Deut-schen auch in den Spitzenpositionen der internationalenOrganisationen wichtig ist und daher dringend ausgebautwerden muss.
Es gilt, auch darauf zu achten, dass keine Position verlo-ren geht. Ein solcher Verlust droht aktuell bei derUNESCO. Der vorherige Außenminister Steinmeier hatgegenüber der UNESCO-Spitze – dort findet nach demWechsel jetzt das große Stühlerücken statt – deutlich ge-macht, dass deutsche Positionen verloren zu gehen dro-h
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Ob wir unsere Position dorthalten, wird auch ein Prüfstein für das Engagement die-ser Bundesregierung sein. Darüber werden wir in dennächsten Wochen Klarheit gewinnen.
Ich komme zum Schluss. Das Bild von der Adlerper-spektive hilft auch, den Blick darauf zu lenken, wo es inDeutschland noch hakt, wenn es darum geht, ein guterGlobal Player in der Wissensgesellschaft zu werden.Dazu muss man sich ehrlich die Frage stellen, wieDeutschland von außen wahrgenommen wird – unab-
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Ulla Burchardthängig davon, wie es gesehen werden will. Dazu dreiPunkte:Junge Wissenschaftler aus Nicht-EU-Ländern berich-ten mir immer wieder von erheblichen Problemen mitden Visa-Abteilungen in deutschen Botschaften, die ihreBeteiligung an Wissenschaftsprojekten verhindern.Die Frage des Ansehens als Wissenschaftsstandortentscheidet sich auch an den Alltagserfahrungen derjeni-gen, die zu uns kommen und eine andere Hautfarbe ha-ben. Wer sich bei den Ausländerämtern der Hochschulenumhört, bekommt mit, dass Probleme mit den lokalenAusländerbehörden und bei der Wohnungssuche die Re-gel und bittere Realität sind.Nicht zuletzt wird das Erscheinungsbild unseres Lan-des – ob wir wollen oder nicht – geprägt durch Bildervon Neonaziaufmärschen und von brutalen Übergriffen,wie sie zum Beispiel ein äthiopischer Wissenschaftleram Potsdamer Max-Planck-Institut erleben musste.Aus all diesen Gründen braucht die Internationalisie-rungsstrategie dringend eine andere, eine erheblich wei-tere Perspektive. Weltoffenheit und Toleranz sind dieentscheidenden Voraussetzungen, um die globalen Chan-cen in der Wissensgesellschaft zu nutzen und das Anse-hen Deutschlands in der Welt zu mehren. Ich werbe da-für, dass Sie eine solche Kampagne zum integralenBestandteil der Internationalisierungsstrategie machen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Martin Neumann
von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Sehr ge-ehrte Frau Burchardt, ich danke Ihnen für Ihren kon-struktiven Beitrag.
Eines glauben Sie mir bitte: Die schwarz-gelbe Regie-rung wird die Dynamik, die Sie eingefordert haben, si-cherlich einbringen. Wir werden an bestimmten Stellennachhaken und an dieser Sache dranbleiben.Wo Licht ist, gibt es bekanntlich auch Schatten. Jetztwollen wir natürlich darüber reden, an welchen Stellendie Außenwissenschaftspolitik dieser Bundesregierungverbessert werden muss. Wir müssen davon ausgehen,dass diese Politik den wissenschaftlichen und akademi-schen Austausch zwischen Deutschland und der Weltfördern muss. Genau diesem Anliegen dient die Strate-gie der Bundesregierung.Herr Staatssekretär Braun hat die vier wichtigen Zielebenannt. Aus meiner Sicht will ich das zusammenfassen.Im Kern geht es dabei nicht um Selbstzweck, sondernum internationale Hilfe, so wie Sie es auch gesagt haben,um Kooperation, um die Weiterführung des Aufbaus ei-nes internationalen entwicklungsfördernden Dialogs aufAugenhöhe; darauf kommt es mir an der Stelle an.Aus bildungs- und forschungspolitischer Sicht bestehtdas Problem, dass unsere Bildungssysteme Schule undHochschule offensichtlich an einem Mangel an Attrakti-vität leiden. Darüber kann auch die gestiegene Zahl aus-ländischer Studierender nicht hinwegtäuschen. Die aus-wärtige Kulturpolitik könnte uns dabei helfen, unsereBildungspolitik zu verbessern. England, Frankreich unddie USA haben erkannt, dass Bildung ein wichtigerStandortfaktor ist und langfristig den Interessen ihrerLänder mehr dient als manche harten Standortfaktoren.Deutschland als Studienstandort wird bei den auslän-dischen Studierenden zwar immer beliebter – er ist nachden USA und Großbritannien am attraktivsten –; das er-klärt sich aber leider auch aus der Tatsache, dass ein Stu-dium in Deutschland für die Studierenden kostenlos ist.So ist mittlerweile ungefähr jeder achte Studierende aneiner deutschen Hochschule ein Ausländer.
– Ich stelle es ja nur fest. – In den letzten zehn Jahren hatderen Zahl um 100 000 zugenommen; das ist ein Anstiegum circa 66 Prozent. Die meisten ausländischen Studie-renden kommen aus China – 13,6 Prozent –, Bulgarien,Polen und Russland. Auffällig ist, dass diese Studieren-den im Vergleich zu ihren deutschen Kommilitonenüberdurchschnittlich häufig ein Ingenieurstudium absol-vieren. 15 Prozent der Ausländer wählen ein solchesStudium, während dies von den deutschen Studierendennur 9 Prozent tun. Hier liegen aus meiner Sicht großePotenziale für die Gewinnung von Hochqualifiziertenfür die Wirtschaft.Die grenzüberschreitende Vernetzung des Wissen-schafts- und Forschungsstandorts Deutschland mit denWissenschaftssystemen der Welt ist eine wesentliche Vo-raussetzung für Forschung und Entwicklung sowie tech-nologischen Fortschritt, Wachstum und Wohlstand.Knapp 25 000 Wissenschaftler sind als Mitarbeiter andeutschen Hochschulen tätig. Weitere 23 000 werdenvon 66 Wissenschaftsorganisationen gefördert.In diesem Zusammenhang ist die „Initiative Außen-wissenschaftspolitik 2009“ positiv zu sehen. Das möchteich an dieser Stelle hervorheben. Mit dieser Initiativewerden Projekte gefördert wie der Aufbau von Deut-schen Wissenschafts- und Innovationshäusern, die dieSichtbarkeit der deutschen Wissenschaft im Ausland er-höhen, und die Einrichtung von Exzellenzzentren derForschung und Lehre unter Mitwirkung deutscher Hoch-schulen. Ein weiteres Projekt ist der Ausbau des Ange-bots an Stipendien. So wird den Absolventen deutscherAuslandsschulen die Möglichkeit zum Studium inDeutschland eingeräumt. Es geht ferner um den Aus-tausch von Wissen und die Vermittlung von Werten. Dasfördert die demokratische Entwicklung in den beteiligtenLändern. Wichtig ist die Unterstützung von sogenanntenOrchideenfächern wie Kaukasiologie oder Koreanistik.Das ist gerade für die Außenbeziehungen unseres Lan-des, ob in Wirtschaft oder Kultur, von großer Bedeutung.
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Dr. Martin Neumann
Wichtig ist ferner die Schaffung von Grundlagen für denAustausch über die gemeinsame Sprache. Zum Erlernender deutschen Sprache bieten moderne Technologien wiedas Internet bisher unbekannte Möglichkeiten.Künftig sollte, auch im Rahmen der Debatte zur Ein-führung von Studiengebühren, intensiver über den Bil-dungsmarkt Deutschland nachgedacht werden.Ich möchte noch einige Themen nennen, die die FDP-Bundestagsfraktion in den letzten Jahren begleitet hat.Zu nennen sind unter anderem das Mittel- und Osteuro-pazentrum in Leipzig, die Stiftung Deutsche Geisteswis-senschaftliche Institute im Ausland und – das halte ichfür ganz wichtig – die Konzentration der Zuständigkei-ten für die auswärtige Kulturpolitik, die vorher in sechsBundesministerien verteilt waren. Diese Konzentrationhat auch dazu geführt, dass diese Politik jetzt viel bessertransportiert werden kann. Genau an dieser Stelle, meineDamen und Herren, und mit dieser Strategie werden wirweiterarbeiten.Ich bedanke mich.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Petra Sitte von der
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich habewie Frau Sager nur vier Minuten Zeit, um die Strategieder Bundesregierung zur Internationalisierung von Wis-senschaft und Forschung zu bewerten. Es ist völlig klar:Das geht nur fragmentarisch. Deshalb – das wird Sienicht wundern – konzentriere ich mich auf die Kritik.
– Lassen Sie mich doch erst einmal richtig anfangen.Zunächst etwas Grundsätzliches: Ihre Strategie solllangfristig greifen, und strategisch wollen Sie sich den– ich zitiere – „großen Herausforderungen der Gegen-wart und der Zukunft“ stellen. Laut Ihrem Bericht gehtes darum, den Klimawandel zu bewältigen, die Energie-versorgung zu sichern, Armut und Infektionskrankheitenzu bekämpfen und schließlich Fragen von Sicherheit undMigration zu beantworten. Das liest sich nicht schlecht,möchte man meinen. Bei mir jedoch ist Misstrauen ge-blieben. Als ich weitergelesen habe, ist mir auch klargeworden, warum ich so ein komisches Gefühl hatte.Etwas weiter heißt es nämlich wörtlich in diesem Be-richt:Die Internationalisierung ist ein wichtiger Erfolgs-faktor im globalen Wettbewerb und daher wesentli-ches Element einer modernen Innovationspolitik.Das heißt, Sie bleiben auch in diesem Feld Ihrer Logiktreu: Konkurrenz vor Kooperation. Das steht natürlich– Sie haben es selbst erwähnt – im Einklang mit der Lis-sabon-Strategie der EU, die Europa zum stärksten wis-sensbasierten Wirtschaftsraum machen will. Dass Siedas planen, deklinieren Sie im ganzen Bericht durch.Ich kann angesichts dessen durchaus an die Ausfüh-rungen von Frau Burchardt anschließen, was am Endebei einer solchen Politik herauskommt. Ich will ein dra-matisches Beispiel nennen: In den Millenniumszielender UNO war die Halbierung der Zahl hungernder Men-schen weltweit anvisiert. Von rund 800 Millionen Hun-gernden wollte man auf rund 400 Millionen Hungerndeam Ende der ersten Dekade dieses Jahrhunderts kom-men. Jetzt, meine Damen und Herren, 2010, liegen wirweltweit bei fast 1 Milliarde Hungernden. Dazu hat ebenauch beigetragen, dass die auf den G-8-Treffen wie demin Heiligendamm abgegebenen Versprechen nicht gehal-ten wurden. Die Entwicklungshilfe sollte massiv aufge-stockt werden. Auch das ist nicht geschehen. Ein solchesHerangehen auf der Basis von Wettbewerbs- und Stand-ortlogik verfestigt natürlich Ungleichheiten.Wir als Linke haben immer einen kooperativen An-satz gefordert. Wissensgewinnung und Wissensanwen-dung sollen uneingeschränkt der weltweiten Verbesse-rung von Lebensqualität und -grundlagen dienen, sollenhelfen, natürliche Ressourcen einzusparen und biolo-gische Vielfalt zu erhalten, sollen aber natürlich auchBeschäftigungsgrundlagen sichern wie soziale und kul-turelle Teilhabe eröffnen. Solange Sie aber Wissen öko-nomisieren und als Ware quasi künstlich verknappen,solange soziale und auch patentrechtliche Zugangsbe-schränkungen bestehen, bleibt dieses Strategieziel amEnde Etikettenschwindel.
Mithin geht es Ihnen nicht nur um geronnenes Wis-sen, das man sozusagen nachlesen und anwenden kannund möglicherweise beim Patentamt anmelden kann.Nein, es geht Ihnen auch um Internationalisierung unterdem Blickwinkel der Gewinnung von Nachwuchseliten.Im Bericht nennen Sie das Scouting und Monitoring.Wenn dies allerdings unter den Vorzeichen geschieht, dieich beschrieben habe, müsste man es eher als Hunting,also die Jagd nach Köpfen, bezeichnen. Das heißt, Sieschöpfen durchaus auch gezielt Ausbildungsleistungenanderer Länder ab. Dem dienen die jüngsten Erleichte-rungen für ausländische Qualifizierte in Deutschland inWahrheit. Am Ende ist es für Sie nur von sekundärer Na-tur, welche Chancen jungen Zuwanderern eröffnet wer-den. Es geht Ihnen vor allem um den wirtschaftlichenVorteil, den Sie sich davon versprechen,
und um eine Reduzierung des permanenten Fachkräfte-mangels.Umgekehrt endet die Internationalisierung der Aus-bildung des wissenschaftlichen Nachwuchses ausDeutschland oft damit, dass die betreffenden jungenLeute auswandern, weil hiesige akademische Karrierenunattraktiv sind. Sie haben Rückholprogramme aufge-
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Dr. Petra Sittelegt; die sind zwar gut gemeint, aber nicht die Lösung.Den Studierenden war versprochen worden, mit der Stu-dienreform im Zuge des Bologna-Prozesses auch Frei-räume für Auslandsstudien zu schaffen. Das Gegenteilist eingetreten: Nur 15 Prozent der Studierenden gehenwährend einer dreijährigen Ausbildung zum Bachelorins Ausland. Die dort erbrachten Leistungen werden hiervielfach nicht anerkannt. Das BAföG deckt nur zum Teiloder gar nicht die damit verbundenen Kosten ab. DieAnzahl der angebotenen Stipendienprogramme ist vielzu gering; denn die Zahl der Bewerberinnen und Bewer-ber übersteigt sie um ein Vielfaches.Im Forschungsausschuss hat uns letztens der Vorsit-zende des Wissenschaftsrates, Professor Strohschneider,sehr eindringlich das Dilemma eines Auslandsaufenthal-tes einer jungen Studentin beschrieben. Die Problemla-gen waren genau so, wie ich sie eben beschrieben habe.Da kam wieder einmal das Leben daher und sagte: Ichbin anders.Wer die wirklich großen Herausforderungen von Ge-genwart und Zukunft meistern will, muss Wissen globa-lisieren. Er muss vor allem die Zugangsschranken ab-bauen.
Frau Kollegin Sitte, kommen Sie bitte zum Schluss.
Danke für den Hinweis. – Ich komme zu meinem letz-
ten Satz: Nur wer Wissen teilt, wird es am Ende auch
vermehren können.
Danke schön.
Das Wort hat die Kollegin Krista Sager vom Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bei derInternationalisierung der Wissenschaft haben wir es vonvornherein mit sehr unterschiedlichen Zielen und mitsehr unterschiedlichen Interessen zu tun. Wir bewegenuns in einem Spannungsfeld zwischen Kooperation undKonkurrenz. Deswegen hat der Wissenschaftsrat recht,wenn er sagt: Eine einzige Internationalisierungsstrate-gie, die sich auf alle Akteure und Institutionen bezieht,kann es gar nicht geben. – Deswegen ist die sogenannteInternationalisierungsstrategie der Bundesregierung eherein Begriff aus dem politischen Marketing.
Der heute vorliegende Bericht ist eine langatmigeFleißarbeit im Wahlkampfjahr. Maßnahmen, Vorhabenund Projekte werden aufgezählt. Aber spezielle Defiziteund Problemfelder des deutschen Wissenschaftssystems,aber auch seine Vorzüge werden systematisch umschifftund nicht aufgedeckt. Die Indikatoren, die uns anzeigen,wie wir die Erfolge auf der Zeitschiene bewerten kön-nen, werden nicht transparent gemacht. Deswegen istdieser Bericht für eine ernsthafte Strategiediskussion ei-gentlich völlig ungeeignet.
Ich will mich auf einige Aspekte der internationalenMobilität konzentrieren. Wir hatten von 1997 bis 2006einen sehr starken Anstieg bei den ausländischen Studie-renden. 2007 und 2008 gab es in diesem Zusammenhangeher Rückgang oder Stagnation. Gleichzeitig ist aberweltweit die Zahl der Studierenden, die sich internatio-nal bewegen, dramatisch angestiegen. Das relativiert dendritten Platz, den wir unter den attraktiven Studentenlän-dern einnehmen, ganz erheblich. Wir müssen uns fragen,wie lange wir diesen dritten Platz noch werden haltenkönnen.In diesem Bericht müssten einige Probleme viel stär-ker in den Fokus gerückt werden. Mit der Bologna-Stra-tegie sollte gerade unsere internationale Anschlussfähig-keit auf diesem Gebiet gesichert werden. Nun haben wiraber schon auf nationaler Ebene bei der Anerkennungund bei der Vergleichbarkeit von Abschlüssen großeProbleme. Die angestrebte Verbesserung bei der Betreu-ung ist unterfinanziert. Die ausländischen Studierendenklagen über Orientierungsprobleme, über Finanzierungs-probleme und über mangelnde Anerkennung ihrer Vor-bildung. Solche Punkte müssten in diesem Bericht imVordergrund stehen. Das ist hier aber nicht der Fall.
Die stark gestiegene Mobilität der deutschen Studie-renden ist natürlich erfreulich. Aber angesichts der Tat-sache, dass ein großer Anteil von ihnen in die Nieder-lande, nach Österreich und in die Schweiz geht und dasses einen Sondereffekt bei den Studierenden der Human-medizin gibt, müssen wir uns fragen, ob eine wachsendeAnzahl von NC-Flüchtlingen, von Studiengebühren-flüchtlingen und von in Deutschland unterversorgtenStudierenden ein Erfolg dieser Internationalisierungs-strategie sein kann.
Der Wissenschaftsrat hat zu Recht ein Problemfeld imZusammenhang mit den internationalen Wanderungssal-dos besonders hervorgehoben. Mit Blick auf die Post-Doc-Phase ist es offenkundig, dass wir in DeutschlandProbleme haben, attraktive und kalkulierbare Karriere-wege anzubieten. Es ist in Ordnung, wenn man unterWettbewerbs- und Internationalisierungsgesichtspunktendie Anwerbebedingungen für Spitzenforscher flexibili-siert. Aber wenn das auf Kosten des wissenschaftlichenNachwuchses geht, dann haben wir national und interna-tional mit Rosinen gehandelt. Auch das müssen wir ein-mal sehen.25 Prozent der ausländischen Studierenden inDeutschland sind Bildungsinländer mit ausländischemPass. An der Gesamtzahl der Promotionen in Deutsch-
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Krista Sagerland haben sie aber nur einen Anteil von 0,4 Prozent.Wenn wir dieses Potenzial heben würden, hätten wir ei-nen Diversifizierungsgewinn im Wissenschaftssystemohne eine einzige Anwerbung aus dem Ausland. Auchdas sollte einmal in den Fokus gerückt werden.
Dieser Bericht ist in erster Linie eine Lobpreisung derBundesregierung. Das lasse ich Ihnen durchgehen, dennwir hatten Wahlen im letzten Jahr. Ich möchte aber, dassSie in dem nächsten Bericht die Problemfelder sowiespezielle Defizite und Vorzüge in den Blick nehmen unduns so in die Lage versetzen, eine wirkliche Strategie-diskussion zu führen. Ich würde Ihnen auch anbieten, Siedabei weiterhin konstruktiv zu begleiten.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
nun der Kollege Dr. Reinhard Brandl von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Wir leben in einem Zeitalter einer immer schneller vo-ranschreitenden Globalisierung in immer mehr Berei-chen unserer Gesellschaft. Das beginnt bei der Wirt-schaft und geht über fast alle Felder der Politik bis hinzur Kultur. Aber in kaum einem anderen Bereich sindder Nutzen und die Notwendigkeit des internationalenAustausches so groß wie in der Wissenschaft und in derForschung.Über 90 Prozent des Wissens entsteht außerhalbDeutschlands. Um dieses Potenzial für uns zu erschlie-ßen, brauchen wir internationale Zusammenarbeit. Dashat nicht nur die ökonomische Dimension, dass wir alsStandort im weltweiten Wettbewerb um die bestenKöpfe und Innovationen bestehen. Wissenschaft undForschung sind auch die Grundlage für die Bewältigungder großen Herausforderungen der Menschheit, wie Um-gang mit dem Klimawandel, Kampf gegen Hunger, Ar-mut und Krankheiten oder die Zukunft der Energiever-sorgung.Das sind globale Probleme, mit deren Erforschungund Lösung ein einzelnes Wissenschaftssystem überfor-dert wäre. Wir stehen in der Verantwortung, als starkerWissenschaftsstandort Deutschland einen nachhaltigenBeitrag zur Lösung dieser Probleme zu leisten.
Unter Federführung von Ministerin Schavan und ih-rem Ministerium hat die Bundesregierung dazu vor zweiJahren eine Strategie zur Internationalisierung von Wis-senschaft und Forschung vorgelegt. Sie soll Richtschnurfür den Ausbau der internationalen Kooperationen unse-rer Wissenschafts-, Forschungs- und Mittlerorganisatio-nen sein und zugleich die Ausgangsbasis für ressortüber-greifende Zusammenarbeit.Wir wollen die Kooperation mit den besten Forschernder Welt. Wir wollen unseren Wissenschaftlern und Un-ternehmern helfen, sich weltweit Innovationspotenzialeund Märkte zu erschließen. Wir wollen aber auch die Zu-sammenarbeit mit Entwicklungsländern in Bildung undForschung stärken und Verantwortung für die Bewälti-gung der globalen Herausforderungen übernehmen.Die letzten beiden Punkte sind für mich das Bemer-kenswerte an dieser Strategie. Deutschland bekennt sichdamit ausdrücklich zu seiner internationalen Verantwor-tung. Die Internationalisierung von Wissenschaft undForschung wird explizit als Element unserer Entwick-lungspolitik verstanden. Die Themen für Kooperationenmit Entwicklungsländern lassen sich direkt aus den Mil-lenniumszielen der Vereinten Nationen ableiten. Ichnenne beispielhaft den Umweltschutz, die Landwirt-schaft, die Nahrungsmittelversorgung, nachhaltiges Res-sourcenmanagement oder den Gesundheitssektor.Gleichzeitig müssen wir aber auch das Bildungs- undWissenschaftssystem in unseren Partnerländern vor Ortstärken. Nur wenn vor Ort Wissen entsteht und weiterge-geben werden kann, haben die Menschen eine Perspek-tive, selbst an der Lösung ihrer Probleme zu arbeiten undihr Land weiterzuentwickeln.
Der nun vorliegende Zwischenbericht zeigt, dass wirauf dem richtigen Weg sind. Die Strategie wird von allenbeteiligten Organisationen – vom Auswärtigen Amt bishin zum Wissenschaftsrat – mitgetragen und unterstützt.Bei der Entwicklungshilfe sind das BMBF und das BMZdie wesentlichen Akteure. Im BMBF ist ein neuerSchwerpunkt der internationalen Aktivitäten entstan-den, nämlich die Zusammenarbeit mit Entwicklungs-und Schwellenländern. Dieser Bereich soll in Zukunftnachhaltig gestärkt und ausgebaut werden. Dazu passtauch, dass der Haushaltsansatz im vorliegenden Haus-haltsentwurf erhöht worden ist. Das BMZ hat das Themaoffensiv aufgegriffen und mit der Entwicklung einer ei-genen Forschungsstrategie begonnen, die den Grund-linien der vorliegenden Internationalisierungsstrategiefolgt.Zwischen den beiden Häusern wurde eine Ressortver-einbarung geschlossen mit dem Ziel, Einzelinstrumentegemeinsam zu überprüfen und eng abzustimmen. For-schungsförderung und Entwicklungszusammenarbeitmüssen aufeinander aufbauen. Die eine Hand muss wis-sen, was die andere tut. An der Verbesserung der Zusam-menarbeit – nicht nur zwischen BMBF und BMZ, son-dern zwischen allen beteiligten Institutionen in Bundund Ländern – müssen wir weiter arbeiten. Wir brauchenein noch besseres, gemeinsames Verständnis von Priori-täten und Zielen innerhalb Deutschlands, aber auch inAbstimmung mit unseren Partnerländern. Darin sehe ichdas größte Potenzial und die meisten Ansatzpunkte fürdie Zukunft.
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Dr. Reinhard BrandlDie Arbeitsgruppen „Bildung und Forschung“ sowie„Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung“ derCDU/CSU-Fraktion haben am Ende der letzten Legisla-turperiode gemeinsam 13 Forderungen aufgestellt, diedarauf gerichtet sind, durch eine Allianz aus Politik,Wissenschaft und Wirtschaft einen wirkungsvollen undnachhaltigen Beitrag zur Lösung der globalen Problemeleisten zu können. Unter Federführung der KolleginHübinger werden wir dieses Thema in dieser Legislatur-periode wieder aufgreifen;
denn gerade was die Hilfe der Schwachen undSchwächsten in der Welt angeht, sehen wir uns alschristlich-liberale Koalition in einer besonderen Verant-wortung.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich komme gerade rechtzeitig, um die Aussprache zu
schließen, was ich hiermit tun möchte.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 16/13852 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das sieht so aus. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen.
Wir kommen zu den Tagesordnungspunkten 6 a und
6 b:
a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Erwei-
terung des Kündigungsschutzes der Arbeit-
– Drucksache 17/648 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten
Wolfgang Nešković, Jan Korte, Klaus Ernst, wei-
teren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Ver-
bot der Verdachtskündigung und der Erweite-
rung der Kündigungsvoraussetzungen bei
Bagatelldelikten
– Drucksache 17/649 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Rechtsausschuss
Federführung strittig
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Auch dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann haben wir das so
vereinbart.
Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Anette Kramme für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Es gibt kaum eine Kleinigkeit des alltäglichenLebens, die nicht vor einem Arbeitsgericht verhandeltwurde. Es gibt den Fall mit den zwei gebratenen Fischenund den drei Fischbrötchen. Es gibt den Fall mit demAufstrich für ein Brötchen und zwei belegten Brötchen-hälften. Es gibt den Fall mit dem Schluck Cola und demSchnapsfläschchen. Es gibt den Fall mit dem Frischkäseund einen weiteren Fall mit Schnittkäse. Die Frikadelleund die Maultaschen sind berühmt geworden.
Die Urteile lesen sich wie eine Typologie geringwer-tiger Produkte. Der Schwerpunkt liegt dabei auf demEssbaren. Man muss überlegen, wie andere Rechtsge-biete mit Kleindiebstählen und kleinen Unterlassungenumgehen.Schauen wir uns den Bereich des Strafrechtes an.Dort existiert eine relative Großzügigkeit. Bei Diebstäh-len bis zu 50 Euro – so der typische Wert, manchmal et-was niedriger, manchmal etwas höher – werden die Ver-fahren eingestellt. Im Bereich des Zivilrechts haben wireine ähnliche Situation. Es gibt eine Entscheidung desOLG Celle, nach der einem Geschäftsführer nicht ge-kündigt werden kann, nur weil dieser 164 DM zu Un-recht an sich genommen hat. Das Beamtenrecht gehtbesonders weit. Dort heißt es: Der Diebstahl einer nurgeringfügigen Sache belege doch, dass der Beamte dieEigentumsordnung des Dienstherrn dem Grunde nachrechtfertige.Sie alle haben in den letzten Wochen und Monatenmitbekommen: Das Arbeitsrecht ist streng. Centbeträgekönnen ausreichen, um die Kündigung eines Arbeitneh-mers zu rechtfertigen. Das wirft eine Menge Fragen auf:Warum sollen die Interessen eines Geschäftsführers soviel stärker gewichtet werden als die Interessen eines Ar-beitnehmers? Warum sollen die Interessen eines Arbeit-gebers so viel mehr wert sein als die Interessen eines Ar-beitnehmers?Für die Arbeitsnehmer sind die Konsequenzen amweitreichendsten: Er wird erhebliche Schwierigkeitenbei der Jobsuche haben, insbesondere wenn es zu einemungeraden Beendigungstermin kommt. Der Arbeitneh-mer hat eine Sperrzeit hinzunehmen; die Bezugsdauerbeim Arbeitslosengeld ist verkürzt. Manchmal hat manauch ein ganz klein wenig den Verdacht, dass da Willkürexistiert, den Verdacht eines vorgeschobenen Kündi-gungsgrundes. Ein Beispiel, das mir einfällt: Eine Ar-beitnehmerin klaut eine Rolle Klopapier. Der Arbeitge-ber ist bereit, Tausende von Euro für einen Vergleich zuzahlen; er ist aber nicht bereit, das Risiko einer Weiter-beschäftigung einzugehen, das Risiko, dass vielleichtnoch einmal ein ähnlicher Vorfall passiert. Ich kann dazunur sagen: merkwürdig.
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Anette KrammeWir sehen das nicht ein. Wir wollen Arbeitnehmerund Arbeitnehmerinnen vor Bagatelldelikten schützen.Wir wollen aber auch den Arbeitgebern sagen: So ein-fach ist es nicht.
Im Arbeitsrecht ist es so, lieber Herr Kolb, dass bei ver-haltensbedingten oder bei fristlosen Kündigungen zuvorAbmahnungen ausgesprochen worden sein müssen. Esgilt der Grundsatz des Abmahnungserfordernisses. Al-lerdings macht die Rechtsprechung eine Ausnahme beiBagatelldelikten: Die Abmahnung sei in diesem Fallohne Sinn, weil der Arbeitnehmer wisse, dass er rechts-widrig handle, dass er nicht klauen dürfe. Der zweiteGrund, das Abmahnungserfordernis entfallen zu lassen,ist, dass eine unwiderrufliche Zerstörung des Vertrauens-verhältnisses vorliegt.Meines Erachtens kann beides infrage gestellt wer-den.
Liegt wirklich immer ein Unrechtsbewusstsein vor,wenn eine Bulette vom Buffet genommen wird? Liegtwirklich Unrechtsbewusstsein vor, wenn Dinge aus demAbfall des Arbeitgebers mitgenommen werden? Zerstörtes wirklich unwiderruflich das Vertrauen, wenn es umeine Bagatelle geht? Sicherlich, Vertrauen ist etwas, wasflüchtig ist. Wenn die Wurst den Besitzer wechselt, dannentsteht mit Sicherheit ein kleiner Riss in dem, was sichVertrauen nennt.
Ich sage aber auch: Dieser Riss kann verheilen.Wir wollen Folgendes machen: Wir wollen, dass esgrundsätzlich auch bei Bagatelldelikten zu einer Abmah-nung kommt. Wir lassen aber durchaus zu, dass, wenn esbesondere Umstände der Tatausführung gibt, wenn be-sondere Umstände es zwingend machen, ausnahmsweisesehr wohl sofort die Kündigung ausgesprochen werdenkann. Pauschal sagen wir aber: Es muss das Prinzip derzweiten Chance gelten, so wie es im gesamten Arbeits-recht und auch im Zivilrecht gilt.
Der Arbeitnehmer, der zu spät kommt, bekommt eineAbmahnung. Der Arbeitnehmer, der beispielsweise mitGegenständen des Arbeitgebers nicht sorgfältig umgeht,erhält ebenfalls eine Abmahnung.
Es gibt keinen Grund, hier eine andere Beurteilung vor-zunehmen, zumal selbst das Strafrecht keinen Grundsieht, mit voller Härte zuzuschlagen.Liebe Kollegen und Kolleginnen, lassen Sie mich ab-schließend Folgendes sagen: Es ist sicherlich richtig,dass es manchem Arbeitnehmer an Stil oder Benehmenmangelt. Aber ein Arbeitsverhältnis ist existenziell, undes ist sicherlich nicht der richtige Ort für die Erziehung.Deshalb sagen wir ganz klar und deutlich: Die Abmah-nung rügt; sie bringt regelmäßig berufliche Nachteileund Nachteile beim beruflichen Fortkommen. Ebensosagen wir klar und deutlich: Nach dem zweiten Mal istSchluss. Eine Chance reicht. In diesem Sinne ist das,was wir vorgelegt haben, eine sehr vernünftige Sache.Ganz herzlichen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Dr. Johann
Wadephul für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Die Kollegin Kramme hat hier den Untergangdes sozialpolitischen Abendlandes an die Wand gemalt.
Ich muss sagen: Das, was die SPD-Fraktion hier vorge-legt hat, ist erstens offensichtlich der Versuch, der Links-partei in populistischen Forderungen nachzueilen, undzweitens ein Sammelsurium von handwerklich schlech-ten Vorschlägen.
Es ist klar: Das Kündigungsschutzrecht der Bundes-republik Deutschland gehört zu den sozialpolitischen Er-rungenschaften unseres Landes. Es hat mit all seinen Fa-cetten im Kündigungsschutzgesetz, im BGB, wo wir denGrundsatz von Treu und Glauben anwenden, unterhalbdes Kündigungsschutzgesetzes im Sonderkündigungs-schutz für Schwangere, für Betriebsräte und andere eineweite Ausprägung erhalten und ist letzten Endes einwichtiger Bestandteil des Erfolgsmodells der sozialenMarktwirtschaft.
Der Gesetzgeber ist sicherlich auch gehalten, an dereinen oder anderen Stelle zu überprüfen, was die Recht-sprechung macht. Aber, Frau Kramme, der Gesetzgeberist nicht gehalten, es in jedem Falle besser zu wissen alsdie Rechtsprechung. Ich mache darauf aufmerksam, dassim Gegensatz zu dem Hohen Hause hier und zu den Ge-richtsbarkeiten, die Sie genannt haben, in der Arbeitsge-richtsbarkeit der große Vorteil besteht, dass dort nichtnur Juristen sitzen, sondern auch zwei ehrenamtlicheRichter, die mit entscheiden; in aller Regel sind dies einArbeitnehmer- und ein Arbeitgebervertreter. Da ist sehrviel Sachverstand. Wir würden uns im Deutschen Bun-destag verheben, wenn wir auch nur anstrebten, die Füllevon Fällen, die Sie genannt haben, hier im Einzelnen zuregeln. Das ist nicht unsere Aufgabe, sondern Aufgabeder Rechtsprechung, die wir unterstützen sollten und derwir klare Regeln – diese sind gar nicht so schlecht – andie Hand geben sollten.
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1868 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. Februar 2010
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Dr. Johann WadephulWenn man sich das Arbeitsrecht wie auch sonstRechtsgebiete in Deutschland ansieht, stellt man sehrschnell fest, dass wir nicht zu wenig geregelt haben, son-dern eher viel. Die Arbeitsgruppe „Arbeit und Soziales“der CDU/CSU-Fraktion war gerade in Dänemark. Däne-mark ist ja nun nicht gerade ein Hort des Neoliberalis-mus, wie Sie wahrscheinlich sagen würden, sondern eherein Staat, der zumindest für Sozialdemokraten immer alsMusterländle gegolten hat. In Dänemark gibt es keinenKündigungsschutz.
Wir haben dort mit Gewerkschaften gesprochen. Siewerden in Dänemark keinen Gewerkschafter finden, derfordert, dass es dort auch nur im Ansatz Regelungen ge-ben soll, wie wir sie im Kündigungsschutzrecht inDeutschland haben. Die fahren gut damit,
sogar mit der Folge, Herr Pronold, dass die EU das Mo-dell der Flexicurity übernommen und als einen Standardfür ganz Europa vorgegeben hat.Am deutschen Wesen soll nicht immer die Welt gene-sen. Es lohnt, einmal in ein kleines Land wie Dänemarkzu schauen. Die machen uns in diesem Bereich manchesvor. Ich denke, wir haben jeden Anlass, uns daran einBeispiel zu nehmen.
Herr Kollege Wadephul, lassen Sie Zwischenfragen
zu?
Ja.
Bitte schön.
Herr Kollege Wadephul, da Sie gerade Dänemark an-
führten und darauf hingewiesen haben, dass es dort sehr
offene Kündigungsschutzregelungen gibt, möchte ich
fragen: Ist Ihnen auch bekannt, dass in Dänemark die
Arbeitslosenentgelte, also die Arbeitslosenunterstüt-
zung, 90 Prozent des letzten Gehaltes betragen und über
mehrere Jahre gezahlt werden?
Das ist mir selbstverständlich bekannt, Frau Kollegin.
Wir haben uns dort nicht nur einseitig informiert, son-dern mit allen dort gesprochen. Dieses Modell einer völ-ligen Flexibilisierung im Arbeitsrecht verbunden miteinem interessanten Modell einer schnellen Arbeitsver-mittlung und auch einem hohen Versorgungsgrad, denSie gerade richtigerweise genannt haben, hat Dänemarkganz große Erfolge in der Arbeitsmarktpolitik beschert.
Ich sage ja nur: Wir sollten einmal darüber nachden-ken, ob man das eine oder andere nicht nach und nach inDeutschland überdenken und übernehmen könnte.
Ich bin der Meinung – Frau Pothmer, wenn ich dasnoch ergänzend sagen darf –, dass man in Deutschlandetwas missachtet: dass ein zu hoher Standard beim Kün-digungsschutz zwar denjenigen nützt, die gerade Arbeithaben, dass er aber diejenigen, die arbeitslos sind, nichtin Arbeit bringt, weil er viele Arbeitgeber davon abhält,Menschen einzustellen, da sie Angst haben, sich imZweifelsfall nicht von ihnen trennen zu können. So vieldazu.
Ich will ganz kurz etwas zu den vorliegenden Gesetz-entwürfen sagen. Im sozialdemokratischen Gesetzent-wurf wird vorgeschlagen, man solle die Regelung tref-fen, dass eine Kündigung dann sozial ungerechtfertigtsei, wenn ein wirtschaftlicher Schaden nicht ins Gewichtfalle. Ich frage mich ganz im Ernst, Frau Kramme: Wel-chen Maßstab wollen Sie eigentlich anlegen? Bei wemsoll der wirtschaftliche Schaden, von dem die Rede ist,denn entstehen: beim betroffenen Arbeitnehmer oderbeim Arbeitgeber? Wie meinen Sie das überhaupt? Beieinem Einzelhändler ist eher ein wirtschaftlicher Scha-den zu erwarten als bei einer großen Discounterkette.Was meinen Sie wohl, wie lange es dauert, bis bei Aldiein wirtschaftlicher Schaden eingetreten ist? Da kannman eine Menge herausschleppen, bevor dort ein wirt-schaftlicher Schaden entstanden ist.
Was ist das eigentlich für eine handwerklich schlechteArbeit, die uns eine Fachanwältin für Arbeitsrecht hiervorlegt?
– Das hat der Kollege Nešković in seinem Gesetzent-wurf in Anlehnung an § 248 a StGB besser geregelt.Sie wollen des Weiteren die Abmahnvoraussetzunggrundsätzlich abschaffen. Meine sehr verehrten Damenund Herren von der SPD, was haben Sie eigentlich fürVorstellungen? Was soll denn der Arbeitgeber der be-rühmten Kassiererin machen, wenn er zum ersten Malerlebt, dass sie 200 Euro aus der Kasse genommen hat?
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. Februar 2010 1869
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Dr. Johann WadephulNach Ihrem Vorschlag dürfte er sie nur abmahnen undmüsste darauf warten, dass sie das nächste Mal in dieKasse greift. Meinen Sie, dass das zumutbar ist? Glau-ben Sie nicht, dass die normale Reaktion eines Arbeitge-bers sein wird, viel rigidere Maßnahmen zur Überwa-chung der Kassen und der Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer einzuführen, Maßnahmen, über die wiruns an anderer Stelle immer wieder beklagen? Das, wasSie den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern hier ge-ben, sind Steine statt Brot. Damit helfen Sie ihnen nicht.Damit machen Sie die Situation insgesamt nur schwieri-ger. Das trägt überhaupt nicht zu einer Verbesserung bei.
Jetzt komme ich zum berühmten Fall „Emmely“ – dieDame heißt eigentlich Emme –, den Sie und auch HerrNešković bzw. die Linke in Ihren Gesetzentwürfen an-führen. Ich muss Ihnen wirklich sagen: Hier ist in denMedien etwas Ungeheuerliches geschehen. Dieser Fallwurde verkürzt, und es wurde so getan, als habe – ichsetze das in Anführungsstriche – „nur“ ein Diebstahl ge-ringwertiger Sachen vorgelegen.Das Arbeitsgericht hat diesen Fall umfangreich ge-prüft – Herr Bundestagsvizepräsident Thierse hat seineunsägliche Kritik an dem Urteil mittlerweile zum Glückzurückgenommen – und festgestellt: Erstens. Es ist einDiebstahl gewesen. Zweitens. Er ist geleugnet worden.Drittens. Die Arbeitnehmerin hat sogar andere Arbeit-nehmerinnen in Verdacht und damit in Gefahr gebracht,ihren Arbeitsplatz zu verlieren, um den Verdacht vonsich selbst abzulenken. Wir als Gesetzgeber sollten indiesem Fall nicht sagen: Hier hat ein Arbeitsgerichtschlecht entschieden. – Das Gericht hat schlicht und er-greifend den Einzelfall betrachtet und ist zu dem Ergeb-nis gekommen: In diesem Fall ist diese Entscheidungrichtig gewesen.
Das ist die ganze Geschichte.Insgesamt betone ich das, was dankenswerterweiseauch die Präsidentin des Bundesarbeitsgerichts hervor-gehoben hat: Es ist keine Frage der Menschenwürde, sei-nem Arbeitgeber einen, wenn auch nur geringwertigen,Gegenstand zu klauen, sondern es ist schlicht und ergrei-fend so, dass man Grundregeln des Anstands und derRechtsordnung in Deutschland einzuhalten hat. Wir soll-ten die Verhaltensnormen nicht davon abhängig machen,ob ein Gegenstand teuer oder billig ist. Man hat sich anGrundregeln zu halten, und die Arbeitsgerichte entschei-den sachgemäß.Vielen Dank.
Lieber Kollege Wadephul, ich gratuliere herzlich zu
Ihrer ersten Rede im Deutschen Bundestag, verbunden
mit allen guten Wünschen für die weitere parlamentari-
sche Arbeit.
Nächster Redner ist der Kollege Wolfgang Nešković
für die Fraktion Die Linke.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Was ist Gerechtigkeit? Der DichterErich Fried hat versucht, diese Frage zu beantworten. Erist zu dem Ergebnis gelangt, dass es fast unmöglich ist,dafür eine befriedigende Definition zu finden. Hingegensei es einfach, zu wissen, was ungerecht ist. Er hat ge-meint: Die Ungerechtigkeit liege offen am Weg, diekönne jeder erkennen, und der richtige Weg sei, die Un-gerechtigkeit zu bekämpfen.Jeder von uns kann sehen, was ungerecht ist. Natür-lich ist es ungerecht, wenn einer Kassiererin nach31 Jahren gekündigt wird, weil man sie verdächtigt,zwei Pfandbons im Werte von 1,30 Euro unterschlagenzu haben.
Es ist ungerecht, wenn eine Altenpflegerin auf die Straßegesetzt wird, weil sie Maultaschen mitgenommen hat,die bereits für die Mülltonne bestimmt waren. Es istebenso ungerecht, wenn einem Bäcker fristlos gekündigtwird, weil er einen Teelöffel Schafskäsepaste probierthat, nachdem sich Kunden darüber beklagt hatten, dassder Belag versalzen sei. Es ist genauso ungerecht, wennein Industriearbeiter entlassen wird, weil er sein Handyan der Firmensteckdose aufgeladen hat – Schaden:0,014 Cent. Diese Fälle sind schwer glaublich; dennochsind sie geschehen. Sie haben zu Recht Empörung aus-gelöst. Sie spiegeln die wirklichen Ungerechtigkeiten imArbeitsleben von Menschen wider.
Der Arbeitsplatz hat in dieser Gesellschaft für die Ar-beitnehmer und ihre Existenz herausragende Bedeutung.Er bildet die wirtschaftliche Grundlage für sie und ihreFamilien. Lebenszuschnitt und Wohnumfeld werden vonihm bestimmt, ebenso gesellschaftliche Stellung undSelbstwertgefühl. All dies wird mit der Beendigung desArbeitsverhältnisses gefährdet oder sogar zerstört. Ge-nau deswegen genießt der Arbeitnehmer über das Sozial-staatsprinzip den Schutz unserer Verfassung.Dem Interesse des Arbeitnehmers am Erhalt seinesArbeitsplatzes steht allerdings das Interesse des Arbeit-gebers, sein Eigentum zu schützen, gegenüber. Genaudiese Interessenabwägung soll die Vorschrift des § 626BGB erreichen. Die Auswertung der Rechtsprechungzeigt jedoch, dass diese Abwägung – bis auf wenigeAusnahmen – im Ergebnis gar nicht vorgenommen wird.
Trotz vermeintlicher Abwägung der Umstände des Ein-zelfalls wird stets als Ergebnis eine nicht wiederherstell-bare Zerstörung des Vertrauens des Arbeitgebers festge-stellt, die eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses für
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1870 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. Februar 2010
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Wolfgang NeškoviæWolfgang Neškovićdiesen angeblich unzumutbar macht. Dies wird geradedurch die Entscheidung des Landesarbeitsgerichtes Ber-lin-Brandenburg im Falle „Emmely“ exemplarisch be-legt. Da werden lange Abwägungen gemacht, was zu-gunsten der Arbeitnehmerin spricht, und dann, ganz kurzdanach, heißt es – im Wege einer Rechtsbehauptung –,es sei nunmehr so, dass das Vertrauen nicht wiederher-stellbar sei.Diese Rechtsprechung wird von der Präsidentin desBundesarbeitsgerichtes mit, wie ich meine, geradezutrotziger Uneinsichtigkeit verteidigt. Ihr fehlt offensicht-lich das ganz normale Gefühl für Ungerechtigkeit.
In all diesen Fällen handelt der Arbeitnehmer nämlichnicht mit krimineller Energie, um den Arbeitgeber zuschädigen. Regelmäßig handelt er aus Sorglosigkeit, Un-bekümmertheit und Unbedarftheit. Damit ist ein solchesVerhalten nicht entschuldigt, und es ist auch nicht recht-mäßig. Eine Kündigung mit ihren weitreichenden Aus-wirkungen auf die Existenz des Arbeitnehmers stelltaber eine unverhältnismäßige Reaktion auf das Fehlver-halten des Arbeitnehmers dar. Hier wird mit Kanonenauf Spatzen geschossen. Das Prinzip der Verhältnismä-ßigkeit ist ein zentrales Prinzip unserer Rechtsordnung.Da die Rechtsprechung überwiegend uneinsichtig bleibt,ist nunmehr der Gesetzgeber gefragt.
Er muss diese Rechtsprechung des kalten Herzens, derjegliches Gespür für die Lebenswirklichkeit abhanden-gekommen ist, unmissverständlich an die gesetzgeberi-sche Kandare binden.Dafür bietet der Gesetzentwurf unserer Fraktion eineausreichende Grundlage. Der Gesetzentwurf der SPDkann dies, muss ich leider sagen, nicht leisten, weil da-mit lediglich die neuere Rechtsprechung des Bundesar-beitsgerichts festgeschrieben werden soll.Vielen Dank.
Das Wort erhält jetzt der Kollege Johannes Vogel für
die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Werfen wir einen Blick auf das, was uns heute vorliegt.Was will die SPD? Sie will, dass fristlose Kündigungen– aber auch Kündigungen im Regelfall – bei Diebstahlvon geringem wirtschaftlichen Schaden nicht mehr mög-lich sind, dass im Regelfall eine Abmahnung erforder-lich ist. Faktisch – so ging es auch durch die Presse –will die SPD eine Art Bagatellregelung einführen.Die Linke geht noch darüber hinaus – ich würde sa-gen, da wird der Gesetzentwurf der SPD noch ein biss-chen verschärft –: Sie will, dass zwingend eine Abmah-nung erfolgen muss, und sie will die Kündigung aufVerdacht verbieten.Es ist interessant, sich einmal die Vorgeschichte die-ser Gesetzentwürfe anzuschauen. Frau KolleginKramme, Sie haben eben selber darauf hingewiesen undverschiedene Fälle zitiert, die in den Medien vorkamen.Sie haben allerdings nicht darauf hingewiesen, dass dasseit 1984 herrschende Rechtsprechung ist, also eine län-gere Zeit, könnte man sagen.
Elf Jahre in dieser Zeit haben Sie als SPD Regierungs-verantwortung getragen;
doch weder als größerer Partner noch als kleinerer Part-ner der Koalition haben Sie jemals einen solchen Gesetz-entwurf vorgelegt.
Es ist schon wichtig, sich das einmal vor Augen zu füh-ren.
– Nein, das ist nicht das Einzige, was uns einfällt. LassenSie mich doch ausreden! Es ist doch gerade erst eine Mi-nute meiner Redezeit vorbei.Ich glaube, es ist kein Zufall, dass diese Forderungaus der Opposition kommt. Eigentlich wissen Sie genau,dass man dies nicht so einfach regeln kann. Das würdenauch Sie nicht tun, wenn Sie noch Regierungsverantwor-tung tragen würden. Nur, dass Sie das nicht tun, hat ei-nen guten Grund: Die Bürgerinnen und Bürger habendas so entschieden.Schauen wir uns einmal an, warum das nicht so ein-fach ist. Wie ist denn die Rechtslage? Auch heute ist esso: Außerordentliche Kündigungen kann es nur geben,wenn ein wichtiger Grund vorliegt. Ein solcher wichti-ger Grund ist natürlich eine Straftat. Dies kann niemandals Kleinigkeit abtun; dies wird der Sache nicht gerecht.Aber auch dann kann es natürlich sein, dass eine Interes-senabwägung zwischen den beiden Vertragspartnernstattfindet. Nur dann, wenn die Fortsetzung des Arbeits-verhältnisses für den Arbeitgeber unzumutbar ist, wenndas Vertrauensverhältnis irreparabel gestört wird, wirdüberhaupt eine Kündigung vorgenommen. Ich kannnicht erkennen, dass wir an dieser ausgewogenen Rege-lung irgendetwas gesetzlich ändern müssten.
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Johannes Vogel
An die Kolleginnen und Kollegen von der Linken: Siewissen so gut wie ich, dass es für Verdachtskündigungensehr strenge Voraussetzungen gibt. Ich erspare es Ihnen,dies jetzt im Einzelfall aufzuzählen.Wir können festhalten: Wir haben eine klare undnachvollziehbare Rechtslage. Sie ist ausgewogen. Weilwir im Gegensatz zu Ihnen nicht an der Kompetenz derdeutschen Arbeitsrichterinnen und Arbeitsrichter zwei-feln, sehen wir auch keine Notwendigkeit, daran etwaszu verändern.Warum wäre es falsch, das zu tun, was Sie vorhaben?Es wäre falsch, weil Sie natürlich ein Problem schaffen.Sie können nämlich die Frage, was eine Bagatelle ist undwas nicht, nicht gesetzlich klären. Die Präsidentin desBundesarbeitsgerichts – sie wurde heute schon mehrfachangesprochen – hat häufig darauf hingewiesen, dass dieSituation schwierig ist: Wo liegt die Grenze? Bis wannist es eine Bagatelle? Sind es 5 Euro oder 10 Euro?Wenn die Grenze bei 5 Euro liegt, was ist dann im Fallevon 5 Euro und 10 Cent, die geklaut wurden?
So einfach ist es nicht. Der Punkt ist: Eigentum bleibtEigentum, und Diebstahl bleibt Diebstahl. Deshalb kön-nen Sie es sich hier nicht so einfach machen.
– Das können wir aber nicht einfach so in das Privatrechtübertragen, Frau Kramme; das wissen Sie so gut wie ich.Natürlich will ich zugestehen – lassen Sie mich in ei-nem Punkt auf Sie zugehen –, dass es Fälle gab, über diein der Öffentlichkeit diskutiert wurde und die zu derFrage führten: Kann es sein und ist es mit meinem Ge-rechtigkeitsempfinden vereinbar, dass jemandem in die-sen Fällen gekündigt wird? Der Kollege von der CDU/CSU hat eben interessanterweise darauf hingewiesen,dass die Gerichte in Deutschland schon heute eine Ein-zelfallwürdigung vornehmen. Es ist eben nicht so, wieSie es dargestellt haben und wie es die Medien darstel-len.
– Frau Kramme, ganz sicher. Aber Sie werden auch eineVielzahl von Fällen finden, bei denen eine entspre-chende Würdigung zugunsten des Arbeitnehmers vorge-nommen worden ist.
Schauen wir uns zwei Fälle einmal genauer an. Es istes wert, sich den Fall der berühmt-berüchtigten Kassie-rerin, die Pfandbons entnommen hat, genauer anzuse-hen. Er wurde schon von dem Kollegen von der Unions-fraktion angesprochen; aber der Redner der Linken hatihn noch einmal angeführt. Da wurden nicht einfach nurPfandbons entwendet; vielmehr hat sich die Kassiererindanach in Widersprüche verwickelt und dann noch Kol-legen denunziert und beschuldigt. Erst dann war das Ver-trauensverhältnis nach Ansicht des Gerichts so irrepara-bel gestört, dass die Kündigung rechtswirksam war.Dieser Fall liegt aber im Moment überhaupt noch nichtrechtsgültig vor, weil die höchstrichterliche Entschei-dung noch aussteht. Ich kann nicht erkennen, dass imdeutschen Rechtswesen keine ausreichenden Abwägun-gen vorgenommen würden.
Frau Kramme, Sie haben es gerade angesprochen: Esgibt auch Fälle, bei denen Kündigungen vor Gericht kei-nen Bestand hatten und für rechtswidrig erklärt wurden.Wir haben zum Beispiel im März 2009 einen solchenFall vor dem Landesarbeitsgericht in Nordrhein-Westfa-len erlebt. Da ging es um den Diebstahl, die Entwendungvon Brotaufstrich. Das ist natürlich ein Fall, bei demviele Bürgerinnen und Bürger draußen das Gefühl ha-ben: Kann es sein, dass jemandem dafür, dass er sich nuretwas Brotaufstrich auf sein Brot schmiert, gekündigtwird? Es ist wichtig, sich klarzumachen, dass solcheFälle zugunsten des Arbeitnehmers entschieden wurden.Dieser Fall hatte keinen Bestand; die Kündigung warrechtswidrig. Auch das ist ein weiterer Beleg dafür– Frau Kollegin Kramme, Sie haben eben gesagt, mankönne es nachschlagen; offensichtlich haben Sie es nichtgetan –, dass die Würdigung des Einzelfalls sehr gut vorGericht aufgehoben ist und dort gut funktioniert und wirdies nicht gesetzlich regeln, sondern den Gerichten über-lassen sollten.
Der Punkt ist: Schon der erste Satz Ihres Gesetzent-wurfs, den Sie uns vorgelegt haben, zeigt seine grund-sätzliche Schwäche. Sie sagen:Bei Bagatelldelikten von Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmern herrscht rechtlich das „Null-Tole-ranz-Prinzip“: Der Verzehr auch nur eines Bröt-chens des Arbeitgebers … kann den Arbeitsplatzkosten.Sie sagen es selbst: Der Diebstahl, durch den ein gerin-ger Schaden entsteht, kann den Arbeitsplatz kosten, ermuss es aber nicht. Es findet eine Abwägung statt. Wirsollten es dabei auch belassen und hier keine handwerk-lich schlecht gemachte Regelung einführen.Deshalb werden wir den Gesetzentwurf ablehnen. Ichfreue mich aber auf die weitere Beratung im Ausschuss.Vielen Dank.
Die Kollegin Beate Müller-Gemmeke ist nun dienächste Rednerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen.
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1872 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. Februar 2010
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Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Dieses Thema ist emotional undschwierig gleichermaßen. Herr Wadephul, es geht in die-sen Fällen eben nicht um einen bewussten Diebstahl vonWaren im Wert von 200 Euro.Wenn der Verzehr einer Maultasche oder das Aufla-den des Handys den Job kostet, dann empfinde ich dasals unanständig.
Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dassbei den sogenannten Bagatellkündigungen immer einvorsätzlicher Diebstahl vorlag. Manchmal ist es auchUnwissenheit, manchmal ist es schlichtweg Gedanken-losigkeit. Ich denke, wir alle haben schon einmal verse-hentlich einen Kugelschreiber in die Tasche gesteckt.
– Auch Sie sehr wahrscheinlich, Herr Wadephul. –Manchmal kann es auch sein, dass sich die Beschäftigtenan diesem Tag einfach sehr ausgenutzt oder schlecht be-handelt fühlten.Manche Arbeitgeber setzen Bagatellkündigungensehr bewusst ein, um unangenehme Beschäftigte zu ent-lassen. Andere stehen selber unter einem extremenDruck und schauen den Beschäftigten deshalb genau aufdie Finger.Ich kann nicht beurteilen, wann Bagatellkündigungenangemessen sind und wann nicht. Eines aber weiß ich:Es ist schwierig, den Menschen klarzumachen, dass ei-ner Beschäftigten, wenn sie eine Frikadelle isst, dasGleiche passiert wie einem Manager, der Beträge insechsstelliger Höhe veruntreut.
Das ist nicht gerecht, und ich glaube auch, dass das ge-sellschaftlicher Konsens ist.
– Quatsch? Ich glaube das schon.Deswegen kann ich es auch nicht verstehen, wenn ausden Reihen der CDU solche Bagatellkündigungen in derPresse mit dem Argument verteidigt werden, dass sich indiesem Arbeitsverhältnis schon länger etwas aufgestauthaben muss. Mit dieser Aussage erhalten UnternehmenRückendeckung. Die Beschäftigten werden hingegenpauschal verurteilt. Ich meine, der Politik steht eine sol-che Parteinahme nicht zu.
Die Politik darf die Stimmung nicht aufheizen, siedarf aber auch nicht tatenlos zuschauen. Das Problem ist,dass es im Arbeitsrecht, anders als im Strafrecht, ebenkeine Bagatellgrenze gibt. Jeder Diebstahl gilt als Grundfür Vertrauensverlust, egal, ob es um 50 Cent oder50 000 Euro geht.Ich finde – wir Grünen finden –, an dieser Stelle mussder Gesetzgeber etwas verändern. Die grundsätzlicheAbschaffung der Verdachtskündigung werden wir Grü-nen in einem Fachgespräch prüfen.
Uneingeschränkt und heftig unterstützen werden wir da-gegen die gesetzlich verankerte Abmahnung; denn Ab-mahnungen und eben nicht fristlose Kündigungen sinddie richtigen Antworten auf Bagatelldelikte.
Nur so werden die Beschäftigten – gerade jetzt in derKrise – vor einer willkürlichen Entlassung geschützt.Abmahnungen werden im Übrigen auch dazu führen,dass die betroffenen Beschäftigten in sich gehen. Siemerken, dass sie eine Grenze überschritten haben. Vorallem erhoffe ich mir auch, dass durch Abmahnungen inden Betrieben Klarheit darüber entsteht, wo die Grenzeüberhaupt liegt.Natürlich wird die Abmahnungspflicht zu neuen Pro-blemen führen, vor allem, weil die Bagatellgrenze nichtgesetzlich definiert werden kann. Denn wo soll man dieGrenze ansetzen: bei 5 Euro, 10 Euro, 50 Euro oder100 Euro? Diese Frage können natürlich nur die Ge-richte im Einzelfall beantworten.
Nichts zu tun, wie es die Koalitionsfraktionen vorha-ben, ist für uns jedenfalls keine Option. Sehr geehrteKolleginnen und Kollegen der Koalitionsfraktionen, dieBeschäftigen sitzen immer am kürzeren Hebel und brau-chen hier mehr Schutz. Für die Unternehmen geht es le-diglich um Bagatellbeträge, für die Beschäftigten geht esaber um ihre Existenz. Auch Sie wissen, dass beispiels-weise Ältere nur wenige Chancen auf einen neuen Ar-beitsplatz haben, und jungen Menschen wird damit einguter Start ins Berufsleben verbaut.Ich kann nur sagen: Springen Sie endlich einmal überIhren Schatten! Beweisen Sie, dass soziale Kälte bei Ih-nen eben nicht Programm ist!Vielen Dank.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist derKollege Ulrich Lange für die CDU/CSU.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 21. Sitzung. Berlin, Dienstag, den 9. Februar 2010 1873
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Ich darf heute Abend den Schlusspunkt setzen, und ichfreue mich, dass von der Linksfraktion, die den Gesetz-entwurf eingebracht hat und heute in Rotkäppchensekt-laune ist, wie Sie vorhin so schön gesagt haben, immer-hin noch vier Mitglieder anwesend sind. Das zeigt, wiewichtig Ihnen dieses Thema wirklich ist. Es unter-streicht, worum es Ihnen geht: um puren Populismus.
Kaum eine arbeitsgerichtliche Entscheidung der let-zen Jahre hat die Öffentlichkeit so beschäftigt wie diezur heute schon mehrfach erwähnten Berliner Kassiere-rin. Fast jeder in der Politik, ob mit oder ohne Rechts-kenntnis, ob mit Urteilskenntnis oder ohne Urteilskennt-nis, hat sich berufen gefühlt, irgendetwas dazu zu sagen.Eines ist für uns in der Koalition sicher: Trotz seinermedialen Ausschlachtung wird der Fall Emmely nichtals wesentliches Datum in die Entwicklung der arbeits-rechtlichen Gesetzgebung eingehen. Dazu ist die Sach-lage zu klar. Was Sie hier bringen, ist nur Populismus.
Sie versuchen auch – das hat die Kollegin der Grünengerade deutlich gemacht –, eine Gerechtigkeitsdebatte inder Wirtschaftskrise über Managerkündigungen und Ma-nagerabfindungen
– nicht erfolgte Kündigungen – mit dem gezielt skanda-lierten Fall Emmely in einen Zusammenhang zu bringen.Das lassen wir nicht zu. Das hat nichts miteinander zutun. Sie machen plump Stimmung gegen die Arbeitge-ber, die die Betriebe in den letzten Monaten sehr verant-wortungsbewusst geführt haben. Das kann nicht derrichtige Ansatz sein.
– Ja, natürlich. Der Ausspruch „Die Beschäftigten sitzenimmer am kürzeren Hebel“ zeigt, wie Sie denken.
Wir lassen es auch nicht zu, dass Sie gegen unser gutesdeutsches Arbeitsrecht und die guten Arbeitsgerichtehier zu Felde ziehen, die in den letzten Jahren eine sehrgefestigte Rechtsprechung entwickelt haben.
In der fachlichen Diskussion muss ich Ihnen eines sa-gen: Der Gesetzentwurf der SPD ist nicht nur system-widrig und fachlich schlecht, sondern er ist auch in sichunschlüssig und ohne Substanz.
Der Verweis auf die StPO hinkt; denn das Strafrecht isteine völlig andere Rechtsmaterie.
Das Arbeitsrecht kennt keinen Sanktionsgedanken undStrafanspruch.Über das Abmahnungserfordernis will ich gar nichtreden. Die fristlose Kündigung hat die Eigenart, dass ihrgerade keine Abmahnung vorausgeht. Sie bringen Dingedurcheinander, die Sie anscheinend nicht verstehen. Et-was anderes kann ich dazu nicht sagen.
– Wahrscheinlich ein bisschen mehr als Sie.
– Natürlich. Ich habe mich 15 Jahre mit dem Arbeits-recht beschäftigt. Was glauben Sie denn?Aber es ist noch ein weiterer Punkt angesprochenworden. Sie haben die Bagatellgrenzen nicht definiert.Sie müssten die Frage beantworten, wo die Bagatell-grenze liegt. Ich kann jeden von Ihnen fragen, ob Sie be-reit wären, wenn ich mir aus Ihrer Tasche 5 Euro nähme,mir diese zu überlassen, nach dem Motto „Es sind ja nur5 Euro; das ist doch eine Bagatelle“.
Klar ist auch: Wenn wir eine Bagatellgrenze zum Bei-spiel von 5 Euro einführen, dann führen wir, wenn je-mand 5,05 Euro genommen hat, wieder dieselbe Diskus-sion. Dann sind wir kein bisschen weiter.Auch wenn es unpopulär sein mag, aber Diebstahlbleibt Diebstahl, und Untreue bleibt Untreue. Daranführt kein Weg vorbei.
– Damit unterstreichen Sie einmal mehr, dass Sie be-stimmte Dinge nicht verstanden haben. Der von Ihnenvorgelegte Gesetzentwurf ist handwerklicher Murks undvöllig überflüssig. Wir haben eine gefestigte Rechtspre-chung zu § 626 BGB. Wir haben eine gefestigte Recht-sprechung zu Verdachtskündigungen, und es gibt verant-wortungsbewusste Interessenabwägungen sowohl beiden Arbeitgebern als auch später bei den Arbeitsgerich-ten. Das machen auch die Urteile deutlich, von denenheute schon einige angesprochen wurden: Wir haben denpressebekannten Fall Emmely und die sogenannte„Maultaschen“-Entscheidung. Wir haben aber auch den„Kinderbettfall“ und den schon erwähnten „Brotauf-
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Ulrich Langestrichfall“. All dies zeigt, dass von den Richtern indivi-duell sehr sauber abgewogen wird.
Die Qualität der Arbeitsrichterinnen und Arbeitsrichterist hoch, auch die der ehrenamtlichen Arbeitsrichterin-nen und Arbeitsrichter. Darunter befinden sich übrigensauch Ihre Vertreter aus den Betriebsräten und den Ge-werkschaften, falls Sie das vergessen haben sollten.Wir distanzieren uns ganz klar von Ihrem Vizepräsi-denten des Hohen Hauses; Kollege Wadephul hat daraufSchönen Abend.
Ich schließe die Aussprache.
Zum Tagesordnungspunkt 6 a: Interfraktionell wird
die Überweisung des Gesetzentwurfs auf Drucksache
17/648 an die in der Tagesordnung aufgeführten Aus-
schüsse vorgeschlagen. Gibt es anderweitige Vor-
schläge? – Danach sieht es nicht aus. Dann ist die Über-
schon richtigerweise hingewiesen. Ihr Vizepräsident hat
das dann zwar zurückgenommen. Aber ich kann Ihnen
nicht ersparen, Sie daran zu erinnern, dass er die Arbeits-
gerichte als „barbarisch“ und „asozial“ bezeichnet hat.
Allein diese Äußerung zeigt, dass Sie kein Verständnis
von Arbeitsrecht und Gerichtsbarkeit haben, ganz zu
schweigen von Ihrem Verhältnis zu Eigentum und
Rechtsordnung.
Mit den Linken will ich heute darüber nicht reden. Nach
den unseligen Äußerungen Ihrer Kollegin Kipping über
den Verfassungsschutz kann ich nur sagen: Zum Eigen-
tum haben Sie mit Sicherheit kein Verhältnis.
– Ja, ein sehr gestörtes. – Die volkseigene Maultasche ist
noch nicht erfunden.
Ich weiß, dass es grundlose Kündigungen gibt. Ich
habe heute in der Augsburger Allgemeinen gelesen:
„21-Jährige gefeuert, weil sie beim Feuerwehreinsatz
war.“ Einer jungen Arbeitnehmerin mit ehrenamtlichem
Engagement, die Menschen in Not hilft, wird gekündigt!
Solche Menschen brauchen unseren Schutz. Solche
Menschen brauchen unsere Unterstützung.
Diese Kündigung ist gesellschaftlich zu verurteilen; da-
rum geht es.
Neue Gesetze sollten Probleme lösen und keine neuen
schaffen. Dieses Gesetz schafft mehr Probleme als es
löst. Wir brauchen es nicht, weder unter dogmatischen
Aspekten noch aus Gerechtigkeitsüberlegungen heraus.
Stampfen Sie den Gesetzentwurf ein! Lassen Sie es gut
sein!
weisung so beschlossen.
Zum Tagesordnungspunkt 6 b: Der Gesetzentwurf auf
Drucksache 17/649 soll an die in der Tagesordnung ge-
nannten Ausschüsse überwiesen werden. Hier ist die Fe-
derführung strittig. Die Fraktionen von CDU/CSU, SPD,
FDP und Bündnis 90/Die Grünen wünschen die Feder-
führung beim Ausschuss für Arbeit und Soziales. Die
Fraktion Die Linke wünscht Federführung beim Rechts-
ausschuss. Ist das korrekt?
Dann lasse ich zuerst über den Überweisungsvor-
schlag der Fraktion Die Linke mit dem Ziel, dem
Rechtsausschuss die Federführung zu übertragen, ab-
stimmen. Wer stimmt für diesen Überweisungsvor-
schlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –
Dann ist der Überweisungsvorschlag abgelehnt.
Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag der
vorhin genannten übrigen Fraktionen des Hauses abstim-
men, der vorsieht, dem Ausschuss für Arbeit und Sozia-
les die Federführung zu übertragen. Wer stimmt diesem
Überweisungsvorschlag zu? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Dann ist die Überweisung so be-
schlossen. Die Federführung liegt also beim Ausschuss
für Arbeit und Soziales.
Wir sind damit am Schluss der heutigen Tagesord-
nung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Bundestages auf
morgen, Mittwoch, den 10. Februar 2010, 9 Uhr, ein.
Ich wünsche Ihnen allen einen halbwegs gemütlichen
und erfreulichen Abend.
Die Sitzung ist geschlossen.